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German Pages 538 [539] Year 2006
DILIP DAVID MAITRA
Regeln und Prinzipien
Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. Ernst E. Hirsch Herausgegeben von Prof. Dr. Manfred Rehbinder und Prof. Dr. Andreas Voßkuhle
Band 87
Regeln und Prinzipien Zur Soziologie juristischer Argumentation am Beispiel persönlichkeitsrechtlicher Normbildung im Bereich der Genanalyse
Von
Dilip David Maitra
Duncker & Humblot • Berlin
Der Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Bremen hat diese Arbeit im Jahre 2005 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7514 ISBN 3-428-12050-7 978-3-428-12050-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Risiken, die sich aus den Fortschritten der Humangenetik ergeben, werden heute höchst kontrovers diskutiert. Wie das Zivilrecht Risiken verarbeiten kann und verarbeitet, war die zentrale Fragestellung des DFG-Graduiertenkollegs Risikoregulierung und Privatrechtssystem an der Universität Bremen, in dessen Rahmen die hier vorgelegte Studie entstanden ist. Die Arbeit unternimmt den Versuch, die Frage ausschnittsweise zu beantworten, indem sie die rechtstheoretische Unterscheidung von Regeln und Prinzipien soziologisch reformuliert. Entlang der Differenz dieser beiden Normkategorien läßt sich Rechtsentwicklung beschreiben: In Problembereichen, die sich aufgrund ihrer hohen Komplexität und Dynamik schneller gesetzgeberischer Regulierung entziehen, vollziehen sich in Rechtswissenschaft und Judikative unhintergehbare Normbildungsprozesse. Als konkretes Beispiel werden Ausschnitte der persönlichkeitsrechtlichen Normbildung in den Blick genommen, mit einem besonderen Schwerpunkt im Bereich der Genanalyse. Über die enge Thematik dieses exemplarisch analysierten Bereichs hinaus werden Mechanismen der Öffnung und Schließung juristischer Diskurse gegenüber außerrechtlichen Diskursen beschrieben. Zugleich wird das in der Rechtssoziologie bislang weitgehend ungeklärte Verhältnis von juristischem Begründen und Entscheiden näher bestimmt. Die Arbeit wurde im Sommersemester 2005 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen als Dissertation angenommen und analysiert den Ende 2003 erreichten Stand der Normbildung. Für die Veröffentlichung wurde die Arbeit geringfügig überarbeitet. Dabei konnten einige zwischenzeitlich erschienene Publikationen berücksichtigt werden. In unserer Kultur neigen wir dazu, individuelle Leistung sehr zu betonen. Der persönlichkeitsrechtliche Diskurs ist geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie geistige Produkte in teilweise übertriebener Weise individueller Leistung zugeschrieben werden. Läßt man die Geschichte der eigenen Dissertation kritisch Revue passieren, so wird man sogleich Bescheidenheit gelehrt und sieht, wie wenig man allein vermocht hätte. Denn eine solche Arbeit baut nicht nur auf den wissenschaftlichen Leistungen anderer auf, sie ist auch - bei aller Letztverantwortlichkeit des Verfassers insbesondere für ihre Fehler und Unvollkommenheiten - ein Gemeinschaftsprojekt und als solches eine überwältigende Erfahrung. In diesem Sinne gilt meine große Dankbarkeit allen, die mich emotional, wissenschaftlich und finanziell bei diesem Projekt unterstützt haben. Nicht alle kann ich an dieser Stelle namentlich benennen. Mein ganz herzlicher Dank gilt vor allem Herrn Professor Dr. Reinhard Damm für seine in meine Arbeit investierten Vertrauensvorschüsse, vor allem aber dafür,
6
Vorwort
daß er die Promotion in ihren unterschiedlichen Entstehungsphasen durch wertvolle Hinweise, kenntnisreiche Anregungen und weiterführende Kritik umsichtig begleitet hat. Auch seine Studien zu den Themenbereichen neue Risiken und neue Medizintechnologien waren mir unverzichtbare Ausgangspunkte und Wegweiser. Herrn PD Dr. Josef Falke möchte ich für seine weit über das Übliche hinausgehende sorgfältige und aufwendige Zweitbegutachtung, seine freundliche Bestätigung sowie seine für die Endbearbeitung so hilfreiche, versierte und wichtige Anregung und Kritik sehr herzlich danken. Für wertvolle Unterstützung sei den Mitgliedern des DFG-Graduiertenkollegs Risikoregulierung und Privatrechtssystem an der Universität Bremen und des dortigen Instituts für Gesundheitsrecht, vor allem Herrn Prof. Dr. Dieter Hart, Frau Dr. Kathrin Becker-Schwarze und Frau Christel Bradt, sehr herzlich gedankt. Gefördert wurde die Studie durch ein Promotionsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft und ein Promotionsabschlußstipendium der Universität Bremen. Beiden Institutionen bin ich zu großem Dank verpflichtet. Nicht denkbar wäre die Arbeit ohne die ausdauernde Unterstützung von Frau Prof. Dr. Renate Kreile und Herrn Prof. Dr. Ulrich Krüger gewesen. Sie haben mir mit ihrer unermüdlichen Bereitschaft zu anregenden Diskussionen wesentliche fachliche Impulse gegeben, aber auch Einsichten vermittelt, die man in wissenschaftlichen Abhandlungen nicht findet, und mir in schwierigen Phasen den Rücken gestärkt. Ihnen beiden sei ganz herzlich gedankt. Ebenfalls für vielfaltige Unterstützung zu unabgeltbarem Dank verpflichtet bin ich Cordula und Felix Scholze, Sibylle Thadewald und meinen Eltern. Bernd Kronenberg danke ich herzlich für vergnügliche Ausflüge in die nach Frankfurt am Main benannte Schule und für seine Hilfe bei der Vertreibung der unvermeidlichen Tippfehlerteufelchen. Gewidmet ist die Arbeit meinen geliebten Eltern, Ilse und Rajendra Lal Maitra. Berlin, im Januar 2006
Dilip David Maitra
Inhaltsübersicht Einleitung
21
Teil 1 Rechtssystem und Persönlichkeitsrechte im Kontext von technischen Innovationen und Risikodiskursen
32
§1
Die innovationsoffene Grundstruktur unseres Rechtssystems
32
§2
Risikokommunikation und Recht
62 Teil 2
Regeln und Prinzipien - Unterschiedliche Modi juristischen Argumentierens und ihre Bedeutung für Stabilität und Flexibilität des Rechts
77
§3
Regeln und Prinzipien - Erste Annäherung an eine Leitunterscheidung
77
§4
Kommunikative Distanz - Sprachtheoretische und soziologische Grundlagen einer Analyse juristischer Argumentation
89
§5
Die Rückwirkung regelorientierter Begründungen und Diskurse auf gerichtliche Entscheidungsprozesse 126
§6
Die Stabilisierung des Rechtssystems durch regelorientierte Diskurse
170
Teil 3 Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modus richterlicher Normbildung
198
§7
Die Defizite juristischer Regeldiskurse angesichts der Dynamiken von Technikentwicklung und Risikokommunikation 198
§8
Abwägung von Prinzipien
§9
Persönlichkeitsrechte als Prinzipien: Der kulturelle und affektive Gehalt personaler Identität in der abendländischen Moderne 264
227
Inhaltsübersicht
8
Teil 4 Persönlichkeitsrechtsentwicklung Normbildungsprozesse in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft im Kontext von Risikodiskursen
284
§ 10 Zwischen Prinzipienabwägung und Regelbildung: Die Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Rechtsprechung und Literatur 284 §11 Genanalyse und Persönlichkeitsrechtsentwicklung
369
Teil 5 Fazit
442
§ 12 Persönlichkeitsrechtsentwicklung als Normbildungsprozeß im Kontext von Risikodiskursen 442 Literaturverzeichnis
463
Sachwortverzeichnis
526
Inhaltsverzeichnis Einleitung
21
Teil 1 Rechtssystem und Persönlichkeitsrechte im Kontext von technischen Innovationen und Risikodiskursen §1
Die innovationsoffene Grundstruktur unseres Rechtssystems I. Technikentwicklung und Freiheitsgrundrechte
32 32 32
1. Das „Einklinken" neuer Techniken in vorhandene Freiheitsgarantien ...
33
2. Die Normstruktur negatorischer Freiheitsgrundrechte
36
a) Eigenständige Wahrnehmung rechtlich gewährter Freiräume
36
b) Sicherung von Freiräumen durch Limitierung fremden Handelns
39
3. Die Normstruktur rechtlich konstituierter Freiheitsrechte II. Zur Normstruktur von Persönlichkeitsrechten
40 42
1. Persönlichkeitsrechte als selbstexekutive negatorische Freiheitsrechte ..
43
2. Persönlichkeitsrechte als bewehrte Schutzpositionen
45
3. Persönlichkeitsrechte als rechtlich konstituierte Freiheitsrechte
46
4. Zwischenergebnis: Unterschiedliche persönlichkeitsrechtliche Normdimensionen
48
HI. Die Typisierungs- und Rechtfertigungspflichtigkeit der Einschränkung von Freiheitsgrundrechten und rechtlich konstituierten Freiheitsrechten IV. Freiheitsvermutung und Risikoregulierung V. Die Metapher einer der Technik nacheilenden Rechtsentwicklung
50 52 53
10
Inhaltsverzeichnis VI. Innovationsoffenheit des Rechts und strukturelle Asymmetrien VII. Die Überformung gesellschaftlicher Realität durch neue Techniken
§2
Risikokommunikation und Recht
56 57 62
I. Risiken und Risikokommunikation
62
1. Entscheider und Betroffene - Der konstruktivistische Risikobegriff
62
2. Andere Dichotomien, andere Risikobegriffe
63
3. Risiken als kommunikative Konstrukte
64
a) Zur Kalkulierbarkeit von Risiken
65
b) Unterschiedliche Beobachterperspektiven
66
c) Latenz
67
d) Beobachtung und Gegenbeobachtung
68
II. Rechtliche Risikoentscheidungen in Konfliktfällen
70
1. Risikoregulierung als Staatsaufgabe
71
2. Eilzuständigkeit des Rechtssystems
73
HI. Abwägung von Persönlichkeitsrechten - ein Normbildungsprozeß in der Risikogesellschaft?
75
Teil 2 Regeln und Prinzipien - Unterschiedliche Modi juristischen Argumentierens und ihre Bedeutung für Stabilität und Flexibilität des Rechts §3
Regeln und Prinzipien - Erste Annäherung an eine Leitunterscheidung I. Die Differenzierung der Rechtstheorie (R. Dworkin, R. Alexy, J. Esser)
77 77 77
1. Regeln
78
2. Prinzipien
78
3. Prinzipienabwägung und Regelauslegung als Idealtypen rechtlichen Begründens
80
Inhaltsverzeichnis 4. Schnittstellen zwischen Regeln und Prinzipien
82
5. Prinzipienabwägungen im Verfassungs-und im Zivilrecht
82
II. Regeln und Prinzipien im Kontext systemtheoretischer Rechtsnormkategorien 1. Regeln als Konditionalprogramme
85
2. Prinzipien als Zweckprogramme
86
HI. Zwischenergebnis: Eine nur vorläufige Begriffsverwendung §4
88
Kommunikative Distanz - Sprachtheoretische und soziologische Grundlagen einer Analyse juristischer Argumentation I. Die rechtstheoretische Kritik an der Vorstellung juristischer Textbindung .. II. Die soziologische Kritikrichterlicher Dogmatik
89 91 93
DJ. Das „Unbestimmtheitsparadox"
95
IV. Intersubjektivität
97
V. Gemeinsame kommunikative Vergangenheiten VI. Typenbildung VII. Der Bruch mit kommunikativen Gemeinsamkeiten Vm. Die Bildung spezifisch juristischer „Eigenwerte" IX. Kommunikative Distanz X. Verstehen und Zustimmen XI. Zur Berechtigung einer soziologisch orientierten Analyse juristischer Diskursformen XII. Kommunikative Distanz hinter Spiegeln §5
84
100 103 108 110 112 117 118 123
Die Rückwirkung regelorientierter Begründungen und Diskurse auf gerichtliche Entscheidungsprozesse 126 I. Richterliche Entscheidung undrichterliche Begründungspflicht
128
12
Inhaltsverzeichnis II. Die Ordnung des juristischen Diskurses 1. Handlungsrestriktionen durch constraints a) Zum Begriff der constraints
131 132 133
b) Constraints im Kontext einer Dualität von Handlung und Struktur ... 135 2. Juristische Diskurse
136
a) Diskurse als Praxis
137
b) Zum Verhältnis von Diskurstheorie und Systemtheorie
139
c) Recht als Ensemble diskursiver Praktiken
142
d) Regeldiskurse und prinzipienorientierte Diskurse
143
3. Konditionalnormen als rekursives Netzwerk von Kommunikationen
143
a) Regeln und Begriffe im juristischen Diskurs
144
b) Primär- und Sekundärtexte
146
IQ. Das Ineinandergreifen von Regeldiskursen und anderen „constraints" 1. Sekundäre Sozialisation und juristischer Habitus
150 151
a) Zum Begriff des Habitus
151
b) Juristische Sozialisation und Regeldiskurse
152
c) Habituelle Verstetigung von Präferenzmustern
157
2. Rechtsweg, Begründungszwang und der Faktor Zeit
160
3. Ersetzung von Wahrheit durch Autorität: Rechtsprechung und herrschende Meinung als funktionale Äquivalente für den Konsens der Diskursgemeinschaft 163 4. Zwischenergebnis: Präferenzen für juristische Eigenwerte §6
Die Stabilisierung des Rechtssystems durch regelorientierte Diskurse I. Systemtheorie ohne Akteure?
167 170 170
1. Systemspezifischer Code und systemeigene Programme
171
2. Einwände gegen systemtheoretische Reduktionismen
174
3. Richterliche Rechtsfortbildung und ihre Akteure in unterschiedlichen Systemzusammenhängen 176 4. Zur Berechtigung systemtheoretischer Modellbildung
179
Inhaltsverzeichnis II. Redundanz und Varietät von Kommunikationen
184
HI. Die Kosten von Varietät und kommunikativer Distanz
187
IV. Der Stellenwert der Entscheidungsgründe für Rechtssicherheit, Erwartungsbildung und die Stabilität des Rechtssystems
189
1. Was bedeutet: Stabilität des Rechts?
190
2. Die Kontingenzrichterlicher Sachverhaltskonstruktion
190
3. Die Bildung generalisierter, kontrafaktischer Erwartungen
193
4. Stabilität und systemische Reproduktion vor unterschiedlichen Zeithorizonten 195 V. Regelorientierte Diskurse als Stabilitätsgaranten im Rechtssystem
196
Teil 3 Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modus richterlicher Normbildung §7
198
Die Defizite juristischer Regeldiskurse angesichts der Dynamiken von Technikentwicklung und Risikokommunikation 198 I. Risikoregulierung durch Rechtsentscheidungen
198
1. Vertrauen und rechtliches Entscheiden
198
2. Wissensmaximierung und die Erzeugung von Vertrauen
200
3. Stoppregeln
201
4. Unsicherheitsabsorption durch Rechtsentscheidungen
202
II. Grenzen entscheidungsvermittelter Sicherheit
203
1. Synergetische Effekte rechtlicher Entscheidungen
203
2. Die Dynamik von Wissenschaft und Technikentwicklung
204
3. Die diffuse Rückwirkung von Risikodiskursen auf das Rechtssystem ... 204 a) Massenmedial vermittelte Öffentlichkeit und Risikodiskurse
205
b) Rückwirkungen auf das Rechtssystem
207
14
Inhaltsverzeichnis c) Konkurrenz des Rechts zu vorgelagerten und parallelen Sinnstrukturen 209 d) Double-Bind-Situationen bei der gerichtlichen Entscheidung
214
m. Regeldiskurse im Interferenzbereich gegenläufiger Rationalitäten und Risikobewertungen 216 IV. Das Veralten des Modells regelgeleiteten Entscheidens V. Die Aktualität des Modells regelgeleiteten Entscheidens §8
Abwägung von Prinzipien I. Prinzipienorientierte Begründungen
221 225 227 227
1. Abwägung als Bruch mit den kommunikativen Vergangenheiten rekursiver Regeldiskurse 227 a) Bruch mit kommunikativen Vergangenheiten
228
aa) Kassandrarufe - Juristische Perspektive
228
bb) Systemveränderung - Soziologische Perspektive
229
cc) Optimierung - Entscheidungstheoretische Perspektive
230
dd) Krisensituationen und Routinen zweiter Ordnung - Sozialpsychologische Perspektive 231 b) Der Rekurs auf rechtsexterne kommunikative Gemeinsamkeiten
234
2. Verfestigung von Prinzipien: Verdichtungsprozesse in Richtung auf rekursive Regeldiskurse 236 a) Restabilisierung durch Eigenwertbildung
237
b) Prinzipien als Primär- und Sekundärtexte
238
c) Vorrangrelation und Konditionalisierung
241
d) Verdichtungsformen
242
aa) Konditionalnormen
242
bb) Gewichtungsregeln als prozedurale Vorgabe von Argumentationslasten 244 cc) Internalisierung von Interessen
244
dd) Prinzipien als Topoi
246
Inhaltsverzeichnis II. Die Rationalität des Abwägens
248
1. Abwägung und Rhetorik
248
a) Die Waage der Justitia
248
b) Abwägung als argumentative Grundformel ethischer und anderer Risikodiskurse 250 c) Vom „Alles-oder-nichts-Prinzip" zur differenzierenden Betrachtung 251 d) Der Gesichtspunkt des zurückgestellten Interesses
252
e) Abwägung als partielle Zeitumstellung
252
2. Latenzerzeugung durch Abwägung von Werten
253
3. Offenhalten der Zukunft: Vermeidung vorzeitiger Selbstbindung
256
4. Abwägung als „Monitoring" des Rechtssystems?
258
5. Zwischenergebnis: Abwägung von Prinzipien als Normbildungsprozeß 261 HI. Grundrechte als Prinzipien
262
Persönlichkeitsrechte als Prinzipien: Der kulturelle und affektive Gehalt personaler Identität in der abendländischen Moderne 264 I. Der affektive Gehalt persönlichkeitsbezogener Schutzvorstellungen
264
1. Persönlichkeitsrechte als diffuse Rechte
264
2. Entstehung und Bedeutung von Individualität und Privatheit
265
a) Die neuzeitliche Genese des Verhältnisses von privatem und öffentlichem Raum
266
b) Macht, Wissen und Individualität
268
c) Funktionsbereiche von Privatheit und Individualität
270
aa) Autonomie und individuelle Identitäten
270
bb) Eingeschränkte und geschützte Kommunikation
271
cc) Freiräume für Emotionen und abweichendes Verhalten
272
d) Die Verletzung privater Räume und Selbstbestimmung
273
3. Double-Bind-Situationen bei Gefährdungen individueller Selbstbestimmung 276
16
Inhaltsverzeichnis II. Die autonomiesichernde Limitaüonsfunktion neuer Persönlichkeitsrechte im Kontext moderner (Medizin-)Technologien 279 in. Persönlichkeitsrechtliche „Rechtsfolgen": Die Postulierung von Autonomie 281
Teil 4 Persönlichkeitsrechtsentwicklung Normbildungsprozesse in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft im Kontext von Risikodiskursen §10 Zwischen Prinzipienabwägung und Regelbildung: Die Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Rechtsprechung und Literatur I. Die Fragestellung der Analyse
284
284 284
1. Zur Methodik
285
2. Rechtsprechung und Rechtswissenschaft
286
II. Entstehimg und Frühgeschichte der Kategorie Persönlichkeitsrechte
288
1. Persönlichkeitsrechtliche Diskurse im 19. Jahrhundert
289
2. Ein BGB ohne allgemeines Persönlichkeitsrecht
296
3. Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Inkrafttreten des BGB
297
DI. Die Durchsetzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts: Ausbildung eines neuartigen Modus zivilrechtlicher Argumentation und Normbildung 299 1. Die Leserbriefentscheidung
300
a) Sachverhalt und Prozeßgeschichte
300
b) Die Entscheidung des BGH
300
c) Erster Eigenwert: Der Obersatz
305
d) Zweiter Eigenwert: Die Anerkennung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts 306 2. Cosima Wagner
312
3. Paul Dahlke
314
Inhaltsverzeichnis 4. Krankenpapiere/Versicherungsakten
316
a) Sachverhalt und Begründung
317
b) Erster Eigenwert: Das Recht, über die eigenen Daten zu bestimmen 318 c) Zweiter Eigenwert: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht als sonstiges Recht im Sinne von § 823 I BGB
319
d) Dritter Eigenwert: Die einzelfallbezogene Interessen- und Güterabwägung als Argumentationsmodus 319 e) Abwägung und Restabilisierung durch Systembildung
323
f) Destabilisierung durch Abwägungsbegründungen?
327
5. Herrenreiter
330
a) Sachverhalt und Begründung
330
b) Der Systembruch
331
c) Systembruch und Destabilisierung
333
d) Restabilisierungsversuche durch Rekurs auf kommunikative Vergangenheiten 336 6. Die Soraya-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
342
7. Das Ginseng-Urteil
345
8. Die „Caroline-von-Monaco"-Entscheidungen I—HI
348
9. Die „Marlene-Dietrich"-Urteile
353
IV. Verselbständigung der Eigenwerte: Die Internalisierung des Risikodiskurses über die Gefahren moderner Medientechnik 1. Das „Technikargument"
357
2. Das persönlichkeitsrechtliche „Recht auf Selbstbestimmung"
360
3. Die Verselbständigung von Eigenwerten
365
V. Zwischenergebnis: Die Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zwischen Bruch und kontinuierlicher Verfestigung § 11 Genanalyse und Persönlichkeitsrechtsentwicklung I. Diskurse zur Humangenetik 2 Maitra
356
366 369 371
Inhaltsverzeichnis II. Evidenz und narrative Struktur des Menschenwürdearguments 1. Die Würde des Menschen ist unantastbar, Artt. 11,79 III GG
381 382
2. Menschenwürde und Mythos: Verwandte Evidenzen außerrechtlicher Metaphorik 384 3. Die Evidenz des Menschenwürdeprinzips
389
4. Individualistische und gattungsbezogene Lesarten des Menschenwürdearguments 391 a) Individualistische Lesart: Menschenwürde als Herrschaft selbstbestimmter Individuen 392 b) Kollektivistische Lesarten: Menschenwürde als gattungsspezifischer Ausdruck menschlicher Natur 393 c) Religiöse Perspektiven
397
d) Menschenwürde als interaktionistisch begründeter Anspruch auf Achtung 399 e) Dogmatische Konsequenzen
400
5. Individuelle Selbstbestimmung als zentraler Menschenwürdegehalt im Kontext Humangenetik 405 a) Holistische und individualistische Ethiken in der modernen Gesellschaft 405 b) Individualisierungsschübe und die Bedeutungszunahme von Gesundheit und Selbstverantwortung 407 c) Der Eingriff humangenetischer Techniken in höchstpersönliche Bereiche 408 6. Zwischenergebnis: Präferenz für Selbstbestimmungskonzepte als strukturbildender Effekt des Menschenwürdegrundsatzes HI. Ein Recht auf umfassende genetische Selbstbestimmung?
409 411
1. Anwendungsbereiche und Problemfelder der Genomanalyse
412
2. Evidenz und Entstehung eines „Rechts auf Nichtwissen": Von der Zeitungslektüre zur herrschenden juristischen Meinung
415
3. Die Normstruktur eines „Rechts auf genetische Selbstbestimmung"
425
a) Selbstexekutives negatorisches Freiheitsrecht
427
Inhaltsverzeichnis
19
b) Bewehrung von Freiräumen durch Limitierung fremden Handelns ... 428 c) Rechtlich konstituiertes Freiheitsrecht IV. Auswirkungen auf der Systemebene: Stabilität und Dynamik
429 433
1. Konsequenzen individualistischer Verständnisse von Menschenwürde: Individuelle genetische Selbstbestimmung als persönlichkeitsrechtliche Position 434 2. Konsequenzen kollektivistischer Verständnisse von Menschenwürde: Abwägungsresistenz des Menschenwürdegrundsatzes 436 3. Rechtliche Stabilität als Vorbedingung wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Dynamik 438 4. Rechtswissenschaftliche Normbildung als Stabilitätsgarant
439
Teil 5 Fazit
442
§ 12 Persönlichkeitsrechtsentwicklung als Normbildungsprozeß im Kontext von Risikodiskursen 442 I. Technische Innovationen und individuelle Selbstbestimmung H. Regeln und Prinzipien im Kontext von Risikodiskursen
443 447
1. Regelförmige Eigenwerte als vergangenheitsorientierte Routine
447
2. Risikodiskurse und rechtliche Dynamik
449
3. Prinzipienabwägung als zukunftsoffene Routine zweiter Ordnung
454
4. Schließung und Öffnung des Rechts durch Regeln und Prinzipien
455
HI. Persönlichkeitsrechtsentwicklung als Normbildungsprozeß in der massenmedial dynamisierten Risikogesellschaft 458 IV. Die Ambivalenz persönlichkeitsrechtlicher Selbstbestimmung
461
Literaturverzeichnis
463
Sachwortverzeichnis
526
2*
Einleitung Welche Eltern wollten nicht, daß ihr Kind gesund, ganz ohne körperliche Beeinträchtigung oder irgendein Gebrechen zur Welt kommt? Was aber ist heute ein Gebrechen? Was stellt eine körperliche Beeinträchtigung dar - in einem Zeitalter, in welchem persönliche Identität, Autonomie und selbstverantwortliche Lebensgestaltung für die meisten Menschen an die Stelle der traditionellen transzendenten und an eine jenseitige Existenz anknüpfenden Sinngebungen getreten sind? Mehr denn je bedeutet Selbstverantwortung heute, durch größtmögliches individuelles Bemühen die eigene Gesundheit zu erhalten. Dabei geht es nicht allein um die Sicherung der eigenen Arbeitskraft zum Zwecke der durch Gelderwerb vermittelten Teilhabe an Konsum und gesellschaftlichem Wohlstand. Für immer mehr Menschen beider Geschlechter ist persönliche Identität mit körperbezogenen Heilheits- und Schönheitsvorstellungen verbunden. Krankheit und körperliches Leiden sind jeder transzendenten Sinnzuschreibung vergangener Epochen entkleidet. Nach Wegfall jenseitiger Heilserwartungen ist körperlicher Verfall erschreckender und obszöner denn je. Der menschliche Körper hat eine immense Aufwertung als Bedeutungsträger erfahren. Wellness, Bodystyling, Fitness und körperbezogene Adventure sind Programm jener modernen Urbanen Mittelschichten, deren durch Medien, Markt und Werbung vermittelte kulturelle Hegemonie unser aller Vorstellungen vom Körper, seiner Bedeutung und seiner Ästhetik neu prägt und umwertet. Nicht wenige Eltern würden gerne, notfalls auch durch Abtreibung, vermeiden, daß der genetische Set ihres Nachwuchses eine Anlage zum Übergewicht enthält1. Zunehmend bietet die moderne Medizin in ihren Hightechvarianten Mittel, die eigenen biologischen Möglichkeiten wie die des eigenen Nachwuchses zu steigern. Unfruchtbarkeit, um ein Beispiel zu nennen, war früher naturwüchsiges Schicksal. Sie wurde weitgehend durch die Nötigung ersetzt, sich zunächst für oder gegen die Möglichkeit künstlicher Befruchtung und dann gegebenenfalls für eine ihrer vielfältigen Techniken zu entscheiden. Den künstlich erzeugten Nachwuchs genetisch testen zu können, hat die Möglichkeit einer „Schwangerschaft auf Probe" (BeckGernsheim) eröffnet. Mit atemberaubender Geschwindigkeit nimmt die Vielfalt der medizintechnisch eröffneten Möglichkeiten zu. Im Verlauf ihres Entstehungs- und Durchsetzungsprozesses überformen neue Medizintechniken verschiedene gesell1 Immerhin 19 % der deutschen Humangenetiker würden bei Feststellung einer Anlage zur Fettsucht zur Abtreibung raten; Fegert 1999: 246; ähnl. die Äußerungen von Schwangeren bei einer Umfrage der Universität Münster; R. Beckmann 2001: 176. Wäre eine Neigung zu Übergewicht vorgeburtlich feststellbar, so würden einer Umfrage in New England zufolge 11 % der Eltern allein schon deshalb abtreiben lassen; Geisler 1995.
Einleitung
22
schaftliche Subsysteme sehr unmittelbar. Anders als große technische Systeme, wie z. B. die Atomkraft, benötigen sie keine neuen, voraussetzungsvollen Makrostrukturen, sondern betten sich vergleichsweise umstandslos in vorhandene Strukturen des Gesundheitssystems und der ärztlichen Kunst ein. Sobald sie in den breitenwirksamen Produktions- und Anwendungsbereichen alternativ oder auch alternativlos zur Verfügung stehen, erweitern neue Medizintechniken bestehende Handlungspotentiale oder schränken sie ein. Sie erhöhen Komplexität. Darin unterscheiden sich neue Medizintechniken von vielen anderen neu entstandenen technischen Möglichkeiten nicht allzusehr. Bisher fraglos geltende Wahrnehmungsmuster, Normalitätsvorstellungen, Wissensbestände, Machtbalancen, Interessenlagen, individuelle wie organisatorische Handlungsorientierungen, Routinen und Steuerungsmechanismen werden durch sie verändert oder dysfunktional. Im Kontext der einschlägigen Risikodiskurse wird Zukunft als gestalt- und damit entscheidbar erfahren. Die neuen Möglichkeiten sind, so lehren uns diese Diskurse, mit spezifischen Chancen und Risiken, die unterschiedliche Personen treffen können, verknüpft. Sie zwingen zu Entscheidungen, individuellen wie kollektiven. Spätestens im Konfliktfall werden diese Entscheidungen im Rechtssystem bearbeitet und müssen dann begründet werden. Überzeugende Begründungen aber scheinen in Zeiten, in denen sich bestehende Begründungsmuster und Normhaushalte zunehmend in Frage gestellt sehen, auch im Bereich moderner Biotechnologien ein knappes Gut zu sein. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Frage, wie - aus soziologischer Sicht - der Mechanismus beschaffen ist, mit dem - unter anderem - die bei Anwendung moderner Medizintechniken entstehenden neuartigen Konfliktlagen im Rechtssystem mit Hilfe von (neuen) Persönlichkeitsrechten verarbeitet werden, und zwar vor, parallel zu und jenseits legislativen Aktivitäten. Die Fragestellung wird insbesondere zum Ende der Arbeit hin auf das Beispiel der prädikativen Genomanalyse2 zugespitzt. Konkrete Beispiele werde ich vor allem aus diesem Bereich, der in den vergangenen Jahren jedenfalls in öffentlichen Diskursen exponentiell an Bedeutung gewonnen hat, anführen 3. Daraus lassen sich auch über den engen Bereich 2
Genomanalyse ist ein Sammelbegriff für unterschiedliche Techniken (zu den einzelnen Formen vgl. Deutscher Bundestag 1987: 144 ff. und 2002: 115 ff.; Vollmer 1989: 19 ff.; A. Schmidt 1991: 13 ff.; C Hofmann 1999: 6 ff.; Schmidtke 2001; Tjaden 2001: 56 ff.; Regenbogen 2003: 27 ff.). Teilweise wird der Begriff in Abgrenzung zur Genanalyse, mit der die zielgerichtete diagnostische Analyse Einzelner gemeint ist, verwendet und bezeichnet dann die Kartierung des menschlichen Genoms. Ich verwende den Begriff Genomanalyse synonym zu dem der Genanalyse , teilweise auch als Sammelbegriff für sämtliche die menschliche Genausstattung erfassenden Verfahren, einschließlich der Chromosomenanalyse, direkter und indirekter DNA-Analyse sowie der proteinchemischen Analyse. Nicht davon umfaßt ist das nichtinvasive Verfahren der Phänotypanalyse. Im wesentlichen geht es im Rahmen der Arbeit um prädikative Gentests , die über die Diagnosesicherung hinausgehend die genetische Disposition Einzelner erfassen und so Aussagen über die Wahrscheinlichkeit späterer Erkrankungen ermöglichen (vgl. Deutscher Bundestag 2002: 115 f., 120 f.; Regenbogen 2003: 32 ff.). 3 Weitgehend unberücksichtigt bleibt die staatliche Anordnung von Genanalysen (§§ 81e81h StPO, 46 IV OWiG, 372a ZPO), weil es dabei nicht um individuelle genetische Dispositionen geht.
Einleitung
dieser modernen Biotechnologie hinausgehende Einsichten über den Zusammenhang von Technik- und Rechtsentwicklung gewinnen. An einem schmalen Ausschnitt gegenwärtiger Problementwicklung wird ein m. E. grundlegender Mechanismus zu beschreiben versucht. Die Untersuchung geht von der Hypothese aus, daß im Kontext moderner Medizintechniken Konfliktstrukturen entstehen, die sich oft nicht ohne weiteres in den routinemäßigen Formen regelgeleiteten Begründens und Entscheidens abarbeiten lassen. Sie erzwingen weichere Rechtsformen, die eine stärkere Berücksichtigung rechtsexterner und verfassungsrechtlicher Maßstäbe ermöglichen. Denn neue Technologien und die durch sie angeschobenen oder zumindest mit ihnen einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen sind ebenso wie die sie thematisierende Kommunikation (öffentliche und teilöffentliche Risikodiskurse) durch große Komplexität und hohe Veränderungsdynamiken gekennzeichnet. Diese lassen sich mit durchstrukturierten, starren und ausdifferenzierten Regelgeflechten und einem an axiomatischen Begriffssystemen geschulten dogmatischen Denken kaum bewältigen. Für das Verwaltungshandeln und dessen gerichtliche Kontrolle ist die Tendenz zu weicheren, flexibleren Rechtsformen in vielen Zusammenhängen thematisiert und belegt worden4. Im Zivilrecht erfolgt eine Thematisierung dieser Entwicklung in der Regel unter den Stichworten „Generalklauseln", „Normtatsachen" sowie „Drittwirkung der Grundrechte"5. Angesichts von Regelungsbereichen, in denen vor allem die technische Entwicklung zu hoher Komplexität, großen Dynamiken und offenkundigen Dysfunktionalitäten des Rechts führt 6, wird seit etwa dreißig Jahren über Folgenorientierung7, responsive Dogmatik, relationales8, reflexives 9, lernendes und prozedurales10 Recht diskutiert11. Es geht letztlich um die Frage, 4 Vgl. nur Ladeur 1984 und 1995; Hiller 1993; Treiber 1987. 5 Exemplarisch Nicklisch (1989: 5): „Der Grundsatz der Flexibilität muß daher im Recht der Biotechnologie erhöhte Geltung beanspruchen. ( . . . ) (Zu deren Gewährleistung) empfiehlt sich die Anwendung der Generalklauselmethode, wie sie durch das deutsche Technikrecht zu Beginn unseres Jahrhunderts im Bereich der Dampfkessel-Gesetzgebung entwickelt wurde." [Hervorh. im Orig., D.M.]. 6 Vergleichsweise gut dokumentiert und analysiert sind v. a. Implementationsdefizite im Bereich gesetzesgebundener Verwaltung; vgl. nur Mayntz et al. 1978; Mayntz 1977 und 1987 sowie Hiller 1993. 7 Aus der umfangreichen Literatur vgl. nur Deckert 1996; Hiller 1993: 72 ff. sowie die Beiträge bei Teubner 1995. Zur Diskussion der 70er Jahre vgl. Damm 1976: 240 m. Nachw. 8 Willke 1992: 179 ff. 9 Teubner 1982 und 1989; Teubner/Willke 1984; E. Rehbinder 1988: 111 ff.
10 Eder 1986; Wiethölter 1989; Ladeur 1994a: 50 ff.; zu Darstellung und Kritik vgl. Hiller 1993: 139 ff., 151 ff. 11 Aus der unübersehbaren Vielzahl der Stimmen seien nur zwei genannt: Geradezu klassisch die Formulierung bei Blanke (1990: 156), der das Recht „insofern vor neuartige Anforderungen" gestellt sieht, „als es dem jeweils erreichten Stand von wissenschaftlicher Ungewißheit Rechnung tragen muß. Es darf diese nicht ausblenden oder verdrängen, indem es soziale Erwartungen - im harten naturwissenschaftlichen Sinne »kontrafaktisch' - stabilisiert,
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wie ein grundlegendes Dilemma modernen Rechts aufzulösen ist: Einerseits muß Recht flexibel genug gehalten werden, um der hohen Dynamik der in anderen gesellschaftlichen Subsystemen produzierten Wissens- und Weitungsbestände sowie Unübersichtlichkeit und Unbeständigkeit der Problemfelder staatlicher Sozialgestaltung Rechnung zu tragen. Andererseits soll zugleich eine ausreichend stabile Normalität und Routinerichterlichen Entscheidens gewahrt bleiben, damit Effektivität, Konsistenz, Berechenbarkeit (Erwartungsbildung) und Rechtssicherheit im Rechtssystem nicht gefährdet werden und Willkür ausgeschlossen bleibt. Angesichts der vielfältigen Überlegungen, wie modernes Recht beschaffen sein sollte, soll hier untersucht werden, wie im (Zivil-)Rechtssystem selbst mit diesen antagonistischen Funktionserfordernissen umgegangen wird. In diesem Sinne wird in der hier vorgelegten Arbeit die Entwicklung von (neuen) Persönlichkeitsrechten exemplarisch in den Blick genommen, teilweise mit Zuspitzung auf den Problembereich genanalytischer Verfahren. Eine Konjunktur persönlichkeitsrechtlicher Argumentation sowie die Prinzipien- und Interessenabwägung als ganz spezifischer Modus juristischen Begründens - und, wie zu zeigen sein wird, des Entscheidens - sind Mittel des Rechtssystems, den technologisch angeschobenen Wandel außerrechtlicher Wirklichkeit zu verarbeiten. Nicht nur Begriffsabstraktion, topische Argumentation, bereichsspezifische Ausdifferenzierung und die Dynamisierung von Regeln (Generalklauseln, Blankett- und Verweisungsnormen) ermöglichen, mit den divergierenden Anforderungen, die im Gefolge neuerriskanter Techniken an das Rechtssystem herangetragen werden, umzugehen. Daneben ist mit der Figur der prinzipienorientierten Abwägung und der in ihr angelegten Möglichkeit zu regelförmiger Verdichtung ein weiterer, möglicherweise flexiblerer und akzeptanzfördernderer Mechanismus getreten12. Wir stoßen hier, so meine ich nachweisen zu können, nicht allein auf eine Veränderung rechtlicher Diskursformen, sondern auf eine spezifische Form justizieller Normbildung, die sich in den vergangenen 50 Jahren herausgebildet hat und an welcher die Rechtswissenschaft in einer Mittlerfunktion zwischen rechtlicher und außerrechtlicher Kommunikation maßgeblich beteiligt ist. Vielfach und aus ganz unterschiedlichen Perspektiven wird die Rechtfertigung von Gerichtsentscheidungen durch Prinzipienabwägungen kritisiert 13. Über deren Vorteile und Defizite mag man unterschiedlicher Meinung sein. Angemessen beurteilen läßt sich dieser Modus juristischer Argumentation jedoch nur, wenn man wenigstens annähernd eine Vorstellung davon hat, wie dieser als Sprachspiel auf juristische Entscheidungsprosondern muß auf Irrtums- und Fehlerfreundlichkeit, Reversibilität und Reflexivität umgestellt werden." Etwas weiter greift Grimm aus, wenn er unter dem Aspekt der Bedeutungszunahme prozeduralen Grundrechtsschutzes auf die „unsicheren Bedingungen von Langfristigkeit, Situationsveränderungen, Zielkonflikten und Folgeproblemen" staatlicher Planung und Lenkung hinweist (1985: 866). 12 Mit der Abwägung im Verwaltungsrecht beschäftigen sich Ladeur 1984 und Hiller 1993: 149ff.; 161 f. 13 Statt vieler H Hesse 1994: 150 ff.; Leisner 1997; krit. Gassner 1998.
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zesse zurückwirkt und wie diese Zusammenhänge in die Wechselwirkung zwischen Recht und anderen gesellschaftlichen Subsystemen eingebettet sind. Die Zuspitzung auf den Zusammenhang zwischen Genanalyse und Persönlichkeitsrechtsentwicklung hat auch insofern exemplarischen Charakter, als es sich bei der Genanalyse um eine moderne Hochtechnologie handelt, bei der sich Problematiken von Informations- und medizinisch ausgerichteten Humantechnologien sehr weitgehend verschränken. Nur vordergründig betrifft die Wechselwirkung von Persönlichkeitsschutz und medizintechnologischer Entwicklung einen kleinen Bereich aktueller Rechtsentwicklung14. Immerhin sind „medizintechnische Entwicklungen ( . . . ) maßgebliche Auslöser dafür, daß eine neue und heftige Grundlagendiskussion nicht nur zum Konzept »Persönlichkeit4, sondern bereits zum Konzept »Personalität*, zu Personenstatus und Rechts Subjektivität eingesetzt hat" 15 . Nicht die auf den Mißlingensfall beschränkten Risiken traditioneller Technologien für „konsentierte klassische »harte4 Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum)"16 sind hier das Problem. Es geht nicht mehr um katastrophenförmige Explosionen und Konterminierungen, die „schmutzigen", sinnlich faßbaren, Natur wie Kultur destillierenden Schäden. In den öffentlichen und halböffentlichen Kontroversen zu Gentechnik und Informationstechnologie werden sinnlich nicht faßbare „Risiken für kontroverse und diffuse, gewissermaßen ,weiche' Schutzgüter"17 thematisiert, die auch und gerade im Falle technologischen Gelingens beunruhigen18. Informationsund Biotechnologien und deren Verknüpfung haben in ihrem Humanbezug Gefährdungspotentiale geschaffen, die Zentralkategorien der bürgerlichen Moderne, etwa die personale Autonomie des Individuums und die Differenz von Natur und Kultur, zunehmend als prekär und somit die Frage, was menschliche Natur und persönliche Identität ausmacht, diskussionsbedürftig erscheinen lassen. Dem korrespondiert eine Aufwertung und Ausweitung des Menschenwürdegrundsatzes, des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und davon abgeleiteter Rechtspositionen. In unterschiedlichsten Bereichen, etwa „Entwicklungen im Bereich der Organtransplantation, Explantation und Sektion zwischen Einwilligungs-, Widerspruchs- und Informationslösungen; personen- und persönlichkeitsrechtliche(n) Probleme(n) der Fortpflanzungs- und Intensivmedizin ( . . . ) , Probleme(n) der Gentechnik etwa bei Genomanalyse und prädiktiver Medizin mit besonderem Gewicht informationeller Schutzpositionen"19, wird der Stellenwert auf die Medizintechnik bezogener Selbstbestimmungsrechte in der juristischen Literatur hoch angesetzt. Gerade der expandierende Bereich moderner Biotechnologien wird daher nicht nur von ethi-
14 Vgl. Damm 1998a: 926 f. 15 Damm 1998a: 930 [Hervorh. im Orig., D.M.]; vgl. Damm 1998a: 930 f.; 1991: 281 ff.; 1993: 168 ff.; 1998b: 118 ff.; 2002a: 871 ff.; 2002b: 376 ff.; jew. m. Nachw. zur Diskussion. 16 Damm 1999a: 437. 17 Damm 1999a: 437 f. 18 Vgl. Damm 1999a: 437 f. 19 Damm 1998a: 927.
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sehen Kontroversen, sondern auch in hohem Maße von Diskussionen um Ausprägung und Stellenwert von Menschenwürde und allgemeinem Persönlichkeitsrecht flankiert. Auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur zu den Themen Genanalyse und Humangenetik häufen sich dort, wo grundlegende, existentielle Problemkonstellationen angesprochen werden, mit ethischen Erwägungen vermengte persönlichkeitsrechtliche Argumentationen, wird verstärkt auf den Menschenwürdegrundsatz und auf Selbstbestimmungspostulate zurückgegriffen. Zumindest forensisch arbeitenden Juristen müssen diese Verknüpfungen merkwürdig beliebig erscheinen. Handelt es sich dabei, diese Frage drängt sich auf, nur um einen relativ schwachen, rhetorischen Kniff, bei dem die Hochrangigkeit des Menschenwürdegrundsatzes und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sowie dessen Ausprägungen dazu mißbraucht werden, nach jeweiligem Belieben Argumenten medizinischer, moralischer, religiöser, ökonomischer und philosophischer Provenienz Nachdruck zu verleihen? Was erzeugt hier Plausibilität und was macht aus der öffentlichen Forderung einzelner im Fortgang öffentlicher und fachöffentlicher Erörterungen Recht? Entstehen nur wirkkräftige Topoi oder werden verbindliche Regeln konstituiert? So beliebig manche der in diesem Diskurs anzutreffenden Argumente zunächst erscheinen mögen, wir haben es mit Vorstufen von Recht zu tun. Bestimmte Interessen (oder deren Abwehr) werden dabei als rechtliche in den Rechtsdiskurs internalisiert. Argumente, die im rechtlichen Zusammenhang noch nicht tradiert und damit als „außerrechtlich" wahrgenommen werden, werden mit solchen verknüpft, die in der Texttradition des spezifisch juristischen persönlichkeitsrechtlichen Diskurses der vergangenen 120 Jahre stehen. Die These, die in dieser Arbeit entfaltet und belegt werden soll, lautet, daß solche Argumentationen deshalb weder völlig beliebig, noch frei verfügbar sind, weil sie sich auf der Matrix einer spezifischen Praxis gerichtlicher, rechtswissenschaftlicher Diskurse und - in Grenzen - außerrechtlicher Texttraditionen vollziehen. Es handelt sich um eine Praxis, die ihre ganz eigene und soziologisch faßbare Funktionalität hat, weil sie auf die Erfordernisse der oben angesprochenen justiziellen Normbildungsprozesse abgestimmt ist, insbesondere mit deren tastenden Vorläufigkeit und relativen Offenheit gegenüber rechtsexternen Diskursen korrespondiert. Nur deshalb können die Autorinnen und Autoren der einschlägigen Werke zum Problemkomplex Genanalyse auf eine gerichtliche Rezeption persönlichkeitsrechtlich angereicherter „rechtsfremder" Argumentationen hoffen. Hier findet Rechtsentwicklung statt. Die Fülle und Kontingenz des rechtlich Sagbaren wird limitiert. Bereits in solchen Risikodiskursen der Fachöffentlichkeit wird das Arsenal möglicher rechtlicher Argumente im Abgleich mit den etablierten Argumentationsstrukturen der juristischen Profession als im rechtlichen Diskurs bereits Gesagtes wesentlich vorgeprägt. Gerichtliche Begründungen können und müssen darauf in konkreten Konfliktfällen zustimmend oder doch zumindest in Abgrenzung zurückgreifen. Es bilden sich erste, deutliche Strukturen aus. Zusammenhänge dieser Art lassen sich am angemessensten aus einer rechtsexternen Perspektive beschreiben.
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Recht wird somit in der vorliegenden Arbeit nicht mit dogmatischen Kriterien vermessen, vielmehr wird durch eine Beobachtung dritter Ordnung" (Luhmann) untersucht, wie Beobachter zweiter Ordnung (Juristinnen und Juristen) das Recht und seine Umwelt beobachten, normativ beschreiben und damit zugleich modifizieren. Ich nehme also nicht am juristischen Diskurs teil, sondern versuche, die sich in diesem vollziehende Rechtsentwicklung aus einer soziologischen Perspektive zu beschreiben. Juristisch-dogmatische und rechtsphilosophische Diskurse sind daher nicht Gegenstand juristischer Kritik, sondern Untersuchungsgegenstand verstehender sozialwissenschaftlicher Betrachtung. Dies beinhaltet im Einzelfall Einschätzungen, welchen Argumenten oder dogmatischen Ansätzen nach den jeweils zeitgenössischen juristischen Maßstäben größere Qualität oder Validität zugemessen wurde. Selbstverständlich, das ist eine erkenntnistheoretische Trivialität, kann sich ein solcher Versuch soziologischen Beschreibens nicht von jeder Normativität freimachen. Erkenntnis und Interesse lassen sich nicht trennen. Je weiter sich rechtliche Diskurse selbstreflexiv über Effektivitäts- und Funktionalitätserwägungen auch soziologischen Betrachtungsweisen partiell öffnen, desto weniger kann gänzlich ausgeschlossen werden, daß soziologische Analyse ausnahmsweise auf ihren Gegenstand zurückwirkt. Dennoch macht es einen Unterschied, ob man primär an Diskurse anschließt, die offen normativ danach fragen, welchen Inhalt Recht haben sollte, oder ob man sich im Kontext jener Diskurse hält, die Recht als „fait social" (Dürkheim) betrachten, und nach seinen Entwicklungsbedingungen und seiner Funktionsweise20 im Gefüge gesellschaftlicher Abläufe sucht. Ich gehe davon aus, daß beide Perspektiven ihre Berechtigung haben. Eine solche Betrachtung hat wie jede Analyse das Problem, daß nicht alles, was mit dem Themenbereich zu tun hat, Gegenstand sein kann. Man muß sich beschränken, im vorliegenden Fall auf die deutsche Rechtsentwicklung bis etwa 2003. Internationale Diskurse und Normierungen zum Thema Gendiagnostik sowie die Entwürfe zu einem deutschen Gentestgesetz21, das weiterhin auf sich warten läßt, mußten ausgeklammert werden. Wechselwirkungen mit den hier untersuchten 20 An dieser Stelle sitzt der normative Impetus soziologischer Betrachtung, sofern sie nach Funktionen, nach „sozialem Sinn" fragt. Wer von Funktionen oder funktionellen Äquivalenten spricht, unterstellt, daß eine wie auch immer geartete Rationalität des beschriebenen sozialen Zusammenhangs besteht. Dies selbst dann, wenn sich die Beschreibung weder affirmativ noch kritisch geriert, sondern sich bemüht, die Kontingenz sozialer Ordnung zu betonen. Wenn also im Fortgang der Arbeit Normativität implizierende Verben wie „sollen" und „müssen" Verwendungfinden, so ist im Zweifel von der Funktionalität der beschriebenen sozialen Mechanismen die Rede, nicht aber von deren Richtigkeit oder Kritikwürdigkeit. Adornos gegen Popper und Albers gerichtetes Verdikt, positivistische Sozialforschung reproduziere und verdoppele affirmativ den status quo (Adorno 1984: 68, 76), läßt sich nicht umstandslos auf Beschreibungen sozialer Zusammenhänge, die diesen eine Logik der Funktionalität, d. h. sozialen Sinn unterstellen, erweitern. 21
Vgl. hierzu Damm 2004; zu internationalen Regelungsvorgaben vgl. auch Regenbogen 2003: 127 ff.
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Diskursen zu beschreiben, hätte die zeitlichen undfinanziellen Grenzen gesprengt, die einem solchen Projekt üblicherweise gesetzt sind. Der Gang der Untersuchung vollzieht sich wie folgt: Zunächst werden in Teil 1 der Arbeit (§§ 1 und 2) einige zentrale Basisannahmen der Untersuchung erarbeitet. Die Frage, die uns beschäftigen soll, lautet in ihrer allgemeinsten Form, wie das Recht auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert, die technologisch angeschoben wurden. Immer wieder stößt man in rechtswissenschaftlichen wie auch rechtssoziologischen Arbeiten auf die Vorstellung eines reaktiven, der technologischen Entwicklung nacheilenden Rechts. Ich halte dies für eine höchst einseitige Sicht. Nach meiner Auffassung hat das Recht an solchen Veränderungen erheblichen Anteil, weil es deren Vorbedingungen ganz wesentlich mitstrukturiert. Daher kommt man nicht umhin, genauer zu untersuchen, wie diese Wechselbeziehung zwischen Recht und technologischer Entwicklung aussieht. Im wesentlichen geht es dabei um den oben grob skizzierten Zusammenhang zwischen Konflikt- und Normstruktur. Mehrere Fragen sollen beantwortet werden: Welchen Anteil hat das Recht als eines der zentralen gesellschaftlichen Regulative daran, daß (medizin-)technische Innovationen gesellschaftliche Realität überformen können? Welcher Zusammenhang besteht zwischen diesen Überformungseffekten und den an das Recht, respektive an die Justiz herangetragenen Anforderungen? Welchen Stellenwert haben in diesem Zusammenhang Persönlichkeitsrechte und persönlichkeitsrechtlich geprägte Argumente? Der Zusammenhang zwischen Konflikt- und Normstruktur wird in zwei Schritten erarbeitet. Zunächst wende ich mich dem Problem der Normstruktur zu. In § 1 wird skizziert, welche grundrechtlich fundierten Normstrukturen in unserem Rechtssystem zu jenem technologiefreundlichen bias führen, in dessen Konsequenz es liegt, daß neue technologische Möglichkeiten geradezu selbstläufig gesellschaftliche Realitäten überformen und vorhandene Freiheitsgarantien erweitern. Orientiert an diesem Aufriß versuche ich dann einen ersten Nachweis zu führen, daß Persönlichkeitsrechte ihrer hybriden Normstruktur nach nicht allein als Abwehrrechte begriffen werden können. Sie bieten aber in jedem Fall Möglichkeiten, reaktiv Integritäts- und Verwertungsinteressen in das Recht zu internalisieren, wenn die Innovationsoffenheit des Rechtssystems zu einer überschießenden Freisetzung neuer technologischer Handlungsoptionen führt. In § 2 liegt der Schwerpunkt der Betrachtung auf der Frage nach der Konfliktstruktur. Anhand des Begriffs der Risikokommunikation wird nachgewiesen, daß Konflikte über moderne Hochtechnologien extrem dynamische kommunikative Konstrukte sind, die ihrerseits dynamische undflexible Reaktionen des Rechtssystems erzwingen. Mit der Kategorie der Risikokommunikation bzw. des Risikodiskurses22 wird eine kommunikationstheoretische Fassung des Problems zwingend. Auch Rechts22
Weitgehend synonym zum Begriff der Risikokommunikation werde ich den des Risikodiskurses verwenden, wobei letzterer die jede Kommunikation limitierenden strukturellen Aspekte mitumfaßt. In anderen Zusammenhängen ist von Risikokommunikation die Rede,
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normen sind diskursive Konstrukte, diskursive Praktiken. Diese Diskurspraxis wird mittels eines begrifflichen Instrumentariums beschrieben, das erst erarbeitet werden muß. Dem dient Teil 2 der Arbeit (§§ 3 bis 6). Notwendig ist dieser Schritt vor allem deshalb, weil sozialwissenschaftliche Beschreibungen juristischer Kommunikation zwischen zwei Extremen schwanken, die gleichermaßen unbefriedigend sind. Entweder werden gerichtliche Begründungen umstandslos für das Ganze genommen oder ihnen wird unter Verweis auf den Unterschied zwischen Entscheidungen und deren Begründung eine Bedeutung für richterliches Entscheiden weitgehend bestritten. Daher bedarf es eines eigenen Versuchs, juristische Kommunikation respektive juristische Argumentation soziologisch faßbar zu machen. Bei der Entfaltung der dazu notwendigen Kategorien wird die der Argumentations- und Rechtstheorie sowie der Rechtsphilosophie entstammende Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien (§ 3) soziologisch reformuliert (§§ 4 bis 6). Dabei bediene ich mich einer Kombination sprachtheoretischer Überlegungen mit unterschiedlichen soziologischen Konzeptionen. In der Soziologie lassen sich mikro- und makrosoziologische Ansätze unterscheiden. Mikrosoziologie befaßt sich v. a. mit Interaktionszusammenhängen zwischen Individuen (Beispiel: Prozeßinteraktion, richterliche Entscheidungsprozesse), Makrosoziologie sieht ihren Gegenstand in der Gesellschaft und gesellschaftlichen Teilsystemen als Gesamtzusammenhängen (Beispiel: Stabilität und Dynamik des Rechts im Kontext moderner Risiken) 23 . Vermittlungsversuche haben v. a. das Problem, daß sich die Mikroebene nicht umstandslos auf die Makroebene hochrechnen läßt, sondern diese sich durch ein emergentes Niveau mit spezifischen Eigendynamiken auszeichnet. Im Rahmen der vorliegenden Analyse von Normbildungsprozessen wird versucht, eine solche Vermittlung zu leisten. Dabei (hierzu v. a. § 5) bediene ich mich neben neostrukturalistischen Überlegungen (Giddens, Foucault) auf der makrosoziologischen Ebene v. a. Kategorien der Luhmannschen Systemtheorie - trotz erheblicher Differenzen (siehe § 6) zu Luhmanns am gesetzespositivistischen Ideal eines autopoietisch geschlossenen Rechtssystems ausgerichteten Defizitanalysen des Rechts. In diesem Rahmen soll die idealtypische Unterscheidung zwischen Regel- und Prinzipiendiskursen und deren Einbettung in das Modell einer Wechselbeziehung zwischen juristischer Entscheidung und Entscheidungsbegründung zweierlei ermöglichen: Zum einen wird versucht, die Begründung gerichtlicher Entscheidungen soziologisch ernster zu nehmen, als dies gemeinhin geschieht. Unterschiedliche Argumentationsmodi wirken, so meine These, in verschiedener Weise auf richterliches Entscheidungsverhalten zurück 24. Sie kennzeichnen ganz spezifische Formen juwenn es um die institutionalisierte Verarbeitung von Informationen über spezifische Gefahren geht, so beispielsweise bei der Nachmarktkontrolle im Arzneimittelrecht. In dieser Arbeit ist mit dem Begriff ganz umfassend die gesellschaftliche Kommunikation über Risiken, auch jene jenseits institutioneller Kontexte gemeint. 23
Mit einer Mesoebene befaßt sich die sog. Organisationssoziologie. M. E. läßt sich so nachweisen, daß die aus handlungstheoretischer Sicht etwas simplifizierende Unterscheidung zwischen Konditional- und Finalprogrammen ihre Berechtigung hat. 24
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ristischer Entscheidungspraxis und - bezogen auf die soziologische Makroebene der Reproduktion des Rechtssystems und seiner Stabilität. Nur deshalb macht die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien überhaupt einen Sinn. Zum anderen kann auf diese Weise zwischen rechtlicher, d. h. in rechtlichen Zusammenhängen präferierter Kommunikation und außerrechtlicher Kommunikation unterschieden werden. Regeldiskurse und die in ihrem Kontext übliche Präferenz für rechtsspezifische Argumentationsformen, stehen für die Bildung rechtlicher Eigenwerte und Zeithorizonte, für die Stabilität des Rechtssystems, die Möglichkeit der Erwartungsbildung, die Routinisierungrichterlichen Entscheidungsverhaltens sowie für eine nur allmähliche Anpassung an veränderte äußere Bedingungen entlang den tradierten Kategorien rechtsspezifischer Kommunikation. Prinzipiendiskurse stehen dagegen für die Möglichkeit, im Rechtssystem ohne Aufgabe der Rechtskategorie vergleichsweise flexibel und zeitnah außerrechtliche Argumente und Problembewertungen aufzunehmen und so auf rechtsexterne Veränderungen zu reagieren; insbesondere auf solche, die sich im Kontext neuer Technologien und aufgrund der spezifischen Eigendynamik öffentlicher Risikodiskurse ergeben. Unter anderem diese Eigendynamik ist Thema von § 7, der zum Teil an den Problemaufriß des ersten Teils anknüpft. In diesem Eingangskapitel des 3. Teils der Untersuchung (§§7 bis 9) soll gezeigt werden, weshalb die Änderungspotenzen juristischer Regeldiskurse angesichts der Dynamiken von Technikentwicklung und öffentlicher Risikokommunikation defizitär erscheinen und in welcher Weise rechtsextern geführte Risikodiskurse auf die Rechtskommunikation und insbesondere die richterliche Entscheidungssituation zurückwirken. Insgesamt werden in Teil 3 die funktionalen Zusammenhänge zwischen Risikoproblematik, prinzipienorientierten Argumentationsmodi und Persönlichkeitsrechtsentwicklung aufgezeigt. § 8 geht dabei auf die Mechanismen und die Frage der Rationalität des Argumentationsmodus der Prinzipienabwägung ein. Daran anknüpfend befaßt sich § 9 mit der gesellschaftlichen wie individuellen Bedeutung von Privatheit und individueller Autonomie. Unter Berücksichtigung kulturhistorischer und sozialpsychologischer Erkenntnisse wird verdeutlicht, in welcher Weise die juristische Diskurspraxis von Prinzipienabwägung und Persönlichkeitsrechtsentwicklung in kulturell geprägten Evidenzen verankert ist, die persönlichkeitsrechtlicher Argumentation eine ganz eigene, in den individuellen Binnenstrukturen verankerte Plausibilität verleihen. Der 4. Teil der Arbeit (§§ 10 und 11) widmet sich mit Hilfe der entfalteten Kategorien der konkreten Analyse von Sequenzen persönlichkeitsrechtlicher Normbildungsprozesse. Zunächst wird in § 10 anhand einer Analyse von ausgewählten Feldern persönlichkeitsrechtlicher Rechtsprechung gezeigt, in welcher Weise Phasen vergleichsweise großer Dynamik und Flexibilität mit solchen relativ großer Stabilität wechseln: Die prinzipienorientierte Begründungsform der Abwägung ermöglicht den Bruch mit ausdifferenzierten Regelgeflechten. Brüche dieser Art rekurrieren auf hochrangige, abstrakte und teilweise eigens neu generierte Prinzipien. Sie münden über eine sich allmählich stabilisierende Kasuistik wieder in
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die Entstehung stabilerer Rechtsformen. Im Rahmen der Diskursanalyse soll aufgezeigt werden, wie in einem Wechselspiel verschiedener Subdiskurse, von Rechtsprechung und rechtswissenschaftlicher Literatur, von minoritären und hegemonialen, rechtlichen und außerrechtlichen Texttraditionen eine Praxis rechtlichen Begründens entstanden ist, die nicht nur das allgemeine Persönlichkeitsrecht als zentrales Prinzip unseres Rechtssystems begründet hat, sondern auch als Modus außerlegislativer Normbildung aus unserem Rechtssystem nicht mehr wegzudenken ist. In diesem Zusammenhang werden auch die ersten Ansätze der für den Problemkomplex der Genanalyse relevanten persönlichkeitsrechtlichen Rechtsprechung untersucht. Daran anknüpfend wird in § 11 analysiert, wie öffentliche und teilöffentliche Risikodiskurse in einen juristischen Diskurs über gendiagnostische Verfahren hineinwirken. Dabei wird gezeigt, wie im Bereich der Persönlichkeitsrechte rechtliche Texttraditionen mit außerrechtlichen Problemsichten amalgamiert werden. Als wichtiges Scharnier dieses Vermittlungsprozesses erweist sich der Menschenwürdegrundsatz in seinen unterschiedlichen Ausprägungen, der einen gleichzeitigen Rückgriff auf kulturell tradierte Evidenzen und rechtliche Texttraditionen ermöglicht. Es läßt sich nachweisen, daß auf diese Weise, also in Anknüpfung an außerrechtliche Problembewertungen und die persönlichkeitsrechtliche Rechtsprechung und Literatur, jenseits parlamentarischer Rechtssetzung erste Verdichtungen spezifisch rechtlicher Positionen, wie etwa ein „Recht auf Nichtwissen", entstehen. Dieser Prozeß hat normbildenden Charakter. Abschließend werden die normstrukturellen Konsequenzen dieser Entwicklung untersucht. In § 12, als Fazit zugleich Teil 5 der Arbeit, wird resümierend beleuchtet, welche Rationalität der juristische Argumentationsmodus der Prinzipienabwägung für die sich im Kontext von Risikodiskursen vollziehende außerlegislative Normbildung aus soziologischer Sicht hat.
Teil 1
Rechtssystem und Persönlichkeitsrechte im Kontext von technischen Innovationen und Risikodiskursen § 1 Die innovationsoffene Grundstruktur unseres Rechtssystems „Wenn hingegen die Policey die freie Wirksamkeit der Bürger für ihren Wohlstand willkürlich stört, die erlaubten Mittel zu diesem Zweck ohne rechtliche Ursache mindert, oder gar aus eigennützigen Absichten jenen zu entziehen und dem Landesherren zuzueignen sucht, wenn sie zur Beförderung des Cameral-Interesses die Freyheit der Untertanen schmälert, als dann kann über Eingriffe in die Rechte der natürlichen Freyheit mit Recht geklagt werden." , (Handbuch des Teutschen Polizeirechts von 1802 )
In diesem Kapitel werde ich mich mit der Wechselbeziehung zwischen Recht und innovationsbedingten gesellschaftlichen Veränderungen beschäftigen. Dies beinhaltet Überlegungen zur Normstruktur von Grundrechten im allgemeinen sowie zur hybriden Normstruktur von Persönlichkeitsrechten im besonderen. Dabei wird herausgearbeitet, in welcher Weise die Mechanismen unseres Rechtssystems einen deutlichen bias in Richtung Technologieoffenheit aufweisen. Sie tragen selbst maßgeblich zur Entstehung neuer Problemlagen bei, die dann ihrerseits den Eindruck rechtlicher Defizite begründen.
I. Technikentwicklung und Freiheitsgrundrechte Neue faktische Handlungsmöglichkeiten stoßen nur begrenzt auf bereits zivil-, straf- oder berufsrechtlich festgelegte Unverfügbarkeitsgrenzen oder öffentlichrechtliche Beschränkungen. Grenzen ergeben sich zunächst nur dort und in dem Maße, wie - auf Erfahrungen der Vergangenheit beruhend - gesetzlich oder präjudiziell vertypte Restriktionen bestehen2. Klassischerweise endet deren Wirkung 1 Günther Heinrich von Berg, Handbuch des Teutschen Polizeirechts, 7 Bde., Hannover 1799-1809, hier Bd. 1 (1802), S. 161, zit. n. W. Schulze 1987: 170. 2 Beispielsweise waren vor Inkrafttreten des Gentechnikgesetzes die bestehenden Regelungen des allgemeinen Deliktsrechts und des Arzneimittelgesetzes auf gentechnische Verfahren anwendbar, vgl. Damm 1989: 562 f.
§ 1 Die innovationsoffene Grundstruktur unseres Rechtssystems
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dort, wo sich Anwendungsformen oder -folgen der Innovationen nicht mit bestehenden Kategorien rechtlicher Typenbildung erfassen lassen3, weil nur bestimmte Rechtsgüter geschützt, nur bestimmte Eingriffs- oder Gefährdungsmodalitäten verboten sind und nicht alle Handlungsfolgen zugerechnet werden können.
1. Das,Einklinken' neuer Techniken in vorhandene Freiheitsgarantien Unser Rechtssystem ist strukturell offen für technologische Innovation: Neue faktische Handlungsmöglichkeiten verändern das bestehende Rechtsgefüge unmittelbar, weil ihre Wahrnehmung grundrechtlich a priori gewährleistet ist (Art. 5 III, 12, 14 I, 2 I GG), während Einschränkungen einer Rechtfertigung bedürfen. Wissenschafts- und Forschungsfreiheit (Art. 5 I I I G G ) 4 , Gewerbe- und Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 GG), die ärztliche Therapiefreiheit (als Ausprägung von Art. 12 bzw. Art. 5 I I I GG), das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (Art. 141 GG) sowie - hilfsweise - das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) verschaffen all jenen eine rechtlich günstigere Ausgangsposition, die die Entwicklung und Anwendung neuer Techniken anstreben. Denn sie machen Einschränkungen der grundrechtlich a priori gewährleisteten Freiheiten rechtfertigungsbedürftig 5. Demgegenüber wird der Anspruch auf Ge3
Zwar kann die durch gesetzliche Tatbestände repräsentierte Typenbildung auf neue Problemlagen ausgeweitet werden, jedoch nur in engen Grenzen. Eingehend hierzu siehe §§4 bis 8. 4 Der durch Art. 5 HI GG gewährleistete Freiraum ist erheblich. Das Bundesverfassungsgericht hat die Forschungsfreiheit als freien Bereich „persönlicher Freiheit und autonomer Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers" definiert, der „ein Recht auf Abwehr jeder staatlichen Einwirkung auf den Prozeß der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse" vermittele (E 47, 327/367) und den Schranken des Art. 5 II GG nicht unterliege (ebd., S. 369). Allenfalls aus dem objektivrechtlichen staatlichen Förderungs- und Ausgestaltungsauftrag (BVerfGE 35, 79/114) und anderen Verfassungsgütern ergeben sich - rechtfertigungsbedürftige - Einschränkungsmöglichkeiten [Jarass /Pieroth 2004: 242 ff. (Art. 5, Rn. 131 f., 134 ff.) m. wN.]. Nur soweit die Forschung in Grundrechtspositionen konkretisierbarer Rechtssubjekte eingreift, stößt sie auf verfassungsimmanente Grenzen (vgl. Flämig 1985: 54 f.; Riedel 1986: 471 ff.; Wahl 1987: 33 f.; Künzler 1990: 124ff.; Püttner 1991: 80ff.; M. Schröder 1992: 174 ff.; Wiese 1994: 102 f.). Angesichts verbreiteten Unbehagens an humangenetischer Forschung wurde verschiedentlich vorgeschlagen, die Forschungsfreiheit tatbestandlich einzugrenzen; vgl. Lerche 1986: 90 ff.; Wahl 1987: 31ff.; Püttner 1991: 80 ff.; w. Nachw. b. C. Hofmann 1999: 18, Fn. 125; abl. Spiekerkötter 1989: 27 ff.; C. Hofmann 1999: 20 f. Bevor solche Änderungen der hegemonialen AuslegungsVerständnisse jedoch strukturbildend wirken, müssen sie innerhalb der juristischen Zunft breite Zustimmung gewinnen und ganz erhebliche Begründungslasten abarbeiten. 5 Vgl. C. Hofmann 1999: 21: „Genomanalysen unterfallen ( . . . ) als Forschung der Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 III 1 GG. Nicht die Forschung, auch nicht die humangenetische, bedarf deshalb der Legitimation, sondern ihre Beschränkung ist begründungsbedürftig." Ähnl. zu Art. 5 IE GG Eser 1987: 39; Riedel 1986: 471 f.; 1994: 126; Vollmer 1989: 187 m.w.N.; Spiekerkötter 1989: 27 ff. m.w.N.; A. Schmidt 1991: 166 f.; Frankenberg 2000: 3 Maitra
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sundheit als Bestandteil des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit6 bzw. soweit es um lebensbedrohende oder -verkürzende Erkrankungen geht - des Grundrechts auf Leben7 in dieser Weise jedenfalls nicht automatisch relevant. Nach bislang üblicher Auslegung gewährt Art. 2 I I 1 GG lediglich einen Anspruch auf Abwehr gesundheitlicher Beeinträchtigungen oder Gefährdungen durch öffentliche Gewalt oder Dritte im Sinne eines Integritätsschutzes8. Einen über die Abwehrdimension hinausreichenden leistungsrechtlichen Anspruch auf Wiederherstellung von Gesundheit, Linderung von Krankheit oder Vorbeugung gegen gesundheitliche Leiden gibt es nach h.M. bislang nicht9. Davon zu unterscheiden ist die vereinzelt thematisierte abwehrrechtliche Dimension eines „Rechts auf Heilung"10: Grundsätzlich darf niemand gehindert werden, seine Gesundheit mit Hilfe vorhandener medizinischer Möglichkeiten wiederherzustellen. Würde der Schutzbereich von Art. 2 II 1 GG entsprechend ausgeweitet, so bedürften rechtliche Verbote und Regulierungen neuer Heilmethoden einer der besonderen Wertigkeit dieses Grundrechts gemäßen Legitimation11 - über jenen Rechtfertigungsbedarf hinaus, den das Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit konstituiert. Diesen sehr grundlegenden Wirkungszusammenhang zwischen Technikentwicklung und grundrechtlichen Freiheitsgarantien beschreibt der Techniksoziologe Wolfgang van den Daele wie folgt: „Neue technische Möglichkeiten klinken sich in vorhandene Weitungen ein. Sie verändern den Definitionsbereich bestehender Rechte. Wo das Recht Ansprüche gewährt, von faktischen Handlungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, erweitern sich diese Ansprüche demselben Maße, wie das faktische Können wächst. Optionen begründen sich gleichsam von selbst. Die Technologien konstituieren mit den Möglichkeiten, die sie erzeugen, zugleich die normative Basis, die die Nutzung der Möglichkeiten rechtfertigt. Diese normative Deckung macht die Vorstellung, die moderne Gesellschaft könne »frei4 sein, über die Nutzung oder Nichtnutzung der in ihr entstehenden Optionen zu entscheiden, fragwürdig." 12 327; H. Dreier 2002: 13 f. Krit. hierzu Künzler 1990: 122 ff. Von Art. 5 HI 1 GG nicht erfaßt sind Genanalysen außerhalb von Forschungszusammenhängen, z. B. im Bereich konkreter Diagnostik am Patienten; vgl. Vollmer 1989: 190 f.; A. Schmidt 1991: 167 ff.; C. Hofmann 1999: 16, 24. Zu Art. 12 GG vgl. C. Hofmann 1999: 24 ff. 6 BVerfGE 57, 70/99; Francke 1994 m. w. N. 7 BVerfGE 51, 324/346. 8 Francke 1994: 79 ff. m. w. N. 9 BVerfG MedR 1997, 318/319; Francke 1994: 83 f. m. w. N.; Jung 1982: 106, 118, 250. Ein Anspruch auf medizinische Mindestversorgung wird z. Zt. allenfalls hinsichtlich der Teilhabe an vorhandenen Kapazitäten bejaht (vgl. C. Hofmann 1999: 28 m. w. N.), nicht jedoch ein Anspruch auf Zugang zu genanalytischen Methoden; vgl. ebd.: 28 ff. 10 Uhlenbrock 1995: 429; Vollmer 1989: 153-156. Beide Autoren unterscheiden allerdings nicht hinlänglich genau die leistungsrechtliche und die abwehrrechtliche Komponente. Neuerdings wird auch vertreten, daß die aus Art. 2 II 1 GG resultierende staatliche Schutzpflicht als Abwägungsgesichtpunkt die Forschungsfreiheit stütze (H. Dreier 2002:15 m. w. N.; Taupitz 2001:3438). » Vgl. Francke 1994: 79 ff. m. w. N.; van den Daele 1991a: 263.
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Diese sehr zutreffende Beschreibung erfaßt allerdings nur einen von zwei Aspekten des Zusammenhangs zwischen technischer Innovation und modernen Freiheitsrechten, nämlich die Freiheit zur Nutzung neu entstandener Optionen. Der zweite, in unserem Zusammenhang sehr wesentliche Aspekt, die Entstehung von Schutzpositionen unter Berufung auf klassische Freiheitsrechte, verstanden als Abwehrrechte gegen staatliche Beeinträchtigungen oder solche privater Dritter, ist hierbei nicht berücksichtigt 13. Blicken wir beispielsweise auf die Entstehung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Auch hier wurden Freiheitsgarantien als Abwehrrecht konstituiert. Aber von einem „Einklinken neuer Techniken" konnte dort nicht die Rede sein. Es war mitnichten so, daß mit der Gefahr zugleich das Rettende wuchs. Vielmehr mußte das allgemeine Persönlichkeitsrecht erst durch das Bundesverfassungsgericht auf neue technische Möglichkeiten, die eben nicht nur neue Handlungsformen, sondern auch neue Beeinträchtigungsmöglichkeiten konstituierten, zugeschrieben und umkonstruiert werden 14 . Wer zwecks Genanalyse eine Blutprobe entnehmen will, benötigt eine gesetzliche Ermächti12 van den Daele 1991a: 276 f. [Hervorh. durch mich, D.M.]. Zutreffend hat Reinhard Damm (1992) auf die „überschießend pauschalen Elemente einer normativen Kraft des Faktischen" der Textstelle hingewiesen. Nicht „die technische Entwicklung" ist es, die a priori normativ wirkt, vielmehr sind es kulturspezifische, historisch gewordene normative Strukturen, die den in Rede stehenden Automatismus erzeugen. Historisch wie im kulturellen Vergleich gesehen, ist eine solche Struktur nicht selbstverständlich; zu Novationsverboten Stoll 1991: 144 f.; van den Daele 1989: 199 f. Claude Lévi-Strauss hat „heiße" (in ihrer Entwicklung dynamische, hierarchisch strukturierte) von „kalten" (statischen, egalitär ausgerichteten) Kulturen unterschieden und dargelegt, daß gesellschaftlicher Wandel keine automatisch fortschreitende Entwicklung entlang der Zeitachse ist, sondern - ebenso wie die Verhinderung von Entwicklung zugunsten eines auf Wiederholung angelegten gesellschaftlichen Prozesses - kulturspezifische komplexe soziale Mechanismen zur Vorbedingung hat (1972: 23 ff., 33 ff.). Ob technischer Wandel zu gesellschaftlicher Veränderung führt oder ob technische Neuerung nur zugelassen wird, soweit sie soziale Verhältnisse unangetastet läßt, ist zunächst also einmal eine Frage bestehender Gesellschaftsstrukturen.
Man kann die rechtliche Ambivalenz technischer Innovation rechtstheoretisch zu fassen versuchen, indem man technikentfaltenden Optionsrechten technikbegrenzende Schutzrechte gegenüberstellt (so Damm 1991: 287 f., 291 ff.; 1993a: 178 ff.; 1999a: 440): Aus historischfunktionaler Sicht dominieren zunächst expansive markt- und vermögensbezogene Optionsrechte, die am „Modell Eigentumsrecht" mit Herrschaft als Modus ausgerichtet sind. Später vollzieht sich ein Wandel hin zu stabilisierenden Schutzrechten mit den Modi „Unantastbarkeit" bzw.,Ausschließlichkeit", die sich strukturell am „Modell Persönlichkeitsrecht" orientieren (Damm 1991: 291 ff.; 1993a: 179 ff.). Ohne Differenz in der Sache möchte ich i.f. eine stärker auf die Temporalstruktur unterschiedlicher Normen bzw. Normelemente zielende Unterscheidung vornehmen, die es ermöglicht, das für die Risikoproblematik zentrale Zeitmoment in die Überlegungen miteinzubeziehen. 14 Vgl. BVerfGE 65,1 - Volkszählung I. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung war keine Eigenkreation des Verfassungsgerichts, sondern eine prägnante Zuspitzung dessen, was in der Rechtswissenschaft seit etwa Mitte der 70er Jahre gefordert worden war (vgl. Simitis 1984: 399 mit Nachw.) und angesichts des durch die Volkszählung 1983 angestoßenen Diskurses über die Risiken moderner Datenverarbeitung zusätzliche Plausibilität erhalten hatte. Entscheidend aber ist, daß erst das Urteil und der daran anschließende rechtliche Diskurs aus dem reinen Postulat geltendes Recht gemacht haben. *
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gung oder die Einwilligung des Betroffenen 15, weil ein solcher Eingriff in die körperliche Unversehrtheit nach herrschendem Verständnis eine Körperverletzung ist. Aber bedarf es nach geltendem Recht einer darüber hinausgehenden Rechtsgrundlage? Wohl nicht, soweit es nicht um staatliche Eingriffe geht und solange es kein entsprechendes Urteil, keine entsprechende gesetzliche Regelung oder wenigstens eine entsprechende gefestigte Mehrheitsmeinung im juristischen Diskurs gibt.
2. Die Normstruktur negatorischer Freiheitsgrundrechte Wir kommen also nicht umhin, einen etwas genaueren Blick auf die Normstruktur rechtlicher Freiheitsgarantien zu werfen. Zunächst sollen uns die klassischen Freiheitsgrundrechte beschäftigen 16, und zwar nacheinander beide Aspekte. a) Eigenständige
Wahrnehmung rechtlich gewährter Freiräume
Abwehrgrundrechte gewähren Freiheiten. Ihrem historischen Entstehungszusammenhang nach handelt es sich um negative Freiheitsgarantien, die nur indirekt Freiheiten zu etwas Bestimmtem gewähren. Sie konstituieren Freiräume in erster Linie durch Verzicht auf normative Vorgaben und Ausschluß externen Zwangs17. Im Kontext negatorischer Freiheitsgrundrechte ist mit dem Begriff der Freiheit kein Gegenstand, sondern eine dreistellige Relation zwischen einem Freiheitsträger, einem Freiheitshindernis und der Möglichkeit alternativen Handelns benannt18. Robert Alexy, an dessen Überlegungen zur Struktur von Grundrechten ich hier anknüpfe, beschreibt dies folgendermaßen: „Eine Person ist in dem Maße im negativen Sinne frei, in dem ihr Handlungsalternativen nicht versperrt sind. Darüber, was eine im negativen Sinne freie Person tun soll oder unter bestimmten Bedingungen tun wird, sagt der negative Freiheitsbegriff nichts; er sagt nur etwas über ihre Möglichkeiten, etwas zu tun" 19 . 15 Keller 1989: 2292; Künzler 1990: 113; Cramer 1991: 179; Plettke bogen 2003: 86 f.
1995: 189; Regen-
16 Damit sind v. a. die oben aufgelisteten Grundrechte mit Ausnahme von Art. 14 GG angesprochen, der in eine andere Kategorie fällt, weil für ihn ein staatlicher Ausgestaltungsvorbehalt besteht. Die hier vorgenommene Differenzierung deckt sich, mag dies auch spontan so erscheinen, nicht mit der klassischen Differenzierung Georg Jellineks (1964/1919: 87, 94 ff.) zwischen status negativus, status positivus und status activus. 17 Damit ist, historisch gesehen, die primäre politisch-soziale Grundrechtsfunktion angesprochen. Entsprechend dem Sozialmodell frühbürgerlicher Gesellschaften sollte diese die Wirtschafte- und Reproduktionssphäre von staatlichen und ständisch-korporativen Beschränkungen befreien, um den ungehinderten Fortgang wirtschaftlicher und technischer Entwicklung zu garantieren; vgl. Grimm 1987a: 192-195; Habermas 1995b: 525-528. Diese Grundfunktion mag im Fortgang der Entwicklung zum Wohlfahrts- oder Sozialstaat durch weitere Funktionen teilweise überlagert oder beschnitten worden sein. Als Voraussetzung sozialen und wirtschaftlichen Wandels ist sie aber nach wie vor die dominierende. 18 Vgl. Alexy 1986: 196 ff.
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Man könnte nun hinzufügen, daß die Garantie, nicht von anderen, dem Staat oder Dritten, an der Wahrnehmung solcher Möglichkeiten gehindert zu werden, konstitutiv für negatorische Freiheitsrechte ist. Damit aber wären wir schon beim zweiten Aspekt. Für unsere Zwecke müssen wir genau unterscheiden: Das Recht, an der Wahrnehmung von Freiheiten nicht gehindert zu werden, ist auf einer analytischen Ebene etwas spezifisch anderes als die bloße Gewährung von Freiheit. Mit Alexy ist die Bewehrung von Freiheit von ihrer unbewehrten Einräumung zu unterscheiden20. Letztere ist, logisch betrachtet, nichts anderes, als die Negation von Ge- und Verboten21. Aus historischer Sicht handelt es sich um die Aufhebung jener ständisch-traditionellen Beschränkungen, die als Stand, Leibeigenschaft, Privilegien und Zunftordnungen individueller Freiheit im Wege standen und durch eine generelle Erlaubnis zu positivem wie negativem Handeln ersetzt wurden, welche ihrerseits allein an die jedem Menschen qua Geburt oder nationale Zugehörigkeit zukommende Rechtssubjektivität gekoppelt war. Nur unter diesem Aspekt der Frcihcitsgewährung sind negatorische Grundrechte selbstexekutiv. Sie entfalten zugleich mit ihrer faktischen Wahrnehmung Wirkkraft, ohne daß das durch sie gewährleistete Handeln durch rechtlich konstituierte typisierende, d. h. tatbestandlich faßbare Ausgestaltungen ermöglicht und vorstrukturiert werden müßte22. Hier klinken sich neue technische Handlungsoptionen ein und erweitern den faktischen wie rechtlichen Wirkungsraum klassischer negatorischer Grundrechte. Diese Wirkung bedarf keiner Rechtfertigung, weil Freiheit in der Moderne keiner Rechtfertigung bedarf. Der in dieser Weise konstituierte Möglichkeitsraum ist nicht nur hinsichtlich seiner Ausgestaltung, sondern auch in Bezug auf Prognosen zukunftsoffen. Er fixiert keine Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten, die im Vorgriff auf die Zukunft auch nur näherungsweise faßbar wäre. Wir wissen nicht, welche Möglichkeiten negatorisch definierte Freiräume offenlassen. Dies nicht oder jedenfalls nicht primär deshalb, weil die Begrifflichkeiten, nach denen die Grundrechte spezifischen Handlungssphären zugeordnet sind23 oder an19
Alexy 1986: 198 [Hervorh. im Orig., D.M.]. Zwischen faktischem Können und rechtlichem Dürfen ist streng zu unterscheiden; vgl. Jellinek 1964/1919: 46. 20 Alexy 1986: 203 ff. Zwischen berechtigten und rechtlich bewehrten Interessen hinsichtlich des Rechtsguts der Persönlichkeit unterscheidet Baston-Vogt 1997: 92. Vgl. Alexy 1986: 203 ff., bes. S. 205. Unbewehrte Freiheiten lassen sich auch in der deontischen Grundmodalität der Erlaubnis ausdrücken (vgl. ebd.: 205). 22 Die Beschreibung knüpft an an Überlegungen Höflings (1991: 27 f.) zur Vertragsfreiheit sowie Alexys (1986: 214 ff.) zum Unterschied zwischen Kompetenz- und Verhaltensnormen. Alexy zufolge schaffen „Kompetenznormen ( . . . ) die Möglichkeiten von Rechtsakten und damit die Fähigkeit, durch Rechtsakte rechtliche Positionen zu ändern. Verhaltensnormen schaffen keine ohne sie unmöglichen Handlungsalternativen, sie qualifizieren nur Handlungen, indem sie Verpflichtungen, Rechte auf etwas und Freiheiten statuieren." (1986: 216) Rein negatorische Abwehrrechte sind demnach - anders als zum Beispiel die Vertragsfreiheit oder Art. 14 GG - Verhaltensnormen. 23 Die Zukunftsoffenheit negatorischer Freiheitsgrundrechte wird radikalisiert durch das herrschende Verständnis, wonach das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit als
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derweitig Begrenzungen unterliegen, zu vage oder abstrakt wären, sondern weil Freiräume beliebigen Handelns eingeräumt sind. Derartige Freiheitskorridore lassen sich nicht positiv durch ihren Innenraum, sondern nur negativ durch ihre Limitierungen beschreiben, mit der strukturerheblichen Folge, daß präventive Restriktionen auf dieser Normebene nicht ohne weiteres möglich sind. Warum, was und wie man etwas verbietet, muß man begründen, vor allem aber beschreiben können. Das aber kann man nur, soweit sich die Freiheitsmöglichkeiten und ihre Kosten bereits ausreichend deutlich abzeichnen24. Nehmen wir beispielsweise die Freiheit der Forschung (Art. 5 III GG), laut Bundesverfassungsgericht der „nach Inhalt und Form ( . . . ) ernsthafte und planmäßige Versuch zur Ermittlung der Wahrheit"25. Was und wie geforscht werden kann, ist nicht, auch nicht in Näherungen abschließend beschreibbar. Wer hätte vor James Watsons und Francis Cricks Entdeckung der Doppelhelix auch nur auf die Idee des Projekts der Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes und seine Methoden kommen sollen? Aber zweifellos befinden wir uns damit zunächst im Rahmen dessen, was die Forschungsfreiheit zuläßt, mag man auch, nachdem diese Möglichkeiten sichtbar und real geworden sind, umgehend auf Limitierungen sinnen, weil man andere Rechtsgüter oder Interessen beeinträchtigt sieht, die unzureichend rechtlich internalisiert erscheinen. Wir können also nicht im Vorgriff beschreiben, welche Handlungsmöglichkeiten Forschungsfreiheit zuläßt, sondern nur, wenn aufgrund neuer Optionen Streit entsteht, wo die Grenzen liegen sollen. Versteht man unter Freiheit Handlungsfreiheit, so stellt sich die Frage, ob nicht hinzuzufügen ist, daß es Abwehrrechte gibt, die nicht Handlungsräume, sondern bestimmte Eigenschaften (z. B. Leben, Gesundheit) und Situationen (z. B. Unverletzbarkeit der Wohnung) schützen26. Sie zielen, so könnte man argumentieren, nicht auf Freiheit, sondern auf Integrität. Ob eine solche Differenzierung letztlich wirklich trennscharf und sinnvoll ist, sei dahingestellt. Mit Blick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist dies zu bezweifeln. Zwar ist dieses Recht geradezu geprägt von einem an Eigenschaften und Situationen anknüpfenden Denken und Argumentieren in Bereichen, Sphären und Räumen27 sowie in Kategorien wie Individualität, Personalität oder Identität. Die so bezeichneten sozialen Situationen und Eigenschaften zeichnen sich jedoch gerade dadurch aus, daß sie Freiräume für selbstbestimmtes Handeln gewähren28. Stets kann zwischen der Gewährleistung ,Auffanggrundrecht" jene Handlungsmöglichkeiten gewährleistet, die von speziellen Grundrechten nicht erfaßt werden (BVerfGE 6, 32/36 ff. - Elfes; 80, 137/152 ff.). 24 Zu Eigenschaften und Struktur von Freiheitslimitationen sogleich unter § 1 III. und IV. 25 BVerfGE 35,79/113; 47, 327/367. Zu Art. 5 GG s. o., § 11. 1., Fn. 4. 26 Vgl. Alexy 1986: 176 f. 27 Man denke an die sog. Sphärentheorie; Darstellung und Nachweise siehe Baston-Vogt 1997: 180 ff. 28 Laut BVerfG sichert das allgemeine Persönlichkeitsrecht,jedem einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann" (E 79, 256/268).
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eigenständigen Handelns und der Bewehrung dieser Möglichkeit unterschieden werden. Was die hier interessierende Norm- und Zeitstruktur von Abwehrrechten angeht, bedarf es also keiner weiteren Kategorie.
b) Sicherung von Freiräumen durch Limitierung fremden Handelns Damit komme ich zum zweiten Aspekt negatorischer Freiheitsgrundrechte: Sie sind bewehrt, zum einen im Verhältnis zum Staat, zum anderen - u. U. - im Verhältnis zu Dritten. Sie verbieten anderen, den Freiheitsträger an der Wahrnehmung seiner Freiheiten zu hindern, und diese Bewehrung kann gerichtlich geltend gemacht werden29. Freiheitsgrundrechte haben demnach ein Doppelgesicht. Sie ermöglichen Grundrechtsträgern und -trägerinnen nicht nur freies Handeln, sondern sie limitieren auch fremdes Handeln, fremde Freiheiten. Und hinsichtlich des zweiten Gesichtspunkts kann man sie nicht als selbstexekutiv oder als zukunftsoffen bezeichnen. Um diese Grundrechtsdimension wahrnehmen zu können, sind staatliche, v. a. gerichtliche Verfahren und Institutionen erforderlich. Sie muß als rechtlicher Anspruch geltend gemacht und begründet werden30, bedarf also regelmäßig im Zeitpunkt ihrer Wahrnehmung einer in der Vergangenheit entstandenen tatbestandlichen Typisierung, mit der zumindest die Kategorie des Eingriffs als Verletzung der Grenzen des Schutzbereichs erfaßt wird 31 . Wenn neuartige Optionen aus Sicht des Grundrechtsträgers nicht eigene Handlungsmöglichkeiten erweitern, sondern diese einschränken, dann müssen die Grenzen der geschützten Freiräume (Schutzbereiche) angepaßt werden. Solche Anpassungen erfolgen nicht selbstläufig. Will man die Freiräume unbeeinträchtigten Handelns durch einen Anspruch auf Nichtbehinderung schützen, so muß sich begründen lassen, welche grundrechtlich geschützten Freiheiten in welcher Weise eingeschränkt werden und warum dies unzulässig sein soll32. Man muß unter Umständen Interessen rechtlich internalisieren, die bislang keines rechtlichen Schutzes bedurften. Das Beispiel des 29 Vgl. Alexy 1986: 208 ff. Beispielsweise hat jeder in Wissenschaft und Forschung Tätige „ein Recht auf Abwehr jeder staatlichen Einwirkung auf den Prozeß der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse" (BVerfGE 35,79/112 f.). 30 In unserem Zusammenhang kann man vernachlässigen, daß je nachdem, ob Beeinträchtigungen staatlicher Organe oder privater Dritter angegriffen werden, unterschiedliche Begründungserfordernisse bestehen. Ob keine ausreichende Ermächtigungsgrundlage vorliegt oder ob staatliche Schutzpflichten gegenüber Dritten in Rede stehen, wirkt sich auf die argumentative Konstruktion aus, macht aber für die Begründungspflichtigkeit des Abwehranspruchs als solche keinen Unterschied. 31 Zwar kann man versuchen, neue Schutzgrenzen, die in der Vergangenheit nicht tatbestandlich typisiert waren, gerichtlich einzufordern. Doch ist dies mit einem vergleichsweise hohen Risiko des Scheiterns verbunden. Man kann sich dabei nur auf die vage Optimierungsgarantie der eigenen Grundrechte berufen. 32 Nichts anderes gilt, wo neue Handlungsmöglichkeiten auf bestehende, typisierte Verbote, d. h. Freiheitsgrenzen stoßen und es darum geht, das Abwehrrecht in einen positiven Anspruch auf Beseitigung dieser Grenzen umzumünzen.
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Rechts auf informationelle Selbstbestimmung wurde bereits erwähnt. Angesichts neuartiger Beeinträchtigungsformen mußten die Grenzen jener als privat deklarierten Freiräume, in denen sich Personalität und Individualität frei von äußerem Zwang und Wissen reproduzieren dürfen, partiell neu konstituiert werden. Auf nichts anderes zielen all jene Versuche, die im Kontext neuer Biotechnologien Personalität, Selbstbestimmung und Rechtssubjektivität stark machen wollen. Halten wir also fest: Zukunftsoffen, dynamisch und expansiv sind negatorische Freiheitsrechte nur hinsichtlich ihrer unbewehrten Seite, mit der Freiräume eingeräumt werden, die von den Grundrechtsträgern selbst ohne staatliches Zutun wahrgenommen werden können. Hier erweitern neue technische Optionen Handlungsspielräume und damit den rechtlichen Wirkungsraum. Die Bewehrung negatorischer Freiheitsräume basiert demgegenüber auf der Möglichkeit, am bisherigen Rechtszustand orientiert (Schutz-)Ansprüche geltend zu machen, die aktualisiert werden müssen, wenn - gesichert durch Freiheitsrechte anderer GrundrechtsträgerInnovationen bisher unbeeinträchtigte Freiräume einschränken oder gefährden.
3. Die Normstruktur rechtlich konstituierter Freiheitsrechte Zu den negatorischen Freiheitsgrundrechten treten flankierend Verkehrsfähigkeit und Selbstregulation ermöglichende Rechtsinstitutionen wie Patentrecht33, Vertrag, Privatautonomie34, Urheberrecht, andere gewerbliche Schutzrechte sowie das Eigentum inklusive des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb hinzu. Durch diese Rechtsinstitutionen wird Innovation in der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt erst lohnend. Sie ermöglichen, die Nutzeffekte neuer Technologien an individuelle Verwertungsinteressen zu koppeln, indem sie Innovationsleistungen verkehrsfähig machen. Auch die entsprechende Kompetenzen und Rechtspositionen vermittelnden, v. a. zivilrechtlichen Normgefüge schaffen Freiheitskorridore für individuelles Handeln, das nicht abschließend im Vorgriff auf die Zukunft typisiert werden muß, um realisiert werden zu können. Man kann dies an § 903 BGB sehen, der dem Eigentümer (tatbestandliche Typisierung über §§ 925 ff.; 929 ff. BGB), soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen (tatbestandliche Einschränkung), die (unvertypte) Freiheit einräumt, „mit der Sache nach Belieben zu verfahren und andere von jeder Einwirkung auszuschließen". Kann man bei den negatorischen Freiheitsrechten hinsichtlich ihres unbewehrten Aspekts von einer zukunftsoffenen Temporalstruktur sprechen, so gilt dies für die genannten Rechtsinstitutionen jedoch nur eingeschränkt. Denn bei rechtlich konstituierten Freiheitsgarantien kann kein unbewehrter Freiraum von seiner Bewehrung unterschieden werden. Sie lie33
Zum Zusammenhang von Patentrecht und technischem Fortschritt vgl. Hilken 1987. Vgl. hierzu Höflings Ausführungen zur Vertragsfreiheit als normativ konstituierter Freiheit (1991: 20 ff.). 34
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gen durchstrukturierten Regelungsgeflechten auf. Während man ohne rechtliche Hintergrundpräsenz forschen und Meinungen äußern kann, werden, um ein Beispiel zu nennen, Verträge auf der Basis einer staatlichen Garantie geschlossen, die deren Verbindlichkeit garantiert (vgl. §§ 241 I, 311 I BGB, Leistungsstörungsrecht). Anders als negatorische Freiheitsgrundrechte sind diese Rechtsinstitutionen nicht selbstexekutiv35. Sie garantieren Freiräume nicht nur, sondern sie konstituieren diese. Sie erzeugen Kompetenzen, also „die Möglichkeit von Rechtsakten und damit die Fähigkeit, durch Rechtsakte rechtliche Positionen zu schaffen" 36. Indem bestimmte tatsächliche Handlungen tatbestandlich als Rechtsakte qualifiziert werden und mit dieser Qualifizierung strikt bestimmte Rechtsfolgen (Anspruchs- und Pflichtengefuge) verknüpft werden, entstehen Konditionalstrukturen, die die Zeit binden: Die Zukunft wird nicht offen gelassen. Vielmehr wird in der Gegenwart statuiert, wie später - wenn diese Gegenwart Vergangenheit sein wird 37 - entschieden werden soll. Nur auf dieser Grundlage entstehen am Modell Eigentum ausgerichtete, auf Herrschaftsmacht und Ausschließung anderer gerichtete Freiheitspositionen38, die als solche zunächst nicht spezifiziert und damit zukunftsoffen sind. Zukunftsoffen sind rechtlich konstituierte Freiheiten in ähnlicher Weise wie negatorische selbstexekutive Freiheitsrechte, soweit vergleichsweise formal gehaltene Tatbestände, also „hartes Recht", eine im Vorgriff auf die Zukunft nicht faßbare Vielzahl unterschiedlicher Handlungen ermöglichen. Formalität ermöglicht, daß bestimmte 35 Das läßt sich z. B. an der intensiven Normprägung des Eigentums beschreiben: Art. 14 I 1 GG erfaßt zeitabhängig jeweils das, was durch einfaches Recht als Eigentum definiert ist; vgl. BVerfGE 58, 300/336. Der so geschaffene Freiraum ist gegen ungerechtfertigte, d. h. tatbestandlich typisierte Eingriffe Dritter und nachträgliche staatliche Beschränkungen geschützt. 36 Alexy 1986: 216. Vgl. ebd.: 211 ff.; Höfling: 1991: 27 f. Diese Aussage ist natürlich nicht genetisch gemeint, denn Vertrag und Eigentum gibt es als soziale Institutionen schon in vormodernen Gesellschaften. Sie bezieht sich auf die Normstruktur, die dadurch gekennzeichnet ist, daß die Abwesenheit von Staat und dritten potentiellen Freiheitsräubern nicht a priori gewährleistet wird, sondern staatlicherseits einem bestimmten, tatbestandlich vertypten Handeln spezifische Freiheitsoptionen zugeordnet werden. Bereits bei Georg Jellinek finden wir die Feststellung, daß die Rechtsordnung durch Statuierung rechtlicher Kompetenzen „der Handlungsfähigkeit des Individuums etwas hinzufügen (kann), was es von Natur aus nicht besitzt" (1964/1919: 47). Historisch läßt sich zeigen, daß die Verwertung von Innovationen noch bis Ende des 18. Jahrhunderts nicht durch abstrakte Rechtsformen wie Eigentum und Vertrag, sondern durch personal gebundene Rechte (Status, Zunftordnungen, Privilegien, Monopole) gewährleistet wurde; vgl. hierzu und zur Entstehung von gewerblichem Rechtsschutz und Urheberrecht Dölemeyer/Klippel 1991: 190 ff., 200 ff. 37 Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von zukünftiger Vergangenheit (1990b: 129); zur Vergangenheitsorientierung konditionaler Programmierung siehe Luhmann 1995a: 197fif.; Hiller 1993: 57 ff. sowie im Fortgang unter § 6 V., § 7IV. 3 « Vgl. hierzu auch Damm 1991: 192 ff.; 1993a: 181 f.; Beuthien/Schmölz 1999: 19 f. Man halte sich den Text des § 903 BGB vor Augen oder § 9 PatentG 1981: Dem Rechtsinhaber wird neben dem alleinigen Benutzungsrecht das Recht gewährt, jeden Dritten von der Nutzung der zugeordneten Position auszuschließen.
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Aspekte zukünftiger Geschehnisse positiv oder negativ relevant sind (Zeitbindun während andere Aspekte, nämlich jene, die unbenannt sind,, irrelevant bleibe 39 (Zukunftsoffenheit) . Insoweit ist es zumindest ungenau, zu behaupten, Konditionalnormen (als typische Form formalen Rechts) seien vergangenheitsorientiert 40. Sie sind dies, soweit im Vorgriff auf die Zukunft Relevanzkriterien formuliert werden, im Zeitpunkt der Rechtsanwendung also auf Vergangenes zurückgegriffen wird. Sie sind es aber insofern nicht, als Formalität zugleich stets negativ definiert und damit unabgeschlossen offenhält, was irrelevant sein und damit der freien Disposition der Akteure unterliegen soll. Man kann Behandlungsverträge schließen, die pränataldiagnostische Maßnahmen zum Inhalt haben, weil die Freiheit, Verträge zu schließen, vom Grundsatz her nur solchen Limitierungen unterliegt, die bislang bekannt und tatbestandlich vertypt sind. Innerhalb dieser Freiheitskorridore ist zunächst einmal alles möglich41. Ein anderes Beispiel: Wie der durch eine Patentierung gesicherte Exklusivitätsanspruch innerhalb dieses Freiraums ökonomisch verwertet wird, geben die rechtlichen Regelungen dem Berechtigten nicht vor, wohl aber, durch welche Handlungen er den Freiraum erwirbt, in welcher Hinsicht dieser begrenzt und wie er gesichert ist. Zusätzliche Beschränkungen, die sich am neuartigen Inhalt der rechtlich qualifizierten Handlungen (Verträge, Patentanträge) festmachen, bedürfen der Rechtfertigung. Die Verwertung neuer technischer Möglichkeiten wird im Rahmen dieser rechtlich konstituierten Freiräume zum Selbstläufer, soweit sie innerhalb bestehender Sprachverständnisse tatbestandlich erfaßt wird. Ist dies nicht der Fall, so müssen neu entstehende Verwertungsinteressen durch neue Tatbestände oder Veränderung bestehender Normen internalisiert werden.
II. Zur Normstruktur von Persönlichkeitsrechten Hier zeigt sich, daß Persönlichkeitsrechte nicht ohne weiteres allein der Kategorie negatorischer Abwehrgrundrechte zugeordnet werden können, auch wenn der rhetorische Akzent ihrer Thematisierung oft auf dem Schutz vor innovationsbedingt neuen Gefährdungslagen liegt und die abwehrende, passive Grundrechtskomponente betont wird 42 . Mehrfach ging es in der Geschichte spezieller Persönlichkeitsrechte darum, ob nach Veräußerung eines Werks dem Unternehmer (Ver39 Daß zunehmend mit Hilfe weicherer Rechtsformen versucht wird, der daraus resultierenden expansiven Dynamik Herr zu werden, ändert nichts an der Normstruktur der Kompetenznormen. 40 So aber Hiller 1993: 45 ff., bes. 57 ff. 41
Dies schließt nicht aus, argumentativ Grenzen zu postulieren, z. B. durch Sittenwidrigkeitsverdikte. Solange jedoch nicht fallspezifische Konkretisierungen ausgeurteilt worden sind, erlangen diese trotz vorhandener Generalklauseln keine Geltung. Annähernd gleiche Erwartungssicherheit erzeugen nur Konsense innerhalb der juristischen Profession, die in neuen Handlungsbereich typischerweise nicht ohne weiteres existieren. 42
Exemplarisch Degenhart 1992: 362 f. und passim.
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leger) oder dem Urheber (als Persönlichkeitsrechtsträger) die Verwertung durch später entstandene technische Möglichkeiten zusteht43. Wären nicht durch „Selbstbestimmung" des jeweiligen Persönlichkeitsrechtsträgers aktive persönlichkeitsrechtliche Zugriffsmöglichkeiten neu konstituiert worden, so wäre dieser innerhalb der bestehenden rechtlich konstituierten Freiräume der freien Verwertung ausgesetzt gewesen. Aktuellste Beispiele aus dem Bereich moderner Medizintechniken sind jene Probleme, die in den Bereichen von Organtransplantation, Leihmutterschaft und anderen, auch gentechnischen Verwertungsmöglichkeiten des menschlichen Körpers und seiner Teile entstehen44. An anderer Stelle werde ich zeigen, daß die Entwicklung der Persönlichkeitsrechte von Anbeginn durch eine Dualität von ideellen Integritätsinteressen und kommerziellen Verwertungsinteressen geprägt war, eine Dualität, die bis in die aktuellste dogmatische Diskussion hineinreicht45. Folgt man vorstehenden Überlegungen, so hat diese eine normstrukturelle Dimension. Keinesfalls kann man Persönlichkeitsrechte allein als reine Schutz- und Abwehrrechte begreifen, die lediglich der Umhegung eines für sich selbstexekutiv realisierbaren Raumes individuellen Handelns dienen. Persönlichkeitsrechte umfassen alle drei Aspekte von Freiheitsgrundrechten, die vorstehend aufgezeigt wurden. Ich möchte dies im folgenden am Beispiel des Zusammenhangs von Genomanalyse und den einschlägigen Rechtspositionen beschreiben, die in der rechtswissenschaftlichen Literatur postuliert werden.
1. Persönlichkeitsrechte als selbstexekutive negatorische Freiheitsrechte Durch Genanalysen lassen sich genetisch bedingte Krankheitsdispositionen frühzeitig, d. h. teilweise lange vor Ausbruch der Krankheit erkennen. Weiß man frühzeitig um eine solche Disposition, so kann man sich darauf einstellen. Soweit Genanalysen zugänglich sind, kann man entsprechende Tests durchführen lassen und deren Ergebnisse in unterschiedlichster Weise nutzen. Man kann die eigene Lebensführung daran ausrichten. In nicht allzu ferner Zeit wird man voraussichtlich bei günstigen Ergebnissen besonders günstige Tarife für Lebens- oder Krankenversicherungen aushandeln können46. Sind Genanalysen faktisch möglich und zugänglich, können Grundrechtsträger ohne staatliches Zutun die eigenen Daten erheben lassen und mit diesen nach Belieben verfahren, soweit sie damit nicht gegen bereits bestehende allgemeine Gesetze verstoßen. Hier ist der Aspekt un« Vgl. etwa RGZ 113, 413/418 ff. - 1 . Rundfunkurteil; 123, 312/314 ff. - IL Rundfunkurteil / Wilhelm Busch. 44 Siehe Taupitz 1991 und 1993: 53 ff., 59 f.; 73 ff.; Helle 1996: 461. 45 Eingehender dazu unter § 10 IL 1.-3., § 10 ID. 3. und 9., § 10IV. 2. 46 Zum Problem von Gentests im Versicherungsrecht vgl. § 11 HI. 1. und 2.; § 11 IV. 1. und 2.
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bewehrter Freiheit angesprochen. Die einschlägigen Grundrechte sind insofern selbstexekutiv und damit in ihrer Realisierung zukunftsoffen 47. Ob hier Fragen des Gesundheits- und des Lebensschutzes (Art. 2 I I GG) angesprochen sind, das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit betroffen ist oder wenigstens in Teilbereichen eine Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, erscheint zunächst sekundär48. Dies wird sich aber in dem Moment ändern, in dem die Regulierung einer der durch Genomanalyse neu entstehenden Optionen geboten erscheint. Damit würde die Frage nach der Wertigkeit des betroffenen Freiheitsraums aufgeworfen, weil unterschiedliche Grundrechtspositionen miteinander abgewogen werden müßten. Deshalb und weil es hier um Persönlichkeitsrechte geht, sei kurz angeführt, inwieweit unter Rückgriff auf bestehende juristische Verständnisse persönlichkeitsrechtliche Ausprägungen in der beschriebenen Weise einschlägig sein könnten. Als Beispiele sollen das Recht auf „Kenntnis der eigenen genetischen Disposition" und jenes auf „genetische Selbstbestimmung" dienen. Gesetzlich oder durch Rechtsprechung sind solche Rechte bislang nicht anerkannt worden 49 . Der dogmatische Ansatzpunkt der Literatur ist folgender: Bei genanalytisch gewonnenen Ergebnissen handelt es sich nach gängigem Verständnis um Daten, die Individualität betreffen, weil sie individuelle Merkmale codieren. So erscheint es schlüssig, am Grundrecht auf informelle Selbstbestimmung anzuknüpfen, das die Befugnis des Einzelnen gewährleistet, „grundsätzlich selbst über 47 Es mag sein, daß diese Möglichkeit rechtlich beschnitten werden wird. Dazu aber bedarf es tatbestandlich gefaßter und zu rechtfertigender Vorschriften, die dann im Zugriff auf die Zukunft den Korridor, innerhalb dessen freies Handeln möglich ist, eingrenzen. 48 Soweit es nicht um die Erhebung eigener Daten geht, können die Grundrechte aus Artt. 5 III, 121 und 14 GG betroffen sein; vgl. Taupitz 1992: 1090. 49 Man könnte meinen, das „Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung" sei in dieser Richtung relevant. Doch geht es dabei bislang nicht um die Erlangung eigener Daten, sondern darum, dem Kind zu ermöglichen, die Preisgabe der Identität des leiblichen Vaters gegen die Interessen anderer, meist seiner Mutter, zu erzwingen (vgl. von Sethe 1995: 99 ff.). Soweit das Bundesverfassungsgericht diese Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bislang anerkannt hat, handelt es sich normstrukturell primär um kein Recht zur Verschaffung solcher Kenntnisse, geschweige denn um einen aktiven Auskunftsanspruch mit Drittwirkung, sondern um ein klassisches Abwehrgrundrecht, dessen Bewehrungsdimension „vor der Vorenthaltung erlangbarer Informationen durch staatliche Organisationen" schützt (E 79, 256/269; vgl. Giesen 1989: 368). Zwar hat das Gericht Tendenzen der Zivilrechtsprechung, der Generalklausel des § 1618a BGB einen Anspruch des volljährigen unehelichen Kindes gegen seine Mutter auf Benennung seines (möglichen) Vaters zu entnehmen (vgl. Starck 1997: 779 f.), als Ausgestaltung einer aus diesem Grundrecht resultierenden staatlichen Schutzpflicht grundsätzlich akzeptiert (BVerfG JZ 1997, 777/778 f.). Insofern, wie auch in anderen Fällen, in denen einfachrechtliche Regelungen einen Auskunftsanspruch statuieren (vgl. hierzu Giesen 1989: 370 f.), ist die Normdimension einer rechtlich konstituierten Freiheitsmöglichkeit angesprochen. Doch hat das Verfassungsgericht diese prinzipielle Möglichkeit unter Hinweis auf gegenläufige Grundrechtspositionen engen Restriktionen unterworfen (BVerfG JZ 1997, 777/779; zust. Damm 1998b: 127 f.; krit. Starck 1997: 780).
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Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen"50. Dessen Dimension unbewehrter, selbstexekutiver Freiheit ist allerdings in der Diskussion bislang zugunsten seines Schutzaspekts (Abwehr unbefugter Datenerhebung- und Verwertung) im Hintergrund geblieben. Jene Stimmen in der Literatur, die von einem „Recht auf Kenntnis der eigenen genetischen Disposition"51 und noch weitergehend von einem „Recht auf genetische Selbstbestimmung"52 ausgehen, erweitern mit ihren Postulaten ganz unbesehen den Normbereich nicht nur um den Gegenstandsbereich genetischen Datenschutzes im Sinne eines Abwehrrechtes.
2. Persönlichkeitsrechte als bewehrte Schutzpositionen Wesentlich bedeutsamer ist in der öffentlichen wie der juristischen Diskussion, in welchem Umfang genetische Daten ohne oder gegen den Willen der Betroffenen erhoben und diesen zur Kenntnis gebracht werden dürfen. Hier ist zunächst einmal die persönlichkeitsrechtliche Schutzdimension angesprochen, also die Bewehrung von Freiheit. Die Themenpalette reicht vom „genetischen Fingerabdruck" über die Gefährdungen, die bei Verwertung genetischer Daten durch Versicherungen und Arbeitgeber entstehen, bis hin zur Problematik pränataldiagnostisch ermöglichter Auslese. Ein weiteres, ausgiebig diskutiertes Problem ist die unkonsentierte Bekanntgabe genanalytischer Untersuchungsergebnisse. Können andere als die Betroffenen ungehindert über die Erhebung, Weitergabe und Verwertung ihrer genetischen Daten verfügen, so werden nicht allein jene Freiheitskorridore verengt, die durch negatorische Freiheitsrechte abgesichert werden. Auch rechtlich konstituierte Handlungsmöglichkeiten sind betroffen. Könnten Versicherungen oder Unternehmer genetische Daten ungehindert erheben und verwerten, so würden unterschiedlichste Möglichkeiten der Betroffenen, sich rechtsgeschäftlich sozial abzusichern oder Arbeitsverträge zu schließen, gefährdet oder vereitelt. Die genetische Disposition für eine Erkrankung zu kennen, kann Selbstverständnis und Lebensplanung beeinträchtigen, am existenziellsten, wenn dies sicheres Wissen um unvermeidbares Siechtum oder Tod bedeutet. Nachdem deutlich wurde, daß solch weitgehenden Beeinträchtigungen keine abwegigen Hirngespinste sind, wurden seitens der Rechtswissenschaft persönlichrechtliche Rechtspositionen postuliert, die Grenzen setzten53. Zu nennen ist das bereits erwähnte „Recht auf genetische 50 BVerfGE 65,1 /43 - Volkszählung I; vgl. auch BVerfGE 80, 367/373. 51 Eingehend hierzu mit Nachw. unter § 11 HI. 3. a). 52 Eingehend hierzu mit Nachw. unter § 11 HI. 53 Wenn ich darauf abstelle, daß die Möglichkeit weitgehender Beeinträchtigungen deutlich geworden sei, so meine ich damit, daß nicht die Möglichkeit selbst, sondern die Kommunikation über deren Risiken zu einer Veränderung rechtlicher Kommunikation geführt hat. Wir werden noch sehen, daß dieser Umstand für die Dynamik der Veränderung von Recht von wesentlicher Bedeutung ist und eine kommunikationstheoretische Fassung des Problems nahelegt.
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Selbstbestimmung". Einschlägig ist insoweit nicht die Komponente positiven Handelns im Sinne eines Selbstverfügendürfens, sondern ein auf Limitierung fremder Freiräume zielendes Abwehrrecht. In der Literatur anerkannt ist ein „Recht auf Nichtwissen"54 der eigenen genetischen Disposition. Dabei geht es nicht um das Recht, sich unwissend zu halten, sondern darum, andere davon abhalten zu können, ihr Wissen zuzumuten. Auch diese Rechtsposition entsteht nicht selbstexekutiv im Rahmen eines Freiheitskorridors rechtlichen Dürfens, sondern ist auf Eingrenzung fremder Freiräume gerichtet, muß also neu konstituiert werden55. Zweierlei erscheint mir hier wesentlich: (1) Grundrechtspositionen dieser Art sind nur in dem Maße existent, in dem sie als rechtliche Ansprüche auf Limitierung der Freiheit anderer geltend gemacht und begründet werden können. Sie müssen in Form tatbestandlicher Typisierung, mindestens in Form rechtlich anerkannter Interessen in das Recht internalisiert werden. Sie sind nicht selbstexekutiv, sondern müssen schon ihrem Entstehungszusammenhang nach durch gerichtliche Verfahren und Institutionen abgesichert sein. (2) Werden innerhalb der Rechtswissenschaft neue Rechtspositionen dieser Art postuliert, so bestehen diese als Deutungs- und Begründungsangebote an Gerichte und Gesetzgeber, nicht aber als geltendes Recht. Zu geltendem Recht, an dem man sich im Vorgriff auf die Zukunft halbwegs sicher orientieren kann, werden sie erst durch Gesetzgebung, eine ständige Rechtsprechung oder eine hinreichende Verfestigung im juristischen Diskurs. Erleichtert wird eine solche Internalisierung durch Generalklauseln (z. B. § 138 I BGB, § 2 1 PatentG) und, wie noch zu zeigen sein wird, vorhandene abstrakte Selbstbestimmungspostulate.
3. Persönlichkeitsrechte als rechtlich konstituierte Freiheitsrechte Ähnlich verhält es sich mit rechtlich konstituierten Freiheitsmöglichkeiten. Diesen ist v. a. die kommerzielle Dimension der Persönlichkeitsrechte zuzuordnen56. Vorstellbar sind, gerade angesichts der Erfassung des menschlichen Genoms, ähn54
Zu Nachweisen, Inhalt und „Genese" dieser Rechtsposition im Fortgang unter § 11 III. 2. 55 Obwohl staatliche Institutionen, anders als private Dritte, durch Art. 20 III GG grundsätzlich in ihren Möglichkeiten, selbstexekutive Freiheiten einzuschränken, begrenzt sind, müssen in solchen Fällen auch gegen ihre Handlungsmöglichkeiten spezifische Rechtspositionen begründet werden. Das zeigt das Beispiel des informellen Selbstbestimmungsrechts. Ware nur das subsidiäre Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit einschlägig gewesen, wäre das mit Allgemeinwohlinteressen gerechtfertigte Volkszählungsgesetz 1983 ausreichend gewesen. Erst die Konstituierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (BVerfGE 65, 1 Volkszählung I) erhöhte den Rechtfertigungsbedarf zu einer nennenswerten Barriere. 56 Eingehender unter § 10 IL 1., § 10 II. 3., § 10 IE. 3. und 9.
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liehe Konstellationen wie im Falle John Moore 57. Diesem war wegen seiner Leukämieerkrankung die Milz entfernt worden. Die daraus gewonnenen, einzigartigen Leukozyten hatten sein Arzt und die Pharmaindustrie ohne sein Wissen weiterkultiviert und damit (so jedenfalls Moores Vorbringen), basierend auf einem daran erworbenen Patent Umsätze von mindestens 3 Mrd. Dollar erzielt. Wer also hat das Recht, kommerzialisierbare Ergebnisse einer Genomanalyse zu verwerten? Zumindest bei einzigartigen genetischen Dispositionen stellt sich die Frage, ob die Ergebnisse frei verwertbar sein sollen, dem Träger der Erbinformation zustehen oder aber durch prinzipiell jedermann zugängliche Verwertungsrechte, z. B. durch Patentierung, erworben werden können58. Auch tritt zum wirtschaftlich bedeutsamen Adreßhandel eine weitere Form des Datenhandels hinzu: Genetische Daten werden für kommerzielle Nutzer (Arbeitgeber, Versicherungen, pharmazeutische Unternehmen) oder zu Forschungszwecken aufbereitet und bereitgehalten59. Diese Möglichkeiten zeigen, daß in einem auf Freiheit und subjektiven Rechten basierenden Rechtssystem radikal neuartige Verwertungsmöglichkeiten auf der Matrix bestehender Regelungen für jedermann frei verfügbar sind, soweit dieser über die notwendigen Ressourcen (Wissen, Geld, Macht, Infrastruktur) verfügt. An den bereits vor der entsprechenden Novellierung des Patentgesetzes zur Patentierbarkeit des menschlichen Genoms angestellten Überlegungen60 kann man deutlich erkennen, wie neue Möglichkeiten in Bereiche rechtlich konstituierter Freiheit einschießen: Nur soweit sie sich in den Rahmen der tatbestandlich fixierten formalen Kriterien ohne größeren argumentativen Aufwand einfügen lassen, können Wirtschaftssubjekte darauf bauen, daß neu entstandene Verwertungsmöglichkeiten durch bestehende rechtlich konstituierte Rechtspositionen gesichert sind. Rechtsänderungen, die eine neue ergänzende oder abweichende Zuordnung vornehmen, müssen gesetzgeberisch oderrichterrechtlich erst einmal konstituiert werden61. So 57 Moore vs. Regents of University of California et al., Supreme Court of California, 51 Cal. 3 d 120, 793 P.2 d 479, 271 Cal. Rptr. 146, July 9, 1990; vgl. Taupitz 1991 und 1993: 59 ff.; Simitis 1994: 108 ff. 58 Vgl. hierzu Taupitz 1992: 1094 ff.; Simitis 1994: 108 ff.; zur Rechtslage im Anwendungsbereich der EG-Biotechnikrichtlinie vgl. Herdegen 2000: 634 und 2003 sowie im Fortgang unter § 11 ID. 3. c). 59 So zahlt beispielsweise ein Pharmaunternehmen für den Zugriff auf die Datenbank des Herzzentrums Ludwigshafen mit teilweise gentechnisch bestimmten Patientendaten ca. 920 €/Person; vgl. Deutscher Bundestag 2002: 150 f.; zu weiteren Beispielen siehe Wellbrock 2003: 80; Sokol 2002; Mond 2005: 565, Fn. 4. 60 Taupitz 1992: 1096 ff.; Rogge 1998; Straus 1998; 2000; Lausmann-Murr 2000; Herdegen 2000: 637 ff.; 2003; Albers 2003: 282 ff. Im Jahre 2000 waren weltweit bereits über 2000 Patente auf Gensequenzen menschlichen Ursprungs erteilt worden (Straus 2000: 903). 61 Schon die Vorgaben zur Patentierung menschlicher Gene enthaltende Richtlinie 98/ 44/EG über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen v. 6. 7. 1998 (ABl. Nr. L 213 v. 30. 7. 1998, S. 0013-0021, dort Artt. 2, 3, 5, 6) stieß auf starke Vorbehalte und wurde auch nach ihrer Bestätigung durch EuGH (EuZW 2001, 691) erst nach entsprechender Verurteilung der Bundesrepublik (EuGH, Urt. v. 28. 10. 2004 - Rs. C-5/04) umgesetzt (BGBl. I 2005, 146). Zuvor war fraglich, ob DNA-Sequenzen als Erfindungen oder dem Patentschutz
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könnte man daran denken, das in der rechtswissenschaftlichen Literatur in unterschiedlichen terminologischen Variationen postulierte „Recht auf genetische Selbstbestimmung" zu einem Recht an der Verwertung des eigenen Genoms auszuweiten. Genetische Daten als höchstpersönliche Daten dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung und damit der primären Disposition der Betroffenen zuzuordnen62, ist ein so kleiner argumentativer Schritt, daß wenigstens dem angesprochenen Datenbankprojekt de lege lata enge Grenzen gesetzt sein dürften. Das ändert nichts daran, daß dieser Effekt kein Selbstläufer ist, der sich über eigenständiges Handeln der Berechtigten selbstexekutiv herstellt. Erst einmal muß jener kleine Schritt getan werden, die spezifischen, auch kommerziellen Interessen an einer Verfügungsbefugnis über die eigenen genetischen Daten einem bestehenden Recht zuzuordnen. Eine kommerzielle Dimension persönlichkeitsrechtlicher Provenienz, die nicht reine Schutzpositionen (Bewehrungen), sondern eigentümerähnliche Befugnisse konstituiert, muß durch legislative oder judikative Rechtssetzung in bestehende oder neue Regelungsgeflechte (Patent-, Delikts- und Vertragsrecht) eingebettet werden, bevor auf deren Matrix die nunmehr ausschließlich Berechtigten Räume freien Handelns nutzen können. Erst wenn einschlägige Urteile oder gesetzgeberisches Handeln diesen Schritt vollziehen, ist der freien kommerziellen Verfügbarkeit genetischer Daten durch jedermann eine sichere Grenze gesetzt.
4. Zwischenergebnis: Unterschiedliche persönlichkeitsrechtliche Normdimensionen Halten wir also fest: Persönlichkeitsrechte umfassen alle drei normstrukturellen Dimensionen traditioneller Freiheitsgrundrechte. (1) Wo keine staatlichen Ver- und Gebote existieren, erlaubt ein Korridor unbewehrter Freiheit, faktisch zu handeln, v. a. all jene Möglichkeiten wahrzunehmen, die man nach herkömmlichem Sprachverständnis privater Lebensführung und -planung zuordnet. Zugleich mit der faktischen Möglichkeit erlangt man beispielsweise ein Recht auf Kenntnis der eigenen genetischen Disposition, das freilich erst in dieser Weise benannt werden muß, wenn restriktive Regulierungen in Rede stehen und damit durch Zuordnung die Wertigkeit der zu beschneidenden Freiheit beschrieben werden muß. unzugängliche Entdeckungen i. S. v. § 1 II Nr. 1 PatentG a. F. zu beurteilen sind (vgl. Taupitz 1992: 1096 f. m. w. N.). Seit dem 28. 2. 2005 sind Gensequenzen nach §§ 1 II, la PatentG n. F. in engen Grenzen patentierbar. Weiterhin bleibt entscheidend, ob die Verwendung oder Verwertung der Patente nach § 2 PatentG gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde (vgl. Taupitz 1992: 1096; Rogge 1998; Lausmann-Murr 2000; Albers 2003: 283 f.). Durch die Novellierung wurde § 2 PatentG in Abs. 2 deutlich präzisiert. 62 So z. B. Simitis 1994; Goerdeler/Laubach 2002: 116; Schladebach 2003: 226 f.; Damm 2004: 5; T. Spranger 2005: 1086; nur eine Analogie befürwortet Fisahn 2001: 52. Mond knüpft das informationelle Selbstbestimmungsrecht bei Forschungszwecken dienenden genetischen Daten daran, daß diese nicht zureichend anonymisiert sind (2005: 567 f.).
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(2) In ihrer ideellen, auf Integrität gerichteten Komponente zielen Persönlichkeitsrechte ihrer Normstruktur nach auf Limitierung fremder Freiheiten. Diese Komponente wird v. a. Einschränkungen persönlicher Freiräume durch neue technologische Einschränkungen entgegengehalten. Neuartige Gefährdungen, die von bestehenden Regulierungen nicht erfaßt werden, müssen durch neue abwehrrechtliche Positionen internalisiert werden. Aus diesem Grund wohl steht diese Komponente meist im Mittelpunkt der Diskurse. Sie ist kein Selbstläufer, sondern muß erkämpft und erstritten werden. (3) Letzteres gilt auch für die auf exklusive Verwertungsbefugnisse zielende ökonomische Komponente, die darauf angewiesen ist, daß subjektive Herrschaftsrechte rechtlich konstituiert werden. Unter dem Aspekt der Zeitbindung ist wesentlich, daß die beiden letzteren Dimensionen die Freiheit anderer begrenzen und wenigstens vage typisiert und mit dem Symbol der Rechtsgeltung versehen sein müssen, damit sie rechtliche Relevanz erlangen. Sie sind nicht zukunftsoffen, sondern limitieren oder erweitern im Vorgriff auf Zukünftiges spezifische Handlungsoptionen. Zudem ist ihre Genese eng an die Entwicklung der technische Innovationen und ihre Anwendung begleitenden Diskurse gekoppelt. Durchsetzen kann man Beeinträchtigungen anderer in einem auf Freiheit und subjektiven Rechten basierenden Rechtssystem nur, wenn sich dies im rechtlichen Diskurs rechtfertigen läßt. Die hier hervorgehobenen normstrukturellen Ähnlichkeiten der ideellen, auf Integrität zielenden Komponente mit den ökonomischen, eigentumsähnlichen Aspekten sollten allerdings nicht den Blick für die inhaltlichen Unterschiede versperren. Erstere steht für eine Auffassung von Personalität als einem unverfügbaren Binnenraum menschlicher Existenz, der mittels eher passiver, auf Integrität und Unversehrtheit gerichteter Rechtspositionen abgesichert wird 63 . Die andere Komponente ist stark Vermögens- und marktbezogen und wirkt expansiv64. Beide Normausprägungen aber sind auf Limitierung fremder Freiheitsmöglichkeiten gerichtet, wobei die inhaltliche Ausrichtung auf Integrität und bewahrenswerte Unversehrtheit Schutzansprüchen rhetorisch verwertbare Stoßkraft verleiht. Die These, negatorische Freiheitsgrundrechte und rechtlich konstituierte Freiheitsgarantien seien a priori offen für technologische Innovationen, ist nicht im Sinne einer normativen Weitung zu verstehen. Sie beschreibt Normstrukturen, wie sie sich historisch entwickelt haben, und zwar aus einer soziologischen Sicht. Mit guten Gründen kann man diese Strukturen in Frage stellen. Aus rechtsphilo« Siehe hierzu Damm 1991: 291 ff.; 1993a: 179 ff.; 1998b: 133 ff.; der allerdings bei Persönlichkeitsrechten das Schwergewicht auf die ersten zwei Komponenten (1 und 2) der hier vertretenen Konzeption legt. 64 Darin liegt die Wirkung formalen Rechts (s. o., §11. 3.): Nur bestimmte Aspekte sind relevant und damit im Vorgriff auf die Zukunft in ihrer rechtlichen Bedeutung festgelegt. Alle übrigen Aspekte zukünftiger Ereignisse bleiben irrelevant. Somit ist in den vorgegebenen Formen jegliche ökonomische Expansion möglich.
4 Maitra
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sophischer oder rechtspolitischer Sicht mag man postulieren, daß zugleich mit normativ abgesicherten Freiheiten deren Einschränkungen (z. B. durch Persönlichkeitsrechte anderer) entstehen oder von vornherein als unveräußerliche Rechte vorhanden seien. Rechtsphilosophen mögen beschreiben, wie Recht sein oder nicht sein sollte. Juristinnen und Juristen mögen dogmatisch begründete Aussagen über die ihrer Ansicht nach bestehende Rechtslage treffen. Diese normativen Perspektiven unterscheiden sich von der Problemsicht dieser Arbeit, mit der nicht am juristischen Diskurs teilgenommen, sondern versucht wird, die sich in diesem vollziehende Rechtsentwicklung aus soziologischer Perspektive zu beschreiben65.
m . Die lypisierungs- und Rechtfertigungspflichtigkeit der Einschränkung von Freiheitsgrundrechten und rechtlich konstituierten Freiheitsrechten Zurück zum Gegenstand. Die These lautete, daß Freiheitsgrundrechte als selbstexekutive, negatorische Garantien zugleich mit der faktischen Wahrnehmung neuer Optionen Wirkung entfalten. Gleiches gilt für Rechtsinstitutionen, soweit man auf die durch sie konstituierten Freiräume rechtlich wirksamen Handelns abstellt. Ganz anders ist dies bei rechtlichen Verboten und Verpflichtungen, die spezifische Handlungsräume eingrenzen sollen, übrigens auch bei Grundrechten, soweit ihr Sicherungsaspekt angesprochen ist, soweit sie also nicht als negatorische Garantien, sondern als Schutzrechte mit Drittwirkung oder objektive staatliche Schutzpflichten verstanden werden. All diese Rechtsnormen müssen, um Wirkung entfalten zu können, gesetzlich oder präjudiziell ausgestaltet sein. Es muß, wie vage und konkretisierungsbedürftig auch immer, im Vorgriff auf die Zukunft tatbestandlich umrissen sein, wie die Einschränkung aussieht und an welche Voraussetzungen sie geknüpft sein soll66. Als staatliche Eingriffe in Freiheitsgrundrechte dürfen solche Rechtsnormen nicht willkürlich konstituiert werden. Sie müssen rational gerechtfertigt werden. An diesem zur rechtlichen Grundstruktur geronnenen Diktum der Moderne kommt man nicht vorbei. Die neuzeitliche „Personalisierung von Rechtslagen" (Luhmann) hat in Form subjektiver Rechte eine „rechtstechnisch brauchbare Entfaltung des Freiheitsparadoxes (das heißt: der Notwendigkeit von Freiheitsbeschränkungen als Bedingung von Freiheit)" 67 ermöglicht. Also kann „im 65
s. o., Einleitung. Bei rechtlich konstituierten Freiheiten, die als Kompetenzen nur im Rahmen tatbestandlich typisierter Regelungsgeflechte existieren (s. o., §11. 3.), also gesetzlich oder präjudiziell ausgestaltet sind, erfolgen Einschränkungen, indem subjektive Kompetenzen, die Rechtslage selbst zu ändern, beseitigt oder reduziert werden; vgl. Alexy 1986: 175 f. 66
67 Luhmann 1995a: 291. Das evolutionär Neue an dieser Figur beruht darauf, daß man nach Freisetzung der Subjekte aus den personalen ständisch-traditionalen Bindungen ,jetzt eine Berechtigung denken (kann), die nicht mehr durch parallellaufende Pflichten gegenüber dem Partner ausgewogen und am Zaum gehalten wird" (.Luhmann 1981a: 364; vgl. ebd.: 362 ff.
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Rahmen seiner subjektiven Rechte ( . . . ) jedermann nach Belieben handeln; seine Motive werden nicht rechtlich kontrolliert; und wenn man dies einschränken will, muß (und kann) man dem Vorhaben die Rechtsform einer Einschränkung subjektiver Rechte geben"68. Nichts anderes gilt für Einschränkungen staatlich konstituierter Rechtsinstitutionen, die Handlungsmöglichkeiten schaffen und in diesem Sinne Freiheitsräume ermöglichen (Eigentum, Vertrag, Vertragsfreiheit, Urheberund Patentrecht). Diesem historisch gewordenen, strukturellen Apriori für Freiheit korrespondiert die liberale Freiheitsvermutung „in dubio pro libertate". Deren Wahrheit liegt weniger in ihrer rhetorischen Schlagkraft als in ihrer strukturell verfestigten Grundlage. Diese läßt sich nicht mit dem Hinweis widerlegen, daß die Freiheit des einen oft eine Beeinträchtigung der Freiheiten anderer impliziert. Man mag dies beklagen, kann Ausnahmen, Einschränkungen dieses Grundparadoxons der bürgerlichen Gesellschaft anführen 69 oder seine Aufhebung postulieren. Im bestehenden Gesellschaftsmodell erfolgt die Entparadoxierung mittels einer Darlegungslast, die sich als Komplementärprinzip zum Grundsatz „in dubio pro libertate" erweist: Nicht ihre aktive Wahrnehmung von Freiheiten müssen die Grundrechtssubjekte rechtfertigen. Vielmehr muß das passive Erleiden von Einschränkungen durch andere Grundrechtssubjekte nachgewiesen werden. Nur wenn dieser Nachweis gelingt, besteht Aussicht, daß der schützende Staat mit seinem Gewaltmonopol zur Seite tritt. Bislang jedenfalls ist es im Regelfall so, daß derjenige, der seine Freiheit oder andere Interessen durch fremdes, bislang nicht verbotenes Handeln beeinträchtigt sieht und dagegen vorgehen will, darlegen und gegebenenfalls beweisen muß, daß diese Beeinträchtigung besteht, auch, daß er einen Anspruch auf Unterlassung hat. In letzterem liegt der wesentliche Grund für die Entstehung der Persönlichkeitsrechte und der mit ihnen verknüpften diskursiven Praxis. Angesichts konkreter, durch Freiheitsrechte flankierter Beeinträchtigungen benötigt man einen Rechtsgrund, einen Rechtstext, an den angeknüpft werden kann, wenn man eine staatliche Einschränkung selbstexekutiver oder rechtlich konstituierter Freiheitsrechte rechtfertigen will.
sowie 1993c: 50 ff., 68 ff.). Zur historischen Entwicklung moderner Individualrechte siehe Klippel 1987: 273 ff.; W. Schulze 1987: 164 ff. 8 Luhmann 1995a: 291; vgl. hierzu auch Grimm 1996: 619 f.; zu Rechtsfähigkeit und Personalität als Element der Konstruktion von Rechtsverhältnissen vgl. Hattenhauer 1982: 407 f.; Damm 2002a: 849 ff. 69
Bei strafrechtlich sanktionierten Verboten, Verboten mit Erlaubnisvorbehalt, Schutzund Obhutspflichten aus Ingerenz sowie Unterlassungspflichten ist die Wahrnehmung von Freiheit zu rechtfertigen. Solche Handlungsvorgaben müssen sich aber ihrerseits tatbestandlich beschreiben und rechtfertigen lassen, bestätigen also die Grundregel. Um echte Ausnahmen handelt es sich also nicht. 4*
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IV. Freiheitsvermutung und Risikoregulierung An diesem strukturellen Fundamentalprinzip unseres Rechtssystems ändern auch rechtliche Versuche der Risikoregulierung im Bereich moderner Hochtechnologie und die partielle Umstellung einzelner Regelungsbereiche auf staatliche Vorsorge nichts im Grundsätzlichen. Die Geltung des Grundsatzes, daß staatliche Restriktionen zu rechtfertigen sind, wird durch seine Ausnahmen bestätigt, weil die Umstellung auf Vorsorge seinen Voraussetzungen genügen muß. Präventive Zulassungsverfahren, wie beispielsweise im Arzneimittelrecht, bedürfen einer gewichtigen Rechtfertigung, konkret: der - in der Vergangenheit gewonnenen - Erfahrung, daß im betreffenden Regelungsbereich typischerweise schadensträchtige Situationen auftreten. Erst nach der Contergan-Katastrophe wurde im Arzneimittelrecht von der Registrierungs- auf die an ein vergleichsweise aufwendiges Verfahren gebundene Zulassungspflichtigkeit umgestellt70. Eher selten, und dann meist im rechtspolitischen Raum oder nicht dauerhaft, ist diese Vorfahrtregelung für technische Innovationen umgekehrt worden71. Auch das präventive Konzept des Genehmigungsvorbehalts durchbricht letztlich nicht die technologieoffene Grundstruktur unseres Rechtssystems: Sofern keine rechtlichen Bedenken entgegenstehen, hat der Antragsteller einen grundrechtlich geschützten Anspruch auf Genehmigung72. Selbst wenn die Eingriffsschwellen, insbesondere im Bereich der Gefahrenabwehr, unter Berufung auf größere Schadenspotentiale gesenkt oder vorverlagert werden73, ändert sich der Mechanismus in seiner Grundstruktur nicht: Staatliche Eingriffe bedürfen einer erfahrungsgestützten Rechtfertigung 74, mag sich auch der Anteil empirischer Erfahrung, der sich auf vergangene Ereignisse stützt, zugunsten von wissenschaftlichen Schätzungen reduzieren 75. Gleiches gilt für Gesetzgebung undrichterliche Rechtsfortbildung im Haftungsrecht, wenigstens soweit Individualhaftung in Rede steht. Man mag angesichts einer unzureichenden Wissensbasis Beweisanforderungen über Beweismaßreduzierungen bis hin zur Vermutungshaftung reduzieren oder Zurechnungen verlagern, wie z. B. im Arzthaftungsrecht auf den Ersatzhaftungsgrund der Aufklärungspflichtverletzung. 70 Di Fabio 1990: 223 f. Einen ähnlichen Zusammenhang zwischen Schadenserfahrung und reaktiver rechtlicher Restriktion weist die Entstehungsgeschichte von BundesimmissionsschutzG und StörfallVO auf; vgl. Murswiek 1990: 216, Fn. 29. Prominenz hat eine Entscheidung des VGH Kassel (NJW 1990, 336) vor Erlaß des GenTG erlangt, wonach für bestimmte gentechnische Versuchsanlagen wegen deren mangels gesicherten Wissens unabsehbaren Riskanz eine auf Gesetz beruhende Genehmigung erforderlich sein sollte; krit. Denninger 1992: 133 f.; Preu 1991; w. Nachw. zur Diskussion b. Stoll 1991: 144, Fn. 3; vgl. auch Di Fabio 1990: 223 f.; 1994: 41 ff.; Ladeur 1995: 195; differenzierend BVerfG-K NZM 02, 496/f, wonach „keine Pflicht des Staates zur Vorsorge gegen rein hypothetische (Gesundheits-)Gefährdungen" besteht. 7 2 Statt vieler: Ipsen 1990: 181 m. w. N. 7 3 Vgl. Di Fabio 1993: 111 f.; ders. 1994: 450 ff.
™ Vgl. Köck 1996: 17. 7 5 Zu dieser Tendenz im Technikrecht vgl. Ladeur 1993a: 212 f.
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Doch bedarf es hier, wie auch bei der Prävention im technischen Sicherheitsrecht, einer Typizität generierenden konsentierten Wissensbasis, nach der sich eingetretene bzw. potentielle Schäden plausibel - und das heißt im Rechtssystem meist: entlang den Erfahrungen, Wahrscheinlichkeits- oder Möglichkeitskonstruktionen naturwissenschaftlich-technischer Rationalität - auf konkrete Technikanwendung zurechnen lassen. Angesichts der beschriebenen Unmöglichkeit, in technologisch neu generierten Handlungsbereichen durch generalisierenden gesetzgeberischen Vorgriff restriktive (Schutz-)Tatbestände zu schaffen, besteht eine strukturell angelegte Präferenz für gerichtliche Regulierung nach Maßgabe bestehenden und weitgehend marktkonformen Privathaftungsrechts. Diese ist zunächst weitgehend an Kriterien orientiert, die sich im Rahmen individueller Zurechenbarkeit bewegen76. Haftungsrecht wirkt „in seiner unmittelbaren Anwendung reaktiv und punktuell"77, während die ihm häufig unterstellte Präventionswirkung78 zumindest zweifelhaft ist 79 . Nichts anderes dürfte für den zivilrechtlichen Unterlassungsrechtsschutz gelten. Lassen sich singuläre oder doch wenigstens individualisierbare Schäden oder Beeinträchtigungen erst einmal zweifelsfrei nachweisen oder prognostizieren, so kann über die Konsequenzen im gerichtlichen Verfahren punktuell vergleichsweise problemlos entschieden werden. Erheblich schwieriger ist es dagegen im Regelfall, unter Berufung auf theoretisch mögliche Schäden die Gesetzgebung (oder auf Verordnungsebene: die Exekutive) zur Durchsetzung präventiver, allgemein geltender Regulation zu mobilisieren. Macht, Konsens, Zeit, Geld, Wissen, all jene knappen Ressourcen, die legislative Rechtssetzung für Prävention benötigt, sind im gerichtlichen Verfahren in weit geringerem Maße erforderlich, zumal dann, wenn zunächst einmal nur über Vergangenes oder - im Falle des Unterlassungsrechtsschutzes - eingrenzbar unmittelbar Bevorstehendes entschieden werden muß.
V. Die Metapher einer der Technik nacheilenden Rechtsentwicklung Nicht für das Rechtssystem als solches, sondern allenfalls für Freiheitsräume beschränkende Regulierungsversuche gilt daher, was im Zusammenhang mit dem Problem rechtsförmiger Technikregulierung mit Hilfe der Metapher eines Wettrennens gerne pauschalisierend behauptet wird: daß Recht bzw. Gesetzgeber der Technik, der ein sich selbst verwirklichender bedrohlicher Gehalt zugesprochen 76 Zum Zusammenhang zwischen rechtlicher Schadenszurechnung und Risiko Meder 1993, bes. 257 ff. 77 Damm 1989: 561. Ganz ähnlich die Bewertung der traditionellen Ordnungsverwaltung durch Dieter Grimm: „reaktiv, punktuell und bilateral" (1985: 866). 7 * So z. B. BVerfGE NJW 79, 305/306; Nikiisch 1989: 2. 79 Ähnl. Damm 1989: 561 und Hart 1989: 101; differenzierend eine Steuerungswirkung bei ökonomisch kalkulierenden Schädigern unterstellend Engel 1995: 215 f.
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wird („Ick bin allhier!"), stets nacheilen80. Damit wird ausgeblendet, daß es die innovationsoffene Grundstruktur unseres Rechtssystems ist, die den Wettstreit zwischen Igel und Hase überhaupt erst eröffnet 81. Veränderungen, die sich im Kontext neuer Technologien ergeben, mag man der Dynamik technischen Fortschritts zurechnen. Es handelt sich um eine traditionsreiche, im technikgläubigen Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts wurzelnde Zurechnung. Genausogut könnte man das Schwergewicht der Erklärungsversuche auf die rechtlichen Grundstrukturen legen. Beachtung verdient in diesem Zusammenhang Rainer Wolfs Kritik an der im juristischen Diskurs verbreiteten Dichotomisierung von dynamischer Technik einerseits und statischem, wertbewahrendem, „hinterherhinkendem" und damit defizitärem Recht andererseits82: Dieser konservativ-ideologische „Grundtopos' juristischer Technikbetrachtungen" münde darin, sich mit dem rechtlichen Nachvollzug technischer Entwicklungen zu begnügen, oftmals ohne politische Grundentscheidungen für oder gegen bestimmte Techniken zu treffen. Ob das in dieser Kritik anklingende Gegenmodell politischer und demokratischer Entscheidung realistisch ist, sei dahingestellt83. Statt dessen gehe ich davon aus, daß dem kritisierten Topos überholender Technikentwicklung ein begrenzter heuristischer Wert zukommt84 - ohne Berufung auf einen angeblich konservativbewahrenden Charakter des Rechts. Wissenschaft und Technik, Wirtschaft und Politik sowie das Rechtssystem prozessieren vor jeweils unterschiedlichen Zeithorizonten85. Technologische Innovationen können sich in verschiedenen gesellst) Exemplarisch Berg 1985 m.w.N.; Süss 1956: 190 f.; Köhl. 1985: 162; Künzler 1990: 107 ff., 169 f.; Wurzel/Merz 1991: 24; K. Braun 2000: 332, 335; Ossenbühl 2000: 12 f., 31; Fisahn 2001: 49. Auch Petra Hiller pauschaliert in ihrer Analyse des Zeitkonflikts in der Risikogesellschaft unzulässig, wenn sie in Abgrenzung zur Zukunftsorientierung des Risikos der Temporalstruktur des Rechts Vergangenheitsorientierung unterstellt (1993: 45 ff., bes. 57 ff.). Auf Konditionalprogramme mag dies teilweise zutreffen (s. o., § 1 1 . 3.). Für das Rechtssystem als Ganzes gilt eher das Gegenteil: Nur aufgrund seiner teilweise rechtlich abgesicherten und konstituierten Freiheitsgarantien wird der gesellschaftliche bias für Innovationen erst möglich. 81 Ähnl. Blanke 1990: 153 f. Zudem werden moderne Technologien durch staatliche Nachfrage bzw. Förderung forciert; zur Genmedizin vgl. Gieselmann 2001. 82 R. Wolf 1986b: 268 ff.; ähnl. Mai, der auf den Topos in einen Kampf unterschiedlicher Expertengruppen (Juristen und Ingenieure) um Definitionsmacht und Einflußbereiche eingebettet sieht (1990: 503 ff., 511; ähnl. Künzler 1990: 110). Der Topos ähnelt Vorstellungen von Technikdominanz, die sich aus ganz verschiedenen weltanschaulichen Blickwinkeln von Forsthoff (1911) über Schelsky (1965) bis Anders (1987 II: 17 f.) einer Kritik an der Definitionsmacht technischer Möglichkeiten auf gesellschaftliche Entwicklung verpflichtet sehen; vgl. hierzu Köck 1996: 4 f.; Denninger 1990: 19.
83 Diesbezüglich besteht Grund zur Skepsis. Unsere sich immer mehr ausdifferenzierende und globalisierte Gesellschaft verfügt über keinen zentralen Ort, von dem aus demokratische Konsensbildungsprozesse in eine übergreifende Verbindlichkeit transformiert werden könnten. 84 Auch R. Wo//bestreitet die Berechtigung des Befundes nicht völlig (1986b: 271). 85 Grundlegend zur Frage systemspezifischer Zeithorizonte Lühmann 1974a: 25; 1991a: 70 ff., 253 ff.; 1995a: 426 ff., 441 f.; Hiller 1993: 31 ff.; siehe auch § 6 IV. 4., § 7 II. 3., § 7IV., § 11IV. 2. und 3.
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schaftlichen Teilsystemen unterschiedlich schnell auswirken. Gerade bei modernen Techniken, z. B. der Genforschung, stößt man auf das Phänomen, daß Zeithorizonte von Politik und Recht gegenüber jenen von Wissenschaft und Technik auseinanderdriften: Während sich die Folgen wissenschaftlich-technischer Neuentwicklungen in ihrer potentiellen Nachhaltigkeit und Irreversibilität auf die Zeit, die Zukunft hin ausdehnen, wird die für Steuerungsentscheidungen zur Verfügung stehende Zeit tendenziell immer kürzer 86. Eine rechtliche Grundkonstellation, die ermöglicht, daß neue technische Möglichkeiten unmittelbar den Definitionsbereich bestehender Freiheitsrechte und damit das Rechtssystem selbst verändern 87, erschwert strukturell Gestaltungsregulierung und erzeugt eine Tendenz, sich auf - nacheilende - Sicherheitsregulierung zu beschränken88. Solche Diskrepanzen werden häufig mit dem Terminus des cultural lag 89 belegt. Wie man das Verhältnis von Rechtsentwicklung und Technikgenese beurteilt, hängt davon ab, aus welcher Perspektive man die Veränderungen betrachtet, die in unterschiedlichen Bereichen die Durchsetzung von Innovationen begleiten. Die rechtliche Regulierung wird gegenüber technischen und wirtschaftlichen Entwicklungsprozessen jedenfalls dann als reaktiv und verzögert erscheinen90, wenn man von der Idealvorstellung eines detaillierten Regelungsgeflechts ausgeht, oder sich aus dem Blickwinkel des Rechtsgüterschutzes Beeinträchtigungen und Gefährdungen vor Augen hält, die von einer ungebremsten Anwendung der betreffenden Technologie drohen. Von Statik des Rechts kann aber nicht die Rede sein. Vielmehr ist das Rechtssystem - wie jedes gesellschaftliche Subsystem unserer Gesellschaftsformation - auf Dynamik angelegt91. Die Dynamik der Rechtsentwicklung ist eine spezifisch andere als die Dynamik anderer gesellschaftlicher Subsysteme. Der rechtsspezifische Wechsel von Stabilität (nicht Statik!) und Veränderung unterscheidet sich in Ablauf und Geschwindigkeit von wissenschaftlichen und tech8* Vgl. Rosa 1999: 406,408 ff. 87
Grundlegend zu rechtsverändernden Technikfolgen Roßnagel 1993: 11 ff. 88 Die Unterscheidung zwischen Gestaltungs- und Sicherheitsregulierung findet sich bei Damm/Hart 1987: 187 f.; vgl. hierzu auch Simon 1991: 10. Bereits Forsthoff unterscheidet zwischen technikunabhängiger, gemeinwohlorientierter und an dem industriell-technischen Prozeß unterworfener Planung (1971: 115 ff.; vgl. auch S. 42 ff.); krit. und optimistischer bezüglich der Steuerungsfähigkeit von Recht Denninger 1990: 26 ff. 89 Die in der Soziologie in unterschiedlichen Varianten vertretene These vom cultural lag lautet, daß sich das kulturelle Subsystem und mentale Strukturen nur allmählich, d h. mit einer erheblichen Verzögerung schnelleren technologischen, ökonomischen oder politischen Veränderungen anpassen. 90 Vgl. hierzu Luhmann 1995a: 426 ff., 441 f. Ich komme darauf zurück (§ 7). 91 Bereits Adorno (1979) hat zur soziologischen Dichotomie von Ordnung und Fortschritt angemerkt, Statisches und Dynamisches lasse sich in der Gesellschaft mit analytischem Anspruch nicht trennen. Die Denkfigur resultiere aus der Versuchung, „die statischen, zumal die institutionellen Momente um ihrer vorgeblichen Ewigkeit metaphysisch zu verklären, die dynamischen aber, und damit vielfach den konkreten Inhalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, als wandelbar und zufällig abzutun, nach jener Tradition, die das Wesen mit dem Beständigen identifiziert und das bloße Phänomen mit dem Vergänglichen" (1979: 219).
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nischen Entwicklungen und deren marktvermittelter Diffusion in die konkreten Produktions- und Anwendungsbereiche. Freiheitsverbürgende negatorische Garantien, Verkehrsfähigkeit und Selbstregulation ermöglichende Rechtsinstitutionen wie Patentrecht, Vertrag, Vertragsfreiheit und Eigentum, aber auch tatbestandlich vertypte Ge- und Verbote werden meist auf Widerruf (durch Rechtsprechung oder Gesetzgebung) stabil gehalten. Ihre judikative oder legislative Veränderung erfolgt nur reaktiv auf externe Anreize (Klagen, politischer Druck neokorporativer Akteure, Öffentlichkeit) hin. Veränderungen wirtschaftlicher Abläufe oder öffentlicher Diskurse mögen letztlich diffus über die richterliche Wahrnehmung und Problembewertung auf das Recht einwirken, doch bestimmen solche Faktoren nicht die Dynamik, den Zeithorizont des Rechtssystems. Dieses reproduziert und verändert sich von Urteil zu Urteil, von Gesetzesänderung zu Gesetzesänderung. Nur so ist in anderen gesellschaftlichen Subsystemen Erwartungsbildung - und damit Prozessieren in den jeweils systemeigenen Zeiten - möglich. Daß sich grundlegende und institutionalisierte Spielregeln des Zusammenlebens nur allmählich verändern lassen, ist eine zentrale Voraussetzung für die hohe Dynamik technischer, sozialer und wirtschaftlicher Prozesse in der Moderne 92.
VI. InnovationsofFenheit des Rechts und strukturelle Asymmetrien Dreierlei ist im Hinblick auf die vorstehend entfaltete These, das Rechtssystem verfüge strukturell über einen bias in Richtung Technologieoffenheit, zusammenfassend zu konstatieren: (1) Die Rede vom „Einklinken" technischer Möglichkeiten in vorhandene Wertungen macht deutlich, daß sich im Rechtssystem selbst meist kein sozialer Ort ausmachen läßt, dem positive Entscheidungen für die Entwicklung und Einführung von Technik zugerechnet werden können. Gleichwohl fallen neue, technologisch erzeugte Handlungsoptionen nicht in einen rechtsfreien Raum. Sie sind vielmehr grundrechtlich, d. h. hochwertig geschützt, soweit sie nicht auf bereits bestehende, rechtlich vertypte, also im rechtlichen Diskurs tradierte Restriktionen treffen. Mehrpolige Rechtsverhältnisse, wie sie sich im Anwendungskontext neuer Technologien fast zwangsläufig zwischen verschiedenen Akteuren bzw. Betroffenen ergeben93, sind durch eine doppelte Asymmetrie zu Gunsten der Technikanwendung und zu Lasten potentiell beeinträchtigter Interessen gekennzeichnet: 92 Vgl. Bonus 1998. 93 Klassisch ist insofern die Trias Genehmigungsbehörde/Antragsteller/Nachbar bzw. nachteilig Betroffener im Bau- oder Immissionsschutzrecht, die Denninger (1990: 167) als „Gnindfall" gegenüber komplexeren Netzen von Rechtsbeziehungen im Gesundheitsrecht bezeichnet. Angesichts der Ubiquität vieler durch moderne Hochtechnologien erzeugten
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(2) Wahrend Technikentwicklung und -anwendung v. a. durch grundrechtlich verbürgte Freiheitsgarantien, aber auch durch ermöglichende Rechtsinstitutionen (Patentrecht, Vertrag, Vertragsfreiheit, Eigentum) gewährleistet werden, sind Restriktionen mit dem Erfordernis, sie tatbestandlich-typisierend zu umgrenzen und zu rechtfertigen, belastet. Zwischen Restriktion und Norm (notfalls einer Metanorm des Verfassungsrechts, z. B. einem Persönlichkeitsrecht) ist argumentativ ein Ableitungszusammenhang herzustellen. Es muß belegt werden, daß Gefahrenabwehr oder gar Vorsorge (bis hin zum präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt) notwendig ist. Dazu muß man auf Erfahrungswerte oder Wissenskonstruktionen mit einem wenigstens minimalen empirischen Fundament zurückgreifen, die im betreffenden gegenwärtigen fachwissenschaftlichen Diskurs mindestens vertretbar sind. (3) Daraus resultiert eine Asymmetrie auf der Zeitachse94. Soweit neue Technologien jenseits gesetzlich oder präjudiziell vertypter, durch Erfahrungen der Vergangenheit gerechtfertigter Restriktionen neue Handlungsfelder erschließen, verfugen diese über einen Vorsprang gegenüber gegenläufigen Interessen95. Erst muß ein Gesetz oder ein Gerichtsurteil ergehen, erst muß - wissenschaftlichen Kriterien genügend - eine Gefahrdungslage als mindestens möglich nachgewiesen werden, bevor neue Reglementierungen erfolgen. Mögliche Gefährdungen (von Umwelt, Verbrauchern, Nachbarn) werden, wenn überhaupt, zeitlich nachrangig reguliert. Wann dies der Fall ist, hängt von wissenschaftlich oder durch Katastrophen erzeugten Erfahrungen und, damit verknüpft, den Konjunkturen öffentlicher Risikodiskurse ab.
VII. Die Überformung gesellschaftlicher Realität durch neue Techniken Neue technische Möglichkeiten überformen im Verlaufe ihres Entstehungs- und Durchsetzungsprozesses verschiedene gesellschaftliche Subsysteme sehr unmittelbar im Sinne einer Erhöhung von Komplexität. Sobald medizintechnische Neuentwicklungen auf breitem Feld anwendungsbereit sind, entstehen unmittelbar, allenGefahrenlagen (vgl. Beck 1986: 48 ff.), „entfällt die traditionelle Isolierbarkeit der Konfliktbezüge und folglich die verfahrensmäßige Kanalisierung inter partes" (E. Schmidt 1991: 379). w Ähnlich Blanke 1990: 154 f. 95 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch Hiller in ihrer Analyse rechtsförmigen Verwaltungshandelns in der Risikogesellschaft, wenn sie einen auf die Politik zurückwirkenden „Funktionsverlust des Rechts" konstatiert, der „eine situative Durchsetzung ökonomischer Interessen in der rationalisierten Form ingenieurwissenschaftlicher Standardsetzung" begünstige (1993: 139). Zur Kritik an Hillers pauschalisierenden Verwendung des Rechtsbegriffs s. o., § 11. 3. und Fn. 80. Daß die Umstellung einzelner Regelungsbereiche auf staatliche Vorsorge und Risikoregulierung dieses strukturelle Fundamentalprinzip unseres Rechtssystems bestenfalls partiell, aber nicht grundsätzlich ändern, wurde unter § 1 III. dargelegt.
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falls durch Marktmechanismen gebremst96, Weiterungen wie Einschränkungen individueller Autonomie, die angesichts des innovationsfreundlichen bias unseres Rechtssystems unter Umständen vorerst von rechtlicher Regulierung weitgehend unbeeinträchtigt bleiben97. Soweit keine gesetzlich vertypten Restriktionen existieren 98 , besteht zunächst die Freiheit, die neu gewonnenen Möglichkeiten zu realisieren. Zwei Beispiele solcher Überformung 99 seien angeführt: (1) Mit Ausweitung genanalytischer, insbesondere molekularbiologischer Verfahren entstehen neue medizinische Kategorien. Da „überall genetische Dispositionen im Spiel sind - von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis zum Krebs, Allergien, Diabetes wird jeder in der einen oder anderen Form zum Risikoträger" 100, zur „präsymptomatischen Person" mit einem spezifischen Risikostatus101. Zum anderen wird aus der einstmals in aller Regel plötzlich und schicksalhaft eintretenden Krankheit ein zu u. U. weitgehenden Entscheidungen nötigender biographischer Sachverhalt102. Auch wenn noch längst keine Krankheit durch manifeste Symptome nachweisbar ist, selbst wenn keine Gewißheit besteht, daß man erkranken wird, kann das Wissen um eine krankheitsrelevante genetische Disposition - auch aufgrund der realen oder befürchteten Stigmatisierungsfolgen - die Biographie frühzeitig erheblich beeinflussen. Informationen genetischer Diagnostik sind unmittelbar handlungsrelevant: ,für jene, die sie gewinnen (man will es exakt messen oder noch genauer bestimmen), wie für jene, die diese Dinge mitteilen (man will helfen, schützen oder Abhilfe schaffen; man muß es wahrheitsgetreu beschreiben, in jedem Falle aber begründen), als auch für jene, die davon erfahren oder darüber wissen (man muß sich entscheiden, ob man es hören will, es zukünftig ignoriert, ob man es weitersagt und wie)." 103 (2) Im Zusammenspiel mit sozialen Individualisierungsprozessen104 ermöglicht die moderne Reproduktionstechnologie die „Ablösung der Blutsverwandtschaft zwischen Eltern und Kindern von der familialen Lebensgemeinschaft" 105. Diese 96
Natürlich ist eine medizintechnische Neuerung nicht von heute auf morgen „einfach da", sondern mußte sich marktvermittelt und entlang spezifischer Pfadbahnungsmechanismen im Gesundheitssystem durchsetzen. Durchsetzungsprozesse neuer Technologien sind ausgesprochen komplex; vgl. B. Joerges 1988: 13 ff.; Hanus 1989: 79 ff.; Bühl 1995: 79 f., 87 ff. 97 Beispielsweise arbeiteten um 1989, also noch vor Inkrafttreten des Gentechnikgesetzes, allein in der Bundesrepublik Deutschland 800 Genlaboratorien, ohne daß dafür eine spezielle gesetzliche Grundlage vorhanden gewesen wäre; siehe Damm 1989:561; Murswiek 1990:210. 98 Man denke an das Zulassungsrecht für Medikamente, ärztliche Aufklärungspflichten, straf- und deliktsrechtliche Vorschriften sowie unterrechtliche Codizes wie ärztliche Standesregeln, Rieht- und Leitlinien. 99 Eingehend zu verändernden Effekten moderner Genomanalyse Künzler 1990: 46 ff. 100 Beck-Gernsheim 1995a: 10; ähnl. Steinmüller 1993: 8.
101 Vgl. Krahnen 1989: 67 ff.; Künzler 1990: 48 ff.; Scholz 1995: 48 f.; Damm 1999a: 441. 102 Vgl. Scholz 1995: 39 ff., 48 ff.; Krahnen 1989: 67 ff. loa Scholz 1995: 39, vgl. Krahnen 1989: 69 ff. 104 Vgl. hierzu statt vieler Beck 1986: 121 ff.; Beck-Gernsheim 1994a.
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erfolgt in ganz anderen Kontexten als Stiefkindschaft und Adoption106 und, langfristig gesehen, wohl in größerem Umfang. Damit wird das biologisch codierte Konzept der bürgerlichen Kernfamilie sowie unser Normalitätsverständnis, wonach in dieser „biologische und soziale Elternschaft zusammenfallen" 107, grundsätzlich relativiert. Dies bedeutet nicht etwa, daß die biologische Verwandtschaft damit an Bedeutung verlöre. Im Gegenteil: Teilweise ist die diagnostische Genanalyse auf den Rückgriff auf die biologische Verwandtschaft angewiesen. Vor allem aber können die genanalytisch gesteigerten Möglichkeiten, die biologische Vaterschaft festzustellen, soziale Beziehungen konstituieren und zerstören. Die individuellen Bezüge zum sozialen Familienverband werden relativiert 108. Möglicherweise noch gravierender ist der Wunsch, behinderte Kinder zu vermeiden und dies mit Hilfe pränataler Diagnostik und unter Einsatz neuer Gentechnologie zu erfüllen 109. Darin deutet sich vorbehaltlich der Fortentwicklung technischer Möglichkeiten die Tendenz zum vollkommenen, entlang gesellschaftlich geprägten Vorstellungen genormten „High-Tech-Kind" (Gross / Hohner) an 1 1 0 . Die technikbedingte Überformung gesellschaftlicher Realität erfährt im Kontext medizintechnischer Innovationen eine ganz spezifische Konnotation: Während bei anderen Technologien, wie z. B. der Kernenergie, primär Gefahren und Beeinträchtigungen von Leben und Gesundheit entstehen, treten bei medizintechnischen Verfahren „in wachsendem Maße Auswirkungen für Persönlichkeit und Autonomie, für Identität und Intimität"111 hinzu - Auswirkungen, die für die einzelnen Betroffenen positiv, negativ, u. U. auch beides zugleich sein können. Die wissenschaftlich erzeugten Möglichkeiten der Biotechnologie öffnen „das ,Wesen4 des Menschen, seine Anthropologie ,menschlichen', gesellschaftlichen Zwecken und Gestaltungsprinzipien"112. Integritätsvorstellungen, die körperzentriert an eine „menschliche Natur" anknüpfen, relativieren sich. Sie „gelten ungefragt offenbar nur so lange, wie die moralischen Schranken, die sie aufrichten, zugleich auch 105 Gross/Honer 1990: 97; vgl. ebd.: 105 ff. und Beck/Beck-Gernsheim 1990: 209 ff. Reproduktionstechnisch erzeugte Kinder können 5 Eltern haben: Die genetischen Eltern können „Sperma und Eizellen spenden ( . . . ) . Der sich entwickelnde Embryo mag dann ( . . . ) eine Surrogatmutter erhalten, die das Kind austrägt und es nach der Geburt den Wunscheltern überläßt" (Laufs 1987b: 1450). 106 Siehe Gross/Honer 1990: 105 ff. 107 Gross/Honer 1990: 98. 108 Vgl. Scholz 1995: 61 ff., die von einer ,3iologisierung verwandtschaftlicher Beziehungen" spricht. 109 Vgl. hierzu Beck-Gernsheim 1995b: 115 ff. und 1996: 293 sowie Vogel 1995: 91 ff. 110 Zu den empirischen Befunden s. o., Einleitung, Fn. 1. Die haftungsrechtliche Rechtsprechung verstärkt die Nachfrage nach pränataler genetischer Diagnostik, indem sie unter Verkennung des Basisrisikos jeder Schwangerschaft durch Konstituierung weitgehender Aufklärungspflichten Ärzte indirekt dazu anhält, Schwangeren entsprechende Tests nahezulegen (vgl. Beck-Gernsheim 1996: 292 f.; Vogel 1995: 101 f.). 1,1
Damm 1993a: 165 f. Das Zitat bezieht sich bei Damm nur auf die Gentechnologie. ii2 Beck 1988a: 39; vgl. hierzu auch Narr 1988: 96 f.
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technische Schranken sind" 113 . Die innere Natur des Menschen wird Kontingent, d. h. sie kann auch anders sein, als sie gegenwärtig ist" 114 . Selbstverständlichkeiten lösen sich auf und müssen durch Entscheidungen ersetzt werden 115. Selbst die Option, alles beim alten zu belassen, wird vor dem Hintergrund neuer Möglichkeiten zu einer Entscheidung. Einen wesentlichen Gesichtspunkt dieser Entwicklung benennt van den Daele: „Was bisher Grenze des Handelns war und als unabänderlich hingenommen werden mußte, wird entscheidbar und damit zum Problem. Konsequenzen von Handlungen werden erstmals sichtbar oder beherrschbar und damit auch verantwortbar. Ereignisse, die Schicksal oder Unglück waren, können nun nach Schuld und Haftung zugerechnet werden." 116 Nicht nur die Nachfrager pränataler Diagnostik durch genanalytische Verfahren, sondern auch jene, die diese nicht anwenden wollen, geraten in Entscheidungs- und Rechtfertigungszwänge. Entscheidungen aber sind schwierig. Auf die bisher handlungsleitenden Orientierungsmuster und Wissensbestände eines kulturell tradierten Naturverhältnisses kann nicht oder nur noch bedingt zurückgegriffen werden, weil gerade dieses durch die neuen technischen Möglichkeiten in Frage gestellt ist. „Dem technisch ermöglichten Dezisionismus", so Wolf-Dieter Narr, „fehlt sozusagen die kognitivmoralische Infrastruktur." 117 Das Problem wird dadurch verschärft, daß tradierte, gemeinsame Wertbestände in der sich ausdifferenzierenden Gesellschaft zunehmend zerfallen 118. Nicht nur Wissen und Erfahrung, sondern auch Normen und Konsens werden als handlungsleitende Ressourcen knapp. In rechtlicher Hinsicht stoßen wir hier auf ein weiteres Problem: Im Bereich der medizinischen Gentechnik geht es nicht etwa darum, »„schmutzigein)* Risiken für konsentierte, klassische, ,harte4 Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum)"119, die sich aus dem Mißlingen der Technologie ergeben könnten, zu begegnen. Vielmehr schafft die Gentechnik am Menschen bereits im Falle ihres Gelingens grundlegende Veränderungen, die der Regulierung bedürfen 120. Bestehende Tatbestände aber, mit welchen Gefährdungen durch neue Techniken begegnet werden soll, knüpfen weitgehend an die altgewohnte Unfall- oder katastrophenförmige Gefährdung von Gesundheit, Leben und Eigentum an. Auch aus diesem Grunde reichen im Kontext roter Biotechnologie die bereits bestehenden, abstrakten rechtsguts- oder eingriffsH3 van den Daele 1985: 205; eingehender dazu unter § 11 II. 5 a). 1,4 van den Daele 1985: 12; vgl. auch zur »Auflösung der Tabus der »Natürlichkeit4" ebd., S. 203 ff.; zur Veränderung normativer Deutungen durch gentechnologische Möglichkeiten vgl. Koslowski 1991. HS Vgl. Luhmann 1991c: 75. 116 van den Daele 1988: 18. in Narr 1988: 97. "8 Vgl. van den Daele 1985: 13 ff. 119 Damm 1999a: 437. 120 Vgl. Damm 1999a: 437 f.; grundlegend zur Dynamisierung von Rechtsgütern Damm 1999b: 104 ff.
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bezogenen Regulierungen nicht aus, den entstehenden Entscheidungsbedarf, wie er angesichts öffentlicher Diskurse über Chancen und Risiken dieser Technologien sichtbar wird, wenigstens in groben Zügen vorzustrukturieren. Es werden Interessen der Person sichtbar, die als solche erst einmal ins Recht internalisiert werden müssen, um als rechtlich anerkannte Interessen im rechtlichen Kontext mit einem Mindestmaß an Wahrscheinlichkeit berücksichtigt zu werden. Doch welche Interessen sind zu berücksichtigen? Zu jeder neuen Option verhalten sich die verschiedenen potentiellen Nutzer-, Anwender-, Verwerter- und Betroffenengruppen, indem sie Begehrlichkeiten oder Ablehnung formulieren, die neuen Möglichkeiten anwenden, dies unterlassen oder verweigern, deren Chancen und Gefahren thematisieren. Wird darüber öffentlich kommuniziert, entwickeln sich Risikodiskurse.
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§ 2 Risikokommunikation und Recht Welchen Einfluß hat Risikokommunikation1 auf die Rechtsentwicklung? In diesem Kapitel sollen einige Kategorien erarbeitet werden, mit denen sich dieser Zusammenhang beschreiben läßt, um daran anknüpfend die zentrale These der Arbeit zu entfalten.
I. Risiken und Risikokommunikation Mit jeder Entscheidung, die Chancen eröffnet, werden zugleich Risiken eingegangen - Risiken, die in den hier betrachteten Zusammenhängen eine gewisse Ubiquität aufweisen, weil jeder durch Information über seine genetische Disposition zum Risikoträger werden kann2.
1. Entscheider und Betroffene Der konstruktivistische Risikobegriff Risiken sind entsprechend der Begriffsverwendung systemtheoretischer Autoren3 Ungewißheitslagen, die durch menschliche Entscheidungen erzeugt wurden und - ob vom Entscheider selbst gesehen oder nicht - die Möglichkeit nachteiliger Folgen (Schäden) eröffnen. Sie werden eingegangen, weil man sich als Folge sichere Vorteile oder doch Chancen erwartet. Komplementärbegriff ist die Gefahr. Mit dem Risiko hat diese gemein, daß sie die zukünftigen Schadensmöglichkeiten thematisiert; über Schadenseintritt und Schadensumfang besteht in der Gegenwart Ungewißheit 4. Der Unterschied besteht darin, daß man Gefahren ausgesetzt ist, Risiken dagegen eingeht. Im Rahmen dieses Begriffsverständnisses kann man von Gefahr dann „sprechen, wenn der etwaige Schaden durch die Umwelt verursacht werden wird, zum Beispiel als Naturkatastrophe oder als Angriff böser Feinde; von Risiko dagegen, wenn er auf eigenes vorheriges Verhalten (einschließlich: Unterlassen) zurückgeführt werden kann"5. Was für Entscheider selbstgesetztes Risiko ist, ist für Betroffene fremdverursachte Gefahr. Damit ist eine weitere - wesentliche - Unterscheidung eingeführt: jene zwischen Entscheidern und Betroffenen. Risiken, die Entscheider vielleicht bedauern, aber jedenfalls in Kauf nehmen, können für Betroffene Gefahren sein, welchen sie ausgesetzt sind - selbst dann, wenn sie reflektieren, daß es sich aus Entscheider1
Zum Begriff s. o., Einleitung, Fn. 22. 2 s. o., § 1 VII. 3 Luhmann 1990c u. 1991c; Japp 1996; ähnlich Beckmann 1993b: 239 ff.; 1996: 43 ff. 4
Die Begriffe „Ungewißheit" und „Unsicherheit" werden hier synonym verwandt. Zwischen objektiver Unsicherheit und subjektiver Ungewißheit zu unterscheiden, macht im Zusammenhang der gewählten konstruktivistischen Perspektive wenig Sinn. 5 Luhmann 1994: 662.
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sieht um Risiken handelt6. Zentral an dieser Unterscheidung ist, daß sie einen „Wahrnehmungsbruch" (Japp) beschreibt, der strukturell ein Risiko für Dissens schafft 7 und eine Moralisierung vor allem der politischen Kommunikation über Risiken nach sich zieht8. Diese Dynamisierung öffentlicher Risikodiskurse erfolgt fast zwangsläufig, denn „der Betroffene sieht sich einer Gefahr ausgesetzt, über deren Entstehung er nicht mitentschieden hat, die er nicht kontrollieren kann, der er ausgeliefert ist und von der er nur weiß, daß sie aus Sicht des Verursacher ein Risiko darstellt - es bleibt ihm die Unsicherheit und Angst"9. Es ist Allgemeingut sozialwissenschaftlicher Risikoforschung, daß die subjektive Wahrnehmung von Risiken situationsabhängig erheblich variiert - unabhängig davon, ob und wie sich Schadensmöglichkeiten quantifizieren lassen. So werden z. B. freiwillig eingegangene Risiken eher akzeptiert, als von außen auferlegte Gefahren, selbst unmittelbar kontrollierbare Risiken eher als unkontrollierbare, Risiken neuer Technologien eher als solche bekannter erprobter Techniken10. Auf diesen Zusammenhang von Angst, Fremd- und Selbstkontrolle werden wir noch an anderer Stelle stoßen.
2. Andere Dichotomien, andere Risikobegriffe Auch andere Risikotheorien betonen die Entscheidungsabhängigkeit von Risiken 11 , deren Abhängigkeit von sozialen Definitionsprozessen, grenzen sie aber teilweise unter dem Gesichtspunkt vorhandener Information von Unsicherheit 12 ab. Insoweit stehen diese Ansätze in der Tradition der Theorien der »rationalen Wahl4 (rational choice), die - wie in versicherungs- und ingenieurstechnischen risk assessments üblich - unter Risiken nur solche Gefährdungslagen verstehen, die erfahrungsgeleitete, verläßliche Kalkulationen zulassen13. Gegenbegriff ist dort 6
Vgl. Luhmann 1991c: 117. Zu den Gründen dieser Differenz vgl. Beckmann 1996: 44 f. 7 Vgl. Japp 1992: 32 f.; Japp 1996: 61 f.; Beckmann 1993a: XXH; Luhmann 1991c: 111 ff., bes. 117,122 f. « Vgl. Luhmann 1991c: 3 ff.; 1990b: 237 ff. 9 Beckmann 1996: 45. 10 Grundlegend Starr 1993: 7 ff.; vgl. ferner Renn 1989: 181; Beckmann 1993a: XDI; Rapoport 1988: 128 ff.; Krohn/Krücken 1993a: 25 ff.; Jungermann/Slovic 1993; H.-R Peters 1991: 28 ff.; Luhmann 1991c: 117, 158 f.; Tacke 2000: 83 ff.; van den Daele 1993. Die individuelle Wahrnehmung wie die Bewältigung von Risiken hängen von sozialen Kontexten mit spezifischen Präferenzmustern unterschiedlicher Stabilität ab; vgl. Douglas /Wildavsky 1993: 118 ff.; Rayner 1993; Japp 1992: 32, 44 ff. und 1996: 109 ff.; Evers/Nowottny 1987: 64 ff.; zur kulturtheoretisch-soziologisch orientierten Risikoforschung vgl. Beckmann 1993a: X V I ff.; Krohn/Krücken 1993a: 10 ff.; Tacke 2000: 85 f. " Beck 1988a: 120 f. m. w. N.; Evers/Nowotny 1987: 33 ff. 12 Beck 1988a: 121; Evers/Nowotny 1987: 41 ff. 13 Prägnant und stilbildend insoweit die auf Frank Knight (1933) zurückgehende Unterscheidung von uncertainty und risk. Knight konnte noch von einem Risikobegriff ausgehen, der sich auf objektive Wahrscheinlichkeiten stützte; vgl. hierzu auch Bonß/Hohlfeld/Kollek 1992: 158 f.
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die Unsicherheit, die besteht, wenn mangels Erfahrung keine Wahrscheinlichkeitsberechnungen möglich sind. Quergelagert ist das juristische Begriffsverständnis 14. Auch hier unterscheidet man bislang allerdings vorwiegend anhand des Kriteriums verfügbaren Wissens. Entschieden wird erfahrungsgeleitet oder, etwa im Besonderen Polizeirecht sowie im Umwelt- und Technikrecht15, angeleitet von den Prognosen der Sachverständigen.
3. Risiken als kommunikative Konstrukte Für unsere Fragestellung erscheint es wenig sinnvoll, den Risikobegriff von dem der Gefahr oder dem der Unsicherheit anhand des Kriteriums vorhandener Information abzugrenzen16. Wohl lassen sich durch Information, durch Wissen - in Grenzen - Unsicherheiten reduzieren. Kaum jemand wird bestreiten wollen, daß zwischen Wissens- und Erfahrungsbeständen und der Chance, drohenden Schäden frühzeitig handelnd entgegentreten zu können, ein Zusammenhang besteht. Unsicherheit kann aber ihrerseits durch neue Information, neues Wissen erzeugt werden17. Insbesondere schädliche Folgen moderner Hochtechnologien sind „fremdwissens-abhängig" (C. Lau). Ihr Eintreten ist nicht unmittelbar sinnlich oder mit Hilfe des jedermann zuhandenen Alltagswissens zu erfassen 18. Es sind wissenschaftliche Definitionen, die entscheiden, ob und inwieweit Schäden oder Gefährdungen bestehen, wer davon indirekt betroffen ist und welches Gewicht potentielle Schäden haben werden19. Und nicht nur die Frage, ob überhaupt relevante Risiken bestehen, ist eine der Zurechnung, sondern auch jene nach dem verantwortlichen Risikosünder (Entscheider). Für die Beantwortung mag es individuelle Präferenzen geben, aber kaum eine Chance auf Konsens. Entscheidend ist, daß Fragen dieser Art erst auftauchen, gesellschaftlich und rechtlich relevant werden können, wenn über die betreffenden Gefahren öffentlich mit einer gewissen Intensität kommuniziert wird. 14 Zu rechtlichen Risikodefinitionen vgl. Hiller 1993: 116 ff.; Di Fabio 1994: 73 ff., 98 ff., 117 ff.; Murswiek 1985: 80 ff.; A. Reich 1989: 75 ff.; Scherzberg 1993: 497 f.; Ladeur 1995: 69 ff. 15 Vgl. Ladeur 1993a: 210 ff.; Preuß 1994: 530 f. 16 Zur Kritik juristischer Orientierung an vorhandenem Wissen vgl. Bechmann 1993b: 240; Preuß 1994: 529 ff.; A. Reich 1989: 92 ff., 126 ff.; Ladeur 1995: 72 ff. 17 Vgl. nur Beck 1986: 35 ff.; Evers/Nowotny 1987: 47 ff. Oft wird unterstellt, mangelndes Wissen führe zu ,Angstkommunikation"; exemplarisch Pitschas 1997: 224. Dabei belegen die Ergebnisse empirischer Risikoforschung, daß ein Zusammenhang zwischen Akzeptanz und Informiertheit nicht (H.-P. Peters 1991: 13 f.) oder allenfalls insoweit besteht, daß neue Informationen „Menschen viel eher dazu (bringen), Gefahren höher, aber nur selten dazu, sie niedriger einzuschätzen" (Wildavsky 1993: 206). 18 Vgl. Beck 1986: 35 ff.; 70 ff.; 1990b: 21 f., 25 f.; krit. Döbert (1994: 312) mit dem Hinweis, daß kollektive Verdrängungsmechanismen gerade durch jene Gefährdungen gestört werden, die alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen betreffen und sichtbar sind. 19 Vgl. Lau 1989:428.
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a) Zur Kalkulierbarkeit
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von Risiken
Auf einer alltags- wie auf einer handlungstheoretischen, rein deskriptiven Ebene20 mag man davon ausgehen, Unsicherheit und wissensbasierte Risiken ließen sich unterscheiden. Auf einer analytischen Ebene wird man jedoch sehr schnell einsehen müssen, daß auch solcherart definierte Risiken nur so lange kalkulierbar erscheinen, wie unterschlagen wird, daß es „über zukünftige Ereignisse ( . . . ) Informationen nur in dem Sinn (gibt), daß man der Vergangenheit in der Form von Erfahrungen traut - so lange es gut geht"21. Zudem liegen Risikoberechnungen spezifische Stoppregeln für die Suche nach weiteren Folgen oder Alternativen zugrunde. Unterscheidungen entlang des Begriffsrasters Risiko /Unsicherheit lassen unberücksichtigt, daß jede Risikoberechnung nach spezifischen Präferenzen durchgeführt wird, die andere Rationalitätsprämissen ausblendet22 und latent hält und daß jede Risikokalkulation nur Nutzen- und Schadensfolgen bestimmter Felder in den Blick nehmen kann. Das Versicherungsprinzip, das „für eine Risikoklasse eine hinreichende Gleichartigkeit zwischen vergangenen und zukünftigen Schadensverläufen unterstellt"23, ist nur tragfähig, solange ihr vertraut wird bzw. solange die gesellschaftlichen Nutzenvorstellungen und Risikowahrnehmungen24 nicht auseinanderdriften 25. Wird dieses „Modell einer homogenen Grundgesamtheit"26, das typisierende Normalitätsgrundlage jeglicher Wahrscheinlichkeitskalkulation ist 27 , in Frage gestellt, so schwindet der , »handlungswirksame Mythos"28 rational kalkulierbarer Risiken. Beschleunigt durch den politisierenden Diskurs ökologischer Protestbewegungen hat sich weiten Teilen der Gesellschaft eingeprägt, daß man stets mit katastrophenförmigen Überraschungen rechnen muß, mit denen niemand gerechnet hatte, v. a.: die auch die Experten nicht ^rechnet hatten. Seveso, Bhopal, Harrisburg, Sandoz, Tschernobyl, diverse chemische Kleinkatastrophen, Ozonloch, Waldsterben, Allergien und BSE haben dem öffentlichen Bewußtsein eingeschrieben, was Charles Perrow 29 1984 mit seiner Analyse „normaler Katastrophen" für die Wissenschaft diskursfähig gemacht hat. Seine Studie und die sich chaostheoretisch orientierenden Naturwissenschaften haben das Paradigma lineardeterministischen Denkens in Kausalitäten, wonach ähnliche Ursachen ähnliche 20
Zur Kritik an handlungstheoretisch orientierten Risikobegriffen vgl. Japp 1996: 22 ff., 61 ff. 21 Japp 1996: 60; grundlegend zum Problem Rapoport 1988: 123 ff. 22 Vgl. Rapoport 1988: 127 f.; Krohn/Küppers 1989: 73 f. 23 Krohn/Krücken 1993a: 22. 24 Vgl. hierzu Rapoport 1988: 134 ff.; Douglas/Wildavsky 1993. 25 Gleiches dürfte auch für das ingenieurwissenschaftliche risk assessment gelten; vgl. Japp 1992: 32. 26 Beckmann 1993a: XXH. 27 Vgl. Ladeur 1995: 23 f. 2« Japp 1996: 59. 29 Perrow 1989. 5 Maitra
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Wirkungen haben, prekär gemacht 30 . Damit ist „das Vertrauen, durch eine Erweiterung des Kausalwissens die Zukunft vorausberechnen und damit Sicherheit erzeugen zu können" 31 , grundlegend erschüttert 32, wenn auch nur in Teilbereichen gesellschaftlichen Handelns 33 . Zudem hat der Prozeß schnellen Veraltens handlungsorientierenden Wissens, der die Moderne insgesamt kennzeichnet, exponentiell an Dynamik gewonnen 34 . Kultur- wie systemtheoretisch orientierte Analytiker 3 5 verweisen auf den Verfall gesamtgesellschaftlicher Rationalität, der die „in der Vergangenheit aus ideologischen Deutungsprozessen herausgenommene Rolle des Experten" 36 diesen Prozessen aussetzt.
b) Unterschiedliche
Beobachterperspektiven
Risiko ist demnach kein Produkt rationaler Berechnung, es kann allenfalls im Falle konvergierender Wahrnehmungen und konsentierter Wertpräferenzen als solches erscheinen 37. Je nach Zurechnung erscheinen Schäden als Risiko bzw. als Gefahr 38 . Risiken sind also - soziale - Konstrukte, abhängig vom situativen, kultu30 Vgl. Krohn/Küppers 1989: 70 ff., bes. 78 ff.; Krohn/Küppers 1990: 113 ff.; v. Woldeck 1989; Preuß 1994: 529, 533 ff.; Ladeur 1986: 265 f.; 271 ff. und 1995: 78 ff., bes. 84 ff.; Scherzberg 1993: 493 ff. 31 Preuß 1994: 533. 32
Offenkundig geht eine grundlegende Vertrauenshaltung okzidenteller Rationalisierung wenigstens in Teilbereichen technischen Handels verloren (vgl. H.-P. Peters 1991: 12 f. m. w. N.). Wissenschaftliche Rationalisierung und Intellektualisierung bedeutet Max Weber zufolge „nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man es nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge - im Prinzip - durch Berechnen beherrschen könne" (1984; Hervorh. im Orig., D.M.). Schon Weber beschrieb den aus heutigen wissenssoziologischen Abhandlungen (vgl. nur Rossen-Stadtfeld 1999: 223 ff. m. w. N.) vertrauten Zusammenhang, daß technisches Wissen in teilweise nur noch Spezialisten zuhandene Teilbestände fragmentarisiert wird und durch Vertrauen in fremdes Wissen kompensiert werden muß. 33 Nach wie vor für unsere Zivilisation grundlegend und notwendig ist ein alltagsselbstverständliches Vertrauen in Technik und deren wissensbasierte Beherrschbarkeit durch Experten (vgl. G. Wagner 1994: 146 ff.; Hernien 1992: 175 ff.). Als Idealisierung wahrgenommen und brüchig wird dieses Vertrauen oft erst, wenn Technik nicht funktioniert (vgl. G. Wagner 1994: 153; Hennen 1992: 175 f.). 34 Vgl. Lübbe 1998, bei dem bildhaft von „innovationsabhängiger Gegenwartsschrumpfung" die Rede ist. Zu Orientierungsverlusten und desintegrativen Effekten infolge solcher Beschleunigungstendenzen vgl. Rosa 1999: 407 und passim. 35 Nachw. bei Hessler 1995: 32. 36 Hessler 1995: 32. 37 Rapoport 1988: 136. 38 Luhmann merkt in diesem Zusammenhang an, daß die „klassischen Rationalitätskonzepte einen Beobachter erster Ordnung (instruieren)", der über eine beobachterunabhängige Rationalität verfügt, wogegen eine sozialwissenschaftliche Beobachtung zweiter Ordnung
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rell geprägten Kontext des Beobachters. Daß ein und derselbe Sachverhalt je nach Perspektive Gefahr und Risiko, lohnendes oder zu vermeidendes Risiko39 sein kann, erzeugt unüberbrückbare Wahrnehmungsdifferenzen. Diese lassen sich nicht einfach durch Rückgriff auf Information oder spezifische Rationalitäten - etwa solche von Gutachtern - im Sinne einer „Autorität besseren Wissens" (Luhmann) beseitigen. Für unseren Gegenstandsbereich, das Rechtssystem oder genauer: rechtliches Entscheiden und Argumentieren in Fällen, in denen es um die Anwendung neuer Biotechnologien, v. a. die Genanalyse, geht, ist dies von entscheidender Bedeutung. Denn hier kreuzen sich typischerweise unterschiedliche Perspektiven, die sich weder aufeinander reduzieren, noch ohne weiteres durch eine übergeordnete oder eine spezifisch rechtliche Rationalität auflösen lassen. Damit wird auch klar, daß es Sicherheit im Sinne einer Abwesenheit von Risiko im strengen Sinne nicht geben kann. Was es geben kann, ist die Erwartung (Vertrauen), daß sich Nachteile nicht einstellen werden, also ein Denken, das die Offenheit der Zukunft zugunsten eines subjektiven oder gesellschaftlich vorherrschenden Sicherheitsgefühls ausblendet40. c) Latenz Halten wir also fest: Risiken sind Konstrukte 41, Produkte von perspektivabhängigen Zurechnungen, deren Rationalitätsprämissen andere (ebenfalls mögliche) Sichtweisen ausblenden und latent 42, d. h. außerhalb dessen halten, was innerhalb des spezifischen Diskurses thematisierbar ist. Latenz ist ein allgemeines Phänomen sozialer Beziehungen. Was in diesen manifest, d. h. thematisiert, kommuniziert, verhandelt wird, ist immer nur ein kleiner Ausschnitt ihres Reichtums an „sozialem Sinn" (Bourdieu), der im übrigen latent bleibt. Ich möchte den Begriff der Latenz für meine Zwecke allerdings etwas weiter fassen und anders unterscheiden, nicht nur auf verborgen gehaltene Voraussetzungen sozialen Handelns sehen, sondern auf Kommunikation umstellen. Latent ist dann, was zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt innerhalb eines spezifischen Kontextes mit den bislang zu rekonstruieren vermag, wie Beobachter erster Ordnung ihre spezifischen Rationalitäten - über Zurechnungen - konstruieren (1990c: 137). Es ist letztere Beobachtungsperspektive, die hier eingenommen wird. 39 Die positiv markierte Seite des Risikos wird meist durch den Begriff der Chance ersetzt. Zur temporalen Asymmetrie zwischen Chancen und Risiken vgl. Hiller 1993: 20 ff. 40 Vgl. Japp 1996: 62 ff.; Luhmann 1991c: 28 ff. und 1997b: 1092. 41 Mit der Entscheidung für einen relativistischen, konstruktivistischen Risikobegriff wird nicht bestritten, daß mangelnde Information ein wichtiges Element von Unsicherheit ist, ebensowenig, daß sich zwischen alten Risiken und neuen Risiken moderner Technologien sinnvoll unterscheiden läßt. 42 Zur sozialwissenschaftlichen Kategorie der Latenz, die nicht deckungsgleich mit der individual- bzw. sozialpsychologischen Kategorie der Unbewußtheit ist, vgl. Japp 1997a: 223 ff.; 241 ff.; Luhmann 1991a: 456 ff.; Hondrich 1996: 30 f. sowie Beck 1986: 45.
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üblichen Differenzierungen, Denk- und Wissensmöglichkeiten nicht faßbar ist oder diskursiv ausgegrenzt wird, prinzipiell jedoch thematisierbar ist. Wenn man auf der Basis genanalytischer Erkenntnisse die molekularbiologischen Ursachen psychischer Störungen ausmacht, so „verstellt diese naturwissenschaftliche Wirklichkeitskonstruktion den Blick für die psychosoziale Dimension von Person und Krankheit"43. Man kann aber, wie Kritikerinnen und Kritiker gentechnischer Verfahren, auch anders beobachten und versuchen, im Diskurs die psychosozialen Aspekte aus dem (noch) weitgehend eingehaltenen Latenzbereich herausheben44.
d) Beobachtung und Gegenbeobachtung Information allein, das hatten wir gesehen, reicht nicht aus, um das Verhältnis von Risiko und Sicherheit bzw. Unsicherheit soziologisch adäquat zu beschreiben, denn „sie ist selbst Gegenstand von differenten Auffassungsperspektiven" 45. Wurde oben noch recht umstandslos konstatiert, daß das Wissen um genetische Dispositionen jeden „in der einen oder anderen Form zum Risikoträger" mache46, so ist nun also etwas vorsichtiger zu differenzieren. Natürlich begründen auch genetische „Veranlagungen" nicht eine quasi „objektive" Risikoträgereigenschaft. Vielmehr sind auch Risiken biomedizinischer Risikofaktorenkonzepte Konstrukte: Meist aufgrund statistischer Korrelationen zwischen Merkmal und Erkrankung/ Mortalität innerhalb einer Teilpopulation werden Risikofaktoren individuell zugerechnet - mit der Intention, einzelne zu Änderungen ihres aus dieser spezifischen Perspektive irrationalen, weil gesundheitsgefährdenden Verhaltens zu veranlassen. Erkrankungen sind dann nicht mehr Unglück, sondern werden als Folge eigener Entscheidung zugeschrieben, Krebs beispielsweise wird damit „nur für Raucher ( . . . ) ein Risiko, für andere ist er nach wie vor Gefahr" 47. Bei solcherart konstruierten Krankheitsrisiken48 werden soziale Faktoren systematisch ausge43 Hohlfeld 1988: 67. 44 Hohlfeld 1988: 67 f.; Narr 1988: 98. Ein gängiger Vorwurf an die Gentechnologie lautet, sie verfahre reduktionistisch und versuche, soziale durch technische Lösungen zu ersetzen. 45 Japp 1996:10. Zum Verhältnis von Unsicherheit und Vertrauen siehe im Fortgang § 71.4. 46 s. o., § 1 Vü., bei Fn. 100. 47 Luhmann 1990c: 148 f. 4« Zur Kritik des biomedizinisch-epidemiologischen Risikofaktorenkonzepts vgl. Franzkowiak 1986; Atteslander 1997; Blanke/Kania 1996: 519 f. Teilweise wird auf individuelles Fehlverhalten zugeschnittenen Präventionskonzeptionen selbst Risikoträchtigkeit attestiert, etwa bezogen auf den Risikofaktor Cholesterin: „Aus Gesunden wurden Verängstigte, schließlich Kranke." (Fülgraff 1994: 602). Aus medizinischer Sicht wird zunehmend kritisiert, daß die umstandslose Gleichsetzung genetischer Ausstattung mit der Programmierung eines Krankheitsrisikos einem verfehlten mechanistischen Paradigma geschuldet sei, das die nichtlineare Dynamik biologischer Prozesse nicht berücksichtige; vgl. Reiber 1998; Neumann-Held 1998; Altmeyer 2001. Auch dies ist eine Gegenbeobachtung, die der beobachteten Risikozuschreibung vorhält, falsch zu beobachten.
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blendet, d. h. latent gehalten: Zum einen werden die Einflüsse des sozialen Umfeldes (sozialer Status/Einkommen/soziale Unsicherheit/Arbeitslosigkeit/Einsamkeit) auf die Gesundheit - obwohl insoweit statistische Korrelationen herstellbar sind - nicht in den auf individuelle Selbstverantwortung zugeschnittenen Zurechnungszusammenhang aufgenommen 49. Zum anderen bleiben lebensgeschichtliche und kulturelle Kontexte, in denen das als irrational definierte, weil gesundheitsschädliche Risikoverhalten im Sinne einer gegenläufigen Rationalität als sinnvoll eingestuft werden könnte50, außerhalb der Betrachtung. Oder sie werden thematisiert, aber, weil eigenverantwortlichem Gesundheitsverhalten abträglich, als falsch und unvernünftig denunziert. Gerade die Entwicklung der Genanalyse macht in einer sehr doppelbödigen Form deutlich, daß Risiko und Gefahr Produkte von Zurechnungen sind. Ursprünglich war Krankheit eine schicksalhafte Gefahr 51. Leicht wird sie nun zum Risiko. Neues Wissen hat spezifische Unsicherheitslagen erzeugt und die Problematik des epidemiolischen Risikofaktorenkonzepts verschärft. Wir wissen nun, daß wir über unsere genetischen Krankheitsdispositionen oder die unserer Kinder etwas erfahren können. Andere, nämlich jene, die die technischen und ökonomischen Möglichkeiten dazu geschaffen haben, haben uns in diese - je nach Sichtweise - erfreuliche oder unangenehme Situation gebracht. Diesbezüglich sind wir Betroffene, die zur Entscheidung für oder gegen Genanalysen gezwungen sind - und insoweit zu Entscheidern werden. Wer mit Hilfe eines Gentests erfahren könnte, daß er genetisch für eine bestimmte Krankheit disponiert ist, geht Risiken ein, wenn er eine wegen Erkrankungen naher Verwandter naheliegende Analyse unterläßt und setzt sich späteren Vorwürfen aus. Gleiches gilt für den, der seine Lebensplanung und Lebensweise nicht am Ergebnis eines seine Krankheitsdisposition bestätigenden Gentests orientiert. Die Krux der Genanalyse liegt darin, daß ihre Möglichkeiten uns, ohne daß wir dies entschieden hätten, zu Entscheidern machen und eine gesteigerte Eigenverantwortung aufzwingen. Soziale Prozesse dieser Art kann man nur zureichend beschreiben, wenn man die Abgrenzung zwischen Risiko und Gefahr nicht als Frage einer objektivierbaren Informationslage, sondern als eine der Zurechnung begreift. Was in politischen Arenen, massenmedial vermittelter Öffentlichkeit und vor Gericht als relevante Perspektive gilt oder geltend gemacht wird, unterliegt stetem Wandel. Risiken und der Verfall von Wissensgewißheit werden in zunehmendem Maße kommuniziert52, 49 Vgl. Blanke/Kania 50
1996: 516 ff.; Atteslander 1997: B-2035, B-2037 ff.
So kann Rauchen jenseits körperlicher Genußwirkung aus soziologischer Sicht als subjektiv nützliches, sozialintegratives Handeln interpretiert werden (Franzkowiak 1986: 134; vgl. auch Stuhr 1991: 510 ff.). 51 So jedenfalls die Zurechnung der Moderne. Andere Gesellschaften und Epochen haben Krankheit als Fluch, als Strafe für falsches Verhalten oder sogar als göttliche Auszeichnung interpretiert. 52 Bechmann (1996: 46 ff.) weist darauf hin, daß derzeit in mindestens drei gesellschaftlichen Diskursen „die Gefährdung der Gesellschaft durch sich selbst thematisiert" (ebd.: 46)
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und zwar nicht nur innerhalb der inneren Zirkel von Wissenschaft und jenen Funktionssystemen, die primär für Risikobewältigung zuständig sind53, sondern in allen öffentlichen Arenen (Massenmedien, Politik, Recht)54. Insofern erscheint es zutreffend, wenn behauptet wird, die heutige Gesellschaft alarmiere sich wie nie zuvor selbst55. Erst wenn eine Gefahrenlage öffentlich über eine gewisse Intensitätsschwelle hinweg kommuniziert wird, entsteht ein Risiko, auf das reagiert werden muß 56 . Die jeweilig „dominant gewordenen Risiko- und Nutzenthemen sind Resultate gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse"57. Was gilt, denk- und sagbar ist, im jeweiligen Risikodiskurs eine Durchsetzungschance hat, kann sich ändern. Im Rechtssystem werden also - aus soziologischer Perspektive - nicht objektivierba Risiken zum Problem, sondern die (Erwartungs-)Unsicherheit, die sich aus d öffentlichen Kommunikation von Risiken ergibt. Gegenläufige kritische Beobachter können bislang latent gehaltene Bereiche der Kommunikation „aufbrechen" und bislang hegemonialen Rationalitätsansprüchen andere entgegensetzen58.
Et. Rechtliche Risikoentscheidungen in Konfliktfallen In dem Maß, in dem Innovationen den Möglichkeitsraum menschlichen Handelns erweitern, das Wissen um die Gestaltbarkeit von Natur und Gesellschaft expandiert, nehmen die Selektionszwänge zu. Es muß entschieden werden, ob, in welchem Umfang und wie neue Möglichkeiten privater Innovationen genutzt oder nicht genutzt werden dürfen. Wer aber entscheidet? Aufgrund der oben geschilderten Asymmetrien wird man davon ausgehen müssen, daß in aller Regel technische Experten, Anwender und Marktteilnehmer potentielle Erstentscheider sind. Entscheider sind potentiell Profiteure jener Seite unseres Rechtssystems, das die Zukunft offen läßt und damit tendenziell für Innovation optiert. Sie operieren im wird: Thematisiert werden die Unkompensierbarkeit der Katastrophenpotentiale moderner Hochtechnologien, der in seinen Folgen unabschätzbare Eingriff in die menschliche Evolution durch Gentechnologie und die langfristigen synergetischen Effekte alltäglicher Handlungen auf die Umwelt. 53 Gemeint sind die staatlichen Sicherungssysteme: Polizei (Gefahrenabwehr) und Sozialversicherung (Bewältigung von Armuts- und Arbeitsrisiken; vgl. hierzu Evers/Nowotny 1987: 88 ff.; Ewald 1993: 443 ff.). 54 Zu den Auswirkungen des veränderten Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit auf die Dynamik von Risikodiskursen vgl. Lau 1989: 430 ff. 55 Luhmann 1990b: 11. 56 Auch die neuere Katastrophensoziologie beschreibt Katastrophen als Ereignisse, die jenseits ihrer Schadensdimension erst durch ihre „gesellschaftliche Wahrnehmung, Bewertung und Prozessierung als katastrophale Ereignisse konstituiert werden" (Krücken 1997: 117, Fn. 1, m. Nachw.; grundlegend v. Prittwitz 1990). 57 Beckmann 1993a: XVII. 58 Vgl. Japp 1997a: 243 f., 248 f.; in diesem Sinne lassen sich soziale Bewegungen als Gegenbeobachter beschreiben, vgl. Luhmann 1991c: 146 ff., 154.
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Rahmen jener Grundrechtsdimensionen, die selbstexekutiv sind oder rechtlich konstituierte Freiheitsräume garantieren. Deren zukunftsoffene Temporalstruktur trifft sich positiv mit der Zukunftsoffenheit des Risikos. Hingegen zählen die Betroffenen zu denjenigen, die die Schutzdimension der Grundrechte und damit die Limitierung der Freiheitsrechte anderer in Anspruch nehmen. Bei neuartigen Formen der Beeinträchtigung müssen ihre Interessen erst in das Recht internalisiert werden. Das heißt, sie müssen tatbestandlich typisiert und gerechtfertigt werden. Aus dieser Perspektive trifft die Zukunftsoffenheit fremdverursachter Gefahren negativ auf die vergangenheitsorientierte Temporalstruktur schützender, freiheitseinschränkender Grundrechtsdimensionen. Uns soll vor allem jene Konstellation interessieren, in welcher Konflikte eskalieren und damit mindestens einer der Akteure aus den primären Entscheidungszusammenhängen des jeweiligen gesellschaftlichen Subsystems ausbricht. Oft wird er Gefahren geltend machen, die die bisherige Risikowahrnehmung latent gehalten hat. Wenn „Modernisierungsrisiken den Prozeß ihrer sozialen ( A n e r kennung durchlaufen haben", so glossiert Ulrich Beck die Folgen solcher Perspektivwechsel, dann fallen „die Schranken spezialisierter Zuständigkeit. Die Öffentlichkeit regiert in technische Details hinein. Betriebe ( . . . ) sehen sich plötzlich auf dem Anklagebänkchen sitzen, genauer: an den öffentlichen Pranger gebunden und mit Fragen konfrontiert, mit denen man früher auf frischer Tat ertappte Giftmörder malträtiert hätte."59.
1. Risikoregulierung als Staatsaufgabe Wer also entscheidet im Konfliktfall? Primär ist es, pauschal gesagt, der Staat, dem unter Mobilisierung moralisierender und angstbezogener Kommunikation die Vorsorge gegen mögliche Schäden abverlangt wird. Vor allem die Politik wird „von denen (oder im Namen derer) in Anspruch genommen, die an der Entscheidung nicht beteiligt sind, aber von etwaigen Schadensfolgen betroffen sein würden"60. Wohl sind längst nicht alle sozialen Regulative, die den im Laufe der Moderne aus ständischen, religiösen, ethnischen und subkulturellen Bindungen freigesetzten Individuen Sicherheit ermöglichten61, an staatliches Handeln geknüpft. Man denke nur an private Versicherungen62 oder die Marktregulierung über Verträge 63. Dennoch wird im Zusammenhang mit der Anwendung neuer Technologien das Verlangen nach Sicherheit in erster Linie an staatliche Institutionen herangetragen64. 59 Beck 1986: 102. 60 Luhmann 1991c: 158. 61 Vgl. Evers/Nowotny 1987: 67 ff.; Ewald 1989: 386 ff.; Ewald 1993: 242 ff. 62 Zur Versicherung im deutschen Recht vgl. Looschelders 1996; zur Versicherung als Modus gesellschaftlicher Unsicherheitsregulierung vgl. Ewald 1989 und 1993; Luhmann 1996b. 63 Zur Risikoregulierung durch Verträge vgl. Diederichsen 1990: 155 ff.; J. Schmidt 1991; Hart 1991; Köck/Meier 1992; Meier 1995; Damm 1996: 114 ff.
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Teil 1: Rechtssystem und Persönlichkeitsrechte im Kontext von Risikodiskursen
Dies hat mehrere Gründe: Zum einen sind in sozial differenzierten Gesellschaften allein Legislative, Exekutive und Rechtssystem in der Lage, ad hoc unter Rückgriff auf das im Hintergrund bereitstehende Gewaltmonopol kollektiv verbindliche Entscheidungen herbeizuführen 65. Zum anderen ist es in Europa, historisch betrachtet, v. a. der Staat gewesen, der im Verlauf der Moderne über „Sicherungsmonopole"66 soziale und technische Risiken abgesichert hat 67 . Staatliche Institutionen erscheinen daher als quasi »natürliche* Sicherheitsgaranten, von welchen erwartet wird, daß neu gewonnene Möglichkeitsräume reguliert werden. Zudem lassen sich in dem auf das politische System einwirkenden, massenmedial hergestellten politischen Diskurs wie im rechtlichen Diskurs die in anderen gesellschaftlichen Teilsystemen relevanten Ungleichgewichte (Wissen, Macht, Geld) partiell neutralisieren. In den Arenen politischer Öffentlichkeit kann die Betroffenenseite durch Moralisierung 68 (Betroffene als potentielle Opfer, Entscheider als autoritär/repressiv/undemokratisch/zerstörend), Angstkommunikation69 und „Katastrophensemantik"70 Durchschlagskraft erzielen. Im Recht kann man mit dem partiell egalisierenden Anspruch auf formale Gleichheit Schutz- und Ausgleichsansprüche geltend machen. Kein Wunder also, daß die Politik mit Sicherheitsverlangen konfrontiert wird, die Gerichte bemüht werden, Sicherheit als Staatszweck71 und Ausfluß subjektiver Rechte72 im Kontext moderner Risiken Konjunktur hat und zunehmend73 zum Thema rechtswissenschaftlicher Reflexion wird. 64 Japp spricht von einer „strukturellen Tendenz zur politischen Erwartungsbildung im Konflikt zwischen Entscheidern und Betroffenen" (1996: 78), bei Evers/Nowotny ist von einer „Politisierung ( . . . ) von Zukunftsentscheidungen" (1987: 263) die Rede; zur Politisierung von Risiken vgl. Luhmann 1991c: 155 ff., bes. 171 f.; Japp 1996: 79 ff. 65 Luhmann zufolge (1991c: 155 f.) liegt die niedrige Schwelle der Politisierbarkeit von Risikothemen und deren Umsetzung in regulative Politik in deren Orientierung an Außendarstellung zwecks Machterhalt sowie der hierarchischen Ämterstruktur des modernen Staates begründet, die „es möglich (macht), Entscheidungen auch dann zu treffen und durchzusetzen, wenn ihre Folgen nicht überblickt werden können" (ebd.: 155). 66 Evers/Nowotny 1987: 68.
67 Vgl. Evers/Nowotny 1987: 68 ff. sowie Ewald 1993: 242 ff. Ulrich K Preuß hält Sicherheit für „die elementare »gesellschaftliche Wertidee4 des modernen Wohlfahrtsstaates und seiner Institutionen" (1989a: 251 f.). 6« Vgl. Luhmann 1991c: 4 f., 117 f. 69 Vgl. Luhmann 1990a: 237 ff. 70 Vgl. Luhmann 1991a: 519. Was Luhmann tendenziell negativ wertet (vgl. 1986: 21, relativierend 1991c: 5 f.), kann man durchaus auch positiv sehen: Dann sind „Moralisierung und Verantwortungsschock ( . . . ) die Lösungsmittel, mit und in denen die Verhältnisse ihre eigene Verselbständigung auflösen" (Beck 1988b: 642). 71 Vgl. Di Fabio 1994: 35 ff. m. w. N., der eine „Renaissance des Staatszwecks der Gefahrenabwehr" konstatiert; ferner Preuß 1994: 523 ff.; Köck 1996: 12 f.; Diederichsen 1990: 152 ff.; H Hesse 1994: 18 ff., 125 ff., 139 ff.; Grimm 1996: 625 f.; zur Ideengeschichte vgl. Hermes 1987: 148 ff.; Callies 2002: 2 ff. 72 Vgl. Di Fabio 1994: 38 f. m. w. N.; Pitschas 1997: 225 f.; Stoll 1991: 150 f.; Scherzberg 1993: 508 ff.; Isensee 1983: 21 ff., 27 ff., 33 f.; Murswiek 1985: 88 ff., 138 ff.; Hermes 1987:
§ 2 Risikokommunikation und Recht
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2. Eilzuständigkeit des Rechtssystems Doch zumindest in jenen komplexen und von hoher Dynamik gekennzeichneten Bereichen, die Gegenstand öffentlicher Risikodiskurse sind, läßt sich staatlicherseits die Tendenz feststellen, ausdifferenzierte Regelungen nur zögerlich zu verabschieden. Gesetze müssen erst im politischen System durchgesetzt werden. Sie erfordern Wissen, Macht oder Konsens und in jedem Fall Zeit. All dies sind Ressourcen, die bei technischen Neuerungen oft nicht gegeben sind, zumal kollektive Interessen und ihre Trägergruppen zeitbedingt an Grenzen ihrer Organisationsfähigkeit stoßen. Die neu entstandenen Aktionsfelder sind teilweise hochkomplex. Neue Anwendungsmöglichkeiten überformen und dynamisieren, wie angesprochen, gesellschaftliche Wirklichkeiten, Moral, Wissensbestände, Interessenlagen etc. Auf dem Hintergrund gegenläufiger Interessenlagen politisierte Risikodiskurse erschweren die Konsens- bzw. Mehrheitsbildung. Der moderne Staat ist kaum mehr das „homogene Handlungssubjekt, als das er lange Zeit gelten konnte"74. Hinzu kommt, daß angesichts einer zunehmenden Globalisierung von einer „annähernden Kongruenz von Problemlagen und Problemlösungseinheiten"75, auf der die Regulierungskompetenz des Nationalstaats beruht, nicht mehr die Rede sein kann. Schließlich scheut man im politischen System die Delegitimierungseffekte, die entstehen können, wenn sich Entscheidungen als Fehler erweisen. Dort bleibt fast immer die Möglichkeit, für Rationalität im Sinne von Wissenserzeugung zu optieren und damit Festlegungen unter Zeitverbrauch zu entgehen76. Ein dem Justizverweigerungsverbot entsprechendes Politikverweigerungsverbot existiert nicht77. Dagegen können sich Gerichte an sie herangetragenen Sicherheitsforderungen und Regulierungsersuchen aufgrund des Justizverweigerungsverbots nicht ent187 ff.; Callies 2002: 5; Robbers 1987: 13 ff., 121 ff.; Ipsen 1990: 178 ff.; Denninger 1990: 174; zur grundrechtsverbürgten staatlichen Schutzpflichten gegenüber modernen Technologien BVerfGE 49, 89/141 f. - Kalkar; 53, 30/51, 57 - Mühlheim-Kärlich; 56, 54/73, 78 Fluglärm; 65, 1/45 f. - Volkszählung I. Zum Kontext Reproduktionsmedizin und Gentechnologie siehe Vitzthum 1985: 202; Donner/Simon 1990: 917 f.; M. Schröder 1992: 132 ff. m. w. N. Kritisch zum Konstrukt grundrechtlich abgeleiteter Schutzpflichten: Denninger 1988: 3 ff.; Preuß 1991: 266 ff.; Prittwitz 1993: 136, 149; Di Fabio 1994: 43 ff.; 224 ff.; H. Hesse 1991,1994 und 2001: 192 ff. 73 Vgl. etwa Köck 1993a: 133 ff. und 1993b; Damm 1993a und 1997; Oppermann 1997; Pitschas 1989 und 1997; A. Reich 1989; Ladeur 1986, 1993a und 1995; Murswiek 1990. Angesichts der nur noch begrenzten Tragfähigkeit erfahrungsgestützten Kausaldenkens im Bereich moderner Technologien (vgl. auch Ladeur 1995: 9 ff., 84 ff.) schwenkt staatliche Sicherheitsgewährleistung von Gefahrenabwehr auf Risikovorsorge um (Preuß 1994: 537 ff.; Köck 1996: 16 ff.; ähnl. Scherzberg 1993: 490 ff.; Di Fabio 1994: 448 ff.; Roßnagel 1993: 241 ff.; Grimm 1996: 626 f. m. w. N.; Ladeur 1995: 69 ff., 99 ff., bes. 115 ff.). 74 Grimm 1987b: 78. 75 Grimm 1987b: 81. 76 Vgl. Japp 1992: 34 ff., bes. 38 f.; Luhmann 1991c: 184 f. 77 So der zutreffende Hinweis von Roellecke 1996a: 177.
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Teil 1: Rechtssystem und Persönlichkeitsrechte im Kontext von Risikodiskursen
ziehen78 - unabhängig davon, ob eine Verrechtlichung der betreffenden Konfliktlagen immer wünschenswert ist 79 . Erleichternd wirkt der Umstand, daß all jene knappen Ressourcen, die legislative Rechtssetzung benötigt, im gerichtlichen Verfahren in weit geringerem Maße erforderlich sind, zumal das zu regulierende Problem in der Regel auf einen spezifischen Einzelfall eingegrenzt werden kann. Gefahrenabwehr ist, wenn zunächst einmal nur über Vergangenes oder - im Falle des Unterlassungsrechtsschutzes - konkretisierbar über unmittelbar Bevorstehendes entschieden werden soll, als punktuelle Maßnahme leichter zu rechtfertigen (oder abzulehnen) als die legislative umfassende Regulierung zeitfernerer Möglichkeiten. Richterliche Entscheider können über den Einzelfall hinausgehende Folgenerwägungen anstellen. Sie müssen dies aber nicht, weil sie von einer Verantwortung für rechtsexterne Realfolgen 80 weitgehend entlastet sind. Aus dieser Perspektive hat es seinen guten Grund, wenn man nur die Judikative, nicht aber die Legislative als Teil des Rechtssystems betrachtet, obwohl letztere Rechtsnormen erläßt. Die Funktionserfordernisse und die Handlungsimperative, an denen sich beide orientieren, sind ganz unterschiedlich. Ob man hier nur einen graduellen oder aber mit Luhmann einen grundsätzlichen, Systemgrenzen verkörpernden Unterschied sehen muß, sei dahingestellt. Für die Perspektive dieser Arbeit sei festgehalten, daß als Rechtssystem lediglich die durch Rechtsprechung und Rechtswissenschaft verkörperten Diskurse bezeichnet werden. Zwar verfügt die Rechtswissenschaft weitergehend als die Judikative über Raum zum Räsonieren, benötigt aber weder Macht, noch Konsens, im Gegenteil: sie reproduziert sich geradezu über die Dualität von Konsens und Dissens. Die Eilzuständigkeit der Gerichte unterstützt sie genau aus diesem Grunde schneller und effektiver als ressourcenintensive legislative Rechtssetzung. Gerade ihre Unverbindlichkeit trägt dazu bei. Gegenüber ihren normativen Zumutungen läßt die Rechtswissenschaft größere Flexibilität zu als die Legislative mit dem strikten Geltungsimperativ ihrer Gesetze.
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Das heißt nicht, daß stets in der Sache entschieden werden muß (und kann) oder gar vertiefte und grundlegende Problemlösungen von allgemeiner Tragfähigkeit geschaffen würden. Von der Abweisung wegen Unzulässigkeit abgesehen, läßt der Rückzug auf Formales (Unzuständigkeit, Beweis- und Verfahrensregeln, Abweisung mangels gesetzlich vertypter Anspruchsgrundlage, (verfassungs-)richterliche Selbstbeschränkung) Raum für Ausweichmanöver. Um eines aber kommt kein Gericht herum, ist erst einmal die Klage eingegangen: es muß entscheiden. Faktische Rechtsverweigerung durch Liegenlassen bis zur Erledigung kommt vor (siehe Holtschneider 1991: 167), dürfte aber eher die Ausnahme sein. 79 Vgl. hierzu Teubner 1989: 133 ff. 80
Mit Lübbe-Wolf (1981: 25 ff.) wird zwischen den im Urteil tenorierten Rechtsfolgen und den weiteren sich aus diesen ergebenden Realfolgen unterschieden; vgl. ferner Deckert 1995: 107 ff. m. w. N.
§ 2 Risikokommunikation und Recht
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m . Abwägung von Persönlichkeitsrechten ein Normbildungsprozeß in der Risikogesellschaft? In unserem Zusammenhang geht es um Konstellationen, in denen Gerichte mit Sicherheitsbedürfnissen konfrontiert sind, die nicht ganz zufallig als Interesse auf Integrität der Persönlichkeit formuliert werden. Neue Rechtspositionen, also auch rechtliche Ansprüche auf Limitierung fremder Freiheitsrechte und staatlichen Schutz, entstehen nicht aus dem Nichts heraus. Sie müssen sich, um eine Chance auf Zustimmung und Verstetigung hin zu einer auf Dauer gestellten Rechtspraxis zu erhalten, legitimieren lassen, an vorhandene Kommunikationen und weitgehend konsentierte Rechtspraktiken anknüpfen 81. Ihre Internalisierung beruht, wie im Fortgang gezeigt werden soll, auf der Möglichkeit, spezifisch juristische Textverständnistraditionen mit aktuellen Evidenzen außerrechtlicher Diskurse zu legieren. Aus dem abstrakten Normtext der Artt. 1 I, 2 I GG ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung herauszudestillieren, war nur möglich, weil zuvor in einem weit über hundert Jahre währenden juristischen Diskurs, an dem Gesetzgebung, Judikatur und Rechtswissenschaft ihre Anteile hatten, bereits andere Integritätsinteressen eine Bewertung als schutzwürdige Persönlichkeitsrechte erfahren hatten. Ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu postulieren, war nicht pure Dezision, sondern konnte auf die dogmatisch verdichteten Evidenzen dieses Diskurses und seine normstrukturellen Vorgaben ebenso zurückgreifen, wie auf Positionen und Annahmen, die in öffentlichen Risikodiskursen über die Gefahrenträchtigkeit der neuen Technologie kommuniziert wurden. Die Frage, die hier - letztlich zugespitzt auf das Beispiel des Problemkomplexes Genanalyse - beantwortet werden soll, lautet: Wie sind die Mechanismen beschaffen, durch die sich ein solcher Normbildungsprozeß vollzieht? Ich komme damit auf ein Problem zurück, das in der Einleitung bereits kurz angesprochen worden war: das Problem widerstreitender Funktionsimperative im Recht - Stabilität und Flexibilität. Wir hatten gesehen, daß die faktische Wahrnehmung neu entstandener technischer Möglichkeiten sich in bestimmte rechtliche Normstrukturen einklinkt und deren Wirkungsraum erweitert. Auf Limitierung solcher Optionen gerichtete Integritätsinteressen, aber auch bestimmte Verwertungsinteressen erlangen dagegen rechtlich erst dann Geltung, wenn sie als Rechtspositionen internalisiert werden. Erfolgt keine entsprechende gesetzliche Regulierung, so bleibt den Betroffenen nur der Gang vor Gericht. Diese aber stehen vor einem Dilemma: Wo durch Anwendung neuer Technologien neue Optionen und zugleich Risiken / Gefahrenlagen erzeugt werden, ist es häufig nicht möglich, vollständig erfahrungsgeleitet zu entscheiden. Weder sind 81 Aus systemtheoretischer Sicht könnte man auch darauf abstellen, daß Gründe (also Legitimationserfordernisse) für Redundanz und gegen allzu große Überraschungen optieren (vgl. Luhmann 1995a: 373 ff.), also durch Möglichkeitsreduktion Orientierungsleistungen erbringen. Dazu ausführlicher unter § 5 I., Fn. 17.
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Teil 1: Rechtssystem und Persönlichkeitsrechte im Kontext von Risikodiskursen
die betreffenden Handlungsräume gesetzlich oder durch präjudizielle und dogmatische Routinisierung ausreichend vorstrukturiert, noch kann, wo faktische Fragen auftreten, umstandslos auf feste Bestände eines konsentierten Alltagswissens oder ausreichend valide wissenschaftliche Information zurückgegriffen werden. Wo gesetzgeberisch bereichsspezifische Vorgaben getroffen wurden, sind diese häufig hochabstrakt und damit konkretisierungsbedürftig. Oft stehen sie in deutlichem Gegensatz zu Gefahrenwarnungen und gegenläufigen Rationalitäten öffentlicher Risikodiskurse und deren unkalkulierbarer Dynamik von Beobachtung und Gegenbeobachtung. Die Auseinandersetzung um das Volkszählungsgesetz 1983 mag insoweit als Beispiel dienen. Um den Ableitungszusammenhang zwischen Recht und Entscheidung zu wahren, wird auf abstraktere Rechtssätze wie Generalklauseln oder Verfassungsrecht zurückgegriffen. Aus dieser Perspektive gewinnt die Begründungsform einer Abwägung von Interessen bzw. Grundrechten, die in ihrer Begründung auf die einzelfallspezifischen Umstände abhebt, große Attraktivität, zumal damit in den öffentlichen Risikodiskursen kommunizierte Argumente aufgegriffen werden können. Ich werde zeigen, daß eine Internalisierung von Rechtspositionen, die über diesen Modus verläuft, die Gefahr vorschneller Selbstbindungen vermeidet und dennoch mittelfristig zu einer Entwicklung stabiler (neuer) Rechtspositionen führen kann. Hier hat sich in den vergangenen 50 Jahren eine neue Formrichterlichen Begründens - und des Entscheidens - herausgebildet. Die Abwägung von Persönlichkeitsrechten mit anderen Rechtspositionen ist, so die These, ein Begründungsmodus, der ganz spezifischen Mechanismen unterliegt und eine ganz eigene Rationalität hat. Ihre Herausbildung korrespondiert mit dem Umstand, daß auch zivilrichterliche Entscheidungen angesichts der hohen Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen in der Risikogesellschaft oft viel weitgehender, als nach herkömmlichem Verfassungsverständnis vorgesehen, auf Normbildungsprozesse hinauslaufen.
Teil 2
Regeln und Prinzipien - Unterschiedliche Modi juristischen Argumentierens und ihre Bedeutung für Stabilität und Flexibilität des Rechts §3 Regeln und Prinzipien Erste Annäherung an eine Leitunterscheidung In diesem Kapitel werden jene Kategorien entfaltet, mit deren Hilfe die Persönlichkeitsrechtsentwicklung als Normbildungsprozeß beschrieben werden soll. Als Ausgangspunkt (§ 3 I.) soll die an Ronald Dworkins Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien1 anknüpfende Behauptung Robert Alexys dienen, Grundrechte enthielten im wesentlichen nicht fixe Handlungsvorgaben, sondern einer variablen Abwägung zugängliche „Prinzipien"2. In einem zweiten Schritt (§ 3 n.) wird diese Differenzierung mit der in rechts- und verwaltungssoziologischen Zusammenhängen üblichen Unterscheidung zwischen Konditional- und Zweckprogrammen abgeglichen.
I. Die Differenzierung der Rechtstheorie (R. Dworkin, R. Alexy, J. Esser) Zwei Arten von Normen können nach Dworkin und Alexy unterschieden werden: Regeln und Prinzipien. Gemeinsam ist beiden der normative Charakter, beide „lassen sich mit Hilfe der deontischen Grundausdrücke des Gebots, der Erlaubnis und des Verbots formulieren" 3. Für eine Differenzierung zwischen beiden Normarten lassen sich sehr unterschiedliche Kriterien finden 4. Dworkin, Alexy und der Sache nach - auch Esser5 unterscheiden in folgender Weise6: 1 Dworkin 1984: 54 ff. 2 Alexy 1986: 71 ff. 3 Alexy 1986: 72. 4 Vgl. hierzu Alexy 1986: 73-75,1995a: 185; J. Esser 1990: 39 ff. 5 Ahnlich - darauf weist Alexy selbst hin (1995a: 186 f.) - hat Josef Esser in seinem erstmals 1956 veröffentlichten Werk „Grundsatz und Norm in derrichterlichen Fortbildung des Privatrechts" (1990: 39 ff., bes. 50-52, 95-97) unterschieden, allerdings mit anderer Begrifflichkeit als Alexy: Weitgehend synonym verwendet er die Begriffe ,»Prinzip", „Maxime"
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Teil 2: Regeln und Prinzipien
1. Regeln Regeln sind dadurch gekennzeichnet, daß sie nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip angewendet werden. Eine Regel gilt oder sie gilt nicht. „Wenn die Tatsachen, die eine Regel als Bedingung festsetzt, gegeben sind, dann ist die Regel entweder gültig - in diesem Fall muß die Antwort, die sie liefert, akzeptiert werden - , oder sie ist nicht gültig, und dann trägt sie nichts zur Entscheidung bei"7. Regeln enthalten konkrete Weisungen „mit größerem oder kleinerem diskretionären Raum für den Richter"8. Im Kollisionsfall, wenn zwei Regeln auf einen Sachverhalt anwendbar sind, muß eine der Regeln weichen9 - aufgrund einer in der Regel selbst enthaltenen Ausnahme oder einer höherrangigen Kollisionsnorm. Für diesen Fall hat die weichende Regel keine Geltung. So wird, um ein Beispiel zu nennen, eine gegenüber einem Abwesenden abzugebende Willenserklärung mit Zugang beim Erklärungsempfänger wirksam (§ 130 I BGB). Diese Regel gilt nicht für Fälle, in denen der Empfänger geschäftsunfähig ist (§ 1311 BGB).
2. Prinzipien Anders als Regeln haben Prinzipien eine Dimension des Gewichts10. Als normative Argumente (nicht Aussagen) geben sie die Verwirklichung bestimmter Ziele vor. Im Kollisionsfalle gelten beide betroffenen Rechtsprinzipien. „Wenn Prinzipien sich schneiden ( . . . ) muß derjenige, der den Konflikt auflösen muß, das relative Gewicht der beiden Prinzipien berücksichtigen."11. Prinzipien enthalten Optimierungsgebote12, schreiben also vor, daß bestimmte Ziele im Rahmen der gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten in möglichst hohem Maße verwirklicht werden. Sie enthalten, so Alexy, „keine definitiven, sondern nur prima-facie- Gebote. Daraus, das ein Prinzip in einem Fall einschlägig ist, folgt und „Grundsatz", für ,,Regel" und „rule" nutzt er auch den Begriff „Norm", während Alexy (1986: 72) in beiden Fällen von „Normen" spricht. 6 Zust. Larenz 1991: 138 f., 474 ff., 1979: 24 f., passim; Canaris 1983: 47, 52-56, 115 f.; R. Dreier 1985: 356, 1986: 892 f.; Koch 1990: 153 f.; Koch/Rüßmann 1982: 79, 97 ff., 244 ff.; J. Schmidt 1992: 209 ff.; Ellscheid 1992a: 26 ff.; Bydlinski 1995: 11 f.; Langenbucher 1996: 36 f. und passim; krit. Müller 1995: 113 f.; Poscher 2003: 78 ff. 7 Dworkin 1984: 58. « J. Esser 1990: 51. 9 J. Esser 1990: 58, 62; Alexy 1986: 77 f. 10 Dworkin 1984: 61 f., 84. 11 Dworkin 1984: 62. 12 Nur Alexy kennzeichnet Prinzipien als Optimierungsgebote (1986: 75 f.; 2003: 771), nicht Dworkin. Ähnl. die Vorstellung eines grundrechtsoptimierenden, möglichst schonenden Ausgleichs durch „Herstellung praktischer Konkordanz", vgl. K. Hesse 1995: 142 f. (Rn. 317-319); instruktiv hierzu Alexy 2003. Krit. Habermas 1994: 255, 315 f.; Günther 1988: 288 ff.; Poscher 2003: 72 ff.; H. Dreier 2004: 87 (Vorb. Art. 1, Rn. 79) m. w. N.
§ 3 Erste Annäherung an eine Leitunterscheidung
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nicht, daß das, was das Prinzip in diesem Fall verlangt, im Ergebnis gilt. Prinzipien stellen Gründe dar, die durch gegenläufige Gründe ausgeräumt werden können. Wie das Verhältnis zwischen Grund und Gegengrund festzusetzen ist, wird durch das Prinzip nicht entschieden. Prinzipien entbehren deshalb eines Festsetzungsgehalts im Blick auf gegenläufige Prinzipien und tatsächliche Möglichkeiten." 13 Durch Abwägung zwischen beiden für den konkreten Fall geltenden Prinzipien muß eine Vorrangrelation gefunden werden. Dabei ist zu begründen, aufgrund welcher fallspezifischen Bedingungen das eine Prinzip dem anderen in welchem Umfang vorgeht 14 . Kollidieren die betreffenden Prinzipien in einer anderen Fallkonstellation, so kann die Frage des Vorrangs durchaus anders zu lösen sein. Auch hier soll ein Beispiel angeführt werden. Alexy, der Grundrechte hinsichtlich ihres zentralen Gehalts als Prinzipien interpretiert, demonstriert die Auflösung einer Prinzipienkollision anhand einer argumentationstheoretischen Rekonstruktion der Lebach-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 15: „Im Lebach-Urteil ging es darum, ob ein Dokumentarspiel über eine schwere Straftat, in dem die Namen der Beteiligten genannt und deren Bilder gezeigt werden, die Rechte eines der Teilnehmer verletzt, wenn es kurz vor dessen Entlassung aus der Strafhaft im Fernsehen ausgestrahlt wird. Das Bundesverfassungsgericht beantwortet diese Frage im Wege einer Abwägung »zwischen dem in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Schutz der Persönlichkeit und der Freiheit der Berichterstattung durch den Rundfunk gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 G \ Ersteres sei als N l y letzteres als N 2 notiert. Gäbe es nur wäre die Ausstrahlung verboten, gäbe es nur N 2, wäre sie erlaubt. Isoliert betrachtet, fuhren Ni und N 2 also auf einen Widerspruch. Kennzeichnend für den logischen Charakter von Grundrechtsnormen ist, daß das Verfassungsgericht nicht von einem Widerspruch, sondern von einer Spannungslage spricht. Ob Ni oder N 2 ,den Vorrang verdient4, ist, so das Verfassungsgericht, »durch Güterabwägung im konkreten Fall zu ermitteln 4"16, „bei der keines der beiden Prinzipien - das Bundesverfassungsgericht spricht in diesem Zusammenhang von »Verfassungswerten 4 - ,einen grundsätzlichen Vorrang beanspruchen kann4. Vielmehr sei ,unter Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung und der besonderen Umstände des Einzelfalles zu entscheiden, welches Interesse zurückzutreten hat4. ( . . . ) Nach der Feststellung einer Kollision abstrakt gleichrangiger Prinzipien kommt das Gericht auf der zweiten Stufe zu einem generellen Vorrang der Freiheit der Berichterstattung des Rundfunks ( . . . ) im Falle einer »aktuellen Berichterstattung über Straftaten 4 ( . . . ) . Diese Vorrangrelation ist deshalb interessant» weil nur ein genereller oder grundsätzlicher Vorrang festgesetzt wird. Dies bedeutet, daß nicht jede aktuelle Berichterstattung erlaubt ist. ( . . . ) Die Entscheidung fallt auf der dritten Stufe. Hier setzt das Gericht fest, daß im Falle einer ,wiederholte(n), nicht mehr durch das aktuelle Informationsinteresse gedeckte(n) Fernsehberichterstattung über eine schwere Straftat 4, die ,die Resozialisierung 13 Alexy, 1986: 88 [Hervork im OrigD.M.]; ähnl. 1995a: 82 f.; J. Esser 1990: 80; Canaris 1983:55. " Alexy 1986: 78 ff.; 2003: 772 ff. 15 BVerfGE 35, 202 = NJW 1973, 1226; NJW 1973,747 (zuvor erlassene einstweilige Anordnung). 16 Alexy 1995a: 199 f. Ich kombiniere zwei Kurzfassungen; ausführliche Analyse bei Alexy 1995b: 29 ff.
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Teil 2: Regeln und Prinzipien des Täters gefährdet' ( . . . ) . , der Schutz der Persönlichkeit ( . . . ) der Freiheit der Berichterstattung ( . . . ) vorgeht, was im zu entscheidenden Fall heißt, daß sie verboten ist." 17
3. Prinzipienabwägung und Regelauslegung als Idealtypen rechtlichen Begründens Die Unterscheidung zwischen Prinzipien und Regeln ist nicht gradueller, sondern qualitativer Art 18 . Entscheidend ist nicht etwa die größere Abstraktheit von Prinzipien oder ihr Generalitätsgrad, sondern daß sie, anders als Regeln, keine Weisung für einen bestimmten Problembereich enthalten. Sie dienen lediglich als Gründe oder Rechtfertigungen einer judiziellen oder legislativen Weisung19. Allerdings ist Alexys Behauptung, jede Norm sei entweder Regel oder Prinzip 20, mißverständlich. Sie läßt sich angesichts der Vielfalt der in unserem Recht existierenden Mischformen und des Umstandes, daß Normtexte vielfach durch Ausnahmen in Form von Regeln oder Prinzipien zu ergänzen sind, kaum halten. Alexy selbst weist auf Mischformen hin 21 : Gegen Dworkins Behauptung, die Ausnahmen einer Regel ließen sich wenigstens theoretisch vollständig angeben22, führt Alexy jene Fälle an, in welchen die Geltung einer Regel durch ein Prinzip eingeschränkt wird, mit der Folge, daß die Ausnahmen jener Regeln nicht aufzählbar sind23. Ein Beispiel für derartige Konstellationen findet sich bei Dworkin selbst24: der Fall Riggs vs. Palmer aus dem Jahre 1889. Ein New Yorker Gericht mußte entscheiden, ob der durch das Testament seines Opfers begünstigte Mörder dieses beerben kann. Nach den Bestimmungen geschriebenen Rechts hätte der Mörder die Erbschaft erhalten müssen. Sie wurde ihm vom Gericht unter Berufung auf die allgemeine, grundlegende Maxime verweigert, niemand solle aufgrund eines von ihm begangenen Unrechts einen Vorteil erlangen oder durch sein Vergehen Eigentum erlangen dürfen 25. Wenn demnach zutrifft, daß jede Regel unter besonderen Umständen aufgrund eines Prinzips unanwendbar sein kann, wird man jeder Regel den stillschweigen17 Alexy 1986: 85 f. Später hat das Gericht seine Entscheidung präzisiert; BVerfG NJW 2000,1859. 18 Alexy 1986: 76 f.; ähnlich auch J. Esser 1990: 50 f., 95 f. 19 J. Esser 1990: 50-52, 95 f.; zustimmend Alexy 1995a: 186 f., 1986: 90-92. 20 Alexy 1986: 77.
21 Vgl. etwa Alexys Beschreibung des Doppelcharakters von Grundrechtsnormen des GG (1986: 104 ff., bes. 122-124); zum Regelanteil von Grundrechtsnormen siehe auch J. Schmidt 1992: 27 ff. 22 Dworkin 1984: 59. 23 Alexy 1995a: 188 ff. 24 Dworkin 1984: 56 f. 25 Im deutschen Recht ist die Fallkonstellation durch die Regel des § 2339 I Nr. 1 BGB erfaßt.
§ 3 Erste Annäherung an eine Leitunterscheidung
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den Zusatz „wenn nicht nach einem Prinzip etwas anderes geboten ist" hinzufügen müssen26. Damit aber relativiert man den Alles-oder-Nichts-Charakter von Regeln. Eines der Unterscheidungsmerkmale zwischen Prinzipien und Regeln wird aufgeweicht, denn „der Alles-oder-Nichts-Charakter kommt bei Regeln mit allgemeinen Vorbehaltsklauseln erst dann zum Tragen, wenn die eigentlich entscheidenden Fragen beantwortet sind"27. Alexy räumt die „technische Schwäche der Allesoder-Nichts-These"28, d. h. deren vergleichsweise geringe Relevanz ein, versucht aber argumentationstheoretische Trennschärfe der Unterscheidung zwischen Prinzipien und Regeln zu retten. Auch bei Regeln, die vage gefaßt und damit interpretationsbedürftig seien, Ausdrücke wie „vernünftig", „sittenwidrig" etc. enthielten, komme der Tatbestands-Rechtsfolge-Automatismus erst nach Beantwortung der entscheidenden Fragen zum Tragen 29. Doch obwohl durch Verwendung prinzipienbezogener Klauseln zahlreiche Kollisionen verschwänden, bleibe es beim regeltypischen Kollisionsverhalten30. Ob diese Auflösung des Problems argumentationstheoretisch zu befriedigen vermag, sei dahingestellt. Anders als bei Alexy geht es hier nicht um eine auf die FragerichtigenArgumentierens zielende konsistente Argumentationstheorie31, sondern um den empirischen Befund und einen Versuch seiner soziologischen Analyse. Für diese Zwecke reicht es zu konzedieren, daß in zahlreichen Urteilen deutscher Gerichte Regelanwendungen und -kollisionen durch Prinzipienabwägungen ergänzt oder gar überspielt werden; ein Befund, der im Fortgang der Arbeit noch eingehender zu beleuchten sein wird. Dies macht eine analytische Unterscheidung zwischen Prinzipien und Regeln jedoch nicht obsolet. Prinzipienabwägung und Regelauslegung lassen sich als unterscheidbare Idealtypen32 richterlicher Begründungen beschreiben: Die regel26 So das Gedankenexperiment bei Alexy 1995a: 190 f. Zwischen Normtext und Norm ist zu unterscheiden. Beide sind sprachlich gefaßt. Aber nicht jede Norm ist textlich fixiert und der einzelne Normtext kann mehr, aber auch weniger als eine Norm enthalten. Dies gilt für Regeln und Prinzipien gleichermaßen. So kann man - um obiges Beispiel noch einmal aufzugreifen - den Normtext der §§130 Abs. 1, 131 Abs. 1 BGB zu der Regel zusammenfassen, daß eine gegenüber einem geschäftsfähigen Abwesenden abzugebende Willenserklärung mit Zugang beim Erklärungsempfanger wirksam wird. 27 Alexy 1995a: 191. 28 Alexy 1995a: 191. 29 Alexy 1995a: 191 f. 30 Alexy 1995a: 192 ff., bes. S. 196.
31 Die argumentations- und methodentheoretisch gegen die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien möglichen Einwände haben Alexy über die hier referierten Überlegungen hinaus zu einer weitgehenden Revision und Verfeinerung der von Dworkin übernommenen Differenzierung veranlaßt (vgl. Alexy 1986: 88 ff., 1995a: 196 ff.), die hier jedoch aufgrund der spezifisch anderen Perspektive keiner Erörterung bedarf. 32 Da der Begriff des Idealtypus häufig im Sinne eines anzustrebenden Idealzustand verwendet wird, sei darauf hingewiesen, daß hier die ursprüngliche Sprachverwendung Max Webers, also eine heuristische Konzeption zugrundegelegt wird. Idealtypen werden danach zu analytischen Zwecken entworfen, „durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort 6 Maitra
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Teil 2: Regeln und Prinzipien
orientierte Begründung der Entscheidung, ob § 21 StVG (Fahren ohne Fahrerlaubnis) anzuwenden ist, oder ob die Vorschrift aufgrund eines Rechtfertigungstatbestandes (z. B. durch § 34 StGB) im konkreten Fall suspendiert ist, verläuft aufgrund des deskriptiven Gehalts im Tatbestand regeiförmiger Vorschriften nach einem anderen Modus als jener der Abwägung zwischen zwei Grundrechten33. Ob die Differenzierung Regeln und Prinzipien auch zwangsläufig auf unterschiedliche Mechanismen richterlicher Entscheidungsfindung verweist, sei vorerst dahingestellt.
4. Schnittstellen zwischen Regeln und Prinzipien Zwei Schnittstellen gibt es zwischen Regeln und Prinzipien: Zum einen werden Rechtsprinzipien häufig durch Herausarbeitung des wesentlichen Rechtsgedankens einer Regel oder einer Mehrzahl von (historisch gesehen: problemorientiert entstandenen) Regeln abgeleitet34. Zum anderen münden Prinzipienabwägungen stets in eine argumentativ hergeleitete Vorrangrelation, die Regelform hat: „Die Bedingungen, unter denen das eine Prinzip dem anderen vorgeht, bildet den Tatbestand einer Regel, die die Rechtsfolge des vorgehenden Prinzips ausspricht."35 Auf der Zeitachse können sich die Ableitungszusammenhänge also als Abfolge von Regel - Prinzip - Regel darstellen36.
5. Prinzipienabwägungen im Verfassungs- und im Zivilrecht Mit Prinzipien wird nicht nur im Verfassungsrecht argumentiert. Dort allerdings in besonderem Maße. Viele seiner Entscheidungen begründet das Bundesverfassungsgericht mit Prinzipienabwägungen37. Obwohl es in seinen Entscheidungen weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen £mze/erscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde". Hervorzuheben ist, daß „der Gedanke des Sein sollenden, »Vorbildlichen« von diesen in rein logischem Sinn »idealen« Gedankengebilden ( . . . ) zunächst sorgsam fernzuhalten ist." (Weber 1988a: 191 f.; Hervorh. im OrigD.M.). 33 Siehe obige Darstellung des Lebach-Urteils. Der Unterschied wird im Fortgang spezifiziert. 34 Vgl. J. Esser 1990: 39 ff., 49 ff., der allerdings, was im Fortgang noch von Interesse sein wird, nachdrücklich auf die oft nur vorgeblich abgeleitete, tatsächlich aber inventive, teilweise sogar systemfremde Herkunft von Prinzipien hinweist (ebd.: 47 ff.). Ahnl. Larenz 1979: 25 ff. 3 5 Alexy 1986: 106, vgl. auch S. 79 ff.; Koch/Rüßmann 1982: 244 ff. 36 Diesen Hinweis verdanke ich Reinhard Damm. Dieser Zusammenhang ist gerade an der Entwicklung der Persönlichkeitsrechte nachweisbar. Eingehender hierzu unter § 8 I. 2., § 10 m . 37 Besonders deutlich BVerfGE 28, 234/261 f. - Kriegsdienstverweigerung; w. Nachw. zur Rspr. bei Alexy 1986: 108 (Fn. 107); aus neuerer Zeit: BVerfGE 83, 130/138 ff.; 90, 27/ 31 ff. In den Entscheidungen ist allerdings in der Regel von Werte- Güter- und Interesssen-
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immer wieder eine „objektive Wertordnung" der Grundrechtsnormen postuliert hat 38 , geht das Gericht dabei nicht von einer ein für allemal fixierten generalisierenden Rangfolge, sondern davon aus, daß widerstreitende Grundrechte abhängig von den Umständen des Einzelfalls für den konkreten Problembereich „mit dem Ziel der Optimierung zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden müssen"39. Nicht die Grundrechte oder andere Verfassungsnormen werden in eine Rangordnung gebracht. Vielmehr wird für die konkrete Fallkonstellation ein Rangverhältnis festgestellt 40. Im Zivilrecht werden Urteile mit Prinzipienabwägungen vor allem dort begründet, wo sich hinter den Regelkonstrukten konfligierende Interessen der Prozeßparteien ausmachen lassen, die mit dem Zuweisungsgehalt von Grundrechten korrespondieren. Als mittlerweile schon klassische Figur ist hier die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte zu nennen, die es dem Bundesverfassungsgericht zufolge auch der Zivilgerichtsbarkeit auferlegt, bürgerlich-rechtliche Vorschriften „im Geiste" der Grundrechte auszulegen41. Dies legitimiert in der Zivilrechtsprechung Prinzipienabwägungen, genauer: Abwägungen zwischen grundrechtlich, d. h. durch Prinzipien geschützten Interessen. Anstelle von Begründungen, die einen Ableitungszusammenhang zwischen Regeln und Entscheidung darstellen und insoweit in der Tradition der Begriffsjurisprudenz stehen, treten Abwägungen. Auf den Ableitungszusammenhang wird zwar nicht verzichtet, doch wird die präferierte Regelauslegung mit einem Abwägungsergebnis gerechtfertigt 42. Dies ist natürlich keine völlig neue, allein der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts ab wägungen die Rede, selten von „Prinzipien". Das Verfassungsgericht gebraucht die genannten Begriffe synonym. Aus rechtsphilosophischer Sicht erscheint es allerdings plausibel, wenn Alexy insistiert, daß die Abwägungen zugrunde gelegten Wertungsgesichtspunkte der Sache nach Rechtsprinzipien, also Recht seien, bei dem es im Unterschied zu Werten primär nicht darum gehe, was am besten oderrichtigsten,sondern was gesollt sei (1986: 125 ff., bes. 133 f., 1995c: 218). 38 BVerfGE 7, 198/215; 35, 79/114 m.w.N.; 39, 1/41. Die Behauptung einer solchen Wertordnung ist vielfach auf Kritik gestoßen. Klassisch und oft zitiert: Schmitt 1967; w. Nachw. zur Kritik b. Alexy 1986: 138. 39 BVerfGE 83, 130/143. Teilweise ist auch von einer Abwägung „mit dem Ziel des schonendsten Ausgleichs" die Rede (E 76,1 / 50). *o Schiihk 1976, 17 ff., 21; etwas weitergehend Alexy (1986: 138 ff.), der von einer „weichen Ordnung" spricht, die „durch ein Netzwerk konkreter Präferenzentscheidungen ( . . . ) durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entstanden" (1986: 143) sei. St. Rspr. BVerfGE 7, 198/205 f., 208 f.; 73, 261/Ls., 269 m.w.N. Hier sind etwa BVerfGE 81, 242 - Handelsvertreter - und E 89, 214 - Bürgschaft - zu nennen; zu letzterer Entscheidung siehe im Fortgang, § 7 DI. 42 Einige typische Beispiele: BAG JZ 1990, 139/141 f. [Abwägung zwischen Gewissensfreiheit des Arbeitnehmers und unternehmerischer Betätigungsfreiheit]; BGH JZ 1987, 414/ 415 - Formaldehyd [Prüfung der Rechtswidrigkeit eines Eingriffs i. S. v. § 823 I BGB unter Abwägung zwischen dem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb vs. dem Grundrecht der Medienfreiheit nach Art. 5 IGG], BGH MDR 1995,1028/1029 - Benetton I [Auslegung des § 1 UWG durch Abwägung von Meinungsäußerungsfreiheit und Pressefreiheit einerseits und dem Rechtsgut der Lauterkeit des Wettbewerbs andererseits]. 6*
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geschuldete Entwicklung. Das Gesetz wird von der Zivilrechtsprechung als Lösung von Interessenkonflikten betrachtet43. Der lnteressenjurisprudenz folgend - von Esser als „großer Einbruch des Problemdenkens in unsere Begriffsaxiomatik" 44 charakterisiert - werden Entscheidungen als Ergebnisse von Interessenabwägungen begründet45. Nun wird man, wenigstens aus geschichtlicher wie methodentheoretischer Perspektive, nicht jede Art pragmatischer Interessenabwägung umstandslos als Abwägung von Prinzipien deklarieren dürfen. In unserem Zusammenhang genügt die Feststellung, daß sich Prinzipienabwägungen als Begründungsmodus zwanglos in eine gängige Praxis der Zivilrechtsprechung einfügen 46, daß sie also die „interessenjuristische Sicht aktualisieren"47. Wohlgemerkt, von „Begründungsmodus" ist die Rede. Von Interesse ist in unserem Zusammenhang, wie Gerichte faktisch begründen, nicht, ob Kritik 48 an diesem Vorgehen aus rechtsdogmatischer oder rechtstheoretischer Sicht berechtigt ist.
IL Regeln und Prinzipien im Kontext systemtheoretischer Rechtsnormkategorien Vorstehend dargestellte Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien hat ebenso wie die von Alexy in Anlehnung an Habermas und Apel entworfene juristische Argumentationstheorie49 zumindest aus soziologischer Sicht entscheidende Schwächen50. Diese beruhen wesentlich darauf, daß Annahmen darüber, wie Juristen faktisch (regelgeleitet) entscheiden, mit Forderungen vermengt werden, wie Juristen richtig entscheiden sollten. Dennoch bietet die Unterscheidung als solche die Möglichkeit, aus einer rechtssoziologischen Perspektive wesentliche strukturbildende Mechanismen zu beschreiben. Üblich sind rechtssoziologische Erörterungen entlang der Leitunterscheidung Regeln / Prinzipien nicht. Zur besseren Orientierung soll daher zunächst versucht werden, sie zu der gebräuchlicheren Differenzierung zwischen Konditional- und Zweckprogrammierung ins Verhältnis zu setzen51. « So z. B. in BGHZ 60, 267 / 270. 44 J; Esser 1990: 80. Damit wurde die juristische Dogmatik gegenüber außerrechtlichen Erwägungen geöffnet. 45
Nachweise zur älteren Rechtsprechung des BGH finden sich bei Struck 1975: 176-178. Eingehender mit Nachweisen im Fortgang unter § 10 in., bes. § 10 III. 4. f). 47 Ellscheid 1992a: 28. 48 Exemplarisch Müller 1995: 62 ff.; H. Hesse 1994: 155 ff. sowie Zöllner 1996. 49 Alexy 1991. 46
50 Zur rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Kritik an Alexys Argumentationstheorie siehe Hilgendorf 1995; Braun 1988; Christensen 1988. Die teilweise als dritter Normtypus genannte „prozedurale Programmierung" (vgl. statt vieler: Görlitz /Voigt 1985: 222) bleibt hier ausgespart, da prozedurale Normen, anders als Prinzipien, Konditional- und Zweckprogramme keine inhaltlichen Vorgaben, sondern formale Interaktions- und Partizipationsvorgaben leisten; in der Regel in Form von Konditionalprogrammen.
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1. Regeln als Konditionalprogramme Konditionalprogramme sind Normkonstrukte, die „bestimmte Ursachen als Auslöser bestimmten Handelns in einem Wenn/Dann-Schema festlegen" 52, also die klassische Tatbestands-/Rechtsfolge-Struktur aufweisen. Während die WennKomponente, der Tatbestand, die Ausfilterung der entscheidungsrelevanten Informationen ermöglicht, gibt die Rechtsfolgenseite die Entscheidung vor. Zweckprogramme (teilweise auch als „Finalprogramme" bezeichnet) fixieren demgegenüber lediglich bestimmte anzustrebende, zukünftige Wirkungen und Nebenbedingungen und lassen offen, mit Hilfe welcher Mittel die Zweckvorgaben verwirklicht werden53. Während Konditionalprogramme zukünftigen Entscheidungen ihren Inhalt vergleichsweise präzise vorgeben, kombinieren Zweckprogramme eine vage inhaltliche mit einer prozeduralen Vorgabe: Entscheider sollen unter Berücksichtigung definierter Zwecke im Zeitpunkt der Entscheidung ein auf den Einzelfall zugeschnittenes,»Programm" herstellen und anwenden. Zentral für eine Entscheidung entlang eines Konditionalprogramms ist der Nachweis, daß ein bestimmtes faktisches Geschehen den in der Vergangenheit sprachlich beschriebenen Sachverhalt verwirklicht hat. Konditionalprogramme haben auf Tatbestands» wie Rechtsfolgenseite einen mehr oder minder konkreten deskriptiven Gehalt54. Davon kann bei Rechtsprinzipien nicht die Rede sein. Prinzipien geben normativ nur Wertungsgesichtspunkte vor. Weder der anwendungsauslösende Konfliktfall noch die Rechtsfolge sind vorgedacht und deskriptiv vorfixiert. Zweifellos sind als Konditionalprogramme ausgestaltete Rechtsnormen Regeln im oben beschriebenen Sinne. Der Ausspruch über die Rechtsfolge kann nur positiv oder negativ erfolgen. Er setzt neben der Entscheidung über die Geltung die Feststellung voraus, daß die Tatsachen, die eine Regel als Bedingung festsetzt, verwirklicht sind. Allerdings finden sich in der Praxis vielfältige Mischformen zwischen Konditional- und Zweckprogrammen, z. B.finalisierende Öffnungen von Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite in Form von Generalklauseln, unbestimmten Rechtsbegriffen, Ermessensvorschriften. Gemeinsam ist ihnen formal der beschriebene Wenn/Dann-Automatismus zwischen Tatbestand und Rechtsfolge. Dessen Striktheit wird jedoch dadurch gemildert, daß die Zweckprogrammierung auf Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite nur eine gleitende, approximative Annäherung an die jeweilige Zielvorgabe vorgibt. Die Unterscheidung zwischen Konditionalund Zweckprogrammen hat - wie jene zwischen Regeln und Prinzipien55 - idealtypischen Charakter. 52 Luhmann 1987: 88. 53 Vgl. Luhmann 1987: 88; Luhmann 1989a: 130 ff. 54 Die Struktur von Konditionalprogrammen bzw. besser, weil nicht simplifizierende Programmierungsvorstellungen suggerierend: Konditionalnormen, wird an anderer Stelle [§ 5 II. 3. a)] genauer beschrieben. 55 Siehe oben b. Fn. 32.
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2. Prinzipiell als Zweckprogramme Auf den ersten Blick mag es naheliegen, ebenso umstandslos wie Regeln und Konditionalnormen einander zuzuordnen, Prinzipien als Zweckprogramme zu bezeichnen. Wie Zweckprogramme enthalten Prinzipien Zielvorgaben in Form von Wertungsgesichtspunkten, die möglichst weitgehend verwirklicht werden sollen, ohne daß die erforderlichen Mittel ex ante vorgeschrieben wären. Zwei Einwände gegen eine solch umstandslose Gleichsetzung sind zu erörtern: (1) Von Programmen kann Luhmann zufolge, der die Unterscheidung zwischen Konditional- und Zweckprogrammen eingeführt hat, nur dann die Rede sein, wenn eine gewisse Erwartbarkeit spezifischen Handelns fixiert wird, konkrete Entscheidungsvorgaben erfolgen 56. Prinzipien jedoch sind schon von ihrer Anlage her zu abstrakt und vage und schaffen aufgrund ihrer unfixierten Wechselbezüglichkeit mit anderen Prinzipien keine oder allenfalls geringe Erwartungssicherheit 57. Eine Differenz zu Zweckprogrammen, die eine begriffliche Unterscheidung rechtfertigen würde, besteht aber insoweit nicht58. Insbesondere bei verwaltungsrechtlichen Vorschriften, die auf Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite lediglich Zielvorgaben, also Zwecke definieren, erfolgt die Konkretisierung jener offenen Normbestandteile durch Abwägung einer Vielzahl betroffener Interessen, die im Kontext der Zielvorgabe als rechtlich geschützt angesehen werden. Selbst vollständig als Zweckprogramme ausgestaltete Vorschriften, wie zum Beispiel §§ 1 I V - V I , la BauGB, sind durch Abwägung zu konkretisieren (vgl. § 1 V I I BauGB). Oft werden bei Zweckprogrammen neben der Zielvorgabe Interessen oder Prinzipien berücksichtigt, die nicht explizit im Normtext enthalten sind. So sind im Rahmen von Planungs- und anderen Ermessensentscheidungen von der anvisierten Maßnahme betroffene Grundrechte zu berücksichtigen59. Selbst wenn Zweckprogramme ihre Zielvorgaben explizit enthalten, ist stets eine Konkretisierungsleistung erforderlich. Dies geschieht, indem Konditionalprogramme erstellt werden 60 - entweder 56 Luhmann 1987: 88 f. 57 Luhmann (1987: 88 f.) führt entsprechendes zu „Werten" aus. Sinnvoller erscheint es hier, von einem Prinzipien-, nicht einem Wertemodell auszugehen; s. o., Fn. 37. 5« Eher spricht das Definitionselement, wonach Programme Erwartungssicherheit erzeugen, gegen den Begriff des Zweckprogramms; vgl. Scherer 1979: 95 (Fn. 95). 59 Grundlegend BVerfGE 53, 30 - Mühlheim-Kärlich; vgl. Grimm 1985: 866 ff. Rechtsstaatliche Planung setzt eine umfassende Berücksichtigung aller vom konkreten Vorhaben rechtlich geschützten und betroffenen öffentlichen und privaten Belange voraus (sog. Abwägungsgebot; BVerwGE 52, 237/244 f. m. w. N.), zumindest muß die Behörde insoweit alle typischen wesentlichen Belange berücksichtigen (BVerwGE 56, 110/128). Behördliche Ermessensausübung muß die von der anvisierten Maßnahme beeinträchtigten Grundrechte und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz berücksichtigen; BVerwGE 42, 133/f; 48, 299/302; 61, 32/35; BVerfGE 51, 386/396. 60 Ähnl. Luhmann 1995a: 202 und Koch/Rüßmann 1982: 85 ff., bes. 88 f.; 95. Letztere interpretieren finalisierte Normen, die gesetzesakzessorisches oder Planungsermessen einräumen, als Ermächtigungen zu einer spezifischen Tatbestandsergänzung. Damit werden, wie
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im Zeitpunkt der Fallentscheidung oder im Vorgriff, etwa durch Verwaltungsvorschriften, durch Selbstbindung einer ständigen Verwaltungspraxis oder justizielle Fallgruppenbildung. Notwendig wird diese Konditionalisierung von Zweckprogrammen, weil nur Zielvorgaben formuliert sind, vor allem aber, weil oftmals verschiedene, gegenläufige Zielvorgaben fallweise zueinander ins Verhältnis gesetzt werden müssen. Dies trifft auch für Prinzipienabwägungen zu. Die Anwendungsverfahren 61 von Zweckprogrammen und Prinzipien sind also zumindest in Teilbereichen deckungsgleich. Prinzipien sind Zweckprogramme, deren Zweckbestimmungen Optimierungsgebote enthalten, die im Konfliktfall mit anderen Prinzipien (Zweckprogrammen) abzuwägen sind. (2) Es gibt aber auch Zweckprogramme, die keine Prinzipien sind. Sie enthalten lediglich Zielvorgaben, die in keinem Wechselverhältnis mit den Zielen anderer Finalprogramme stehen. Als Beispiel kann § 7 I I Nr. 3 AtomG 62 dienen. Danach ist die Genehmigung einer atomtechnischen Anlage davon abhängig, daß gegen mögliche betriebs- und errichtungsbedingte Schäden „die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge" getroffen ist. Die Vorschrift verweist auf eine nach außerrechtlichen Kriterien vorzunehmende Risikobewertung. Eine optimierungsorientierte Zielvorgabe liegt darin insofern, als die Bewertung auf die „bestmögliche Gefahrenabwehr und Risikovorsorge"63 nach dem neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisstand64 gerichtet sein muß. Ein Abwägungsvorgang, der Rechtsprinzipien zueinander ins Verhältnis setzt, ist damit ausgeschlossen. Damit komme ich zu dem Ergebnis, daß der in Rechtssoziologie und Rechtstheorie gebräuchliche Begriff des Zweckprogramms weiter als jener des Rechtsprinzips ist: Prinzipien sind Zweckprogramme, aber nicht jedes Zweckprogramm ist ein Prinzip.
bei Prinzipien durch Vorrangrelationen, komplexe und unspezifische normative Vorgaben konditionalisiert. Eingehend zur Koditionalisierung unten, § 81. 2. 61 Vor allem von Soziologen wird teilweise sehr nachdrücklich bestritten, daß die Darstellung (Begründung) einer Entscheidung den handlungsleitenden Moüven der Richter bei Herstellung der Entscheidung entspricht (exemplarisch Rottleuthner 1973a: 11 ff., 28 ff., 61 ff. m. w. N.) Diesen Einwand möchte ich zunächst vernachlässigen, da es hier nur um begriffliche Klärungen geht. Im Vorgriff auf spätere Ausführungen (§§4 bis 6) wird unterstellt, daß zwischen Urteils- und Herstellungsaspekt juristischer Entscheidungen ein so wesentlicher Zusammenhang besteht, daß es für die Frage nach strukturbildenden Mechanismen gerechtfertigt erscheint, ohne Differenzierung zwischen Herstellung und Darstellung von »Anwendungsverfahren" zu sprechen. 62
Beispiele dieser Artfinden sich viele im Umweltrecht. 63 BVerfGE 49, 89/139; 53, 30/58 f.; BVerwGE 72, 300/316. oo J. Esser 1972a: 33. loi Hassemer 1972: 471. 10 Maitra
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den Vorschlag für eine bessere Lösung des dort zu lösenden Problems zu unterbreiten - oder sie muß den Fluß der Sinnverdichtung zur Entscheidung hin passieren lassen."102 Jedes Relevanzkriterium im Tatbestand einer Konditionalnorm kann damit zum Problem werden, das dann durch Begriffsdefinitionen „gelöst" wird. Die zweifelhaft gewordene Begrifflichkeit wird durch Rückgriff auf das rekursive Netzwerk rechtlicher Eigenwerte erstmals oder neu definiert, d. h. mit Anspruch auf Verbindlichkeit beschrieben. Neue Unterscheidungen werden eingeführt, die die hegemonialen alten Unterscheidungen ersetzen oder feiner differenzieren. Folge ist eine Veränderung der Regel durch Erweiterung oder Verengung der Möglichkeiten, faktisches Geschehen (besser: dierichterliche Beschreibung faktischen Geschehens) dem Normtext zuzuordnen. Es sei betont, daß hier eine Konvention103 juristischen Handelns beschrieben wird. Damit sollen nicht etwa naive begriffsjuristische Subsumtionsvorstellungen reproduziert werden. Sicher hat diese Konvention in begriffsjuristischen Anschauungen ihren pointiertesten Ausdruck gefunden. Dies ändert nichts daran, daß die Konvention, Entscheidungen als Ergebnis von Textinterpretation auszugeben, die juristische Praxis nach wie vor beherrscht. Im synkretistischen Dickicht der die juristische Praxis prägenden Methoden dominiert nach wie vor die Vorstellung, das verfassungsrechtlich durch Art. 20 III GG gesicherte Erfordernis eines Ableitungszusammenhangs zwischen Normtext und Entscheidung stelle sich durch Sprache her 104 . Im Zusammenspiel mit der Konvention des Begründenmüssens erzwingt dies, daß aneinander anknüpfende rekursive Netzwerke von Kommunikationen entstehen. Begründung setzt voraus, daß sie nicht beliebig ist. Also bezieht man sich auf das, was autorisierte Instanzen (Gesetzgeber, Entscheider und, in Grenzen, Rechtslehre) zum Thema bereits gesagt haben.
b) Primär- und Sekundärtexte Daraus ergibt sich die überragende Bedeutung juristischer Kommentare105 für die juristische Praxis. Der primäre Gesetzestext wird reformuliert und authentisch durch einen Sekundärtext ergänzt. Damit bannt „der Kommentar ( . . . ) den Zufall des Diskurses, indem er ihm gewisse Zugeständnisse macht: er erlaubt zwar, etwas anderes als den Text zu sagen, aber unter der Voraussetzung, daß der Text selbst 102 Luhmann 1987: 286. 103 Zum Begriff s. o., Fn. 16. 104 oft geht Kritik an richterlicher Rechtsfortbildung vom theoretischen Leitbild des sprachvermittelt gesetzesgebundenen Richters aus (so etwa Picker 1988 und Hillgruber 1996: 119 ff.). Die Methodenlehre ist teilweise skeptischer, ohne daß dies großartig auf die Praxis zurückwirken würde; s. o., Fn. 3. los Neben den so genannten Werken, die Praktikern schnellen Zugriff auf h. M. und Rechtsprechung ermöglichen, sind damit auch die Kommentierungen der rechtswissenschaftlichen Literatur gemeint, soweit diese Normtexte mit dem Anspruch erläutern, den authentischen Inhalt von Normen zu repräsentieren.
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gesagt und in gewisser Weise vollendet werde" 106 , daß der Kommentar sagt, „was dort schon immer artikuliert war" 107 . Für den Primärtext als Ausgangspunkt der sich im Laufe der Zeit ausdifferenzierenden Entscheidungs- und Argumentationsketten gilt innerhalb des Rechtssystems ein striktes Negationsverbot108. Was sich im Fortgang der Rechtsentwicklung daran anschließt, darf den Rechtstext nicht negieren, sondern muß sich als in ihm enthalten präsentieren. Der Primärtext wird immer wieder bestätigt, bleibt redundant und wird als Sekundärtext zugleich variiert. „Der Überhang des Primärtextes, seine Fortdauer, sein Status als immer neu aktualisierbarer Diskurs, der vielfältige und verborgene Sinn, als dessen Inhaber er gilt, die Verschwiegenheit und der Reichtum, die man ihm wesenhaft zuspricht" 109, ermöglicht, daß sich der Bedeutungsgehalt der Rechtsbegriffe allmählich verändern kann, ohne daß der Primärtext durch die allein hierzu befugte Legislative geändert werden müßte. Gerd Roellecke hat bemerkt, alle Begründungen täten so, „als hätte das, was sie sagen, schon vor unvordenklicher Zeit gesagt werden müssen ( . . . ) Gerichte dürfen tatsächlich nicht anders argumentieren" 110. Tatsächlich wird so getan, als sei alles schon gesagt worden, wenn auch nicht unbedingt in grauester Vorzeit, sondern vielleicht erst in der laufenden Legislaturperiode. Ein Beispiel hierfür ist die Redeweise, das „Recht auf ..." (informationelle Selbstbestimmung, Kenntnis der eigenen Abstammung etc.) werde „anerkannt". Als sei etwas, das schon längst existierte, nun endlich wahrgenommen und akzeptiert worden. Das Verhältnis von Primär- und Sekundärtext ist in all jenen Theorien angedeutet, die thematisieren, daßrichterliche Gesetzeskonkretisierungen durch den Rekurs auf den Gesetzestext erzeugt, nicht aber in einem strengen Sinne deduktiv abgeleitet werden 111. Prominent ist die durch lnteressenjurisprudenz und Freirechtslehre formulierte Kritik eines begriffsjuristischen Gesetzespositivismus, die feststellt, daß jede „Anwendung" des Rechtstextes die Norm durch Interpretation produktiv erzeuge. Die strukturierende Rechtslehre Friedrich Müllers radikalisiert diese Einsicht: Interpretation ziele nicht auf Rekonstruktion gemeinten Sinnes des Normtextes112, sondern auf produktive Normerzeugung anhand der Strukturen des Normbereiches durch den Rechtsanwender113, der dabei die Standards juristischer 106 Foucault 1991: 20. 107 Foucault 1991: 19; zum Kommentar als zweitem Diskurs vgl. auch Foucault 1995a: 72 ff. los Vgl. Luhmann 1974a: 15 f. 109 Foucault 1991: 19. 110 Roellecke 1996a: 178; ähnl. die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach „ein Wechsel der Rechtsprechung ( . . . ) beansprucht, lediglich zum Ausdruck zu bringen, was eigentlich - beirichtiger Erkenntnis - schon in der Vergangenheit gegolten habe" (E 17, 256/260; vgl. auch E 28,122/126). in Siehe beispielsweise J. Esser 1990: 171 ff. und 1972: 127. U2 Vgl. Christensen 1988: 117 f. ii3 Müller 1995: 119 ff., 138 ff. 10*
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Teil 2: Regeln und Prinzipien
Methodik als Ausdruck einer konkreten juristischen Argumentationskultur 114 zu beachten habe. Der Normtext sei nur Beginn des Konkretisierungsvorgangs 115 in einem Kontinuum von Texten, das sich bis zu den fallbezogenen Leitsätzen konkreter Urteile hinziehe116. Luhmann verweist auf „Wiederverwendungen kommunizierten Sinnes", die trotz Kondensierung der verwendeten Bezeichnung „Verweisungsüberschüsse (aufwiesen), die jede konkrete Sinnfixierung undefinierbar machen und alle weitere Verwendung unter Selektionszwang setzen"117. Wie diese Selektionszwänge aussehen, die die „Schwankungsbreite des Besonderen ( . . . ) bei gleichzeitiger Einheit des Rechtssystems als Hierarchie von Regeln"118 konstituieren, genau dies ist die Frage. Im Kontext dessen, was oben als Regeldiskurs bezeichnet worden ist, vollzieht sich Rechtsentwicklung durch allmähliche Veränderung des deskriptiven Gehalts der Konditionalnormen, durch Differenzierung und Entdifferenzierung des Bedeutungsgehalts (Zeichenwerts) von Begriffen. Wird in der Kommunikation keine gleichläufige Zeichenverwendung erzielt oder ist mit Mißverständnissen oder Dissens zu rechnen, dann wird man thematisieren müssen, was gemeint ist. Man wird sich über den Gegenstand und die auf ihn zutreffende sprachliche Fassung verständigen müssen119. Also begibt man sich in ein Verhältnis kommunikativer Distanz, bestreitet, daß es - zumindest kontextbezogen - eine gemeinsame Bedeutungszuordnung gibt bzw. behauptet, daß jene der anderen (u. U. nur potentiellen) Gesprächspartner nicht zutrifft. Zugleich nimmt man, um Zeit zu sparen und um die Verstehensmöglichkeiten sowie die Zustimmungswahrscheinlichkeiten zu steigern, Rückgriff auf kommunikative Gemeinsamkeiten. Die Randbereiche des Typus werden durch Thematisierung wahrgenommen, (vorläufig) präzisiert und damit leicht verschoben120. Typus sowie Textbedeutung als Relation von Text und Typus verändern sich. Allein die Zeichenfolge (in unserem Fall die Rechtsbegriffe und der Normtext) bleiben identisch, ergänzt um eine Textebene, mit der sich der neu definierte Bedeutungsgehalt beschreiben läßt. Wir finden hier das angesprochene Verhältnis von Primär- und Sekundärtext wieder. Ist etwa im Kontext des § 35 BVwVfG fraglich geworden, was „hoheit114 Vgl. Christensen 1989: 3195. Zutreffend weist Ladeur auf den Widerspruch der Theorie hin, die einerseits traditionellen juristischen Methoden, insbesondere deren Verständnis sprachvermittelter Gesetzesbindung, die Berechtigung abspricht (exemplarisch Christensen 1988: 115 ff.), „andererseits aber systeminterne prozedurale Regeln vorgibt, deren »Gebrauch* gerade das traditionelle Verständnis der Rechtsnormen als aus sich heraus verständlicher Bedeutungsträger voraussetzt" (Ladeur 1991: 187). us Müller 1995: 123. Gewicht kommt dem Normtext nur insoweit zu, als dem normtextnäheren Argument Vorrang gebührt (Christensen 1988: 124). "6 Christensen 1989: 3195. in Luhmann 1995a: 127; vgl. auch ebd.: 340.
Iis Ladeur 1991: 177. 119 s. o., § 4 v n . 120 s. o., § 4 VI.
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lieh" als Begriffselement des Wortes „Regelung" bedeutet, so kann man auf die Beschreibung „in einem Verhältnis der Über-/Unterordnung" ausweichen und so, soweit erforderlich, das ganze an diese Begriffe geknüpfte rekursive Netzwerk vorgängiger rechtlicher Kommunikation (Ermächtigungsgrundlage für staatliche Eingriffe, Gesetzesvorbehalt, Wesentlichkeitstheorie, Grundrechte als Abwehrrechte etc.) aktualisieren. Die definierende Umschreibung des Begriffselements mag vorerst genügen oder aber weitere Präzisierungen erfordern. Jedenfalls muß nachgewiesen werden, daß a) die Neuerung Vorteile gegenüber bisherigen Begriffsprägungen aufweist und b), daß sie mit den gemeinsamen kommunikativen Vergangenheiten vereinbar ist. Man bleibt im Wahren des Primärtextes, indem man den Sekundärtext umformuliert. Letztlich geht es dabei stets um die Aufnahme neuer oder die Einebnung alter Differenzierungen. Neue Begriffselemente werden eingefühlt und alte aufgegeben. Rechtsentwicklung vollzieht sich im Rahmen von Regeldiskursen durch Neuformulierung dessen, was als authentischer Gehalt der aus dem Gesetzestext abgeleiteten Regel gelten darf. Dies läuft darauf hinaus, daß der Bedeutungsgehalt bestimmter Begriffe mittels anderer Begriffe beschrieben wird, deren Berechtigung durch Argumente zu legitimieren ist. Damit wird der deskriptive Gehalt der Konditionalnorm neu definiert. Dieser Präzisierungsgewinn muß bezahlt werden. Der damit verbundene Begründungsaufwand erfordert Zeit und Arbeit. Und man kann nicht ohne weiteres auf Zustimmung rechnen. Ich komme darauf später zurück 121. Für's erste sei festgehalten, daß angesichts solcher Veränderungskosten damit gerechnet werden kann, daß Sekundärtexte nur ungern oder doch wenigstens zögerlich verändert werden, jedenfalls aber so gering und behutsam wie möglich. Dies jedenfalls, sofern man an Zustimmung interessiert ist und erhöhten Begründungsaufwand scheut. Zwar erscheint es verführerisch, in diesem Zusammenhang an die klassische Unterscheidung zwischen Begriffskern und Begriffshof 122 anknüpfend, richterliche Gesetzesbindung wenigstens partiell durch vorgängig fixierte Bedeutungszuweisungen und eingrenzbare, empirisch feststellbare Interpretationsspielräume verwirklicht zu sehen123. Folgt man jedoch vorstehenden Ausführungen, so erscheint dieses Bild unzureichend, weil, wie Gertrude Lübbe-Wolfis schreibt, „Sprache kein statisches, zu irgendeinem Zeitpunkt vermeßbares Phänomen, sondern in ständiger Bewegung begriffen" ist und es folglich „eine Art semantischer Unschärferelation (gibt), der zufolge der Gebrauch und die Vermessung der Sprache von der Einmischung in sie nicht getrennt werden können"124. Das hindert nicht daran, davon auszugehen, daß es kommunikative Vergangenheiten gibt, die als Schnitt121 § 5 HI. 2., § 5 HI. 4. und § 6 III.; siehe hierzu bereits § 4 I X . 122 Heck 1968/1932: 156. 123 Exemplarisch sei auf Koch 1977: 29 ff. und Ziftwienruinn vgl. Lübbe- Wolff 1981: 114 ff. 124 Lübbe-Wolff 1981:119.
1977 verwiesen; zur Kritik
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mengen gemeinsamer (besser: ähnlicher) Spracherfahrung und Situationsdeutung unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten für das konstituieren, was a) in seiner Typizität ähnlich wahrgenommen und deshalb b) gleichläufig verstanden oder c) in ständiger Wechselwirkung mit gesellschaftlicher Praxis als unsagbar/undenkbar, weil unwahr oder unvernünftig aus dem aktuellen Diskurs verbannt bleiben wird. Insofern bezeichnet die im Rahmen juristischer Argumentationstheorien gebräuchliche Unterscheidung von Begriffskern und -hof unterschiedliche Grade kommunikativer Distanz. Die Unterscheidung läßt sich damit ins Approximative wenden: Man kann davon ausgehen, daß es typische Gebrauchsweisen gibt, die mögliche Bedeutungen eines Ausdrucks im Sinne eines (vorläufigen) Standards vorgeben und ferner annehmen, daß diese Gebrauchsweisen auf typische Kontexte bezogen sein können125. Begriffshof ist dann jener Bereich von Zuordnungen, der im Vergleich zum Begriffskern weniger sichere Aussicht auf Zustimmung bietet, weil sich ein entsprechend konventionalisierter Gebrauch (noch) nicht herausgebildet hat, die für analogisches Denken erforderliche Modellbildung noch nicht hinreichend routinisiert und verbreitet ist. Die Übergänge sind fließend.
m . Das Ineinandergreifen von Regeldiskursen und anderen „constraints" Bislang wurde beschrieben, in welcher Weise durch die Sprachspiele des Regeldiskurses Eigenwerte produziert werden und wie sich diese durch Verschiebung von Bedeutungen allmählich verändern. Soviel müßte deutlich geworden sein: Gerichtliche Entscheidungen müssen im Regelfall begründet sein. Nicht jede Begründung ist möglich. Folglich ist durch die Bandbreite des diskursiv Möglichen auch der gerichtliche Entscheidungsspielraum eingeschränkt. Es war schon angeklungen, daß diese Stabilisierung des Rechts voraussetzungsvoll und keinesfalls ein rein sprachliches Phänomen ist. Eine Vielzahl verschiedener constraints sind erforderlich, umrichterliche Entscheider im Rahmen dessen zu halten, was nach vorherrschendem Begriffsverständnis durch die Bedeutung der Sekundärtexte typisierend beschrieben ist. Sprachliche Mechanismen verschränken sich mit anderen constraints unterschiedlichster Art. Eine einfache erste Antwort auf die Frage, weshalb sich Richter und Richterinnen nicht in freier Auslegung entsprechend ihren eigenen, subjektiven Präferenzen ergehen, aus dem Primärtext ganz unterschiedliche Sekundärtexte machen, lautete: Weil sie Zeit und Arbeit sparen, sich von allzu großer Verantwortung entlasten wollen und dazuhin die Zustimmung der professionellen Diskursgemeinschaft wenigstens in Teilen benötigen. Im folgenden sollen die verschiedenen constraints, die diese tendenziell allen Juristinnen und Juristen ansozialisierte Haltung erzwingen, skizziert werden. 125 s. o., § 4 V., Fn. 52.
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1. Sekundäre Sozialisation und juristischer Habitus Verständigung, das hatte ich gezeigt, wird durch typisierende Verstetigung des Verhältnisses zwischen Zeichen und Zeichenbedeutung ermöglicht. Typisierungen sind primär in individuell differierenden, wenn auch konvergierenden Vorverständnissen aufgehoben. Innerhalb der juristischen Sprachgemeinschaft werden sie qua juristischer Sozialisation homogenisiert. Damit werden persönliche Divergenzen nicht völlig eingeebnet126. Doch ist davon auszugehen, daß die Lernprozesse der juristischen Ausbildung und Praxis eine Gleichläufigkeit typisierender Wahrnehmung und Sprachpraxis erzeugen, die durch die Präferenzbildungen eines spezifischen juristischen Habitus stabilisiert wird.
a) Zum Begriff des Habitus Versteht man juristische Textverständnisse als eine in Ausbildung und Alltagspraxis des Fachdiskurses homogenisierte typisierende Zuordnung von Zeichen und Bedeutung, dann liegt es nahe, deren Stabilität einfach durch die verstetigende Kraft von Gewohnheit und Routine gesichert zu sehen. Eine entsprechende Vorstellung von Habitualisierung finden wir bei Berger/Luckmann 127. Danach werden häufig wiederholte Handlungen zum Modell zukünftiger Handlungen. Der jeweilige Sinn habitualisierter Tätigkeiten wird als Routine überindividuell zum allgemeinen Wissensvorrat. Im entlastenden, „psychologisch wichtigen Gewinn der begrenzten Auswahl" und der Möglichkeit reziproker Antezipation fremden Handelns sehen Berger/Luckmann den wesentlichen Vorteil habitualisierten Handelns128. Wohl sind damit wesentliche Aspekte des Phänomens beschrieben, aber längst nicht alle. Weiter führt eine Überlegung Theodor Geigers zu „habituellen Ordnungen". Diese seien dadurch bestimmt, daß auf bestimmte Situationen regelmäßig ein gewisses gruppenspezifisches Gebaren erfolge, wobei Abweichungen von anderen Gruppenmitgliedern sanktioniert würden 129. Insoweit stimmen meine bisherigen Überlegungen mit den von Berger/Luckmann und Geiger formulierten Vorstellungen überein: In Regeldiskursen werden gemeinsame kommunikative Vergangenheiten konstituiert, die im Sinne einer Routine die Bandbreite dessen bestimmen, wie Normtext und Sachverhalt in Abgleich gebracht werden können, 126
Dies ist nach dem oben entfalteten Modell sprachlicher Verständigung (§ 4 V., § 4 VI.), das nicht von überindividueller Sinnidentität, sondern Verstehenswahrscheinlichkeiten ausgeht, nicht denkbar. 127 Berger/Luckmann 1980: 56 ff. 128 Vgl. Berger /Luckmann 1980: 57 f., ähnliche Überlegungen finden sich bei Bourdieu 1979: 178. 129 Geiger 1987/1947: 46 ff. Geiger geht es dabei allerdings nicht um juristisches Verhalten, sondern darum, daß Normen in ihrer Verbindlichkeit nicht notwendig einer sprachlichen Ausformulierung bedürfen. Hier interessiert die Übertragung auf das juristische kommunikative Handeln.
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ohne die Zustimmung der juristischen Sprachgemeinschaft zuriskieren. Sanktion wäre hier also die Versagung von Zustimmung gegenüber Entscheidungsbegründungen, die sich außerhalb dieses Rahmens begeben, nicht innerhalb kommunikativer Gemeinsamkeiten begründbar sind. Unter Habitus ist jedoch mehr zu verstehen, als nur die durch Gewohnheit und Gruppensanktion gesicherten reziproken Verhaltenserwartungen der Akteure. Im Habitus drücken sich individuelle Biographie wie gesellschaftliche Strukturen gleichermaßen aus. In ihm verkörpert sich, daß die »„interpersonalen Beziehungen4 ( . . . ) niemals Beziehungen eines Individuums zu einem anderen Individuum"130 sind» sondern „ein subjektives, aber nicht individuelles System verinnerlichter Strukturen, (die) als Schemata der Wahrnehmung, des Denkens und Handelns ( . . . ) allen Mitgliedern derselben Gruppe oder Klasse gemein sind" 131 . Soweit sich die Erfahrungen, die spezifischen Interessen, Regelmäßigkeiten und Konflikte, denen verschiedene Individuen im Laufe ihrer Lebensgeschichte in verschiedenen sozialen Räumen ausgesetzt sind, gleichen, kann man davon ausgehen, daß sie innerhalb einer Bandbreite, die individuellen Besonderheiten geschuldet ist, typische habituelle Dispositionen ausbilden132, die, „alle vergangenen Erfahrungen integrierend, wie eine HandlungsWahrnehmungs- und Denkmatrix" 133 funktionieren. Mechanistischen Vorstellungen rollen- oder normengeleiteten Handelns steht dieser Ansatz insofern entgegen, als er nicht vergleichsweise statische Dispositionen, sondern ein generatives Grundmuster bezeichnet, das den Akteuren innovatives, d. h. unvorhersehbares Handeln gestattet, ohne daß die internalisierten Matrizes dabei verlassen werden 134. Zentral am Habitus-Konzept scheinen mir zwei Gesichtspunkte, die in ihrer Bedeutung für unseren Zusammenhang unter den Stichworten Sozialisation und Verstetigung skizziert werden sollen. b) Juristische Sozialisation und Regeldiskurse Vorab eine Einschränkung: Was alles neben den spezifischen kognitiven Inhalten von Studium, Referendariat und beruflicher Praxis über das sog. heimliche Curriculum an professionstypischen Wert- und Orientierungsmaßstäben vermittelt wird, soll nicht in Gänze interessieren 135. Entscheidend ist für unseren Zusammen130 Bourdieu 1979: 181 [Hervorh. im Orig., D.M.]; vgl. Fabricius 1996: 120. 131 Bourdieu 1979: 187 f. Eine präzise Definition des Habitus-Begriffs findet sich, soweit ich sehen kann, nirgendwo bei Bourdieu, so daß auf zwei Werke verwiesen sei, in welchen die zentralen Aspekte beschreiben sind: Bourdieu 1979: 164 ff.; 1996: 277 ff., 585 ff. und passim. Bourdieus Analysen zielen v. a. auf die Beschreibung klassenspezifischer Habitusformen (1996), doch finden sich auch Ansätze einer Beschreibung akademischer Habitusformen, unter anderem auch zum juristischen Habitus (1992). 132 Vgl. Bourdieu 1979: 177 f., 187; s. o., § 4IV., Fn. 48. 133 Bourdieu 1979: 169 [Hervorh. im Orig., D.M.]. 134 Vgl. Bourdieu 1979: 165 f., 169; Fabricius 1996: 120 f.; Raphael 1987: 153 f.
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hang, daß die Bereiche, in welchen sich der berufsspezifische juristische Habitus konstituiert, sowohl die Wahrnehmung als auch das sprachliche Handeln entscheidend prägen. Zwar ist nicht anzunehmen, daß das juristische Regelwissen und die damit verbundenen typischen (hegemonialen) juristischen Regelverständnisse vollständig und distanzlos internalisiert werden; dies schon deshalb nicht, weil es mit dem professionellen Wissen um den Unterschied von Herstellungs- und Darstellungszusammenhang kaum vereinbar wäre. Man geht aber kaum zu weit, wenn man davon ausgeht, daß im Verlauf einer langjährigen professionstypischen Sozialisationsgeschichte eine affektiv abgesicherte Präferenz aufgebaut wird, sich bei der Begründung von Entscheidungen an den Vorgaben juristischer Diskurse, und hier insbesondere der Regeldiskurse, zu orientieren 136. Auch diese eher vorsichtige Annahme bedarf einer Begründung. Anknüpfend an die psychischen Strukturen vorangegangener primärer und sekundärer Sozialisation (Mutter-Kind-Dyade, Familie, Schule) wird ein Selbst- und Idealbild dessen aufgebaut, was in unserer Kultur einen ,»richtigen Juristen"137 ausmacht138. Sicherlich läßt sich darüber streiten, was alles im einzelnen dazugehört, zumal ideologische Überhöhungen dieses Selbstbildes (Juristen als nach Gerechtigkeit Suchende) nicht selten sind, wenn Juristen selbst darüber reflektieren. Blicken wir auf einen wesentlichen Ausschnitt dessen, was im Studium über Prüfungen und im Referendariat durch stärker praktisch orientierte Arbeitsformen an „Tugenden" eingeübt wird, was über identifikatorische Prozesse und Erfolgserlebnisse mit psychischen Gratifikationen versehen wird und als Erfahrung von Mißerfolg affektiv in den Bereich des Vermeidungsverhaltens gerückt wird 139 . Was „der werdende Jurist" im
135 Was den juristischen Habitus insgesamt ausmacht, wird in lesenswerten Näherungen beschrieben bei Gast 1987 und 1997: 93 ff. (teilw. textidentisch) sowie bei Fabricius 1996: 149 ff. 136 Gessners Behauptung, Richter seien viel weniger als andere Akteure des Gerichtsverfahrens „Objekt struktureller Einflüsse, seien es Sozialisations- oder seien es Machteinflüsse" und seien „nur begrenzt unterstützt durch Kommentarliteratur und Präjudizien und ohne die Entlastung durch Routine" (1992: 397), wird also nachdrücklich widersprochen. Indem er einseitig auf die in den einzelnen Prozessen verhandelten Problemzusammenhänge abstellt, verkennt Gessner nicht nur die verhaltensstabilisierenden Effekte professionstypischer Sozialisation, sondern auch den Routinewert rechtlicher Kommunikation, der allerdings je nach Rechtsbereich unterschiedlich ausgeprägt sein kann. 137 D i e Beschränkung auf die männliche Form ist an dieser Stelle beabsichtigt. Denn weite Bereiche der internalisierten juristischen Verhaltensideale entsprechen den traditionellen kulturellen Stereotypen eines männlichen berufs- und leistungsorientierten und durch Affektkontrolle gekennzeichneten Rollenideals.
138 Vgl. Fabricius 1996: 51. 139 Für juristische Lernvorgänge gilt nicht weniger als für andere kognitive Prozesse, daß „Art und Tiefe der Einspeicherung und damit die Leichtigkeit des Erinnerns (bzw. die Resistenz gegen das Vergessen) ( . . . ) ganz wesentlich vom emotionalen Begleitzustand bestimmt (wird), insbesondere davon, ob das, was zum Einspeichern ansteht, positive oder negative Konsequenzen hatte oder haben wird (im Lichte der vergangenen Erfahrung)" (Roth 1997: 210); vgl. Ciompi 1997: 93 ff., bes. 163 ff.; Damasio 2005: 170 ff., 207 ff.
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Umgang mit dem Recht erlernt, schildert Hans A. Hesse in einer Abhandlung über richterliche Professionalität plastisch: „Er will ( . . . ) seine Arbeit am Fall zügig und effektiv abschließen, d. h. er will sie intern gesetzten und höchst persönlich gewählten Normen der Arbeitsrationalisierung unterwerfen. Das zu wollen, lernt er jedenfalls im Studium gründlich, und wenn das Examen gänzlich auf Klausuren umgestellt ist, lernt er erst recht, seine Arbeit am Zeitdruck zu orientieren und daraufhin zu rationalisieren. Dabei will er sich korrekt verhalten; das darf getrost unterstellt werden. Von der Wiege bis zur Bahre werden wir in Korrektheit trainiert - und zwar in Verhaltenskorrektheit stecken wir in Rechtfertigungszwängen im Blick auf unsere, sei es verbale, sei es nonverbale Selbstdarstellung."140 Eine der zentralen Leiterfahrungen ist, daß Abweichungen von dem, was die symbolischen Kürzel der hegemonialen Diskurse („allg. A.", „st. Rspr.", „h. L.", „h. M.") vorgeben, Zeit kosten, größere Begründungslasten schaffen und Zustimmung zweifelhaft machen. Dagegen nehmen Erfolgserlebnisse, d. h. Anerkennung und gute Bewertungen tendenziell zu, je besser es gelingt, die Ergebnisdarstellung eng an diesen Vorgaben zu orientieren 141. Jedenfalls, so die existentielle Erfahrung jeder Klausur, jeder Relation, jedes Aktenvortrags und jedes Entscheidungsentwurfs, kann man auf Zustimmung der Profession nur hoffen, wenn man sich innerhalb der etablierten Methodik hält, die kommunikative Distanz also nicht so groß wird, daß daraus ein „nicht vertretbar" wird 142 . „Vertretbarkeit", lautet das knappe Urteil Hesses zu den Vermittlungsprozessen des juristischen Lehrbetriebs, „ist das Ziel der Herstellungs- und der Darstellungsbemühungen"143. Außerdem muß man schnell und möglichst präzise orientiert an den Abnahmemöglichkeiten (durch Angehörige der juristischen Profession) arbeiten. Das aber ermöglicht eigentlich nur die Anknüpfung an die durch kommunikative Gemeinsamkeiten (bzw. die in den einschlägigen Kommentaren enthaltenen autoritativen 140 H. Hesse 1996: 453. 141 Es gibt empirische Anhaltspunkte dafür, daß sich diese Tendenz zur Ausrichtung an arbeitsökonomischen Erfordernissen (vgl. Schmid 1997a: 88 f., 91 f. 109 f.) und damit zur Orientierung an „h. M." und Präjudizien bei Richterinnen und Richtern mit zunehmendem Dienstalter verstärkt; (ebd.; ähnl. der Befund bei Rottleuthner 1982: 115; vgl. auch Rottleuthner/Böhm/Gasterstedt 1992: 162 ff.). Als empirisch gesichert kann gelten, daß Gesichtspunkte der Arbeitsökonomie für dierichterliche Entscheidungsproduktion von wesentlicher Bedeutung sind und sich sowohl auf die Verhandlungsführung als auch auf die Wahl der Entscheidungsbegründung auswirken (vgl. Drosdeck 1997: 23 ff.; Schmid 1997a: 88 f., 110 und 1997b: 164 ff.). 142 Daß, worauf H. Hesse zutreffend verweist, zugleich gelernt wird, daß die Korrektheitserwartungen je nach Rezipienten differieren (1996: 453), dürfte Anpassungstendenzen eher verstärken, denn verringern, weil die so erzeugte Unsicherheit nahelegt, sich möglichst auf der sicheren Seite zu halten, also so „korrekt", d. h. mit so geringer kommunikativer Distanz wie möglich zu begründen. 143 H. Hesse 1996: 452. Ähnlich Josef Esser, wenn er konstatiert: „Praktisch interessiert den Durchschnittsiemenden ja auch nur die know-how-Formel und ihre anerkannte Begründung. Das ist der vulgärdogmatische Ausbildungsfundus, auf den die Praxis zurückgreift." (1972b: 106; Hervorh. durch mich, D.M.).
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Vorgaben) abgesicherten, deskriptiven Elemente des Regeldiskurses, der weit mehr als Formen offenen Rechts (Zweckprogramme, prinzipienorientierte Diskurse) spezifisch juristische Problemverständnisse als Eigenwerte detailliert verstetigt hat 144 . Nur wenn es für weite Teile der Begründung ausreicht, kurz und umstandslos explizit oder implizit Bezug auf rechtsspezifische kommunikative Gemeinsamkeiten oder autoritative Aussagen zu nehmen, können Zeit und Arbeit gespart werden. Wo Zweckprogramme und Abwägungspflichten bestehen, sucht man zunächst erst einmal danach, ob diese möglicherweise (innerhalb des rechtlichen Diskurses) in einer Weise herunterkonditionalisiert worden sind, die für den Fall verwendbar erscheint. Das offene Abwägen der Grundrechtsübungen ist in der gerichtlichen Praxis eher ein Ausnahmefall. Es birgt Begründungslasten und Abnahmerisiken, die zumindest von unteren Instanzgerichten gerne vermieden werden. Professionalität, so wird unter dem Eindruck von ritualisiert durch Prüfungen erzeugter Angst erlernt, besteht ganz wesentlich darin, nur zu sagen, was im Diskurs gesagt werden darf. Sie ist eine nicht nur kognitiv, sondern auch affektuell konnotierte Interaalisierung kulturell erzeugter „Kompetenz / Inkompetenz-Grenzen" (Fabricius). Am Ende weiß man als Fachmann, „was man wie sagen darf, von welcher Meinung und Redeweise an man nicht mehr gehört, womöglich nicht mehr ernst genommen wird" 145 . Zunehmend hat man die Beschränkungen der potentiellen Adressaten kennen- und, so läßt sich wohl sagen, gleichermaßen schätzen und fürchten gelernt. Abweichungen von der konventionellen Methodik, von etablierten Regel- und Begriffsverständnissen der Zunft erzeugen Unruhe und Schamgefühle: Man ist nicht so, wie man nach den eingeschliffenen Routinen sein sollte, entspricht nicht dem durch Ausbildung und Ausbilder über spezifische Rollenmuster internalisierten Ich-Ideal 146 . Mißerfolg, Vorwürfe der Unwissenheit und Inkompetenz sowie schlimmstenfalls Ausgrenzung aus dem juristischen Diskurs sind zu befürchten 147. Auf der anderen Seite ermöglicht juristische Professionalität, versteht man sie als Verfügen über die Grenzen juristischer Diskurse, jene wesentlichen Gratifikationen, die mit dem Status und Sozialprestige des Experten 144
Allerdings gibt es Bereiche, z. B. die Strafzumessung (vgl. Langer 1994), in denen die Routinisierungsmöglichkeiten durch Regeldiskurse stark reduziert sind und durch andere Routineformen ersetzt werden. 145 Gast 1987: 2 [Hervorh. im Orig., D.M.]. 146 Vgl. Fabricius 1995: 76 ff., 84; 1996: 120 ff., der auf die partielle Unbewußtheit solcher Anpassungsmechanismen hinweist. Zum Zusammenhang zwischen Gruppendruck und juristischer Meinungsbildung vgl. E. Schneider 1999b: 2 ff. 147 Den Stellenwert individueller Anbindung an professionelle (habitualisierte) Standards sucht Bourdieu zu Recht darin, daß es sich „um so zwingender erweist, die intellektuelle Einheit der communis doctorum opinio in der sozialen Einheit der Gruppe zu begründen, je unsicherer die eigentliche wissenschaftliche Kohärenz und je größer die soziale Verantwortlichkeit der Körperschaft ist. Wie es die Juristen in wünschenswerter Deutlichkeit vorführen, kann sich eine Körperschaft von »Verantwortlichen4 - anders als Intellektuelle - nicht in aufgelöster Ordnung präsentieren, ohne ihr Kapital an Autorität aufs Spiel zu setzen (...)." (1992: 125 f.; Hervorh. im Orig., D.M).
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verbunden sind, wobei der Jurist „im sozialen Raum ( . . . ) eher ,oben4 angesiedelt" 148 ist und als institutionell eingebundener Experte „von hier aus ein Oben/ Unten-Verhältnis wirksam herstellen (kann), ein großes Kompetenz/InkompetenzGefälle mit einer hohen Schwelle"149. Das emotional gesättigte Bedürfnis, statuserhöhende Exklusivität, Kompetenz, professionsspezifische Problemverständnisse und Ideale zu teilen, kurz: „der Wunsch, dazuzugehören"150, treffen sich hier mit Ausgrenzungsängsten151. Hier dürfte sich auswirken, daß professionelle Habitusformen die vorher ansozialisierte psychische Struktur nicht suspendieren, sondern ihr aufsitzen und sie allenfalls modifizieren. „Die intimen sozialen Bezüge der Kindheit ( . . . ) bestimmen in der Art einer archaischen Matrix ungeprüft auch spätere Sozialerfahrung; hierin liegt ihre gesellschaftliche Bedeutung als Stabilisator ebenso wie die fürs Individuum - als Konfliktgenese. ( . . . ) Im soziologischen Labor des Psychoanalytikers findet sich im Grunde der Selbsterfahrung des Analysanden Angst; die Angst, dem gesellschaftlichen Verband bei nicht mehr konformem Verhalten nicht mehr anzugehören. Diese hat sich offensichtlich mit der uralten Angst vor leiblicher Vernichtung verschmolzen (Th. W. Adorno)" 152. Die geschilderte Präferenzenbildung wird wesentlich durch Entlastungseffekte des Rollenideals strikter Regelorientierung verstärkt. Entscheidungen und Entscheidungsfolgen, die allzu offenkundig von lebensweltlichen moralischen Vorstellungen entfernt sind, können Richterinnen und Richtern vor sich selbst und anderen unter Hinweis auf ihre Gesetzesbindung, also die Präferenzen eines eingeschriebenen „Institutionsgewissens" (Fabricius), zu rechtfertigen 153. Zum professionellen Habitus gehört noch ein weiteres: das Wissen um Spielräume, Fungibilität und Grenzen der juristischen Argumentationskonventionen, Regel- und Begriffsverständnisse. Spätestens im Referendariat, wenn der große Unterschied zwischen Entstehung und Begründung der Entscheidung augenscheinlich wird 154 , wird ein Blick dafür entwickelt, in welchem Umfang den einengenden 148 Fabricius 1996: 48. >49 Fabricius 1996: 48. 150 Fabricius 1996: 122. 151 Vgl. Fabricius 1996: 121 ff. Zur juristischen Orientierung an Mitgliedern der Profession als Bezugsgruppe für die „Wahrheit der Fakten- und Normeninterpretation" siehe Lautmann 1972: 101 ff. Bei einer rechtssoziologischen Untersuchung (Schmid/Drosdeck/Koch 1997) wurde 13 Richterinnen und 39 Richtern an Amts- und Landgerichten im Rahmen einer Fallsimulation der gleiche Fall zur Bearbeitung vorgelegt. Die Reaktionen bei der Nachbefragung lassen auf eine deutliche emotionale Beunruhigung im Hinblick auf das Entscheidungsverhalten der Mehrheit schließen. Es wurde nach anderen Lösungen und deren Häufigkeit gefragt. Diese wurden dann in recht emotionaler Weise vehement abgewertet (vgl. D. Koch 1997: 24; Schmid 1997a: 105). Jene, die glaubten, auf ein Minderheitsurteil zuzusteuern, zeigten hinsichtlich der Verhandlungsführung ein größeres Absicherungsbedürfnis (vgl. Schmid 1997a: 111 f.). 152 Brückner 1983: 23 f. 153 Fabricius 1995: 83 ff.; vgl. auch Luhmann 1987: 230 ff. und 1989a: 132. 154 Vgl. Hesse 1996: 453 f.
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Begriindungszwängen Rechnung getragen werden muß und wo gegebenenfalls durch extensivere Auslegung oder kontrollierten Regelbruch „geholfen" werden kann. Die Rede vom »Judiz", vom „Rechtsgefühl" gleicht dabei einer Variable für den Imperativ, nicht allzu große Differenzen zwischen dem, was dogmatisch begründbar und jenem, was nach allgemeinen, nicht nur professionstypischen Anschauungen wünschbar ist, zuzulassen. „Professionalität zeigt sich noch, wenn der Jurist von seinem ,Rechtsgeführ spricht. Es ist nicht der Jedermann-Affekt wofür und wogegen, vielmehr die spontan sich äußernde Kundigkeit, die darum auch noch einen Namen hat: »Judiz4. Judiz ist das - aus Routine erwachsene - Gespür dafür, ,was geht 4 ." 155 An diesen Grenzen wird notfalls von der größeren Bandbreite der Begründungsmöglichkeiten, welche Zweckprogramme und Abwägungspostulate lassen, Gebrauch gemacht - mit einem Rest an Unbehagen, weil man sich eben nicht in gleicher Weise sicher wähnen kann, wie es möglich wäre, befände man sich im Einklang mit den Routineformen des Regeldiskurses.
c) Habituelle Verstetigung
von Präferenzmustern
Habitusformen sind „Strukturen dauerhafter Dispositionen44156. Als Internalisierungen der individuellen psychischen Apparate gewinnen sie einen Aspekt körpergewordener, teilweise unbewußter Trägheit 157, der „eine relative Autonomie des Handelnden gegenüber aktuellen Situationen begründet 44158, selbst wenn sich deren Bedingungen von den prägenden Zusammenhängen wesentlich unterscheiden. Dieser Verstetigungseffekt beruht wesentlich auf der oben beschriebenen, ständig wiederholten engen Einbettung kognitiver Vorgänge in hochgradig affektiv besetzte Situationen. Erkenntnisse der modernen Psychologie wie der Neurobiologie bestätigen diese in unserem Zusammenhang notwendig vorläufigen und skizzenhaften Überlegungen. Die zentrale Bedeutung von Affekten liegt darin, daß sie kognitive Inhalte organisieren und zugleich aktivieren 159. So betont der Kognitionsforscher Luc Ciompi in seinem Werk über „Die emotionalen Grundlagen des Denkens44 die auf den „prinzipiell immer gleichartigen Operatorwirkungen der Affekte auf die Kognition44 beruhende „Selbstähnlichkeit von affektiv-kognitiven Prozessen über alle zeitlichen Dimensionen hinweg 44160 . Ich gehe daher kaum zu 155 Gast 1987: 2. 156 Bourdieu 1979: 165. 157 Steinrücke 1988: 93 f.; Fabricius 1996: 119 ff.; Bourdieu 1979: 186 f., 189 ff. und 1992: 111. Trägheitseffekte dieser Art machen einen wesentlichen Teil dessen aus, was in der Soziologie als cultural lag (s. o., § 1 V., Fn. 89) gegenüber schneller prozessierenden ökonomischen und technischen Entwicklungen thematisiert wird. 158 Steinrücke 1988: 93. 159 Fabricius 1996: 113 ff., 151 im Anschluß an Ciompi 1988; Roth 1997: 178 ff., bes. 197 f., 208 ff.; s. o., Fn. 139. 160
Ciompi 1997:165. Im Zusammenhang mit „habituellen Kommunikations- und Informationsverarbeitungsmuster(n)" weist Ciompi darauf hin, daß „sich über kaum bewußte Fein-
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weit, wenn ich davon ausgehe, daß die oben beschriebene, habitualisierte Präferenz für eigenwertgesicherte161 zeitökonomische und professionstypische Begründungsformen, soweit sie von ausgebildeten Juristinnen und Juristen geprägt wird, die Rechtspraxis wesentlich stabilisiert. Zeit- und arbeitsökonomische Begründungsformen sind vorrangig im Bereich regelorientierter Diskurse zu finden. Sie ermöglichen gleichermaßen Routine und Abnahmechancen. Den stabilisierenden Wert von Routinen für Akteure wie Sozialsysteme kann man kaum nachdrücklich genug betonen162. Sie sind „konstitutiv sowohl für die kontinuierliche Reproduktion der Persönlichkeitsstrukturen der Akteure in ihrem Alltagshandeln, wie auch für die sozialen Institutionen; Institutionen sind solche nämlich nur kraft ihrer fortwährenden Reproduktion"163. Mit einem möglichen Einwand gegen die vorstehenden Überlegungen möchte ich mich auseinandersetzen. Sucht man bei den entscheidungsmächtigen Akteuren des justiziellen Kerns des Rechtssystems nach Bestimmungsgründen für dessen Stabilität und relative Autonomie, so wird dies von soziologischer Seite gern mit dem Hinweis abgetan, die Zeiten hätten sich geändert. Anders als im Kaiserreich rekrutierten sich Juristen nicht mehr aus einem homogenen Milieu, das einheitliche rechtliche Bewertungen garantiere 164. Mit unterschiedlichen Akzenten wird dann eine Verbindung hergestellt zur Entstehung offenerer, nichtkonditionaler Rechtsformen 165, die durch Absprache, Verhandlungsprozesse und Kommunikation über gesellschaftliche Realität und das Verhältnis des Rechts hierzu gekennzeichnet sind. Diesen Zusammenhang möchte ich nicht grundsätzlich bestreiten. Er wird m. E. aber überbewertet und unzulässig verallgemeinert, vielleicht auch deshalb, Wahrnehmungen und übertragungsartige Sofortsympathien oder -antipathien bei einer erstmaligen Begegnung zwischen zwei oder mehr Personen nicht selten blitzschnell bestimmte Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen ein(spielen), die in der Folge das ganze weitere Verhältnis zwischen den betreffenden Partnern dauerhaft bestimmen. Nicht anders bauen wir unsere langfristigen Überzeugungen (und entsprechenden Verhaltensweisen) oft aus lauter Ad-hocInformationen auf, die wir ähnlich affektgeleitet beim flüchtigen Zeitungslesen oder Fernsehen kaum bewußt aufnehmen. Mit der Zeit verfestigen sich solche Muster zu richtigen ,Fühl-, Denk- und Verhaltensschienen4, die schließlich zu festen Persönlichkeitszügen werden." (ebd.; Hervorh. im Orig., D.M.). Die Absicherung traditioneller juristischer Argumentationstechnik durch neurologische Mechanismen betont Strauch 2002: 319 ff. 161 Zum Begriff der Eigenwerte s. o., § 4 VIII. 162
Einen empirischen Befund, daß sich der sozio-kulturelle Hintergrund von Arbeitsrichtern nicht auf ihr Entscheidungsverhalten auswirkte, erklärt Rottleuthner mit der Feststellung: „Nicht jede Situation taugt dazu, Stellung zu beziehen. Die alltägliche Praxis entlastet von der Anstrengung, seine Überzeugungen präsent zu halten und zu präsentieren: Neutralisierung durch Routine." (1982: 117; vgl. auch Rottleuthner 1984: 296). 163 Giddens 1997: 111 f. 164 Vgl. H. Hesse 1996: 452; Gessner 1992: 395, 399 f. Ähnlich die Argumentation bei Richard Münch (1992: 67 ff.; 1995: 181 f.), der damit (autopoietische) Autonomievorstellungen widerlegen will. 165 Vgl. H. Hesse 1996: 454 ff.; Gessner 1992: 400; Münch 1992: 70, 72 f.; 1995: 183 ff., 188 f.
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weil der Blick zu sehr auf prominenten Beispielen der obergerichtlichen Rechtsprechung, insbesondere jener des Bundesverfassungsgerichts ruht und den Alltag (instanz-)richterlichen und anwaltlichen Handelns nicht ausreichend berücksichtigt. Könnten wir überhaupt noch von Recht sprechen, wenn Recht tatsächlich generell in dieser Weise offen wäre, wenn es nicht im wesentlichen ein spezifisch Anderes, ein Aliud zum Nicht-Recht wäre? Nur weil und soweit in rechtlichen Diskursen spezifische Eigenwerte gebildet werden, die von Juristen im Regelfall alltäglichen Begründens bevorzugt werden, kann man von Recht sprechen 166 . Dazu bedarf es keiner vergleichsweise homogenen Weltsicht oder Rekrutierung des juristischen Personals. Es genügen dazu die juristische Sozialisation und einige andere constraints richterlichen Handelns 167 . Wäre es wirklich generell so, daß, wie Münch schreibt, „durch den Gebrauch von Rechtssätzen über Realität" und über „das Verhältnis des Rechts zur sozialen Realität sowie das Recht an sich" 1 6 8 kommuniziert werden kann 1 6 9 , dann gäbe es kein materielles Recht mehr und keine Möglichkeiten routinisierten Begründens, sondern allenfalls durch prozedurale Normen abgesicherte Verhandlungssysteme. Das mag man wünschen, die Realität unseres Rechtssystems trifft dies nicht oder doch allenfalls in kleinen Teilbereichen. 166
Ich folge also jenen, die Recht ganz wesentlich durch den Anteil seiner dogmatischen, d. h. nicht ohne weiteres negierbaren Sätze bestimmt sehen und dabei nicht auf eine formale oder lexikalisierbare Abgrenzbarkeit zwischen juristischem und nichtjuristischem Diskurs, sondern wesentlich auf die Verknappung der berechtigt sprechenden Subjekte (vgl. Foucault 1991: 26 ff.), d. h. die Praxis der juristischen Profession abstellen (so etwa Esser 1972b: 97 f.; R. Dreier 1976: 21; U. Neumann 1992: 111 ff.; Alexy 1991: 317 f.). 167 Auch H. Hesses Hinweis auf die zunehmende Außenorientierung junger Juristen (1996: 452 ff.) erklärt die Konjunktur offener Begründungsformen nicht. Zum Beleg verweist Hesse auf Überlegungen, die David Riesman in seinem Buch Die einsame Masse (Riesman/ Denney/Glazer 1958) angestellt hat. Seit den 70er Jahren sind diese unter dem Stichwort eines vorgeblich neuen, „narzißtischen" Charaktertypus aufgegriffen und psychoanalytisch vertieft worden (vgl. Bohleber/Leuzinger 1983). Danach ist die autoritäre Erziehungsstile prägende Innenorientierung an statischen Über-Ich-Forderungen einer flexibleren Orientierung an Forderungen der Außenwelt gewichen. Hesses Vorstellung geht offenbar dahin, daß mangels stabiler, wertehafter Innenorientierung bereitwillig Anpassungsleistungen an verschiedene Konjunkturen erbracht werden. Junge Juristen seien, so Hesse, „alle hochgradig abhängig von Informationen, Meinungen, Moden, Trends und offen für deren ständigen Wandel" (1996: 452). Von unspezifischer Außenorientierung kann jedoch nach den einschlägigen sozialpsychologischen Befunden nicht die Rede sein. Allenfalls nehmen charakterliche Dispositionen zu, denen an äußerer Bestätigung durch die jeweilige Subkultur oder peer-group gelegen ist. Dann aber wäre eine Anfälligkeit für offene Begründungsformen nur plausibel, wenn damit schlechthin größere Bestätigung verbunden wäre. Davon ist indes nicht auszugehen. Bestätigung durch die Profession und insbesondere durch die jeweiligen peer groups im beruflichen Alltag erfährt vor allem der Routinier, der sich schon aus Zeitgründen nur in Ausnahmefällen offene Begründungsformen leisten kann und will. 168 Münch 1992: 72. 169 Ganz so weit geht Münch nicht. Er räumt ein, daß Residualbestände „lebensweltlich und autoritären Rechts" erhalten bleiben, wenn auch „partikular, d. h. auf engere Räume und kleinere Gruppen begrenzt" (1992: 73). Dies wirft allerdings die Frage auf, wie überhaupt solche Relikte bestehen bleiben können, wenn doch Juristen insgesamt über keine Homogenität sichernde gemeinsame lebensweltliche Basis mehr verfügen.
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Teil 2: Regeln und Prinzipien
Wichtiger als die kritisierte Tendenz zur Übergeneralisierung scheint mir an den hier aufgegriffenen Thesen die Beobachtung, daß es eine Realität offener Kommunikation gibt, die sich durch Folgenorientierung, Zwecküberlegungen und mehr oder weniger offene Adaption rechtsfremder Argumente, Argumentationsmuster, Rationalitäts- und Richtigkeitsüberlegungen auszeichnet. Meine These, die im Fortgang der Arbeit noch ausgeführt werden wird, geht dahin, daß damit zwar nicht die alltägliche Normalität im Rechtssystem, aber ein ganz wesentlicher strukturerheblicher Ausnahmefall beschrieben ist. Wenn wir vorstehenden Überlegungen folgen und von einer habituell abgesicherten Präferenz für regeldiskursive Begründungsformen ausgehen, dann stellt sich damit die Frage, wann von dieser Routineorientierung zugunsten offener Kommunikationsformen abgewichen wird, unter welchen Bedingungen also der beschriebene Verstetigungseffekt außer Kraft gesetzt wird. Zwei Vermutungen möchte ich dazu äußern. Zum einen ist es wahrscheinlich, daß institutionelle Settings die Präferenzenbildung verstärken wie abschwächen können. Richterinnen und Richter höherer Instanzen, zu deren Rollenbild neben anderenrichtertypischen Idealforderungen auch die Vorstellung zählt, sie seien zu sachgerechter Rechtsfortbildung berufen, werden sich nicht in gleicher Weise zu routinemäßigen Begründungsformen genötigt fühlen 170. Zum anderen dürften Abweichungen vom Regeldiskurs vor allem naheliegen, wenn dieser keine ausreichenden Möglichkeiten routinemäßigen Begründens bietet oder gegenläufige Handlungsimperative eine besonders starke affektive Besetzung aufweisen. Ich komme später darauf zurück und wende mich einem anderen wesentlichen Gesichtspunkt zu: der Verzahnung von institutionellen constraints, nämlich Instanzenzug und Begründungszwang einerseits und dem affektuellen Anteil richterlicher Motivationen andererseits.
2. Rechtsweg, Begründungszwang und der Faktor Zeit Man könnte die Präferenz für regeldiskursiv vorgegebene Begründungsroutinen umstandslos auf zwei Sachzwänge zurückführen: die Knappheit der Ressourcen Zeit und Arbeitskraft. Der organisatorische Apparat des Justizsystems setzt über Maßnahmen der Geschäftsverteilung, der dienstlichen Beurteilung und andere Mechanismen Rahmenbedingungen, denen sich Richterinnen und Richter nicht entziehen können. Es ist kaum zu überschätzen, welches Gewicht allein dem Umstand zukommt, daß Darstellungen, die Routinemustern folgen, weniger arbeitsaufwendig sind, als solche, bei denen Teile der Begründung mühevoll neu zu ent170 Bender (1980: 332) vermutet, daß in Richterkollegien die für Abweichungen erforderliche Risikobereitschaft aufgrund des Rückhalts der Gruppe steigt. Ob das generell so ist, wage ich zu bezweifeln. Es dürfte sehr von den Macht- und Kommunikationsverhältnissen innerhalb des Kollegiums abhängen, ob die Gruppenbildung innovative Tendenzen fördert oder nicht im Gegenteil vereitelt.
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werfen sind 171 . Aber mindestens ebenso wichtig, wenn nicht noch wichtiger ist der Umstand, daß der effektive Einsatz eigener Zeit und Arbeitskraft zu den verstärkt während der juristischen Ausbildung „erlernten" Kardinaltugenden zählt, mit dem dasrichterliche Ich-Ideal amalgamiert worden ist 172 . Wer auch nur randständig den richterlichen Alltag erlebt hat, weiß, welchen Stellenwert der Aktenstand einer amtsgerichtlichen Abteilung nicht nur für die dienstliche Beurteilung, sondern auch für dasrichterliche Renommee und Selbstwertgefühl hat und wie leidvoll um Übereinstimmung mit diesem Ideal in den ersten Berufsjahren oft gekämpft werden muß. Dazu kommt, daß die Anpassung an autoritativ vorgegebene Routinemuster jedenfalls solange beruhigend wirkt, wie nicht gegenläufige Bewertungsmuster eine solche affektive Gewichtigkeit erreichen, daß sie desorientierend wirken. Wer sich insoweit gut anpaßt, hat in der Regel zugleich gute Chancen, daß die eigene Entscheidung Bestand hat, sei es, weil sie nicht von der nächsthöheren Instanz aufgehoben wird, sei es, weil die unterlegene Partei in Kenntnis des Routinewerts der Entscheidung auf Rechtsmittel verzichtet. Womit wir beim intitutionellorganisatorischen constraint des Instanzenzugs angelangt wären. Es handelt sich um einen rechtstypischen Mechanismus der Diskursbegrenzung. Daß der Ableitungszusammenhang nicht stets bis zu höchsten konsentierten Werten wie Volkssouveränität und Demokratieprinzip, also in die wolkigen Sphären staatstheoretischer und -philosophischer Erkenntnisse führen muß, ist eine Errungenschaft des Rechtspositivismus. Dieser läßt es für den Regelfall genügen, daß ein solcher Zusammenhang argumentativ zum formal ordnungsgemäß erlassenen Gesetz hergestellt wird 173 . Zwischen Begründungserfordernis und Instanzenweg besteht ein enger Zusammenhang. Rede und Gegenrede im Prozeß können zeitlich begrenzt werden, weil sich die gerichtliche Entscheidung ihrerseits als vernünftige präsentiert, die die vernünftigen Argumente der Parteien berücksichtigt. Läßt sich daran Zweifel begründet in den Formen der etablierten Argumentationskultur formulieren, kann die unterlegene Partei, sofern sie über ausreichend zeitliche, emotionale, soziale und finanzielle Ressourcen verfügt, Rechtsmittel einlegen und so (wenigstens partiell) erzwingen, daß die gerichtliche Auseinandersetzung weitergeführt wird. Akzeptanzdefizite lassen sich so über die Instanzen hinweg kleinarbeiten174. Irgendwann 171 Einerichterliche Präferenz für Routineentscheidungen und gegen „Programminnovationen" v. a. aufgrund der damit verbundenen Einsparung und Erleichterung von Zeit und Arbeit konstatiert Lautmann 1972: 91 ff., 105 f., 117, 125 ff., 130 f.; 168 ff. Auch Hartwieg (1980: 346 ff.) führt richterliches ,Anpassungsverhalten an Routinemuster" auf Zeitdruck und die Arbeitsaufwendigkeit innovativen Entscheidens zurück. 172 s. o., § 5 IE. 3. b). "3 Richterinnen und Richter sind an Recht und Gesetz gebunden (Artt. 20 HI, 97 I GG). Mit dem Verbot, Gesetze zu negieren, werden Juristen zunächst davon entbunden, sich allgemeinen Konsenses zu versichern oder ihre Entscheidungen begründungsweise mit anderen, außerrechtlichen normativen Vorstellungen abzugleichen. Die Beschränkung auf das Recht befreit also (vorläufig) von anderem.
1 7 4 Zur Akzeptanzerzeugung durch gerichtliche Verfahren siehe Luhmann 1989a: 55 ff. 11 Maitra
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Teil 2: Regeln und Prinzipien
- es muß schließlich innerhalb eines begrenzten Zeithorizonts endgültig und verbindlich entschieden werden - wird abgebrochen, wird im Rechtssystem selbst kein Zweifel mehr zugelassen, der die autoritative Entscheidung in ihrem Bestand in Frage stellen könnte. Der Rechtsweg ist zu Ende. Natürlich können Unterlegene, Öffentlichkeit und Rechtslehre weiterhin Zweifel formulieren. Aber gerichtlich wird nicht mehr oder nur unter engen Voraussetzungen (Art. 93 I Nr. 4a GG) erneut entschieden. An welchem Punkt der Abbruch erfolgt, ist meist gesetzgeberische Dezision. Im Instanzenzug erfolgt eine Konsistenz- und Richtigkeitskontrolle, die in ihrer Vorwirkung auf das Begründungs- und Entscheidungsverhalten der Instanzgerichte meist entscheidender sein dürfte, als mögliche Kritik von allgemeiner und Fachöffentlichkeit. Richterinnen und Richtern ist daran gelegen, daß ihre Begründungen vor den übergeordneten Instanzen Bestand haben. Mindestens zwei handlungswirksame Beweggründe lassen sich dafür anführen: Zum einen sollen die durch die Entscheidung Begünstigten nicht enttäuscht und geschädigt werden. Ein nur mit großer kommunikativer Distanz zu etablierten Eigenwerten begründbares Urteils würde mit der Folge erhöhter Kostenlast voraussichtlich aufgehoben. Eine stehende Redewendung deutet darauf hin. Man will „den Parteien nicht Steine statt Brot geben". Wesentlich dürfte auch das Bedürfnis sein, die Aufhebung des Urteils und das daran geknüpfte Verdikt „rechtsfehlerhaft!" zu vermeiden. Niemand möchte umsonst Zeit, Arbeit und Mühe aufgewandt haben, den Effekt und Wert der eigenen Arbeit entwertet sehen. Dieses Bedürfnis hat einen affektiven Gehalt, der das eigentliche Gewicht des Mechanismus ausmacht175. Man sollte nicht unterschätzen, welches Gewicht die Befürchtung, „aufgehoben zu werden", für Richterinnen und Richter hat 176 . Schon diese Formulierung, die Subjekt (Gericht) und Objekt (Urteil) in eins setzt, deutet an, daß diese sich mit den Produkten ihrer Arbeit in einer Weise identifizieren, die deren Negierung zur persönlichen Kränkung des richterlichen Selbstwertgefühls macht 177 . Zum juristischen Habitus gehört 175 Zum Zusammenhang zwischen beruflichem Selbstverständnis, Affekt und Kognition s. o.,§5IÜ. l.b) und c). 17 6 Diese Annahme, die zunächst nur von der eigenen Kenntnis der Justiz zehrt, wird aus berufenem Munde, vom ehemaligen Vorsitzenden des OLG Stuttgart, Rolf Bender, bestätigt: „Einen außerordentlichen Einfluß darauf, ob es zu einer Innovation kommt, wird stets die Erwartung des Richters haben, ob ihm seine Kreation »abgenommen* wird, wobei auch die Zeitkomponente mit hereinspielt." (1980: 331) Bei Lautmann (1972: 95, 117, 166 ff., 189 ff.) ist diesbezüglich von einer auf strikte Regelbefolgung zielenden ,3elohnungsstruktur" die Rede. Der langjährige Richter Egon Schneider kritisiert den Ansatz, Berufungsgerichte über die Revisionszulassung entscheiden zu lassen, als „psychologisch grundfalsch. Das Berufungsgericht ( . . . ) soll seine eigene Entscheidung der kritischen Kontrolle des Revisionsgerichts aussetzen und damit die in zahlreichen Fällen verbundene Aufhebung und Zurückverweisung riskieren. Dabei sind die Oberlandesgerichte schon heute bemüht, Revisionen zu verhindern, etwa indem Abweichungen von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes übersehen werden ..." (1999a: 603). Auch die Neigung der Berufungsgerichte, revisionsvermeidend aus Grundsatzfällen Einzelfälle (vgl. § 5461 Nr. 1 ZPO a. F.; § 543 II Nr. 1 ZPO n. F.) zu machen (vgl. E. Schneider 1994: 2268; Proske 1997: 360, Fn. 142), spiegelt dieses Bestreben wider.
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neben der Ausblendung von Gefühlen wesentlich ein Ich-Ideal, das die menschliche Anfälligkeit für Fehler nicht duldet178 und zu dessen wesentlichen psychischen Gratifikationen die Möglichkeit zählt, Macht auszuüben, indem man den Rechtsunterworfenen verbindlich sagt, was „richtig" ist 179 . Wo Kränkungen drohen, liegt ein angstmotiviertes Vermeidungsverhalten nahe. Angesichts dieser Mechanismen wird man davon ausgehen müssen, daß Richterinnen und Richter insbesondere unterer Instanzen in aller Regel dazu tendieren, Entscheidungen möglichst nur in einem Rahmen zu fällen, der sich nach den innerhalb der Profession hegemonialen Rechts Verständnissen gut begründen läßt 180 , und das heißt: möglichst geringe kommunikative Distanz aufweist und damit die Parteien von einer Einlegung von Rechtsmitteln abhält bzw. deren Erfolg zumindest unwahrscheinlich macht. Es muß also eine vergleichsweise starke gegenläufige Motivation hinzutreten, wenn sich Gerichte mit ihren Begründungen außerhalb des Regeldiskurses begeben, um weitere Entscheidungsspielräume zu gewinnen.
3. Ersetzung von Wahrheit durch Autorität: Rechtsprechung und herrschende Meinung als funktionale Äquivalente für den Konsens der Diskursgemeinschaft Folgt man vorstehenden Ausführungen, dann müßte klargeworden sein, daß sich ein Diskurs infolge der ihn konstituierenden constraints über präferenzgesicherte Eigenwerte fortschreibt, über weitgehend konsensuale Formeln, Begriffe, Argumente, Argumentationsformen und Regelverständnisse, die den Spielraum des argumentativ Begründbaren deutlich limitieren. Nun ist aber längst nicht alles, was in der juristischen Diskursgemeinschaft gesagt wird und gesagt werden kann, Konsens. Es gibt Aussagen, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf Zustimmung und Abnahme hoffen können, und solche, die geringere Chancen haben. Es gibt innerhalb des breiten Stroms des juristisch Sagbaren hegemoniale und minoritäre Texttraditionen, Subdiskurse. Lange Zeit war das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht anerkannt. Doch wurde es als Möglichkeit über 50 Jahre hinweg in einem minoritären Subdiskurs bewahrt, bevor es von einer zwar sagbaren, aber doch tendenziell „unzutreffenden" zu einer „richtigen" Begründungsmöglichkeit wurde 181 . Solche 177
Dies so deutlich zu formulieren, mag Widerspruch hervorrufen, weü eine Gefühlsintensität unterstellt scheint, die angesichts der Alltäglichkeit des Konflikts als übertrieben anmuten muß. Insoweit wird konzediert, daß es bei Richterinnen und Richter Formen professionellen Umgangs mit solchen unvermeidlichen Kränkungen gibt. Sie reichen von Abwehr, indem der Vorgang der Aufhebung als „unwichtig" oder „normal" deklariert wird, über Verdrängung bis hin zur Aufwertung der eigenen Person als unabhängiger Richter (und, u. U., der Abwertung der fachlichen Kompetenz des aufhebenden Gerichts). 178 Vgl. Fabricius 1996: 151 ff. 179 s. o., § 5 HI. 3. b). 180 Ähnlich interpretiert Lautmann seine Ergebnisse (1972: 167 f.). 181 Eingehend hierzu § 10. Ii*
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Teil 2: Regeln und Prinzipien
Übergänge geschehen fließend, sind historische Prozesse, welche oft Außerrechtliches zu Recht machen182. Wir müssen daher Eigenwerte in ihrer Eigenschaft als Stabilitätsgaranten als prozeßhafte Phänomene begreifen, denen stets etwas Vorläufiges und Approximatives anhaftet. Unter dem Gesichtspunkt kommunikativer Distanz zu den in der jeweiligen Epoche diskursiv konstituierten Gewißheiten kann nach stärkeren und schwächeren Eigenwerten unterschieden werden. Wahrheit und Konsens müssen sich im Interesse eines ausgeglichenen Wechselspiels zwischen Stabilität und Dynamik substituieren lassen. Man kann nicht bei jeder Begründung argumentativ zurückgehen auf die uneingeschränkt und sicher geteilten kommunikativen Gemeinsamkeiten der Profession. Lange bevor sich Eigenwerte zu vollste Zustimmung gewährenden Begründungsmöglichkeiten stabilisiert haben, sind sie zu Eigenwerten geringerer Qualität geworden, die gleichwohl ein hohes Maß an Folgebereitschaft verbürgen. Indem man die in den Kommentaren vorgefundene obergerichtliche Rechtsprechung183, die „herrschende Meinung" (,Ji. M . " ) 1 8 4 zitiert oder andere „Autoritätsbeweise" (Gast) antritt, wird die eigene Begründung, die Forderung, zu belegen, daß man sich ,4m Wahren" des juristischen Diskurses befindet, verkürzt und insoweit durch die Berufung auf professionsintern anerkannte Autoritäten ersetzt. Zweifel läßt sich auf diese Weise externalisieren. „Autorität besitzt jede Kommunikation, die ohne Prüfung ihrer Richtigkeit als Entscheidungsprämisse übernommen wird." 185 Diese Form routinisierter Verkürzung der eigenen Argumentation wird möglich, weil eine Ableitung vom Gesetz gefordert ist. Der Verweis darauf, daß andere, möglichst Autoritäten, durch Ableitung zu einem spezifischen Ergebnis gekommen sind, erzeugt Folgebereitschaft aus mindestens vier Gründen: Erstens wird unterstellt, daß Autoritäten mit ihren Entscheidungen den konventionalisierten Richtigkeitskriterien rechtlichen Denkens Genüge getan haben; es wird ihrer Begründungsfähigkeit und damit ihren Begründungen insoweit eine höhere Qualität zugesprochen186. Wird auf Autorität Bezug genommen, unterstellt man 182 Werden jene Argumente, Kriterien, Kategorien und Topoi, die bislang nur in außerrechtlichen Kontexten mit Aussicht auf Zustimmung sagbar waren, zu Recht, so werden damit oft zugleich bestimmte Rechtspositionen konstituiert, werden spezifische Interessen internalisiert; vgl. im Fortgang § 8 I. 2. und § 10. 183 Für Anwälte und Amtsrichter beginnt diese oft schon bei der zuständigen Berufungskammer. im Vgl. hierzu Wesel 1981; Luhmann 1987: 289 f.; Drosdeck 1989, bes. S. 90 ff.; £. Schneider 1999b; Gast 1997: 246 ff. Letzterer stuft zutreffend nach Autoritätsgraden in abnehmender Folge: „allgemeine Meinung", „ständige Rechtsprechung"/"herrschende Rechtsprechung", „herrschende Meinung", „überwiegende Meinung", „herrschende Lehre". Man könnte die ,4m Vordringen befindliche Mindermeinung" als Grenzfall hinzunehmen. Zur Differenz zwischen ,Ji. M." und Präjudiz vgl. Drosdeck 1989: 94 ff., 118 ff. iss Luhmann 1971: 103. 186 Daß diese Unterstellung längst nicht immer berechtigt ist, ergibt sich aus ihrer Qualität als Unterstellung. Als Verzerrungsfaktoren sind zu nennen: die bei widersprüchlichen Aussagen der Autoritäten auf Quantität der Belegstellen und Reputation (statt Qualität) setzende
§5 Die Rückwirkung regelorientierter Begründungen
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die Fähigkeit zu weiteren Erläuterungen 187. Zweitens: Man spart Zeit und Arbeit, denn man kann mit dem eigenen Argumentieren an jenem Punkt abbrechen, an dem man sich auf das Endergebnis der autoritativen Entscheidung beruft. Wo Autoritäten gesprochen haben, können die eigenen Begründungsbemühungen durch eine Belegstelle ersetzt werden. Es genügt die Darstellung, daß ein vergleichbarer Fall vorliegt. Ist Zeit knapp, so läßt sich „Autorität, die der Kommunikationsentlastung dient, nicht durch Kommunikation ersetzen"188. Drittens gilt hier das gleiche, was bereits für Konditionalnormen ausgeführt worden ist: Die Berufung auf die Autorität entlastet von Eigenverantwortlichkeit, wirkt auf denjenigen, der entscheidet, angstmindernd189. Schließlich tritt zu diesen drei Mechanismen noch ein Selbstverstärkungseffekt: Muß man nicht davon ausgehen, daß andere (spätestens nach Lektüre der einschlägigen Kommentarstelle) genau dieselben Unterstellungen treffen? Also nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, daß die eigene Berufung auf die Autorität Folgebereitschaft erzeugt, während eine Abweichung eher auf Widerstand stoßen wird. Dies gilt umso mehr, wenn man sich auf die Autorität beruft, die im Instanzenzug die eigene Entscheidung zu überprüfen hat. Die stabilisierende Wirkung dieses Mechanismus der Pfadbahnung ist begrenzt. Sie kann, wenigstens im Prinzip, jederzeit dadurch unterbrochen werden, daß die autoritativ vorgegebene Sprachverwendung in Frage gestellt wird, der Kritiker sich in eine kommunikative Distanz begibt. Anknüpfend an Begriffe, Regeln und Argumente, die er für weitgehend konsensual geteilt hält, kann er zu belegen versuchen, daß die Autorität irrt und daß eine andere Regel oder Bedeutungszuschreibung die Prädikate „wahr" und „richtig" verdient. Von Bedeutung dürfte auch der verdeckte Dissens sein. Man kann Abweichungen kaschieren, indem - mit argumentativem Aufwand, also unter Ressourcenverbrauch - nachgewiesen wird, daß der zu entscheidende Fall nicht der ratio decidendi der obergerichtlichen Entscheidungsbegründung entspricht190. Infragestellungen des hegemonial hergestellten KonBeweisführung (vgl. Gast 1997: 252 ff.), die Möglichkeit verzerrender Veröffentlichungspraxis, Eigendynamiken von Zitierkartellen (exemplarisch Wahsner 1974). All dies schmälert die Effektivität des primär auf Zeitersparnis zielenden Mechanismus nicht. 187 Vgl. Luhmann 1991c: 126. Auch diese Unterstellung ist von zweifelhaftem Gehalt (vgl. E. Schneider 1999b: 6 f.). Das ändert nichts an der Funktionalität dieses sozialen Mechanismus1. Wissen wird dabei durch Vertrauen ersetzt. Zu Vertrauen als sozialer Ressource vgl. Luhmann 1989b.
i«« Luhmann 1991c: 126. 189 Polemisch, aber tendenziell zutreffend die Äußerung Wolf gang Gasts: „Nirgendwo Rückhalt zu haben, auf sich allein gestellt zu sein, eine Rechtsansicht ganz und gar selbst verantworten zu müssen: so viel Verantwortlichkeit ist dem Juristen, dank Ausbildung und RollenVerständnis, nicht geheuer.,Originell' zu sein, erscheint ihm als Gegenteil der Sachlichkeit. Ein zitierbarer Mit-Meinender genügt, um die eigene Meinung objektiviert zu sehen ( . . . ) Der Adressat hat mehr Anlaß, auf die so versicherte Meinung einzugehen, sie zu erwägen, Stellung zu nehmen, als wenn sie bloß »privat4 ( . . . ) wäre." (1997: 251 f., Hervorh. im OrigD.M.).
1 90 Solche Techniken des distinguishing (dargestellt bei Langenbucher 1996: 99 ff.; vgl. auch Schlüchter 1986: 94) sind eine vor allem bei Oberlandesgerichten hochentwickelte Kunstform.
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senses führen keineswegs ohne weiteres zu einer Destabilisierung des Systems. Zum einen ist der Erfolg einer solchen Infragestellung aufgrund des dargestellten Mechanismus tendenziell unwahrscheinlich. Zum anderen kann der Angriff, soll er Aussicht auf Erfolg haben, nicht fundamental sein. Je stärker er an vorgängige kommunikative Gemeinsamkeiten anzuknüpfen vermag, desto größer ist die Chance eines Erfolges. Außerhalb der juristischen Sprachgemeinschaft kann sich der kritisierende Interpret ohnehin nicht stellen. Es wird also nicht das gesamte Geflecht der in einem bestimmten Zeitpunkt praktizierten Bedeutungszuweisungen und Sprachpraktiken erschüttert, sondern nur ein winziger Teil. Damit ermöglicht die h.M. nicht anders als die Berufung auf Präjudizien der Obergerichte 191 „eine ambivalente ( . . . ) Einstellung zum Recht. Sie legitimiert Dissens und das Sich-Verlassen auf Konsens zugleich"192 - mit einer Präferenz für den status quo des hegemonialen Textverständnisses und damit: einer Einschränkung von Entscheidungsspielräumen. Man muß annehmen, daß der vorstehend beschriebene Konformitätsdruck nach oben hin, also bei den höheren Gerichten abnimmt, insbesondere dann, wenn eine reguläre Kontrolle durch höhere Instanzen nicht mehr stattfindet, weil der Rechtsweg beendet ist. Dafür spricht, daß oberste Bundesgerichte ihre Begründungen neben Präjudizien v. a. auf allgemeine Rechtsprinzipien, Erwägungen zur Rechtssicherheit, der Praktikabilität oder Folgenüberlegungen stützen193, also Argumente und Argumentformen, die vergleichsweise wenig an die kommunikativen Gemeinsamkeiten der Zunft anknüpfen. Nur schlecht einzuschätzen ist, wie stark in diesem Zusammenhang das (mutmaßliche) Sekundärkriterium möglichst hoher Akzeptanz bei den Instanzgerichten 1 9 4 Einfluß auf die obergerichtliche Rechtsprechung hat. Da eine rechtlich institutionalisierte Präjudizienbindung im deutschen Recht weitgehend fehlt, ist die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, daß diese Sekundärpräferenz für die obergerichtliche Entscheidungsfindung relevant ist. Zu vermuten ist, daß einzelne scharfe Brüche (große kommunikative Distanz zum etablierten Regelverständnis) zwar möglich sind, daß aber eine Häufung vermieden wird, Akzeptanzüberlegungen also nicht ganz unwesentlich sind. Es kommt vereinzelt vor, daß sich Bundesgerichte mit ihrer Rechtsprechung nicht durchsetzen können195. Mithin wäre es 191 Zum Phänomen faktischer Präjudizienbindung vgl. v. Caemmerer 1975: 36 ff.; J. Esser 1990: 275 ff.; Lames 1993: 19 ff.; Luke 1993; Krebs 1995: 181 ff.; R. Seifert 1996: 37 ff.; Ohly 1997: 253 ff., 316 ff. und 2001; Drosdeck 1989: 90 ff. Diese besteht nicht nur für Gerichte. Unkenntnis der höchstrichterlichen Rechtsprechung wird Anwälten als haftungsbegründende Pflichtverletzung zur Last gelegt (vgl. etwa BGH NJW 1983, 1665). Ihre Mandatsbearbeitung müssen sie grundsätzlich daran ausrichten (BGH BB 1993, 2267/2268). 192 Luhmann 1987: 289. 193 Vgl. U. Neumann 1990: 145 ff. 194 Siehe Füßer/Hensche 1996: 67; s. o., § 4 XI., Fn. 138.
195 So ist z. B. ein großer Teil der Instanzgerichte einer Entscheidung des BAG nicht gefolgt, mit der ein Weiterbeschäftigungsanspruch des erstinstanzlich obsiegenden Kündigungs-
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verfehlt, vom weitgehenden Fehlen echter Präjudizienbindung im deutschen Recht auf mangelnde Stabilität im Rechtssystem zu schließen. Sollte es zutreffen, daß die Richter der Obergerichte an untergerichtlicher Akzeptanz ihrer Rechtsprechung interessiert sind, dann dürfte eher das Gegenteil der Fall sein.
4. Zwischenergebnis: Präferenzen für juristische Eigenwerte Zumindest die wesentlichsten Mechanismen, denen eine limitierende Rückwirkung der Begründungsmöglichkeiten auf richterliche Entscheidungsspielräume geschuldet ist, dürften vorstehend benannt und beschrieben worden sein. Juristische Eigenwerte sind nicht nur eine Kategorie, mit der juristische Kommunikation systemtheoretisch erfaßt werden kann. Aus einer akteurszentrierten Perspektive betrachtet, erzeugen sie rechtsspezifische Präferenzen, und zwar nicht selbstläufig, sondern aufgrund einer Vielzahl von constraints, die gerichtliche Entscheidungssituationen strukturieren. Primär bestehen diese Präferenzen für die in rekursiven Regeldiskursen aufgehobenen rechtsspezifischen und hegemonialen Sprach- und Problemverständnisse. Verkörpert werden diese durch Präjudizien und eine v. a. durch die herrschende Meinung verkörperte Dogmatik. Sekundär haben sich Begründungsformen etabliert, die noch als »juristisch" qualifiziert werden, aber „weicher" wirken. Topische Argumente, Interessen- und Prinzipienabwägungen sowie die Ausfüllung von Blankettnormen erscheinen aus juristischer Sicht beliebiger. Sie nehmen externe Argumente, Rationalitäten, Bewertungspräferenzen auf und stehen damit juristischer Routine, Rechtssicherheit und Gleichbehandlung entgegen. Soweit man bei solchen Begründungen von „Eigenwerten" sprechen kann, beschränkt sich diese Bewertung auf ihre Form. Begründungen im Modus der Prinzipienabwägung oder durch Verweis auf Sittenwidrigkeit oder Verkehrsbrauch sind üblich, teilweise sogar gesetzlich vorgegeben. Inhaltliche rechtliche Eigenwerte bilden sich erst, wenn durch ständige, wiederholende und zustimmende Bezugnahme auf vorgängige Entscheidungsbegründungen oder Rechtsmeinungen gegenläufige Argumente, die nicht der Sphäre juristisch tradierter Argumentation zugeordnet werden können, ausgeschlossen werden. Es bildet sich eine juristische Eigenlogik aus, die sich - bis auf weiteres - gegen Sachargumente und Bewertungen moralischer, wirtschutzklägers abgelehnt wurde (BAG NJW 1978, 239; zur Verweigerung der Instanzgerichte Wesel 1981: 33 ff. m. w. N.). Auch das Bundesverfassungsgericht kann sich gelegentlich nicht durchsetzen. Der Feststellung seines 2. Senats, das GG verbiete es, die Unterhaltspflicht für ein Kind als Schaden zu begreifen (BVerfGE 88, 203/204, 295 f., bestätigt durch JZ 1998, 356/357), sind bislang weder der 1. Senat (BVerfG JZ 1998, 352/354 f.), noch der BGH (vgl. BGHZ 124, 128/136, 140ff.; NJW 1995, 2407/2409; BGHZ 149, 236/239 f.; NJW 2002, 2636/2639) gefolgt, während einige Instanzgerichte der BGH-Rechtsprechung die Gefolgschaft verweigert haben (z. B. OLG Düsseldorf NJW 1994, 805/806); zum Streitstand vgl. Stürner 1998b: 317 ff.; Losch/Radau 2000; G. Müller 2003.
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schaftlicher oder politischer Provenienz abschottet. Rottleuthners leicht polemische Vermutung, dogmatische Sätze seien solche, „welche die Mehrheit der Juristen für richtighält" 196 , geht also in dierichtigeRichtung, wenn es auch ausreicht, daß die Angehörigen der Profession sie mehrheitlich für dogmatisch halten 197 . Diese Einschränkung verweist auf einen wichtigen Aspekt: Auch minoritäre Argumente, Regelauslegungsmuster und Begriffsprägungen innerhalb der juristischen Doktrin sind, sobald auf sie mehrfach als juristische Bezug genommen wurde, Eigenwerte, wenn auch solche minderer Wertigkeit - was nichts mit ihrer argumentativen Qualität zu tun haben muß. Welcher Stellenwert juristischen Eigenwerten im juristischen Alltag zukommt, zeigt sich allein schon daran, daß sich die Argumentation der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu über 95 % und zumeist im Bereich der tragenden Erwägungen auf Präjudizien stützt198. Eine beachtliche Zahl für ein Gericht, das doch den beschriebenen constraints weit weniger unterliegt als Instanzgerichte. In der Regel, darin ist Josef Esser durchaus zuzustimmen, „verläßt sich der Praktiker allein auf die kasuistischen Leitsätze und Begründungsformeln der höchstrichterlichen Judikatur" 199 . Gerade Esser hat allerdings auch stets das Vorläufige dieser Form juristischer Routinisierung sowie die Notwendigkeit eines beständigen Abgleichs mit außeijuristischen Richtigkeitsvorstellungen betont. Für Eigenwerte besteht im Normalfall eine Präferenz - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wer davon abweichen will, muß in Rechnung stellen, daß andere die professionstypischen Präferenzen teilen. Darin hat die Rede von der Argumentations- oder auch Begründungslast ihre faktische Grundlage 200. Wer von der herrschenden Meinung oder einer gefestigten Rechtsprechung abweichen will, muß dies, wenn ihm an Zustimmung im juristischen Diskurs gelegen ist, begründen - möglichst mit einem Minimum an kommunikativer Distanz zur gesicherten Grundlage an kommunikativen Gemeinsamkeiten. Da kommunikative Distanz nicht beliebig und nur unter Kosten möglich ist, hat dies zwangsläufig Folgen für Entscheidungsspielräume. Läßt es sich vermeiden, weicht man nicht ab, sondern hält sich im Rahmen dessen, was wahrscheinlich auf Zustimmung treffen wird. Im juristischen Alltag bedeutet dies, genau zu überlegen, welche Bandbreite des Begründbaren besteht201. Innerhalb dieses Raums mag man 196 Rottleuthner 1973b: 178. 197 Alexy 1991: 317 f. 198 Vgl. Raisch 1988: 88 ff. 199 / Esser 1972b: 106. 200 Ohne dies begründet und den Parteien zuvor die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt zu haben, dürfen Gerichte nicht von einer gewohnheitsrechtlich verfestigten Rechtsprechung (BVerfG NJW 1987, 2067) oder von der Rechtsauslegung eines übergeordneten Gerichts, v. a. des BGH, abweichen (BVerfG-K NJW 1991, 2275/2276). Zur Argumentationslast aus rechtstheoretischer Sicht vgl. Alexy 1991: 242 ff., 335 ff.; zu rechtsdogmatischen, rechtstatsächlichen und rechtsdogmatischen Aspekten Krebs 1995.
§ 5 Die Rückwirkung regelorientierter Begründungen
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dann virtuos „tricksen", aber eben nur innerhalb dieses Raumes. Daß es dabei engere und weitere Räume gibt, macht die Berechtigung der Unterscheidung zwischen Konditional- und Finalprogrammen aus. Routine, Erwartungsbildung und materielle Rechtssicherheit sind nur möglich, wenn enge Spielräume bestehen. Für Zweckprogramme setzt das voraus, daß sie „herunterkonditionalisiert" wurden, z. B. durch VerwaltungsVorschriften oder Präjudizien. Nur die möglichst weitgehende Einpassung in den einschlägigen Regeldiskurs des betreffenden Rechtsgebiets - in Zweifelsfällen mit Präferenz für die Präjudizien der obergerichtlichen Rechtsprechung - ist geeignet, Zeit und Arbeit zu sparen, Abnahmeerwartungen zu rechtfertigen und dem eigenen handwerklichen Selbstverständnis nach Konsistenz zu wahren. Diese Form juristischer Entscheidungskontrolle erfolgt beim Verfassen von Schriftsätzen und Urteilen, sie findet aber auch im Gerichtssaal oder im Beratungszimmer, schon bei der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung und der Entscheidung über prozeßleitende Verfügungen und Auflagen an die Parteien statt. Auf diese Weise lagert sich der Regeldiskurs, der primär ein auf Darstellung zielender Begründungsdiskurs ist, motivwirksam in den Prozeßrichterlicher Entscheidungsfindung ein. Der darin liegende Entlastungs- und Rationalitätsgewinn liegt auf der Hand.
201 Die Frage lautet nicht, was der Text sagt, sondern wie andere relevante potentielle und aktuelle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Diskurses den Text wahrscheinlich verstehen bzw. nicht verstehen werden.
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Teil 2: Regeln und Prinzipien
§ 6 Die Stabilisierung des Rechtssystems durch regelorientierte Diskurse Bislang wurden Begriffe wie Rechtssicherheit und Stabilität ohne nähere Erläuterung verwendet. Dies ist nun nicht mehr möglich, weil man, um den Unterschied zwischen regel- und prinzipienorientierten Begründungen erfassen zu können, Kategorien für die Beurteilung von Stabilität und Dynamik/Flexibilität des Rechtssystems benötigt. Bevor ich mich dieser Frage zuwenden kann, sind weitere Klärungen zum Verhältnis zwischen system- und handlungstheoretischen Beschreibungen notwendig.
I. Systemtheorie ohne Akteure? Schon bei Entfaltung der das theoretische Konzept der Arbeit tragenden Kategorien (constraints, Diskurs, kommunikative Distanz, Primär- und Sekundärtext) wurde versucht, die mikrosoziologische, akteurszentrierte Sicht mit einer makrosoziologischen Perspektive zu verschränken. Der Blickwinkel blieb jedoch letztlich ein akteursorientierter und damit mikrosoziologischer insofern, als nach den constraints einer spezifischen Handlungssituation, derrichterlichen Entscheidung, gefragt wurde. Im folgenden Abschnitt wird nach und nach die Perspektive gewechselt. Das Rechtssystem kommt als makrosoziologischer Zusammenhang in den Blick. Es wird nach systemischen Mechanismen gefragt, die allein mit einer auf dierichterlichen Entscheider fokussierten Akteursperspektive nicht mehr zureichend beschrieben werden können, weil sie ein emergentes Niveau aufweisen, das auf mehr als der Summe gerichtlicher Entscheidungen und ihrer constraints beruht. Ich bediene mich dabei im wesentlichen in Anlehnung an Niklas Luhmann systemtheoretischer Kategorien. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis beider Perspektiven und ihrer Vereinbarkeit, weil Luhmanns Systemtheorie bei der Beschreibung gesellschaftlicher Teilsysteme mikrosoziologische Zusammenhänge wie die beschriebenen weitgehend ausblendet. Luhmanns Systemtheorie eignet sich vor allem zur Beschreibung systemischer Eigendynamik auf einer makrosoziologischen Ebene1. Ihre insbesondere mit dem Autopoiesiskonzept verknüpfte Vorstellung, soziale Systeme reagierten auf ihre 1
Konkurrierende Theorieangebote, die versuchen, subjektphilosophisch orientierte Ansätze zu überwinden, bieten Hinweise, eignen sich aber nicht, die emergente Eigendynamik rechtlicher Reproduktionszusammenhänge zu beschreiben. Habermas' Konzeption erscheint mir juristisch zu uninformiert (siehe § 4 XI., § 6 IV. 2.) und sitzt in ihrer normativen Orientierung an einer in verständigungsorientiertem Handeln angelegten Rationalität zu stark juristischen Selbstverständnissen auf. Foucaults historische Sondierungen abendländischer Wissens- und Machtpraktiken ermöglichen zwar, Diskurse als Selektionsmechanismen und Geschichte als Veränderung von Diskursformationen zu begreifen. Doch bieten sie wenig Kriterien, um Eigendynamiken funktional ausdifferenzierter Handlungszusammenhänge innerhalb vergleichsweise kurzer historischer Etappen zu beschreiben.
§ 6 Die Stabilisierung des Rechtssystems durch regelorientierte Diskurse
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Umwelten ausschließlich innengesteuert, selbstreferentiell, entlang eigener Normen, Programme, Codes, reicht jedoch nicht aus, um gesellschaftliche Reproduktion zu beschreiben2. Folgt man Luhmanns Gesellschaftstheorie, so reproduzieren sich autopoietische soziale Systeme rekursiv von Kommunikation zu Kommunikation. Soweit sich gesellschaftliche Subsysteme ausdifferenziert haben, verwenden diese einen eigenen Typus von Kommunikation, durch den sie sich von ihren Umwelten unterscheiden. Operativ sind solche Subsysteme, zu denen auch das Rechtssystem zählt, geschlossen3: Die Orientierungsleistung, die im Rechtssystem mit jeder Operation erbracht werden muß, um die Kontingenz jeder Kommunikation systemspezifisch zu limitieren, erfolgt entlang von Normen mit Hilfe einer strukturell verfestigten Leitunterscheidung zwischen den Werten „Recht" und „Unrecht". Als rechtliche Operationen haben rechtsbezogene Kommunikationen „immer eine doppelte Funktion als Produktionsfaktoren und als Strukturerhalter. Sie setzen Anschlußbedingungen für weitere Operationen und konfirmieren oder modifizieren in eins damit die dafür maßgebenden Einschränkungen (Strukturen)"4. Letztlich ist die Behauptung, ausdifferenzierte Teilsysteme moderner Gesellschaften zögen ihre Grenzen anhand einer systemspezifischen Codierung und nach den Relevanzkriterien systemeigener Programme, so einleuchtend wie unzureichend, jedenfalls, soweit man sie auf das Rechtssystem bezieht. Sie überzeugt unter zwei Gesichtspunkten, die vor aller Kritik im folgenden benannt werden sollen:
1. Systemspezifischer Code und systemeigene Programme Der systemspezifischen Codierung entrinnt man nicht. Schwerlich läßt sich bestreiten, daß rechtliche Kommunikation entlang der Differenz von Recht und Unrecht erfolgt. Stets läuft sie darauf zu, Handlungen oder Geschehnissen einen dieser beiden Werte und daran anknüpfend Entscheidungsalternativen zuzuordnen. Nur Kommunikation, die eine Zuordnung dieser Werte behauptet, ist rechtliche Kommunikation5. Natürlich können moralische und rechtliche Kommunikation 2 Auch von rechtswissenschaftlicher und rechtssoziologischer Seite hat die Konzeption Kritik erfahren (vgl. Damm 1976a: 141 ff., 153 ff.; 1999b: 97 ff.; Nocke 1986; Dimmel/Noll 1988; Rottleuthner 1985: 107 f. und 1988; Lüderssen 1996: 32 ff.). Vieles davon ist bedenkenswert. Eine ausführliche Auseinandersetzung kann hier nicht erfolgen. Eine Anmerkung aber sei gestattet. Neben dem polemischen Stil mancher, nicht aller Kritiken fallt auf, daß diese sich v. a. den Defiziten des Theorems widmen, nicht aber danach sehen, ob nicht zumindest Aspekte des Ansatzes Wesentliches zu leisten vermögen. 3
Zum folgenden vgl. Luhmann 1995a: 38 ff., bes. 60 ff.
4
Luhmann 1995a: 49.
5 Die Behauptung, im Recht zu sein, reicht dazu nicht. Man muß an bisherige rechtliche Kommunikation anschließen. Nur wer sich und andere als Beobachter beobachtet, kann Recht und Unrecht im Sinne systemischer Kommunikation zuordnen. Der vom Weltbezug
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Teil 2: Regeln und Prinzipien
konvergieren oder rechtsfremde normative, z. B. moralische Vorgaben ins Recht übernommen werden6. Doch ist es sicherlich zutreffend, wenn betont wird, daß dies nur „durch explizite Transformation geschehen"7 kann. Einen Anspruch kann man nicht mit Aussicht auf Erfolg, also Zustimmung und Anschlußfähigkeit im Rechtssystem behaupten, wenn man ihn als ausschließlich moralischen deklariert und sich nur auf Erwägungen stützt, die im Rechtssystem bislang nicht als rechtlich relevant anerkannt sind. Es muß belegt oder doch mindestens behauptet werden, daß diese Erwägungen rechtliche sind, etwaige moralische Argumente auch aus rechtlichen Gründen relevant sind, vor allem aber, daß sie Recht von Unrecht klar zu trennen vermögen8. Vordem Außerrechtliches wird auf diese Weise - im Kontext rechtlicher Kommunikation - zu Recht, weil und soweit es zur rechtlichen Begründung, d. h. dazu dient, Begründungsalternativen mit einem der Werte des Rechtscodes zu markieren. Diese Zweiwertigkeit beruht letztlich darauf, daß rechtliche Begründungen die vergleichsweise weiche Vielfalt des diskursiv Möglichen auf die harte Eindeutigkeit konkreter Entscheidungen hin zuspitzen müssen. Deren Geltung wird gerechtfertigt und postuliert. Geltungsansprüche aber, darauf weist Habermas zutreffend hin, „sind binär kodiert und lassen ein Mehr oder Weniger nicht zu"9. Einem verbreiteten Mißverständnis möchte ich entgegentreten. Mit der Binarität des Rechtscodes ist nicht die Frage der Flexibilität von Recht angesprochen. Ob Rechtflexibel, situationsadäquat, offen für unterschiedliche, u. U. auch außerrechtliche Problemlösungssichten ist oder nicht, hängt nicht mit der Zweiwertigkeit seines Codes zusammen. Dies ist allein eine Frage, die in die Kategorie der Programmierung fällt (dazu sogleich). Mit Binarität des Rechtscodes ist nicht mehr, aber auch nicht weniger gemeint, als daß jede rechtliche Kommunikation, die mit dem zugehörigen Geltungsanspruch formuliert wird, die Unterscheidung von Recht und Unrecht nutzen muß. Die Übernahme von rechtsexternen Beschreibungen für die Entscheidung der Frage von Recht und Unrecht (z. B. von Grenzwerten) stellt keinen Verzicht auf rechtsspezifische Codierung dar, weil auf die zwischen Recht und Unrecht unterscheidende Geltungsbehauptung nicht verzichtet wird und wenigstens die Verweisungsmöglichkeit rechtlich codiert sein muß. Teilweise wird das allerdings selbst von systemtheoretischen Autoren anders gesehen10, meiner der Handelnden unabhängige Code Recht/Unrecht „kann nur auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung gehandhabt werden" (Luhmann 1995a: 70). 6
Vgl. Luhmann 1995a: 85 f., 95 ff. Dafür läßt sich eine ganze Reihe von Beispielen anführen, so der Einbruch ökonomisch-utilitaristischer Erwägungen über Interessenabwägungen im Rahmen zivilrechtlicher Norminterpretation oder die im Rahmen der Unterlassungsdelikte erfolgte richterrechtliche Entscheidung, Schutzpflichten aus enger Verbundenheit zu bejahen. 7 Luhmann 1995a: 85. 8
Dies sehen auch ausgewiesene Kritiker Luhmanns nicht anders, vgl. Münch 1995: 184. 9 Habermas 1994: 284. 10 Vgl. Teubner 1989: 128; Hiller 1993: 144; zur zivilrechtlichen Sicht vgl. Damm 1999b: 112 f.
§ 6 Die Stabilisierung des Rechtssystems durch regelorientierte D i s k u r s e 1 7 3
Ansicht nach deshalb, weil dabei zu sehr auf die Orientierungsleistung (Input) des Rechts und das Ideal einer geschlossenen selbstreflexiven Produktion von Recht durch Recht gesehen wird, statt auf seine Entscheidungsleistung (Output), nämlich die zunächst einmal für den Einzelfall verbindliche Herstellung von Recht und Unrecht. Selbst im Begründungsmodus der Abwägung läuft die Konstruktion der Begründung auf eine regeiförmige Vorrangrelation zu, die diese Werte entschieden zuordnet11. Ich jedenfalls habe noch keinen Richter erlebt, der gesagt hätte, „Heute lassen wir einmal dahingestellt, was Recht und was Unrecht ist. Aus moralischen und ökonomischen Gründen weise ich die Klage ab." Eine ausdifferenzierte Gesellschaft kann auf unterschiedliche Leitunterscheidungen ihrer Subsysteme nicht verzichten. Eine ganz andere Frage ist, ob sich Subsysteme allein durch Programme reproduzieren, die ausschließlich Kommunikationen verarbeiten, die die systemeigene Leitunterscheidung nutzen. Damit zum zweiten Gesichtspunkt: dem der Programmierung. Kurz und tautologisch lautet das Dogma: „Recht ist, was das Recht als Recht bestimmt"12. Recht kann danach nur werden, was aufgrund von zuvor entstandenen (kommunizierten) rechtlichen Relevanzkriterien (Programmen) in Recht transformiert werden darf 13. Dies halte ich immerhin teilweise für zutreffend. Begründungen müssen, um die Chance zu wahren, auf professionelle Zustimmung zu treffen, mit den bestehenden hegemonialen Verständnissen rechtlicher Diskurse abgeglichen und in möglichst weitgehende Übereinstimmung gebracht werden14. Rechtliche Operationen schließen auf diese Weise an bestehende rechtliche Kommunikation an und schaffen ihrerseits für spätere Entscheidungsbegründungen Anschlußmöglichkeiten15. Hier nun interessiert der Sonderfall, der schon bei der Frage des Codes problematisch schien. Was geschieht, wenn rechtsfremde normative Vorgaben ins Recht übernommen werden? Auf den ersten Blick scheint sich die Vorstellung, das Rechtssystems sei operativ, d. h. normativ geschlossen, auch hier zu bewähren. Werden beispielsweise Handelsbräuche zum Maßstab rechtlicher Bewertung, so deshalb, weil und soweit dies nach Relevanzkriterien zulässig ist, die sich im Verlauf rechtlich vorgängiger Kommunikation entwickelt haben (vgl. §§ 346 HGB, 114 GVG und die einschlägige Rechtsprechung). Interessen- und Prinzipienabwägungen, mögen sie im Verfassungsrecht oder über Generalklauseln im Privatrecht erfolgen, sind nur möglich, weil sich im Rechtssystem eine Begründungspraxis, also ein ausdifferenziertes Geflecht vorgängiger rechtlicher Kommunikation herausgebildet hat, die dies für zulässig erklärt 16. 11
s. o., § 3 I. 2., eingehender hierzu unter § 81. 2. c). 12 Luhmann 1995a: 143 f.
13 Luhmann 1995a: 76 ff., bes. 84 ff. 14 Die Konsistenzforderung ist nichts weiter, als die Notwendigkeit, den durch vorgängige Rechtskommunikation erzeugten Relevanzkriterien mit möglichst geringer kommunikativer Distanz Rechnung zu tragen. 15 Das heißt positiv: Orientierung, und negativ: Limitierung. 16 Vgl. Teubner 1989: 54.
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2. Einwände gegen systemtheoretische Reduktionismen Doch was ist damit schon erklärt? Die entscheidende Frage lautet doch, wie und im Rahmen welcher Mechanismen sich solche Transformationen von Nicht-Recht in Recht vollziehen. Wann knüpft rechtliche Kommunikation an rechtliche Kommunikation an und wann werden dabei zugleich außerrechtliche normative Wertungen adaptiert? Das Beispiel der Prinzipien- und der Interessenabwägung macht deutlich, daß es soziologisch schwerlich befriedigen kann, Recht als Reproduktionszusammenhang nur als Abfolge aneinander anknüpfender rechtlicher Kommunikationen zu begreifen. Prinzipien sind als Relevanzkriterien zu diffus und unpräzise oder haben vor allem prozeduralen Charakter. Oft geben die durch sie repräsentierten hegemonialen Verständnisse und Argumentationskonventionen nicht einmal vor, wann Richter unter Bruch mit der bisherigen regelorientierten Begründungspraxis abwägen sollen und vor allem was und nach welchen Maßstäben. Damit komme ich zu einem Einwand gegen Luhmanns Autopoiesiskonzept, den ich für entscheidend halte: Es sind keineswegs ausschließlich systemeigene Relevanzkriterien, die die Reproduktion der funktionalen Teilsysteme der Gesellschaft bestimmen. Der nur mikrosoziologisch erschließbare Binnenraum der Kommunikationsgenese weist Handlungsrationalitäten und Kommunikationsmuster auf, die teilweise quer zu den Rationalitätsprinzipien und Relevanzkriterien der jeweiligen Funktionssysteme liegen, welche nach der Luhmannschen Systemtheorie mindestens dominieren, wenn nicht ausschließlich den Diskurs beherrschen müßten. Weder entwickelt sich der Wissenschaftsbetrieb kommunikativ nur entlang wissenschaftlicher Kriterien, die im universellen zweiwertigen Code von „wahr/falsch" gefaßt sind17, noch reproduziert sich Wirtschaft ausschließlich nach Präferenzen der Gewinnmaximierung (im Code „Zahlung/Nichtzahlung")18. Sowohl auf der Ebene individueller Motivbildung wie auf jener sichtbarer Kommunikation werden systemfremde Relevanzgesichtspunkte berücksichtigt, die maßgeblich den Inhalt systemischer Kommunikation bestimmen und so strukturbildend wirken. Welchen (systeminternen oder -externen) Relevanzkriterien eine Anschlußkommunikation folgt, wird stets in der „finstere(n) Innerlichkeit des Gedankens" der Akteure 19 ent17 Vgl. Knorr Cetina 1992: 410 ff. (gegen Luhmann 1994). 18 Vgl. Münch 1994: 389 f. und 1996: 38 f., 170 ff. (gegen Luhmann 1996c). Luhmann, der hier (1995a: 48) eine Formulierung Hegels aufgreift, geht davon aus, daß Denken und Motive der an juristischer Argumentation beteiligten „psychischen Systeme" für eine systemtheoretische Beschreibung des Rechts ohne Relevanz sind und in die Irre fuhren [Luhmann 1995a: 48, 362 f., 375, 444; 1995b: 20; s. o., § 5 II. 2. b)]. Dies liegt in der Logik seiner funktional-strukturellen Systemtheorie. Anders als im Rahmen von Parsons Strukturfunktionalismus wird das Handeln der Akteure nicht aus den Systemzusammenhängen erklärt, sondern interessiert allenfalls als externe Voraussetzung systemischer Reproduktion. Vor seiner „autopoietischen Wende" hatte Luhmann immerhin thematisiert, daß es einen „Konflikt zwischen programmatischen und personalen Strukturen des Entscheidungsprozesses" geben könne (Luhmann 1987: 232). 19
§ 6 Die Stabilisierung des Rechtssystems durch regelorientierte Diskurse
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schieden. Daher verfehlt eine Konzeption sozialer Systeme, die „in theoretischer Subjektvergessenheit"20 Motivbildungsprozesse der beteiligten Individuen ausblendet, einen wesentlichen Aspekt ihres Gegenstands, der systemischen Reproduktion. Damit wird keiner handlungstheoretischen Verengung oder einer Ontologie des Subjekts21 das Wort geredet. Unbestritten bleibt, daß „sich der Sinn des Handelns nur in einem zeitlich rekursiven Netzwerk von Kommunikationen festlegen läßt, also in einem Netzwerk, das zeitgleiche Mitwirkung anderer und reflexive Berücksichtigung dieser Mitwirkung voraussetzt"22. Doch kann man, wo sozialwissenschaftliche Beobachtung an Grenzen stößt, weil sie lebensgeschichtlich im Kontext unterschiedlicher Systeme und Lebenswelten erworbene, individuell verschiedene Präferenzen nicht aufzulösen vermag, nicht deren soziale Irrelevanz oder die Dominanz einer dominierenden Systemrationalität unterstellen. Entweder bescheidet sich die Soziologie. Gleichwohl muß sie dann in Rechnung stellen, daß es einen nicht beobachtbaren, aber handlungswirksamen individuellen „Rest" gibt. Oder sie sucht Indikatoren für das, was nicht direkt beobachtbar ist oder versucht durch Anleihen bei Nachbarwissenschaften, den „Rest" in sozialpsychologischen Kategorien zu deuten. Dabei läßt sich nicht vermeiden, ab einem bestimmten Punkt Subjektivität im Sinne einer nicht weiter auflösbaren, von außen nicht zugänglichen Entität zu unterstellen, bei der individuelle Orientierungen eine Rolle spielen, die Beobachter nicht externen Handlungsrationalitäten oder überindividuellen kommunikativen Strukturen zurechnen können. Auch für das Rechtssystem gilt, daß rechtliche Kommunikationen durchaus nicht immer umstandslos und vollständig an die Selektionspräferenzen vorangegangener Entscheidungsketten anknüpfen 23. Dierichterliche Präferenz für die Vorgaben systemspezifischer Programme ist höchst voraussetzungsvoll. Allein der Umstand, daß in funktional differenzierten Gesellschaften unterscheidbare systemspezifische Codes und Programme existieren, beseitigt nicht die Vielzahl möglicher Entscheidungspräferenzen (Sympathie, politische Ansichten, Affekte, Orientierung an außerrechtlichen Normen etc.). Vielmehr bedarf es einer Vielzahl von miteinander verschränkten constraints, um die individuell differierende richterliche Motivbildung in Richtung auf eine spontane Präferenz für rechtliche Diskurse hin zu kanalisieren.
20 Suhr 1980: 255. 21 s. o., § 5 II. 2. b). 22 Luhmann 1991d: 145. 23 Soweit sich systemtheoretische Autoren diesbezüglich mit dem Hinweis begnügen, soziale Systeme seien operativ geschlossen, jedoch kognitiv offen und bedienten sich bei ihren Operationen der Akteure (psychischer Systeme) als Umwelten, befriedigt dies nicht. Daß Fremdreferenzen der Akteure den Systemzustand ändern, läßt sich so möglicherweise noch erklären, nicht aber, inwiefern darin zugleich systemspezifische Operationen liegen können, wenn sich diese doch per definitionem an der Systemvergangenheit orientieren.
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3. Richterliche Rechtsfortbildung und ihre Akteure in unterschiedlichen Systemzusammenhängen Stellt man die Vorstellung operativer Geschlossenheit des Rechtssystems solcherart in Frage, so kommen zwangsläufig die rechtlichen Kommunikations- und Entscheidungssituationen und damit insbesondere die Entscheiderinnen und Entscheider des professionalisierten und institutionell verfaßten Kernbereichs des Rechtssystems in den Blick 24 . Auch wenn individuelle Motive nicht oder nicht außerhalb des Beratungszimmers kommuniziert werden, so bedeutet das doch nicht, daß sie soziologisch irrelevant wären 25. Ein weiteres kommt hinzu: Da es sich bei derrichterlichen Regelorientierung lediglich um eine Präferenz handelt, kann diese, wie wir noch sehen werden, in spezifischen Situationen von anderen Präferenzen abgelöst werden, die eine offen kommunizierte Orientierung auch an außerrechtlichen Problembewertungen ermöglichen. Allein der Umstand, daß dabei ein Abgleich mit rechtsspezifischen Kommunikationen erfolgen muß, ändert nichts daran, daß außerrechtliche Gesichtspunkte Eingang in rechtliche Begründungen, also systemische Kommunikation finden, die zuvor kein Recht waren. Vor individualistischen oder gar psychologistischen Perspektivverengungen muß an dieser Stelle allerdings gewarnt werden. Einzelne Brüche mit der bisherigen Rechtsprechung, mag man sie als systemexterne Referenzen oder individuelle Motivlagen fassen, machen keine Änderung der Rechtsprechung. Ob sie mittel- und langfristig mehr als eine Episode, einen „Ausrutscher" oder ein Fehlurteil darstellen, hängt davon ab, ob sie mittelfristig innerhalb der juristischen Profession Gefolgschaft mobilisieren. Gerade die Geschichte der Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zeigt, daß Evolution mehr erfordert, als die u. U. auf individuelle Vorlieben rückführbare Laune einer einzelnen Spruchkammer 26 Nun lautet das Dogma des Autopoiesiskonzepts, daß sich Sozialsysteme nur entlang eigener Codierungen und Programme reproduzieren können. Sinntransfer aus 24 Es dürfte kaum übertrieben sein, wenn Suhr den Richter unter Hinweis auf die Momente und Strukturen, „die ihn motivieren, treiben und bewegen, die eingefahrenen Gleise der Dogmatik zu verlassen", als „Flaschenhals"richterlicher Rechtserneuerungsprozesse bezeichnet (1980: 255; Hervorh. im Orig., D.M.). 25 Die simplifizierende Vorstellung der Programmierung entlastet davon, individuelle Entscheidungsbildung handlungstheoretisch in den Blick zu nehmen, zugleich enthält sie aber handlungstheoretische Annahmen. Dieser „blinde Fleck" dürfte dem Stellenwert der Kommunikation in Luhmanns Systemtheorie geschuldet sein, wonach Systeme sich von Kommunikation zu Kommunikation reproduzieren. Kommunikation wird als beobachtbares „Ausflaggen" von Handlung verstanden (s. o., § 4 IV., Fn. 39), deren soziale Relevanz sich nicht erfassen läßt, wenn man auf das Selbstverständnis der beteiligten psychischen Systeme abstellt, Semantiken der „Absicht", des „Motivs", des „Interesses" bemüht (Luhmann 1991a: 225 ff.). Dies legt es nahe, Bedingungen individueller Entscheidungsbildung aus der Theorie auszublenden. Zur Kritik siehe H. Esser 1994. 26 Eingehender hierzu im Fortgang unter § 8 I. 1. b), § 10 m. 5, § 10IV. 3, § 10 V.
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anderen Systemen ist damit ausgeschlossen. Demzufolge können systemische Kommunikationen ihre Umwelt nur entlang der systemeigenen Präferenzkriterien ihrer Programme wahrnehmen, deuten und in weiteren Operationen verarbeiten. Das Konditionalprogramm ist die Form, die normative Geschlossenheit und kognitive Offenheit des Rechtssystems in typischer Weise kombiniert: „Sie verlangt, daß normative Entscheidungsregeln (die ihrerseits nur systemintern begründet sein dürfen) so formuliert werden, daß eine Deduktion der Entscheidung aus Fakten (die ihrerseits kognitiv ermittelt werden müssen) möglich ist: Wenn die Tatsache a vorliegt, ist die Entscheidung x rechtmäßig; wenn nicht, dann nicht"27. Zwar nutzen soziale Systeme zur Eigenreproduktion menschliches Bewußtsein, doch ist dieses Bestandteil der systemischen Umwelt, nicht des Systems (sog. strukturelle Kopplung). Wird deutlich, daß sich jene ,3ewußtseinssysteme", deren Operationen zugleich solche eines Sozialsystems sind (z. B. Richter, die ein Urteil fallen) nicht primär an den systemgeschichtlich vorgegebenen Präferenzkriterien (Programmstrukturen) orientieren, so liegt darin eine Störung28. Diese wird, weil systemunspezifisch, im System als „noise" wahrgenommen, auf das das soziale System nur selbstreferentiell, d. h. entlang eigener, im systemspezifischen Code verfaßter Programme reagieren kann29. Was dabei aus dem Blick gerät, nicht thematisiert und so im Kontext der Beschreibung seines Einflusses beraubt wird, ist das, was die Störung, die Dysfunktion ausmacht30. Man kann versuchen, solche Phänomene systemtheoretisch 27 Luhmann 1995a: 84 [Hervork im Orig., D.M]. 28 Bezeichnend ist, wie Luhmann den Binnenraum rechtlicher Kommunikation interpretiert: Gerichtsverfahren betrachtet er primär unter dem Aspekt der Absorption von Konflikten und Kritik (1989a: 57 ff.), also von „noise". Funktionsgarant soll nicht zuletzt die gegen Kritik immunisierte konditionale Programmierung der Richter sein (ebd.: 130 ff.). Zur Kritik vgl. J. Esser 1972: 205 ff., bes. 211 f.; Machura 1993 m. w. N. 29 Vgl. Teubner 1989: 126 f.; Luhmann 1995a: 276 ff. In ähnliche Richtung weisen die Überlegungen bei Ladeur 1994a: 50 ff. Zur Illustration mag ein krasses Beispiel dienen: ein korrupter oder politischer Weisung folgender Richter. Als rechtsspezifische Reaktionen auf die Orientierung am eigenen Nutzen anstelle an rechtlichen Normen kommen nur Bewertungen entlang des Codes „Recht/Unrecht" und der auf solche Fälle passenden systemeigenen Programme in Betracht: Ausschluß wegen Besorgnis der Befangenheit, Wiederaufnahme des Verfahrens und Urteilsaufhebung, Suspendierung und Richteranklage etc. 30
Das Beispiel des korrupten Richters (siehe Fn. 29) zeigt die Triftigkeit des Autopoiesiskonzepts wie seine Grenzen. Die Bestechung suspendiert nicht die Autopoiesis des Rechts. In den Kategorien des Rechtssystems verändert sie nicht den Status der sich anschließenden Kommunikation. Das durch Bestechung erlangte Urteil ist unrechtmäßig. Solange wir von einer empirischen Normalität unbestechlicher Richter ausgehen können, erscheint die Autopoiesis als adäquate Beschreibung und macht vergessen, wie voraussetzungsvoll das soziale Phänomen eines unbestechlichen Amtsträgers ist. Was aber, wenn Korruption einen wesentlichen Teil der Normalität darstellt? Dann wird aus dem Konzept der Autopoiesis eine normativ gefärbte, am Ideal funktionaler Differenzierung ausgerichtete Defizitbeschreibung (exemplarisch Luhmann 1995a: 81 f., 445). So fällt auf, daß Luhmann es nicht bei der soziologischen Analyse beläßt, sondern offen normativ (1991a: 444; 1995a: 397 f.; 1995b: 32-34), sogar unter Berufung auf Art. 1 - 3 GG (1995a: 397) juristisch argumentiert, wo Richter nicht entlang konditionaler Programmierung entscheiden, sondern mit Abwägungen Rekurs auf außerrechtliche Wert- und Ordnungsvorstellungen nehmen. 12 Maitra
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wieder einzufangen 31. Die Bedeutung systemfremder Relevanzkriterien für systemische Kommunikation wird von systemtheoretischen Autoren nicht bestritten32, sondern in Kategorien wie Interpénétration 33, Interferenz 34 sowie struktureller Kopplung von sozialen und Bewußtseinssystemen35 gefaßt. Gunther Teubner hat dies recht plausibel versucht, indem er die Interdependenzen zwischen verschiedenen funktionalen Teilsystemen als Interferenzphänomene beschrieben hat, bei denen Kommunikationen gleichzeitig an mehreren autopoietischen Kreisläufen teilnehmen und Personen in verschiedenen Systemzusammenhängen agieren36. Nach Richard Münch, der eine stark an Parsons orientierte Systemtheorie vertritt und die Vorstellung autopoietisch operierender Systeme ablehnt37, ist die Dynamik gesellschaftlicher Reproduktion ganz wesentlich auch durch Interpenetrationszonen der nur relativ autonomen Teilsysteme mitbestimmt, in welchen die Handlungen individueller wie korporativer Akteure eingebettet sind38. Auch systemtheoretisch orientierte Autoren stellen also in Rechnung, daß Akteure innerhalb verschiedener Systemkontexte zugleich handeln39. Ihre Beschreibungen enden jedoch in der Regel spätestens vor den Toren jener individuellen Differenz, die in manchen Situationen als Affekt, als Emotion, in gewisser Weise als ,»Nichtidentisches" (Adorno) offenkundig wird, sich also weder als Systemfunktion noch umstandslos als externe Voraussetzung systemischer Reproduktion beschreiben läßt40. 31 Einen solchen Vorgang kann man als Theoriebildungsprozeß am Beispiel sozialer Bewegungen mitverfolgen: Waren diese in der Ökologischen Kommunikation noch weitgehend Störungen außerhalb dessen, was im Gesellschaftssystem und seinen Teilsystemen, insbesondere dem politischen System (Luhmann 1990b: 167-182) verarbeitet werden konnte, so sind sie in Soziologie des Risikos (Luhmann 1991c: 146 ff., bes. 153 f.) bereits wesentliche Faktoren einer Selbstalarmierung des Gesellschaftssystems. 32 Luhmann 1995a: 43 f. 33 Luhmann 1991a: 286 ff. 34 Teubner 1989: 107 ff., 125 ff. 35 Vgl. Luhmann 1995a: 440 ff.; 1997b: 100 ff.; 2000: 46 f., 58 ff. Eine systemtheoretische Verschränkung versucht Peter Fuchs in seiner Abhandlung über das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie (1998). 36 Teubner 1989: 126 ff.; Auf einem ähnlichen Gedanken fußt Ladeurs prozedurale Konzeption (1994a: 50 ff.; 1994b: 422 ff.) einer „relationalen Persönlichkeit", bei der die nicht austauschbare Person „Schnittpunkt einer Pluralität von Systemreferenzen" (1994b: 422 f.) ist. Dabei geht es allerdings nicht umrichterliche Entscheider, sondern Grundrechtsträger, die gesellschaftliche Lernfähigkeit unter Unsicherheitsbedingungen sichern helfen sollen, indem sie an der „Mit-Konstruktion (nicht Mit-Entscheidung) von auf Lernfähigkeit und Selbstrevision angelegten Umweltmodellen" (1994a: 56) teilnehmen.
37 Münch 1994: 389 f.; 1988: 476 ff.; 1995: 181 ff. und 1996: 34 ff., 170 ff. 38 Vgl. Münch 1988: 476 ff., 509 ff.; 1996: 38 f. 39 Auch die empirische Studie von Schmid/Drosdeck/Koch (1997; s. o., § 4 ID., Fn. 37) stellt in Rechnung, daß Richter verschiedenen Sozialsystemen zugehören und daß dies Auswirkungen auf die Informationsverarbeitung der Entscheidungsprozesse haben kann (Drosdeck 1997: 19; Schmid 1997a: 77, 82, 84 ff.). 40 Mit diesem Defizit ist m. E. auch die einseitig auf Kognition und Wissensgenerierung zugeschnittene Konzeption Ladeurs (s. o., Fn. 36) behaftet. Auch die affektive Orientierung
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Affekte, und hier insbesondere Angst, sichern nicht nur die systemisch vorgegebenen Handlungspräferenzen, sie können auch zum Bruch mit diesen bzw. zur Veränderung bisheriger Präferenzen motivieren41. Dies gilt nicht zuletzt dort, wo Verhalten und Kommunikation „der (massenhaft) subjektive Reflex immanenter Widersprüche der Institutionen und Teilsysteme im Umgang mit den Systemgefährdungen ist" 42 . Daher ist für die Dynamik rechtlicher Reproduktion von wesentlicher Bedeutung, daß in richterliche Entscheidungen subjektive emotionale, den Teilrationalitäten der Systeme partiell zuwiderlaufende Motivationen einfließen. Solche Determinanten werden im Rechtssystem über den Einzelfall hinaus relevant, weil sie bislang außerrechtliche Kommunikation nicht nur in Entscheidungen, sondern auch in Begründungen als rechtliche Kommunikation einfließen lassen, die sich im Rechtsdiskurs von da an reproduzieren. Prinzipien, also auch (neue) Persönlichkeitsrechte bilden, wie noch zu zeigen sein wird, eine wesentliche Schaltstelle, die eine Durchdringung des Rechts mit vordem außerrechtlichen Erwägungen ermöglichen.
4. Zur Berechtigung systemtheoretischer Modellbildung Nach all den Einwänden gegen Luhmanns Theorie sozialer Systeme bedarf es der Begründung, warum ich dennoch auf viele seiner Kategorien zurückgreife. Meines Erachtens zwingen die vorstehend ausgeführten Einwände nicht zur Aufgabe, sondern nur zur Abschwächung einiger apodiktischer Formulierungen. Zwar wissen wir, daß Begründungen bei weitem nicht vollständig erfassen, was das Ensemble rechtlicher Mechanismen, das hochkomplexe Wechselspiel von Laien, professionellen Akteuren, Rollenzwängen, organisatorischen und institutionellen der Akteure, die Parsons unter Rückgriff auf die Psychoanalyse beschreibt, bleibt auf den Stellenwert für die Integration unterschiedlicher Situationsanforderungen und die Stabilität sozialer Systeme (vgl. Parsons 1980 und 1994: 83 ff., 136 ff., 174 ff.), also auf den Gesichtspunkt der Funktionalität beschränkt, was letztlich „die psychoanalytische Konflikttheorie überflüssig macht" (Parin 1983a: 15). 41 In der Leugnung bzw. Ausblendung der Bedeutung individueller Affekte treffen sich systemtheoretische Konzeptionen mit juristischen Selbstverständnissen (zu letzteren vgl. Fabricius 1996: 149 ff. m. w. N.; Gast 1987: 2 f.; 1997: 94 f.). Dagegen ist einzuwenden, daß juristisches Handeln, wie menschliches Handeln überhaupt, ohne Affekte (Freude, Lust, Angst, Wut, Trauer) nicht möglich ist. Unter Affekt verstehe ich in Anschluß an Ciompi „eine von inneren oder äußeren Reizen ausgelöste, ganzheitliche psycho-physische Gestimmtheit von unterschiedlicher Qualität, Dauer und Bewußtseinsnähe" (1997: 67). Nur analytisch lassen sich Affekte von jener psychischen Funktion unterscheiden, die dem juristischen Selbstverständnis weniger fremd ist: der Kognition (zum Begriff vgl. Ciompi 1997: 70 ff.). Beide Funktionen sind eng miteinander verschränkt. Affekte bestimmen wesentlich die handlungsleitenden psychischen Strukturen (Ciompi 1997: 163), sie organisieren die kognitiven Inhalte [ebd.: 93 ff., bes. 163 ff.; 1988: 171; Fabricius 1996: 113 ff.; Roth 1997: 210; s. o., § 5 f f l . 3. b), Fn. 139]. In ähnliche Richtung weisen Überlegungen, die im Rechtsgeßhl Moralsystem und Emotion als quasi unterschwellig handlungsleitendes Bezugssystem kombiniert sehen (vgl. Lampe 1985; Eckensberger/Breit 1997). 42 Beck 1988b: 641. 12*
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constraints mit den spezifischen Diskursformen der Disziplin ausmacht. Dennoch bleibt es, will man makrosoziologische Zusammenhänge erfassen, sinnvoll, das Rechtssystem als Reproduktionszusammenhang miteinander rekursiv verknüpfter kommunikativer Ereignisse zu beschreiben43. Dies erscheint aus mindestens zwei Gründen gerechtfertigt: Zum einen sind Begründungen jene Teilerichterlichen Entscheidens, die über die singulären Interaktionszusammenhänge der Prozesse (Verhandlung, Beratung, Vollstreckung, Wirkung inter partes) hinaus fortwirken, sichtbar und wesentlicher Gegenstand rechtlicher Anschlußkommunikation sind44. Sie verändern den Zustand des rechtlichen Normbestandes, an dem sich die nachfolgende Rechtsprechung orientiert. Operation und (Selbst-)Beobachtung des Rechts fallen im Urteil zusammen45. Die Operation besteht aus zwei Teilen: dem konkreten Befehl im Tenor und seiner Begründung in Form einer für verbindlich erklärten Ausdifferenzierung des Sekundärtextes46. Die Begründung wird als nachvollziehbare Beobachtung entlang der Unterscheidung, was in rechtlichen Diskursen bisher als Recht und Unrecht galt, dargestellt. Als solche wird sie in anschließenden ablehnenden und zustimmenden rechtlichen Erörterungen und Urteilen nachvollzogen und als letzter Grund des Urteils genommen. Begründungen können systemändernd wirken, weil sie „neue Konsense evozieren (können) und ( . . . ) mit einer neuen Sprachregelung auch neue konstruktive Lösungen inaugurieren" 47. Dies rechtfertigt eine abgeschwächte Form der Autopoiesisvorstellung. Zwar gibt das Recht nicht allein vor, was Recht wird. Aber die eigene kommunikative Vergangenheit dient selbst bei Internalisierung außerrechtlicher Wertigkeiten als zentraler Bezugspunkt. Bezogen auf die Unterscheidung, was bislang als Recht und was als Unrecht galt, wird entschieden, ob man anders differenziert (und dabei möglicherweise auch bislang außerrechtliche Relevanzgesichtspunkte zu rechtlichen macht) oder den rechtlichen status quo beibehält. Nun könnte man daran denken, rechtliche Kommunikation insgesamt, also auch solche der rechtswissenschaftlichen Literatur oder Argumentationen der Parteien und ihrer Anwälte in dieses Modell mit einzubeziehen. In der Tat sind auch diese Äußerungen, soweit an der Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht orientiert, für Urteilsbegründungen und andere rechtliche Kommunikationen anschlußfähig 48. 43
Zu diesem Modell s. o., § 5 II. 3., dort bes. § 5 II. 3. b). Nicht nur die Systemtheorie im Anschluß an Luhmann, auch die Strukturierende Rechtslehre betrachtet Recht als Kontinuum von Kommunikationen, genauer: von Texten (vgl. Christensen 1989: 3195). 44 s. o., § 4 X. und XI. 45 Der Rechtsakt kann „gleichzeitig als Operation und Beobachtung gesehen" (Teubner 1995: 140) werden. * Zum Begriff s. o., § 5 H. 3. b). 4 ? J. Esser 1980: 221. 48 Dementsprechend kann man sie dem Rechtssystem zurechnen, das mit seinem professionell und organisatorisch verfestigten Kernbereich nicht notwendig deckungsgleich sein muß (vgl. Luhmann 1995a: 68 f.).
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Die Argumentation der Parteien und ihrer Anwälte möchte ich vernachlässigen. Über den Prozeßzusammenhang hinaus wird sie, soweit sie sich nicht im konkreten Urteilstext niedergeschlagen hat, nicht rezipiert. Anders die rechtswissenschaftliche Literatur, die deshalb Gegenstand der Analyse bleibt. In welchen Teilbereichen das Rechtssystem stabil und in welchen es dynamisch und eher unflexibel ist, läßt sich allerdings an der Abfolge der Urteilsbegründungen besser ablesen. Die Urteilstätigkeit der Gerichte ist das Nadelöhr, das juristische Kommunikationen durchschreiten müssen, um Rechtsgeltung zu erlangen. Obwohl im deutschen Recht, von Ausnahmen abgesehen, ohne präjudizielle Bindungswirkung, schaffen Urteile in der juristischen Praxis einen höheren Grad allgemeiner Folgebereitschaft, der mit der Höhe der entscheidenden Instanz zunimmt. Folgt man ihnen, so schneiden jedenfalls Urteile höherer Gerichte wie Gesetze den Rekurs auf weitere Argumentation ab; nicht zuletzt auch infolge der starken Hierarchisierung der Gerichte in einem viel stärkeren Maß, als dies einzelne Stimmen der Literatur vermögen. Folgt man ihnen nicht, so schaffen sie stärkere Begründungslasten, als Äußerungen in der rechtswissenschaftlichen Literatur, die man zur Not mit Nichtachtung straft 49. Nicht umsonst dominieren die stark auf die Wedergabe einschlägiger Rechtsprechung zugeschnittenen, sogenannten Praktikerkommentare (Palandt [BGB], Zöller [ZPO], etc.) den juristischen Alltag der Instanzgerichte. Damit komme ich zum zweiten Grund, weshalb auf makrosoziologischer Ebene primär die Begründungen der gerichtlichen Entscheidungsketten interessieren. Wie Begründungszwänge im Wechselspiel mit anderen constraints der richterlichen Entscheidungssituation eine Präferenz für regelgeleitetes Entscheiden schaffen, ist ausführlich dargelegt worden. Zwar können Urteilsbegründungen wesentliche, auch subjektive Beweggründe der Entscheidungen verschleiern, wie überhaupt juristische Klassifikationen aus anderen Sichten Wesentliches, wie z. B. Machtverhältnisse ausblenden. Doch kann man ihnen und der Art und Weise, wie darin Begründungslasten argumentativ abgearbeitet werden, entnehmen, wie weit sich die Richterinnen und Richter von den Präferenzvorgaben des Regeldiskurses entfernen mußten, um ausreichenden Entscheidungsspielraum zu gewinnen. Gerade weil systemeigene Relevanzkriterien die rechtliche Anschlußkommunikation nicht strikt determinieren, sondern lediglich Präferenzen vorgeben, kann man Aussagen über Stabilität und Dynamik des Rechts wesentlich an die Frage koppeln, ob Gerichte in ihren Urteilsbegründungen diesen Präferenzen folgen oder nicht. Brechen sie mit ihnen, so erweitern sie ihren Entscheidungsspielraum zu Lasten von Abnahmewahrscheinlichkeit und stabilen Anschlußmöglichkeiten folgender Entscheidungen. Begründungen taugen insofern auch als Indika49 Daß dies nicht so sein muß, zeigt die große Bedeutung juristischer Kommentierungen im römischen Recht v. a. während und nach der Rezeption bis hin zum Windscheidtschen Pandektenlehrbuch im 19. Jahrhundert. Die höhere Wertigkeit gerichtlichen Begründens ist Konvention, die sich allerdings mit dem Gleichbehandlunganspruch rechtfertigen und einer Differenzierungsprozessen und Flexibilitätserfordernissen geschuldeten Bedeutungszunahme institutioneller Autorität zu Lasten persönlicher Autorität erklären läßt.
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toren 50 für den nicht direkt einsehbaren motivationellen Bereichrichterlicher Entscheidungspraxis. Sie zeigen an, wie stark in spezifischen Problembereichen die richterliche Entscheidungspraxis rechtlicher Eigenwertbildung, d. h. den das Recht dominierenden Präferenzen des Regeldiskurses folgt und in welchem Ausmaß externe Orientierungsfaktoren diffundieren. Stabilität und Dynamik des Rechtssystems lassen sich so durch Analyse gerichtlicher Urteile und ihrer Rezeption beschreiben. Juristische Argumentation wird damit ernster genommen, als bislang in der empirischen, handlungstheoretisch orientierten Rechtssoziologie üblich, ohne ideologischen Selbstverklärungen juristischen Handelns aufzusitzen. Auf diese Weise soll versucht werden, „die komplexen Formen der normativen Beobachtungen des law in the books"51 in die Tatsachenfeststellungen rechtssoziologischer Empirie miteinzubeziehen. Drei Konstellationen möchte ich dabei grob unterscheiden52: In der ersten Konstellation verrät uns der juristisch geschulte, mit zeitgenössischen Argumentationskonventionen der Profession vertraute Blick, daß sich eine neue rechtliche Entscheidung im Rahmen des aktuellen hegemonialen Regeldiskurses hält. Wir stellen keine oder nur geringe kommunikative Distanz zu vorgängigen Regelverständnissen fest 53. Die Präferenz für die in Netzwerken von Konditionalnormen verkörperten Detailvorgaben setzt sich durch. Weitgehende Zustimmung der juristischen Profession kann als gesichert gelten. Dominieren solche Entscheidungen den Diskurs, so ist das Rechtssystem in diesem Bereich stabil. Die Illusion einer Programmierung ist perfekt. Die zweite Konstellation zeichnet sich durch größere Abweichung aus. Die kommunikative Distanz zum bestehenden Regeldiskurs ist groß, Zustimmung innerhalb der Profession noch möglich, aber nicht mehr gesichert. In einer Klausur stünde am Rande ein verhaltenes „vertretbar". Rechtsfortbildung im Kleinen ist hier möglich, findet in einer Weise statt, die noch als Normauslegung empfunden wird. Bleiben solche Entscheidungen im Kontext eines sozialen Problemfeldes nicht bloße Einzelfälle, besteht ein Zustand verminderter Stabilität, weil der Orientierungswert solcher Kommunikationen gegenüber dem unter (1) beschriebenen Zustand geringer ist. Im letzten Fall ist die Abweichung von den durch Sekundärtexte vorkonditionalisierten Eigenwerten der Regeldiskurse so groß, daß die kommunikative Distanz 50 Solche Indikatoren sind erforderlich, weil es die Möglichkeiten und Ressourcen jeder makrosoziologischen Betrachtung sprengen würde, wollte man die konkreten Umstände jeder einzelnen Operation untersuchen und berücksichtigen (beispielsweise durch teilnehmende Beobachtung an gerichtlichen Entscheidungen). 51 Teubner 1995: 140. 52 Die Übergänge zwischen diesen idealtypischen Konstellationen sind, wie könnte es anders sein, fließend. 53 Veränderungen vollziehen sich hier mehr oder minder iterativ und unmerklich, in Josef Essers Worten: „im bewährten Rhythmus kasuistischer Verfeinerung ,step by Step'" (1980: 217).
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nicht allein durch Rückgriff auf rechtsspezifische Kommunikation (Programme) überbrückt werden konnte, sondern teilweise auf rechtsexterne Argumentation umgeschaltet worden ist. Welche Präferenzen die konkrete Entscheidung subjektiv bestimmt haben, wird sich in der Regel nicht sicher bestimmen lassen. Begründungsweise jedenfalls werden bislang außerrechtliche Normbestände und Rationalitätsgesichtspunkte (z. B. moralischer oder ökonomischer Provenienz) in die Argumentation aufgenommen - jenseits der durch Konditionalnormen repräsentierten Präferenzmuster. Auch in solchen Fällen bleiben Rechtsnormen Orientierungswerte für die Argumentation, weil man sich weiterhin darauf beruft und einen Ableitungszusammenhang herzustellen versucht54. Doch sind diese Bezüge aus professioneller Sicht vergleichsweise beliebig. Die Konsistenz zum die bisherige Praxis dominierenden, eigenwertgesicherten Normverständnis ist zu gering, als daß der Anschein einer „Programmierung" entstehen könnte55. Prägen solche Urteile einen Problembereich, so muß man von einem Zustand hoher Dynamik ausgehen bis eine Vielzahl solcher Entscheidungen Orientierungswerte für die wichtigsten und häufigsten Fallkonstellationen bieten und sich die Kommunikation wieder auf einen Regeldiskurs zubewegt. Ich fasse zusammen: Gegen die Theorie sozialer autopoietischer Systeme wird eingewandt, daß Recht mehr ist, als nur eine selbstreferentielle Reproduktion von Kommunikation zu Kommunikation. Als unzureichend hat sich die Vorstellung erwiesen, das Rechtssystem orientiere sich in seiner Anschlußkommunikation ausschließlich an den Programmstrukturen vorangegangener systemeigener Kommunikation. Weil systemeigene Relevanzkriterien (Eigenwerte) aber immerhin als Präferenzen die rechtliche Kommunikation dominieren, kann man Stabilität und Dynamik des Rechtssystems recht gut beschreiben, indem man untersucht, in welchem Ausmaß Begründungen mit diesen Präferenzen brechen oder diese bestätigen. Daher ist es sinnvoll, Urteile, ihre Begründungen und die darauf Bezug nehmende rechtswissenschaftliche Anschlußkommunikation auf der Makroebene für das Recht als Ganzes gelten zu lassen. Damit knüpfe ich eng an Beschreibungsformen an, die in der Luhmannschen Systemtheorie entfaltet sind, versuche aber zu vermeiden, deren Geschlossenheitsfetischismus aufzusitzen. Ohne auszublenden, daßrichterliche Entscheidungen stets von einer Vielzahl rechtsinterner und -externer Variablen abhängen, wird davon ausgegangen, daß Recht als Kette rekursiver Kommunikationen, die in unterschiedlichem Maße selbst- und fremdreferentiell anknüpfen, zutreffend beschrieben werden kann. Dabei wird die Theorie um einen subjektiven Faktor erweitert und in Rechnung gestellt, daß die Akteure gerichtlicher Entscheidungsprozesse über subjektive, affektiv getönte Orientierungen 54
Der Ableitungszusammenhang wird durch Berufung auf den Primärtext hochabstrakter Verfassungsnormen hergestellt oder durch Analogie mit deren durch Rechtsprechung herunterkonditionalisierten Sekundärtexten oder mit anderen Konditionalnormen. 55 Entsprechend laut werden Verdikte ausgesprochen, die vom Vorwurf der Kadi-Justiz bis zur Beschwörung der Rationalität positiven Rechts reichen; eingehender dazu unter § 8 I. 1. a) aa).
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verfügen, die sich eindeutiger Zurechnung auf Systemrationalitäten entziehen und die Wahl zwischen systemeigenen und systemfremden Präferenzen entscheidend mitbestimmen. Wie die Folgen dieser Entscheidungen auf der Systemebene allerdings aussehen, entzieht sich den Intentionen der Akteure weitgehend. Bei all dem geht es um die Selbstveränderung des Rechts. Änderungen des Rechts werden zunächst nur auf der Ebene der Normtexte sichtbar. Während aber die Veränderungen der Primärtexte durch die Legislative wenig über das „lebende Recht" (Ehrlich) im Sinne alltäglicher Praxis aussagen, sind Veränderungen der Sekundärtexte durch die Rechtsprechung und die daran anschließende Rezeption zumindest Indizien dafür, daß Recht verändert wurde. Über die Stabilität oder Instabilität des Rechtssystems als solchem kann man nur etwas sagen, wenn man dessen Selbstveränderungspotentiale und deren Dynamik beschreibt56.
n . Redundanz und Varietät von Kommunikationen Nach dieser Skizzierung des theoretischen Rahmens wende ich mich nun der Beschreibung zu, wie das Rechtssystem durch regelorientierte Diskurse stabilisiert wird. Ketten von Entscheidungsbegründungen und deren dogmatische Verdichtungen, also in Regeldiskursen geronnene Eigenwerte, mit denen spezifischen typisierten Sachverhalten Recht oder Unrecht zugeordnet wurde, kondensieren schriftlich Fallerfahrung 57. Solange die Begriffsverständnisse weitgehend gleichläufig bleiben, kann diese wieder aufgenommen werden58. In jedem ausdifferenzierten sozialen System werden durch das Netzwerk aufeinander bezogener rekursiver Kommunikationen eigene Begriffe, eigene Unterscheidungen entwickelt, mit denen die Umwelt und das System selbst wahrgenommen und beschrieben werden. Nicht alles, was orientiert an diesen Eigenwerten intern für relevant gehalten wird, ist auch extern relevant. Die systemspezifischen Bilder von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden sich von externen Bewertungen59. Die Eigen56 Zwar verändert auch Gesetzgebung den Zustand des Rechtssystems - oft einschneidender, als dies Veränderungen der Rechtsprechung vermögen - , doch ist sie vor allem Handlungsimperativen des politischen Systems unterworfen (s. o., § 2 II. 2.). Folglich sagt die Gesetzgebungspraxis mehr über die Verhältnisse der Politik, als über den Zustand des Rechts aus, auch wenn sie letzteren natürlich beeinflußt. 57 Vgl. Luhmann 1995a: 245 ff.; zur Eigenwertbildung, s. o., § 4 VIII. 58 Garantiert die Schriftform auch nicht identische Textverständnisse, so ermöglicht sie bei geteilten kommunikativer Vergangenheiten doch Wahrscheinlichkeitsannahmen über Verständigung und Zustimmung. „Die Schriftform des Textes garantiert nicht unbedingt die Grenzen der Kühnheit des Interpretierens, wohl aber die Einheit des sozialen Zusammenhangs einer kommunikativen Episode" (Luhmann 1995a: 364). 59 Vgl. Luhmann 1991a; zum Phänomen systemspezifischer Zeiten s. o., § 1 V. sowie unter § 6 IV. 4., § 7 II. 3. c), § 8 I. 2. Ohne rechtliche Eigenwerte wäre der Alternativenraum gerichtlichen Entscheidens unbegrenzt, könnte beliebig entlang moralischer, ökonomischer und
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werte, entlang derer sich das jeweilige System reproduziert, können unterschiedlich stabil sein. Um unterschiedliche Aggregatzustände des Rechtssystems beschreiben zu können, unterscheide ich im folgenden zwischen Varietät und Redundanz 60. Etablierte Begriffs- und Regelverständnisse können in Frage gestellt werden. Der Entscheidungskette wird eine von bisherigen Normvorstellungen abweichende gerichtliche Entscheidung hinzugefügt, in der das neue Begriffsverständnis (neue Differenzierung, Einebnung einer alten Differenzierung) erklärt und gerechtfertigt wird. Der Sekundärtext wird neu gestaltet, indem zum alten Begriffsverständnis kommunikative Distanz eingenommen wird. Solch eine Entscheidungsbegründung enthält für jene, die sich an vorangegangenen Entscheidungen orientieren wollen, eine wesentliche Information, d. h. einen Unterschied, der vor dem Hintergrund bisheriger Kommunikationen „bei einem späteren Ereignis einen Unterschied macht"61. Sie ändert den Systemzustand und produziert einen Struktureffekt, auf den zukünftig im System mit darauf Bezug nehmender Kommunikation reagiert wird 62 . Jede Information ändert den Systemzustand. Diese Veränderung wird Varietät bezeichnet. Der Begriff drückt aus, daß sich die Systemkomplexität erhöht hat, die Anzahl und Verschiedenartigkeit „von Prozessen, die im System Informationsverarbeitungsprozesse auslösen"63 gestiegen ist und die Responsivität gegenüber der Umwelt erhöht wurde 64. Das Modell, mit dem innersystemisch die Vorstellungen des Systems von seiner Umwelt und sich selbst zwecks Eigenorientierung konstruiert werden, ist verändert worden. Zum Komplementärbegriff der Redundanz gelangt man, wenn man sich verdeutlicht, daß eine Vielzahl von Urteilsbegründungen keine neuen begrifflichen Veränderungen und keine neuen Argumentationen enthalten. Sie enthalten keine Information, die zu vorangegangenen Kommunikationen, also dem gegenwärtig bestehenden Systemzustand, einen Unterschied machen würde. Redundanz steht damit für Stabilität, Routine, generalisierte Erwartungsbildung und Rechtssicherheit, sie steht vor allem für systemspezifische Eigenwerte. Was an Regeln, Begriffen, Kategorien, Kriterien und Argumenten im rechtlichen Diskurs als Recht kommuniziert worden ist, kann als Recht mit Vorrang vor anderen Argumenten in die Begründung aufgenommen werden65. Wer also unter Rekurs auf vorfindliche Entindividueller Kriterien und Präferenzen entschieden werden. Auch die von der empirischen Rechtssoziologie betonte ,,Filterwirkung" der Anwälte entfiele teilweise. 60 Vgl. Luhmann 1995a: 352 ff.; 1995b: 27 ff. Bateson 1985: 488, vgl. dort auch S. 582 ff. 62 Vgl. Luhmann 1991a: 102. 63 Luhmann 1995b: 28. w Luhmann 1995b: 29. Teilweise wird auch synonym von Varianz gesprochen. 65 Ob man von rechtlichen Eigenwerten bereits nach einmaliger Aufnahme einer Argumentation oder Begriffsdifferenzierung sprechen kann, ist eine spannende Frage. Bei Urteilen höherer Instanzen kann man davon ausgehen, bei Urteilen unterer Gerichte dagegen erst nach mehreren bestätigenden Urteilen. Teilweise hängt dies vom Rechtsgebiet ab. Auffällig ist,
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scheidungsbegriindungen oder gegebenenfalls deren dogmatische Transformation redundant argumentiert, spart Zeit und Arbeit. Außerdem kann er, weil ja alles beim alten bleibt, wenigstens innerhalb des Rechtssystems (d. h. innerhalb der professionellen Interpretationsgemeinschaft) mit erhöhter Zustimmungsbereitschaft rechnen. Information wird durch Vertrauen ersetzt. Der Umstand, daß Urteile auch dann veröffentlicht werden, wenn sie hinsichtlich ihres Begriffs- und Regelgehalts sowie ihrer Argumente keine neuen Informationen enthalten, verweist darauf, daß allein der Umstand, daß sie in dieser (redundanten) Form ergangen sind, eine Information enthalten kann. Dies nämlich dann, wenn noch keine gefestigte Rechtsprechung existiert, sich noch keine hegemoniale Konvention herausgebildet hat. Dann kann der Umstand, daß ein anderes Gericht, mag es auch eines der untersten Instanz sein, gleichläufig entschieden hat, einen Informationsweit haben. Denn durch Berufung auf andere Gerichte läßt sich dann das Gewicht der eigenen Begründung verstärken 66. Spätestens wenn Obergerichte mehrmals gleichläufig entschieden haben, verschwindet dieser von der Neuheit des Begründungsinhalts unabhängige Informationswert in aller Regel67. Wichtig ist, daß Varietät durch Redundanz wieder eingeholt werden kann. Man bemüht etablierte, unstreitige Argumente, d. h. kommunikative Gemeinsamkeiten und damit Redundanz, um die Berechtigung kommunikativer Distanznahme zu belegen68. Mit Varietät wird auf Veränderung (Erlaß neuer Gesetze, neue zur Entscheidung gebrachte Fallkonstellationen) reagiert und Veränderung erzeugt. Argumentation dient dagegen dazu, „dem entgegenzuarbeiten und ausreichende Redundanz mit Hilfe von vorfindlichen Redundanzen wiederzugewinnen. ( . . . ) Mit Hilfe von Argumentation reduziert das System das eigene Überraschtwerden auf ein erträgliches Maß" 69 . Man begibt sich in eine gewisse kommunikative Distanz zum Begriff, genauer: seiner bisherigen Verwendung, gewinnt jedoch wieder Nähe, indem das rekursive Netzwerk einer gemeinsamen kommunikativen Vergangenheit der Interpretationsgemeinschaft zu seiner Beschreibung genutzt wird. „Die der daß im Mietrecht, einer Materie mit ausgeprägter Kautelaijurisprudenz, in den einschlägigen Kommentaren ausgiebig amtsgerichtliche Urteile zitiert werden - nicht um, wie in anderen Rechtsgebieten, die Diskussion durch ein außergewöhnliches Judikat zu eröffnen, sondern als Belegstelle, mit der eigene Argumentation abgekürzt oder/und verstärkt werden kann. 66 Unterinstanzliche Urteile mag man ignorieren, wenn man einer gefestigten Rechtsprechung der Obergerichte folgen will. Sie machen dann einen Unterschied, wenn man von einer solchen abweichen will. 67 Potentiell neue Fundstellen werden vom Wert „st. Rspr." aufgesogen. Ein Restbestand an Information kann bei bestätigenden Entscheidungen insoweit erhalten bleiben, als man ihnen entnehmen kann, daß nach wie vor wie gehabt entschieden wird. Die Aussage „Nichts Neues" enthält den Neuheitswert der Information. 68 Notfalls, das läßt sich u. a. an der Persönlichkeitsrechtsentwicklung der 50er und frühen 60er Jahre zeigen (siehe dazu unter § 10 HI.), weicht man auf die Begründungsangebote minoritär gebliebener Diskurstraditionen aus, die ihrerseits so weit wie möglich die gemeinsame kommunikative Vergangenheit bemühen. 69 Luhmann 1995b: 29.
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Variabilität des Rechts gesetzte »Grenze4", so Karl-Heinz Ladeur, „ist dadurch bestimmt, daß jede Rechtsnorm sich in die Kontinuität und Gleichförmigkeit des Rechtssystems einzuordnen hat. Jede neue Rechtsregel muß sich durch Reformulierung und Paraphrasierung auf den gesamten Komplex der verschiedenen hierarchischen Ebenen der Rechtsordnung beziehen, indem sie sich als vereinbar mit bzw. als Aufhebung, Abänderung, Ausnahme von früherem Recht präsentieren muß"70. Man kann nicht allzuviel an vorgängiger Gemeinsamkeit in Frage stellen. Ohne Redundanz löst sich jede Struktur, löst sich jede Stabilität, löst sich letztlich jedes System auf. Je größer die kommunikative Distanz, desto mehr andere Themenkomplexe, d. h. Begründungsmöglichkeiten für andere Entscheidungslagen, sind von der Veränderung potentiell betroffen. Um eine Kategorie für das Maß der Varianz zu gewinnen, mit der die inhaltlichen Veränderungen von Diskursen zum Analysegegenstand gemacht werden können, habe ich das Konzept der kommunikativen Distanz eingeführt 71. Je größer Varianz und kommunikative Distanz, mit desto weniger Zustimmung (und damit Überführung in Redundanz) kann man in der Regel im Rechtssystem rechnen. Damit komme ich zu den Kosten von Varietät und kommunikativer Distanz.
HL Die Kosten von Varietät und kommunikativer Distanz Kein Fall ist wie der andere. Doch wenn man mit geringem Aufwand beschreiben kann, daß der konkret zur Entscheidung stehende Fall gleich oder anders gelagert ist, wie ähnliche schon entschiedene Fälle oder die hegemoniale Vorstellung von einer typischen Fallkonstellation, so spart dies Zeit und Aufwand und macht eine Abnahme der Entscheidung wahrscheinlich. Läßt es sich nicht vermeiden, den Fall als im wesentlichen gleich zu beschreiben, kann man abweichen, anders differenzieren 72, als dies das bisherige durch Entscheidungsketten und Dogmatik eigenwertgesättigte Netzwerk von Regeln, Begriffen und Argumenten nahelegt. Das setzt jedoch voraus, daß Argumente zur Verfügung stehen, die die so eingenommene kommunikative Distanz klein halten. Man kann versuchen, früheren Entscheidungen Inkonsistenz nachzuweisen. Oder man versucht zu belegen, daß die eigene Entscheidung ein höheres Maß an Konsistenz beanspruchen kann, weil sie sich durch mehr oder/und bessere Argumente (die ihrerseits kommunikative Gemeinsamkeiten mobilisieren bzw. an diese anknüpfen) stützen läßt. Das Gewebe vorgängiger rechtlicher Kommunikationen kann also in Grenzen auch innovativ eingesetzt werden. Auf diese Weise ändert sich das Rechtssystem als Gesamtheit aller rechtlichen Kommunikationen nur allmählich und mit ihm erweitern oder ver70 Ladeur 1979: 347. 71 Damit werden zugleich die systemtheoretischen Kategorien (Varietät/Redundanz) an die eher handlungstheoretisch zu fassende Situation der Akteure (kommunikative Gemeinsamkeit/Distanz) rückgebunden. 72 Vgl. hierzu und Rest des Absatzes Luhmann 1995a: 367 f.
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engen sich die Entscheidungsspielräume in kleinen Schritten. Werden größere Spielräume für eine Entscheidung erforderlich, so sprengt dies manchmal die Möglichkeiten regelorientierter Diskurse. Es liegt dann nahe, auf andere, abstraktere Darstellungsformen auszuweichen. Aber dies hat dann negative Folgen: Die größere kommunikative Distanz senkt Zustimmungswahrscheinlichkeiten und steigert Zeit- und Arbeitsaufwand aufgrund gestiegener Darstellungslasten, die höhere Varietät reduziert die Stabilität des Rechtssystems, Redundanz, Erwartungssicherheit und Rechtssicherheit. Nicht unbedingt aus systemischen Funktionalitätserfordernissen, aber aus den constraintgesicherten Prämissen der Akteure heraus ergibt sich eine Präferenz für kommunikative Gemeinsamkeiten der Profession Redundanz, d. h. für Argumente, die durch ihren beständigen rekursiven Gebrauch im juristischen Diskurs als juristische Argumente, als Eigenwerte anerkannt sind. Man kann anhand der Rechtsentwicklung immer wieder verfolgen, daß begriffsund regeiförmig ausdifferenzierte Relevanzkriterien als bewährte Routinen ungern aufgegeben werden, vor allem dann, wenn die Neuerungen weitgehende Folgen für größere Teile des rekursiven Regelnetzwerks haben würden. Man ist bemüht, möglichst wenig und dieses so vorsichtig wie möglich zu verändern, bewährte Begriffe, Regeln und Klassifikationen für weitere Wiederholung (Redundanz) zu bewahren74. Die Entwicklung des Beweisrechts im Arzthaftungs- und Produkthaftungsrecht und die starke Bedeutungszunahme der Aufklärungspflichtverletzung als Ersatzhaftungsgrund könnte man unter diesem Aspekt folgendermaßen deuten: Es wird zwar teilweise durchaus erkannt, daß die Krux im Bereich des Kausalitätserfordernisses liegt. Kausalitätszurechnungen sind eng mit einem Modell linearen, vergangenheitsorientierten Denkens verknüpft. Sie bieten also kaum ausreichend trennscharfe Kriterien, um die Vielzahl von Fällen zu beurteilen, die im Zeitpunkt des Geschehens (und häufig nicht einmal ex post) umstandslos keine erfahrungsgestützte Hypothese über einen Folge-Wirkungs-Zusammenhang zulassen. Dennoch wird, um die eingefahrene Dogmatik nicht über die primär betroffenen Rechtsbereiche hinaus zu erschüttern75, am Kausalitätserfordernis festgehalten. Man löst das Problem, indem man auf Beweiserleichterungen und einen Ersatzhaftungsgrund 76 ausweicht, also Regelkonstrukte herstellt, die sich nach und 73 S. O., § 5. 74 Je ausdifferenzierter das Rechtssystem ist, desto einfacher ist das möglich. Das Besitzrecht des Mieters mag Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinn geworden sein (vgl. BVerfGE 89,1 /Ls., 5 ff.), sachenrechtlich bleibt er Besitzer und wird nicht etwa Berechtigter i.S.v. § 903 BGB. Bei Luhmann (1995a: 359 f.) ist in diesem Zusammenhang von einem „loose coupling" der Zusammenhänge zwischen verschiedenen Subkomplexen (Falltypen, Rechtsinstitute, Prinzipien) die Rede: Entscheidungen im einen Bereich dürften „nur in wenigen Hinsichten auf andere durchschlagen" (ebd.: 360). 75 Zur Rationalität dieses wichtigen Effekts von Dogmatik siehe J. Esser 1972b: 104 f. 76 Dies ist kein Argument gegen die dogmatische Begründung und keines in der Auseinandersetzung um die Ausdehnung persönlichkeitsrechtlicher Selbstbestimmung vs. Körperverletzungsdoktrin (vgl. Hart 1998: 308 ff.), sondern verweist auf ein rechtssoziologisch faßbares Hemmnis gegen grundlegende Umwertungen.
73
, für
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nach den spezifischen Erfordernissen des Regelungsbereichs anpassen lassen, ohne Fernwirkungen zu erzeugen. Zugleich bedeutet die Präferenz für rechtliche Regeln, Begriffe und Argumente, daß rechtsexterne Bewertungsmöglichkeiten und Argumente, mögen sie auch plausibel und einleuchtend erscheinen, als tendenziell unzulässig, nicht sagbar aus dem rechtlichen Diskurs ausgeschlossen sind. Sie können in den rechtlichen Diskurs eingeführt werden, jedoch nur unter erschwerten Bedingungen, weil es angesichts der Präferenz für rechtliche Argumentation vergleichsweise unwahrscheinlich (nicht: unmöglich!) ist, daß ihnen gefolgt wird. Nur in Ausnahmefällen werden rechtsfremde Wertungen umstandslos adaptiert, zum Beispiel über Blankettnormen, die auf außerrechtliche Wertungen verweisen. Die strikte systemtheoretische Trennung zwischen verschiedenen Subsystemen und Perspektiven läßt sich also allenfalls als Tendenzaussage mit approximativem Gehalt aufrechterhalten. Man kann dies am Unterschied zwischen rechtspolitischen und rechtlichen Argumenten verdeutlichen. Juristen ist es nicht verwehrt, sich auch rechtspolitischer Argumente zu bedienen, wie sie primär in öffentlichen und halböffentlichen Diskursen unter den Gesichtspunkten der Zweckhaftigkeit, Rationalität und Effektivität ausgetauscht werden. Rechtspolitische Argumente lassen sich in rechtliche Argumente umformulieren. Dies jedoch nur um den Preis erheblicher kommunikativer Distanz und das heißt: erheblichen Begründungsaufwandes. Um ein rechtspolitisches Argument in einen Ableitungszusammenhang zu Rechtstexten zu zwingen, müßte „auf ganz entfernte Konstruktionen zurückgegriffen werden, anhand derer sich die vermeintliche rechtliche Einordnungsmöglichkeit eines rechtspolitischen Arguments begründen ließe. Je höher dieser Begründungsaufwand liegt, um so eher wird sich das hierauf basierende Gerichtsurteil bei einer Nachprüfung durch höhere Instanzen und die Rechtswissenschaft nicht vertreten lassen, da es nur eine ganz geringe Unterstützung durch das geltende Recht erfährt." 77
IV. Der Stellenwert der Entscheidungsgründe für Rechtssicherheit, Erwartungsbildung und die Stabilität des Rechtssystems Die Kommunikationszusammenhänge des Rechtssystems reproduzieren sich demnach durch Entscheidungsbegründungen. Weil Begründungen auf den Prozeß der Entscheidungsfindung zurückwirken, kann man innerhalb bestimmter Grenzen für richterliches Handeln Wahrscheinlichkeitsprognosen aufstellen. Hier liegen der materiale Gehalt juristischer Vorstellungen von Rechtssicherheit und deren soziologisches Pendant, die Möglichkeit generalisierter (kontrafaktischer) Erwartungsbildung. 77 Langehbucher 1996: 11.
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1. Was bedeutet: Stabilität des Rechts? Mit Stabilität des Rechtssystems ist also nicht gemeint, daß jeder Einzelfall strikt determiniert wäre, sondern daß rechtsspezifische Strukturbildungen Kontingenz begrenzen. Die Ordnung regelorientierter Diskurse definiert Durchsetzungschancen von Begründungen und damit Entscheidungswahrscheinlichkeiten entlang von Eigenwerten. Auch grenzt sie ein weites Feld des im juristischen Diskurs nicht Begründbaren und damit der Entscheidungsmöglichkeiten aus. In dieser eingeschränkten Form besteht Stabilität, ist eine Bildung generalisierter rechtsorientierter Erwartung möglich, die über das Wissen, daß im Streitfall gerichtlich entschieden werden kann, erheblich hinausgeht. Man weiß, daß Richterinnen und Richter nur ungern und nicht ohne weiteres aus dem strukturellen Bezugsgerüst vorgängiger rechtlicher Kommunikation ausbrechen. Nicht Sicherheit, aber Wahrscheinlichkeit wird geboten.
2. Die Kontingenzrichterlicher Sachverhaltskonstruktion Von dem, was Stabilität des Rechts bedeuten kann, müssen weitere Abstriche gemacht werden. Ausgangspunkt der Überlegungen bleibt weiterhin, daß das in der Entscheidungsbegründung diskursiv Mögliche auf denrichterlichen EntscheidungsVorgang zurückwirkt, dessen Spielräume vorgibt, limitiert und dadurch diesem die wesentlichen Orientierungswerte liefert. Unmittelbar eingeschränkt wird damit allerdings nur eine Seite der Entscheidungsgenese: der Streit um den Regelungsgehalt der für einschlägig gehaltenen Normen 78. Die andere Seite, der Parteienstreit um das tatsächlich Geschehene, ist für die alltägliche Gerichtspraxis oft bedeutsamer79, nicht jedoch für unsere Betrachtung, die sich für die Mechanismen rechtlicher Entwicklung interessiert. Weshalb das so ist, bedarf der Begründung. Die Sachverhaltsermittlung als Anteil des gerichtlichen Entscheidungsprozesses entzieht sich anwaltlicher wie sonstiger juristischer Prognose relativ stark. Was die gegnerische Partei vortragen wird, ist oft nicht abzuschätzen. Wem die Richter Glauben schenken oder nicht und wie valide mögliche Beweismittel sind, ist ebenfalls schwer vorherzusagen. Anders als im Bereich der Entscheidungsgründe begrenzt die Ordnung materiellrechtlicher Diskurse die Begründungsmöglichkeiten weniger inhaltlich, sondern vor allem in Form prozeduraler Vorgaben, die das Prozeßrecht für den Ablauf der Sachverhaltsermittlung enthält. Nicht Normatives, sondern Faktisches wird im Sachverhalt erörtert. Wissen über Faktisches ist, wenn es nach den Kategorien alltäglicher Wahrnehmung oder jenen der Wissenschaft als „wahr" anzusehen ist, nicht rechtliche Bewertung, sondern deren Gegen78 Dieser Streit kann sich auf die Frage hin zuspitzen, welche Nonnen für den konkreten Fall einschlägig sind. 7 9 Ähnlich E. Schmidt 1980: 160 und 1985: 807.
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stand80. Tatsachen81 gelten im Recht unmittelbar, wenn sie die entsprechenden prozeduralen Filter (Parteivortrag, Sachverhaltsermittlung, Beweiserhebung und -bewertung) durchdrungen haben. Allerdings verläuft die Grenze zwischen Sachverhaltskonstruktion und Entscheidungsgründen weniger scharf, als die Ausführungen im vorstehenden Absatz nahelegen mögen. Auch dierichterliche Sachverhaltskonstruktion unterliegt Mechanismen, die auf einen starken, bis in den Bereich der Verhandlungsführung hineinwirkenden Einfluß materiellrechtlicher, dem Regeldiskurs verhafteter Eigenwerte, insbesondere von Präjudizien, schließen lassen. Schon der Umstand, daß Darlegungs- und Beweislast im Zivilprozeßrecht verteilt werden müssen - meist geschieht dies nach wie vor den materiellrechtlich normierten Anspruchsvoraussetzungen folgend wirkt in den Parteivortrag und dessenrichterliche Bewertung und Filterung hinein. Welche Tatsachen relevant und welche irrelevant sind, wird entlang bestehender Eigenwerte des materiellen Rechts entschieden82. Läßt sich der Sachverhalt durch Parteivortrag, richterliche Ermittlung und Beweiserhebung nicht rekonstruieren, kehrt man über Beweislastregeln zur Norminterpretation zurück. Wissen über Faktisches wird daher nicht nur über die prozeduralen prozeßrechtlichen Vorgaben, sondern auch über materielles Recht organisiert. Beide Ebenen werden im rechtsinternen normativen Diskurs fortwährend als Eigenwerte bestätigt und variiert. Auf diese Weise wird die Sachverhaltsseite rechtlichen Programmen angepaßt, wird also Kontingenz erheblich reduziert 83. Jedenfalls soweit Richterinnen und Richter an einem arbeitsökonomischen, routineförmigen Vorgehen und an Abnahme ihrer Entscheidungen interessiert sind, werden Strategien verfolgt, die regeiförmig durchstrukturierte Eigenwerte in Form von Präjudizien und festgefügter Dogmatik zur Voraussetzung haben und nutzen. Beispielsweise84 lassen sich komplexe Sachverhaltsvorträge mit Mitteln der Relationstechnik und der Beweislastverteilung eliminieren. Oder man weicht auf Anspruchsgrundlagen aus, die unumstrittener sind oder geringere Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung stellen. Solche Mechanismen, vor allem aber den wesentlichen Unterschied zwischen Entscheidungsgründen und Sachverhaltskonstruktion (Tatbestand) verkennt Haber80
Im Rechtssystem wird Recht von Nichtrecht unterschieden, wobei nur die Kommunikation über ersteres (in einem binären Code mit den Werten „Recht" und „Unrecht") als rechtliche qualifiziert werden kann (vgl. Luhmann 1995a: 60, 67, 85 f.). 81 Mit „Tatsachen" sind hier, in Abgrenzung zu den über den Einzelfall hinausgehend normative Wertungen konstituierenden Normtatsachen (vgl. E. Schmidt 1985; Rüssmann 1991; Danner 2001), Einzelfalltatsachen gemeint. 82 Hassemer beschreibt den Zusammenhang wie folgt: „Je zwingendere Kasuistik, desto zwingendere Festlegung der Sachverhaltsentscheidung vom Tatbestand her und desto stärkere Ausschaltung der lebendigen Wirklichkeit" (1968: 155, Fn. 19). 83 Vgl. Luhmann 1995a: 84 ff. w Zur Empirie vgl. Drosdeck 1997: 22 f., 26 f.; Schmid 1997a: 107 ff. und 1997b: 164 ff. Dies kann im Einzelfall beinhalten, entscheidungsorientiert bei der Sachverhaltskonstruktion zu „tricksen"; zurrichterlichen „Sachverhaltssteuerung" vgl. Bender 1980: 326; Hartwieg 1980: 342, 345, 348 ff.
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mas. Mit seinem zumindest als Tendenzaussage zutreffenden Hinweis, daß die interne Gerichtsberatung (also ein wesentlicher Teil des Entscheidungsprozesses) prozeßrechtlich ungeregelt sei 85 , setzt er umstandslos Beweiswürdigung und rechtliche Beurteilung gleich86. Beide Vorgänge, d. h. den , juristische(n) Diskurs des Gerichts" sieht er unter Berufung auf § 261 StPO „externen Einflußnahmen entzogen"87. Mit dieser Norm ist aber eben nur die Beweiswürdigung, also nur ein Teil richterlicher Sachverhaltskonstruktion erfaßt und von vorneuzeitlichen Beweisregeln entbunden. In ihrer rechtlichen Bewertung sind Richterinnen und Richter dagegen an materielles Recht gebunden, können also im Hinblick auf die Zwänge der Entscheidungsbegründung vorgängige rechtliche Kommunikation nicht ohne weiteres ignorieren. Wer aus eigener Anschauung weiß, wie Gerichtsberatungen (einschließlich informaler Situationen wie dem gemeinsamen Mittagstisch der Berufsrichter) ablaufen, wird nicht bestreiten, daß bei der Entscheidungsgenerierung unterschiedlichste Faktoren und Argumente auch nichtjuristischer Provenienz relevant werden. Er weiß aber auch, daß stets als zentrale Leitorientierung präsent ist und oft auch explizit Thema wird, was rechtlich begründbar ist und was nicht88. Und er weiß schließlich, daß diese Rückwirkung, von Ausnahmefallen abgesehen, im Bereich der Sachverhaltskonstruktion, für den die widerspruchsfreie Darstellung der persönlichenrichterlichen Überzeugung ausreicht, geringer und vermittelter ist, als in jenem der starken Konsistenzzwängen unterliegenden rechtlichen Würdigung. Was Richter im Einzelfall als gegeben oder nicht gegeben annehmen, mag Einfluß auf ihre Fallentscheidung haben. Es ändert aber nicht das Recht als kommunikativen Gesamtzusammenhang, der über die Entscheidung hinaus Anschlußhandeln ermöglicht. Die richterliche Sachverhaltskonstruktion in Berufung und Revision wird nicht entlang lebensweltlicher oder wissenschaftlicher Wahrheitskriterien, sondern unter dem Gesichtspunkt von Recht und Unrecht kommuniziert 89. Die prozeßexterne Folgekommunikation und damit die Veränderung des Rechts (d. h. des Systemzustandes) erfolgt als Kommunikation über Rechtliches. Aussagen über Fakten taugen nicht als Grundlage weiterer Entscheidungen oder von rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzungen über die Rechtslage. „Das System kann Tatsachen nicht als Nichttatsachen behandeln, wenn sie rechtlich 85 Die die gerichtliche Beratung prozedural strukturierenden §§192 ff. GVG berücksichtigt Habermas nicht. Dies tut seinem Gedankengang aber nur unwesentlich Abbruch, weil es ihm um das im Vergleich zur Verhandlungssituation unstrukturiertere Setting gerichtsinterner Argumentation geht. 86 Vgl. Habermas 1994: 288 ff. 87 Habermas 1994: 290 f. Allein schon die Fixierung auf Strafprozeß und Kollegialgerichte läßt eine von eher populären Vorstellungen geprägte und am justiziellen Alltag vorbeigehende Blickverengung erkennen. 88 Siehe auch Lautmann 1972: 191 ff.; s. o., § 5 m. 89 Rechtliche Kommunikation knüpft dann nicht an die Sachverhaltskonstruktion an, sondern bewertet piozeßrechtlich, ob der Sachverhalt so und nicht anders konstruiert werden mußte. Zudem sind Revisionsgerichte weitgehend an vorinstanzliche Tatsachenfeststellungen gebunden (§ 561 II ZPO a.F., § 559 ZPO).
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relevant sind. Aber die Tatsachen können die Normen nicht ändern."90 Demnach sind Vorgänge der Sachverhaltsermittlung für die Frage, wie stabil oder flexibel das Rechtssystem als Reproduktionszusammenhang ist, ohne wesentliche Bedeutung. Daher werde ich die Ermittlung von Sachverhalten im Fortgang der Untersuchung nicht weiter thematisieren, obwohl der Gerichtsalltag oft von Problemen der Sachverhaltsermittlung dominiert wird. Dennoch bleibt festzuhalten: Was Stabilität des Rechts, sieht man diese mit den Begriffen Rechtssicherheit und Erwartungsbildung verknüpft, im konkreten Streitfall ist bzw. sein kann, wird stets durch die vergleichsweise große Kontingenzrichterlicher Sachverhaltskonstruktion relativiert. Kein Anwalt kann Prozeßausgänge sicher prognostizieren, weil im Einzelfall in viel höherem Maße als die rechtliche Bewertung ungewiß sein kann, was dieser letztlich als Prozeßstoff zugrunde gelegt wird.
3. Die Bildung generalisierter, kontrafaktischer Erwartungen Es wurde bereits thematisiert, daß Alter und Ego nicht sicher wissen können, was der jeweils andere denkt, woran er sich orientiert und wie er handeln wird. Damit nicht jeder soziale Kontakt soriskant wird, daß er lieber unterlassen wird, stellt man sich in gedanklicher Vorwegnahme künftiger Handlungen und Ereignisse auf diese durch „Erwartungen" ein. Werden diese enttäuscht, so entsteht ein Konflikt, eine Diskrepanz zwischen der das Geschehen fiktiv vorwegnehmenden Erwartung und realem Geschehen. Der Konflikt muß in einer Weise aufgelöst werden, die ermöglicht, auch zukünftig durch Bildung von Erwartungen Handlungen und Ereignisse vorwegzunehmen. Zwei Möglichkeiten gibt es: Die Erwartung wird aufgegeben und korrigiert; es wird „gelernt", daß diese Erwartung falsch war. Man kann sie daher als „kognitive Erwartung" bezeichnen. Die Erwartung wird aufrechterhalten, weil die Enttäuschung nicht der Erwartungshaltung zugeschrieben wird, sondern dem dazu im Widerspruch stehenden faktischen Geschehen. Es handelt sich um eine „normative Erwartung". Trotz häufiger Diebstähle wird daran festgehalten, daß mit Diebstählen im Normalfall nicht zu rechnen ist. Normen sind also „kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen" 91. Kann man nicht generell darauf vertrauen, daß normative Erwartungen in der Regel erfüllt werden und bei allen oder bestimmbaren Gemeinschaftsmitgliedern bestehen („Erwartbarkeit von Erwartungen" 92), dann sind soziale Interaktion und Ordnung 90 Luhmann 1995a: 86; s. o., § 4 XI. Luhmann 1987: 43, 99. „Kontrafaktisch", weil sie trotz eines zuwiderlaufenden faktischen Geschehens aufrechterhalten werden. Zur Unterscheidung von kognitiven und normativen Erwartungen vgl. ebd.: 40 ff. 92 Vgl. Luhmann 1987: 31 ff. Das Wahrnehmungsfeld wird so erweitert und Komplexität erheblich reduziert, weil aus der Vielzahl möglicher Handlungen ohne größeren Zeitaufwand effektiver selektiert wird. 13 Maitra
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praktisch unmöglich. Das Recht stabilisiert normative Erwartungen und damit die Handlungskoordination, indem es sicherstellt, daß die generelle Erwartung bestimmter Handlungsverläufe, des Geschehens oder Nichtgeschehens bestimmter Ereignisse, allenfalls punktuell enttäuscht wird und damit im Enttäuschungsfalle nicht aufgegeben werden muß. Diese systemische Absicherung von Erwartungsbildung ist jedenfalls in modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften notwendig, in denen „Freiheiten nicht mehr durch gemeinsame Zielvorstellungen abgesichert sind"93. Zwar kann man schwerlich von einem Sozialmodell ausgehen, in dem rechtsstaatliche Eindeutigkeit planungsfähigen und planenden Individuen eine kalkulationsfähige Orientierung am Recht ermöglicht94. „Der nicht orientierte Bürger erfährt Recht i. d. R. erst als Reaktion auf Komplikationen und nicht als Verhaltensrichtlinie."95 Diesen Anteil rechtsorientierter Sicherheitserwartung, also die Gewißheit, im Streitfall mit einer an rechtlichen Kriterien orientierten gerichtlichen Entscheidung rechnen zu können, möchte ich als formelle Rechtssicherheit bezeichnen, weil sie zunächst einmal unabhängig davon ist, ob konkrete inhaltliche Erwartungen an den materiellen Gehalt des Rechts bestehen. Diese bloß prozedurale Garantie ist durch Rechtsschutzgarantie und Justizverweigerungsverbot gesichert. Hier geht es jedoch im wesentlichen um eine Sicherheitserwartung, die auf material bestimmbare Inhalte vom Recht gerichtet ist und sich an diesen orientiert, der also an materieller Rechtssicherheit gelegen ist. Sie ist für die juristische Praxis von wesentlicher Bedeutung und Voraussetzung dafür, daß formelle Rechtssicherheit existieren kann. Auch wer über keine oder nur geringe Rechtskenntnis verfügt, erwartet, daß im Streitfall am Recht orientiert entschieden werden kann und will vom Anwalt folglich „die Rechtslage" erfahren. Er erwartet, daß andere mit einer gewissen Eintrittssicherheit zumindest grobe Erwartungen formulieren können, wie konkrete Fälle rechtlich von den Gerichten entschieden werden, vor allem aber, wie sie ganz gewiß nicht entschieden werden. Könnten Anwältinnen und Anwälte grundsätzlich nicht in den meisten Fällen wenigstens überschlägig einschätzen, wie das gängige oder die Rechtsprechung dominierende Verständnis der für einschlägig erachteten Rechtstexte (also vor allem: Entscheidungsbegründungen und deren Rezeption in Rechtsprechung und Literatur) lautet, dann wären Prognosen völlig unmöglich. Nicht weniger orientieren sich Instanzgerichte daran, mit welchem Rechtsverständnis der Obergerichte zu rechnen ist. Die Vorstellung, es werde vor allem und in erster Linie nach rechtlichen Kriterien, also nicht nach Geld, Macht, Moral, der guten oder schlechten Laune der Entscheider, etc. ent93 Luhmann 1981b: 130. 94 Esser/Schmidt 1995: 13 (§ 1 II). 95 Esser/Schmidt 1995: 13 (§ 1 II). Eine ganze rechtssoziologische Spezialdisziplin, Knowledge and Opinion about Law (KOL), macht deutlich, daß die Rechtskenntnis juristischer Laien in vielen Bereichen zu gering und fragmentarisch ist, um Rechtssätzen dort umfassende Steuerungsleistungen zu unterstellen.
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schieden, beinhaltet notwendig, daß es wenigstens in einem Großteil der Fälle zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich ist, mit Blick auf die bisherigen rechtlichen Kommunikationen eine annähernde Sicherheit davon zu bekommen, wie groß die Bandbreite dessen ist, was sich gerichtlich als Entscheidung des Streitfalles rechtfertigen läßt. Indem es Verfahren zur kanalisierten Enttäuschungsabwicklung96 bietet und so Erwartungen gegen allzu häufige Enttäuschungen absichert, dient Recht der Aufrechterhaltung generalisierten Systemvertrauens. Gelten Rechtsnormen, so besteht die Wahrscheinlichkeit und damit die Erwartung ihrer Befolgung 97. „Vorkehrungen für den Umgang mit faktisch eingetretenen Enttäuschungen ( . . . ) gehören mit in den Erwartungskontext, sie sichern ihrerseits Erwartungen ab. Sie dienen aber auch dazu, die symbolische und faktische Tragweite unerwarteter Enttäuschungen abzuschwächen."98 Daß damit zugleich die Erwartbarkeit normativer Erwartungen gesichert wird, ist für die Selbststeuerung hochkomplexer sozialer Systeme erheblich wichtiger als die Gewährleistung der Erfüllung von Erwartungen 99.
4. Stabilität und systemische Reproduktion vor unterschiedlichen Zeithorizonten Stabilität ist für die systemische Reproduktion ausgesprochen wichtig. Nur sie ermöglicht rechtsintern wie -extern die Bildung von Erwartungen und Routine. Indem Irritationsquellen pfadabhängig begrenzt werden, wird das System von Rationalitätszumutungen entlastet: es kann auf gesteigerte Aufmerksamkeit für Alternativen und mögliche Konsequenzen (Entscheidungsfolgen) verzichten 100. Das System prägt so anhand systemspezifischer Eigenwerte eigene Zeithorizonte aus 101 . Wenn es sich verändert, also Varietät erzeugt, dann fallt dies nicht automatisch mit Ereignissen, die seine Umwelt verändern, zusammen. Die systemeigenen Beurteilungskriterien für die Entscheidung von Fällen (Eigenwerte) werden vor Luhmann 1987: 53 ff. Gesichert werden Rechtsnormen auch durch das staatliche Gewaltmonopol, d. h. die Möglichkeit, notfalls physische, von den Machtressourcen der Parteien unabhängige Gewalt anzuwenden (Luhmann 1987: 114 f.). 97
98
Luhmann 1991a: 453. Vgl. Luhmann 1987: 39, 115. 100 Vgl. j a pp 1996: 164 ff. Eigenwerte erzeugen systemspezifische Aufmerksamkeitspräferenzen (s. o., § 4 VIII.). Sie sorgen dafür, daß das Recht für Alternativen und Entscheidungsfolgen partiell blind ist. 99
101 Vgl. Luhmann 1974a: 25; 1991a: 70 ff., 253 ff.; 1995a: 426 ff., 441 f.; Hiller 1993: 31 ff. sowie unter § 1 V., § 1 VD., § 6 IV. 3., § 7 II. 3., § 7 IV., § 8 I. 2. Zwar läuft die Zeit für alle Systeme gleichzeitig, „aber zugleich können in diese Zeit unterschiedliche Unterscheidungen eingebracht werden mit der Folge, daß zum Beispiel Rechtsverfahren für Zwecke in der Wirtschaft (oder auch in der Politik) oft viel zu langsam und deshalb als Mechanismen der Herbeiführung von Entscheidungen nahezu unbrauchbar sein können" (Luhmann 1995a: 442). 13*
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ihrer fallspezifischen gerichtlichen Verarbeitung erzeugt. Sie können zwar ad hoc durch Erzeugung neuer oder Einebnung alter Differenzierungen verändert werden. Aber dies ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme, weil die damit verbundene kommunikative Distanznahme Kosten verursacht (Zeit, Arbeit, erhöhte Zustimmungsungewißheit). Darüber hinaus ist Veränderung nur möglich, wenn die systemeigene Kommunikation durch externe Anreize (Klagen) stimuliert wird oder Gesetzesänderungen erfolgen. Würden alle gesellschaftlichen Subsysteme vor identischen Zeithorizonten prozessieren, dann wäre Erwartungsbildung unmöglich. Stets müßte davon ausgegangen werden, daß andere Systeme sich zeitgleich mit den eigenen Veränderungen ebenfalls verändern.
V. Regelorientierte Diskurse als Stabilitätsgaranten im Rechtssystem Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die Regelform juristischer Normtexte im Zusammenspiel mit institutionell abgesicherten constraints und habituell verfestigten juristischen Begründungskonventionen einen stabilisierenden Effekt auf das Rechtssystem hat. Ich möchte so weit gehen, regelorientierte Diskurse als unverzichtbare Stabilitätsgaranten im Rechtssystem zu bezeichnen. Sie prägen rechtliche Normalität. Sie allein ermöglichen Erwartungsbildung, rechtsspezifische Rationalität und Routine. Regeldiskurse verfügen über eine Rationalität, die für Stabilität des Rechtssystems, materielle Rechtssicherheit und die Bildung generalisierter Erwartungen optiert. Soweit auf sie zur Begründung von Entscheidung zurückgegriffen werden muß, kann nicht das ganze Ensemble vorgängiger rechtlicher Kommunikation auf einmal, sondern stets nur weniges davon problematisiert und in Frage gestellt werden. Änderungsversuche bleiben auf einzelne Punkte beschränkt, destabilisieren also nicht das gesamte System. Dies erhält dem Rechtssystem seine eigene Rationalität, hermetisiert seine eigenen Wertungsgesichtpunkte und verhindert in der Regel, daß die zentrale Leitunterscheidung zwischen Recht und Unrecht umstandslos entlang rechtsfremder Kriterien getroffen werden kann. Damit bin ich am Endpunkt meines Versuchs angelangt, einen Teil jener Vorstellung von juristischen Eigenwerten zu retten, die in der Rede von mehr oder weniger strikter (konditionaler oder finaler) richterlicher Programmierung zum Ausdruck kommt. Das systemtheoretische Ausweichverhalten, mit dem die kommunizierenden Akteure ausgeblendet werden, mußte dabei zugunsten einer in Teilen handlungstheoretischen Perspektive aufgegeben werden. Sieht man das Rechtssystem darauf reduziert, daß es lediglich von Fall zu Fall selbstreferentiell Kommunikationen „ausflaggt" 102, kann man jene rechtsexternen Entscheidungsanteile, die über die in unterschiedliche Systemzusammenhänge eingebundenen Entschei102
s. o., Fn. 25.
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der in die systemische Reproduktion hineinwirken, nur schlecht erfassen. Diese Anteile aber spielen in jenen Fällen, in denen der Regeldiskurs verlassen wird, eine entscheidende Rolle. Ich werde diese These im Fortgang der Arbeit am Beispiel prinzipienorientierter Entscheidungen erläutern. Für den Moment interessiert noch der Regeldiskurs. Die Beliebigkeiten persönlicher Motivationen werden dort durch rechtsspezifische Präferenzen eingeschränkt - Präferenzen für konservative Argumentation entlang von konventionalen Textverständnissen, die aufgrund constraintgesicherter gemeinsamer kommunikativer Vergangenheiten als wahrscheinlich unterstellt werden können. Man kann sich dem Regeldiskurs entziehen, aber dies geschieht dann nicht kostenneutral. Hermeneutischen, anderweitig sprachwissenschaftlich orientierten und rechtsrealistischen Versuchen deutscher wie amerikanischer Provenienz103 wird damit ihr Erkenntniswert nicht abgesprochen. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Es wird nicht bestritten, daß außerrechtliche Determinantenrichterliches Entscheidungsverhalten ganz erheblich mitbestimmen. Man könnte jedoch geneigt sein, aus den Ergebnissen dieser Disziplinen den Schluß zu ziehen, daß die in dieser Weise „relativierte Eigenlogik des Rechts ( . . . ) nun vollständig unter einer »realistischen4 Beschreibung des Rechts"104 verschwinde und „die Rechtsproduktion der Vergangenheit ( . . . ) ihre Herrschaft über aktuelle Entscheidungen"105 verliere. M. E. wäre dies grundfalsch. Zumindest wenn man der vorstehenden Beschreibung der Mechanismen von Regeldiskursen folgt, läßt sich nicht in Abrede stellen, daß ein ganz erheblichen Anteil juristischer Alltagspraxis nicht zufällig und „irgendwie" entsprechend dem oben angesprochenen Unbestimmtheitsparadox „stabile Verhältnisse" herstellt 106, sondern daß es in soziologischen Kategorien beschreibbare Mechanismen gibt, die es rechtfertigen, von regelorientiertem Entscheidungsverhalten zu sprechen. Festzuhalten ist, daß Regeldiskurse zwar nur einen Teil, aber doch einen ganz erheblichen Teil der Ordnung juristischer Kommunikation prägen.
103 s. o., § 41. und II. 104 Habermas 1994: 246. 105 Habermas 1994: 246. 106 Vgl. o., § 4 m., das Zitat von C. Joerges bei Fn. 33.
Teil 3
Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modus richterlicher Normbildung § 7 Die Defizite juristischer Regeldiskurse angesichts der Dynamiken von Technikentwicklung und Risikokommunikation Im folgenden werde ich einige Überlegungen der §§ 1 und 2 aufgreifen. Die Risikoproblematik soll mit vorstehenden Ausführungen über regelorientierte Diskurse verknüpft werden. Ich möchte zeigen, weshalb rechtsexterne Risikokommunikation im Rechtssystem zu Entscheidungssituationen führen kann, in denen es naheliegt, rechtliche Begründungen nicht als Regelanwendung darzustellen, sondern auf abstraktere Rechtsformen, wie beispielsweise Prinzipien, zurückzugreifen.
I. Risikoregulierung durch Rechtsentscheidungen Am Ende von § 2 war angesprochen worden, daß das Rechtssystem oft mit Risikokonflikten konfrontiert ist, noch bevor eine rechtliche Regulierung dessen, was in technologisch neu erzeugten Handlungsfeldern öffentlich als Risiko kommuniziert wird, durch das politische System erfolgt ist. Auch kommt es vor, daß die im Rechtssystem aktuell konsentierten bzw. dominierenden Regel- und Begriffsverständnisse Entscheidungsspielräume vorgeben, die in außerrechtlichen Risikodiskursen kommunizierte Bewertungen und Wissensbestände nicht ausreichend berücksichtigen. Es kommt zu Spannungslagen zwischen Rechtssystem und anderen gesellschaftlichen Subsystemen, deren Dynamiken teilweise rechtlich ungebremst oder sogar gefördert ablaufen, weil sie sich im Rahmen rechtlich konstituierter und gesicherter Freiheitsgarantien halten.
1. Vertrauen und rechtliches Entscheiden Woran kann man sich bei Risikoentscheidungen orientieren? In jenen Handlungsfeldern, die durch die Möglichkeiten neuer Technologie überformt sind, sind Standardentscheidungen, die sich an einem halbwegs gefestigten Fundus von Er-
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fahrung, Wissen, Routinen und konsentierten Normen orientieren könnten, nicht möglich. Um vergangenheitsgestützt entscheiden zu können, benötigt man „nicht einfach »Erfahrung 4 und/oder »Wissen4, sondern sozial gestütztes Vertrauen 441, das diese tragen. Dieses Vertrauen ist teilweise erschüttert, insbesondere in den von extensiver Risikokommunikation durchzeichneten Bereichen moderner Technikanwendung2. Auf neu generiertes Wissen und darauf gestützte Prognosen kann man oft nicht, weil nicht vorhanden oder nicht unbestritten, zurückgreifen. Unsicherheit bedeutet demnach weniger Fehlen von Informationen, sondern mangelndes V trauen in vorhandene Information. Daraus folgt, daß durch mehr Information Unsicherheit nicht reduziert, sondern allenfalls verschoben, vertrauenserzeugend ausgeblendet werden kann, hineinverschoben in Latenzbereiche3, die die Thematisierung von Unsicherheit vom rechtlichen und massenmedial vermittelten öffentlichen Diskurs wenigstens zeitweise abkoppeln. Reduziert wird damit nicht primär Unsicherheit, sondern Kommunikation über Unsicherheit. Allenfalls darüber vermittelt wird Erwartungssicherheit durch Vertrauen wieder hergestellt. Typische Formeln, mit denen - auch im Recht - versucht wird, Latenz4 zu erhalten bzw. herzustellen, sind das „Restrisiko"5, die „(ungewollten) Nebenfolgen44, „höhere Gewalt44, „menschliches Versagen44, „soziale Adäquanz" sowie die Definition von Grenzwerten6. Mit dem Status der latenten Nebenfolge wird Gefährdung zugleich eingeräumt, ihr Fortbestehen aber legitimiert7 - als ungewollt, unvermeidlich, hinnehmbar. Ausgegrenzt wird dabei zumeist, was nach gängigen naturwissenschaftlichen Rationalitäten für undenkbar oder höchst unwahrscheinlich gehalten wird. Diskontinuitäten, plötzliche Veränderungen, Überraschungen, Unfälle, von denen man
1 Japp 1992: 38. Anders als normativ gestütztes Erwarten ist Vertrauen eine soziale Ressource, die bei Enttäuschung schwindet, sich also nicht kontrafaktisch stabilisieren läßt. Zu Vertrauen als sozialer Ressource vgl. Luhmann 1989b sowie Preisendörfer 1995; zum Zusammenhang von Vertrauen und Risiko siehe Luhmann 1991c: 132 ff.; Giddens 1995: 43 ff.; 102 ff.; zum Kontext Recht vgl. Rossen-Stadtfeld 1999. 2 s. o., § 21. 3. 3
Daß man die vermuteten Wissenslücken durch Beschaffung neuen oder anderen Wissens zu schließen vermag, kann man hoffen, aber nicht wissen. Ebensowenig weiß man, ob andere angesichts neuer Wissensstände mehr Vertrauen aufbringen. Fehlendes Vertrauen in vorhandene Informationen ist „nicht durch mehr oder bessere Informationen kompensierbar, sondern nur durch ( . . . ) Schließungseffekte gegenüber Zweifeln an der Solidität dieser Informationen, und das heißt, durch Produktion von Vertrauen auf der Basis begrenzter Information oder auch ,brauchbarem Un wissen'" (Japp 1996: 165; Hervorh. im Orig., D.M; vgl. ebd.: 85 ff.). Zur Herstellung von Vertrauen durch rechtliche Risikoentscheidungen vgl. Ladeur 1995: 16 ff., 141 ff.; zur Abstützung von Vertrauen durch Recht vgl. Rossen-Stadtfeld 1999: 226 ff. 4 Zum Begriff der Latenz als soziologischer Kategorie s. o., § 21. 3., bes. § 21. 3. c) und d). 5 Dem Bundesverfassungsgericht zufolge ist bei Technologien ein bestimmtes Restrisiko als „sozialadäquate Last" von allen Bürgern zu tragen; E 49, 89/137 ff. - Kalkar; vgl. hierzu Meder 1993: 253 ff. 6 Zum Problem der Vertrauenserzeugung durch Grenzwerte vgl. Ladeur 1995: 142 ff.; Luhmann 1997a. 7 Vgl. Beck 1986:45.
200 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
eigentlich wissen müßte, daß sie unvermeidbar sind, erhalten so den Status unwahrscheinlicher Ereignisse8, auf die man Entscheidungen nicht stützen kann, wenn man an naturwissenschaftliche Diskurse anschließt9. „Wenn ( . . . ) verlangt wird, daß Gefahren und Schäden »zumindest denkbar4 sein müssen, so wird das Element der nichtkalkulierbaren Überraschung aus dem Sicherheitsdiskurs eliminiert." 10 Wissen und Erfahrung scheiden damit als Orientierungsmaßstäbe zwar nicht aus, sie werden in vielen Fällen aber - mangels Vertrauen - nicht tragen. Wenn man entscheidet, dann fast zwangsläufig mit der Befürchtung, die Entscheidung könne überraschende Folgen zeitigen.
2. Wissensmaximierung und die Erzeugung von Vertrauen Dennoch bleibt es alltagspraktische Strategie von Gesetzgeber wie richterlichen Entscheidern, mehr und umfassendere Information, die Mobilisierung der gesellschaftlich verfügbaren Wissensbestände oder die Generierung weiteren Wissens anzustreben. Vordergründig mag sie auf Information zielen, aus soziologischer Perspektive zielt sie darauf, Vertrauen in Wissen als handlungsstützende Ressource wiederherzustellen. Etwas anderes bleibt auch gar nicht übrig 11. Wo Erfahrung und Konsens schwinden, bleibt das Recht auf die Fiktion angewiesen, durch Erhebung vorhandenen Wissens und Zusammenführung dezentral gelagerter Wissensbestände Unsicherheit reduzieren zu können. Es muß Prognosemöglichkeiten organisieren, auch wenn der umstandslose Rückzug auf Erfahrung oder kausaltheoretisch erzeugtes Wissen versperrt ist. Selbst wenn man - wie dies im Rahmen von entscheidungstheoretischen Konzepten einer bounded rationality geschieht in Rechnung stellt, „daß das Problem der Rationalität in ihrer Unerreichbarkeit liegt" 12 , kann man nicht umhin, rationale Entscheidungen anzustreben oder getroffene Entscheidungen als rational darzustellen. Akzeptanz und Erwartungssicher8 Vgl. Preuß 1994: 541. 9 Da in unserer Gesellschaft Wissenschaft für verbindliches wahres Wissen (nicht imbedingt: Wahrheit) primär zuständig ist (vgl. Luhmann 1994: 167 ff.), wird im Rechtssystem bei der Sachverhaltskonstruktion an Expertendiskurse und nicht etwa an die lebensweltlichen Laienperspektiven angeknüpft (zur unterschiedlichen Risikobewertung von Laien und Experten vgl. H.'P Peters 1991: 18 ff., 42 ff. und 1995: 245 ff.; Perrow 1989: 375 ff.; Evers/ Nowotny 1987: 41 f.; Hennen 1992: 190 ff.; Kemp 1993). Da letztere aber in öffentlichen Risikodiskursen präsent, teilweise prägend sind und der Expertenstatus zunehmend erschüttert wird (Beckmann 1993b: 258, 264 f.; Krohn/Krücken 1993a: 30 f.; Wagner 1994: 152), kann diese Präferenz dazu führen, daß Risikobewertungen der Rechtsprechung krass gegenläufig zu jenen sind, die in der öffentlichen Meinung vorherrschen. 10 Preuß 1994: 541; vgl. hierzu auch Reich 1989: 88 ff., bes. 99. n Wollte man die wissenstheoretisch valide Annahme, Sicherheit sei nie erreichbar, stets im Bewußtsein halten, so könnte man sich zu keinerlei Entscheidung aufraffen oder würde in wilden Voluntarismus verfallen. Beide Haltungen taugen weder zur Verständigung noch zur Orientierung. 12 Luhmann 1993a: 301.
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201
heit lassen sich mit dem offenen Eingeständnis, man entscheide, was die Folgen angehe, ,ins Blaue hinein4, schwerlich erzielen. Dagegen vermag die Überzeugung, zumindest einen erheblichen Teil allen gegenwärtig verfügbaren Wissens in die Entscheidungsfindung einbeziehen zu können, zu beruhigen. Sie kann in den allermeisten Fällen wenigstens vorläufig Vertrauen schaffen 13.
3. Stoppregeln Dies allerdings nicht ohne Grenzen. Solange Wissen angehäuft wird, kann nicht entschieden werden14. Daraus können andere Risiken entstehen. Rationalität und Informationsbeschaffung werden selbst riskant15. Vor allem aber: Wissen läßt sich nur in bestimmtem Umfang verarbeiten. Es muß selektiert werden. Ab einem bestimmten Zeitpunkt müssen neue Daten ignoriert werden, mit der Folge, daß die Entscheidung „zum Teil auf der Basis fiktiver Tatsachen und veralteter Beobachtungen getroffen" 16 wird. In der Regel gelangt man in den verschiedensten gesellschaftlichen Subsystemen an einen Punkt, an dem die Suche nach weiterer Information und Folgenerwägungen abgebrochen werden, weil man meint, den Bereich des Unwissens soweit minimiert zu haben, daß Vertrauen auf den vorhandenen Wissensbestand wieder gerechtfertigt ist. Das Problem, daß kein zuverlässiges Wissen existiert, wird über Stoppregeln17 gegen weiteres Räsonnieren in Latenzbereiche verschoben. An deren Grenzen orientiert sich, „was dann als sicher oder als unsicher kommuniziert werden kann. Dieser Prozeß führt - begleitet durch die sichtbare Übernahme von Verantwortung - im Normalfall zur Erneuerung von generalisiertem Vertrauen" 18. Bis auf weiteres wird dann darauf vertraut, daß 13 Die Vergabe von Vertrauen hängt von einer Vielzahl personenbezogener, kultureller und institutioneller Faktoren ab; vgl. Preisendörfer 1995. Wenn Vertrauen primär ein „Problem derriskantenVorleistung" (Luhmann 1989b: 23) ist, bei dem der Vertrauende durch Verzicht auf Kontrolle seine Verwundbarkeit steigert, dann liegt es nicht fern, zu vertrauen, wenn Entscheidung auf bestmöglicher Informationsgrundlage versprochen wird und dieses Versprechen institutionell (d. h. rechtlich) abgesichert scheint.
u So eindringlich Japp 1992: 35 ff. ,5 Vgl. Japp 1992: 35 ff. und 1996: 69 f. Abwarten zwecks Wissensgenerierung erzeugt andere Struktureffekte als schnelles gestaltendes Entscheiden (vgl. Japp 1992: 35). Das zeigt z. B. der Zeitverbrauch von Zulassungsverfahren im Arzneimittelrecht: Der Versuch, die Gefahr unerwünschter Nebenwirkungen zu minimieren, erhöht das Risiko, daß weniger Patienten von den intendierten Wirkungen profitieren (vgl. Krücken 1997: 117 f.) und droht, Patentschutz und Investitionen zu entwerten (vgl. Denninger 1989: 155). 16 Beckmann 1993b: 253. 17 Zum Begriff vgl. Ladeur 1995: 16 ff., 89 ff.; bei Luhmann ist von „Scheuklappen" die Rede (1974a: 35). Um ein Beispiel zu nennen: Stellt man auf den aktuellen „Stand der Technik" ab, stoppt dies die Informationssuche bei umweltrechtlichen Risikobewertungen; siehe Ladeur 1995: 215 f. 18 Japp 1997b: 92 [Hervorh. im Orig., D.M.], Das Zitat bezieht sich im Original nur auf Grenzwerte aus der Organisationsperspektive von Wirtschaftsunternehmen, läßt sich aber m. E. verallgemeinern.
202 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
Nachteile höchstwahrscheinlich nicht eintreten werden, wenn man sich an dem vorhandenen Wissen und den auf dieser Basis getroffenen Entscheidungen orientiert. Haben die Gerichte in höchster Instanz gesprochen, kann man wenigstens für die nähere Zukunft davon ausgehen, daß deren Leitlinien über Haftung, Gefahrtragungspflichten, Informationspflichten etc. fremdes Handeln orientieren und limitieren 19. Und dabei läßt man es - zunächst - bewenden.
4. Unsicherheitsabsorption durch Rechtsentscheidungen Rechtliche Entscheidungen transformieren also die Unsicherheit (was wird, was erwartet werden kann) in eine Form von Sicherheit, die zwar negative Folgen für die Zukunft nicht auszuschließen vermag - die Zukunft bleibt insofern als „Horizont der Unsicherheit" (Luhmann) erhalten und bestenfalls gelingt es, vertrauensvoll den Blick vom Horizont abzuwenden - , die aber Erwartungsbildung und damit weiteres Handeln zuläßt20. Unsicherheit läßt sich in dieser Weise absorbieren, weil rechtsförmige Entscheidungen verbindlich sind. Man weiß vorläufig, wie Gerichte Risiken zuordnen und Schäden gegebenenfalls zurechnen werden. Rechtsentscheidungen können damit dem eigenen Handeln bis auf weiteres als Entscheidungsprämissen zugrunde gelegt werden21. Mögliche Negativfolgen lassen sich zwar im Prozeß und in der materiellen Urteilsbegründung thematisieren, sie werden aber als Prämissen weiteren Handelns durch den Richterspruch rechtlich ausgeschlossen. Dieser tritt quasi an ihre Stelle und lenkt den Blick auf das, was zukünftig rechtlich verbindlich zu erwarten ist 22 . Auf verbindliche Entscheidungen, Risikoverantwortlichkeiten zuzuteilen, kann man nicht verzichten, auch wenn damit zukünftige Nachteile nicht ausgeschlossen werden können. Sich angesichts der ungewissen Zukunft risikoavers 23 zu verhalten, sich also nicht festzulegen, würde bedeuten, daß in bestimmten Bereichen keine handlungsorientierenden Erwartungen gebildet werden könnten. Man könnte sich auf nichts verlassen. Solche Situationen sind in der Regel auch subjektiv schlecht auszuhalten, weil Instabilitäten Angst erzeugen24. Nach einer Entschei19
Vom Problem rechtswidriger Ausweichstrategien sei hier einmal abgesehen. 20 Vgl. Luhmann 1990c: 136. 21 Ob dies stets im Sinne der Steuerungsintentionen der Entscheidenden geschieht, ist ein ganz anderes Problem, an dem sich eine ausgedehnte Steuerungsdebatte entzündet. Anstelle von Literaturhinweisen sei nur darauf hingewiesen, daß rechtsförmige Risikoentscheidungen oft ihren Intentionen zuwiderlaufende Reaktionen hervorrufen. Beispielsweise kann (unbegrenzte) Gefährdungshaftung anstelle verantwortungsvollen Produzentenhandelns zu Produktions- und Innovationseinbrüchen führen (vgl. hierzu Japp 1997b: 96 f. m. w. N.); zu kontraproduktiven Effekten von Grenzwerten vgl. Luhmann 1997a: 211 f. 22
Ähnliche Beschreibungen finden sich bei Luhmann 1993a: 294 ff. und Oppermann 1997: 170 f. 23 Zum Zusammenhang zwischen Risikoaversion, Rationalität und Sicherheit vgl. Japp 1992 und 1996: 67 ff. Vgl. Atmanspacher 1997.
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dung weiß man wenigstens in einer Hinsicht, woran man ist, und ist insofern beruhigt, kann sich orientieren, obwohl sich die Entscheidung als falsch erweisen kann. Unter dem Gesichtspunkt sozialer Stabilität ist es besser, schlechte Entscheidungen zu fällen, als gar keine. Entscheidungen ermöglichen in solchen Konstellationen vor allem ,»handlungsbefähigende Indifferenz gegenüber der Unsicherheit zukünftiger Konsequenzen und Präferenzen" 25.
II. Grenzen entscheidungsvermittelter Sicherheit Leider jedoch kann die so erzeugte vertrauensbasierte Sicherheit jederzeit erschüttert werden.
1. Synergetische Effekte rechtlicher Entscheidungen Gerichtsurteile regeln primär den Einzelfall, liegen also auf einer Mikroebene, auf der konkrete, lokal und situativ beschränkte Interaktionszusammenhänge verhandelt und entschieden werden, oft entlang einer individualistisch orientierten Handlungsrationalität. Durch eine die Einzelfalle generalisierende Präjudizienbildung erzielen diese Entscheidungen aber zugleich auf einer Makroebene Steuerungseffekte. Auf dieser Ebene sind etwaige Realfolgen 26 der Entscheidung viel schwerer überschau- und kalkulierbar, als jene über die unmittelbaren Rechtfolgen hinausreichenden mittelbaren Folgen, die sich für die Parteien selbst aus dem betreffenden Urteil ergeben. Die Entscheidung auf eine Ausweitung der ärztlichen Dokumentationspflicht oder der Aufklärungspflicht zu stützen, mag für den konkreten Einzelfall völlig überzeugend sein. Aber gerade wenn daraus, wie von Richtern höherer Instanzen sicher nicht selten intendiert, ein allgemeines Gebot resultiert, dessen Mißachtung Ärzte einem erhöhten Haftungsrisiko aussetzt, kann es leicht zu synergetischen Effekten kommen27: Reagieren viele potentiell Betroffene auf das Präjudiz unter eigenen strategischen Prämissen, können sich ihr Handeln bzw. die Folgen ihres Handelns auf der Makroebene hin zu unerwünschten Konsequenzen von struktureller ökonomischer oder anderweitig sozialer Bedeutung aufaddieren und potenzieren. Wird ein solcher Synergieeffekt sichtbar oder als wahrscheinlich erkannt, das heißt in wahrnehmbarer Weise öffentlich kommuniziert (im Beispiel etwa unter dem Schlagwort,JDefensivmedizin"), so entsteht u. U. 25 Japp 1996: 48 f. 26 Zum Begriff s. o., § 2 II. 2., Fn. 80. 27 Zum in komplexen Gesellschaften grundlegenden Zusammenhang zwischen auf der Basis individueller Handlungsrationalität getroffenen Entscheidungen auf der Mikroebene und synergetischen Effekten auf der soziologischen Makroebene vgl. Bühl 1995: 123 ff. Das Problem wird v. a. mit Hilfe spieltheoretischer Modelle unter dem ethischen Aspekt von Verantwortlichkeit diskutiert, vgl. Lenk/Maring 1990.
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zumindest bei einem Teil der Betroffenen ein Bedürfnis nach Nachsteuerung, also nach Beseitigung oder Ausdifferenzierung der erzeugten Regelung. Der Risikodiskurs wird neu belebt. Damit aber wird die entscheidungsvermittelte partielle Ausblendung von Risikoinformationen und -bewertungen ebenso gefährdet wie die Sicherheit, daß auf die Beständigkeit der einmal getroffenen Entscheidung vorerst vertraut werden kann.
2. Die Dynamik von Wissenschaft und Technikentwicklung Noch aus einem anderen Grunde können durch rechtliche Entscheidungen vermittelte Sicherheiten leicht erschüttert werden. Die hohe Dynamik von Wissenschaft und Technikentwicklung erzeugt einen erheblichen, potentiell Vertrauen in vorangegangene Regelungen destruierenden Unsicherheitsfaktor. Die moderne Gesellschaft ist durch ein exponentielles Wachstum von Wissenschaft und Technologie gekennzeichnet28, das aufgrund zunehmender informationeller Durchdringung aller Handlungsbereiche innerhalb sehr kurzer Zeitabstände in die gesellschaftliche Praxis hineinwirkt. Jede Entscheidung beruht damit zwangsläufig auf einer Datenbasis, die im Entscheidungszeitpunkt bereits fiktiv geworden ist, weil nicht davon ausgegangen werden kann, daß sie nicht bereits bzw. in nächster Zukunft überholt worden ist 29 . Stets muß damit gerechnet werden, daß derlei demnächst öffentlich kommuniziert wird und damit gesellschaftliche Realität ist.
3. Die diffuse Rückwirkung von Risikodiskursen auf das Rechtssystem Damit komme ich zum dritten Grund für die prekäre Labilität von Sicherheit, die durch Entscheidungen hergestellt wird. Die Kommunikation von neuem Wissen und Gegenbeobachtungen vermag Latenzbereiche jederzeit aufzubrechen, zumal der Dissens zwischen Entscheidern und Betroffenen struktureller Natur ist und auf Betroffenenseite Angstdynamiken mobilisieren kann30. Risikobewertungen beruhen auf Wertehaltungen und Präferenzmustern, die ihrerseits teilweise labil sind und außerdem von sozialen Kontexten und Prozessen abhängen31, so daß sich die Akzeptanz von Risiken spontan und unkalkulierbar ändern kann32. Gegenexperten 28
Siehe Spinner 1991: 95, der auf einschlägige Studien verweist, wonach „gemessen nach allen wichtigen Input- und Outputgrößen (Manpower und Mittel bzw. Publikationen und Patente)" eine durchschnittliche Verdopplungszeit von 10 bis 15 Jahren besteht. 29 Vgl. Bechmann 1993b: 253; siehe auch oben, § 71. 3. 30
Ich knüpfe an dieser Stelle v. a. an die Ausführungen unter § 21. 3. an. Douglas/Wildavsky 1993: 118 ff.; Rayner 1993; Japp 1992: 32, 44 ff.; 1996: 109 ff.; Evers/Nowotny 1987: 64 ff. 32 Siehe Krohn/Krücken Beck 1986: 102 ff.
1993a: 28 m. w. N.; zur Dynamik von Risikoanerkennung siehe
§ 7 Die Defizite juristischer Regeldiskurse
205
können die Urteilen zugrunde liegenden Informationen und Rationalitäten in Zweifel ziehen33, den opportunistischen Umgang mit wissenschaftlichem Wissen thematisieren und dieses damit selbst zur Unsicherheitsquelle machen34. Wissensbestände können sich als überholt oder falsch erweisen, Katastrophen die Rede von Restrisiken delegitimieren. Wo Gefahren sinnlich nur teilweise wahrnehmbar und zurechenbar sind, reißen neue wissenschaftliche Erkenntnisse neue Risikowahrnehmungen und Risikokommunikationen an. Selbst Gruppen mit schwachem Organisationsgrad oder geringer Verhandlungsmacht im Geflecht neokorporativer Akteure (z. B. Konsumenten oder Umweltgruppen) können, wenn sie sich auf die Medienlogik einlassen35, Risikodiskurse wenigstens zeitweise dominieren. Über Fernsehen und Presse und mittels medientypischer Dramatisierungseffekte vermögen sie Risikodiskurse erheblich in ihrem Sinne zu intensivieren.
a) Massenmedial vermittelte
Öffentlichkeit
und Risikodiskurse
An dieser Stelle sind einige Worte über den Anteil der Massenmedien an Risikodiskursen und Risikowahrnehmung angebracht. Individuelles Bewußtsein ist nicht monadologisch verfaßt, sondern schließt regelmäßig eine Erwartung dessen, was andere denken und ihrerseits an Einstellungen erwarten, ein. Ein nicht unerheblicher Anteil aktuellen Individualbewußtseins wird durch öffentliche Diskurse hergestellt, die ihrerseits primär durch Massenmedien vermittelt werden36. Dies ist angesichts des Zerfalls verbindlicher Weltbilder, gesellschaftlicher Differenzierung, zunehmender Individualisierung, der Partikularisierung individueller Lebenslagen sowie einer Ausweitung „kollektiven Wissens, über das keiner (auch nur annähernd, D.M.) ganz verfügt" 37, eine für Individuen wie Gesamtgesellschaft ganz erhebliche Orientierungsleistung. Hier vor allem werden kollektive Deutungen erzeugt oder wenigstens als relevante Dissense wahrnehmbar, hier wird „aus zuvor getrennten Bevölkerungssegmenten und Milieus eine »virtuelle Einheit 1 " 38 geformt und „eine Vorverständigung über die wichtigsten Ereignisse in der Welt eingespielt"39. Vor allem in dieser Arena wird Öffentlichkeit hergestellt, wird die „öffentliche Meinung"40 heraus- und abgebildet. Was in Radio, Fernsehen und 33 Zum Diskurs von Experten und Gegenexperten vgl. H.-P. Peters 1991: 24 ff. m. w. N.; van den Daele 1996. 34 Vgl. Lau 1989: 430 ff.; H.-P. Peters 1991: 28 ff.; zur Erschütterung des Expertenstatus vgl. Beckmann 1993b: 258,264 f.; Krohn/Krücken 1993a: 30 f.; Wagner 1994: 152. 35 Vgl. Jarren 1997; Luhmann 1997b: 862. 36 Kleinere Teilöffentlichkeiten (Gerichtssaal, Fachgremien, Stammtisch etc.) bleiben an dieser Stelle unberücksichtigt, ohne daß ihre Relevanz bestritten werden soll. 37 Ladeur 1991: 178,180; vgl. Rossen-Stadtfeld 1999: 223 ff. 38 Wehner 1997: 101. 39 Wehner 1997: 100. 40
Was „die öffentliche Meinung" ist, ist ebenso wie der Begriff der Öffentlichkeit (zu den zur Zeit diskutierten Modellen vgl. Benhabib 1991; Maresch 1995; Gerhards 1997: 3 ff.)
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Presse thematisiert wurde, ist allen bekannt oder kann doch zumindest als gemeinsames Wissen, ja als gemeinsame Realität unterstellt werden41. Daher lassen sich öffentliche Themen auf Dauer kaum ignorieren - weder von Individuen noch durch gesellschaftliche Subsysteme. Dies bleibt auch für Richter nicht ohne Folgen42. Würde sich das Rechtssystem vollständig und ausschließlich an eigenen Kommunikationen (d. h. den eigenen Regelgeflechten) orientieren, würde es sich abkoppeln von dem, was außerhalb des Rechts als gemeinsame Realität kommuniziert wird und damit mittelfristig dysfunktional 43. So gesehen trifft Habermas' Beschreibung zu, wonach die Öffentlichkeit in „komplexen Gesellschaften ( . . . ) eine intermediäre Struktur (bildet), die zwischen dem politischen System einerseits, den privaten Sektoren der Lebenswelt und funktional spezifizierten Handlungssystemen andererseits vermittelt"44. Massenmedial vermittelte Öffentlichkeit ist allerdings beileibe keine Arena, in der im Sinne eines demokratischen Diskurses berechtigte Anliegen von beliebigen Akteuren präsentiert werden könnten und im Medium der Vernunft alltagssprachlich um das bessere Argument gerungen würde. Massenmedien verfahren bei der Auswahl dessen, was vom lokalen Ereignis zur Nachricht transformiert wird, notwendigerweise hochgradig selektiv, und zwar nach ganz eigenen Kriterien für Präferenz und Präsentation45. Längst nicht alle sind als Akteure in den durch Massenmedien vermittelten öffentlichen Diskursen zugelassen und gleichermaßen
recht umstritten; vgl. Fuchs/Pfetsch 1996: 104 ff. Ich beschränke mich auf ein eher empirisch orientiertes Verständnis, nach dem „öffentliche Meinung" unabhängig von qualitativen Merkmalen das ist, was themenspezifisch als Ansicht einer relevanten Anzahl von Akteuren im öffentlichen Raum kommuniziert wird. Zwischen den pointierten politischen Positionen, die als Medieninhalt „Öffentlichkeit" herstellen, und der Meinungsverteilung in der Bevölkerung können erhebliche Unterschiede bestehen (vgl. H.-P. Peters 1991: 50 ff.). Vgl. Luhmann 1996a: 29, 43, 120 f.; Wehner 1997: 100 ff.; Fuchs/Pfetsch 1996: 104. Instruktiv zum öffentlichen Diskurs über Biotechnologien ist die Presseuntersuchung Biomacht und Medien des Duisburger Instituts fur Sprach- und Sozialforschung (Jäger et a 1997). 42
Von Richtern wird dies teilweise, wenn auch vorsichtig, eingeräumt. So hat etwa der Präsident des BGH, Günter Hirsch, ausgeführt: Der Richter „liest die Zeitung, er verfolgt die Nachrichten, er wird überflutet nicht nur von Informationen, sondern auch von Stellungnahmen. Und jede Stellungnahme, je nachdem von wem sie kommt, beabsichtigt natürlich eine subtile Einflußnahme auf ihn. ( . . . ) Der Richter muss Urteile fallen, die akzeptiert werden und nicht dazu führen, dass die öffentliche Meinung, die Bevölkerung ihre Justiz nicht mehr versteht und das Vertrauen in sie verliert." (2000: 536) Vgl. auch G. Hirsch 2001. 43 Eine solche Dysfunktionalität zeigt sich, wenn Konflikte unter Umgehung der Gerichte und gegenläufig zu rechtlichen Vorgaben ausgetragen und gelöst werden. 44 Habermas 1994: 451. « Vgl. Luhmann 1996a: 56 ff., 138 ff. und 1997: 1096 ff.; Maresch 1995: 405 f., 412; zu den „Verzerrungseffekten", die sich daraus für die Risikokommunikation ergeben, wenn Informationen aus und über den Wissenschaftsbereich in Nachrichten für ein Laienpublikum transformiert werden vgl. HP. Peters 1991: 56 ff. und 1995: 240 ff., 251 ff.; Dunwoody/Peters 1993: 320 ff.; Ruhrmann 1991: 19 ff.; Kepplinger 1991.
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präsent46. Ob und in welchem Umfang politische Themen in Massenmedien kommuniziert werden, hängt nicht allein von ihrer Bedeutung, sondern auch davon ab, inwieweit sie sich als marktgängig erweisen47. Von Belang sind u. a. Konflikte, Ereignisse mit Affektionswert, einem Bezug zu moralischen Bewertungen sowie Normverstöße und „schlechte Nachrichten"48. Berichte über (neue) Risiken sowie dagegen gerichtete Proteste sind also geradezu ein Idealfall der Medienberichterstattung. Auf den starken, mobilisierenden Angst- und Moralgehalt von Risikokommunikationen wurde bereits hingewiesen49. Man kann also nicht davon ausgehen, daß sich Gefahrenlagen oder wissenschaftliche Information über Gefährdungspotentiale linear in die öffentlichen Diskurse hineinverlagern, sondern muß mit spontanen, unvorhersehbaren Dynamiken und Aufmerksamkeitsschüben rechnen, die ihrerseits weitere Effekte erzeugen. Beispielsweise kann massenmedial gespiegelte Risikoinformation über Rückkoppelungsprozesse eine öffentliche Meinung produzieren, die jenseits der gewohnten sozialen Gruppengrenzen zu spontanen Solidarisierungsprozessen führt 50. Zusammenfassend läßt sich konstatieren, daß eine massenmedial vermittelte Öffentlichkeit in gänzlich unvorhersehbarer Weise Risikodiskurse erzeugt, filtert und verstärkt. Was aus Latenzbereichen heraus als relevantes Risiko auf die Tagesordnung öffentlicher Risikowahrnehmung gelangt, läßt sich also auch aus diesem Grunde (also nicht nur, weil überraschend Schäden eintreten, Katastrophen geschehen oder Wissen sich als falsch bzw. unzureichend erweist) nicht prognostizieren. Es läßt sich somit auch nicht ohne weiteres durch rechtlichen Vorgriff regulieren. Darunter leidet jede Rechtsfortbildung, unabhängig davon, ob sierichterlich oder durch die Legislative erfolgt. b) Rückwirkungen auf das Rechtssystem Somit ist unübersehbar, wann welche Risiken in Fachöffentlichkeiten oder in der politischen Öffentlichkeit der Massenmedien mit einer Intensität kommuniziert werden, die ein Ignorieren durch Gerichte unmöglich macht. Lautstark in die verschiedenen Arenen politischer Öffentlichkeit getragene Risikokommunikation zu ignorieren, erzeugt Delegitimationsgefahren, die über den akzeptanzerzeugenden 46 Dies widerlegt grundlegende Hypothesen normativer Konzeptionen deliberativer Demokratie und der Zivilgesellschaft sowie der Habermasschen Theorie diskursiver Öffentlichkeit (Habermas 1994: 435 ff., 1995c) und läßt sich empirisch nachweisen; vgl. Gerhards 1997: 16 ff.; Maresch 1995: 400 ff., 405 ff. 47 Neidhardt 1996: 79.
Vgl. Luhmann 1996a: 61 ff.
49 s.o., §21. 1.,§2H. 1. 50 Vgl. Lau 1989: 423, 425. Moderne Risiken können egalisierend über soziale Gruppengrenzen hinweg Betroffenheiten erzeugen; vgl. Beck 1986: 30, 48 ff.; Lau 1989: 425. Dies setzt die Abhängigkeit der Risikowahrnehmung von sozialen Kontexten nicht außer Kraft; vgl. o., §21. l.,Fn. 10.
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Effekt von Gerichtsverfahren 51 allein nicht wieder eingeholt werden können. Dies kann so weit gehen, daß öffentlich geäußerte Kritik indirekt auf den Gesetzgeber einwirkt. Als Beispiele öffentlicher Resonanz, die sich indirekt in das Rechtssystem hinein zu vermitteln droht, seien die gesetzgeberischen Überlegungen in Reaktion auf das sogenannte „Soldaten-Urteil"52, das „Deckert-Urteil" 53 des BGH, das „Kruzifix-Urteil" 54 des Bundesverfassungsgerichts und dessen Entscheidung zum Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder" 55 genannt56. Prekär wird die kommunikative Schließung des Rechts vor allem, weil Richterinnen und Richter als Personen emotiven und wertenden Gehalten von Risikokommunikation ausgesetzt sind57. Auseinandersetzungen um neue Risiken sind nicht zuletzt aufgrund „der hohen affektiven Besetzung der durch technologische Innovationen heraufbeschworenen Gefahren" 58 so heftig. Auf die egalisierenden und mobilisierenden Effekte risikobezogener Angstkommunikation hat Luhmann eindringlich hingewiesen59. Für rechtliche Zusammenhänge dürfte vor allem entscheidend sein, daß Angst „in der öffentlichen Rhetorik ( . . . ) zum Prinzip der Selbstbehauptung hochstilisiert wird" 60 und so „eine moralische Existenz (gewinnt, die es) zur Pflicht macht, sich Sorgen zu machen und zum Recht, Anteilnahme an Befürchtungen zu erwarten und Maßnahmen zur Abwendung von Gefahren zu fordern" 61.
51 Vgl. Luhmann 1989a: 55 ff. 52 LG Frankfurt NJW 1988, 2683 (nicht rechtskräftig, aufgehoben durch OLG Frankfurt NJW 1989, 1367 - Soldatenurteil I); zur Presserezeption vgl. Castendyk 1994: 265 ff.; vgl. femer BGH NJW 1989, 1365; BayObLG NJW 1991, 1493; OLG Frankfurt NJW 1991, 2032 - Soldatenurteil II. Die Soldaten-Urteile der Fachgerichte sind ein gutes Beispiel, weil die Fachgerichte teilweise unter eklatanter Mißachtung des etablierten Grundsatzes (Eigenwertes), daß Äußerungen über Kollektive ohne individuellen Bezug zum Klagenden nicht diesem zugeordnet werden dürfen, geurteilt und damit der im öffentlichen Diskurs wohl dominierenden Meinung entsprochen haben. 53 LG Mannheim NJW 1994, 2494 (nicht rechtskräftig, aufgehoben durch BGH NJW 1995, 340). 54 BVerfGE 93,1. 55 BVerfG NJW 1995, 3303. 56 Eine exemplarische qualitative Analyse der Presserezeption öffentlichkeitswirksamer Urteile aus der Zeit von Juli 1988 bis Ende Juni 1989 findet sich bei Castendyk 1994: 147 ff. 57 Die Ausdifferenzierung des Rechts dient auch der Immunisierung des Rechts gegen die öffentliche Meinung (vgl. Roellecke 1981: 72). Doch muß man eingestehen, daß es einen ungeregelten, „wilden Einfluß der öffentlichen Meinung auf das Recht gibt" (Roellecke 1981: 73). Hans A. Hesse und Peter Kauffmann meinen im Zusammenhang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu strukturellen Ungleichgewichtslagen (konkret: der Bürgschaftsrechtsprechung; Nachw. unten, Fn. 98), eine „Helfer-Attitüde hilfswilliger Juristen" (1995: 221) ausgemacht zu haben, die im „Kontext der modernen Gefahr und Krisendebatten" stehe (ebd.: 220) und entlang einer Täter-Opfer-Differenz verlaufe. 5« Lau 1989: 426 f. 59 Luhmann 1990b: 237; s. o., § 21. 1., § 2 II. 1. 60 Luhmann 1990b: 240. 61 Luhmann 1990b: 241.
§ 7 Die Defizite juristischer Regeldiskurse
209
c) Konkurrenz des Rechts zu vorgelagerten und parallelen Sinnstrukturen Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Recht und Moral und anderen außerrechtlichen normativen Orientierungen und Präferenzmustern. Zu letzteren ein Hinweis: Ich möchte die Frage des Verhältnisses zwischen rechtlichen und außerrechtlichen Sinnstrukturen nicht auf das Verhältnis von Recht und Moral reduzieren. Da längst nicht alle Bereiche rechtlicher Regulierung lebensweltlich durch moralische Vorstellungen präformiert sind62, seien neben Moralvorstellungen ausdrücklich noch andere Bewertungsmuster, andere systemspezifische normative Orientierungen erwähnt, die parallel oder gegenläufig zu rechtlichen Normierungen Handlungsfelder normativ strukturieren. Bereiche, die sich systemisch über generalisierte Medien (z. B. Macht, Geld, wissenschaftliche Wahrheit) entlang von Zweckrationalitäten reproduzieren 63 (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft), können zwar moralisch beurteilt werden. Doch gibt es starke Tendenzen, den dominierenden Rationalitätsgesichtspunkten in gewissen Ausmaßen einen moralfreien Raum zuzugestehen64. Wissenschaftler sollen wahrheitsorientiert forschen, Wirtschaftsunternehmen verlangt man nicht umstandslos ab, daß sich ihre Präferenzen in Übereinstimmung mit lebensweltlich präformierten Moralvorstellungen befinden. Allerdings wird man selbst in weitgehend moralfreien Sozialbereichen selten davon ausgehen können, daß keinerlei außerrechtliche Normen bestehen. Auch zweckrationale Bewertungsmuster haben in den betreffenden gesellschaftlichen Subsystemen orientierenden normativen Gehalt65. Zweifellos gibt es eine Beziehung zwischen rechtsexternen und rechtseigenen Normen. Moralvorstellungen und außerrechtliche Rationalitätsvorstellungen sind aus den Zusammenhängen rechtlichen Entscheidens kaum wegzudenken. Habermas ist der Auffassung, Recht verfüge, in unterschiedlicher Gewichtung, über moralische Gehalte66. Eine Einteilung rechtlicher Vorschriften, die es ermöglichen soll, diese nach ihrer sozialen Rationalität, also auch hinsichtlich moralischer Kriterien zu beurteilen, hat Bernhard Peters vorgenommen67. Habermas greift dies auf 62 Vgl. Ellscheid 1984: 36. w Vgl. hierzu Habermas 1995b: 489 ff. 64
Eine Forderung, die insofern selbst moralischen Gehalt hat, als sie auf Freiheit zielt. 65 Dies verkennt Ellscheid, wenn er für systemische Bereiche die Behauptung aufstellt, das Recht sei dort radikal positiv, weil es nicht auf sozialen Normen aufruhe (1984: 36). Diese haben möglicherweise eine geringere Verbindlichkeit, sind weniger affektiv besetzt und damit rechtlicher Regelung gegenüber weniger widerständig. Dies muß aber nicht so sein. Wer versucht, die Wirtschaft von Gewinnmaximierung abzuhalten, provoziert Ausweichstrategien und ein Regulierungskarthago. 66 Habermas 1994: 250 ff.; ähnlich bereits Habermas 1987: 6, 9 ff. 67 B. Peters 1991: 272 ff.; 282 ff.; Peters verfährt dabei differenzierter als Habermas. Er behauptet nicht, Recht enthalte moralische Normen, sondern lediglich, daß rechtliche Normen stets einer moralischen Beurteilung als moralisch zulässig /unzulässig, geboten oder notwendig unterzogen werden können (ebd.: 282). 14 Maitra
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und konstatiert, „daß die moralischen Gehalte über ein breites Spektrum variieren. Sie verdünnen sich bis zu einem Minimum, das darin besteht, daß für Rechtsnormen generell, und zwar unabhängig vom Norminhalt, Rechtsgehorsam erwartet wird. Ein Anzeichen für das relative Gewicht des moralischen Gehalts ist die Stärke der Reaktionen der Rechtsgenossen auf Gesetzesverstöße ( . . . )." 6 8 Primär ist für Habermas die moralische Substanz. Die Rede von Moral im Recht besagt für ihn „nicht mehr, als daß moralische Gehalte in den Rechtskode übersetzt und mit einem anderen Geltungsmodus ausgestattet werden"69. Diese Betrachtung des Verhältnisses von Recht und Moral ist m. E. nicht differenziert genug. Sicher trifft es zu, daß beim Erlaß von Rechtstexten moralische und andere Ordnungsvorstellungen bestehen, die sich in dem konkreten Regelungskonstrukt als Wertungsvorgaben für zukünftige Problemkonstellationen durchgesetzt haben und folglich - aus Sicht eines Norminterpreten - darin widerspiegeln. Auch dürften diese Wertvorstellungen entscheidenden Einfluß darauf haben, wie der Rechtstext verstanden wird und wie die weitere Rechtsentwicklung verläuft. Aber wenn man davon ausgeht, daß Recht nicht ein feststehender Inhalt, sondern eine Praxis ist 70 , deren Kommunikation ganz spezifischen Eigengesetzlichkeiten unterliegt, Eigenwerte und systemeigene Zeiten ausbildet, dann wird man nicht ohne weiteres unterstellen können, daß moralischer und rechtlicher Diskurs gleichläufig bleiben. Moral ist eben nicht im Recht aufgehoben. Moralische Anschauungen und wirtschaftliche Verständnisse von Rationalität verändern sich mit einer ganz eigenen Dynamik und vor ganz anderen Zeithorizonten als Recht. Dies kann in einer ausdifferenzierten, polykontexturalen Gesellschaft auch gar nicht anders sein. Denn es gibt nicht die Moral 71 , nicht die wirtschaftliche Rationalität. Recht, Moral und andere außerrechtliche Rationalitäten müssen entkoppelt werden, damit es ein Recht der Gesellschaft geben kann. Aus dem diffusen und inhomogenen Wirrwarr der verschiedenen, teilweise gegenläufigen außerrechtlichen Bewertungsmaßstäbe wird im politischen System (dort wiederum entlang von spezifischen internen Präferenzen) ein Normbestand selegiert, der generalisierte Erwartungsbildung ermöglicht und zur Not auch gegen die verschiedenen partikularen rechtsexternen Normbestände durchgehalten werden kann. Nur weil das Recht in Regeldiskursen eigene Redundanzen als Eigenwerte auszubilden vermag, kann vermieden werden, daß Richterinnen und Richter stets umstandslos 68 Habermas 1994: 251. 69 Habermas 1994: 252 f. 70 S. o., § 5 n. 2. c). 71 Am Beispiel bioethischer Diskurse hat Wolf gang van den Daele beschrieben, daß moralischer Konsens in modernen westlichen Gesellschaften so knapp und beschränkt auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner ist, daß sich jedenfalls extreme Regulierungsansprüche mit ihm kaum begründen lassen (1997: 86 ff.). Moralische Ansprüche gelten umso eher nur partikular, also ohne die Allgemeinheit innerlich zu binden, je höher und umfassender sie sind (1997: 86 f.; vgl. auch Döbert 1994).
§7 Die Defizite juristischer Regeldiskurse
211
spontan und vollständig entlang jenen außerrechtlichen Bewertungsmaßstäben entscheiden, die den ihren am nächsten liegen. Für persönliche Präferenzen bleiben im juristischen Alltagsgeschäft Spielräume, mehr nicht. Soll abgewichen werden, so ist dies möglich, aber, wie oben dargelegt, in der Regel nur in ganz engen Grenzen und nicht kostenlos. Zwar dürfte es zutreffen, daß Recht unter dem Gesichtspunkt der Akzeptanz darauf angewiesen ist, daß es sich inhaltlich nicht allzu weit von rechtsexternen, den betreffenden Handlungsbereich prägenden Moral- und Ordnungsvorstellungen entfernt, soweit es dort einen Kernbestand hegemonialer oder konvergierender Vorstellungen gibt. Aber diese sind nicht statisch und verändern sich versus Kommunikationen über Moral, über wirtschaftliches und soziales Handeln, über Ökologie und Menschenrechte, über die Gefahren moderner Technik etc. außerhalb des Rechts, nach anderen Präferenzmustern und vor anderen Zeithorizonten als rechtliche Kommunikationen. Neben den Möglichkeiten menschlichen Handelns und den sich daraus ergebenden regelungsbedürftigen Problemlagen ändert sich das Ensemble der außerrechtlichen Moral- und Ordnungsvorstellungen, das zur Zeit der ursprünglichen Wahrnehmung des Normtextes bestand. Bei Erlaß des Gesetzes minoritäre Ordnungsvorstellungen können im Laufe der Zeit zu hegemonialen werden. Machtgewichtungen, Interessenlagen und -gefüge wie auch die Problemkonstellationen, die ihnen zugrunde lagen, können sich erheblich verschieben. Dem Rechtssystem entsteht ein großes Problem dadurch, daß sich Veränderungen verschiedener normativer Bereichen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten vollziehen72. Wird die Schere zwischen jenem, was außerrechtlich und dem, was im Recht an Entscheidungsgesichtspunkten und Problembewertungen kommuniziert wird, zu weit, so verliert das tradierte Normverständnis, die Art und Weise, wie der Normtext von der juristischen Interpretationsgemeinschaft verstanden wurde, an Selbstverständlichkeit. Es wird problematisch73 - für die Normunterworfenen wie für die Rechtsanwender. Die parallel zum Recht bestehenden Moralund Ordnungsvorstellungen wirken sich auf einmal im rechtlichen Diskurs wahrnehmbar auf die Diskussionen des Textverständnisses von Rechtsnormen aus74. Sind im Umfeld jenes Bereiches, den zu regeln die Norm nach bisherigem Ver72 Systemtheoretisch gesprochen: die verschiedenen gesellschaftlichen Subsysteme wie auch die mit ihnen strukturell gekoppelten Bewußtseinssysteme prozessieren trotz einheitlicher Chronologie, Gleichzeitigkeit des Geschehens vor jeweils eigenen Zeithorizonten; siehe oben § 1 V., § 6IV. 4. 73 Vgl. hierzu Larenz 1991: 162. 74 Dafür gibt es einen rechtsspezifischen, tradierten Modus der Argumentation: den Willen des Gesetzgebers. Man rekurriert für die Auslegung auf außerrechtliche Bewertungsvorstellungen des (mehr oder minder fiktiven) historischen oder eines fiktiven „objektiven" gegenwärtigen Gesetzgebers. So wird Varietät erzeugt und sogleich wieder auf Redundanz umgeschwenkt, weil am Ende eine Regelauslegung (Konditionalnorm) steht, auf die in späteren Entscheidungen Bezug genommen werden kann. 14*
212 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
ständnis diente, neue Fälle zu entscheiden oder treten neue, als ähnlich wahrgenommene Konstellationen hinzu, so muß eine Neuverständigung über den zukünftigen Sprachgebrauch erfolgen. Denn gerichtliche Entscheidungen müssen sich weiterhin argumentativ an den Wortgebrauch des Normtextes anbinden lassen. Dieser Vorgang der Neuverständigung ist, weil angesichts gewandelter Verhältnisse fast immer gegenläufige Interessen und Wertungsgesichtspunkte vorhanden sind, meist ein konflikthafter. Damit gewinnt der Umstand an Bedeutung, daß - etwas umgangssprachlich formuliert - Richterinnen und Richter „auch nur Menschen sind". Sie sind stets in verschiedene Sinnhorizonte involviert. Nur einer davon ist ein rechtlicher. Zwar ist in ihrem Habitus aufgrund beruflicher Sozialisation für den beruflichen Kontext eine gewisse - zumindest nach außen zu vermittelnde - Indifferenz gegenüber außerrechtlichen Vorstellungen, die sich nicht ohne weiteres als gesetzgeberische Intention ausmachen lassen, angelegt75. Andererseits ist das juristische Selbstbild legiert mit Vorstellungen sachgerechten Entscheidens. Das richterliche Selbstverständnis hat sich in den vergangenen Jahrzehnten entscheidend verändert 76. Ob man so weit gehen soll zu behaupten, „der Richter" sei „sich mehr und mehr seiner Rolle als »Sozialingenieur4 und seiner Bedeutung für Sozialsteuerung und Innovation bewußt"77, sei dahingestellt. Hier soll zunächst die Feststellung genügen, daß zumindest in Teilen der Richterschaft „ein gesteigertes Bewußtsein von der Problematik des Richtigen"78 besteht, das eine kritische Distanz zur Rationalität rechtlicher Diskurse einschließt79. Dies dürfte es schwierig machen, sich dauerhaft rechtsexternen Realitätsbewertungen zu entziehen, wenn diese sich eindringlich als herrschende gesellschaftliche Meinung präsentieren, ubiquitär kommuniziert werden und mit den Entscheidungsmöglichkeiten, die das bisherige juristische Textverständnis zuläßt, unvereinbar erscheinen. An Traditionen, mögen es auch Texttraditionen sein, knüpft man im Zeitalter einer „reflexiven Moderne" (Giddens) nicht mehr umstandslos an - auch nicht als Richter 80. Tendenziell müssen 75 s.o., §5111. 1. b) und c). 76 Vgl. Deckert 1995: 26 f. 77 Decken 1995: 26. 78 Kißler 1984: 54. 79 Vgl. hierzu die Darstellungen bei Decken 1995: 26 ff. und Kißler 1984: 53 ff. In einer jüngeren Studie hat man unterschiedliche richterliche Entscheidungspräferenzen untersucht und dabei festgestellt, daß Richterinnen und Richter mit einer stärker problemorientierten Prozeßführung eine höhere Neigung aufwiesen, rechtsfremde Informationen, Problemlösungsstrategien und Ziele einzubeziehen, als solche, für die die Ökonomie der Prozeßführung im Vordergrund stand. Letztere hatten tendenziell ein höheres Dienstalter und neigten stärker dazu, sich an rechtssystemspezifischen Vorgaben, wie der h. M. und Präjudizien, zu orientieren (Schmid 1997a: 83 ff.). 80 Folgt man Richard Münch (1992: 68), so war die Immunisierung rechtlichen Staatshandelns gegen Kritik weitgehend abhängig von der Wirklichkeitserzeugenden Rechtsinterpretation eines homogenen und gegen externe Deutungen resistenten traditionsgeprägten Juristenstandes. Davon kann angesichts der Differenzierung der Lebenslagen und einer weit-
§ 7 Die Defizite juristischer Regeldiskurse
213
sich im öffentlichen Raum heute alle Traditionen diskursiv nebeneinander behaupten 81 . Damit wird die Fraglosigkeit von Traditionen, die eine wesentliche Stütze jeglicher Routinisierung der Handlungsorientierung darstellen, prekär. „Eine Praktik aus Traditionsgründen zu sanktionieren, geht nicht mehr an. Die Tradition läßt sich zwar rechtfertigen, aber nur im Hinblick auf Erkenntnisse, die ihrerseits nicht durch Tradition beglaubigt sind. ( . . . ) Die Reflexivität des Lebens in der modernen Gesellschaft besteht darin, daß soziale Praktiken ständig im Hinblick auf einlaufende Informationen über ebendiese Praktiken überprüft und verbessert werden, so daß ihr Charakter grundlegend verändert wird." 82 Das Rechtssystem läßt sich dagegen nicht immunisieren. Auch rechtliche Texttraditionen werden von den Rechtsanwendern permanent in Abgleich mit rechtsexternen Rationalitäten gebracht. „Das Vorverständnis, dessen ein Jurist bedarf 4, so ist in einem gängigen Lehrbuch der Methodenlehre zu lesen, „bezieht sich nicht nur auf die ,Sache Recht4, die Sprache, in der von ihr die Rede ist und den Überlieferungszusammenhang, in dem die Rechtstexte, die Gerichtsentscheidungen, die gebräuchlichsten Argumente immer stehen, sondern ebenso auf die sozialen Zusammenhänge, auf die Interessenlagen, die Strukturen der Lebensverhältnisse, auf die sich die Rechtsnormen beziehen. Der Jurist, der von den anderen Aspekten nichts in den Blick bekommt, wird auch ihre rechtliche Regelung nicht verstehen"83. In dieser normativ formulierten Aussage spiegelt sich ein wichtiger Teilaspekt juristischer Praxis wieder. Solch eine Reflexivität muß zwangsläufig auf dierichterliche Handlungsorientierung und damit auf die Stabilität rechtlicher Regeldiskurse sowie auf deren Eignung, rechtliche Eigenwertbildungen gegen außerrechtliche Wertungskriterien zu hermetisieren, zurückwirken. Man kommt demnach nicht umhin, dem „subjektiven Faktor" einen erheblichen Anteil an systemischer Reproduktion zuzubilligen, auch wenn man den Eigengesetzlichkeiten der verschiedenen Subsysteme ein großes Gewicht beimißt. Nur so läßt sich die allmähliche Veränderung der Rechtsprechung im persönlichkeitsrechtlichen Bereich erklären: In einem Oszillieren zwischen juristischer Texttradition und außerrechtlicher Problemwahrnehmung (Gefährdung von Privatheit durch technische und gesellschaftliche Entwicklung) einer sich mehr und mehr auf Individualität umwertenden Gesellschaft. Dazu jedoch später. Mir scheint jedenfalls, daß man den Widerspruch, daß Recht und Moral bzw. andere außerrechtliche Bewertungsmaßstäbe einerseits geschieden sind und trotzdem außerrechtliche Argumentationsmuster ins Recht diffundieren können, nicht anders erklären kann. Bleibt man auf einer Ebene außerhalb der Subjekte, kann man den Widerspruch gehenden politisierenden Thematisierung weiter Bereiche von Gesetzgebung und Rechtsprechung in öffentlichen Diskursen kaum mehr die Rede sein. Zur beschränkten Reichweite dieser auf die soziale Rekrutierung des juristischen Personals abstellenden Erklärung s. o., § 5 in. 3. c). 81 Grundlegend hierzu Giddens 1995. «2 Giddens 1995: 54. «3 Larenz 1991: 209.
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nur in die eine oder in die andere Richtung auflösen: mit Habermas oder Dworkin in sog. hard cases zugunsten eines Primats der Moral oder, das wäre die andere Spielart, in Richtung auf ein Primat des Rechts. Zu nennen sind hier Versuche, angesichts von Güterabwägungen das bereits von Franz Neumann84 neu aufgelegte Klagelied Max Webers85 über „Kadi-Justiz" und den Verfall formaler Rationalität erneut zu intonieren86. Auch Luhmanns Plädoyers für ein strikt aus gesellschaftlichen Wertzusammenhängen ausdifferenziertes positives Recht, dessen „Eigenwerte" stark zu machen seien87, tendiert in diese Richtung88.
d) Double-Bind-Situationen
bei der gerichtlichen Entscheidung
An diesem Punkt wird deutlich, daß das, was Luhmann lapidar als die „personalen Strukturen des Entscheidungsprozesses"89 oder das „finstere Innere" der Gedanken psychischer Systeme90 bezeichnet, nicht ohne Bedeutung ist. Richter wie andere Teilnehmer an gerichtlicher Interaktion können sich solchen Kommunikationen nicht schlechthin entziehen. Sie sind als Personen, als ,3ewußtseinssysteme", als Rollenträger, die nicht nur kognitiv, sondern auch affektiv geleitet werden 91, in unterschiedlichste System- und Kommunikationszusammenhänge einbezogen. Wer könnte sich heute noch der einstmals völlig bestrittenen Vorstellung globaler Klimaerwärmung entziehen? Nichts anderes dürfte für die Kommunikation über Atomkraft, Gentechnik, Informationstechnik, aber auch für Themenbereiche wie AIDS, BSE, Prominentenausspähung, Rechtschreibreform, etc. gelten. Daher kann es kaum ohne Folgen für gerichtliche Entscheidungen bleiben, wenn in der außerrechtlichen Kommunikation Latenzbereiche aufgebrochen und rechtsexterne Rationalitäten und Wertungen intensiv thematisiert werden, die sich zu jenen gegenläufig verhalten, die bisherige Gerichtsentscheidungen bestimmten oder wenigstens parallel zum Normprogramm liefen. Ich komme damit zu einer zentralen Annahme der Arbeit, die im Fortgang am Beispiel der Persönlichkeitsrechte noch etwas zugespitzt werden wird: Informationslagen und Wahrnehmungsmuster öffentlicher Risikodiskurse, die bestehenden rechtlichen Regelungen zuwiderlaufen, führen ab einem bestimmten Intensitätsw Neumarm 1986/1937. w Weber 1980: 470 f., 507. 86 Statt vieler H Hesse 1994: 150 ff. und 2001: 191 ff.; siehe dazu auch unten, § 81.1. a) aa). 87 Vgl. Luhmann 1995b: 33 f. 88 Oft waren bei Luhmann Überlegungen zu juristischen Werte- und Interessenabwägungen mit der Befürchtung willkürhaften Opportunismus4 verknüpft (1991a: 434,1995a: 230 f., 397 f.; 1974a: 32 f., 48,1995b: 32 ff.). In jüngeren Veröffentlichungen deutete sich eine differenziertere Einschätzung an (1993b: 17 ff.). 89 Luhmann 1987: 232. 90 s. o., § 61. 2., Fn. 19; zum Problem siehe die Ausführungen unter § 61. 3. 91 s. o., § 5 HI. 1. b) und c).
§ 7 Die Defizite juristischer Regeldiskurse
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grad, zumal sie teilweise durch die Parteien in den Prozeß eingeführt werden 92 , zu einer Double-Bind-Situation für richterliche Entscheider. Double-Bind-Situationen sind dadurch gekennzeichnet, daß Individuen aus den vielfaltigen Erfahrungs- und Handlungskontexten, in die sie eingebunden sind, einander widersprechende Handlungsimperative erhalten. Folge sind innere Konflikte 93 . Wann sich rechtsexterne Kommunikation im Problem eines konkret zu entscheidenden Einzelfalls so intensiv spiegelt, daß von einer Double-Bind-Situation die Rede sein kann, und wann dies zu offenen Brüchen mit bestehenden Rechtsverständnissen führt 94 , läßt sich in soziologischen Kategorien nur eingeschränkt fassen 95 . Dies hängt von komplexen Zusammenhängen und nicht zuletzt individuell verschiedenen Wahrnehmungs- und Bewertungsfaktoren ab. Zu den konstituierenden Faktoren solcher Situationen zählen die von lebensgeschichtlichen Prägungen abhängigen Persönlichkeitsstrukturen und Wahrnehmungspräferenzen, Aspekte emotionaler Betroffenheit und der soziale Kontext, also z. B. Gruppendynamiken in Richterkollegien und unmittelbarem Umfeld (peer groups). Daher wäre es verfehlt, ein simples lineares Reiz-Reaktions-Schema zwischen Mediendarstellung und Rezeption zu unterstellen.
92
Dem können Richterinnen und Richter zwar u. U. durch das Verdikt rechtlicher Irrelevanz entgegentreten, doch entgehen sie damit nicht dem Zwang, diese Gesichtspunkte persönlich wahrzunehmen. 93 Die dem Begriff zugrunde liegende Hypothese, die erheblich komplexer als ihr von der Soziologie rezipierter Kerngehalt ist, wurde Mitte der 50er Jahre von Gregory Bateson (1985: 270 ff., 321 ff., 353 ff.) u. a. zur Erklärung schizophrenen und neurotischen Verhaltens entwickelt. Double-Bind-Situationen sind nicht ohne weiteres aufzulösen, sondern schaffen Dilemmata, die Kommunikation verunmöglichen. Im vorliegenden Zusammenhang wird angenommen, daß die Dilemmata auflösbar sind, weil Richterinnen und Richter professionelle Strategien des Umgangs mit solchen Konfliktsituationen entwickeln und diese zudem nicht annähernd das affektuale Belastungspotential wie psychopathologische Konstellationen haben. 94 Das Problem ist alt und hat mit modernen Risiken, Risikowahrnehmung oder Risikokommunikation zunächst einmal nichts zu tun. Immer wieder treten Fallkonstellationen auf, in denen rechtsexterne Bewertungen in eine Double-Bind-Situation hineinführen. In ganz ähnlicher Weise sehen beispielsweise Bender (1980: 324 ff.) und Hartwieg (1980: 343, 346 f.) Dissonanzen zwischen Judiz bzw. Rechtsgefühl und den die Muster routinemäßigen Entscheidens prägenden formellen Programmen als Auslöserrichterrechtlicher Innovation. Ein gutes Beispiel für die Legierung persönlicher Wahrnehmung mit veränderten allgemeinen Anschauungen und daraus resultierender richterlicher Rechtsfortbildung rekonstruiert H. Hesse (1994: 155 ff.) anhand des „Gemüseblattfalls" (BGHZ 66, 51). Was in unserem Kontext neu hinzutritt, ist der Umstand, daß zu den internalisierten richterlichen Bewertungspräferenzen vermittelt über Risikokommunikation neue externe Weitungen vergleichsweise kurzfristig relevant werden können. 9 5 Selbst die Möglichkeit teilnehmender Beobachtung, wie sie Lautmann (1972) bei Gerichtsberatungen vorgenommen hat, stößt hier auf Grenzen. Man kann aber beispielsweise versuchen, anhand einer Vielzahl von Fällenrichterliche Entscheidungspräferenzen in Abhängigkeit zu anderen Variablen zu beschreiben (so z. B. die Studie von Schmid/Drosdeck/ Koch 1997; vgl. auch § 5).
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m . Regeldiskurse im Interferenzbereich gegenläufiger Rationalitäten und Risikobewertungen Gunther Teubner hat solche Mechanismen systemtheoretisch als „Interferenzphänomene" beschrieben. Danach koexistieren „funktionale Teilsysteme ( . . . ) nicht säuberlich separiert, sozusagen räumlich nebeneinander, sondern in mindestens zwei Interferenzbereichen: Kommunikationen nehmen gleichzeitig an mehreren autopoietischen Kreisläufen teil und Personen agieren in verschiedenen Systemzusammenhängen."96 Es kommt zu Situationen, in denen Richterinnen und Richter Entscheidungen treffen, die mit den Konsistenzzwängen, die ihnen die einschlägigen rekursiven Regelnetzwerke für die zu erbringende Entscheidungsdarstellung auferlegen, nicht in Einklang zu bringen sind. Die DoubleBind-Situation wird zu Lasten der Anforderungen des rechtsspezifischen Regeldiskurses aufgelöst. Ulrich Krüger verdanke ich den wertvollen Hinweis, daß zu diesem Zweck in Urteilsberatungen, allerdings nicht in Entscheidungsbegründungen, gerne auf eine spezielle Gerechtigkeitsnorm zurückgegriffen wird: Art. 1 der mecklenburgischen Landesverfassung, der da lauten soll: „Wie helfen wir der armen Frau?" Dies zeigt viererlei: Erstens, daß die system- und rollenspezifische professionelle Präferenz für die Grenzen regelorientierter Begründbarkeiten in Situationen, die emotional eine Identifikation mit einer Partei nahelegen, gefährdet ist. Zweitens, daß solche Situationen so häufig auftreten, daß eine auf sie bezogene Redewendung entstanden ist. Drittens, daß die Bereitschaft verbreitet ist, den Normbruch, nicht regelorientiert zu entscheiden, innerhalb der peer group zu thematisieren und die Situation, ohne Sanktionen befürchten zu müssen, durch Billigkeitsüberlegungen zu entschärfen. Und viertens, daß dies mit einem gewissen Vergnügen geschieht - in psychoanalytischen Kategorien: mit einer Mischung aus Lust, ein Verbot zu übertreten, der nazistischen Befriedigung, dieses Vorgehen fachgerecht zu beherrschen und dabei „edel, hilfreich und gut" zu sein sowie der Erleichterung, die unangenehme Double-Bind-Situatuion ungestraft zugunsten persönlicher Über-Ich-Präferenzen auflösen zu können. Zwar besteht meist die Möglichkeit, auf ungewöhnliche, aber nach professionellem Verständnis noch vertretbare regelorientierte Argumente zurückzugreifen. Der Nachteil: erhöhter Zeit- und Begründungsaufwand verbunden mit einem erhöhten Risiko, keine Zustimmung zu finden 97. Ein solches besteht, da im juristischen Diskurs Konsistenzforderungen sehr ernst genommen werden und Bestandteil des internalisierten professionellen Habitus sind, und zwar selbst dann, wenn das Ergebnis „gefällt", weil es mit gemeinsamen lebensweltlichen, vielleicht auch schichtspezifischen Vorstellungen und Präferenzen übereinstimmt. Da rekursive Regelnetzwerke meist sehr komplexe Strukturen sind, in denen jedes einzelne Be96 Teubner 1989: 126. 97 s. o., § 6 m.
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griffselement vielfältig mit anderen verknüpft ist, führt das Herausbrechen eines Elements (genauer: die Umdefinition seiner Bedeutung, seines Zeichenwerts) zu möglicherweise ungewollten Konsequenzen für andere Elemente, ja das ganze begriffliche Teilsystem. Die von Billigkeitsüberlegungen geleiteten Bürgschaftsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 98 und die sich anschließende heftige Diskussion können als Beleg dafür gelten, wie zwiespältig und riskant (für das Rechtssystem) dieser Ausweg aus dem Dilemma sein kann99. Ein Gericht der unteren Instanzen hätte ein viel höheres Risiko getragen, sich mit einer solchen Rechtsprechung nicht durchsetzen zu können, als das mit Autorität ausgestattete Bundesgericht, dessen Entscheidungen ohne die institutionalisierten Abnahmezwänge des Instanzenwegs unter blauem Himmel ergehen. Etwas einfacher ist die Situation, wenn auf Zweckprogramme, beispielsweise Generalklauseln ausgewichen werden kann. Weil hier auf den Einzelfall hin konkretisiert werden soll und darf, sind Konsistenzbrüche eher zu vermeiden. Außerdem können rechtsexterne Sachargumente unmittelbar in den rechtlichen Diskurs eingefühlt werden. Hier besteht die Möglichkeit, ganz offen, unter Inanspruchnahme eines Prädikats, das dem juristischen Selbstverständnis wertvoll ist, dem des sachgerechten Handelns, Argumente anzuführen, die mit weitgehend konsentierten rechtsexternen Wertorientierungen übereinstimmen. Auf diese Weise Zustimmung der juristischen Diskursgemeinschaft zu erlangen, kann unter Umständen erfolgversprechender sein, als wenn offene Konsistenzbrüche begründet werden müssen. Darüber hinaus dürfte es für Entscheider attraktiver sein, einleuchtende Sachgesichtspunkte zu benennen, als diese mit dogmatischen Erwägungen zu verdecken, die ihnen in der konkreten Situation als ihrer Sachgerechtigkeit beraubte Scheinargumente erscheinen müssen. Der Rückgriff auf Zweckprogramme oder auch die Abwägung „rechtlich geschützter Interessen" oder von Grundrechten (d. h. Rechtsprinzipen) ermöglichen derlei Begründungen in Formen der Rechtssprache. Sie verdecken einerseits ihre Geburt aus dem Geiste rechtsfremder Wertung, zugleich verwandeln sie fremde Problembeschreibungen und -lösungen in Recht. Für nachfolgende Entscheidungen werden die so erzeugten Patterns anschlußfahig. War es vorher nur eine Gemeinheit, die kaum volljährige 98 BVerfGE 89, 214 (gegen BGH NJW 1989, 1605; erneute Entsch. nach Zurückverw. BGH NJW 1994, 341); BVerfG FamRZ 1995, 23 (gegen BGHZ 107, 92). Zur Entwicklung der Rspr. vgl. Medicus 1999: 834 f.; Krüger 2002: 856 f. Das Verfassungsgericht folgt im Ergebnis einer „Theorie der gestörten Vertragsparität" (Gernhuber), die unter Hinweis auf Machtdisparitäten beim Vertragsschluß den Schutz des Schwächeren fordert (vgl. Esser/ Schmidt 1995: 8 ff., 18 ff., 33 f., 58 f., 62 (§ 1 ü, IV, § 2 II, § 3 V). Unter Berufung auf die Grundrechte (BVerfGE 89, 214/231) wird mit den Konsistenzerfordernissen vorgängiger zivilrechtlicher Regelverständnisse gebrochen. Es handelt sich um ökonomische Erwägungen, die sich also nicht vorrangig an den Eigenwerten zivilrechtlicher Regelkonstrukte orientieren. 99 Die Kritik (statt vieler Zöllner 1996; Hesse/Kaufmann 1995; jew. m. w. N.) beklagt v. a. den Verlust formaler Rationalität (Hesse/Kaufmann 1995: 221 f.; H. Hesse 2001: 191 ff.) und Berechenbarkeit (Medicus 1999: 833, 837).
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Tochter ohne eigenes Einkommen selbstschuldnerisch für ein Darlehen haften zu lassen, also (aus Verbrauchersicht) ein Verstoß gegen moralische Normen, so ist es nun in der Regel ein Verstoß gegen nebenvertragliche Obhuts- oder Aufklärungspflichten. Es gibt also zwei Möglichkeiten, die beschriebenen Double-Bind-Situationen im Rechtssystem aufzulösen: Entweder nimmt man innerhalb des jeweiligen Regeldiskürses größere kommunikative Distanz zu bestehenden Eigenwerten ein und überbrückt diese mit Hilfe des vorhandenen Ensembles dogmatischer, also eigenwertgesättigter Argumente. So kann man etwa versuchen, auch die radikal veränderte Auslegung eines Begriffs oder einer Regel des Zivilrechts mit spezifisch zivilrechtlichen Argumenten zu rechtfertigen. Damit verbleibt man im Rahmen rechtsspezifischer kommunikativer Gemeinsamkeiten. Oder man bricht mit aktuell vorherrschenden Begriffsverständnissen vorgängiger Regeldiskurse und greift dabei auf unbestimmteres Recht (Zweckprogramme, Abwägung von Prinzipien) 100 und rechtsexterne Argumentationen zurück. Beide Wege schließen sich nicht völlig aus. Oftmals tauchen rechtsexterne „Sachargumente" als Hilfserwägungen einer Ergebniskontrolle hinter der dogmatisch-systemischen Argumentformation auf oder lassen sich auf dem Umweg der Sachverhaltsbewertung in die Subsumtion einbauen.
Kehren wir zum Problem Risikokommunikation zurück. Werden in rechtsexternen, öffentlichen Diskursen neue Risikolagen und Wertungen, Gesichtspunkte, Problemlösungen und moralische Positionen kommuniziert, so kann dies eine Intensität erreichen, der sich die in unterschiedlichen Systembezügen agierenden Richterinnen und Richter nicht ohne weiteres entziehen können. Dieses Problem tritt in neu entstandenen Handlungsbereichen auf, es tritt auf, wo erstmals gefährdendes Verhalten bestimmten Akteuren zugerechnet werden kann, und es zeigt sich, wo die Latenzbereiche bisheriger rechtlicher Regelungen aufgrund neuer Thematisierung aufbrechen. Wenn zutrifft, daß es „in der Gesellschaft keine einheitliche Bewertung von Risiken und keine Konsenschancen für eine einheitlich Risikopolitik" 101 gibt, dann bleibt die Selektivität jeder Risikoentscheidung, auch der rechtsförmig getroffenen, „mit all ihren zeitlichen und sozialen Folgen erhalten. ( . . . ) Was heute als akzeptabel gilt, muß nicht morgen gelten"102. Wichtig für unseren Zusammenhang erscheint mir Laus Hinweis, daß für traditionelle Risiken in der Regel soziale (berufliche, religiöse, normative, rituelle) Handlungsstrategien und Deutungsmuster bestehen, mit denen sich diese bewältigen lassen103. Dazu gehören auch die institutionalisierten versicherungs- und vertragsförmigen Absicherungen sowie die dahinter stehenden und ergänzenden recht100 Bei Luhmann (1974a: 32) und Ladeur (1991: 182) ist von einem höheren Abstraktionsniveau die Rede. 101 Bechmann 1993b: 262 [Hervorh. im Orig., D.M.]. 102 Bechmann 1993b: 264. 103 Lau 1989: 425 f.
§ 7 Die Defizite juristischer Regeldiskurse
219
liehen Regulierungen. Bei neuen Risiken haben sich dagegen oft noch keine auf sie passenden sozialen Muster des Umgangs ausprägen können104. Sie erzeugen damit über ihre Schadensdimension hinaus Instabilität und Angst 105 . Komplexität und Dynamik der Technikentwicklung und die aus ihr resultierenden Überformungen gesellschaftlicher Handlungsbereiche verhindern, daß sich schnell und ohne weiteres stabile Zustände mit entsprechenden sozialen Regulierungsmechanismen (constraints) einstellen können. In dieser Phase der Instabilität haben unter Umständen schon „minimale Fluktuationen oder Störungen Einfluß auf die Entwicklung eines Systems ( . . . ) - Fluktuationen, die sich, zumal in komplexen Systemen, jeglicher Möglichkeit einer sicheren Voraussicht entziehen."106. Verschränkt man resümierend die handlungstheoretische Sicht mit einer systemtheoretischen, dann wird folgendes deutlich: Allein mit den eigenwertspezifischen Programmelementen systemeigener Kommunikation lassen sich nicht alle Entscheidungen begründen, die rechtsextern kommunizierte Problembewertungen und Entscheidungsmöglichkeiten nahelegen. Dies kann zu Double-Bind-Situationen führen, weil das Personal des Rechtssystems nicht nur andere Systemzusammenhänge beobachtet (Wirtschaft, Politik), sondern externen Rationalitäten und Zielvorstellungen nicht unbeteiligt gegenübersteht. Beobachtung und Operationen von Personal und Rechtssystem sind - in der Sprache der Systemtheorie - „strukturell gekoppelt"107. Das bedeutet, daß die Beobachtungen und Operationen des Systems zugleich individuelle Beobachtungen und Entscheidungen sind. Aus dieser Sicht wirkt es sich als Störung, als „Irritation" des Rechtssystems („noise") aus, wenn das Personal seinen rechtsförmigen Entscheidungen Beobachtungen und Präferenzen zugrunde legt, die sich mit bestehender rechtlicher Kommunikation, also dem vorgängigen Regelverständnis der juristischen Profession nicht decken108. Mit anderen Worten: „Die geschlossen selbstreferentiell produzierten Rechtswirklichkeiten des Formalrechts geraten in Konflikt mit den realen Operationen ihrer Umweltsysteme"109. Um einer „Resonanzkatastrophe" (Teubner) zu entgehen, tendiert das Rechtssystem in der Praxis dazu, sich den rechtsexternen Umwelten situativ anzupassen, also systemfremde Problembeschreibungen und Lösungen über gene-
10
* Dies ist auch die Ausgangshypothese von Evers/Nowotny (1987), in gewisser Weise wohl auch jene Luhmanns, der im Untertitel seines Werks Ökologische Kommunikation (1990b) die Frage aufwirft, ob sich die moderne Gesellschaft auf ökologische Gefährdungen einstellen kann. 105 Vgl. Atmanspacher 1997. 106
Atmanspacher 1997. Zum Begriff vgl. Luhmann 1995a: 440 ff. Als Rechtssystem werden hier die Judikative und rechtswissenschaftliche Diskurse, nicht aber die Legislative verstanden; s. o., § 2 II. 2. los Vgl. Teubner 1989: 126 f. 109 Teubner 1989: 128. Unter „Umweltsystemen" dürfte ein Doppeltes zu verstehen sein: Zum einen die anderen gesellschaftlichen Subsysteme, zum anderen das juristische Personal, der Rechtsstab (wenn man Luhmanns Ansatz folgen will, wonach Subjekte nicht Elemente, sondern Umwelten sozialer Systeme sind). 107
220 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
relie Folgenerwägungen, policy-Gesichtspunkte und Effizienzkriterien zu übernehmen, zugleich aber in den Rechtscode Recht/Unrecht zu transformieren 110. Die rechtsfremden Argumentationen werden zu Recht, indem sie in Rechtsform (Urteilen) als Recht kommuniziert werden. Es kommt zu Sinnimporten, die mit Aufnahme in systemspezifischen Sinn transformiert werden, also für weitere rechtliche Kommunikation anschlußfähig sind. Ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung gab es vor der bahnbrechenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ebensowenig, wie ein allgemeines Persönlichkeitsrecht vor den einschlägigen Urteilen des BGH in den 50er Jahren. Nachdem diese Urteile ergangen waren, konnte man sie zwar noch kritisieren. Sie waren aber für die Begründungen späterer Rechtsentscheidungen anschlußfähig, weil in Rechtsform gegossen. Man konnte zumindest mit den in Tenor und tragenden Gründen enthaltenen Aussagen und Argumenten andere Urteile begründen - mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auf Zustimmung/Abnahme im System rechtlicher Kommunikation. Mir erscheint eine Überlegung Helmut Wiesenthals zum „Lernen" von Organisationen sehr plausibel und auf gesellschaftliche Subsysteme übertragbar zu sein. In Abgrenzung zu Luhmann, der Sinntransfer über Systemgrenzen hinweg für undenkbar hält 111 , sieht Wiesenthal „die Vorstellung von verläßlich überwachten Organisationsgrenzen, die durch Zugehörigkeitsregeln konstituiert und durch einen Sinngraben vor Umweltzumutungen geschützt sind, ( . . . ) gelegentlich empirisch in Frage gestellt"112. Er geht statt dessen von folgendem aus: „Provoziert hohe Umweltunsicherheit einen hohen und unstillbaren Orientierungsbedarf, so werden u. U. auch die Identität verbürgenden Annahmen von Ambiguität erfaßt. Wenn Organisationen genötigt sind, sich auf unerwartete Umweltereignisse einzulassen (statt sich hinter ihren Konventionen zu verschanzen, müssen sie u. U. Einbußen an ihrer Fähigkeit zur Kontrolle der Organisation-Umwelt-Grenze erleiden. Bei diffusen Grenzen verlieren jedoch die exklusiven Orientierungen an Instinktivität und es kann zu Sinnimporten kommen, die nicht auf ihre Verträglichkeit mit den core beliefs getestet sind."113 Folge solcher „mangelnden Verträglichkeit mit den core beliefs u - man könnte in unserem Zusammenhang anstelle von „core beliefs" von Regelorientierung sprechen - ist fast zwangsläufig eine „Senkung des Anspruchsniveaus im Hinblick auf innere Konsistenz. Die Rechtskategorien, die im neuen Fallrecht in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen gesellschaftiio Teubner 1989: 127 ff. in Luhmann 1990b: 45 f. 112 Wiesenthal 1995: 145. 113 Wiesenthal 1995: 145 lHervorh. im Orig., D.M.]. Ich lasse offen, ob man wirklich von „Sinntransfer" sprechen kann. Luhmann hätte vermutlich insistiert, daß Sinn nur innerhalb der Systemgrenzen generiert wird. Immerhin könnte man darauf abstellen, daß mit dem Transfer rechtsexterner Problembeschreibungen, -bewertungen und Argumentationen in rechtliche Kontexte die Zeichen übernommen werden, nicht aber unverändert ihr Zeichenwert, der sich dem Kontext systemspezifischer Verständnisse einpassen muß. Wie man sich entscheidet, hängt m. E. von rein deflatorischen Entscheidungen ab.
§ 7 Die Defizite juristischer Regeldiskurse
221
liehen Teilsphären erarbeitet werden, können prinzipiell nicht mehr mit dem Anspruch auf rechtsübergreifende Konsistenz auftreten." 114 Dies ist ein Prozeß, der angesichts der fortlaufenden funktionalen Differenzierung der Gesellschaft allen Klagen der Rechtswissenschaft über Kasuistik und Zerfall der Dogmatik zum Trotz kaum aufzuhalten ist 115 - weit über den Bereich der Risikoproblematik hinaus. Reproduktionsprozesse dieser Art sind nicht so pfadabhängig wie jene der Regelbildung, die weitgehend über Prozesse der Begriffsdifferenzierung verlaufen. Solche „Lernprozesse" belasten das System in Situationen, in denen das Vertrauen in das normale Funktionieren gemindert ist, mit einem erhöhten Aufwand an Rationalität116. Sie erzeugen damit zunächst einmal erhöhte Varietät, also Instabilität im Rechtssystem. Diese bleibt solange bestehen, bis in der verfestigten Form einer Rechtsprechung oder herrschenden Meinung Regeln, also Konditionalnormen ausgebildet werden, die für typische Sachverhalte rechtsspezifische Problembewertungen, Argumentationen und Entscheidungslösungen vorgeben. Erst dann sind wieder Stabilität, Redundanz, Routine, Generalisierung von Erwartungen und materielle Rechtssicherheit möglich117. Aus „noise" und „Irritation" wird Ordnung. Es handelt sich dabei um im Rechtssystem selbst, also nicht durch Gesetzgebung erzeugte Normbildungsprozesse, die für die Verarbeitung von Risikolagen typisch sind.
IV. Das Veralten des Modells regelgeleiteten Entscheidens Läßt man die vorstehenden Abschnitte resümierend Revue passieren, so drängt sich die These auf, daß das Modell regelgeleiteten Entscheidens aus mindestens drei Gründen veraltet ist. Dies gilt zumindest in Handlungsfeldern, die, rechtlich abgesichert durch Freiheitsgarantien, kurzfristig von neuen Techniken überformt worden sind und - aufgrund technisch-wissenschaftlicher Fortentwicklung und Risikokommunikation - auch weiterhin einer hohen Veränderungsdynamik hinsichtlich Wahrnehmungsmustern, Wissensbeständen, Machtbalancen, Interessenlagen und Handlungsorientierungen unterliegen. ii4 Teubner 1989: 129. Iis Vgl. Teubner 1989: 129 f. 116 Vgl. Japp 1997b: 96, der sich allerdings mit der Beschreibung dieses Zusammenhangs auf Organisationssysteme bezieht. Ich gehe davon aus, daß für die Reproduktion von Gesellschaftssystemen im wesentlichen nichts anderes gilt. 117 Ob daraus , jemals so etwas wie eine juristische Begrifflichkeit klassischen Stils entstehen wird", mag man mit Luhmann bezweifeln (1993b: 22), der möglicherweise zutreffend davon ausgeht, daß die Entwicklung „auf eine für das common law typische Präzedenzbindung mit einem entsprechend komplexen Bedarf an Entscheidungskenntnissen und einem anderen, weniger begrifflichen Argumentationsstil" (ebd.) hinauslaufen wird. Andererseits meine ich nachweisen zu können, daß sich zumindest für einen Teilbereich der Persönlichkeitsrechtsentwicklung nachweisen läßt, daß sich weiche Rechtsformen mittelfristig zu regeiförmigen Normgeflechten verdichten, die Ansätze einer Dogmatisierung aufweisen (siehe § 10).
222 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
Bestehende Regeldiskurse erweisen sich oftmals als unterdeterminierend. Tradierte Textverständnisse greifen nicht, es existiert keine tatbestandlich gefaßte Typik, die auf die neuen Fallkonstellationen anwendbar wäre. Es gibt keinen rechtsspezifischen Bestand an Erfahrung, rechtlichen Argumentationskonventionen oder Regeln, an denen sich eine Entscheidung orientieren könnte. Bestehende Regeldiskurse können überdeterminierend wirken, weil der betreffende Handlungsbereich umfassend und detailliert geregelt ist. Nichts von dem, was nach den Textverständnissen der juristischen Profession noch als vertretbar gilt, läßt sich in Deckung mit den in öffentlicher Diskussion formulierten Problembewertungen bringen 118. Allenfalls läßt es sich unter radikalem Bruch mit bestehenden Regeln formulieren - wahrgenommen als Rechtsfortbildung contra legem. Neue Regeln können sich in Bereichen, die potentiell von öffentlicher Risikokommunikation betroffen sind, schnell als überholt erweisen. Daher sind Entscheidungen, die durch ihre Darstellung als Regelanwendung späteren, an sie anschließenden Entscheidungen nur vergleichsweise geringe Spielräume lassen, riskant. Sie sind nur mit relativ großem Aufwand riickholbar. Jene Flexibilisierungsmöglichkeiten, die innerhalb von Regeldiskursen verfügbar sind, können der Dynamik gesellschaftlicher Veränderung und der diese reflektierenden außerrechtlichen Kommunikation längst nicht immer folgen. Sowohl die Bewehrung rechtlicher Freiräume 119 als auch rechtlich konstituierte Freiheitsgarantien 120 sind aufgrund ihrer tatbestandlichen Typisierung stets in regelförmigen Normstrukturen fixiert und damit den Gesetzmäßigkeiten der Regeldiskurse unterworfen. Dies begründet ihre Stabilität und zugleich ihre geringe Flexibilität gegenüberrisikoträchtigen Anwendungsformen neuer Technologien, die im Rahmen bestehender Regelstrukturen und negatorischer Freiheitsgarantien 121 genutzt und entfaltet werden 122. Insgesamt drei Faktoren, nämlich Technikentwicklung, deren schnelle Diffusion in gesellschaftliche Handlungsbereiche sowie die einer spezifischen Eigendynamik unterliegenden öffentlichen Risikodiskurse unterminieren „institutionalisierte Regelwerke ( . . . ) viel nachhaltiger, als es jeder Normbruch tun könnte, den es natürlich immer und überall gegeben hat, zumindest als einkalkulierte Ausnahme von der weitergeltenden Regel. Im Unterschied dazu lassen sich normative Regelungen nicht mehr effektiv kontrafaktisch stabilisieren, wenn sie erst einmal von 118 Beispielsweise wurden im Kontext eines ausgedehnten Risikodiskurses um Reproduktionsmedizin und Stammzellenforschung die (regeiförmigen) Normen des Embryonenschutzgesetzes vor seiner Reform in Öffentlichkeit und medizinischer Fachöffentlichkeit als zu restriktiv, weil genetische Forschung und medizinischen Fortschritt vereitelnd, kritisiert; vgl. statt vieler Fisahn 2001: 49. "9 s. o., § 11. 2. b). 120 s. o., § 11. 3.
121 Zum Begriff s. o., § 11. 2. a). 122 S.o., § i m . - V I .
§ 7 Die Defizite juristischer Regeldiskurse
223
der technischen Entwicklung überrollt worden sind" 123 und deren Risiken nachhaltig öffentlich kommuniziert werden. Es gibt eine Vielzahl von Entscheidungssituationen, in denen ein Einschwenken auf die Routine ermöglichenden Regeldiskurse nicht möglich ist oder nicht sinnvoll erscheint. Aber auch außerrechtliche Kategorien bieten keine ausreichende Orientierung in jenen Bereichen, in welchen kein auch nur halbwegs gefestigter Bestand an Erfahrung, Wissen, Routinen, konsentierten Normen und vor allem an Vertrauen in die Tragfähigkeit solcher Orientierungsmaßstäbe vorhanden ist. Man kann nicht mehr vergangenheitsgestützt entscheiden, sondern ist zu Überlegungen über die Zukunft, zu Folgenüberlegungen gezwungen. Damit erscheint das gesetzespositivistische Grundmodell rechtsspezifischer Orientierung überholt. Denn Konditionalnormen werden unter Vorgriff auf eine vorgestellte Zukunft festgelegt 124 und interpretiert: „Man läßt die Fälle sich ereignen und gibt nur vor, wie sie behandelt werden, wenn sie sich ereignen."125 Die Variationsbreite, die diese Form sprachlicher Verarbeitung in der Wechselwirkung von Entscheidungsdarstellung und Entscheidung läßt, ist, wie gezeigt, vergleichsweise gering. Die Regelgeflechte, die als Parallelkonstruktionen zur rechtsexternen Umwelt den juristischen Diskurs prägen, reichen offenkundig nicht aus, um die notwendigen Abstimmungsleistungen zwischen Rechtssystem und Umwelt zu erbringen. Außeijuristische Erwägungen sind nach den Metaregeln dieser Diskursform nur begrenzt zugelassen, im übrigen aber dem Gesetzgeber vorbehalten. Gesetzgeberische Reaktionen auf neue Problemlagen oder Neubewertungen alter Zusammenhänge jedoch sind oft, wie oben beschrieben, langsam und in vielerlei Hinsicht von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängig126. Wenn gesetzgeberisches Handeln nicht oder nicht schnell genug erfolgen kann und angesichts des Justizverweigerungsverbots Gerichte dennoch entscheiden müssen, dann reicht jene Form begrenzter Variabilität, die Konditionalnormen im Konfliktfall ad hoc ermöglichen, nicht mehr aus. In Teilbereichen ist das Rechtssystem daher zu einer Herabsetzung seiner Änderungsschwelle gezwungen. Der vermehrte Bedarf an Normierung wird „durch »dezentrale Gesetzgeber', unter denen justizförmige Normsetzung durch Richterrecht eine entscheidende Rolle spielt"127, gedeckt. Teil123 Spinner 1991:97. 124 s. o., § 11. 2. b), § 11. 3.; vgl. Luhmann 1990b: 129; 1995a: 197. 125 Luhmann 1990b: 129; instruktiv hierzu Hiller 1993: 57 ff., die allerdings unberechtigterweise (s. o., § 1 V., Fn. 80) von einer „Vergangenheitsorientierung des Rechts" schlechthin ausgeht. 126 s. o., § 1 IV. und § 2 II. 2. Luhmann hält das politische System im Vergleich zum Rechtssystem, das „durch Anforderungen der Sorgfalt und Begriindbarkeit" (1995a: 427) gebremst werde, für schneller (ebd.). Mit Blick auf den ganze Bibliotheken makulierenden Federstrich des Gesetzgebers mag dies zutreffen. Aber in dem Maße, wie sich neben Regeldiskursen andere, flexiblere rechtliche Diskursformen herausbilden, u. a. weil die Verarbeitung im politischen System zu langsam und tendenziellrisikoavers erfolgt (vgl. Japp 1992 und oben, § 2 II. 2.), kann hiervon keine Rede sein. 127 Teubner 1975: 183.
224 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
weise ist diese von der Gesetzgebung vorgegeben (z. B. Blankettverweisungen und Generalklauseln), teilweise haben sich im Rechtssystem selbst Formen des Begründens entwickelt, die flexibleres Entscheiden ermöglichen - zur Not unter Bruch mit vorgängigen Regeldiskursen. Diese Entwicklung hat bereits frühzeitig, teilweise im letzten Jahrhundert begonnen: zunächst durch eine auf größere Abstraktheit und damit größere Deutungsfähigkeit angelegte Gesetzessprache128 und Nutzung der dadurch gewonnenen Freiräume 129 sowie etwas später durch die Entstehung einer auf Integration sozialer Vorgänge angelegten Dogmatik im Zeitalter der lnteressenjurisprudenz 130. Ein wesentlicher Mechanismus, mit dem im Rechtssystem auf schnelle externe Veränderungen reagiert werden kann, ohne dabei vom Postulat der Gesetzesbindung, also einer an Normtexten orientierten Ableitung der Begründung, abzuweichen, ist die Abwägung von Prinzipien bzw. von rechtlich geschützten Interessen. Manifeste Zweck- und Interessenerwägungen (letztere klassischerweise nicht nur im Verfassungs-, sondern auch im Zivilrecht) und Realfolgenerwägungen überlagern schon lange die Regelauslegung insbesondere oberer Instanzen. Der offene Einbruch von Abwägungsdiskursen in das Zivilrecht über die eigentlich systemwidrige Integration des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in § 823 I BGB ist jene Form institutionalisierter Varietätserzeugung, die uns im folgenden vor allem interessieren soll. All diesen Normformen ist gemeinsam, daß sie die vergangenheitsorientierte Form konditionaler Programmierung zugunsten einer stark zukunftsgerichteten Folgenorientierung suspendieren, die sich auch rechtsexterner Wertungen bedient. Um fortfahren, um sich orientieren zu können, stellt man die Zeit um 1 3 1 . Es kommt zu einer „Verlagerung des Zeithorizonts"132, vor dem begründet und entschieden wird. Quasi naturwüchsig haben sich eine Vielzahl von Mechanismen entwickelt, die dem Rechtssystem eine höhere Flexibilität verleihen, also als funktionales Äquivalent zur Gesetzgebung einen Zeitausgleich zwischen Rechtssystem anderen gesellschaftlichen Subsystemen ermöglichen133.
128 Vgl. Damm 1976b: 215 ff.; Schröder 1988: 359 ff. 129 Vgl. Schröder 1988: 359 ff. 130 Vgl. Damm 1976b: 223 ff.; Schröder 1988: 356; J. Esser 1990: 47 f., 80. Zur richterlichen Rechtsfortbildung im Gesetzespositivismus vgl. Schröder 1988: 340 ff. 131
Eingehender dazu im Fortgang unter § 8 II. 1. e). Grundlegend zum Mechanismus der Zeitumstellung (bezogen auf rechtsförmige Verwaltungsentscheidungen) Hiller 1993: 71 ff. und passim; vgl. ferner Beck 1986: 44; Preuß 1994: 533 f., 545; Ladeur 1986: 265 ff.; Bechmann 1993b: 248, 266. 132 Bechmann 1993b: 248. 133 Zum Phänomen unterschiedlicher Systemzeiten s. o., § 1 V., § 6 IV. 3. und 4., § 7 II. 3. c); zur Gesetzgebung und höchstrichterlichen Entscheidungen als Mechanismen intersystemischen Zeitausgleichs vgl. Luhmann 1995a: 427 ff.
und
§ 7 Die Defizite juristischer Regeldiskurse
225
V. Die Aktualität des Modells regelgeleiteten Entscheidens Regelungen stehen damit fast zwangsläufig „unter dem dynamischen Vorbehalt weiterer wissenschaftlich-technischer Entwicklungen"134 und neuer Aufmerksamkeitskonjunkturen in öffentlichen Risikokommunikationen, obwohl doch ihre Stabilität gerade auf ihrer Indifferenz gegen Folgeentwicklungen beruht 135. Josef Esser hat diese Problemlage sehr prägnant auf den Punkt gebracht: „... das erstarrte doktrinäre System mit seiner Begriffslogik erweist sich mehr und mehr als Hemmung der auf rechtsethische und Grundsatzbildung angewiesenen modernen Jurisprudenz. Es fragt sich nur, ob nicht eben diese »Hemmungen* unersetzliche Rechtsgarantien und wichtige Kontrollstationen bilden." Ohne Redundanz kommt kein modernes Rechtssystem aus 136 . Man kann vorübergehend und in engen Grenzen versuchen, zukunftsorientiert zu entscheiden und rechtliche Bindungen, die über den Einzelfall hinausreichen, zu vermeiden. Mittelfristig aber bleibt man inner- und außerhalb des Rechts auf die Möglichkeit angewiesen, an rechtlichen Eigenwertbildungen orientiert halbwegs stabile Erwartungen und Routinen ausbilden zu können. Das Rechtssystem kann allenfalls vorübergehend und in Teilbereichen von Vergangenheits- auf Zukunfts- / Folgenorientierung umgestellt werden 137. Meines Erachtens läßt sich am Beispiel der Persönlichkeitsrechtsentwicklung zeigen, daß im Rechtssystem selbst eine Art Zwischenlösung erfolgt: Persönlichkeitsrechtliche (wie überhaupt grundrechtliche) Argumentationsmodi ermöglichen eine flexible justizielle, auf die jeweilige Konfliktsituation zugeschnittene Berücksichtigung von Folgen und betroffenen Akteuren, und sie verdichten sich im Fortgang der Rechtsentwicklung hin zu regeiförmigen Konstrukten. Den Kassandrarufen, 134 Narr 1988: 102. 135 s. o., § 6 V. 136 s. o., § 6 n., § 6 V. Ähnlich der Sache nach Hiller 1993: 60 ff., 151 ff., bes. 159, 166. Anders sehen dies möglicherweise Autoren, die mit einem Primat für Steuerung konditionale Rechtsformen für dysfünktional halten (vgl. Willke 1992: 175 ff.) oder formales Recht durch nur noch prozedural abgesicherte Mechanismen der Kommunikationsorganisation, Konsensfindung und Wissensgenerierung ersetzen wollen (Ladeur 1984, 1992, 1995; Wolf 1987: 384 ff.). Ladeur geht dabei so weit, die These aufzustellen, „daß die Rechtsfunktion (als »kongruente Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen4) und ihre Autonomisierung ( . . . ) für eine historisch sensibilisierte Theoriebildung kein Datum sein kann" (1984: 181 f.). Sorichtiges sein dürfte, sich nicht auf eine unveränderliche Funktion des Rechts festzulegen [vgl. Wesel 1985: 52 ff., 334 ff.; s. o., § 5 II. 2. c)], so sehr ist zu bezweifeln, daß die bestehenden Tendenzen zu weicheren und reflexiven Rechtsformen bereits auf einen grundlegenden Umbruch der Rechtsfunktion hinweisen. Richtig dürfte sein, daß es rechtliche Teilbereiche gibt, in denen dauerhaft stabil gehaltene Rechtsformen einem „Recht auf Zeit" (Wolf 1987: 387) wenigstens vorübergehend weichen (siehe auch oben, § 5 HI. 3. c) und §61. 3.). 137 Rigider ist Hiller, die davon ausgeht, daß zukunftsorientiertes strategisches Risikorecht kein „Recht" ist, „weil es sich nicht mehr auf die Funktion der kontrafaktischen Stabilisierung normativer Verhaltenserwartungen" bezieht (1993: 159). Ich halte diese gut luhmannsche Bewertung für übertrieben, da sich derartige Rechtsformen im Rechtssystem selbst ausbilden und dort ihre eigene Funktionalität entwickeln. 15 Maitra
226 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
die eine generelle Auflösung rechtlicher Rationalität beschwören, kann mit KarlHeinz Ladeur entgegengehalten werden, daß Güterabwägung „auch in der gerichtlichen Praxis keineswegs als eine Art Kadijustiz (funktioniert)", sondern daß sich „bei aller Variabilität im Einzelfall, durchaus juristisch fungierende Regelmäßigkeiten feststellen" 138 lassen.
138 Ladeur 1979: 364.
§ 8 Abwägung von Prinzipien
227
§8 Abwägung von Prinzipien Es geht also nicht ohne Regel- und Begriffsorientierung, obwohl damit Flexibilität gegenüber außerrechtlicher Kommunikation stark eingeschränkt wird. Eine zentrale, bislang nicht weiter entfaltete These lautete, daß sich mit der Entwicklung von Abwägungsdiskursen ein Argumentationsmodus herausgebildet hat, der - im Wechsel - beides ermöglicht: Stabilität und Flexibilität, Redundanz und Varietät. Gegenstand dieses Kapitels sind Mechanismen und Funktionalität der Prinzipienabwägung.
I. Prinzipienorientierte Begründungen Zunächst soll der Blick auf die spezifischen Mechanismen, nach denen Abwägungsdiskurse verlaufen, gelenkt werden. Prinzipienorientierte Begründungen präsentieren sich in einer Dialektik zwischen Kontinuität und Bruch. Fallspezifische Entscheidungsregeln, die ad hoc aus Prinzipienabwägungen abgeleitet wurden, stabilisieren sich u. U. durch daran anknüpfende rechtliche Kommunikation und verdichten sich so allmählich zu Konditionalnormen, die routinemäßiges Entscheiden ermöglichen.
1. Abwägung als Bruch mit den kommunikativen Vergangenheiten rekursiver Regeldiskurse Grundrechte, also auch Persönlichkeitsrechte, kann man, folgt man der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, als Prinzipien betrachten1. Nicht immer werden sie mit anderen Prinzipien so säuberlich wie beispielsweise in der LebachEntscheidung2 abgewogen. Oft dienen Prinzipien nur der argumentativen Verstärkung einfachen Rechts, sind „willkommenes, beeindruckendes Beiwerk"3. Man muß sich vor Augen halten, daß sich eine gerichtliche Entscheidung, die als regelgeleitet dargestellt wird, wie z. B. im sog. Schnellreinigungsfall 4, grundsätzlich auch im Modus einer Abwägungsentscheidung begründen läßt5. Es gibt aber auch Fälle, in denen Prinzipienabwägungen die Anwendung einfachen Rechts suspendieren, einen Bruch mit den vorfindlichen Regeldiskursen ermöglichen.
1 s. o., § 31. 2., § 31.5. 2 BVerfGE 35, 202, vgl. o., § 3 I. 2. 3 Lepa 1995: 263; zu konkreten Beispielen vgl. ebd.: 264 ff. 4 BVerfGE 32,54. 5
15*
Vgl. Alexys alternative Begründungskonstruktion (1986: 115 f.).
228 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
a) Bruch mit kommunikativen
Vergangenheiten
Was genau ist unter „Bruch" zu verstehen? Ich möchte das Problem aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten: aus einer juristischen Perspektive [aa)], einer soziologischen [bb)], einer entscheidungstheoretisch orientierten [cc)] sowie schließlich aus einer sozialpsychologischen [dd)] Sicht.
aa) Kassandrarufe - Juristische Perspektive Aus dem Blickwinkel der die Entscheidung rezipierenden professionellen Interpretationsgemeinschaft werden Abwägungen teilweise sehr scharf als Bruch mit den kommunikativen Gemeinsamkeiten zivilrechtlicher Dogmatik, mit den gemeinsamen Vorstellungen formaler Rationalität wahrgenommen. Dies zeigt sich deutlich an den Reaktionen auf die Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts6 oder an jenen auf die Bürgschaftsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts7. Harsch ablehnende Kommentare gehören ebenso zu den Reaktionen wie Kassandrarufe, die eine Schwächung formaler Rationalität und negative Konsequenzen für Systembildung und Rechtssicherheit in Aussicht stellen8. Daß solche Kritik eine wesentliche Kostenseite dieser Begründungsform benennt, läßt sich kaum bestreiten. Die durch solche Entscheidungen ausgelöste Varianz kann, da sich Abwägungen zunächst einmal mit einer Einzelfallentscheidung außerhalb der bestehenden rekursiven Regelnetzwerke begeben, nur äußerst schwer durch Redundanz wieder eingeholt werden. Unter Bruch verstehe ich also eine außergewöhnlich große kommunikative Distanz, die innerhalb der Profession als scharfer Einschnitt in das Kontinuum gängiger, allmählicher Rechtsentwick6 Massive Kritik wurde insbes. an BGHZ 26, 349 - Herrenreiter - und der Folgerechtsprechung geäußert. Eingehend zur persönlichkeitsrechtlichen Rechtsprechung und ihrer Kritik im Fortgang unter § 10 EI. 7 s. o., § 7ffl., Fn. 98. 8 Eine „dogmatisch wie rechtspolitisch unverantwortliche(n) Flucht in eine in Wahrheit nicht existente Super-Generalklausel des Privatrechts" moniert einer der vielen Kritiker der frühen Schmerzensgeldrechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht des BGH (Hartmann 1964: 799). Noch massiver wurde deren verfassungsgerichtliche Bestätigung (BVerfGE 34, 269 - Soraya) kritisiert. Es handele sich um ein „inkohärentes kasuistisches Wertgeschaukel", das „jeden Anspruchs an Methodik spottet" und einen „Aufstand gegen das Gesetz" sanktioniere und verdecke (Ridder 1973: 454). Noch 25 Jahre später empört man sich: An dieser Entscheidung lasse sich eine „Methode" verdeutlichen, „mit der die juristische Methodenlehre denaturiert und unter Berufung auf höherrangige Werte die zivilrechtliche Dogmatik zunächst ignoriert wird und auf die Dauer ruiniert werden kann" (Diederichsen 1998: 194 f.; Hervork im OrigD.M.). Ahnlich massiv wird die Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (E 89, 214) kritisiert: „An die Stelle dogmatisch kontrollierter Fortbildung des Privatrechts soll die offene politisch orientierte Wandlung treten" (Zöllner 1996: 4). Beklagt wird eine „Helfer-Attitüde hilfswilliger Juristen" (H.Hesse /Kauffinann 1995: 221), die zulasten formaler Rationalität und Rechtssicherheit gehe.
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lung wahrgenommen wird. Deren Folge: ein als unangenehm empfundener, d. h. zu überwindender Zustand der Instabilität (hohe Varietät) mit Einbußen an materieller Rechtssicherheit9. Damit bin ich bereits beim soziologischen Aspekt.
bb) Systemveränderung - Soziologische Perspektive Der Bruch mit dem vorgängigen textuellen Netzwerk ist ein funktionales Äquivalent zu Vergessensmechanismen und legislativen Gesetzesänderungen. Was gesetzlich oder nach gängigem juristischen Verständnis für die betreffende Fallkonstellation gegolten hätte, ist allenfalls noch ein Gesichtspunkt der Prinzipiengewichtung im Rahmen des Abwägungsvorgangs und ansonsten nicht mehr existent, sozusagen aus dem Systemgedächtnis gelöscht. Mit der Abwägung kann die Singularität des Falles zur Rechtfertigung dafür gemacht werden, mit dem Metaprinzip jeder Regel, ihrer Formalität, zu brechen. Durch Regeln und Rechtsbegriffe sind formale Gleichheitskriterien definiert, die unterschiedliche Fälle vergleichbar machen. Als juristische Eigenwerte beinhalten formale Kriterien stets eine mehr oder minder explizite Dezision, bestimmte Gesichtspunkte, unter denen ein Fall auch wahrgenommen werden könnte, als der Form unwesentlich aus dem Diskurs tendenziell auszugrenzen10. Im Rahmen der Regeldiskurse sind nur allmähliche, geringfügige Änderungen durch BedeutungsVerschiebung möglich11. Die Abwägung dagegen suspendiert - zunächst nur für einen, konkret zu entscheidenden Fall - die bisherige Dezision durch eine neue. Damit öffnet sich der primär regelorientierte juristische Diskurs. Rechtsexterne und reflexive Folgenargumentationen sind in größerem Maße als sonst zulässig. Ein an außerrechtlichen Normen und Ordnungsvorstellungen anknüpfender Urteilsstil liegt nahe. Ob Entscheidungen dadurch rationaler werden, etwa weil in der Begründung wesentliche, die Entscheidung motivierende Gesichtspunkte thematisiert werden, ist nicht gesichert. Immerhin aber ändert sich, wenn mit einer Abwägungsentscheidung im betreffenden Rechtsgebiet einmal ein „Bruch" stattgefunden hat, die Diskurssituation in sich anschließenden Prozessen, also den weiteren Gerichtsentscheidungen vorgelagerten Interaktionszusammenhängen. In ähnlichen Fallkonstellationen können dann eine ganze Reihe rechtsexternen Diskursen zugehörige Argumente nicht ohne weiteres als »juristisch irrelevant" ausgegrenzt werden. 9 Man erkennt hier die dritte der Konstellationen wieder, mit denen ich oben (§ 6 I. 4.) idealtypisch unterschiedliche Zustände des Rechtssystems zwischen Stabilität und Dynamik beschrieben hatte. Zur Unterscheidung zwischen formeller und materieller Rechtssicherheit s. o., § 6IV. 3. 10 s. o., § 1 I. 3. Der Alternativenreichtum gesellschaftlicher Bewertungsmöglichkeiten wird eingeschränkt. Dies kann weitreichende politische und soziale Implikationen haben: „Wenn ein Embryo ebenso wie ein Vollbürger als Träger subjektiver Rechte und Pflichten behandelt wird, ein Sklave aber nicht, so ist beides ein rechtstechnisches Mittel zur Erzielung bestimmter Effekte." (Weber 1980: 424).
11 s. o., § 5 n. 3., § 61.4., § 6ffl., § 6 V.
230 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
Im Bruch mit kommunikativen Gemeinsamkeiten fallen (vergleichsweise) unkonventionelles individuelles Handeln, also der Ausbruch aus den routinegesicherten Begründungs- und Entscheidungsformen mit der u. U. weitreichenden Veränderung des Systemzustandes in eins. Als Struktur, also dauerhafte Gegebenheit emergenten Niveaus, entzieht sich dieser intentionaler Kontrolle der Akteurinnen und Akteure, obwohl er doch durch deren Handeln gleichermaßen reproduziert wie verändert wird. Ob der Bruch eine Einzelfallentscheidung bleibt, die innerhalb der juristischen Profession dauerhaft abgelehnt wird und deshalb „falsch" ist, oder nicht, läßt sich nicht allein aus den Umständen der Entscheidungssituation und sich anschließender Entscheidungssituationen erklären. Juristinnen und Juristen, die spätere Fälle des einschlägigen Problembereiches zu bearbeiten haben, beobachten einen breiten Raum juristischer und rechtsexterner Kommunikationen, nicht lediglich einzelne Entscheidungsbegründungen. Daß die Begründung im Herrenreiter-Fall nicht Randnote, sondern wesentlicher Bestandteil der Rechtsentwicklung geworden ist, läßt sich nicht allein mit den Rahmenbedingungen dieses Urteils und der daran anschließenden Folgeentscheidungen erklären. Ihre Bedeutung beruht wesentlich auf einem Wechselspiel des Rechts mit Dynamiken anderer gesellschaftlicher Teilsysteme (Wirtschaft, Wissenschaft, Politik u. a.). Was Gerichtsentscheidungen auf der Systemebene verändern, hängt ferner davon ab, wie sich synergetische Effekte auswirken12 und wie darauf wiederum in der Rechtswissenschaft und gerichtlich reagiert wird, ob Zustimmung oder Ablehnung dominiert. Brüche mit kommunikativen Vergangenheiten sind demnach keine Phänomene, die allein durch ihre mikrosoziologisch faßbare Genese oder unmittelbare Reaktionen zureichend erfaßt werden. Ihre systemische Bedeutung ergibt sich aus einer Einordnung in eine wenigstens mittelfristige Entwicklung des Gesamtensembles rechtlicher und anderer Kommunikationen.
cc) Optimierung - Entscheidungstheoretische Perspektive Richterinnen und Richtern ist es unbenommen, Präferenzen außerhalb der Vorgaben herkömmlicher Textverständnisse zu setzen. Obwohl eine Präferenz für Begründungen entlang rechtlicher Konditionalnormen besteht und damit Regeldiskurse einen Alternativenraum des Entscheidens vorgeben, kann man doch nicht unterstellen, daß sie den gesamten Möglichkeitsraum der Entscheidungen limitieren 13 . Zumindest im Einzelfall können die Präferenzen zugunsten anderer Bewertungsmaßstäbe wechseln. Es wurde festgestellt, daß sich in den Personen, die 12 s. o., § 7 n. 1. 13 Im folgenden schließe ich an entscheidungstheoretische Überlegungen von Priddat (1996: 116 ff.) an, der - im Kontext ökonomischer Entscheidungsbildung - zwischen Alternativenraum und Possibilitätsraum unterscheidet. In ähnlicher Weise sehen Bender (1980: 324 ff.) und Hartwieg (1980: 343, 346 f.) Dissonanzen zwischen Judiz bzw. Rechtsgefühl und den die Muster routinemäßigen Entscheidens prägenden formellen Programmen als Auslösernrichterrechtlicher Innovation.
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gerichtliche Entscheidungen treffen, die Bewertungsmaßstäbe und Rationalitäten rechtlicher und rechtsexterner Kommunikationen kreuzen14. Erscheint aus der Menge gegebener Alternativen keine Alternative wählbar, so „wechselt die Perspektive in der Situation , und zwar durch Abwahl oder Wandlung der primären Wahlsituation (,mental switching'). Es gibt keinen Grund, eine Wahl, die man nicht ausführen will, auszuführen ( . . . ) ; folglich wählt man diese spezifische Wahlsituation ab." 15 Wird eine Situation als sehr komplex wahrgenommen, liegt es nahe, bisherige Präferenzen zu überprüfen. Wenn es aber „noch andere Perspektiven gibt, die das Handlungssubjekt einnehmen kann, gelten andere Wahlbedingungen und andere ,beste4 Resultate"16. Brüche können somit als Reaktionen auf Entscheidungssituationen betrachtet werden, in denen eine Orientierung innerhalb des Alternativenraums der vergleichsweise präzisen Vorgaben rechtlicher Regeldiskurse nicht möglich, weil suboptimal erscheint. Unter Bezugnahme auf abstraktere Normtexte, mit denen keine oder geringere verständnisgebundene Vorgaben verbunden sind, wird dann versucht, auf rechtsexterne Bewertungsmaßstäbe umzuschwenken. Mithin bedeutet Bruch auch eine als solche deutlich wahrnehmbare Dezision, weil der gängige Alternativenraum verlassen wird. Es ist dieses Umschwenken, das die Illusion programmierten Entscheidens zerstört und den häufig zu hörenden Vorwurf richterlicher Willkür begründet.
dd) Krisensituationen und Routinen zweiter Ordnung Sozialpsychologische Perspektive Vorstehend skizzierte entscheidungstheoretische Perspektive zeichnet - tendenziell im Einklang mit juristischen Selbstverständnissen - das Bild eines rationalen Entscheiders, der, geleitet vom Primat sachgerechten Entscheidens, eine suboptimale Situation abwählt. Das Modell hat den Nachteil, daß es emotionale Faktoren und damit einen wesentlichen Aspekt menschlicher Entscheidungen ausblendet. Berücksichtigt man Affekte als Motoren und Bewertungsfaktoren jeder, auch jeder kognitiven Entscheidung17, so denunziert man juristisches Entscheiden nicht als irrational. Vielmehr stellt man in Rechnung, daß subjektiv erlernte Präferenzkriterien ebenso wie kategoriale Wahrnehmungsmuster affektiv markiert sind18. Situaw s. o., § 7 II. 3. c) und d), § 7 ID. 15 Priddat 1996: 117 [Hervorh. im Orig., D.M.]. 16 Priddat 1996: 119. 17
s. o., § 5 HI. 1. b) und c). Daraus entstehende empirische Divergenzen zum Ideal eines homo oeconomicus versucht die moderne Entscheidungstheorie durch Vorstellungen einer „bounded rationality" einzufangen. 18 Vgl. Roth 1997: 178 ff., der unter Rückgriff auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse die Emotionsabhängigkeit aller menschlichen Bewertungsvorgänge betont. Die Bewertung dessen» was das Gehirn tut, erfolgt „nach den Grundkriterien ,Lust' und , Unlust' und nach Kriterien, die davon abgeleitet sind. Das Resultat dieser Bewertung wird im Gedächtnissystem festgehalten. Bewertungs- und Gedächtnissystem hängen damit untrennbar zusam-
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tionen, in denen gegenläufige Rationalitäten unterschiedliche Entscheidungen fordern, werden seltenst durch Rückgriff auf eine übergeordnete Rationalität aufgelöst, sondern aufgrund individueller Bewertungen, die durch affektive Markierungen geleitet sind, entschieden. Solche Entscheidungssituationen werden als krisenhaft wahrgenommen. Double-Bind-Situationen sind kritische Situationen, d. h. Ereignisse, die die Gewißheiten der institutionalisierten wie internalisierten Routinen bedrohen, in Frage stellen oder zerstören 19. Spezifisches Merkmal kritischer Situationen ist, folgt man Anthony Giddens, „die ,Überflutung* habitueller Handlungsweisen durch eine Angst, die nicht ausreichend vom grundlegenden Sicherheitssystem absorbiert werden kann"20, das sich als Seinsgewißheit „auf die Möglichkeit der autonomen Kontrolle des Körpers innerhalb vorhersehbarer Routinen und Begegnungen gründet"21. Nun beziehen sich Giddens Überlegungen allerdings auf Situationen, die grundlegende existentielle, v. a. kulturell typische lebenszyklische Krisen betreffen. Derart existentielle Krisensituationen interessieren hier nicht. Gehen wir davon aus, daß es Double-Bind-Situationen bereits auf vergleichsweise niedrigem Niveau gibt22. Sprechen wir also für den Moment nicht von Angst, sondern von Beunruhigung und Irritation. Muß man nicht beunruhigt sein, wenn die Präferenzmuster des Regeldiskurses nur Ergebnisse zulassen, die man aufgrund außerrechtlicher Maßstäbe für extrem unangemessen hält? Die ökonomischen Interessen mögen andere Vorstellungen eines sachgerechten Ergebnisses nahelegen, die massenmedial vermittelten Risikodiskurse wieder anderes. In solchen Situationen ist davon auszugehen, daß Irritation und Beunruhigung eine angestrengte Suche nach neuen darstellbaren, möglichst große Zustimmung versprechenden Lösungsmöglichkeiten anregen. In juristischen Alltagsfällen werden solche Erwägungen durch eine Vielzahl von constraints zugunsten gefestigter Eigenwerte der Regeldiskurse stillgelegt oder eingeschränkt23. Wesentlich dafür sind die erlernten, durch positive wie negative Affekte stabilisierten Präferenzmuster des professionellen Habitus4. Daher ist anzunehmen, daß Abweichungen von diesen Mustern eine Entsprechung in der psychischen Ökonomie der Entscheiderinnen und Entscheider finden. Zu einem „Bruch" mit regeldiskursiven Präferenzmustern wird es aus sozialpsychologischer Sicht nur dann kommen, wenn die Routinelösung der anliegenden Situation von anderen Präferenzen des emotional
men, denn jede Bewertung geschieht aufgrund des Gedächtnisses. Umgekehrt ist Gedächtnis nicht ohne Bewertung möglich, denn das ,Abspeichern' von Gedächtnisinhalten geschieht aufgrund früherer Erfahrungen und Bewertungen und des gerade anliegenden emotiona Zustandes u (ebd.: 209; Hervorh. durch mich, D.M.). Vgl. hierzu auch Ciompi 1997: 165; Damasio 2005: 170 ff., 207 ff.; Ramachandran/Blakesiee 2004: 194 ff.; 223 ff.; s. o., § 5 m. 3. b), Fn. 139. » Vgl. Giddens 1997: 112. 20 Giddens 1997: 116. 21 Giddens 1997: 116. 22 Eine erste allgemeine Begründung ist bereits erfolgt [s. o., § 7 II. 3. d)]; für den Bereich der Persönlichkeitsrechte werde ich sie im nächsten Kapitel noch spezifizieren. 23 s. o., § 5 HI., bes. § 5 III. 1. und 4.
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gesicherten Bewertungssystems erheblich abweicht. Mehrere Faktoren müssen zusammentreffen: • Es steht ein Fall zur Entscheidung, der nicht als Normalfall wahrgenommen werden kann, weil andere, persönliche oder überindividuelle außerrechtliche Wertungsgesichtspunkte bestehen, die im konkreten Fall eine nur außerhalb regeldiskursiver Vorgaben darstellbare Lösung gestatten. • Die Bewertung ist beunruhigend, weil sowohl die Präferenz für den Regeldiskurs als auch gegenläufige Präferenzen aufgrund vergangener Lernerfahrungen emotional gesichert sind. • Die Präferenz für eine Orientierung an den im Regeldiskurs entstandenen Eigenwerten erweist sich als schwächer, als die affektive Markierung außerrechtlicher Orientierungsgesichtspunkte. Kritische Situationen lassen sich individuell besser bewältigen, wenn es auch für sie spezifische Routineformen gibt 24 , die man als solche zweiter Ordnung bezeichnen könnte, weil sie für Situationen bereitstehen, in denen die den gewöhnlichen Alltag prägenden Routinen (erster Ordnung) nicht greifen. Um die in einem Bruch liegende Abweichung zu kaschieren, wird eine Entscheidung gefällt, deren Begründung sich im Rahmen einer solchen Routine zweiter Ordnung hält: Sie erfolgt als Abwägung höchster Prinzipien (Grundrechte), also im Einklang mit einem modernen Begründungsmodus der juristischen Sprachtradition. Wären rechtliche Entscheidungen nur als Regelauslegung darstellbar, so wäre scharfe kommunikative Distanz kaum möglich. Der Umstand, daß weiche Rechtsformen, z. B. Prinzipienabwägungen, Begründungen außerhalb der Regelform zulassen, ermöglicht, daß eine rechtsförmige Entscheidung ergehen kann, obwohl mit regeldiskursiven Vorgaben gebrochen wird. Diese Suspendierung einschlägiger Normtexte und Textverständnisse ist nach den Konventionen juristischer Methodik aufgrund der höchstrangigen Stellung der Grundrechte in der Normenhierarchie möglich25. Eine spezifisch rechtliche Argumentationsfigur zu verwenden, verspricht zumindest ein gewisses Maß an Zustimmung der professionellen Sprachgemeinschaft. Die Gefahr einer Ausgrenzung aus dem juristischen Diskurs wird so erheblich vermindert26. Zugleich kann die Entscheidung vor sich selbst und anderen als auch im Sinne außerrechtlicher Rationalitätsgesichtspunkte sachgerecht gerechtfertigt
24 Vgl. Giddens 1997: 112. 25 „Da Richter auf Programmtreue eingeschworen sind, ist eine Legitimationsgrundlage eine außerordentlich starke Stütze für das Gelingen von Innovationen. Und was könnte sich besser dafür eignen als oberste Programmsätze, aus welchen sich die Innovationen ableitbar darstellen lassen?" (Bender 1980: 329). 26 Zum affektiven Status solcher Ängste s. o., § 5 III. 3. b). Nach psychoanalytischen Erkenntnissen zielt individuelles Handeln nicht zuletzt darauf, möglichst große Angleichungen an die internalisierten Forderungen des Ich-Ideals zu erzielen, weil dies psychische Gratifikationen bzw. eine Vermeidung von negativen Schamgefühlen gestattet; vgl. zu diesem Mechanismus im Kontext juristischen Handelns Fabricius 1996: 120 ff.
234 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
werden. Damit wird ein im juristischen Selbstverständnis hochgehaltenes Ideal bedient. Auch das vermindert das Unbehagen über die krasse kommunikative Distanznahme.
b) Der Rekurs auf rechtsexterne
kommunikative
Gemeinsamkeiten
Kein Bruch verzichtet vollständig auf Rekurse. In irgendeiner Weise muß Zustimmung, insbesondere jene der professionellen Diskursgemeinschaft wieder eingeholt werden 27. Wird mit einem Diskurs oder Diskursbereich gebrochen, so muß an andere (Sub-)Diskurse angeknüpft werden. Wegen des Bruchs mit einschlägigen regeldiskursiven Vorgaben stehen nur beliebigere, durch Eigenwerte vergleichsweise gering strukturierte normative Diskurse (Werteerwägungen, Grundrechtsdogmatik) zur Verfügung. Auf sie zurückzugreifen ist am ehesten erfolgreich, wenn Ergebnis und/oder Argumentation an außerrechtliche Konsense, konsensuale oder wenigstens hegemoniale Wertungen und Evidenzen anknüpfen 28. In ihrer Wertigkeit sind diese davon bestimmt, daß sie emotional markiert sind, also biographisch eine leibzentrische Verankerung erfahren haben29. Es geht, nicht anders als bei regelorientierten Begründungen, darum, innere Stimmigkeit zwischen zwei „Geschichten" herzustellen: jener, die der Sachverhalt erzählt und der „Geschichte", die die argumentative Entscheidungsbegründung schildert30. Stimmigkeit bedeutet, daß man sich möglichst weitgehend an bereits wohlbekannten Kommunikationen (Redundanzen) ausrichtet. Überzeugend wirkt „die Struktur, die dem Zuhörer bekannt ist, die also mit den umfassenderen Erzählstrukturen übereinstimmt, in deren Gestalt sich der Zuhörer sein Weltwissen gemerkt hat" 31 . 27 s . o . , § 4 v m . , § 5 m . 4 . , § 6 m . 28 Vgl. BVerfGE 34, 269/287 - Soraya: „Es muß einsichtig gemacht werden können, daß das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Dierichterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den ,fundierten allgemeinen GerechtigkeitsVorstellungen der Gemeinschaft' (BVerfGE 9, 338/349)". 29 s. o., § 5 HI. 1. b) und c), § 8 I. 1. a) dd), bes. in und bei Fn. 18. 30 Den Begriff des Geschichtenerzählens zu nutzen, heißt nicht, ihn mit der Konnotation des Unwahrscheinlichen und Fiktiven zu verwenden, mit der er umgangssprachlich verstanden wird. Er verweist nur darauf, daß Erzählverläufe konstruiert und von gleichläufigen Wahrnehmungen und Begriffsverständnissen abhängig sind. Geschichten können nur erzählt werden, wo grundlegende Übereinstimmungen erwartet werden können, wahrscheinlich, wenigstens möglich erscheinen. Vgl. hierzu Sobota 1991: 244 ff., die sich dabei auf Erkenntnisse der sophistischen Rhetorik und den britischen Rechtstheoretiker Bernard S. Jackson stützt. 31 Sobota 1991: 248. Zur Absicherung juristischer Kohärenz/Stimmigkeit durch neurologische Mechanismen vgl. Strauch 2002: 319 ff. Ich werde versuchen, im Rahmen der Rechtsprechungs- und Literaturanalyse (§10 und § 11) zu belegen, daß in solchen narrativen Bezugnahmen auf rechtsexterne kommunikative Gemeinsamkeiten Argumente aufscheinen, die die Vermutung erlauben, daß sie in ihrem emotionalen Gehalt kommunikative Brüche wesentlich mitmotivieren. Mehr als begründete Vermutungen sind allerdings nicht möglich, will man an der Unterscheidung von Entscheidung und Begründung festhalten.
§ 8 Abwägung von Prinzipien
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An Stellen, die argumentativ den Bruch markieren, erfolgt oft eine rhetorische Kompensation, teilweise verstärkt durch eine Semantik, die die affektiven Dimensionen der verwendeten Worte nutzt32. Sobota hat am Beispiel vierer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (u. a. der Lebach- und der Soraya-Entscheidung) nachgewiesen, daß die das Entscheidungsergebnis wesentlich tragenden Erwägungen rhetorisch besonders intensiv, gegenläufige Wertungsgesichtspunkte dagegen rhetorisch geringer akzentuiert werden33. Rhetorik ist demnach der Versuch, beim Hörer oder Leser Zustimmung zu erzielen, indem man Figuren verwendet, die von der normalen Sprechweise abweichen34, um durch Hebung oder Senkung von Aufmerksamkeitsschwellen spezifische kommunikative Gemeinsamkeiten zu betonen. Die situative Abwägung von Prinzipien ermöglicht, daß der sich der durch Eigenwerte gegen außeijuristische Erwägungen tendenziell hermetisierende juristische Diskurs zu einem Kommunikationsmedium über Realität insgesamt werden kann. „Durch den Gebrauch von Rechtssätzen", so Richard Münch, „wird über die Realität kommuniziert. Darüber hinaus kann das Verhältnis des Rechts zur sozialen Realität sowie das Recht an sich durch Kommunikation thematisiert werden."35 An zwei prominenten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Persönlichkeitsrechten, dem „Volkszählungsurteil"36 und dem „Lebach-Urteil"37, läßt sich gut erkennen, daß die Abwägung von Grundrechten einen Diskurs konstituiert, der nicht nur die innerrechtlichen, sondern auch die komplexen externen, d. h. technischen, sozialen, ökonomischen und politischen Vorbedingungen seiner rechtsförmigen Entscheidungen mitzureflektieren versucht. Damit aber werden moralische wie andere rechtsexterne Argumentationen (insbesondere aus den Natur- und den Sozialwissenschaften) für den juristischen Diskurs anschlußfähig. Die Wahrscheinlichkeit professionellen Konsenses oder wenigstens partieller Zustimmung wird in der Regel geringer sein, als bei Bezugnahme auf die dichten 32 Zur affektiven Semantik in juristischen Texten vgl. Gast 1987: 4 f. 33 Sobota 1992: 235 f. Zu BVerfGE 35, 202 - Lebach - s. o., § 3 I. 2. 34 Sobota 1992: 232. Auf den pathetischen Sprachstil persönlichkeitsrechtlicher Entscheidungen von BGH und BVerfG weist auch Helle (1996: 449 ff. m. Nachw.) hin. 35 Münch 1992: 72; vgl. hierzu auch Münch 1995: 187 ff., der mit zitierter Feststellung allerdings eine Entwicklung, die stets nur in Teilbereichen des Rechts stattfindet, unzulässig verallgemeinert. Wäre Recht schlechthin als Medium und Gegenstand reflektierender Kommunikation diskursiven Begründungsprozessen geöffnet, so gäbe es weder Routinen rechtlichen Entscheidens noch irgendeine Form von Rechtssicherheit. Das Rechtssystem und insbesondere die Justiz müßten kollabieren. Rechtliche Eigenlogik und Autonomie hängen entgegen Münchs Vorstellungen (1992: 66 ff.; 1995:181 ff.) nicht substantiell von autoritärem, obrigkeitsstaatlichem Denken, der sozialen Homogenität eines dominierenden Juristenstandes oder gar traditional-lebensweltlichen Relikten im Recht ab. Es reichen constraints im oben beschriebenen Sinne und Konflikt tendenziell absorbierende Verfahrensformen. S. o., § 5 IE. 3. c). 36 BVerfGE 65,1. 37 BVerfGE 35,202; vgl. hierzu die Urteilsanalyse von Alexy 1995: 29 ff.
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kommunikativen Vergangenheiten rechtsinterner regelorientierter Diskurse. Daher ist zu vermuten, daß Brüche mit Regeldiskursen und den in ihnen aufgehobenen konsensualen oder hegemonialen Vorstellungen richtigen Rechts vor allem von solchen Entscheidern gewagt werden, die Wahrheit wenigstens teilweise durch Autorität zu ersetzen vermögen38: den Obergerichten. Untere Instanzen bleiben daher tendenziell stärker an Regeldiskursen orientiert. Dies ist ein wichtiger Faktor für die Stabilität des Rechtssystems.
2. Verfestigung von Prinzipien: Verdichtungsprozesse in Richtung auf rekursive Regeldiskurse Wird mit den Vorgaben rechtlicher Regeldiskurse gebrochen, so hat die selbsthermetisierende Grenzziehung des Rechts zum Nichtrecht versagt 3 9 . Der Begründungsmodus der Abwägung erweist sich als „Paradoxiebewältigungsprogramm" (Luhmann), mit dem man Entscheidungen als rechtlich geleitet präsentieren und dennoch rechtsexterne Wertungen in Anspruch nehmen kann40. Man schwenkt, zunächst primär zu Darstellungszwecken, auf hochabstrakte Normen oder den „Ausgleichsbegriff der Billigkeit (aequitas)"41 um. Die routinemäßige Sicherheit, die die Orientierung an rechtsspezifischen Eigenwerten ermöglicht, wird damit erschüttert. Hohe Variabilität entsteht. In solchen Selbstverunsicherungen „liegt einerseits der Grund für jegliche Flexibilität und Lernfähigkeit von kommunikativen Prozessen, die ihre Elemente als Entscheidungen auffassen" 42. „Andererseits", darauf weist Klaus Peter Japp hin, „könnte kein (organisiertes) Sozialsystem darin seine Normalform des Entscheidens finden. Es wäre zu einer Art Dauerirritation durch sich selbst gezwungen und würde durch zu hohe Reversibilität des Entscheidens jegliche Grundlage für die endogene Determination der eigenen Strukturen verlieren." 43 Redundanz ist notwendig, weil sonst Erwartungsbildung unmöglich ist 44 . Ab einem gewissen Punkt der Entwicklung kommt es oft auch in Bereichen, 38 s. o., § 5 HI. 3. 39 Vgl. Luhmann 1995a: 171 ff., 227 f.; 1995b: 32, der an anderer Stelle von einem »Abfangen notwendiger Illegalität" spricht (1974: 32). 40 Fremdreferenz auf außerrechtliche Kategorien wird als rechtliche Operation anerkannt, d. h. das Paradox wird durch die Figur des re-entry aufgelöst (vgl. Luhmann 1995a: 89). 41
Luhmann 1995a: 228; s. o., § 81.1. b), v. a. Fn. 28. Gerechtigkeit wird zu einer das Recht im Falle großer sozialer Dynamik flexibilisierenden Leerformel; vgl. Luhmann 1981c; Meder 1993: 215 ff. Nicht damit zu verwechseln ist der Grundsatz, daß einfachgesetzliche Normen grundrechtskonform auszulegen sind. Nutzt man diese Auslegungsmaxime, so verbleibt man im Rahmen der Regeldiskurse, rechtfertigt also gerade nicht den Bruch mit diesen. 42 Japp 1996: 164. 43 Japp 1996: 164. 44 s. o., § 6 IV. 3., § 6 V., § 7 V. Änderte man während eines Fußballspiels fortwährend dessen Regeln, würden die Spieler „kaum noch spielen, sondern ( . . . ) darüber palavern, welche Regeln gelten sollen. Damit das Spiel zügig ablaufen kann, müssen die Regeln während des gesamten Spiels die gleichen bleiben. ( . . . ) Zwar werden Regeln hier und da geändert;
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die durch prinzipienorientierte Begründungsformen geprägt sind, zu einer systemspezifischen Immunisierung gegen rechtsexterne Argumentation. Durch mehrfache Wederholung wird die Begriffsverwendung wenigstens partiell routinisiert und gehört dann zum Fundus der nur mit erhöhtem argumentativem Aufwand hinterfragbaren Selbstverständlichkeiten professioneller Textverständnisse. Neue, teilweise regeiförmige Eigenwerte sind entstanden.
a) Restabilisierung
durch Eigenwertbildung
Wie stabil oder dynamisch das Recht in den betreffenden Bereichen ist, wie sehr Einzelfallentscheidungen das Bild prägen oder sich ein festes Arsenal von Konditionalnormen, Bewertungskriterien, Begriffen und Argumentationsfiguren ausbildet, ist letztlich vor allem eine Frage derrichterlichen Spruchpraxis45. Ob eine von der juristischen Zunft als gravierend wahrgenommene Veränderung richterlicher Begründungskonventionen diesen Verdichtungsgrad erreicht, über den entschiedenen Einzelfall hinaus wenigstens mittelfristige Wirkung entfaltet, hängt nicht von den Intentionen der beteiligten Richterinnen und Richter ab, sondern vor allem davon, ob andere Gerichte die Entscheidung und ihre Begründung zustimmend aufgreifen und verarbeiten. Entscheidend ist also die Entwicklung nachfolgender Kommunikationen. Man kann darüber hinaus vermuten, daß sich Verfestigungen spätestens dann ergeben, wenn sich auch in rechtsexternen Diskursen konsensuale oder wenigstens hegemoniale Präferenzen und Orientierungsmuster ausprägen, also so etwas wie eine normale Praxis entsteht, die nicht mehr permanent von überraschenden Ereignissen und Entwicklungen erschüttert wird. Bis zu diesem Punkt und darüber hinaus verläuft ein komplexer Prozeß von aneinander anknüpfenden Kommunikationen, an dem Rechtswissenschaft, Instanz- und Obergerichte beteiligt sind; unter Umständen spielt auch die massenmedial vermittelte Öffentlichkeit und deren Urteilsrezeption eine Rolle 46 . Bei diesem Prozeß der Restabilisierung durch Eigenwertbildung möchte ich zwei Mechanismen unterscheiden: Verstetigung47 und Ausdifferenzierung. In erster Linie beruht die Ausbildung stabiler Eigenwerte auf einer Verstetigung der neuartigen Begründungsweise, mag es sich dabei um eine neue Argumentform, ein neues Prinzip, ein erstmals im rechtlichen Kontext genutztes Argument oder den in aber das Tempo, in dem dies geschieht, muß wesentlich langsamer sein, als der eigentliche Spielverlauf." (Bonus 1998: 41; Hervorh. im Orig., D.M.). 45 Die rechtswissenschaftliche Literatur gestaltet als Fachöffentlichkeit den Diskurs der Anschlußkommunikationen mit, indem sie die Relevanzgesichtspunkte der Rezeption vorstrukturiert. Eingehender unter § 101. 2. * Vgl. hierzu Castendyk 1994 und oben, § 7 II. 3. c) und d). 47 Man könnte meinen, daß Verstetigung stets auf Stabilisierung hinausläuft. Daher verwende ich i. f. beide Begriffe meist synonym. Es gibt aber Verstetigungen, die Destabilisierungen auf Dauer stellen, also stabilisieren, etwa die Formel, es seien stets alle Umstände des Einzelfalls zu beachten. Siehe dazu unter § 8 II. 3.
238 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
Konditionalform gefaßten Obersatz handeln. Eigenwerte entstehen durch stetige kommunikative Wiederholung, die rekursiv auf vorangegangene Kommunikationsakte Bezug nimmt - solange, bis aus dem vordem neuen Element ein altgewohntes geworden ist, das jeglicher Sensation entbehrt, also redundant ist. Zugleich, damit komme ich zum zweiten Mechanismus, variiert die bestätigende Kommunikation das in Bezug Genommene. Um in anderen Fällen gleichfalls zur Begründung zu taugen, müssen das neue Argument, der neue Begriff, die neue Regel erweitert, ergänzt, eingeschränkt oder verallgemeinert werden. Vielleicht erfährt auch nur ein Teilaspekt des neuartigen Begründungsangebots breitere Zustimmung, lassen sich nicht alle mit der Innovation verbundenen Implikationen in bestehende Regelgeflechte gleich gut einpassen. Die stets in Richtung auf die Konditionalform hin verlaufenden Ausdifferenzierungen sorgen tendenziell auch für Verstetigung. Neue Begründungen werden sich um so eher durchsetzen, als es frühzeitig gelingt, der Eigenwertbildung Feindifferenzierungen für unterschiedliche Fallkonstellationen hinzuzufügen. Je differenzierter und feinmaschiger das neue Regelungsgeflecht ist, desto größer ist die entlastende Eignung, routineförmig zu begründen. Nur konditionalförmige Elemente lassen jene umstandslose Reduktion von Komplexität zu, die es Untergerichten ermöglicht, ihre Entscheidungen mit geringem Zeit- und Arbeitsaufwand zu begründen. Zweifelsohne hätte ein Landgericht nach der Schachtbriefentscheidung 48 einen Schadensersatzanspruch wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zusprechen können. Aber damit wäre es weit über den BGH hinausgegangen und hätte den eigenen Begründungsaufwand erheblich gesteigert. Je stärker sich die Rechtsprechung des BGH zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht ausdifferenzierte, z. B. eine Kompensation immaterieller Schäden nur für schwere, anders nicht kompensierbare Persönlichkeitsrechtsverletzungen zuließ, desto attraktiver, weil weniger begründungsaufwendig wurde es für Instanzgerichte, der Rechtsprechung zu folgen. Auf welchen Eigenschaften prinzipienorientierten Begründens die angesprochenen Verfestigungsprozesse beruhen, soll im folgenden gezeigt werden. Zuvor wird noch etwas genauer auf die Funktion von Prinzipien als Schaltstelle für Selbstveränderungsprozesse im Rechtssystem eingegangen.
b) Prinzipien als Primär- und Sekundärtexte Das Dilemma, rechtlich begründen zu müssen, dabei aber allenfalls in Grenzen auf rechtsspezifische Redundanzen (Argumente, Regeln, Begriffe) zurückgreifen zu können, wird aufgelöst, indem man auf den hochabstrakten Text der in Artt. 1 19 GG enthaltenen Prinzipien zurückgreift. Hier liegt ein Primärtext vor, dessen Erweiterung durch Sekundärtexte49 unter viel schwächeren Konsistenzforderungen «a BGHZ 13, 334; eingehend hierzu im Fortgang unter § 10 HI. 1. Zum Begriff s. o., § 5 H. 3. b).
§ 8 Abwägung von Prinzipien
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steht, als dies im Kontext von Regeldiskursen der Fall ist. Das Prinzip „bildet den Starting point einer noch offenen richterlichen Problementwicklung"50, eine Variable, eine ausfüllungsbedürftige Leerstelle, der zunächst nur eine allgemeine, mehr oder weniger diffuse Wertvorstellung zugrunde liegt. Die Verfassung fungiert insofern als „Legalitätsreserve" (Schuppert)51. Solche Variablen kommen nicht aus dem Nichts, sondern werden aus rechtsexternen Diskursen, in denen sie in der Regel bereits eine gewisse Konjunktur als Kampf- oder Modebegriffe genießen, adaptiert. Mit dem Begriff der Persönlichkeit wurde ein originär ethischer Begriff in die Rechtstheorie und den politischen Diskurs des 19. Jahrhunderts aufgenommen 52. Nicht zuletzt unter dem Eindruck des Dritten Reiches, dessen Ideologie und Praxis den Einzelnen und damit auch all das, was seine „Persönlichkeit" ausmachte,rigoros der Volksgemeinschaft untergeordnet hatte, ist der Begriff dann endgültig zu einer umfassenden Rechtskategorie geworden53. Die Anerkennung neuer Grundrechtsausprägungen, z. B. neuer Persönlichkeitsrechte, ist insofern von Bedeutung, als im juristischen Diskurs, auch dort, wo sich dieser ethischen und anderen rechtsexternen Rationalitäten öffnet, primär solche Gesichtspunkte berücksichtigt werden, die als Rechtsgüter internalisiert worden sind54. Die Entstehung neuer Prinzipienausprägungen schreibt den nach dem Gewaltenteilungsgrundsatz an und für sich nur durch Gesetzgebung veränderbaren Primärtext durch einen aktualisierenden Sekundärtext fort. Zugleich stellt sie sich als Schöpfung eines neuen Primärtextes dar, der neben den bisherigen tritt und diffuse Wertvorstellungen für einen grob von anderen Problemlagen abgrenzbaren Bereich assoziieren läßt. Mit diesem als Dezision erkennbaren Schöpfungsakt wird ein Signal gesetzt, daß auch für diesen Bereich grundsätzlich das gleiche gilt, wie für jene Sphären, in denen man bislang die Geltung des Primärprinzips akzeptierte. Signalisiert wird, daß in dem konkreten Problembereich die Möglichkeit von Rechtsänderungen besteht, die u. U. auch quer zu den bisherigen Routinen des Regeldiskurses liegen können. Signalisiert wird, systemtheoretisch gesprochen, Irritationsbereitschaft. Wo neue Prinzipien „anerkannt" sind, kann man davon ausgehen, daß im Rechtssystem eine Bereitschaft besteht, bereichsspezifisch auf außerrechtliche Erwägungen einzugehen und diese in Rechtsform zu transformieren. Wir haben es mit Eigenwerten zu tun, deren Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht vorerst noch nicht mit fixen materiellen Rechtsfolgen verknüpft sind. Sie definieren zunächst primär, welche Interessen dem Schutzbereich des neuen Grundrechtsabkömmlings zugeordnet werden. Mittelfristig zielen sie prozedural als Routine so J. Esser 1990: 69. 51 Vgl. Schuppert 1995: 52. 52 Vgl. Hattenhauer 1982: 408 ff.; Klippel 1987: 282 ff.; Holzhauer 1996: 52; eingehend unten, § 10 II. 1. 53 Vgl. Hattenhauer 1982: 410 f.; Gottwald 1996: 50 ff.; siehe auch unten, § 10 m. 1. d). 54 s. o., § 5 m. 4, § 7 n. 3. c).
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zweiter Ordnung darauf, weitere, material gehaltvollere Eigenwerte zu bilden. In aller Regel erledigt sich ihre Prinzipienform nicht dadurch, daß dem (neuen) Primärtext im Verlauf der Zeit durch Rechtsprechung und Rechtswissenschaft konditionalisierte Ausdifferenzierungen zugeordnet werden. Das Prinzip sei, so hat Josef Esser treffend formuliert, „immer unterwegs"55. Mit der Anerkennung neuer Persönlichkeitsrechte entsteht also eine Variable, ein Platzhalter mehr, mit dem sich das Rechtssystem operationsleitend irritieren läßt - hin auf einen rechtsinternen Umbau selbstbindender Kommunikationen (Eigenwerte). Neue Prinzipien, wie etwa das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, hängen demnach in ihrem Bestand nicht unbedingt davon ab, wie stark ihre Verdichtung hin auf ein ausdifferenziertes Geflecht von Konditionalnormen fortgeschritten ist 56 . Entscheidend ist vielmehr, daß innerhalb der professionellen Diskursgemeinschaft (eventuell auch in öffentlichen Diskursen) das Ausgangsprinzip in den Hintergrund tritt, nur noch selten genannt wird, während stets die neue, das Prinzip benennende Problemformel angeführt wird, um die dem einschlägigen Problembereich zugeordneten Rechtspositionen zu rechtfertigen. Konkretisierung ist dazu zunächst nur in schwacher Form erforderlich: Es muß eine weitgehend gleichläufige, ungefähre Vorstellung bestehen, daß mit dem Begriff spezifische Besonderheiten des neuen Problemfeldes thematisiert werden. Zu Argumentationszwecken mag man analogisierende Überlegungen zu den Schutzfunktionen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts für die Privatsphäre anstellen. Doch wenn es um Computer, elektronische Datenverarbeitung und Statistik geht, beruft man sich - ohne größere Trennschärfe der Begriffe zu unterstellen - immer seltener auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht, sondern auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, weil der betreffende Problembereich als neu und damit von besonderer Qualität wahrgenommen wird. Es ist eine Überlegung wert, ob sich solche Variablen zu besonderen Persönlichkeitsrechten ausdifferenzieren, weil ihnen besondere Seiten der Persönlichkeit zugrundeliegen, die eine rechtsgutsbezogene Vergegenständlichung nahelegen. In diese Richtung weisen die Überlegungen von Hans Forkel, der zwischen rechtsguts- und eingriffsformbezogener Rechtsausprägung unterscheidet57. Allerdings relativiert Forkel diesen Ansatzpunkt selbst durch die Feststellung, daß auch bei 55
J. Esser 1990: 280. Zutreffend stellt Larenz unter Hinweis auf Esser fest, daß die allgemeine Klausel als „,Auffangnorm' für sonst nicht zu erfassende Fälle44 bestehen bleibe und ,jenseits aller judiziellen Ausprägung etwas vom Charakter des »Prinzips4" behalte (1962: 106). 56 Die Rede von der „informationellen Selbstbestimmung44 gehörte seit der Vorfelddebatte um das Bundesdatenschutzgesetz zu den geläufigsten Formulierungen, mit denen die Rechte der Betroffenen im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung thematisiert wurden (vgl. Simitis 1984: 399). 57 Forkel 1985: 96 ff.; ähnl. Larenz/Canaris 1994: 519. Medicus (Diskussionsbeitrag in Karlsruher Forum 1997: 68 f.) setzt den Übergang zu speziellen Persönlichkeitsrechten an, wo sich ein über den Einzelfall hinausgehend definierbarer „Schutzbereich44 herauskristalisiert, dessen Beeinträchtigung im Regelfall als rechtswidrig klassifiziert wird.
§ 8 Abwägung von Prinzipien
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Rechten, die an einem speziellen Schutzgut der Persönlichkeit ausgerichtet sind, die Verletzungsarten eine Rolle spielen58. Spezielle Persönlichkeitsrechte konstituieren ebenso wie das allgemeine Persönlichkeitsrecht stets ,3ündel von Verhaltensnormen" (v. Caemmerer). Zutreffend stellt Canaris fest, daß für die sich abzeichnende tatbestandliche Präzisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht in erster Linie die verletzten Persönlichkeitselemente wesentlich sind, „sondern die Art der Beeinträchtigung , also die Entstellung, die kommerzielle Ausnutzung, das Eindringen, das Verbreiten usw."59. Soweit man von besonderen Persönlichkeitsrechten spricht, hat dies aus meiner Sicht weniger mit der Normstruktur, etwa einer stärkeren Ausbildung von Konditionalnormen zu tun, sondern beruht auf der Geschichte der Persönlichkeitsrechte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der deutschen Diskurstradition wurden die besonderen, spezialgesetzlich normierten Persönlichkeitsrechte als Gegenbegriff zum abgelehnten allgemeinen Persönlichkeitsrecht verwendet. Nach dessen Anerkennung ist dieses Unterscheidungsbedürfnis obsolet geworden, so daß bei neukonstituierten Rechtspositionen in aller Regel unabhängig vom Grad ihrer Konditionalisierung nur noch speziellen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts die Rede ist.
c) Vorrangrelation
und Konditionalisierung
Kommen wir nun zu der Frage, wie im Kontext von Prinzipienabwägungen Redundanz möglich wird. Die Verdichtung eines Prinzips hin auf ein eigenwertgesättigtes, einer Dogmatisierung zugängliches Regelgeflecht erscheint nur möglich, „wenn die weiterhin zu seiner Ausgestaltung erforderlichen Wertentscheidungen nicht solche einer noch offenen politischen Zielsetzung sind"60. Dies ist allerdings in den uns interessierenden Fallkonstellationen, in denen die Neuartigkeit der technologisch erzeugten Handlungsräume und die strukturellen, durch Risikodiskurse thematisierten Dissenslagen jegliche Orientierung erschweren, so gut wie nie der Fall. Dennoch muß entschieden werden. Und die Entscheidung muß als Subsumtion unter einen Obersatz präsentiert werden. Wie bei einer Abwägung von Prinzipien regelförmige, einzelfallspezifische Normen gebildet werden, wurde oben anhand Alexys Rekonstruktion der Lebach-Entscheidung61 gezeigt. Zwischen den für den konkreten Fall einschlägigen Prinzipien muß eine Vorrangrelation gefunden werden, die dann auf das fallspezifische Problem zugeschnitten einen Obersatz enthält, der die übliche Wenn-Dann-Relation aufweist. Indem begründet wird, aufgrund welcher fallspezifischen Bedingungen das eine Prinzip dem anderen in welchem Umfang vorgeht62, wird ein deskriptiver Tatbestand geschaffen. 58 Forkel 1985: 101. 59 Larenz/Canaris 1994: 519 [Hervorh. 60 J. Esser 1990: 69. 61 BVerfGE 35,202; s. o., § 3 I. 2. 62 Vgl. Alexy 1986: 78 ff., 143 ff. 16 Maitra
im Orig., D.M.].
242 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
Die Umwandlung von Prinzipienkonflikten in auf den Einzelfall zugeschnittene Konditionalnormen vollzieht sich sicher nicht stets so argumentationstheoretisch kunstgerecht, wie die Lebach-Entscheidung. Aber an der Konditionalisierung führt kein Weg vorbei, weil der Ableitungszusammenhang zwischen (abstraktem) Text und Entscheidung als zwingend dargestellt werden muß und zu diesem Zweck spezifische, fallentscheidende Kriterien benannt werden. Zum Zweck der Darstellung müssen also die betroffenen Prinzipien zueinander ins Verhältnis gesetzt und herunterkonditionalisiert werden. Spätere Entscheidungsbegründungen können an diese Darstellung als Regel anknüpfen. Indem, wie für Präjudizien üblich, dargestellt wird, daß der neue Fall der bereits entschiedenen Konstellation entspricht, kann die Konditionalnorm auf weitere Fälle „angewandt" werden. In dieser Logik des Darstellungsverfahrens liegt die grundlegende Möglichkeit der Prinzipienverdichtung begründet. d) Verdichtungsformen Im folgenden sollen die wichtigsten Verdichtungsformen beschrieben werden, die diesen auf allmähliche Regelbildung hinauslaufenden Normbildungsprozeß prägen63. aa) Konditionalnormen Die vollständigste Form der Verdichtung ist erreicht, wenn Entscheidungen nicht als Ergebnis eines fallspezifischen Abwägungsvorgangs, sondern als Anwendung einer Regel mit deskriptivem Tatbestand dargestellt werden können. Zwar führt letztlich jede Prinzipienabwägung über die Vorrangrelation zu einer einzelfallspezifischen regeiförmigen Norm, doch hat sich eine verläßliche Regel erst dann gebildet, wenn spätere Entscheidungen diese wiederholen, also eine Rechtsprechungspraxis entsteht, die Erwartungsbildung ermöglicht, weil deutlich wird, daß für bestimmte Konstellationen eine rechtsspezifische Problembewertung (Eigenwert) existiert. So legte das Bundesverfassungsgericht in seiner Lebach-Entscheidung fest, daß eine die Resozialisierung des Täters gefährdende, nicht durch ein aktuelles Informationsinteresse gedeckte Fernsehberichterstattung verboten ist 64 . Die Folgerechtsprechung hat diese Vorrangrelation zu einem regeiförmigen Eigenwert stabilisiert und ausdifferenziert 65, so daß sich heute in vergleichbaren Fällen die Parteien und im Anschluß an sie auch Richter dazu verhalten müssen, ob der betreffende Bericht resozialisierungsgefährdend ist oder nicht66. Im Fort63 Im Fortgang der Arbeit (§ 10) werde ich diese vorerst abstrakte Bestimmung anhand einer Rechtsprechungsanalyse zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht wieder aufgreifen, w BVerfGE 35,202/237; s. o.; § 3 I. 2.
65 OLG Hamburg NJW-RR 1991, 990/991 f. und NJW-RR 1994, 1439; OLG Nürnberg NJW 1996, 530/f; differenzierend OLG Frankfurt a.M. NJW-RR 1995, 476/f; OLG Brandenburg NJW 1995, 886/887 f.; OLG Saarbrücken NJW-RR 1998, 745/746 f.; BVerfG-K NJW 2000,1859/1860 f. - Lebach H.
§ 8 Abwägung von Prinzipien
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gang eines längeren Rechtsprechungsprozesses kann sich schließlich ein ausdifferenziertes Regelgeflecht ausbilden. Über Kasuistiken hinaus können durch Abstraktions- und Systematisierungsversuche der Rechtswissenschaft dogmatische Konstrukte entstehen, die ihrerseits geltendes Recht werden, sobald sie von der Rechtsprechung aufgegriffen werden. Die von der Rechtsprechung aufgegriffene 67 Lehre von den Persönlichkeitssphären68 kann als Schritt in diese Richtung begriffen werden. Diese hat jedoch eher zu einer Form topischer Argumentation mit Eigenwertbildungen unterhalb der Regelform geführt, weil sie nicht auf tatbestandlich typisierbare (Verletzungs-)Handlungen zugeschnitten war, sondern versuchte, die sinnlich-deskriptiv nur schwer faßbaren Rechtsgüter zu beschreiben, obwohl es damit, anders als bei den klassischen Schutzgütern des § 823 I BGB, kaum möglich ist, eine Rechtsgutsverletzung als solche zu einem hinreichenden Anknüpfungspunkt für ein (Erfolgs-)Unrechtsverdikt zu machen69. Eine grundlegende Verdichtung hin auf eine Konditionalisierung ist dann erfolgt, wenn über vorstehend geschilderte Diskurspraxis hinausgehend für den Regelfall an Stelle der im Rahmen von § 823 I BGB grundsätzlich geforderten einzelfallspezifischen Güter- und Interessenabwägung ein Regel-/Ausnahme-Mechanismus tritt: Ist der durch die Vielzahl einschlägiger Entscheidungsbegründungen oder durch Gesetzgebung hinreichend spezifizierte Schutzbereich beeinträchtigt, so kann das den Urteilen Gemeinsame als begrifflich faßbares Abstraktum herausgearbeitet werden, dessen Tatbestandsform eine Indizwirkung für das Rechtswidrigkeitsurteil gestattet. Auf diese Weise wird aus der Vielzahl der Entscheidungen, die sich als den Umständen des Einzelfalls geschuldet gerieren, im Rahmen des Möglichen Redundanz eingeholt. An diesem Punkt der Dogmatisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sind wir stellenweise bereits angelangt. Wir treffen auf eine Reihe rechtswissenschaftlicher Reflexionsversuche, die darauf hinauslaufen, durch Systematisierung der Rechtsprechung auch für das allgemeine Persönlichkeitsrecht Tatbestandsbildungen zu konstruieren. Dergleichen ist nur möglich, wenn Eigenwertbildungen Ansätze zu einer konstanten und in sich konsistenten Entscheidungspraxis erkennen lassen. Eine besondere Form der Konditionalisierung ermöglicht der Grundsatz, daß einfachgesetzliche Normen verfassungskonform auszulegen sind70. Man deklariert 66 So wurde die Ausstrahlung einer anderen Sendung zum Fall Lebach gestattet. Die Begründungen arbeiten in Auseinandersetzung mit der Lebach-Entscheidung von 1973 schulmäßig ab, weshalb die neue Sendung die Resozialisierungschancen des Täters nicht gefährde (OLG Saarbrücken NJW-RR 1998, 745/746 f.; BVerfG-K NJW 2000, 1859/1860f.; a.A. OLG Koblenz AfP 1998, 328/329 ff., aufgehoben durch vorstehende Verfassungsgerichtsentscheidung). 67 Statt vieler BGH NJW 1987, 2667/2667 f.; w. Nachw. b. Baston-Vogt 1997: 181, Fn. 130.
68 Darstellung, Nachw. und Kritik b. Baston-Vogt 1997: 180, Fn. 128; 191 ff. 69 Eingehender hierzu mit Nachweisen unter § 10 ID. 4. d), § 10 DI. 4. e). 70 St. Rspr. BVerfGE 2,266/282; 69,1 /55; 86, 288/320 f.; 88, 145/166. 1*
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eine Lösung als Regelauslegung, obwohl sie ihre zentrale Rechtfertigung nicht aus regeldiskursiven Vorgaben, sondern durch Rückgriff auf verfassungsrechtliche Eigenwerte oder Neuinterpretationen von Verfassungsrecht erhält.
bb) Gewichtungsregeln als prozedurale Vorgabe von Argumentationslasten Unterhalb der Konditionalform mit strikter Wenn-Dann-Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge können Vorzugsregeln entstehen, die Argumentationslasten für den Fall begründen, daß von ihnen abgewichen werden soll. Solche Gewichtungsregeln, etwa das Postulat, die Meinungsfreiheit sei aufgrund ihrer großen Bedeutung für den demokratischen Willensbildungsprozeß besonders hochwertig 71 , lassen sich kompensieren, indem situationsspezifische Umstände benannt werden, mit denen sich belegen läßt, daß die gegenläufigen Interessen in der konkreteten Situation höherwertig sind. Die oben definierte, mittlerweile ausdifferenzierte Regel der Lebach-Entscheidung, wonach eine die Resozialisierung gefährdende Presse- oder Fernsehberichterstattung über schwere Straftat unzulässig ist 72 kann im Einzelfall durch Abwägung suspendiert werden, doch muß dann begründet werden, daß es gewichtige, rechtlich erhebliche Interessen an der Berichterstattung gibt, die das persönlichkeitsrechtlich geschützte Resozialisierungsinteresse überwiegen. Auch solche Begründungen sind zeit- und arbeitsintensiv, so daß man davon ausgehen kann, daß sie jenseits von subjektiv nachvollzogener Plausibilität und Akzeptanz auf den Entscheidungsvorgang limitierend zurückwirken, also durchaus wesentlicher Bestandteil eines sich ausbildenden normativen Zusammenhangs sein können. cc) Internalisierung von Interessen Damit in engem Zusammenhang steht eine weitere Vorform der Regelbildung: die Anerkennung von Interessen und Gegeninteressen, die legitimerweise in den eine Entscheidung begründenden Abwägungsvorgang einbezogen werden dürfen und müssen73 und damit ebenfalls Argumentationslasten begründen. Um die Abnahmewahrscheinlichkeit zu erhöhen, muß man zukünftig - unter Verbrauch von Zeit und Arbeit - argumentativ nachweisen, weshalb das betreffende Interesse entgegen erstem Anschein nicht einschlägig oder von nicht ausschlaggebendem Gewicht ist. 71 BVerfGE 7, 198/208; 82, 272/281; zu Gewichtungsregeln aus normlogischer Sicht Alexy 2003. 7 2 s. o.; § 3 I. 2.; § 8 I. 2. d) aa), bei und in Fn. 65 f. (mit Nachw.). 73 In Kommentaren sind zu berücksichtigende Interessen und Gegeninteressen aufgelistet; vgl. Palandt-Sprau 2006: 1242 ff. (§ 823, Rn. 95 ff.); Erman-Ehmann 2000: 25 ff. (Anh. zu § 12, Rn. 30 ff. und passim); Erman-Ehmann 2004: 20 f., 23, 30, 44 ff., 53 f., 77 (Anh. zu § 12, Rn. 2 - 7 , 14,48,105, 113,153, 228 und passim).
§ 8 Abwägung von Prinzipien
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Auch auf dieser Ebene entstehen also bereits Eigenwerte - und zwar u. U. schon mit der ersten einschlägigen Entscheidung, wenn sie denn von einer höheren Instanz ausgesprochen wurde. Lediglich „schützenswerte, berechtigte Interessen dürfen in den Abwägungsvorgang einbezogen werden"74. Wer ein solches Interesse postuliert, muß in der Regel einen Ableitungszusammenhang zu Rechtsnormen herstellen. Dieser ist zwar meist vergleichsweise billig, d. h. mit geringem kommunikativen Aufwand herstellbar. Es reicht die Bezugnahme auf gesetzgeberische Zweckerwägungen, durch Konditionalnormen geschützte Interessen oder auf abstrakte Grundrechtsnormen. Ihre Plausibilität beziehen solche Erwägungen allerdings vor allem aus ihrer Konvergenz mit außerrechtlichen Problembewertungen, die nun durch »Anerkennung" eines berechtigten Interesses (zum Beispiel jenem auf Kenntnis der eigenen Abstammung) internalisiert werden. Solche Vorgänge können Reaktionen außer- und innerhalb gerichtlicher Zusammenhänge verursachen, lange bevor Begriffs- und Regelbildungen ihren Abschluß gefunden haben: Die Möglichkeit, Freiheiten unter Ausnutzung gesellschaftlicher Machtdisparitäten nutzen zu können, wird limitiert, wenn zu befürchten steht, daß potentielle Kontrahenten die Möglichkeit haben, gerichtlich auf einer Ebene formaler Gleichheit zu erzwingen, daß ihre neuerdings rechtlich internalisierten Interessen berücksichtigt werden. Für zukünftige Fälle wird die gerichtliche Konfliktwahrnehmung vorstrukturiert. Zumindest bei entsprechender Argumentation einer der Parteien muß man sich spätestens in der Urteilsbegründung damit befassen, wie die betreffenden Interessen im konkreten Fall zu bewerten sind. Außerhalb prozessualer Zusammenhänge kann der solcherart Begünstigte „in the shadow of law" seinen Interessen Gewicht verleihen. Was die Implementationsforschung zur Bedeutung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen ergeben hat, gilt auch hier: ,3argaining-Chips" werden neu verteilt 75. Insofern hat auch ein zurückgestelltes Interesse Gewicht76. Die Entscheidung sorgt für Unsicherheit. Wird ein bestimmtes Interesse als prinzipiell berücksichtigungspflichtig anerkannt, kann es in anderen Konstellationen entscheidend sein. Wird ihnen das Urteil bekannt, können die Akteure nicht mehr auf eine stabile Rechtslage vertrauen und sehen sich u. U. zu vorsichtigerem Verhalten genötigt.
74 Erman-Ehmann 2000: 34 (Anh. zu § 12, Rn. 66). Teilweise wird kritisiert (Habermas 1994: 315 f.), teilweise relativiert (Alexy 2003: 776 f.), daß sich Abwägung entlang von „eingewöhnten Standards und Rangordnungen" (Habermas) entsprechend „einer Linie von Präjudizien" (Alexy) vollzieht. Gerade das aber macht ihren stabilisierenden Effekt aus, der sich jederrichtigkeitszentrierten Erwägung deutscher Diskurstheorie(n) entzieht. 75 Der Ausdruck findet sich bei Gessner 1992: 392; zum Mechanismus vgl. Treiber 1987: 322, 329 f., 334 ff.; aus eher rechtstheoretischer Sicht Gast 1983: 175 f. 76 Beispielsweise wurde in BGHZ 24, 72/79 ff. - Krankenpapiere - (siehe auch unter § 10 HI. 4.) die Weitergabe von Krankenunterlagen im konkreten Fall für zulässig erklärt, zugleich aber ein grundlegendes und im Regelfall schützenswertes Interesse des Patienten anerkannt, das eine Weitergabe ohne seinen Willen verbiete.
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dd) Prinzipien als Topoi Die Anerkennung einer besonderen Ausprägung des Persönlichkeitsrechts muß nicht automatisch zu Abwägungsvorgängen in sich anschließenden Urteilen führen. Bei entsprechender Ausformung kann ein Persönlichkeitsrecht auch als besonders gewichtiges, keiner weiteren Rechtfertigung mehr bedürftiges Argument gebraucht werden. So meint Manfred Lepa anhand einer Analyse der Rechtsprechung des BGH nachweisen zu können, daß es „zwei Typen grundrechtlicher Argumentation gibt: solche, in denen diese Argumentation unausweichlich geboten ist, weil es in der Sache um grundrechtliche Rechtspositionen geht, und solche, in denen die verfassungsrechtliche Argumentation nur willkommenes, beeindruckendes, aber verzichtbares Beiwerk ist" 77 . Zu den Argumenten der zweiten Gruppe zählt Lepa auch das verfassungsrechtlich abgeleitete Selbstbestimmungsrecht des Patienten78, soweit es zur Bestimmung des Umfangs der ärztlichen Aufklärungspflicht herangezogen wird 79 . Seine Begründung lautet, diese Argumentation gebe nicht mehr her, „als die einfach-rechtliche Erklärung des funktionalen Zusammenhangs von Aufklärung und Einwilligung"80. Berücksichtigt man jedoch, daß Argumentation als narrative Häufung von Gründen Anschlußfähigkeit an gemeinsam geteilte Welt- und Problemverständnisse der Kommunikationsteilnehmer herzustellen hat, so muß bezweifelt werden, daß eine ergänzende verfassungsrechtliche Argumentation reines Beiwerk sein kann. Für zutreffend halte ich aber die Beobachtung, daß beispielsweise verfassungsrechtliche Selbstbestimmungspostulate nicht ohne weiteres für sich allein tragend sind und oftmals weniger dogmatisch zwingende, denn rhetorische Qualität haben. Sie sind dann (noch) nicht Begriffe innerhalb eines sich entwickelnden netzwerkartigen Normenkonstrukts. Vielmehr dienen sie als topische Argumente81, die sich problemorientiert und vergleichsweise umstandslos mit außerrechtlichen Sichtweisen kombinieren lassen und neue Inhalte ins Recht internalisieren. Ein gutes Beispiel für einen solchen Fall bietet die Samenspenderentscheidung des BGH 82 . Die Vernichtung krykokonservierten Spermas ohne Einwilligung des mittlerweile zeugungsunfähig gewordenen Spenders wurde als Körperverletzung 77 Lepa 1995: 263. 78 BGHZ29, 176/181; BGH NJW 1989,1533/1533,1535. 79 Lepa 1995: 265 f. so Lepa 1995: 266. 81 In seinem Werk „Topik und Jurisprudenz" hat Theodor Viehweg skizziert, wie die von Jhering in den rechtswissenschaftlichen Diskurs eingeführte Kategorie des Interesses ermöglichte, als Topos, also wiederkehrender, an den konkreten Problemzusammenhang anknüpfender „Gemeinplatz", immer wieder neue, problembezogene Gesichtspunkte in die juristische Argumentation aufzunehmen (Viehweg 1963: 64 f.). 82 BGHZ124,52 = NJW 1994,127 = JR 95,21 (m. Anm. Taupitz) = JZ1994,464 (m. Anm. Rohe); zu Kritik und Meinungsstand vgl. Taupitz 1995; Baston-Vogt 1997: 266 f., 282 ff.; Brohm 1998:199 f.; von Freier 2005: 322; Freund/Weiss 2004: 316; T. Spranger 2005: 1085 ff.; jew. m. w. N.
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qualifiziert. Nach der zuvor nach h. M. geltenden, auf die Trennung des Körperteils vom Körper abstellenden Differenzierung 83 hätte nur eine Sacheigentums-, keine Körperverletzung vorgelegen, mit der Folge, daß ein Schmerzensgeldanspruch ausgeschieden wäre. Nunmehr wurde danach differenziert, ob nach dem Willen des Rechtsgutsträgers eine endgültige Ausgliederung der Körperbestandteile beabsichtigt war oder ob diese dazu bestimmt waren, dem Körper wieder zugeführt zu werden oder eine körpertypische Funktion zu erfüllen 84. Die Willensrichtung des Geschädigten ließ sich zum Anknüpfungspunkt machen, indem man auf das persönlichkeitsrechtliche Selbstbestimmungsrecht abstellte. Keine zwingende, aber eine vor allem gefühlsmäßig überzeugende Konstruktion, bei der das persönlichkeitsrechtliche Selbstbestimmungsrecht als topisches Argument genutzt wurde 85. Die Betonung des hochwertigen Rechtsgutes verdeckte, daß nicht etwa eine Möglichkeit des Spenders, über seinen Körper selbst zu bestimmen, zerstört wurde, sondern die technisch geschaffene Möglichkeit, trotz Zeugungsunfahigkeit ein eigenes Kind zu haben. Durch eine Wertung wurde diese technologisch hergestellte Option mit der Selbstbestimmung am eigenen Körper gleichgesetzt. Mit dem Recht auf Selbstbestimmung am Körper „als Basis der Persönlichkeit"86 wurde tautologisch die Ausweitung des Geltungsbereichs dieser Begrifflichkeit gerechtfertigt. Dahinter stand eine eigentlich ganz einfache Überlegung: Daß sein konserviertes Sperma durch Schlamperei zerstört worden war, brachte den zeugungsunfähigen Spender in die gleiche Lage wie jene, in die er geraten wäre, hätte man ihn zeugungsunfähig gemacht. Dieses Argument wurde durch die Hochwertigkeit des ins Spiel gebrachten verfassungsrechtlichen Topos „Selbstbestimmungsrecht" verstärkt. Vor allem wurde sie auf diese Weise zur juristischen, d. h. an einen Rechtstext anknüpfenden Kategorie, mit der legitime Schutzinteressen erfaßt werden. Nach einer solchen Entscheidung eines Obergerichts liegt es nahe, in zukünftigen, auch anders gelagerten Fällen, den Topos87 in ähnlicher Weise zur Internalisierung von Problembewertungen zu nutzen, die in der Reproduktionsmedizin angesichts neuartiger Problemkonstellationen vertreten werden88. Ein
M Vgl. BGHZ 124,52/54 m w. N.; Taupitz 1995: 746. 84 BGHZ 124,52/55 f. 85 Hätte der BGH das Selbstbestimmungsrecht nicht nur als Topos genutzt, dann wäre er an die Voraussetzungen gebunden gewesen, die für ideelle Schäden bei Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gelten (Schwere der Verletzung oder des Verschuldens; vgl. BGH 35, 363/368 f. - Ginseng; BVerfGE 34, 269/286 - Soraya) und hätte den Anspruch wohl verneinen müssen. 86 BGHZ 124, 52/54. 87 Zu Recht weist Bydlinski darauf hin, daß die beliebte Dichotomie von systematischem und topischem Denken wenig fruchtbar erscheint, weil sie offenläßt, „warum nicht wenigstens als rechtliche Prämissen anerkannte und immer wieder aufgerufene ,Topoi( in ,das System* einbezogen werden können und müssen" (1995: 19). 88 Exemplarisch Brohm (1998: 199 ff. m. w. N.), der anmerkt, daß „die Entscheidung den gegenwärtigen Trend (trifft), das Persönlichkeitsrecht im biotechnischen Bereich stärker zur Geltung zu bringen" (ebd.: 200).
248 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
Normbildungsvorgang in dem Sinne, daß eine neue Konditionalnorm entstanden wäre, liegt darin 89 nicht, wohl aber eine funktionale Argumentform, die im Kontextrichterrechtlicher Normbildung genutzt werden kann - und damit ein Ansatz für rechtliche Eigenwertbildungen.
II. Die Rationalität des Abwägens Abwägung hat als Form juristischen Begründens eine ganz eigene Rationalität, die sich auf die daran geknüpften Möglichkeiten des Entscheidens auswirken. Ihre Rhetorik bewirkt eine spezifische Reflexivität rechtlicher Argumentation, die das Recht vorübergehend zukunftsoffen und offen für außerrechtliche Kommunikation macht. Gesellschaftliches Handeln wird auf diese Weise nicht reflexionslos entlang den Vorgaben routinisierter Regeldiskurse koordiniert, sondern - jedenfalls vorübergehend - unter Rückgriff auf rechtsexterne Rationalität geregelt. Zumindest werden außerrechtliche Bewertungsmaßstäbe zum Zwecke rechtlicher Begründung beliehen.
1. Abwägung und Rhetorik In diesem Abschnitt soll aufgezeigt werden, in welcher Weise Abwägung als sprachliche Konvention ermöglicht, Gegensätzliches auf die Ebene eines einheitlichen Darstellungshorizonts zu bringen. Diese Leistung des Sprachspiels abwägender Begründung ist Voraussetzung dafür, Entscheidungen als eindeutig und richtig zu präsentieren, wo Eindeutigkeit mangels Einheit eigentlich nicht möglich ist.
a) Die Waage der Justitia Abwägung ist ein juristischer Argumentationsmodus, der an und für sich, wie der Ausgleichsbegriff der Billigkeit, für besonders schwerwiegende Fälle reserviert ist, die sich aufgrund ihrer unvorhersehbaren, d. h. nicht typisierbaren Einzigartigkeit einer vollständigen konditionalen Fixierung entziehen. Je mehr das Recht durch schriftliche Fixierung und moderne Gleichbehandlungserwartungen stabile Redundanzen und damit rechtsspezifische Eigenwerte ausgebildet hat, desto erforderlicher sind Ausgleichmechanismen geworden, durch welche allzu krasse Kontraste zu außerrechtlichen Bewertungsmaßstäben ausgeglichen werden, ohne die Rechtsform verlassen zu müssen90. Beispielsweise ist in § 34 StGB eine „Abwägung der widerstreitenden Interessen" explizit gefordert. Mit dem Bild des Abwägens sind Vorstellungen von sorgsamer Überlegung und begründbarem Insverhältnissetzen verbunden, die der klassischen Vorstellung von unparteilicher justi89 Natürlich ist im Obersatz des Urteils eine Konditionalnorm enthalten. 90 Siehe obige Ausführungen zur Abwägung als Paradoxiebewältigungsprogramm, § 81.2.
§ 8 Abwägung von Prinzipien
249
zieller, ausgleichender und austeilender Gerechtigkeit verbunden sind91. Sind schon nicht Berechenbarkeit und materielle Rechtssicherheit möglich, dann will man wenigstens eine Entscheidung, die sich durch ihre Begründung als unparteiisch ausweist und erkennen läßt, daß alles, was relevant erscheinen könnte, berücksichtigt wurde. Die Vorstellung, der Vorgang des Abwägens entspreche seinem Urbild, dem Austarieren einer Waage, hat rhetorische Qualität. Sie wirkt beruhigend, indem sie unterstellt, daß es nach wie vor Möglichkeiten richtigen Entscheidens gibt und daß es gelingen kann, auch komplexe und gegenläufige Konflikt- und Interessenlagen punktgenau zum Ausgleich zu bringen. Eng damit verknüpft sind Vorstellungen zweckrationalen Entscheidens. Dieser Entscheidungsmodus entspricht der Selbstbeschreibung modernen, aufgeklärten Handelns. Max Weber hat diese Beschreibung explizit gemacht: Zweckrational handelt danach, „wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie auch endlich die verschiedenen möglichen Zwecke rational gegeneinander abwägt: also jedenfalls weder affektuell (und insbesondere nicht emotional), noch traditional handelt. Die Entscheidung zwischen konkurrierenden und kollidierenden Zwecken und Folgen kann dabei ihrerseits wirfrational orientiert sein: dann ist das Handeln nur in seinen Mitteln zweckrational. Oder es kann der Handelnde die konkurrierenden und kollidierenden Zwecke ohne wertrationale Orientierung an „Geboten" und „Forderungen" einfach als gegebene subjektive Bedürfnisregungen in eine Skala ihrer von ihm bewußt abgewogenen Dringlichkeit bringen und darnach sein Handeln so orientieren, daß sie in dieser Reihenfolge nach Möglichkeit befriedigt werden."92
Auf diese Weise läßt sich vieles als rationale, nicht willkürliche Entscheidung darstellen, ohne daß Darstellungszwänge allzusehr die Entscheidungsfreiheit einschränkten. Zugleich kann man sehr umfassend reflektieren, denn diese Form der Entscheidungsbegründung nötigt eine Begründungslast auf, die den Nachweis verlangt, man habe alles Wesentliche berücksichtigt und zu anderen Gesichtspunkten ins Verhältnis gesetzt. Auf diese Weise wird Recht fast zwangsläufig reflexiv und zukunftsgewandt, wird zugleich Medium und „Gegenstand reflektierender Kommunikation"93. Man ist genötigt, sich wenigstens bei der Entscheidungsbegründung dazu zu verhalten, welche nachteiligen und vorteilhaften Folgen diese Entscheidung im Vergleich mit anderen möglichen Entscheidungen hat. Der jeder Abwägungsentscheidung inhärente Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit seinen KateWer in dieser Weise begründet, dem kommt zugute, daß Gerechtigkeit auf Werteskala juristischer Selbstverständnisse den höchsten Rang einnimmt (Gast 1987: 2), als Kontingenzformel dient, „die historisch gegebene Plausibilitäten in Anspruch" (Luhmann 1995a: 220) nimmt. Das „.geschlossene System4, wie es durch die Idee der Kodifikation repräsentiert wird" (/. Esser 1990: 44), wird auf diese Weise unter „Rückgriff auf den communis consensus und das Evidente oder Unangefochtene, der im offenen System die Verbindlichkeit axiomatischer Ableitungen ersetzt" (J. Esser 1990: 46), geöffnet. 92 Weber 1980: 13 [Hervorh. im Orig., D.M.]. 93 Münch 1992: 72; siehe hierzu bereits oben, § 5 m. 3. c), § 81. 1. b).
250 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
gorien (Geeignetheit, milderes Mittel, Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne einer Güterabwägung) zwingt dazu.
b) Abwägung als argumentative Grundformel ethischer und anderer Risikodiskurse Zu Beginn der Arbeit 94 wurde ausgeführt, daß im Bereich moderner Medizintechniken auf die bisher handlungsleitenden Wert- und Wissensbestände nicht oder nur noch bedingt zurückgegriffen werden kann, weil die innere Natur des Menschen kontingent wird und gemeinsame Wertbestände in der sich ausdifferenzierenden Gesellschaft zunehmend zerfallen. Risikodiskurse zeichnen sich durch notorischen strukturellen Dissens aus95. Jede Risikoentscheidung findet damit fast zwangsläufig ihre Kritiker. Unterschiedliche Interessen und der Reichtum der einander widersprechenden Argumente und Meinungen sorgen dafür, daß die Kontingenz der getroffenen Entscheidungen (man hätte auch anders entscheiden können) sich nicht unsichtbar machen und in Konsens überführen läßt. Abwägung ist die klassische Begründungsformel für diese überaus schwierige Konstellation. Der Begründungsmodus der Abwägung findet sich überall dort, wo Folgen von Entscheidungen und Entscheidungsalternativen, Beobachtungen mit Gegenbeobachtungen, Risiken und Chancen argumentativ ins Verhältnis gesetzt werden müssen. Man kann das Für und Wider der Entscheidung in einer Weise aufbereiten, die deutlich macht oder wenigstens suggeriert, daß alle Aspekte des Problems berücksichtigt wurden. Was in den einschlägigen, auch außerrechtlichen Risikodiskursen unübergehbar präsent ist, kann thematisiert und miteinander abgestimmt werden. Rechtsexterne Rationalitäten, Argumentations- und Bewertungsmuster lassen sich so recht umstandslos in rechtliche Begründungsformen internalisieren. So kann es nicht verwundern, daß in den hier interessierenden Diskursen ethischer wie juristischer Disziplinen Abwägung angemahnt wird 96 . So wägt man „Chancen und Risiken der Gentechnologie"97 miteinander ab. Bevorzugte Reflexionsformen ethischer Traktate über Techniken und Risiken erfolgen in Formeln des „einerseits/ andererseits" oder des „zwar/aber" 98. Diese Reflexions- und Begründungsformen entsprechen klassischen kaufmännischen und ingenieurstechnischen Formen der 94 § i vn. 95 s.o.,§2H. 1. % Abwägung wird von Autoren unterschiedlichster Disziplinen gefordert: vgl. Schüz 1990: 231 ff.; Irrgang 1991: 266; Bimbacher 1991; von Rosenstiel 1990: 130 f.; Di Fabio 1993: 112 und 1994: 55, 454 f.; Stoll 1991: 150 ff.; Kloepfer 1993: 70; Denninger 1990: 35; Evers/Nowotny 1987: 34. Selbst medizinisch-therapeutische Entscheidungen lassen sich als Güterabwägung darstellen, wenn psychologische, ökonomische und ethische Gesichtspunkte mit einfließen sollen; vgl. von Eiff 1996. 97 So der Titel der einschlägigen Studie der gleichnamigen Enquete-Kommission des 10. Deutschen Bundestages (1987). 98 Vgl. Bechmann 1993b: 260; Narr 1988: 97.
§ 8 Abwägung von Prinzipien
251
Risikobewertung. Auch dort wird potentieller Nutzen mit potentiellen Kosten verrechnet, werden Alternativen miteinander verglichen. Ein Begründungsmodus aber, der in unterschiedlichen Kontexten Verwendung findet und dort jeweils für Rationalität, Sachgerechtigkeit und Ausgewogenheit steht, hat eine erhöhte Akzeptanzchance, weil er seiner narrativen Struktur nach Präferenzmustern entspricht, die Angehörigen unterschiedlicher (wissenschaftlicher, ökonomischer, medizinischer, rechtlicher und anderer) Rationalitätskulturen vertraut sind. Es wird eine „Geschichte" erzählt, die wenigstens der Form nach „Geschichten" Begründungskonventionen ähnelt".
c) Vom „Alles-oder-nichts-Prinzip
" zur differenzierenden
Betrachtung
Die Konjunktur der Abwägungsfigur in unterschiedlichsten Diskursen deutet darauf hin, daß Rolf Benders Beobachtung, daß sich die Sensibilität für differenziertere Lösungen gesteigert habe 100 , zutrifft. Dafür dürfte es mehrere Gründe geben. Man könnte sie darin suchen, daß auch die Rechtsprechung mehr in das Kräftefeld unterschiedlichster Interessen und Diskurse gerät 101. Sie könnten in der hohen Dynamik von gesellschaftlicher Veränderung und sozialem Wertewandel liegen, die eindeutige harte Regelungen inadäquat erscheinen läßt. Die Tendenzen zur Regulierung durch soft law weisen darauf hin. Man kann insoweit auch von Feinsteuerung sprechen. Lassen wir die Frage nach den Gründen mit diesen kurzen Andeutungen auf sich beruhen. Ich begnüge mich damit, auf einen weiteren Vorzug prinzipienorientierter Begründung zu verweisen, mit dem dieser Sensibilität Rechnung getragen wird. Während Konditionalnormen dem „Alles-oder-NichtsPrinzip" folgen, harte Grenzen setzen, an denen entweder der Tatbestand erfüllt ist oder nicht, sind viele der heutigen Topoi weicher und differenzierter 102. Die Abwägung von Prinzipien, insbesondere wenn sie in Fällen erfolgt, in denen die Rechtsfolge erst noch konstruiert werden muß, ermöglicht solch differenzierende Lösungen und hält diese Möglichkeit für spätere Fälle weitgehend offen, insbesondere wenn es sich, wie dies oft der Fall ist, um eine „Abwägung im Einzelfall" handelt103: Für die Begründung eines anderen Ergebnisses reicht der Nachweis, daß ein besonderer Umstand eine andere Gewichtung erfordert.
s. o., § 81. 1. b), bei und in Fn. 30. 100 Bender 1980: 330. 101 Vgl. Münch 1995: 183 m. w. N. 102 Vgl. Bender 1980: 329 f., der zum Beleg auf Rechtsfiguren wie die culpa in contrahendo und die differenzierten Abstufungsmöglichkeiten des § 254 BGB (nach Verschuldenanteü des Geschädigten) verweist. i°3 Eingehender hierzu im Fortgang unter § 10 III. 4. d).
252 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
d) Der Gesichtspunkt des zurückgestellten
Interesses
Zumindest tendenziell akzeptanzfördernd muß eine weitere Eigenheit wirken, die Begründungen, welche im Modus der Abwägung erfolgen, aufweisen. Bei Abwägungen geht es darum, welchen Belangen im konkreten Fall das größere Gewicht zukommt. Anders als Regelkonkurrenzen erfolgen Prinzipienkollisionen Jenseits der Dimension der Geltung in der Dimension des Gewichts"104. Sie erlangen damit Bedeutung über jenen engen argumentationstheoretischen Zusammenhang hinaus, in dem sie getroffen wurden. Bestimmte Interessen der unterlegenen Partei werden anerkannt, auch wenn ihnenfiir den konkreten Einzelfall bescheinigt wird, daß sie in dieser Konstellation einem anderen aufgrund anerkannter Werte berechtigten Interesse weichen muß. Das weichende Interesse wird nicht etwa völlig negiert. Vielmehr wird seine Geltung für zukünftige, ähnlich gelagerte Fälle als wesentlicher und damit berücksichtigungspflichtiger Gesichtspunkt anerkannt, dessen Unterliegen im Einzelfall Begründungslasten auslöst, die abgearbeitet werden müssen105. Im Urteil selbst wird signalisiert, daß die Vorrangfrage unter anderen Umständen möglicherweise entgegengesetzt zu entscheiden wäre. Man hat zwar im Ergebnis verloren, ist aber mit bestimmten Interessen zur Kenntnis genommen worden. So kann das in der Begründung zum Ausdruck gelangende richterliche Bedauern, nicht allen berechtigten Interessen vollständig stattgeben zu können106, als Vorschein für Günstigeres in weiteren Auseinandersetzungen genommen werden. e) Abwägung als partielle Zeitumstellung Rechtliches Begründen transformiert Kriterien der Wichtigkeit in solche der Wahrheit und Richtigkeit. Indem Sachverhalte rechtlich bewertet werden, verwandelt sich ein an Analogien, Ähnlichkeit, Typik und Relationenbildung orientiertes Denken in eine Betrachtungsweise, die einem Code binärer, absoluter Beurteilung nach Kriterien wie „richtig/falsch", „wahr/unwahr", „Recht/Unrecht" unterliegt 107 . Dritte Werte sind ausgeschlossen. Regeldiskurse unterliegen, wie wir gesehen haben, dieser Sprachstruktur im Extrem. Die Konditionalform erlaubt nur ein entweder/oder 108. Entweder der Sachverhalt entspricht dem Tatbestand oder nicht. Dieser Modus des Urteilens orientiert sich an vorangegangener Kommunikation. „Das Prädikat »richtig4 bezieht sich auf Verhaltensakte und deren Resul104 Alexy 1986: 79; siehe auch oben, § 3 I. 2. 105 Ein gutes Beispiel stellt BGHZ 24, 72 - Krankenpapiere - dar; s. o., Fn. 76 und unter § 10 m. 4. 106 Man kann sich damit trösten, daß man nicht aufgrund schlechteren Rechts, sondern wegen der ungünstigen konkreten Umstände unterlegen ist. 107 Zur Differenzierung nach diesen Ordnungskriterien vgl. Waidenfels 1987: 69 ff.; zur binären Codierung von Recht s. o., § 61. 1., bei Fn. 9.
s.o., §31. 1., §311. 1., § 61. 1.
§ 8 Abwägung von Prinzipien
253
täte" 109 , es ist an absolute Maßstäbe110, die in der Vergangenheit generiert wurden, gebunden. Bernhard Waldenfels hat den interessanten Hinweis geliefert, daß „schon aus der Aristotelischen Rhetorik ( . . . ) zu lernen (sei), daß die Vergangenheit nur in einer bestimmten Redeform, eben in der Gerichtsrede, dominiert, nicht aber in der beratenden Rede, die artikuliert, was erst noch zu tun ist, und nicht, was bereits getan wurde" 111. Das Prädikat „wichtig" ist dagegen zukunftsbezogen. Es „bezieht sich primär auf etwas, das zur Rede oder zur Handlung ansteht"112, „tritt in der Regel als relative Bestimmung auf: etwas ist wichtig in bestimmten Zusammenhängen, für jemand usw., und es läßt sich ohne weiteres komparativistisch verwenden: etwas ist wichtig oder weniger wichtig"113. Mit dem Argumentationsmodus der Abwägung, insbesondere der Abwägung im Einzelfall, wird die Differenz zwischen vergangenheitsorientiertem Bewerten in absoluten Kategorien von Recht und Unrecht und zukunftsorientierter komparativer Bewertung unterlaufen. Es wird in Formen der beratenden Rede offen verglichen, gewichtet und bewertet: Werte mit anderen Werten, rechtlich geschützte Interessen mit gegenläufigen Interessen, Nutzen mit Kosten, Chancen und Risiken, verschiedene Alternativen und Folgenerwägungen. Am Ende aber steht eine nach Recht und Unrecht differenzierende Entscheidung, die sich als eindeutige und fraglos richtige Auslegung eines Textes und damit als vergangenheitsorientiert präsentiert. Diese Zeitumstellung erfolgt, da sie in eine binär Recht und Unrecht zuteilende Vorrangrelation mündet, verdeckt. Sie destruiert rechtliche Vergangenheitsorientierung nicht, sie suspendiert sie nur. Daher kann jederzeit wieder vergangenheitsorientiert, d. h. in rechtlich vorgeprägter Weise argumentiert werden.
2. Latenzerzeugung durch Abwägung von Werten Im Kontext moderner Risiken geht es „weniger um die den Juristen vertraute Abwägung von zwei hinreichend konturierten Rechtsgütern; es geht vielmehr häufig um die Abwägung von Bekanntem und Ungewissem, von mehreren Risiken und mehreren Nutzenoptionen"114. Man hat es mit Konflikten zu tun, die unentscheidbar erscheinen, weil hinsichtlich möglicher Folgen (Chancen und Risiken) keine ausreichenden Wissens- bzw. Vertrauensbestände vorhanden oder durch Entscheider generierbar sind. Nicht zuletzt aufgrund der strukturellen Differenz von Entscheidern und Betroffenen zeichnen sich Risikodiskurse dadurch aus, daß dort 109 Waidenfels
1987: 69.
110
Vgl. Waidenfels 1987: 70. in Waidenfels 1987: 67. 112 Waldenfels 1987: 69. 113 Waldenfels 1987: 70 [Hervorh. U4 DiFabio 1994:455.
im Orig., D.M.].
254 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
unvereinbare Orientierungen aufeinandertreffen 115. Politisch erzeugte Entscheidungs- und Wertungspräferenzen sind Rarität. Unentscheidbarkeiten werden in unterschiedlichen kulturellen Kontexten durch spezifische Reduktionsmuster (Marktkriterien, Kriterien der Hierarchie oder des Egalitarismus) asymmetrisiert: Die Gleichwertigkeit der Alternativen wird beseitigt und damit für laufendes Entscheiden verfügbar 116. Klassische Wertungsargumente am Ende einer Argumentationskette sind die Aussagen, daß (im konkreten Fall) ein Wert/Interesse/Recht schutzbedürftig/ gleich schutzbedürftig/schutzbedürftiger ist oder ein bestimmtes Interesse höherrangiger als ein anderes ist. Abwägung ermöglicht eine solche Asymmetrisierung durch selektiven Rückgriff auf rechtseigene und rechtsexterne Deutungs- und Bewertungsmuster, v. a. aber durch den dezisionistischen Akt der Wertung. Dessen Willkür 117 wird allein dadurch verhüllt, daß sich der Weitende auf außerhalb seiner Person liegende, konsentierte Werte berufen kann. Die Geltung von Werten wird unterstellt, sie gelten als solche ohne weitere Begründung118. Bestimmten Werten kann man die Geltung nicht generell bestreiten, will man sich nicht aus dem Diskurs verabschieden. Bei weitgehend akzeptierten Werten bleibt lediglich, ihre Relevanz für den Einzelfall zu bestreiten119. Die Verfassung als Legalitätsreserve 120 ermöglicht, auf konsentierte abstrakte Normen zurückzugreifen, die nahe am Minimalbestand gesellschaftlicher Basisnormen liegen und in dieser Abstraktheit und Diffusität eine größere Kontinuität aufweisen als auf der Ebene ihrer Konkretisierung und Ausführung. Da festgefügte Werteordnungen oder Metaregeln für Wertekonflikte nicht existieren121 und ihre logische Schließung nicht möglich ist, sind Werte „oft ebenso unstreitig, wie für die Entscheidung inkonklusiv"122. Ge115 Vgl. Beckmann 1996: 56 ff.; zur strukturellen Differenz von Entscheidern und Betroffenen s. o., § 21. 1. Vgl. Japp 1996: 14 ff.
i 1 7 Versuche,richterliche Wertung zu rationalisieren und Abwägung willkürreduzierenden Begründungsformen einzupassen (z. B. Hubmann 1977; Alexy 1986: 143 ff.; Langenbucher 1996: 40 ff.), ändern nichts an der als solchen erkennbaren Dezision. Zür Vorstellung rechtlichen Wertens siehe auch Sprenger 1996. Iis Vgl. Luhmann 1993b:18 f.; 2000: 56 f. 119 Natürlich kann man versuchen, Werte in ethischen Diskursen zu begründen. In politischen und alltagsmoralische Diskursen werden Werte jedoch üblicherweise nicht begründet, vielmehr wird ihre Geltung unterstellt. 120 Vgl. Schuppen 1995: 52. 121
Daher ist die vom BGH begründete (Z 50, 133/138) und vom Bundesverfassungsgericht übernommene Rede vom Grundgesetz als Werteordnung günstigenfalls Rhetorik, im schlimmsten Fall ausgrenzende Ideologie. Ihrer Funktion nach sind Werte „Erklärungen, mit denen das Recht die interne Konstruktion des Stufenbaus im Verhältnis zur Umwelt abschließt" (Roellecke 1996b: 430). 122 van den Daele 1991b: 17; ähnl. Luhmann 1993b: 20; zum Problem vgl. auch Gast 1997: 320 ff., bes. 328, 330; Pawlowski 1987: 124 ff. sowie H. Hesse 1996: 455 f., bei dem von „der Offenheit juristischer Abwägungsformeln" die Rede ist. Bereits Josef Esser hat darauf hingewiesen, daß Prinzipien ,4m Recht niemals aus sich heraus ergiebig (sind), sondern
§ 8 Abwägung von Prinzipien
255
rade deshalb können sie mit Akzeptanzerwartungen als Konsensformeln in Anspruch genommen werden, ohne die Entscheidungsmöglichkeiten zu limitieren. Güterabwägung wird so zum Scharnier, mit dem zerbrochenen Konventionen, gegensätzlichen Interessen, unterschiedlichen Wertpräferenzen und einer unvorhersehbaren Zukunft die Möglichkeit eines einheitlichen Sinnhorizonts aufgezwungen wird. Werten darf allerdings nur, wer dazu berufen ist 123 . Die für Entscheidungen erforderliche Begrenzung des diskursiv Möglichen erfolgt durch prozedurale Verknappung berechtigt sprechender Subjekte124. Daß letztlich nur Gerichte mit Verbindlichkeitsanspruch weiten dürfen, legitimiert Begründungsabbrüche und verhindert, daß über den gesamten Bereich, in dem Gründe und Gegengründe gefunden werden können, argumentiert und damit die Ressourcen Zeit und Arbeit verschwendet werden. Durch Abwägung kann Latenz 125 erzeugt werden. Mit der Wertung wird - für den konkreten Fall - bestimmten Positionen, Problemsichten oder Verhaltensweisen Beachtlichkeit und anderen Unbeachtlichkeit zugesprochen. Ähnlich wie beim Grenzwert 126 erfolgt eine fiktionale Spaltung in einen negativen Bereich und einen positiven, beherrschbaren Bereich. Es wird klargestellt, was zulässig ist und was nicht. Damit ist die rechtliche Diskussion vorerst beendet, Protest wird absorbiert, die rechtsexterne Kommunikation über Unsicherheit reduziert. Öffentlichen Diskursen über Risiken und deren Handhabung wird der Boden entzogen, indem ihre Argumente partiell in die rechtliche Bewertung einbezogen, als Rechtspositionen internalisiert werden, andere als rechtlich irrelevant delegitimiert und damit tendenziell in den Latenzbereich verschoben werden 127. Damit wird Aufmerksamkeit teils entzogen, teils fokussiert. Soweit die Argumente als nunmehr auch rechtliche im juristischen Diskurs sagbar sind, legen sie Interessierten den Rechtsweg nahe, in dem aber jene Gesichtspunkte, die sich rechtlichen Kategorien nicht fügen, unsagbar bleiben128. stets erst durch die justizielle Arbeit, deren Produkt sie sind, oder die unter ihrer Ägide einen neuen Ansatz zu institutionellen Neulösungen wagt" (1953: 526). 123 In Risikodiskursen um Technikanwendungen hat die Betonung juristischer Wertungskompetenz gegenüber technischem Sachverstand nachgerade rhetorischen Gehalt, weil Juristen ihrem professionellen Selbstverständnis nach „Träger ethischer und sozialer Wertvorstellungen" sind (Mai 1990: 504).
iw Vgl. Foucault 1991: 11, 26 ff.; s. o., § 4 VI. 125 Zum Begriff s. o., § 21. 3. c) und d), § 7 I. 1. 126 s. o., § 71.1., bei Fn. 6. 127 Der mit der Rückstellung unterlegener Interessen verbundene Änderungsvorbehalt [s. o., § 8 II. 1. d)] legitimiert und mildert diese Wirkung. 128 Die Thematisierung von Angst, moralisierende Schuldzuweisungen, Argumente, die Volkszählungsverweigerer im politischen Diskurs recht erfolgreich hatten nutzen können, blieben auch nach dem Volkszählungsurteil (BVerfGE 65, 1) im juristischen Diskurs unsagbar, nicht wahrheitsfähig. Im politischen Diskurs aber waren sie, gerade weil im Volkszählungsurteil so weitgehend Argumente des rechtsexternen Risikodiskurses über die elektro-
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3. Offenhalten der Zukunft: Vermeidung vorzeitiger Selbstbindung Weiter oben 129 war der Begründungsmodus der Abwägung als partielle Zeitumstellung bezeichnet worden. Dabei war stark auf die Sprachform abgestellt worden. Für die Temporalstruktur dieser Form juristischen Begründens ist ein weiterer Aspekt von Bedeutung: Abwägung ermöglicht, schnell und umstandslos außerrechtliche Argumente und Problembewertungen einzubinden, die Bildung rechtlicher Eigenwerte zu verzögern, Recht also flexibel, reaktionsfähig und zukunftsoffen zu halten. Als ein Moment gerichtlicher Abwägung hat Ladeur eine „Vergesellschaftung des Rechtsmaßstabes" benannt: „Trends, Werte, konjunkturelle Bedingungen etc. werden zu variablen »Gesichtspunkten4 in einem normalisierenden und normalisierten Wahrnehmungshorizont."130 An eine bereits konstituierte Normalität, die zumindest durch die gesellschaftliche Majorität oder die Trägergruppen öffentlicher Meinung getragen wird, können Gerichte jedoch nicht ohne weiteres anknüpfen, wenn in öffentlichen und halböffentlichen Risikodiskursen teilweise gegenläufige Problemwahrnehmungen und -bewertungen kommuniziert werden. So müssen sie mit neuen Begründungen Anschlußfähigkeit an Risikodiskurse suchen. Dadurch wird jede Entscheidung, soweit sie über ihre Begründung und die daran anknüpfende Rezeption strukturelle Änderungswiderstände (rechtliche Eigenwerte) aufbaut, für das Rechtssystem selbst zum Risiko. Schon morgen kann sich die durch Gerichtsentscheidungen vermittelte Sicherheit in Problembereichen mit einer hohen Veränderungsdynamik als trügerisch erweisen. Dies insbesondere dann, wenn in öffentlichen Risikodiskursen in Prozessen von Beobachtung und Gegenbeobachtung Latenzbereiche aufgebrochen werden, andere Beobachterperspektiven in der Öffentlichkeit Gewicht gewinnen und Expertisen, Datenkränze und Rationalitätskonzepte, auf die man bislang meinte, vertrauen zu dürfen, über Nacht demontiert werden 131. Zudem können sich Einzelfallentscheidungen, die
nische Datenverarbeitung rezipiert und damit aufgewertet worden waren, tendenziell entwertet. Mit Anerkennung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung war definiert, was Bürger staatlicher Datenerhebung an Restriktionen legitimerweise auferlegen dürfen. 129 § 8 II. 1. e). 130 Ladeur 1984: 34. 131 s. o., § 2 I. 3., § 7 II. 2. und 3. Ohnehin können nie alle Daten, alle Haupt- und Nebenfolgen, alle Wertungsgesichtspunkte beachtet und berücksichtigt, d. h. im Urteil abgearbeitet werden (s. o., § 7 I. 3.). Richterliche Wahrnehmung hält sich schon aus Gründen begrenzter Kapazität und Zeit im Rahmen dessen, was sich aus dem Vortrag der Prozeßbeteiligten, persönlich und professionell angeeignetem Vorwissen und einer durch aktuelle Aufmerksamkeitsschwellen und Themenkonjunkturen strukturierten Öffentlichkeit an Faktenwissen erschließen läßt. Daher ist die diskurstheoretische Forderung, bei der Regelauslegung alle Umstände der Situation zu berücksichtigen (Günther 1988: 287 ff.; Habermas 1987: 11 und 1994: 267; Alexy 1991: 301 f.), eine ebenso schöne wie unanwendbare Metaregel; krit. auch Ladeur 1991: 194; Luhmann 1995a: 345.
§ 8 Abwägung von Prinzipien
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auf der Mikroebene der unmittelbar betroffenen Parteien vernünftig erscheinen, aufgrund ihrer präjudiziellen Wirkung auf der gesellschaftlichen Makroebene zu synergetischen Effekten potenzieren132. Werden Entscheidungen und ihre Begründungen als nicht sachgerecht, als ,»falsch" beurteilt und mit gegenläufigen Wertungen rechtsexterner Diskurse konfrontiert, macht sich dies im Rechtssystem selbst als störendes Rauschen („noise") bemerkbar 133. Wir können davon ausgehen, daß Richterinnen und Richter harsche öffentliche Urteilskritik, Delegitimationseffekte und die eigene Überraschung, im nachhinein zu erkennen, nicht sachgerecht entschieden zu haben, möglichst vermeiden wollen und dementsprechend handeln, soweit erkennbar ist, daß das zu regelnde Problemfeld von einer hohen Veränderungsdynamik und gesellschaftlich stark differierenden Problembewertungen geprägt ist. Gerade wenn für Rationalität und Sachgerechtigkeit optiert wird, zugleich aber ein Bewußtsein für inkonsistente Umwelten (Technikentwicklung, Risikodiskurse) besteht und das Vertrauen in bislang geltende Rationalitätsoptionen (Wissen, Erfahrung, wissenschaftlicher Sachverstand) zerfällt, tendieren Akteure dazu, Selbstbindungen individuell wie kollektiv möglichst zu vermeiden134. An höheren Gerichten besteht ein Bewußtsein für die Gefahr voreiliger Selbstbindungen. Vieles spricht dafür, daß die Vermeidung vorschneller Selbstbindungen ein Sekundärzweck höchstrichterlicher Entscheidungspraxis ist 135 . Insbesondere will man vermeiden, daß die eigene Rechtsprechung in anderen Fallkonstellationen und Regelungsbereichen die Begründungsmöglichkeiten limitiert. Es gehört „zur Standeskunst des Revisionsrichters, auch die Grundsatzentscheidungen, die ( . . . ) jenseits des prozessualen Zusammenhangs keine formell bindende Kraft haben, so umsichtig und vorbehaltvoll zu formulieren, daß die schrittweise Verbesserung durch die Kasuistik nicht behindert wird" 136 . Wie sich das Problem ausrichterlicher Sicht darstellt, hat der ehemalige Vorsitzende des VI. Senats des Bundesgerichtshofs, Erich Steffen, in deutlichen Worten beschrieben: „Defizite der Güterabwägung sind aufoktroyiert durch die sehr wechselnden Aggregatzustände dieser Schutzinteressen und Schutzgüter, mit denen wir es zu tun haben. Die Suggestivkraft, aber auch die Flüchtigkeit der Wirkungen der Medien, an denen wir unsere Lösungskonzepte und Lösungen messen 132 s.o., §711.1. 133 s. o., § 61. 3., § 7 in. 134 Grundlegend hierzu Japp 1992: 34 ff.; 1996: 52,69 f. 135 Vgl. Füßer/Hensche 1996: 60 f., 66 f.; s. o., § 4 XI., Fn. 137. 136 7. Esser 1990: 276 f.; ähnl. Bender 1980: 324 f. So hat etwa der BGH seine Samenspender-Entscheidung (Z 124, 52) so begründet, daß die für die Kompensation immaterieller Schäden bei Persönlichkeitsverletzungen geltenden Voraussetzungen (geringe Schwere der Verletzung und des Verschuldens) umgangen werden konnten [s. o., § 8 I. 2. d) dd), bes. Fn. 85]. Taupitz hat dies mit der Bemerkung kommentiert, daß sich das Gericht an die eigenen „selbstbeschränkend" entwickelten Grundsätze offenbar stärker als an das Gesetz gebunden fühle (Diskussionsbeitrag in Karlsruher Forum 1997: 77). Offenbar wirkt das Verbot selbstwidersprüchlichen Sprechens (vgl. Alexy 1991: 234) als limitierendes Prinzip des Diskurses. 17 Maitra
258 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
müssen: die Körperlosigkeit des Personalen, die Vielschichtigkeit des unternehmerischen Organismus."137 Aber nicht nurrichterliche Äußerungen lassen erkennen, daß die Gefahr vorschneller Selbstbindung bei Obergerichten präsent ist. Der häufige Hinweis in Revisionsentscheidungen, es seien stets die Umstände des Einzelfalls zu beachten 138 , zeigt deutlich, daß Varianz bewußt erhalten wird und selbstbindende Redundanzen vermieden werden, weil man sich selbst nicht sicher ist, wie tragfähig und verallgemeinerungsfähig die konkrete Fallentscheidung ist 139 . Man begnügt sich vorerst damit, die Lösung des Einzelfalls und ihre Begründung dem , judiziellen Thesaurus" (J. Esser) einzuverleiben. Auch die Möglichkeit, durch Abwägung jederzeit auf höchstrangige, abstrakte Normen zurückgreifen zu können, verringert das Risiko höchstrichterlicher Selbstbindung. Kollidieren die betreffenden Prinzipien in einer anderen Fallkonstellation, so kann die Frage des Vorrangs anders gelöst werden. Der Prinzipiendiskurs verläuft zunächst neben dem Regeldiskurs, läßt diesen, solange die Entscheidung eine Einzelfallentscheidung bleibt, unbeschadet140. Auf die Einholung regelspezifischer Redundanz kann zur Not verzichtet werden, eine Auseinandersetzung mit anderen rechtlichen Argumenten umgangen werden. Es genügt die Technik des Distinguishing. Extern erzeugter Störungsdruck läßt sich beseitigen, ohne daß bisherige Rechtsentscheidungen in delegitimierender Form revidiert werden müßten. Der Abgleich mit dem Regeldiskurs, insbesondere mit der bestehenden Dogmatik, wird weitgehend der Rechtswissenschaft überlassen141.
4. Abwägung als „Monitoring" des Rechtssystems? Durch Abwägungsbegründungen läßt sich demnach die Änderungsschwelle von Eigenwertbildungen reduzieren. Sie ermöglichen, in Reaktion auf extern verursachte Dissonanzen zwischen Recht und Gesellschaft jederzeit mit den vergleichsweise unflexiblen Vorgaben von Regeldiskursen zu brechen. Damit stellt sich die Frage, ob Prinzipienabwägungen als „Monitoring" des Rechtssystems verstanden werden können. Unter Monitoring soll hier die Institutionalisierung eines Mecha137
Diskussionsbeitrag in: Karlsruher Forum 1997: 52. Bereits 1882 postulierte das Reichsgericht, bei der Schmerzensgeldbemessung sei neben den von ihm aufgestellten Kriterien auf die Umstände „des konkreten Falles" abzustellen (RGZ 8, 118). 138
139 Gerade in Bereichen, die neu und einmalig erscheinen, dürften ad-hoc-Argumente häufig rein pragmatisch und rhetorisch genutzt werden, um „die Begründung im dogmatischen Milieu völlig offen zu lassen und juristisch gleichsam unkontrolliert und unprogrammiert zu argumentieren" (/. Esser 1980: 221). 140 Das gilt für die neuartige und überraschend erfolgende Abweichung von den Vorgaben des Regeldiskurses, kann sich aber im Verlauf weiterer Entscheidungen ändern, wenn neue Regelstrukturen entstehen.
141 Vgl. J. Esser 1980: 322 f.
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nismus permanenter Selbstveränderung des Systems nach dem Prinzip von „trial and error" verstanden werden: Externe Effekte eigener Entscheidungen werden beobachtet, einer Bewertung nach bestimmten Kriterien unterzogen und daran orientiert korrigiert. Auf diese Weise „lernt" das System142. In § 1 hatte ich u. a. dargelegt, daß die Anwendung technischer Neuentwicklungen aufgrund der „innovationsfreundlichen" Struktur der Grundrechte grundsätzlich zunächst einmal zulässig, quasi unter Verbotsvorbehalt erlaubt ist. Soweit überhaupt Einschränkungen bestehen (z.B. Zulassungsrecht für Medikamente, ärztliches Berufs- und Standesrecht, Strafrecht), erfassen diese oft nicht jene in Risikodiskursen thematisierten, neuen technikspezifischen Gefährdungslagen und Interessendivergenzen. Wer sich durch Anwendung neu entstandener (medizin-) technischer Möglichkeiten eingeschränkt sieht, hat nur selten ausreichende Macht, um sich auf Marktebene oder im politischen System durchzusetzen. Wer in diesem Sinne machtlos ist, kann jedoch, sobald er die Verletzung einer rechtlich anerkannten Position darzulegen vermag, aufgrund des Justizverweigerungsverbotes eine justizielle Entscheidung erzwingen. Damit ist das Rechtssystem - von Luhmann auch als „Immunsystem der Gesellschaft" bezeichnet - oft gezwungen, schneller, konkreter und unmittelbarer als das politische und das Wirtschaftssystem auf grundlegende, die persönliche Autonomie einzelner betreffende Gefährdungs- oder Konfliktlagen regulatorisch zu reagieren. Das Eigeninteresse der Beeinträchtigten aktiviert einen vergleichsweise dezentralen Durchsetzungsmechanismus143. Als Schaltstellen rechtlicher Selbstveränderungsprozesse ermöglichen Prinzipien, rechtsexterne Rationalität zu berücksichtigen und zu verarbeiten, soweit diese aufgrund intensiver einschlägiger Risikodiskurse nicht ignoriert werden kann. Der Modus der Prinzipienabwägung bietet dem Rechtssystem die Möglichkeit, auf Basis einer schwachen Datenlage durch wenige, zunächst schwache Eigenwerte vorläufige Urteile über neue Gesamtzusammenhänge auszubilden, die Anschlußentscheidungen zunächst wenig Veränderungsresistenz entgegensetzen. Werden sie in der Folge durch wiederholende Bezugnahme bestätigt, hat das System „gelernt" und stabile Eigenwerte ausgebildet, ansonsten kann „vergessen" werden. Trotz dieser Mobilisierungs- und Feinsteuerungsansätze kann allenfalls von defizitärem Monitoring die Rede sein. Ein volltauglicher Selbststeuerungsprozeß im Sinne kybernetischer Regelkreismodelle besteht nicht. Wesentliche Voraussetzung effektiver Regulierung nach dem trial-and-error-Prinzip ist, daß Rückmeldungen relativ schnell nach Durchführung der betreffenden Maßnahme in verständlicher, 142
Ich folge hier teilweise Überlegungen von Morone/Woodhouse zur Risikobewältigung politischer Systeme (1993; siehe auch Beckmann 1996: 52 f.). Eine konventionelle Strategie besteht im Lernen aus Erfahrung durch Versuch und Irrtum (Morone/Woodhouse 1993: 230 f.). Ladeurs Konzeption prozeduralen Rechts, in der subjektive Rechte der Erhaltung gesellschaftlicher Lernfähigkeit dienen (1992: 205 ff.; 1994a: 50 ff.), entwirft Vorstellungen postmodernen Rechts, die kybernetischen Monitoring-Modellen sehr nahekommen. »43 Vgl. Engel 1995: 215 f. Öffentlich-rechtliche Regulation erfolgt in der Regel zentralisierter. 17*
260 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
Orientierung ermöglichender Form eingehen und verarbeitet werden. Unter dieser Prämisse weist die in Rede stehende Form systeminterner Störungsverarbeitung spezifische Defizite auf: (1) Greifen Entscheider entlang eigener Präferenzen auf systemexterne Bewertungsmaßstäbe zurück, so erfolgen Beobachtung und Problembewertung gerade nicht nach faßbaren, systemspezifischen Rationalitätsvorstellungen unterliegenden Relevanzkriterien, sondern ad hoc und unsystematisch. (2) Gerichte können die Folgen ihrer Entscheidungen nicht kontrollieren. Sie erhalten „keine systematischen Rückmeldungen aus dem sozialen Umfeld" 144 . Weder fehlerhafte Folgenprognosen noch ihre Entscheidungen können sie selbst nachträglich korrigieren. Zwar stoßen die bei Abwägungsentscheidungen entlang rechtsexterner Rationalitäten angestellten Zweck- und Folgenüberlegungen u. U. sogar andauernd auf heftige öffentliche Kritik. Im Rechtssystem selbst kann dieses Feedback jedoch nicht ohne weiteres abgearbeitet werden, weil es außerhalb des prozessualen wie überhaupt des rechtlichen Interaktionskontextes erfolgt. Die präjudizielle Steuerungswirkung von Entscheidungen kann nur berichtigt werden, wenn in der Folge neue, ähnlich gelagerte Fälle Gegenstand von Klagen werden. Dies ist nicht gesichert. Die Kontrollmöglichkeiten des Instanzenzugs helfen hier nicht weiter, weil nicht gesichert ist, daß „Fehler" im Rahmen dieses primär auf dogmatische Konsistenzsicherung zielenden Prozesses entdeckt werden und die letzte Instanz am Ende vor demselben Problem steht. (3) Ein Feedback aus dem Kontext massenmedial vermittelter Risikodiskurse beruht auf den spezifischen Eigengesetzlichkeiten und Filterungsprozessen der Massenmedien145. Ob sich eine Entscheidung auf Ökonomie, Sozial- und Gesundheitswesen, individuelle Interessen etc. negativ auswirkt und auf Grundlage welcher Rationalitätsgesichtspunkte eine solche Bewertung erfolgen sollte, dies vermitteln öffentliche Diskurse nicht. Eine Rationalität höherer Ordnung bieten sie nicht, auch wenn sie einen Druck zu erzeugen vermögen, als ob dies der Fall wäre. Da der in Risikodiskursen eintretende Dissens außerdem wesentlich darauf beruht, daß „inkommensurable Orientierungssysteme aufeinandertreffen, deren Divergenz auf die logische und korrekte Befolgung verschiedener bestehender Regeln und Normsysteme zurückzuführen sind" 146 , stehenrichterliche Entscheider vor dem Problem eines unklaren Feedbacks, das wenig Orientierung bietet, weil „die kausalen Verknüpfungen zwischen Versuch und Irrtum undurchsichtig und komplex sind" 147 . (4) Die üblichen, vor allem schichtspezifischen Selektionen des Zugangs zum Recht wirken auch in diesem Bereich 148. Die Artikulations- und Organisations144 Decken 1995: 20. 145 s. o., § 7 ü. 3. a). 146 Beckmann 1996: 57. 147 Morone/Woodhause 1993: 244. 148 Zum Problem vgl. Raiser 1995: 404 ff.; Rottleuthner 1987: 95 ff.
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fähigkeit von Akteuren und Interessen wirkt als weiterer, wenn auch im Vergleich zum politischen System verhältnismäßig schwacher Filter. (5) Schließlich deckt die Autorisation des Rechts auch Irrtümer, während die Entscheidungsfolgen unabhängig davon weiterwirken 149. Der Strategie des Lernens aus Fehlern steht entgegen, daß niemand gerne aus Fehlern lernt und diese deshalb oft zunächst geleugnet werden 150. Es handelt sich bei dieser Strategie „um einen langsamen, sukzessiven sozialen Lernprozeß" 151 dessen Effektivität darunter leidet, daß es „bisher noch keinen gesellschaftlichen Mechanismus (gibt), um kumulatives Lernen zu erzeugen und auf Dauer zu stellen"152. Erleichtert wird ,»Lernen" hier allerdings insofern, als Legitimationsverluste durch offene Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung vergleichsweise leicht vermieden werden kann: Die Abwägung des nächsten Falls kann ganz anders aussehen, weil die Singularität des Falles zur Rechtfertigung für eine gänzlich andere Entscheidung herangezogen werden kann. Jede durch Abwägung begründete Entscheidung kann als funktionales Äquivalent für partielles Vergessen (vorangegangener Entscheidungen) oder einer gesetzlichen Neuregelung dienen.
5. Zwischenergebnis: Abwägung von Prinzipien als Normbildungsprozeß Vorstehend benannte Defizite machen deutlich, daß von einer Idealisierung, die darauf hinausläuft, dem Rechtssystem angesichts von partiellen Öffnungsprozessen eine umfassendere Rationalität zu attestieren, abgesehen werden sollte. Insbesondere ist davor zu warnen, Rechtsentwicklung als Kommunikations- oder Lernprozeß in einem emphatischen Sinne, der Richtigkeitstendenzen oder eine Herstellung gesamtgesellschaftlicher Konsense impliziert, mißzuverstehen. Was durch Prinzipienabwägung im Rechtssystem strukturell möglich wird, ist nicht mehr, aber auch nicht weniger, als ein in Schüben verlaufender Normbildungsprozeß, der einen Abgleich mit rechtsexterner Kommunikation und außerrechtlichen Zeithorizonten erlaubt, wenn gesetzgeberische Maßnahmen nicht möglich sind. Abwägung von Prinzipien steht für Varietät und zugleich für die Möglichkeit, mittelfristig auch stabilere (redundantere) Rechtsformen auszubilden. Für das Rechtssystem wie für die Gesellschaft ist diese Möglichkeit wichtig. Ohne diese bestünde die Gefahr, daß sich das Recht den selbstfreigesetzten und durch moderne Techniken geprägten Veränderungsdynamiken und Risikodiskurskonjunkturen nicht ausreichend anpaßt und damit für Erwartungsbildungen partiell dysfunktional wird.
Vgl. Luhmann 1995a: 90. 150 Beckmann 1996: 53. 151 Beckmann 1996:53. 152 Beckmann 1996: 53.
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m . Grundrechte als Prinzipien Vor diesem Hintergrund sind Grundrechte als diskursive Konstrukte zu begreifen, die als Mischformen Prinzipien und in unterschiedlichen Verdichtungsformen Regelstrukturen aufweisen 153. Gemeinsame Basis dieser Konglomerate ist der Primärtext im Grundgesetz. Ihr, Aggregatzustand" in Form des Sekundärtextes ändert sich von rechtlicher Kommunikation zu rechtlicher Kommunikation. Jede kommunizierte Veränderung der Auslegung erhöht zunächst Varianz des betreffenden Grundrechts, d. h. die Bandbreite dessen, was unter Berufung auf ihren Primärtext an Rechtspositionen gesichert erscheint. Wird solch eine Veränderung für anschließende Begründungen genutzt, entstehen Eigenwerte, deren Nutzung Abnahmechancen steigert und Begründungslasten reduziert. Verdichtungen bis hin zu ausdifferenzierten Regelkonstrukten können entstehen. Dies geschieht in dem Maß, in dem nicht mehr allein die Einzelfallbetrachtung und damit die Darstellung des Abwägungsvorgangs die Begründungen tragen, sondern zunehmend durch formale Kriterien ersetzt werden. Die Eigenwerte erhalten dadurch materiellen Gehalt. Die primär durch die Rechtsprechung geprägten Sekundärtexttraditionen ermöglichen demnach ausdifferenzierte und eigenwertgesicherte Routinen in Form von Regeldiskursen. Zugleich eröffnen Grundrechte die Möglichkeit, durch Abwägung unter Berufung auf ihren Prinzipiencharakter mehr oder weniger radikale Brüche mit regeldiskursiven Vorgaben zu vollziehen. Je nach institutionellem Zusammenhang ist diese Freiheit in unterschiedlichem Umfang gegeben. Untere Instanzen haben insoweit erheblich weniger Freiraum als Obergerichte oder gar das Bundesverfassungsgericht. Von einem Freiraum, der dauerhaft reine Prinzipienabwägungen zuläßt, kann letztlich weder im Zivil- noch im Verfassungsrecht die Rede sein. Die Vielzahl der bei Abwägungsvorgängen höchstrichterlich entworfenen Vorrangrelationen konstituiert Kasuistiken, die konstruktiv eine verblüffende Gemeinsamkeit haben: Sie verankern im vergleichsweise offenen Raum frei flottierender Grundrechte an die Freiheitsgrundrechte gekoppelte Pflichten und grundrechtsspezifische, regelförmige Einschränkungen. Ahnlich wie in vorneuzeitlichen Gesellschaften Berechtigungen mit spezifischen parallellaufenden Pflichten reziprok gekoppelt waren 154 , erzeugt das im Modus der Grundrechtsabwägung aufgehobene Konstrukt der Grundrechtsschranken für spezifische Konfliktkonstellationen reziproke Rechtsund Pflichtenverhältnisse zwischen den Subjekten155. Wahre Tatsachenbehauptun153 Zur Normstruktur unterschiedlicher Grundrechtsdimensionen s. o., § 1. Nur Freiheitsbewehrungen [§ 11. 2. b), § 1 II. 2.] und rechtlich konstituierte Freiheiten (§ 11. 3., § 1 II. 3.) haben Regelstruktur. Unbewehrte Freiheit (§ 1 I. 2. a), § 1 II. 1.) ist in Regelstrukturen nur insoweit faßbar, als Rechtspositionen anderer ihre Grenzen markieren. 154 Vgl. Luhmann 1981a: 362 ff.; 1993: 50 f.; s. o., § 1 HI., Fn. 67.
155 Ähnl. Luhmann zur Güterabwägung (1981a: 372), der von einem „Wiedereinbau von Rechten in Pflichten" (ebd.) spricht.
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gen darf die Presse verbreiten (Art. 5 I 1 GG), doch sind Berichte aus dem Intimleben nicht gestattet, wenn der Betroffene identifizierbar ist 156 . Berichte über Straftaten sind untersagt, wenn die Vorstrafe im Bundeszentralregister gelöscht ist 1 5 7 oder die Resozialisierung eines kurz vor der Entlassung stehenden Täters gefährdet erscheint158. Gäbe es diese Reziprozität nicht, so unterliefe die phasenweise eng mit der Entwicklung der Persönlichkeitsrechte verknüpfte Etablierung des Argumentationsmodus »Abwägung im Einzelfall" jegliche Berechenbarkeit von Recht und damit in der Konsequenz auch jene Sicherung unverfügbarer Schutzräume für Individualität, die das allgemeine Persönlichkeitsrecht seinem Anspruch nach gerade herstellen soll 159 .
156 BGHNJW 1988,1984/1985. 157 BVerfG NJW 1993,1463/1464. 158 BVerfGE 35, 202/233 - Lebach; s. o., § 3 I. 2. 159 So lautet die teilweise nicht ganz unberechtigte Befürchtung Pawlowskis 124 ff.) und anderer.
(1987:
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§ 9 Persönlichkeitsrechte als Prinzipien: Der kulturelle und affektive Gehalt personaler Identität in der abendländischen Moderne Aufgrund welcher Mechanismen Richterinnen und Richter ihre Entscheidungen im Rückgriff auf den Eigenwertgehalt weitgehend konsentierter Regelstrukturen begründen oder als Prinzipienabwägung mit starker Ausrichtung an außerrechtlichen Erwägungen, wurde bislang nicht inhaltlich, sondern nur strukturell, nämlich als Double-Bind-Situation beschreiben. Darüber hinausgehend eine Tiefenschicht nicht-rechtlicher Motivationen zu ergründen, um zu beantworten, wann genau umgeschwenkt wird, verspricht wenig Ertrag. Man müßte introspektiven Verfahren ein Primat einräumen und ausschließlich auf das Individuum oder seine unmittelbaren Interaktionszusammenhänge abstellen. Für die über den Einzelfall hinausweisende Frage nach verallgemeinerbaren Bedingungen der Reproduktion des Rechtssystems dürfte sich aus solchen Analysen wenig ergeben. Die Bedeutung des rechtlichen Kommunikationskontextes würde ausgeblendet1. Statt dessen möchte ich von einer anderen Seite her ansetzen, um zu einer stärker inhaltlichen Bestimmung der Einbruchstellenrichterrechtlicher Begründungen von Persönlichkeitsrechten zu gelangen. Stellt man auf die kulturelle Bedeutung und den hohen affektiven Gehalt der in den durch Persönlichkeitsrechte erfaßten Problemlagen und Schutzinteressen ab, so läßt sich eine über Einzelfälle hinausweisende Erklärung finden, was in diesem speziellen Bereich zu einem Abweichen von den Präferenzvorgaben der einschlägigen Regeldiskurse wesentlich mitveranlassen kann.
I. Der affektive Gehalt persönlichkeitsbezogener Schutzvorstellungen Zunächst möchte ich skizzieren, in welcher Weise die Rede von persönlichkeitsrechtlichen Positionen eine über die fachspezifische Diskursgeschichte hinausgehende, affektiv, dh. leibzentrisch und individuell verankerte Plausibilität erlangt. Ob diese in ihren Grundlagen anthropologisch fundiert ist, sei dahingestellt. In jedem Fall ist sie ihrer Intensität nach Produkt spezifischer historischer Prozesse.
1. Persönlichkeitsrechte als diffuse Rechte Wie alle Prinzipien können Persönlichkeitsrechte nur in dem Maße bestimmt sein, wie sich im Laufe der Zeit ein zugehöriges Regelnetzwerk herausgebildet i Versuche dieser Art bietet die amerikanische rechtsrealistische Richtersoziologie, die an die weltanschauliche Orientierung der Richter anknüpft; zu Darstellung und Kritik vgl. Rottleuthner 1973a: 65 ff.
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hat, mit welchem sie, unter Bezugnahme auf gegenläufige Prinzipien auf bestimmte typische Fallkonstellationen hin konkretisiert, aus der Höhe umfassender Abstraktheit „heninterkonditionalisiert" worden sind. Nur in dieser Form ermöglichen sie Erwartungen über Entscheidungswahrscheinlichkeiten. Zwangsläufig erscheinen deshalb neue Persönlichkeitsrechte, die Konfliktlagen in neu hinzugekommenen Handlungsbereichen zugeordnet sind, zunächst diffus, begrifflich unscharf, weich2. Ob und wann neue Persönlichkeitsrechte diese „in Abgrenzung gegenüber den (relativ) grenzscharfen klassischen Rechtspositionen"3 gewonnenen Attribute durch allmähliche Ausdifferenzierungsprozesse verlieren, kann nicht prognostiziert werden. Die Vermutung liegt nahe, daß sich der Zustand vergleichsweise großer Unbestimmtheit in dem Maße reduziert, in dem sich Fallkonstellationen wiederholen, als Typen wahrnehmen lassen. Nur dann können sich die fallbezogen gebildeten Vorrangrelationen als Konditionalnormen einer sich allmählich festigenden Rechtsprechung ausbilden. Bis dahin kann nur von Fall zu Fall auf den Primärtext (Artt. 1 I und 2 I GG) als starting point für die Urteilsbegründung zurückgegriffen werden. Rechtlich ist hier nur wenig vorgegeben, was Begründungsmöglichkeiten vorstrukturieren und so Entscheidungsspielräume einschränken könnte. Soweit möglich, wird man auf parallele Konstellationen zurückgreifen, die bereits geregelt sind. Im übrigen wird man auf originär rechtsexterne, d. h. lebensweltnahe, moralische, wissenschaftliche Überlegungen und Argumente zurückgreifen und die Rechtsbindung durch Berufung auf die betroffenen Prinzipien, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und etwaige Aussagen der Rechtsprechung über die Wertigkeit der betroffenen Rechtsgüter herstellen. Man ist auf jene Assoziationen zurückgeworfen, die sich aus diesen Aspekten und den in einem ersten, schwachen Konkretisierungsschritt benannten Rechtspositionen ergeben. Eine allgemeine, grobe Ahnung, was gegen die Zumutungen neuer Techniken zu schützen sei, ist bereits mit den generalklauselartigen Begrifflichkeiten verbunden, die in Urteilen und einschlägiger Literatur zu den Persönlichkeitsrechten immer wieder auftauchen: Privatheit, Privat- und Intimsphäre, Autonomie, Identität und Selbstbestimmung.
2. Entstehung und Bedeutung von Individualität und Privatheit Diese Schlagworte, mit denen gemeinhin der Inhalt des Prinzips Persönlichkeitsrecht beschrieben wird, lassen sich auf Privatheit und selbstbestimmte Individualität als Zentralbegriffe mit einem für die Moderne charakteristischen, soziologisch und psychologisch faßbaren Gehalt zurückführen.
2 So Damm 1996: 98 und 1997: 24. 3 Damm 1996: 98.
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a) Die neuzeitliche Genese des Verhältnisses von privatem und öffentlichem Raum Persönlichkeitsrechte thematisieren die stets präsente Bedrohung einer Sphäre menschlichen Daseins, die in der Moderne durch Herausbildung des Privaten einen existenziellen, hochaffektiven Charakter gewinnt. Privatheit stellt sich dabei als Gegenbegriff zu Öffentlichkeit dar4, als territorial und persönlich markierter sozialer Raum, aus dem andere ausgeschlossen sind oder aus Sicht des betroffenen Individuums ausgeschlossen sein sollen, soweit sie keine Erlaubnis haben, einzudringen5. Auch in der sozialwissenschaftlichen Literatur stellt sich das Problem, daß der Begriff der Privatsphäre diffus und einer trennscharfen Definition relativ unzugänglich ist6. obwohl doch jedermann damit ganz spezifische Vorstellungen verknüpft. Dies liegt möglicherweise daran, daß Vorstellungen von Privatheit in hohem Maße emotional besetzt sind, bis in unsere Zeit starkem Wandel unterworfen waren und daß die Situationen, die als Verletzung der Privatsphäre erlebt werden, unabklärbar vielfältig erscheinen7. In seinem bahnbrechenden Werk Über den Prozeß der Zivilisation hat Norbert Elias die immer stärkere Separierung von öffentlichem und privatem Bereich als eine etwa im 13. Jahrhundert einsetzende historische Entwicklung geschildert, die sich im Kontext zweier langfristiger und miteinander verknüpfter Wandlungsprozesse vollzogen hat8: Zum einen bildet sich der moderne, über ein Gewaltmonopol verfügende Zentralstaat heraus9, zum anderen verändert sich - im Kontext diverser Individualisierungsschübe10 - die Affektregulierung 11, und zwar weg von äußerem Zwang hin zu internalisierten Selbstzwängen. Zwar ist Elias4 Zivilisationstheorie in vielerlei Hinsicht auf Kritik gestoßen12. Der Kern seiner Diagnose, daß sich im 4 So steht das Wort „privat" für „amtlos, besonder, geheim, unöffentlich, persönlich, überhaupt dem amtlichen, öffentlichen, gemeinsamen entgegengesetzt" (/. Grimm/W. Grimm 1889, Spalte 2137). 5 Bauer 1996: 23, 32 ff. und passim. 6 Vgl. Bauer 1996: 21 ff.
7 Vgl. Bauer 1996: 22, 26, 28, 36 ff., 200. 8 Elias 19791: LXXVI; 1979 II: 312 ff., bes. 314, 325 ff. 9 Vgl. Elias 1979 n, dort bes. S. 123 ff.; ähnl. Habermas 1995c: 69 ff., 86 ff., 107 ff.; zur Ausbildung des Begriffs der Öffentlichkeit und ihrer engen Korrespondenz mit Veränderungen staatlicher Machtausübung, von Recht und Politik Hölscher 1979; zur „Persönlichkeit" als Kategorie im sich entwickelnden Spannungsfeld von Privatheit und Öffentlichkeit Sennett 1986: 92 ff., 196 ff., 229 ff.; zur historischen Herausbildung von Individualität, Persönlichkeit und Persönlichkeitsrechtsentwicklung Nitschke 1987; Holzhauer 1996. 10
Elias 1996: 43. Zur Individualisierung im Zeitalter der Industrialisierung vgl. auch Beck 1986: 121 ff. sowie Beck/Beck-Gernsheim 1994; Treibel weist zutreffend daraufhin, daß die These von einer fortschreitenden Individualisierung „zu den Grundgedanken der Soziologie" zählt (1996: 424; vgl. Beck 1986: 206). » Vgl. Elias 19791: 65 ff. und 1979 II: 312 ff. 12 Breuer 1995: 25 ff.; 30 ff.; 38 ff.; van Dülmen 1996: 271 ff.; Muchembled 1996: 281 ff.; Treibel 1996: 431 ff.; Ludwig-Mayerhofer 1998: 221 ff. m. w. N.; Schloßberger 2000: 113 ff.
§ 9 Persönlichkeitsrechte als Prinzipien
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Verlauf der Moderne in einer Art Korrespondenz von Soziogenese und Psychogenese „immer strengere Schemata der Selbstkontrolle herausbilden und sowohl immer weitere Bevölkerungskreise ergreifen als auch psychostrukturell immer tiefer gelagert werden"13, wird letztlich aber zumindest als Tendenzaussage kaum bestritten14. Elias spricht von einer „eigentümliche(n) Gespaltenheit des Menschen", die sich mit Fortschreiten des abendländischen Zivilisationsprozesses „um so stärker abzeichnet, je entschiedener der Schnitt zwischen den Seiten des menschlichen Lebens wird, die öffentlich, nämlich im gesellschaftlichen Verkehr der Menschen, sichtbar werden dürfen, und jenen, die es nicht dürfen, die »intim' oder »geheim4 bleiben müssen"15. Diese Spaltung werde „den Menschen so selbstverständlich, ( . . . ) dermaßen zur zwingenden Gewohnheit, daß sie ihnen selbst kaum noch zum Bewußtsein"16 komme. Unter „Spaltung" ist allerdings nicht eine Segregation in voneinander unabhängige Lebenssphären zu verstehen. Fraglos hat sich im Verlauf dessen, was wir als „Neuzeit" zu bezeichnen gewohnt sind, ein im Vergleich zu vorangegangenen Gesellschaftsformationen deutlich unterscheidbarer, in der Regel auf die Kernfamilie beschränkter Bereich herausgebildet, der allgemeinem Zugriff entzogen ist oder dies zumindest nach allgemeiner Ansicht sein sollte. Der Prozeß der Privatisierung vollzieht sich langsam und über einen langen Zeitraum hinweg und dynamisiert sich mit Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und den ökonomisch angeschobenen Massenbildungsprozessen in den Städten17. Weder seiner sozialen Funktion noch seinen Reproduktionsbedingungen nach bedeutet dieses sich herausbildende Private Autarkie, denn die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse wirken in den Bereich des Privaten hinein18. Dennoch sind die aus Erfahrungen kleinfamiliarer Privatheit abgeleiteten Vorstellungen einer durch Intimität, Liebe und Geborgenheit geschützten Sphäre keine reine Idealisierung oder Ideologie19. So hat der 13 Breuer 1995: 22. Ob dieser Prozeß gleichförmig bis in die jüngere Gegenwart andauert, muß angesichts der Veränderung des Sozialcharakters in den westlichen Industriestaaten in den vergangenen 50 Jahren bezweifelt werden (zur Kritik vgl. Breuer 1995: 16, 24 ff.; 30 ff., 36 ff., bes. S. 44 f.; Treibel 1996: 431 ff.; Ludwig-Mayerhofer 1998: 223; Nitschke 1987: 255 ff., bes. 267 f.; Schloßberger 2000: 113 ff.). Nicht mehr das Bild des „asketischen Knechts" (Marx) und des puritanischen Unternehmers prägen einen auf protestantischen Tugenden beruhenden Kapitalismus, wie ihn Max Weber beschrieb, sondern das lust- und konsumorientierte Individuum einer auf Massenproduktion beruhenden nivellierten Mittelstandsgesellschaft. 15 Elias 19791: 261. 16 Elias 19791: 262. 17 Vgl. König 1992: 57 ff.; 70 ff. Zunehmend wird die Stadt als Aufenthaltsort als unmoralisch und bedrohlich empfunden (vgl. Aries 1994: 75 ff.; Brückner 1982: 195 ff.; König 1992: 59 ff., 73 ff., 88 ff.). Ihre öffentlichen Räume werden zu Orten desorientierender Fremdheitserfahrungen der aus den integrierenden ständischen Sozialbeziehungen massenhaft freigesetzten Individuen (Aries 1994: 75 ff.; König 1992: 88 ff., 95 f.). Reaktiv und sehr allmählich differenziert sich verstärkt eine davon gesonderte Privatsphäre aus. 14
18 Vgl. Habermas 1995c: 110 ff.; Breuer 1995: 35; Sennett 1986: 230 ff. 19 Vgl. Habermas 1995c: 112 ff.
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Mensch günstigenfalls „in der Familie, wo die Beziehungen nicht durch den Markt vermittelt sind und sich die einzelnen nicht als Konkurrenten gegenüberstehen, stets auch die Möglichkeit besessen, nicht bloß als Funktion, sondern als Mensch zu wirken. ( . . . ) Die Entfaltung und das Glück des anderen wird in dieser Einheit gewollt."20 b) Macht, Wissen und Individualität Noch in ganz anderer Form beziehen sich Öffentlichkeit und Privatheit aufeinander. In der Moderne strukturiert diese Dichotomie nicht zuletzt die Vorstellungen und Möglichkeiten der durch Zugriff auf Wissen21 vermittelten legitimen Machtausübung. Wissen um das Tun und Lassen anderer ist Macht. In ihrer Metaphorik spiegelt die Erfolgsgeschichte des Begriffs der „Öffentlichkeit" einen Prozeß der Demokratisierung wider: Staatsgeschäfte vollziehen sich nicht mehr im Geheimen, sondern unterliegen zunehmend öffentlicher Diskussion und Kontrolle. Politisches Herrschaftswissen ist nicht mehr exklusives Privileg bestimmter Stände22. Und quasi gegenläufig gewinnen mit der neuzeitlichen Scheidung von öffentlicher und privater Sphäre staatliche und anderweitig institutionalisierte Zugriffe auf Privatheit einen Aspekt der Machtausübung. Was privat ist, ist per definitionem in mehr oder minder großer Intensität geheim, d. h. vor staatlichem und anderweitigem öffentlichen Zugriff geschützt. Totalitäre Staaten zeichnen sich durch weitgehende, ausforschende Eingriffe in die Privatsphäre aus. Aber auch überall dort, wo Pathogenesen individueller Abweichung vermutet werden und staatliche oder andere Institutionen regulierend eingreifen oder Information als Basis ökonomischer Verwertungsinteressen dient, wird Wissen über Privates angehäuft und Privatheit reduziert. Das beginnt bei familienrechtlich abgesicherten sozialtherapeutischen Maßnahmen, den bürokratischen Kontrollen all jener, die ohne Arbeit sind (und infolgedessen Daten nennen müssen, die ansonsten privat wären), führt über die Informationsabhängigkeit medizinischer Hilfe sowie der sozialen Sicherheitssysteme und endet bei der zurichtenden und kontrollierenden Behandlung verschiedener Formen der Devianz in öffentlichen Institutionen, etwa Gefängnissen und der Psychiatrie23. 20 Max Horkheimer, Autorität und Familie, Paris 1936, S. 64, zit. nach Habermas 1995c: 112 f. Trotz starker Erosionstendenzen der bürgerlichen Familie wird man dies für die Privatsphäre auch heute gelten lassen müssen. 21 In welcher Weise Wissen die Formen v. a. neuzeitlicher Machtausübung ermöglicht, durchzieht und in komplexe institutionelle Systeme wie den psychophysischen Habitus der Subjekte eingeht, hat Foucault in seinen Analysen diskursiver Praktiken immer wieder eindringlich dargelegt (1976,1977,1995c). Man kann durchaus anerkennen, daß Foucault damit einen wichtigen Aspekt der Moderne erfaßt, ohne seiner recht einseitigen Darstellung neuzeitlicher Geschichte als Durchsetzung einer Disziplinar- und Normalisierungsgesellschaft vollständig zuzustimmen; zur Kritik vgl. Breuer 1995: 55 ff.; Kneer 1996: 266 ff.; Habermas 1996: 336 ff. 22 Vgl. Hölscher 1979: 124 ff., der v. a. die Nähe des Begriffs der Öffentlichkeit zur Lichtmetaphorik betont. 2 * Vgl. hierzu Foucault 1977 und 1995c).
§ 9 Persönlichkeitsrechte als Prinzipien
269
Dieses Phänomen hängt mit einer merkwürdigen Janusköpfigkeit neuzeitlicher Individualisierung und Subjektivierung zusammen. Zunehmend sind die von traditionalen Bindungen freigesetzten Subjekte lediglich der eigenen Identität verhaftet 24 . Darin wird eine,»Form von Macht im unmittelbaren Alltagsleben spürbar, die das Individuum in Kategorien einteilt, ihm seine Individualität aufprägt, es an seine Identität fesselt, ihm ein Gesetz der Wahrheit auferlegt, durch das es sich (anerkennen muß und das andere in ihm (an-)erkennen müssen"25. Diese auf das individuelle Seelenleben ausgerichtete wissenszentrierte Machtform hat Michel Foucault aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte im Kontext des Christentums als „Pastoralmacht" bezeichnet26, die in ihrer säkularisierten Ausprägung nicht mehr das Seelenheil sichern soll, sondern andere Bedeutungen annimmt: „Gesundheit, Wohlergehen (das heißt: ausreichende Mittel, Lebensstandard), Sicherheit, Schutz gegen Unfälle" 27. Völlig verkürzt wäre es, diese Machtform als ausschließlich repressiv oder staatszentriert zu begreifen. Wir haben es vielmehr mit einem gesellschaftlichen Integrationsmodus zu tun, der mit unterschiedlichen Formen individualisierender Zurechnung und Praxis verwoben ist. Eine Vielzahl staatlicher wie nichtstaatlicher Institutionen praktiziert solche Macht- und Einpassungstechniken28: Justiz, Polizei, Verwaltung, Gesundheitswesen und Medizin, das Erziehungswesen, Familie und Produktionssphäre. Diese Praktiken werden von den zur Individualität gezwungenen Individuen teilweise selbst nachgefragt. Aus traditionellen rigideren Identitätsformen und Absicherungsmechanismen freigesetzt, sind sie auf orientierungsleitende Standardisierung und materielle Leistungen angewiesen29, werden arbeitsmarktabhängig und damit „bildungsabhängig, konsumabhängig, abhängig von sozialrechtlichen Regelungen und Versorgungen, von Verkehrsplanungen, Konsumangeboten, Möglichkeiten und Moden in der medizinischen, psychologischen und pädagogischen Beratung und Betreuung"30. Individuen konstituieren sich geradezu in ihrem Wissen um ihre eigene Konformität und Abweichung zu dem, was, nicht zuletzt aufgrund der Wissensgenerierung durch die modernen Humanwissenschaften, als Norm erscheint.,JDas, was bewirkt, daß Körper, Gesten, Diskurse, Wünsche als Individuen identifiziert und konstituiert werden, (ist) eine der ersten Wirkungen der Macht"31. Individualitätsgenerierende Vorstellungen von Aussehen, Charakter, Sexualität, Existenzbedingungen, persönlichem Geschmack, Vorlieben, Gesundheit, Körperlichkeit, Lebenserwartung, etc. sind nicht allein repressive Fremdzurechnung, sondern bestimmen die Selbstwahrnehmung. 24 Foucault 1986: 106. 25 Foucault 1986: 106. 26 Foucault 1986: 107 f. 27 Foucault 1986: 109. Eingehender hierzu im Fortgang unter § 11 II. 5 b). 28 Vgl. v. a. Foucault 1977: 173 ff. sowie die instruktive und kritische Paraphrasierung bei Giddens 1997: 198 ff. 29 Vgl. Beck/Beck-Gernsheim 1994; Keupp 1994; Habermas 1989b. 30 Beck 1986: 210. 31 Foucault 1999: 39.
270 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
Im Zeitalter der Informationstechnologie macht diese machtanfällige Institutionenabhängigkeit jeglicher Individualität die Möglichkeiten von Privatheit mehr denn je zu einer höchst prekären Angelegenheit. Zwar vermag sich der Einzelne solcher Abhängigkeit „in seinem Konsum- Finanz-, Freizeit- oder Kommunikationsverhalten teilweise noch ( . . . ) zu entziehen, z. B. durch Verzicht auf eine Kreditkarte, eine elektronische mailbox oder interaktives TV. Er kann ihr aber als soziales Wesen - als Krankenversicherter, Kontoinhaber, Klient der Sozialbürokratie oder Verdächtiger der Polizei - nicht entrinnen."32 Die Wahrung eines ausschließlich individueller Selbstbestimmung unterliegenden Raumes ist damit stets auch eine Frage der Verteilung von Wissen und Macht. Wie hier genau die Austarierung erfolgt, kann als wesentlicher Indikator für den gesellschaftlichen Stellenwert von Individualität in der jeweiligen historischen Periode gelten. Entscheidend ist: Wer darf legitimerweise was von wem wissen, ab welchem Punkt werden Wissen und Kontrolle als unangenehm, störend und schamlos oder beschämend empfunden? Und umgekehrt: von wo an wird Privatheit zu illegitimer Heimlichkeit? Darum vor allem geht es letztlich auch im Rahmen juristischer persönlichkeitsrechtlicher Diskurse. Dort wird - einer Dynamik von Beobachtung und Gegenbeobachtung33 folgend - durch Thematisierung von Interessen und Gegeninteressen ausgetragen, wo genau die Grenze verlaufen soll.
c) Funktionsbereiche
von Privatheit
und Individualität
Die grundlegende sozialpsychologische Bedeutung der in Rede stehenden Begriffe (Privatheit, Privat- und Intimsphäre, Autonomie, Identität und Selbstbestimmung) für die heutige Gesellschaft und ihre Individuen möchte ich ausgehend von jenem der Privatsphäre skizzieren. Analytisch lassen sich mehrere, faktisch stark miteinander verwobene Funktionsbereiche der Privatsphäre unterschieden34: aa) Autonomie und individuelle Identitäten In vorbürgerlichen Gesellschaften sind soziale Beziehungen primär durch traditional-ständisch geprägte personale Beziehungen vermittelt, so daß das Wesen eines jeden durch die Repräsentanz überindividueller Bezugssysteme definiert ist 35 . Im anbrechenden bürgerlichen Zeitalter tritt der einzelne „aus dem ständischen Gewebe heraus und definiert sich nicht mehr über seine Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, sondern durch sich selbst."36 Fortschritts- und Befreiungs32 Funk 1994: 564. 33
Insofern handelt es sich um typische Risikodiskurse; vgl. o., § 21. 3. d). Vgl. Bauer 1996: 23 ff. unter Bezugnahme auf A. Westin, Privacy and Freedom, New York: Athenäum, 1967. 3 5 König 1992: 59 f.; Brückner 1982: 194 f. 36 König 1992: 60; vgl. Beck/Beck-Gernsheim 1990: 69 ff. 34
§ 9 Persönlichkeitsrechte als Prinzipien
271
Vorstellungen der abendländischen Moderne sind auf das Individuum zentriert, dem Autonomie, Einzigartigkeit und Selbstverantwortung attestiert werden. Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile führen zu Persönlichkeitsstrukturen, die zunehmend nicht allein von gesellschaftlichen Normen und rollenspezifisch vorgeprägten Verhaltensmustern abhängen, sondern eine Ich-Identität als Ensemble selbstbezüglicher, an den Verlauf der individuellen Lebensgeschichte geknüpfter Einstellungen ausprägen37. Die Individuen sind zur Freiheit gezwungen, müssen als Subjekte die Persönlichkeit eines „Selbst" entwerfen, das jenseits äußerer Rollen das unablösbar Eigentliche des Individuums ist 38 . Die mit „Kult und Kultur der Person" (Bourdieu) verbundenen Gegensätze „zwischen dem Seltenen, Distinguierten, Ausgewählten, Einzigartigen, Exklusiven, Unterschiedlichen, Unersetzbaren, Unvergleichbaren, Originellen und dem Alltäglichen, Gewöhnlichen, Gemeinen, Banalen, Beliebigen, Durchschnittlichen, Gewohnten, Trivialen ( . . . ) (konstituieren eine) Grunddimension der Lexik bürgerlicher Moral und Ästhetik"39. Jedes Individuum „erfährt sich selbst als eine Einheit von exklusiver Einzigartigkeit und Wichtigkeit. Dieses Gefühl von »Selbst4 hat ( . . . ) kaum eine Bedeutung, wenn es keine anderen gibt, von denen wir uns unterscheiden/'40
bb) Eingeschränkte und geschützte Kommunikation Jenes „Gefühl einer persönlichen Autonomie ( . . . ) wird durch das Besetzen eines bestimmten Raumes für sich selbst"41 verstärkt. Dieses „Zentrum des Selbst ( . . . ) muß unter allen Umständen beschützt werden"42. Als privat - im Gegensatz zu öffentlich - kann „begriffen werden, was lediglich im Bewußtsein eines Individuums vorkommt und nicht in Kommunikationen zwischen Individuen überführt wird; der private Raum ist in diesem Sinne der Raum des eigenen Bewußtseins. Zum anderen kann privat als das begriffen werden, was in der primären Lebenswelt der eigenen Familie (und eventuell auch der Freunde) verbleibt."43 Nicht alles, was kommuniziert wird, soll ungebremst und ohne Kontrolle darüber, wer davon hört, nach außen dringen. Vertrauliches soll nur an Personen weitergegeben werden, denen man vertraut. Vertrauen ersetzt also zunächst die Kontrolle von Verwertung und Weitergabe. Diese Tendenzen zur Konstituierung eines Innen-/ 37 Vgl. Benhabib 1991: 157; Habermas 1989b: 189 ff.; Beck/Beck-Gernsheim 12 ff.; zum entwicklungspsychologischen Befund vgl. Eckensberger 1987.
1994:
38 Vgl. Sennett 1986: 196 ff. Der von sozialen Rollenzuweisungen gesonderten persönlichen Identität wird die Konstruktion einer alle - u. U. widersprüchlichen - lebensgeschichtlichen Daten und Ereignisse verbindenden einzigartigen Biographie abverlangt (Goffman 1999: 74, 80 ff.). 39 Bourdieu 1996: 649. 40 Bauer 1996: 199. 41 Bauer 1996: 24. « Bauer 1996: 199. 43 Fuchs/Pfetsch 1996: 105 f.
272 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
Außen-Verhältnisses werden in Reaktion auf einen anderen Aspekt der Moderne verstärkt. Oben war der Zugriff auf Wissen um das Tun und Lassen anderer als wesentlicher Bestandteil neuzeitlicher Modi der Machtausübung thematisiert worden. Das Wissen über individuelle Eigenschaften, Besonderheiten, Beziehungen wird wichtig, weil in einer „Gesellschaft der Individuen" (Elias) deren Integration in den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zunehmend nicht mehr durch traditionale Kollektivstrukturen gesichert ist und damit prekär wird. Es wird wichtig, weil die für das fortschreitende 20. Jahrhundert spezifischen Formen staatlichen und wirtschaftlichen Handelns und die Entstehung der Massenmedien gleichermaßen ausufernde wie sich verdichtende Kommunikations- und Informationsbedürfnisse schaffen. In dem Maße, in dem zunehmend wahrgenommen wird, daß alles, was an Wissen über Individuen über die individuell überschaubaren Binnenräume hinausdringt, unabsehbare negative Konsequenzen haben kann, wächst das Bedürfnis nach geschützter (Innen-) und eingeschränkter (Außen-)Kommunikation44. cc) Freiräume für Emotionen und abweichendes Verhalten Im Zusammenhang mit Elias4 Studie zur Soziogenese der abendländischen Zivilisation war erwähnt worden, daß die Separierung von öffentlichem und privatem Bereich mit einer Veränderung der Affektregulierung einhergeht. Wie man sich in der Öffentlichkeit expressiv verhält und verhalten darf, ist von normativen Vorstellungen bestimmt, die weniger direkt von außen erzwungen werden, als vielmehr durch ansozialisierte, internalisierte Selbstzwänge gewährleistet werden. Nachdem sich die vormodernen Regeln des Umgangs miteinander aufgelöst haben, werden neue Kulturtechniken erforderlich. Diese sind durch Frustrationstoleranz (Affektaufschub), Gewalt- und Berührungstabus sowie die Entsexualisierung des öffentlichen Umgangs miteinander gekennzeichnet und laufen in weiten Alltagsbereichen auf Umgangsformen der „Vergleichgültigung"45 und damit der Affektkontrolle hinaus46. Dadurch verursachen sie hohe emotionale Kosten und werden für die Individuen zur „sozialen Leidensquelle" (Sigmund Freud) 47. Der Rückzugsraum des Privaten ermöglicht hier eine lebensnotwendige Linderungsmöglichkeit 48 . Er ermöglicht, bei Bedarf aus den emotionalen Belastungen des öffentlichen Außenraums (Affektkontrolle, Verunsicherungen, Anpassungs- und Expressivitätszwänge) in vertraute Situationen zu wechseln, in denen diese Zwänge nicht in gleichem Maß dominieren und Geborgenheit, Sicherheit und Regeneration gesichert erscheinen. Was öffentlich aufgrund rollenspezifischer Normvorstellungen an ex44 Vgl. hierzu BGHZ 27, 284/287 f. - Tonbandaufnahme I. 45 Brückner 1982: 198. 4* Vgl. Elias 1979. 47 Grundlegend Freud Breuer 1995: 30 ff.
1982b; vgl. ferner König 1992: 24 f., 38, 207 ff.; König 1993;
48 Vgl. hierzu BVerfGE 27,1 /6; BVerfG NJW 2000, 1021 /1022.
§ 9 Persönlichkeitsrechte als Prinzipien
273
tremen Gefühlen und abweichendem Verhalten unzulässig ist, kann im Privaten zumindest innerhalb bestimmter Grenzen ausgelebt werden. Gegenläufig, aber nicht im Widerspruch hierzu steht die Forderung nach Expressivität als Bestandteil von Individualität. Denn diese hat öffentlich stets nur an bestimmten sozialen Orten der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft zu erfolgen (z. B. in Literatur, Kunst, Unterhaltung, Werbung, Mode, aber auch entlang den Distinktionsmöglichkeiten verschiedener Subkulturen). In Deutschland hat sich mit der Frühromantik ein Verständnis von Individualität als zugelassener und zugleich geforderter Abweichung innerhalb bestimmter Funktionsräume herausgebildet: „Kunst und Literatur avancieren zum Feld der Abweichung, und die Entwicklung und Exponierung von Individualität, Originalität und Expressivität werden dem Künstler gleichsam als Pflicht aufgebürdet" 49. Im Kontext einer spätestens im Verlauf der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts einsetzenden Ästhetisierung des Alltagslebens sowie des eigenen Körpers haben sich die Bereiche, in denen Expressivität zugelassen ist, ausgedehnt. Dennoch gibt es nach wie vor deutliche Grenzen, jenseits derer Abweichung den individuellen Refugien des Privaten zugeordnet wird. Innerhalb solcher Schutzräume hat Abweichung psychisch einen anderen Stellenwert als die nach außen gewandte Inszenierung eigener Besonderheit. d) Die Verletzung privater Räume und Selbstbestimmung Diese teilweise nicht nur funktional, sondern auch territorial markierten Räume50 haben eine existentielle Bedeutung für das eigene Selbstwertgefühl, die eigene Vorstellung von sich selbst sowie die individuellen Gefühlshaushalte. Infolgedessen werden Verletzungen, die sich als Eindringen, als Überschreiten von Grenzen darstellen, als existentiell bedrohlich und schmerzhaft erfahren, werden absichtliche Invasionen als ernstes aggressives Verhalten wahrgenommen, deren Verletzte sich als „Opfer" erleben51. Werden die Normen zwischenmenschlicher Distanz verletzt, so zeigt das Opfer „Zeichen von Unbehagen, Verlegenheit, Ruhelosigkeit und reagiert typischerweise mit Abwenden, Rückzug, Wegsehen oder Flucht. Vom psychologischen Standpunkt aus gesehen, beraubt eine zu geringe Distanz eine Person des Gefühls der Autonomie und Selbstbestimmung ( . . . )." 5 2 Wurde durch den Eingriff anderen oder gar einer breiteren Öffentlichkeit eine unvorteilhafte Darstellung des Opfers zugänglich, so reagiert dieses mit Gefühlen von Peinlichkeit, Verlegenheit und Scham53, also mit Gefühlslagen, die als unangenehm bis unerträglich empfunden werden und stark angstbehaftet sind. Seemann 1996a: 20; vgl. auch Sennett 1986: 252 ff. 50 Vgl. Bauer 1996: 32 ff. 51 Bauer 1996: 37. 52 Bauer 1996: 37. 53 Bauer 1996: 41. „Wer sein Persönlichstes preisgegeben sieht", so Karl Larenz auf dem Deutschen Juristentag 1957, „empfindet Scham, Bestürzung, Pein. Er fühlt sich erniedrigt, zum Objektfremder Zudringlichkeit herabgewürdigt." (1959/1957: D 25). 18 Maitra
274 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
Entscheidend für den rechtlichen Kontext ist nun zunächst der Zusammenhang von Angst, Vertrauen, Kontrolle und Selbstbestimmung. Der Zutritt zu den oben unterschiedenen sozialen und territorialen Räumen ist ein Privileg, das Vertrauen voraussetzt und beinhaltet. Vertrauen vermag auf der Basis vorangegangener Erfahrung Angst (auf Widerruf) zu suspendieren. Ungeliebten oder unbekannten Personen wird dieses Vorrecht nicht gewährt, weil diese kein Vertrauen besitzen und ihre Nähe innerhalb privater Räume für den Betroffenen keinen Wert besitzt. Eindringen ohne Erlaubnis wird daher als Aggression oder Verletzung aufgefaßt 54. Erving Goffmans klassische soziologische Studie über Stigmatisierung55 bestätigt dies. Müssen nach außen nicht ohne weiteres erkennbar von einer gesellschaftlichen Norm abweichende Individuen, etwa Prostituierte, Vorbestrafte oder Prothesenträger, Stigmatisierung oder Diskriminierung, also eine Beschädigung ihrer Identität befürchten, so versuchen sie, die Information über ihre Abweichung zu steuern, Kontrolle darüber zu behalten56. Eine ihrer Strategien besteht darin, die Welt in wenige vertrauenswürdige Wissende und einen erheblich größeren Rest Unwissender aufzuteilen 57. Daraus resultiert ein ganz spezifisches Bewältigungsverhalten:
„Der Schlüsselfaktor in der Empfindung des Selbst ist Kontrolle. Kontrolle ist ein Zeichen von Autonomie und bedeutet Macht. Attribute von Kontrolle können Auswahl, Unabhängigkeit, Information, Freiheit von Einmischung und Selbstbestimmung sein. ( . . . ) Das Gefühl, Kontrolle zu haben, beeinflußt positiv das Gefühl einer unverletzten Privatsphäre, während der Verlust von Kontrolle die Notwendigkeit bedeutet, ständig auf der Hut vor Verletzungen der Privatsphäre zu sein. ( . . . ) Es scheint ein enges Verhältnis von Kontrolle und Vertrauen zu geben. Sobald - basierend auf Information und darauffolgenden Verhandlungen - eine Entscheidung getroffen ist darüber, wie weit und unter welchen Umständen Zugang gewährt wird, setzt die Partei, die das Ziel der Invasion wird, Vertrauen in die eindringende Partei, hoffend, daß die abgesprochenen Grenzen nicht überschritten werden. Kontrolle wird dem potentiellen Eindringling übertragen, aber unter ausgehandelten Voraussetzungen. ( . . . ) Das informierte Fällen von Entscheidungen erlaubt dem einzelnen, die Invasion zu verstehen und deshalb zu tolerieren. Da rationale Verständnis muß das unangenehme Gefühl übertreffen, oder die Invasion wird unerträglich." 58 Bezogen auf den Problemkomplex Genanalyse muß man sich vergegenwärtigen, daß mittels dieser Techniken gewonnene Daten in mehrfacher Hinsicht für die persönliche Identität relevant werden: Weil die Daten lebenslang gelten, werden genetische Besonderheiten von den Betroffenen vorausschauend „in die eigene Bio54 55 56 57 58
Vgl. Bauer 1996: 204. Gojfman 1999. Die Studie wurde erstmals 1963 veröffentlicht. Gojfman 1999: 56 ff. Gojfman 1999: 120 f. Bauer 1996: 201, 205 [Hervorh. durch mich, D.M.].
§ 9 Persönlichkeitsrechte als Prinzipien
275
graphie eingebaut"59 und so unabhängig von aktuellem Alter und Krankheitszustand zu einem Problem personaler Identität, das in unterschiedlicher Weise auf die eigenen Verhaltensdispositionen zurückwirkt 60. Vor allem mit Blick auf das Verhalten anderer gewinnen genetische Daten bei Abweichung von der Norm spezifische Bedeutung, weil deren Normalitätserwartungen mit den Lebensentwürfen der Betroffenen in Konflikt geraten können. In Anlehnung an Goffmans Studie hat Christine Scholz beschrieben, daß genetisch Abweichende zu diskreditierbaren Personen 51 werden, deren entscheidendes Problem darin besteht, „die Information über ihren genetischen »Defekt4 zu steuern, um gar nicht in die Situation einer diskreditierten Person zu kommen"62. Der drohende Minoritätenstatus, Stigmatisierungseffekte, zu befürchtende Beschränkungen bei Partnerwahl, Familienplanung, Arbeitsplatz, etc. erzeugen Angst und legen so ein spezifisches Informationsmanagement nahe, das zugleich ein Management der eigenen Identität und Biographie ist 63 . Typische Strategie einer diskreditierbaren Person ist, die Welt „in eine größere Gruppe ( . . . ) , der sie nichts erzählt, und in eine kleinere Gruppe, der sie alles erzählt und auf deren Hilfe sie sich dann verlassen kann"64, aufzuteilen. Vertrauen und Kontrolle sind also auch hier zentrale soziale Mechanismen, ohne die die selbstbestimmte Konstruktion der eigenen Identität und Biographie gefährdet wäre. Kontrolle über drohende oder mögliche Eingriffe in jene sozialen und territorialen Räume, die sicher umhegt sein müssen, damit unsere Reproduktion als sozial kontaktfähige Individuen gesichert ist, dies scheint das Antidot gegen ebendiese Bedrohungen und Verletzungen zu sein. Wenigstens in jenen kleinen Refugien geschützten Selbstseins wollen, müssen wir selbst bestimmen können, was geschieht, ob, wann und von wem diese in welcher Weise eingeschränkt werden dürfen. Die Forderung nach Selbstbestimmung ist fest verankert in unserer individuellen, körperlich fundierten Angst vor Kontrollverlusten, hinter der sich weitergehende grundlegende Ängste vor Situationen verbergen, die als unerträglich empfunden werden65. Darin liegt die im Innenleben eines jeden emotional verfestigte Selbst59
Scholz 1995: 40; zum Zusammenhang zwischen Identität und Biographie s. o., bei und in Fn. 38. 60 Vgl. Scholz 1995: 40 ff. Vgl. Scholz 1995: 51; Goffman 1999: 12, 56. 62 Scholz 1995: 51; vgl. ebd.: 51 ff.; Goffman 1999: 56 ff. Zur Empirie „genetischer Diskriminierung" und deren Problematik vgl. Lemke 2005, der auf die Ergebnisse diverser empirischer Studien Bezug nimmt, wonach „das zunehmende genetische Wissen zu neuen Formen von Ausgrenzung, Benachteiligung und Stigmatisierung führt" (2005: 51m. Nachw.). 63 Vgl. Goffman 1999: 80 ff.; 85 ff. 64 Scholz 1995: 53; vgl. o. bei Fn. 57. 65 Dies dürfte der Grund sein, weshalb in der persönlichkeitsrechtlichen Diskussion der Aspekt des Schutzes vor fremder Beeinträchtigung dominiert und rhetorisch so fungibel erscheint. Neuere Versuche, Menschenwürde philosophisch zu fundieren, definieren Entwürdigung, also die Negation der Menschenwürde, als fremdverursachten Kontrollverlust, der sich letztlich als Exklusion aus der identitätsstiftenden Gruppe darstellt; vgl. Margalit 1999: 143 ff. und passim sowie im Fortgang unter § 11 DL 4. d). 18*
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Verständlichkeit aller Forderungen nach Autonomie, persönlicher Integrität und Selbstbestimmung begründet, die persönlichkeitsrechtliche Argumentationen begleiten. Wie ein unsichtbarer, aber stets präsenter Geleitschutz verleiht ihnen dieser selten thematisierte, affektiv aufgeladene Gehalt werthafte Schlagkraft und Plausibilität und konstituiert neben aller Tradierung im juristischen Diskurs ihren grundsatzförmigen, unhintergehbaren Prinzipiencharakter. Dieser grundlegende Zusammenhang zwischen Angst und Kontrolle ist an anderer Stelle66 bereits thematisiert worden. Dort ging es um die in einschlägigen Kommunikationszusammenhängen, sog. Risikodiskursen, strukturell angelegte Differenz zwischen Risikoentscheidern und Betroffenen. Wie Risiken individuell wahrgenommen und bewältigt werden, ist von sozialen Kontexten mit spezifischen Präferenzmustern unterschiedlicher Stabilität abhängig. Freiwillig eingegangene Risiken werden eher als von außen auferlegte Gefahren akzeptiert, selbst unmittelbar kontrollierbare Risiken eher als solche, die als unkontrollierbar wahrgenommen werden, Risiken neuer Technologien eher als solche bekannter erprobter Techniken. Im Bereich persönlichkeitsrechtlicher Entwicklungen haben wir es mit typischen Risikolagen zu tun. Jederzeit können andere durch ihre Entscheidungen das eigene Leben verändern, uns zu Betroffenen machen. Metasoziale Ordnungen wie Religion und Tradition oder die festgefügte Machtordnung ständisch-traditioneller Gesellschaften müssen sie dabei kaum mehr beachten. Auch aus diesem Grunde erscheint es unmittelbar plausibel, hinsichtlich der unmittelbaren Auswirkungen moderner Techniken auf persönliche Identität und Privatheit auf dem Zentralwert der bürgerlichen Moderne, auf individuelle Selbstbestimmung zu bestehen. All dem korrespondiert die ganze Anlage von Persönlichkeitsrechten. Diesen wird ,Antwortcharakter" auf neuartige technische Gefährdungen zugesprochen. Sind Inhalt und Schranken der individuell benötigten Privatheit und Definitionsmacht über die eigene Identität gefährdet, so lautet die Antwort so einfach wie effektiv: Selbstbestimmung, also Kontrolle der potentiell Beeinträchtigten über Art und Umfang der ihnen zugefügten und drohenden Beeinträchtigungen.
3. Double-Bind-Situationen bei Gefährdungen individueller Selbstbestimmung Nach alledem dürfte es kaum verwundern, daß neue Einschränkungen oder Gefährdungen von Privatsphäre und persönlicher Identität tendenziell geeignet sind, Richterinnen und Richter in Double-Bind-Situationen67 zu bringen. Bedrohungen des geschützten Innenraums von Privatheit und Intimität sowie der subjektiven Kontrolle über den Ausschluß Fremder und der Öffentlichkeit sind Inhalt nachdrücklich und emotional geführter öffentlicher Risikodiskurse. Betroffen sind « s . o., § 21. 1., in und bei Fn. 10. 67 Zum Begriff s. o., § 7 IL 3. d); vgl. auch § 7 II. 3., § 7 III.
§ 9 Persönlichkeitsrechte als Prinzipien
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potentiell - quer durch alle sozialen Lagen und Gruppenzugehörigkeiten - alle Individuen. Presseberichte beeinträchtigen das britische Königshaus, aber unter Umständen auch die Eltern mißbrauchter Kinder oder Straftäter aus allen sozialen Schichten, die Täter des Lebach-Falles ebenso wie Caroline von Monaco68. Auch von Datenmißbrauch, Gentests, anderen humangenetischen Techniken, Embryonenforschung und Präimplantationsdiagnostik sind potentiell alle betroffen. Patient oder Patientin kann jeder und jede werden., Jeder von uns war einmal eine Zygote und hat sich über die Stufen der ersten Zellteilung bis zur Nidation und der Geburt bis zu seinem heutigen Stand fortentwickelt." 69 Konfliktlagen dieser Art haben einen hohen affektiven Gehalt. Sie betreffen jenes Innerste, über das, ungeachtet individueller Differenzen, alle Angehörigen unserer Kultur selbst verfügen wollen. Das machtrichterliche Empathie, Identifikation mit Opfern wahrscheinlich, insbesondere dann, wenn entsprechende Dichotomien zwischen Akteur/Opfer bzw. Entscheider und Betroffenen in den Diskursen von Öffentlichkeit und Fachöffentlichkeit reproduziert werden. Denn „wo normale Personen am heftigsten am Schicksal ihrer Umwelt teilhaben, ( . . . ) wo sie für die Freiheit und Unabhängigkeit bangen, hoffen und kämpfen, sind die Grundkonflikte ihrer Psyche am stärksten beteiligt, wiederholen sie ihr persönlichstes individuelles Schicksal."70 Nicht wenigen Urteilen läßt sich dieser emotionale Aspekt abspüren, der sich zugleich in den Dienstrichterlicher Rhetorik stellen läßt und seine Überzeugungskraft der Formel des „Was Du nicht willst..." schuldet. Hier entfaltet das „finstere Innere" des Subjekts71 Wirkkraft auf die Reproduktion der Systeme. Auf den hohen affektiven Gehalt, der im allgemeinen all jenen Diskursen zu eigen ist, die die unwägbaren Gefahren neuer Technologien und die potentiell allseitige Betroffenheit thematisieren, wurde oben hingewiesen. Auch dort, wie im Falle von Gefährdungen privater Autonomie, gilt: „Je mehr Identitätsgefährdung individuell erfahren wird und als allgemeines Deutungsmuster gesellschaftliche Geltung bekommt, umso mehr steigt die Bereitschaft, sich mit Objekten zu identifizieren, deren Integrität bedroht ist." 72 Mit Problemzonen neuer, technisch ermöglichter Einschränkung von Personalität konfrontiert, geraten Richterinnen und Richter wie alle anderen Teilnehmer juristischer Diskurse zwangsläufig in Double-Bind-Situationen. Die mittels vielfältiger constraints nicht nur kognitiv, sondern auch affektiv gesicherte richterliche 68 Zwar sind in erster Linie Prominente potentiell Betroffene unkonsentierter Verwertung von Bildnissen und anderen privaten Lebensäußerungen, doch liegt es nahe, sich in den entsprechenden Fällen spontan identifikatorisch in die Rolle des Opfers zu versetzen. Der ehemalige Vorsitzende des VI. Senats des BGH, Erich Steffen, hat darauf hingewiesen, die Rechtsprechung habe „geradezu den Zugriff der Medien auf die Persönlichkeit zum Motor genommen, um den Schutz der Persönlichkeit auszubauen ( . . . ) mit Pressefesten Bastionen der Intimsphäre, der Privatsphäre des kleinen Mannes" (1997: 53). 69 H.Dreier2002: 10. 70 Parin 1983b: 31.
71 Vgl. Luhmann 1995a: 48, 362 f.; 1995b: 20 sowie oben, § 61. 2., Fn. 19. 72 Lau 1989: 425.
278 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
Präferenz für Regeldiskurse bietet mangels tatbestandlich vertypter Anspruchsgrundlage oft nur die Möglichkeit, Forderungen nach staatlichem Schutz abzuweisen. Auf der anderen Seite bestehen Rationalitäts- und Gerechtigkeitsforderungen außerrechtlicher Diskurse. Diese gewinnen über moralisierende Angstkommunikation auf die immer auch in außerrechtliche Sozialstrukturen eingebundenen Entscheider einen affektiven Zugriff, der nach weiteren Entscheidungsspielräumen verlangt, als sie die Begründungsmöglichkeiten innerhalb der regelorientierten Diskurse zulassen. Angst wirkt hier - gegenläufig zu regeldiskursiven Vorgaben auf mindestens zwei Ebenen motivierend: Empathie und Mitgefühl mit anderen Menschen lösen die subjektkonstitutive Abgrenzung zwischen Innen und Außen partiell auf, d h. man fühlt und entscheidet so, als ob man selbst betroffen wäre. Dies liegt bei Phänomenen, die existentiell und so ubiquitär erscheinen, daß sich jedes Mitglied der Gesellschaft potentiell betroffen fühlen muß, nahe, auch wenn eine solche Einfühlung zunächst mit dem internalisierten juristischen Rollenideal, das Distanznahme und Sachlichkeit verlangt73, vordergründig unvereinbar scheint. Ferner ermöglicht die moralisierende Angstrhetorik öffentlicher Risikodiskurse psychische Gratifikationen, wenn man sich mit der Entscheidung auf die Opferbzw. Betroffenenseite begibt: Zum einen kann man sich moralisch betätigen, kann sich also äußerer Anerkennung, v. a. durch die Öffentlichkeit gewiß sein (auch wenn zunftintern möglicherweise eher Ablehnung zu befürchten ist). Denn „in der öffentlichen Rhetorik wird Angst zum Prinzip der Selbstbehauptung hochstilisiert. Wer Angst hat, ist moralisch im Recht, wenn er für andere Angst hat und seine Angst einem anerkannten, nicht pathologischen Typus zugerechnet werden kann."74 Zum anderen ist man vor sich selbst eins mit anderen Präferenzen, die sich im juristischen Ideal ebenso wiederfinden, wie die Vorstellung richterlicher Regeltreue. Zu nennen ist die durch Verfassungsrang geadelte Vorstellung richterlicher Unabhängigkeit. Auch die Identifikation mit Schwächeren ist ein gesellschaftliches Ideal, das in tradierten Gleichheits- und Schutzvorstellungen von Recht und Gerechtigkeit aufgehoben ist. Der große psychologische „Gewinn, der einer Person winkt, wenn sie die eigenen Ideale in der Außenwelt verwirklicht sieht"75, kann dazu beitragen, sich mit nachteilig Betroffenen zu identifizieren 76.
73 Vgl. Gast 1987: 1 f. 74 Luhmann 1990b: 244; zur Identifikation mit Opfern in deutschen Risikodiskursen vgl. Gaudard 1993: 76 ff. 75 Parin 1983b: 27. 76 Vgl. Parin 1983b: 21 ff. In ähnliche Richtung weisen Überlegungen, die Hans A. Hesse und Peter Kauffmann zur Bürgschafts-Rechtsprechung des BGH angestellt haben. Sie konstatieren eine „ H e l f e r - A t t i t ü d e hilfswilliger Juristen" (1995: 221), die entlang einer Täter-OpferDifferenz verlaufe und stellen diese Beobachtung in den „Kontext der modernen Gefahr und Krisendebatten", in denen Juristen die eigene Bedrohtheit vor Augen stehe (ebd.: 220). Instruktiv hierzu auch Fach/Martinsen 1991, die anmerken, daß Sympathien und Antipathien in solchen Kontexten nicht Menschen, sondern etablierten sozialen Rollen gelten, die somit gleichermaßen normalitätsgeprägt und normalitätsgenerierend seien (ebd.: 549 ff.).
§ 9 Persönlichkeitsrechte als Prinzipien
279
IL Die autonomiesichernde Limitationsfunktion neuer Persönlichkeitsrechte im Kontext moderner (Medizin-)Technologien Gesellschaftliche Entwicklung in der Moderne ist ganz wesentlich auch ein Prozeß der Erweiterung menschlicher Naturbeherrschung durch Technik. Das beliebte Bild eines insoweit auf Bewahrung angelegten nacheilenden Rechts ist falsch oder doch zumindest grob einseitig77. Grundrechte in ihrer klassischen, auf Sicherung individueller Freiheit von obrigkeitlicher und traditioneller Beschränkung zielenden negatorischen Funktion gewähren Entwicklung und Anwendung neuer Techniken Vorrang vor diesbezüglich restriktiven Interessen. Sie sind daher eine wesentliche strukturelle Voraussetzung für technologische wie ökonomische Entwicklung - und damit auch für die Naturbeherrschung. Indem die Grundrechte aufgrund ihrer klassischen, primär negatorisch-selbstexekutiven Struktur Anwendung und Entwicklung dieser neuen medizinischen Techniken tendenziell eher fördern als hemmen, tragen sie zur Untergrabung dessen bei, was zu fordern vorgeblich ihr Hauptzweck ist: die Ermöglichung individueller Autonomie und Selbstbestimmung. Von spezifischer Qualität ist der grundrechtlich ermöglichte Zugriff neuer Medizintechniken auf den menschlichen Körper als Basis von Autonomie, Selbstbestimmung, Identität und Intimsphäre. Zwar erweitern moderne Medizintechniken auch Autonomie, doch ist das technische und ökonomische Setting nicht allen gleich verfügbar, sind Nutznießer und Gefährdete, Entscheider und Betroffene nicht zwangsläufig identisch78, so daß Autonomiereduzierung in jedem Fall ein zentrales Problem ist. Ulrich Beck hat in Anknüpfung an eine Denkfigur der Frankfurter Schule79 festgestellt, daß die mit der Naturbeherrschung einhergehende Subjektbeherrschung in humantechnologischen Verfahren eine besondere Qualität erhält 80. Die Humangenetik habe es „mit Substraten zu tun, die ihrer Qualität nach den direkten Durchgriff auf Subjektivität ermöglichen."81 Dieser spezifischen Eingriffsqualität korrespondieren neue persönlichkeitsrechtliche Positionen, soweit sie im Sinne einer Unverfügbarkeitsgarantie unmittelbar auf den Schutz der genannten Güter zielen. Sie haben Antwortcharakter: Als Garant für die „konstituierende^) Elemente der Persönlichkeit" hat, so das Bundesverfassungsgericht, das allgemeine Persönlichkeitsrecht die Aufgabe, „die engere persönliche Lebens77 s. o., § 11. 78 S. o., § 21. 1., § 21. 3. d), sowie im Fortgang unter § 111., § 11 III. 1. 79 Danach ist die auf Befreiung des Menschen zielende Naturbeherrschung stets auch Beherrschung der inneren menschlichen Natur gewesen, die sich im Vollzug der sich ihrer urspünglichen Intention nicht mehr bewußten Aufklärung gegen den Menschen selbst wendet in letzter Konsequenz bis zur industriellen Massenvernichtung in Auschwitz; vgl. Horkheimer/Adorno 1984/1947. Siehe hierzu auch die Ausführungen unter § 11 II. so Beck 1988a: 48 ff. 8i Vgl. Beck 1988a: 49.
280 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
Sphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen zu gewährleisten, die sich durch die traditionellen Freiheitsgarantien nicht vollständig erfassen lassen", dies „namentlich auch im Blick auf moderne Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen neuen Gefährdungen für den Schutz der menschlichen Persönlichkeit."82 Daß durch die klassischen negatorischen Grundrechte ermöglichten Autonomiegefährdungen durch ein materialisierendes Grundrechtsverständnis begegnet wird, ist nicht neu. Vielmehr läßt sich die Entwicklung zum Sozialstaat insgesamt auf den Nenner bringen, daß dieser in vielen Bereichen den formal durch Abwehrgrundrechte gesicherten Autonomieraum der Individuen durch materiale Erweiterung der Grundrechtsfunktionen (Schutzpflichten, mittelbare Drittwirkung, Institutsgarantien) sichern mußte, weil die grundrechtlich abgesicherte technologische und ökonomische Entwicklung desintegrative Folgen nach sich zogen83. Was, gekennzeichnet durch die Forderung nach neuen Persönlichkeitsrechten oder persönlichkeitsrechtlichen Positionen, eine neue Qualität dieses Prozesses ausmacht, ist folgendes: Während sich der Sozialstaat herkömmlicherweise weitgehend darauf beschränken konnte, durch Technik verursachte Schäden und Gefährdungen durch Schadensausgleich oder/und Versicherung finanziell zu 'kompensieren, versagt dieser Regulationsmodus bei (potentiellen) Schäden, die quantitativ oder qualitativ keiner monetären Verrechnung zugänglich sind84. Persönlichkeit als Ausdruck von Autonomie, Selbstbestimmung und Identität (im Sinne eines individuellen Selbstverständnisses mit hohem emotionalem Gehalt) entzieht sich wenigstens ab einem bestimmten Intensitätsgrad der Beeinträchtigung jeglicher pekuniären Kompensation85. Primär zielen Persönlichkeitsrechte, die sich zu „aktuellen Schutzpflichten verdichten"86 können, auf Abwehr (Gegendarstellung, Unterlassung, § 823 I i.V. m. § 1004 I BGB, Sittenwidrigkeitsgrenze nach § 138 BGB und gesetzliche Verbote), nicht auf finanzielle Kompensation. Der „Schmerzensgeld"-Anspruch besteht subsidiär nur für jene Fälle, in welchen eine schwerwiegende Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung bereits eingetreten87 und nicht anderweitig in befriedigender Weise zu beseitigen ist 88 .
82 BVerfGE 79, 256/268; vgl. auch BVerfGE 54,148/153; 72,155/170f. 83 Vgl. Grimm 1982: 51 ff.; Derminger 1988; H Dreier 1994: 505 f.; zum sozialwissenschaftlichen Befund vgl. Hirsch 1986; Hirsch/Roth 1986: 53 ff., 89 ff.; Beck. 1986: 121 ff. 84 Vgl. Damm 1993a: 166-168; Preuß 1989a: 254 f. 85 Ähnlich Damm 1993a: 167 f. Es ist daher kein Zufall, daß innerhalb der Disziplin der ökonomischen Analyse des Rechts, deren entscheidendes analytisches Kriterium die Allokationseffizienz ist, erörtert wird, ob Persönlichkeitsrechte und Menschenwürde Grenzen eines ökonomischer Rationalität verhafteten Effektivitätsprinzips darstellen; vgl. Eger/Nagel/ Weise 1991; Kohl 1991. 86 Degenhart 1992: 368. 87 Vgl. BGH NJW 1961,2059/2060. 88 BGH NJW 1965, 685/686; NJW 1977, 626/628; NJW 1980, 994/995.
§ 9 Persönlichkeitsrechte als Prinzipien
281
i n . Persönlichkeitsrechtliche „Rechtsfolgen": Die Postulierang von Autonomie Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn Richterinnen und Richter ohne allzu starke Anbindung an bestehende rechtliche Kommunikation neue rechtliche Positionen postulieren. Sie „definieren in Abwehr neuer technologischer Zugriffe ( . . . ) Autonomiebereiche neu und ermöglichen darüber Selbstbestimmung"* 9. Folge sind eine „Expansion von Rechtssubjektivität"90, also eine Ausweitung der subjektiven Fähigkeit, Träger von (schutz-)rechtlichen Garantien zu sein (prä- und postmortale Schutzpositionen), und die Herausbildung neuer subjektiver Rechte91. Vorstellungen, die Privatheit als Schutzräume von Individualität vergegenständlichen, werden dabei fast bruchlos in Kompetenzzuweisungen überführt: Selbstbestimmung und - wo diese dem Individuum faktisch entwunden wurde - rechtliche Kontrolle der potentiell Beeinträchtigten über Art und Umfang der Beeinträchtigungen. Persönlichkeitsrechte konstituieren zugunsten Betroffener primär Aufklärungspflichten und Entscheidungsrechte92. Diese Verschiebung hat auch eine normstrukturelle Dimension: Mit dem Selbstbestimmungspostulat, das in der Persönlichkeitsrechtsprechung zunehmend Raum gewonnen hat, sind die Argumentationslasten verschoben, weil jede Beeinträchtigung individueller Definitionsmacht über die eigene Individualität per se rechtfertigungsbedürftig wird, sobald die Beeinträchtigung in öffentlichen Diskursen zum Thema wird 93 . Die Internalisierung individueller Interessen in das Recht wird damit erleichtert und dynamisiert. Dies hat einen merkwürdigen Effekt: Indem persönlichkeitsrechtliche Ansprüche durch Zuschreibung von Autonomie und Selbstbestimmung gewährt werden, werden jene zu Entscheidern gemacht, die zuvor Betroffene waren. Eltern (bzw. Mütter) entscheiden nun „eigenverantwortlich" über die Durchführung pränataldiagnostischer Untersuchungen. Das durch die technologische Neustrukturierung der Handlungsfelder erzeugte strukturelle Dissensrisiko zwischen Entscheidern und Betroffenen wird künstlich stillgelegt, technikkritischen Risikodiskursen ein Teil ihrer Basis entzogen94. „Künstlich" deshalb, weil die neuen Entscheider in Handlungsräume hineingestellt wurden, über die sie nur sehr eingeschränkt souve«9 Brüggemeier 1997: 10 [Hervorh. im Orig., D.M.]. 90 Damm 1991: 282, vgl. ebd., S. 282 ff. 91 Vgl. Damm 1991: 284, Denninger 1989: 152 f. 92 Daraus werden sekundär Ansprüche, die auf Unterlassung (§ 22 KUG), Schadensersatz (§ 823 I BGB) und auf materielle Kompensation immaterieller Schädigungen (Artt. 1 I, 2 I GG), also auf die rechtliche Wederherstellung faktisch verlorener Kontrolle gerichtet sind. 93 Eingehender hierzu unter § 10IV. 2. w Fundamentalisten wird diese Form der Selbstbestimmung kaum zum Einlenken bewegen, aber sie werden auf diese Weise tendenziell zu einer im Diskurs leicht zu marginalisierenden Sekte.
282 Teil 3: Zeitumstellung - Prinzipienabwägung als Modusrichterlicher Normbildung
rän verfügen. Nur ein Beispiel: Im Kontext humangenetischer Beratung hat sich in den 80er Jahren das Modell nicht-direktiver Beratung durchgesetzt95, das hinsichtlich seiner starken Betonung der Patientenautonomie mit einer starken Akzentuierung des persönlichkeitsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts einherging. Doch „die Probleme der Werte- und Handlungsunsicherheit in pluralistischen Gesellschaften, der gesellschaftliche Druck auf die Entscheidungssituation, die Unsicherheit des zugrundegelegten Krankheitsbegriffs, die Problematik des Rechts auf Nichtwissen und die Betroffenheit eines Dritten werden mit der Betonung der individuellen Autonomie nun keineswegs gelöst, sondern vielmehr verdeckt"96. Beim Umgang mit Unsicherheit auf persönliche Kontrolle zu setzen, bedeutet, individuellen Bewältigungsstrategien Vorzug zu geben. Man setzt auf Selbstbestimmung und individuelle Eigenverantwortung in gleicher Weise, wie moderne gesundheitsbezogene Präventionspolitik auf „mittelschichtsorientierte Versuche der Beeinflussung von individuellem Verhalten und Konsumgewohnheiten, meist ohne Berücksichtigung der das Verhalten mitbedingenden Lebensverhältnisse"97. Indem persönliche Kontrolle (und nicht mehr) rechtlich garantiert wird, werden die Vorteile wie Defizite dieser Strategien zu solchen der rechtlichen Regulierung. „Die Lasten des zivilisatorischen Fortschritts wandern wieder in die allgemeine Staatsbürgerrolle zurück" 98, nicht selten in überfordernder Weise. In vielen Anwendungsbereichen der Humangenanalyse, etwa der präsymptomatischen Analyse von Erbkrankheiten und Erkrankungsrisiken, aber auch der Pränataldiagnostik, werden durch eine Untersuchung zwangsläufig die genetische Dispositionen mehrerer mit durchaus unterschiedlichen Interessen ermittelt. Über ihren Erhebungszweck hinaus können die ermittelten Daten für andere Bedeutung gewinnen99. Die Analysen haben Konsequenzen für die Gesundheit, für Lebenschancen und -planung, teilweise sogar für Leben und Tod. Es liegt auf der Hand, daß die Interessendivergenzen und die sich daraus ergebenden moralischen und sozialen Konflikte zwischen den Betroffenen gewaltig sein können. Rechtliche Selbstbestimmung zu postulieren, beseitigt oder verringert diese Konflikte nicht und vermag die notwendige Abwägung zwischen den unterschiedlichen Interessen nicht zu ersetzen. Jedoch gerade in rechtlicher Hinsicht erzwingt die bereichsspezifische Zuerkennung 95 Vgl. Wevelsiep 2000: 92 f.; Damm 1999a: 443 f.; Regenbogen 2003: 123 ff., 251 ff. 96 Wevelsiep 2000: 93; zum gegen Kritik immunisierenden Setting der individuelle Autonomie suggerierenden gendiagnostischen Beratung vgl. Waldschmidt 1996; Haker 1998; Kettner 1998: 13 ff.; Wolff 1998; Nippert 1998; Beck-Gernsheim 1994b: 324 ff. und 1995b: 120 ff. Grundlegend zum Autonomieproblem in der modernen Medizin, respektive der genetischen Diagnostik Damm 2002b: 375, 380 ff.; Regenbogen 2003: 79 ff. 97
Gloede 1993: 221; siehe auch oben, § 2 I. 3. d); zu den an Eigenverantwortlichkeit anknüpfenden Zwangswirkungen präventiver Diagnostik siehe Beck-Gernsheim 1994b: 324 ff. sowie unter § 11 H. 5 b). 9 * Preuß 1989a: 257. 99 Vgl. Damm 1998a: 931; 1998b: 128, 130; 1999a: 440, 444; Tinnefeld/Böhm 1992: 62; Spann/Liebhardt/Penning 1988: 29 f.; Taupitz 1998: 590, Fn. 41; s. o., § 1 VII.; Regenbogen 2003: 256 ff.
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283
persönlichkeitsrechtlicher Selbstbestimmung für den vor die Gerichte getragenen Konfliktfall die Abwägung der betroffenen Interessen und damit die Möglichkeit, daß sich auf mittlere Sicht für häufigere und damit typische Fallkonstellationen rechtliche Regeln herausbilden. Ohnehin gibt es wohl keine Ideallösung. Das Grunddilemma der bürgerlichen Gesellschaft, antagonistische Rechtspositionen (im weitesten Sinne: Freiheit vs. Sicherheit) verschiedener Grundrechtssubjekte miteinander abgleichen zu müssen, läßt sich nicht auflösen. Partizipative Verfahren auf jenen Ebenen, auf denen über die Anwendung neuer Techniken entschieden wird, hätten vor allem im Sinne prozeduraler Absicherung Machtdivergenzen zwischen verschiedenen Akteuren und der unterschiedlichen Organisationsfähigkeit von Interessen100 entgegenzuwirken. Damit sind zugleich Grenzen des recht modisch gewordenen Modus prozeduraler Entscheidungsfindung und Integration angesprochen, die dezisionistisch wirkende justizielle ad-hoc-Lösungen unverzichtbar machen. Für die Organisation und Durchsetzung kollektiver Interessen bleibt keine Zeit, wo deren Trägergruppen starkem sozialem Wandel unterworfen sind oder für bestimmte Interessen gar keine organisationsfähige Trägergruppe existiert. Daher macht insbesondere in konsensarmen Handlungsfeldern die Zuerkennung subjektiver (Persönlichkeits-) Rechte durchaus Sinn, wenn man sich auch stets vor Augen halten muß, daß diese „nur »Optionen4 auf Rechtsdurchsetzung verkörpern, nicht bereits die Rechtsdurchsetzung selbst"101. Auch sollte der Pathos, mit dem Persönlichkeitsrechte für neue Handlungsbereiche, beispielsweise ein Recht auf bioethische Selbstbestimmung, eingefordert werden, nicht vergessen machen, daß subjektive Rechte „nur den individuellen und gleichsam privaten Rückzug (garantieren). Sie sind ein schwaches Instrument zur Abwehr sozialer Zwänge, die aus neuer Technik resultieren." 102
100
Zur Organisationsfähigkeit von Interessen vgl. von Winter 1997: 539 ff., der darauf hinweist, daß der „transitorische Status" von Patienten (ebd.: 543) effektiver Interessenpolitik entgegensteht. 101 Damm 1999a: 447. 102 van den Daele 1991a: 262.
Teil 4
Persönlichkeitsrechtsentwicklung Normbildungsprozesse in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft im Kontext von Risikodiskursen § 10 Zwischen Prinzipienabwägung und Regelbildung: Die Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Rechtsprechung und Literatur Die Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat sich im Rahmen eines Normbildungsprozesses vollzogen, der sich von dem parlamentarischer Gesetzgebung unterscheidet. Im folgenden soll analysiert werden, wie sich diese Form der Normbildung im Gefolge der Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Zivilrecht herausgebildet hat. Zugleich werde ich aufzeigen, wie einige zentrale thematische und strukturbildende Grundlagen des Diskurses, der zur Zeit im Kontext Genanalyse die Persönlichkeitsrechtsentwicklung konstituiert (und Gegenstand des Folgekapitels ist), entstanden sind. Das Hauptaugenmerk der Analyse wird auf die frühe bundesrepublikanische persönlichkeitsrechtliche Rechtsprechung gerichtet. Dort erfolgten die zentralen Weichenstellungen.
I. Die Fragestellung der Analyse Dabei sollen Mechanismen, die in den vorangehenden Teilen der Arbeit eher abstrakt beschrieben worden sind, konkret nachgewiesen werden. Besonderes Gewicht wird auf die Interdependenz von Prinzipienabwägung und Regelbildung gelegt. Ich möchte nachzeichnen, wie sich hier spezifisch juristische Textverständnistraditionen mit aktuellen Problemwahrnehmungen und -bewertungen äußerrechtlicher Diskurse vermengen. Uns soll interessieren, wie einerseits außerrechtliche Problembewertungen durch Flexibilisierung des Rechtssystems Eingang in das Recht finden und andererseits auf Formalität angelegte Regelbildungsprozesse allmählich wieder zu einer tendenziellen Schließung des Rechts führen, sich also neue rechtliche Bewertungen durch Eigenwertbildung gegen die weitere Aufnahme außerrechtlicher Problemsichten immunisieren.
§ 10 Zwischen Prinzipienabwägung und Regelbildung
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1. Zur Methodik Untersucht werden sollen die Normbildungsprozesse anhand verschiedener Entscheidungssequenzen. Unter Entscheidungssequenz verstehe ich eine Folge von zu demselben Problemkomplex ergehenden Gerichtsentscheidungen, an der sich eine allmähliche Entwicklung und Verschiebung des vorhandenen Normbestandes beschreiben läßt. Im wesentlichen folge ich damit Adalbert Podlech, dem zufolge Entscheidungssequenzen „in Form einer Sprachverwendungsregelung die rechtliche Regelung neuer sozialer Situationen"1 leisten und „an die soziale Wirklichkeit rückgekoppelte rechtliche Experimente"2 im Umgang mit sozialen Problemen sein können. Podlech unterscheidet zwei Fälle von Entscheidungssequenzen: Jenen Fall, „daß ein Problem entdeckt und dann entfaltet wird, daß eine einmal ausgewählte rechtliche Lösung gegen Lösungen der Instanzgerichte und der Wissenschaft verteidigt wird und ( . . . ) den Fall, daß unterschiedliche Lösungsvorschläge, zufällig oder gleichsam experimentell, aufeinander folgen" 3. Die Ausprägung des Begründungsmodus der Abwägung von Persönlichkeitsrechten mit anderen Rechtspositionen läßt erkennen, wie eher zufällige und damit sehr vorläufige Begründungen als Ausgangspunkte bestimmter Entscheidungssequenzen allmählich einen grundlegenden Stellenwert erhalten haben, den sie im Zeitpunkt der jeweiligen Entscheidung so nicht hatten und - nach den mutmaßlichen Intentionen der Entscheider - wohl auch kaum haben sollten. Wir werden dies an der ersten Entscheidungssequenz (10.3) verfolgen können. Formal wird die Analyse üblichen juristischen Textanalysen durchaus ähneln. Es werden die zentralen Aussagen und die sie tragenden Argumente nachgezeichnet. Die Perspektive ist allerdings eine andere. Es geht nicht darum, eigene normative Richtigkeitsvorstellungen zu gewinnen. Vielmehr möchte ich eruieren, ob sich die Entscheidungen zu ihrer Zeit im Rahmen herrschender Dogmatiken bewegten oder ob sie dazu eine (möglicherweise erhebliche) kommunikative Distanz einnahmen. Wo vollzogen sich Brüche, wo entstanden neue Kontinuitäten? Wo wurde auf welche Diskurse Bezug genommen, wo auf bislang minoritäre Texttraditionen? Wo wurden außerrechtliche Problemsichten und -bewertungen aufgenommen? Auch dies sind Fragen, die beantwortet werden sollen. Ich gehe davon aus, daß diese mit juristisch-handwerklichen Mitteln durchgeführte Analyse soziologische Relevanz hat. Juristische Argumentationen, vor allem aber gerichtliche Begründungen sind nicht beliebig. Ihre Positionierung zu den zum jeweiligen Zeitpunkt geltenden juristischen Eigenwerten gibt Aufschlüsse über Stabilität und Dynamik des jeweiligen Teilbereichs des Rechtssystems, insbesondere wenn man ganze Entscheidungssequenzen beobachtet. Urteilsbegründungen, der Art und Weise, wie darin Begründungslasten argumentativ abgearbeitet 1 Podlech 1980: 236. 2 Podlech 1980: 235. 3 Podlech 1980: 225.
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Teil 4: Persönlichkeitsrechtsentwicklung
werden, aber auch der rechtlichen Anschlußkommunikation in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft läßt sich entnehmen, wie weit sich die Gerichte von den Präferenzvorgaben des Regeldiskurses entfernen mußten, um ausreichenden Entscheidungsspielraum zu gewinnen. Im zweiten Teil der Arbeit habe ich versucht, diesen Ansatz theoretisch zu entfalten. In Abschnitt 6.1.4 wurden idealtypisch - die Übergänge sind fließend - drei Konstellationen kommunikativer Distanz unterschieden, die ich hier kurz zusammengefaßt wiedergebe: • Jene, die sich weitgehend im Rahmen des aktuellen hegemonialen Regeldiskurses hält, damit für Stabilität des Rechts steht und die Illusionrichterlicher (Konditional-)Programmiertheit gestattet. • Eine zweite Konstellation, die durch größere kommunikative Distanz zu rechtlichen Eigenwerten gekennzeichnet ist, aber im Rahmen des von professionellen Juristinnen als „vertretbar" Empfundenen verbleibt und nur bei Häufung solcher Entscheidungen die Systemstabilität vermindern. • In der dritten Konstellation kann die durch Abweichung von bestehenden Eigenwerten entstandene kommunikative Distanz nur noch durch teilweise Integration (bisher) rechtsexterner Argumentation eingeholt werden. Bleiben solche Entscheidungsbegründungen nicht „Ausrutscher", also allenfalls vorübergehend irritierende Einzelfälle, so müssen wir einen instabilen Zustand mit hoher Dynamik konstatieren, bis sich im Verlauf weiterer Entscheidungen neue rechtliche Eigenwerte ausgebildet haben, die tendenziell auf eine erneute Regelbildung hinauslaufen. Im Rahmen der Rechtsprechungsanalyse soll versucht werden, solche unterschiedlichen Zustände, die zugleich unterschiedliche Etappen von Normbildungsprozessen kennzeichnen, zu rekonstruieren.
2. Rechtsprechung und Rechtswissenschaft Verschiedene aufeinander Bezug nehmende Diskurse sind an diesen außerlegislativen Normbildungsprozessen beteiligt: Außerrechtliche, öffentliche und halböffentliche Diskurse, die Rechtsprechung und der Diskurs der Rechtswissenschaft. Letzterer ist nicht etwa eine auf ihre Reflexionsleistung zu reduzierende, vernachlässigenswerte Größe. Vielmehr ist er, wie wir sehen werden, für die Entstehung der Persönlichkeitsrechte von Beginn an von grundlegender Bedeutung gewesen. Beschreibt man die Rechtswissenschaft auf makrosoziologischer Ebene als Kommunikationssystem, so kann man konstatieren, daß ihre zentrale Vermittlungsleistung auf Beobachtungen in mindestens drei Richtungen basiert: Beobachtet werden außerrechtliche Diskurse, resp. Risikokommunikationen, die Rechtsprechung und die Rechtswissenschaft selbst. Neuartige Problemlagen werden von der
§10 Zwischen Prinzipienabwägung und Regelbildung
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Rechtswissenschaft jenseits und meist vor jeder legislativen Tätigkeit mit bestehenden rechtlichen Eigenwerten in Abgleich gebracht. Obwohl auch ihre Kommunikation unter dem Imperativ steht, rechtsspezifische Konsistenz zu wahren, hat die Rechtswissenschaft potentiell erheblich größere Möglichkeiten zu rechtlicher Innovation und zur Aufnahme rechtsexterner Problemlösungen. Ihre zeitlichen Ressourcen sind größer als jene der Rechtsprechung, ihre Routineerfordernisse und Abnahmezwänge erheblich geringer und eher informeller Natur. Im Diskurs der Rechtswissenschaft bleiben bis zu einem gewissen Grad minoritäre, aktuell nicht durchsetzbare Positionen aufgehoben4. Auch diese vergrößern den Raum des als Recht qualifizierbaren diskursiv Möglichen, dienen als Reservoir für „neuartige" Begründungen, auf das die Rechtsprechung bei Bedarf zurückgreifen kann, weil es zum „rechtlich Gesagten" gehört. Entschieden allerdings wird durch die Gerichte5, die staatliche Autorität, Macht und Gewaltmonopol zu mobilisieren vermögen. Nur deren Kommunikation erlangt Rechtsgeltung - im Einzelfall und aufgrund faktischer Präjudizienbindung über diesen hinaus. Sieht man von der Mobilisierung staatlicher Herrschaftsressourcen ab, so zeigt sich, daß der Unterschied zwischen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft im Hinblick auf orientierungsleitende Limitierung des mit Aussicht auf Zustimmung Sagbaren nicht allzu groß ist. Gerichte werden sich, solange konsistente Begründungen erforderlich sind, in aller Regel nur dann zu Positionen, die in der Rechtswissenschaft als gesicherte Eigenwerte gelten, in Widerspruch setzen, wenn eine gegenläufige dezidierte obergerichtliche Rechtsprechung existiert. Denn sie müssen davon ausgehen, daß andere Gerichte ihrerseits an das anknüpfen, was in der Rechtswissenschaft als richtiges Recht kommuniziert wird. Ein weiteres leistet die Rechtswissenschaft für den juristischen Diskurs: Durch ihre Reflexionsleistung dogmatisiert sie diesen und schafft dadurch systemspezifische Bindungen und Freiheiten, die sich von den Vorgaben und Richtigkeitskriterien der rechtsexternen Diskurse unterscheiden6. Über den Begriff der Dogmatik läßt sich trefflich streiten. Ich beschränke mich in Anlehnung an Luhmann7 auf jene drei Aspekte, die hier von Bedeutung sind: Das strikte Negationsverbot, dem ihre Grundlagensätze unterliegen (1), den Flexibilisierungseffekt, der sich aus ihrer abstrahierenden Systematisierung ergibt (2) und ihre konsistenzsichernden Restabilisierungstendenzen (3). 4 s. o., § 5 m . 3. 5
Man könnte den Anteil der Rechtswissenschaft an Normbildungsprozessen als Probehandeln, jenen der Gerichte als Handeln beschreiben. Die Interpretation von Recht wird nicht zusätzlich angeführt, weil ich hierin keinen prinzipiellen, sondern nur einen graduellen Unterschied zur Normbildung sehe. In der Rechtstheorie wird dieses Problem unter den Stichworten „Rechtsauslegung" und „Rechtsfortbildung" abgehandelt. 6 Zu den unterschiedlichen Rationalitäten und Systemzeiten von Recht und außerrechtlichen Sinnstrukturen vgl. o., § 7 D. 3. Auch für Dogmatik gilt, daß sie Rechtsgeltung nur über die gerichtliche Rezeption erlangt. 7 Luhmann 1974a: 15 ff.; 1995a: 274 ff.; vgl. auch Alexy 1991: 326 ff.
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Teil 4: Persönlichkeitsrechtsentwicklung
(ad 1) Die Ausgangspunkte dogmatischer Argumentation sind der Kritik entzogen, bilden also stabile Eigenwerte des juristischen Diskurses. Das Abstraktionsprinzip im deutschen Zivilrecht mag hier als Beispiel dienen. (ad 2) Indem sie durch Abstraktion aus der Vielzahl der gesetzesinterpretierenden Sekundärtexte übergeordnete Sinnzusammenhänge und Grundgedanken extrahiert und miteinander abgleicht, ermöglicht Dogmatik rechtlichen Begründungen größere Freiheit, als sie der Abgleich mit einzelnen Entscheidungsbegründungen oder Fallgruppenbildungen (als erster Schritt und Voraussetzung zur Dogmatisierung) zulassen würde. Sind im betreffenden Problembereich dogmatische Netzstrukturen bereits vorhanden, so ist man nicht genötigt, die bisherigen Entscheidungen in all ihren Einzelheiten zu beachten, sondern kann sich der übergeordneten und abstrakteren dogmatischen Relevanzkriterien bedienen. (ad 3) Zugleich fordert Dogmatik durch ihre Behauptung, die zentralen Grundgedanken des betreffenden Rechtsbereichs zu repräsentieren, größere Verbindlichkeit. Mit ihrer Hilfe werden Präjudizien in einen über den Einzelfall hinausreichenden Konsistenzzusammenhang vorhandener Sekundärtexte eingepaßt. Dadurch garantiert sie weitestgehende Stabilität des Systems unter Wahrung größtmöglicher Flexibilität für die Einzelfallbegründung. Man könnte daher Dogmatisierung als Prozeß kennzeichnen, der auf Restabilisierung von Regeldiskursen zielt. Aus den abstrahierenden Reflexionen über eine Vielzahl von Begründungen, die eine kommunikative Distanz der Stufen 2 und 3 8 aufweisen, resultieren Begründungs angebote an die Gerichte. Werden sie akzeptiert, so können labilisierte Regelungsbereiche durch dauerhafte Aufnahme neuer Eigenwerte in einen Zustand überführt werden, in denen wieder Begründungen der Stufe 1 Normalfall sind9.
II. Entstehung und Frühgeschichte der Kategorie Persönlichkeitsrechte Angesichts der engen Wechselwirkung zwischen Rechtswissenschaft und juristischer Lehre wäre es verfehlt, die Persönlichkeitsrechtsentwicklung auf eine reine Rechtsprechungsanalyse hin zu verkürzen. Die persönlichkeitsrechtliche Rechtsprechung nach 1945 begann nicht aus dem Nichts heraus.
« s.o., § 101.1., § 61. 4. Aus dem Vergleich von Einzelfallentscheidungen gebildete Fallgruppen können im Laufe der Zeit fehlende Tatbestandsmerkmale ersetzen. Dieser Prozeß kann sich bis hin zur Ausbildung einer Rechtsregel und deren Einbettung in ein dogmatisches System fortsetzen, angesichts dessen der Rückgriff auf Zweckprogramme zur (unbeliebten) Ausnahme wird. Zu diesem Mechanismus bei Generalklauseln vgl. R. Weber 1992: 530 ff. 9
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1. Persönlichkeitsrechtliche Diskurse im 19. Jahrhundert Von Interesse ist hier zunächst der persönlichkeitsrechtliche Diskurs des 19. Jahrhunderts. Weder die Entstehungsgeschichte der Persönlichkeitsrechte im 19. Jahrhundert10, noch die Rezeption des Persönlichkeitsbegriffs durch die zivilrechtliche Doktrin nach 1850, ihre Vorläufer oder die mit ihr einhergehenden Auseinandersetzungen11 können hier im einzelnen nachgezeichnet werden. Eine grobe Skizze ist jedoch, will man den Zusammenhang zwischen technisch induzierter Entwicklung und Normbildung verstehen, unabdingbar. Bereits zu diesem Zeitpunkt kristallisiert sich eine Gegensatzbildung heraus, die spätere persönlichkeitsrechtliche Diskurse, sowohl Rechtswissenschaft als auch Rechtsprechung, wesentlich prägen wird: die Dualität von ideellen, auf Integritätswahrung gerichteten und kommerziellen, auf die wirtschaftliche Verwertung geistiger Werke zielenden Interessen. In einem subjektivrechtlich gesicherten, auf Freiheit und Eigentum basierenden Gesellschaftssystem stellt sich ein grundlegendes ökonomisches Problem: Innovationen können prinzipiell von jedermann verwertet werden, der das erforderliche Wissen erlangt und über das nötige Kapital verfügt 12. Mit Entstehung der Gewerbefreiheit wurden insbesondere Erfindern, Verlegern, Künstlern und Autoren die Grundlagen ihres Schutzes (Privilegien, Monopole, Polizei- und Zunftordnungen 13 ) praktisch wie theoretisch entzogen14. Daher dachte man intensiv über Erfinder- und Urheberschutz nach15. Es ging, das sollte man in aller Deutlichkeit sehen, primär um rein ökonomische Interessen, genauer: die Frage, wer sich den Wert geistiger Leistungen aneignen dürfen sollte. Den Produkten geistiger Arbeit auf Dauer jeglichen rechtlichen Schutz zu versagen, hätte bedeutet, daß sich Innovationstätigkeit und entsprechende unternehmerische Investitionen oftmals nicht rentiert hätten, die ökonomische Anreizwirkung für Innovationen also gefehlt hätte16. Aus Sicht der Kapitaleigner wie aus der Perspektive der Nationalökonomie 10 Vgl. Going 1958 und 1988: 78 ff.; Scheyhing 1960; Leuze 1962; Klingenberg 1979: 194 ff.; Simon 1981: 21 ff., 169 ff.; Hattenhauer 1982; Klippel 1982 und 1987a; Dölemeyer/ Klippel 1991; Gottwald 1996: 7 ff.; H. Kaufmann 1963: 375 ff. 11 Vgl. Dölemeyer/Klippel 1991: 209 ff., 216 ff., 224 ff.; Klingenberg 1979: 183 ff.; Hattenhauer 1982: 409; Scheyhing 1960; Leuze 1962; Simon 1981: 24 f., 33 f., 37 ff.; Klippel 1982: 144 ff.; M. Rehbinder 1995; Klippel/Lies-Benachib 2000: 345 ff. 12 s. o., § 11. Eine Neuauflage dieses Problems erleben wir zur Zeit bei der Diskussion um die Verwertungs- und Verfügungsbefugnisse an genanalytisch gewonnenen Erkenntnissen. 13 Zum Schutz durch Privilegien vgl. Dölemeyer/Klippel 1991: 189 ff.; Simon 1981: 22 m. w. N., 88 ff. 14 Dieser Prozeß intensivierte sich in Deutschland ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts (vgl. Klippel 1982: 139 f., 151; Dölemeyer /Klippel 1991: 194 ff., 212 ff., 221; Wadle 1991: 101 f.) infolge von Marktbildungsmechanismen (vgl. Simon 1981: 23 f.) und bahnbrechenden technologischen Neuerungen (vgl. Simon 1981: 29 f.). 15 Vgl. Dölemeyer/Klippel 1991: 202 ff., 222 ff.; Simon 1981: 21 ff., 88 ff. 16 Dieser Zusammenhang zwischen privaten und volkswirtschaftlichen Interessen wurde bereits im 19. Jahrhundert deutlich gesehen; vgl. Wadle 1991: 100. 19 Maitra
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mußten diese Interessen rechtlich internalisiert werden17. Ihre Verkehrsfähigkeit war rechtlich herzustellen und zu sichern. Infolgedessen wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Erfinder-, Urheber- und Wettbewerbsschutzgesetzen erlassen18. Eine interessante Randnote zur Dynamik juristischer Diskurse liefert der Umstand, daß mit Savignys ablehnender Stellungnahme zu den Persönlichkeitsrechten deren Rezeption durch den praktischen rechtswissenschaftlichen Diskurs begann19. Zuvor war das Persönlichkeitsrecht nur in den rechtsphilosophischen Diskursen insbesondere der Naturrechtler postuliert worden 20. Erst als eine juristische Autorität die bislang rechtsfremde Kategorie aufgriff, wurde diese zu einer im juristischen Diskurs kommunizierbaren, rechtlich denkbaren Kategorie. Umstritten blieb zunächst die v. a. auch für die Rechtsprechung erhebliche Frage, wie all diese neuen subjektiven Rechte zu kategorisieren seien. Die Romanisten hatten im Anschluß an Savigny Persönlichkeitsrechte als Rechtskategorie mit dem am Leitbild des römisch-rechtlichen Eigentums orientierten Argument abgelehnt, „ein Recht an sich selbst" scheide aus, weil der Rechtsinhaber vom Gegenstand seines subjektiven Rechts zu trennen sei21. Die Personenqualität erschöpfe sich in der Rechtsfähigkeit 22. Demgegenüber betonten insbesondere die Germanisten von Bluntschli bis Gierke 23 mit unterschiedlicher Begrifflichkeit 24, es gebe eine eigene Gattung subjektiver Rechte, „die ihrem Subjekte die Herrschaft über einen Bestandteil der eigenen Persönlichkeitssphäre gewährleisten"25, nämlich „das Recht auf den bürgerlichen Namen sammt dem Firmenrecht . . . , das Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dramatischen Werken . . . , das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste . . . , das Recht auf Schutz der Photographien gegen Nachbildung . . . , das Recht auf Schutz der Warenzeichen ... und das Urheberrecht an Mustern und Modellen"26.
17
Rechte sind nach der berühmten Definition von Jherings rechtlich geschützte Interessen (1924: 339, § 60). 18 Vgl. Simon 1981: 120 f.; Wadle 1991: 102 ff. 19 Leuze 1962: 51; ähnl. die Einschätzung bei Simon 1981: 173 ff., bes. 175,177 f. 20 Vgl. ebd. 21 Vgl. Kau 1989: 72 f.; Scheyhing 1960: 516 ff.; Leuze 1962: 47 ff.; Klippel 1982: 137 ff.; Coing 1988: 80 f. 22 Vgl. Scheyhing 1960: 507, 517 ff.; Leuze 1962: 52 ff.; zur zeitgenössischen Kritik vgl. Leuze 1962: 49 ff. 23 Vgl. Dölemeyer/Klippel 1991: 225 ff; Simon 1981: 33 ff; Klingenberg 1979:197 ff. 24 Bei Kohler und zunächst auch bei Gareis ist von „Individualrechten" die Rede (vgl. Scheyhing 1960: 521 f.; M. Rehbinder 1995: 30 f.), von „Persönlichkeitsrechten" bei Bluntschli, Dähn und später auch bei Gareis. 25 Otto von Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. 1, Leipzig 1895, S. 702, zit. n. Dölemeyer/ Klippel 1991: 227. 26 Karl Gareis, Zeitschrift für Gesetzgebung 3 (1877), 137 ff. (138), zit. n. Dölemeyer/ Klippel 1991: 225.
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Ein weiteres Modell, mit dem „das genuine Recht der Urheber auf das Produkt ihrer geistigen Tätigkeit im weitesten Sinne"27 legitimiert werden sollte, die Vorstellung geistigen Eigentums, konnte sich in Deutschland letztlich nicht durchsetzen 28 . Anders die Theorie der Persönlichkeitsrechte. Hier diffundierten Vorstellungen und Elemente philosophisch-ethischer sowie politischer Diskurse der Neuzeit: In der politischen Theorie des deutschen Naturrechts spielte seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts der Begriff der Persönlichkeit eine zentrale Rolle 29 , dessen Durchschlagskraft in Attributen wie ,¿eilig", „absolut" und „unveräußerlich" zum Ausdruck kam 30 . Der gemeinhin auf Immanuel Kant zurückgeführte philosophische Begriff der Persönlichkeit wurde zunächst mit einem Bedeutungsgehalt viel größerer Intensität verwandt als der juristische Personenbegriff 31, der als notwendiges Bauelement einer auf subjektiven Rechten basierenden Rechtsordnung zunehmend dem Aspekt der jedem Menschen qua Geburt zukommenden Rechtsfähigkeit zugeordnet wurde 32. Persönlichkeit „war nicht jedermann kraft seines physischen Menschseins verliehen. Im Unterschied zum Begriff der Person handelte es sich bei dem Prädikat der Persönlichkeit um einen Ehrentitel"33. Diese „erschien als sittliche Eigenschaft, als die Befähigung zur Freiheit, in welcher sich der Mensch entfalten soll"34. Die politische und später auch rechtliche Durchschlagskraft des Begriffs beruht ganz wesentlich auf in seiner Rezeptionsgeschichte und Texttradition verkörperten und fortwirkenden kulturellen Vorstellungen, die im deutschen Idealismus, und hier insbesondere in der naturrechtlichen Staatstheorie Ende des 18. Jahrhunderts35 sowie in der deutschen Frühromantik wurzeln 36. In 27 Dölemeyer/Klippel 1991: 206. 2« Klingenberg 1979: 183 f. und passim; Dölemeyer/Klippel 1991: 223; Simon 1981: 30 ff. Mit dem Modell verbundene Vorstellungen und Rechtspositionen fanden allerdings Eingang in die später wirkkräftige Theorie der Immaterialgüterrechte; vgl. Klippel 1982: 136,149 ff.; Dölemeyer/Klippel 1991: 228 ff. Zu anderen öffentlich-rechtlichen Lösungsvorstellungen vgl. Klippel 1982: 153 f.; Dölemeyer/Klippel 1991: 222 ff., 227 ff. 29 Klippel 1987a: 282 ff. 30
Klippel 1987a: 287 mit Nachw.; zur irrtümlichen, aber gleichwohl wirkkräftigen Rezeption Kants als Begründer der urheberrechtlich geprägten Persönlichkeitsrechtstheorie vgl. Klingenberg 1979: 186 ff. 31 § 1 des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten lautete: „Der Mensch wird, in so fem er gewisse Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft genießt, eine Person genannt." Zur Verwobenheit beider Begriffe im Kontext ihrer rechtlichen Rezeption vgl. Gottwald 1996: 12 f. 32 Vgl. Hattenhauer 1982: 405,407 f.; Scheyhing 1960: 507,510 ff. 33 Hattenhauer 1982: 408. 34 Hattenhauer 1982: 408. Im juristischen Diskurs des 19. Jahrhunderts wurden beide Begrifflichkeiten teilweise synonym verwandt, weshalb Karl Gareis den Begriff des Persönlichkeitsrechts zunächst durch den des Individualrechts ersetzte (M. Rehbinder 1995: 80 f.; Scheyhing 1960: 522; Klingenberg 1979: 204). 35 Vgl. Simon 1981: 19; Kau 1989: 80 f.; Hattenhauer 1982: 408 f.; Klippel 1982: 133 ff., bes. 135; 1987: 282 ff.; Dölemeyer/Klippel 1991: 196 ff. 36 Vgl. Seemann 1996a: 20 ff., 62 ff.; 1996b: 222 ff. Einen anschaulichen Beleg hierfür bietet die auf Naturrechtsrenaissance und persönlichkeitsrechtliche Diskussion nach dem 19*
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dieser Epoche vollzog sich ein für das Persönlichkeitsrechtsverständnis zentraler geistes- und kulturgeschichtlicher Umbruch, eine, wie Bruno Seemann dies in seiner lesenswerten Studie zur Vermarktung von Prominenz im Kontext der Persönlichkeitsrechtsentwicklung beschreibt, „ästhetische Wende ( . . . ) , die im Bereich des Kulturellen mehr und mehr das Individuelle betonte und die Leitmotive der Aufklärung zusehends verdrängte; die Originalität und Unvergleichlichkeit der Individuen rückten in den Vordergrund, während die Bedeutung einer ihnen gemeinsamen und daher übereinstimmenden Vernunft abnahm. ( . . . ) Originalität (wurde) als eigentlicher Wert und Tugend des Menschen verstanden."37 Zugleich wurden im Zeitalter des bürgerlichen Fortschrittsoptimismus herausragende Kulturleistungen der verschiedensten Bereiche herausragenden Persönlichkeiten zugeschrieben 38 . Die Auffassung, daß besondere Individuen persönliche Leistungen erbringen, war prägend für die antifeudale, bürgerliche Ideologie39. In welcher Weise Individualität und Persönlichkeit zu Schlüsselkategorien des bürgerlichen Zeitalters wurden und somit bis in unsere Zeit im subjektiven Empfinden affektiv verankerte Evidenzen erzeugen, wurde bereits ausgeführt 40. Mithin ist es nicht erstaunlich, daß der wirtschaftliche Hintergrund des Diskurses über den Erfinder- und Urheberschutz in Deutschland stark mit ideellen Elementen aufgeladen war, die nicht wirtschaftliche Interessen, sondern solche des Integritätsschutzes betonten. Diese Färbung wurde dadurch begünstigt, daß der naturrechtliche Eigentumsbegriff - anders als der rechtstechnische der Pandektistik - auf den personalen Ursprung des Eigentums abstellte, indem der individuelle Arbeitsvorgang als zentral und als Bindeglied zwischen Eigentum und Person begriffen wurde 41. Man mag dies als gekonnten Krieg prägend wirkende Monographie Heinrich Hubmanns (1953: 6 f.; 28 ff. und passim). Keine unerhebliche Rolle dürfte hierbei spielen, daß die Persönlichkeit als Fixpunkt kulturell geprägter Selbstwertvorstellungen [s. o., § 9 I. 2. c) aa)] die weitgehend standesabhängigen Ehrvorstellungen ablöste; vgl. Holzhauer 1996: 62 ff. 37 Seemann 1996a: 20 [Hervorh. im Orig., D.M.]; vgl. auch Seemann 1996b: 39 ff. 38 Vgl. Seemann 1996a: 17 ff.; 1996b: 39 ff., 222 ff.; Seemann beschreibt diesen Zusammenhang nur für die Bereiche von Literatur und Kunst, doch ließe sich gleiches anhand der zeitgenössischen Literatur und Presse für andere gesellschaftliche Bereiche nachweisen. Auf wirtschaftstheoretische Bezüge, insbesondere die Arbeitswerttheorie John Loches und ihre Rezeption weisen hin: Klippel 1982: 141 f.; 1987: 283 f.; Seemann 1996a: 17. Ich halte diesen Hinweis für wesentlich, denn die Vorstellung, daß einzelne gestalten, war letztlich grundlegende Prämisse der auch durch die deutsche Nationalökonomie und den deutschen Liberalismus rezipierten klassischen liberalen Theorien (John Locke, John Stuart Mills, Adam Smith, David Ricardo), denen zufolge der freigesetzte Egoismus aller Individuen den gesellschaftlichen Wohlstand garantiert. 39 Sie hat sich offenkundig bis in unsere Tage hinein erhalten. Hubmann führt in seiner Monographie zum Persönlichkeitsrecht aus: „Die Geschichte lehrt, daß es immer der einzelne ist, der neue Gedanken hervorbringt, der neue Wege weist und neue Horizonte aufzeigt. Der einzelne ist Kulturschöpfer und Träger des Fortschritts, nicht die Menge." (1953:49; 1967: 50). 40 §91. 41 Vgl. Klippel 1982: 136 f., 1987a: 283 und 1988: 628 f.; Dölemeyer/Klippel 1991: 198. In der Konsequenz führte dies dazu, daß „alle Rechte als Eigentum erscheinen" (Klippel 1982: 136) konnten und damit auch „geistiges Eigentum" möglich erschien.
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rhetorischen Kniff betrachten. Wenn das Werk persönlicher Ausdruck seines Urhebers war, mußte dann jede nicht von seinem Willen gedeckte Verwertung zur gleichermaßen ideellen wie materiellen Verletzung seiner Interessen werden42? Diese Bewertung würde aber wohl zu einseitig auf mögliche Intentionen der Beteiligten der einschlägigen Diskurse abstellen. Will man die Durchschlagskraft gerade des ideellen Elements persönlichkeitsrechtlicher Kommunikationen erfassen, so muß man die weitere technische Entwicklung des 19. Jahrhunderts berücksichtigen, die man als Umbruch „von einer Wort- zu einer Bild-basierenden Gesellschaft" 43 bezeichnen kann44. Die Umstellung von handwerklichen Reproduktionstechniken auf moderne Drucktechnik, Tonreproduktion und Fotografie erzeugten eine grundlegende Veränderung gesellschaftlicher Wirklichkeit und Wirklichkeitswahrnehmung: Die Verknüpfung von Fotografie und Werbung, die Entwicklung eines „auf Bildbasis arbeitenden und auf Persönlichkeiten spezialisierten Journalismus"45 sowie langfristige Veränderungen des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit 46 führten Ende des 19. Jahrhunderts zu einer wahrnehmbaren Angst „vor der Vertauschung und Durchdringung öffentlicher und privater Bildwelten"47. Vor allem die „immer aggressiver werdenden Methoden der Sensationspresse"48 hält Seemann für maßgeblich dafür, daß ein Bedürfnis erwuchs, „die Kontrolle über die »eigenen Bilder4 zurückzuerlangen, und damit auch darüber, wo die Linie zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre zu verlaufen hat" 49 . Um nur ein Beispiel zu nennen: Einen gewichtigen Anstoß zur gesetzlichen Regelung des auch kommerziell erheblichen Rechts am eigenen Bild gab ein spektakulärer Fall aus dem Jahre 189850. Zwei Journalisten hatten die Leiche Bismarcks heimlich und ohne Wissen der Angehörigen des Verstorbenen fotografiert 51. Wie intensiv die Gefährdungen durch 42 Damit war das Problem, subjektive Schutzrechte mit dem hegemonialen liberalen, auf Gewerbefreiheit und freie Konkurrenz zielenden Diskurs in Einklang zu bringen, gelöst: Konnte man Urheber- und Erfinderschutzrechte aus dem Persönlichkeits- und dem Eigentumsbegriff ableiten, so war damit „klargestellt, daß die neuen Kategorien subjektiver Rechte zum liberalen Gegenmodell gegen Merkantilismus und Absolutismus gehören" (Klippel 1982: 141). Für diese Sicht der Dinge spricht, daß in jene Periode, die dem Genie und der Persönlichkeit huldigte, die mit großer Heftigkeit geführte Auseinandersetzung um den Büchernachdruck (1773-1794) fiel (vgl. Seemann 1996b: 228 f.; Simon 1981: 24 ff.), in welcher solch prominente Exponenten des deutschen Idealismus wie Hegel, Kant und Fichte den vom Autor nicht genehmigten Nachdruck als Verletzung persönlicher Rechte anprangerten. Zum zweiten Nachdruckstreit vgl. Dölemeyer/Klippel 1991: 206 f. 43 Seemann 1996b: 43. 44
Vgl. hierzu nur Flusser 1990: 113 ff.; Benjamin 1969; Seemann 1996b: 42 ff. 5 Seemann 1996b: 45.
4
« Vgl. oben, § 91. sowie Sermett 1986: 196 ff. 4 ? Seemann 1996b: 46 in Anlehnung an Sermett 1986: 250. «« Seemann 1996b: 46. Seemann 1996b: 46 f.; zur amerik. Entwicklung vgl. ebd: 69 ff.; von Gerlach 1998: 742 f.; Prosser 1956. so Helle 1991: 45; Bussfeld 1978: 13 f., F. Seifert 1999: 1889 f.; von Gerlach 1998: 741 m Nachw. zur zeitgenössischen juristischen Diskussion (Fn. 7). 49
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eine Veröffentlichung des Privaten wahrgenommen wurden und den persönlichkeitsrechtlichen Diskurs durchzogen, wird an einer Passage aus Josef Kohlers Aufsatz „Das Recht an Briefen" deutlich: „Die Indiskretion ist eine Anstandswidrigkeit gegen die Person, die Publikation von Vertrauensbriefen dagegen eine schwere Verletzung ihres Innenlebens; sie verstößt gegen das Recht, daß ein Innenleben Innenleben bleiben und nicht in die Sphäre des öffentlichen Gesprächs gezogen werden soll. Jeder Mensch, namentlich aber jeder bedeutende Mensch hat sein Innenleben, oftmals die Keimstätte seiner erhabensten Gedanken, die Stätte, wo er nur er selbst ist, mit all den Eigenheiten seiner Natur, die man Stärken und Schwächen nennen kann; wo die Seufzer der bedrängten Seele erklingen, wie das Entzücken eines hochbeglückten Herzens, wo die leisesten Stimmungen sich kundgeben bis zu dem tiefsten Unbehagen, wo schonungslos all die Gefühle über Thun und Lassen der Außenwelt sich ergehen, wo all das Sehnen, Hoffen, Streben eines Menschen erklingt. Die Wahrung dieses Seelenlebens, das oftmals die Atmosphäre bildet, aus der sich eine ideale Welt gestaltet, ist eine heilige Pflicht des Rechts. Nichts ist oberflächlicher als die Ausflucht, was recht und redlich sei, dürfe Jedermann hören: nein, die schönsten Seiten des Lebens sind nicht für Jedermann; die Schmerzen einer duldenden Seele sind nicht für das Gespött näselnder Jüngelchen, vorlauter Dämchen und abgeschmackter Philister; und wenn die Züge des Innenlebens regelwidrig, anormal, sonderlich oder gar gesellschaftlich verpönt sind, so ist gerade darum das Innenleben um so mehr gegen die höchste Indiskretion zu schützen; wo Schwäche ist, braucht sie nicht jedem Gassenjungen ins Gesicht gerufen zu werden; so lange nicht die höchsten Interessen des Staatswohles im Strafverfahren das Einschreiten verlangen, hat das Recht auch die im Vertrauensbrief sich zeigende Schwäche gegen die Preisgabe an das große und kleine Publikum zu schützen."52 Die technische Entwicklung hatte einen weiteren Effekt: Sie ermöglichte eine ebenso vielgestaltige wie unüberschaubare Vervielfältigung und Nutzung geistiger Werke. Eine reine Analogie zum rechtstechnischen Eigentumsbegriff mußte sich letztlich zu Lasten der Autoren, Künstler und anderen Geistesschaffenden auswirken: Im Literatururhebergesetz vom 11.6. 1870 war zwar in § 1 dem Urheber das ausschließliche Verwertungsrecht mechanischer Vervielfältigung zugesprochen 51 Das Reichsgericht konnte der Klage auf Vernichtung der Negative, Platten und Abzüge nur unter analoger Anwendung gemeinen Rechts stattgeben (RGZ 45,170/173 f.). Wenn man so will, dann haben wir es im Kontext jener persönlichkeitsrechtlichen Kommunikationen der Rechtswissenschaft bereits mit Risikodiskursen zu tun, die sich durch all das auszeichnen, was wir dieser Form öffentlichen Kommunizierens an spezifischen Eigenschaften zugeordnet hatten (s. o., § 2 I., § 7 I. 2., § 7 II. 1.): Unterscheidungen entlang der strukturell angelegten Differenz von Entscheidern und Betroffenen, eine Dynamik von Beobachtung und Gegenbeobachtung und die affektive Aufgeladenheit („Angstkommunikation"). Lesenswert zu Ablauf und zeitgenössischer Wahrnehmung der Affäre um Bismarcks Tod: Machtan 1998. 52 Kohler 1893: 16. Wer einmal Goethes „Die Leiden des jungen Werther" gelesen hat, wird schwerlich verkennen können, wie sehr Inhalt und Stil des Zitats von Einflüssen der Frühromantik geprägt sind. Schwerdtner beschreibt den Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsrecht und deutschem Idealismus als ,/austische" Deutung des Persönlichkeitsrechts (1976: 84-87). Seemann verweist auf den bei Goethe und Humboldt entfalteten Begriff der Selbstentfaltung (1996b: 63); zur Bedeutung der Person als selbstbezügliche Zwecksetzung im deutschen Idealismus (bei Kant und A. F. Müller) vgl. Hruschka 1990.
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worden, doch hatte man mit § 3 des Gesetzes die uneingeschränkte Übertragung des Urheberrechts ermöglicht. Die vollständige Verkehrsfähigkeit dieses Rechtes mit ihrer sachenrechtsähnlichen, quasi-dinglichen Wirkung war brisant: Berücksichtigt man den zugunsten der Verleger wirkenden stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse, so wird klar, daß die Autoren, oft genötigt zur vollständigen Übertragung ihrer Rechte, unkalkulierbare und von ihnen fortan unkontrollierbare Nutzungen und Verfremdungen ihrer Werke befürchten mußten53. Hier erzeugte die Annahme unveräußerlicher Persönlichkeitsrechte eine Barriere. Mit der engen Verknüpfung von Autor und Werk und der Klassifizierung des Urheberrechts als Persönlichkeitsrecht war das zentrale Argument gefunden, um seine unkontrollierbare Verkehrsfähigkeit einzuschränken. In der Betonung der ideellen Schutzinteressen lag der wesentliche Unterschied zur Theorie des geistigen Eigentums54, der wohl einen erheblichen Anteil daran hatte, daß die Lehre vom geistigen Eigentum schließlich zurückgedrängt wurde 55. Im Anschluß an seinen Lehrer Johann Caspar Bluntschli, der das Urheberrecht bereits 1851 als zivilrechtliches subjektives Recht deklariert hatte56, faßte der Rechtsgelehrte und Romanautor Felix Dahn („Ein Kampf um Rom") seine Auffassungen zum Urheberrecht folgendermaßen zusammen: „Rechtsphilosophisch betrachtet erweist sich das Urheberrecht als das von unserer Rechtsordnung anerkannte höchstpersönliche Recht des Produzenten eines Geistesprodukts, über dasselbe ausschließlich und unbeschränkt zu verfügen. Der tatsächliche Grund dieses Rechts ist einfach das mit keinem anderen Verhältnis vergleichbare Verhältnis des Produzenten zu dem Produkt, das vinculum spirituale, welches dieses Subjekt - und kein anderes denkbares - mit diesem Objekt verbindet. Darin liegt schon, daß das hierauf gestützte Recht ein höchst persönliches, auch durch den Willen des Urhebers selbst nicht auf einen anderen übertragbares, weder zu veräußerndes, noch zu vererbendes ist; nur die Ausübung einzelner in diesem Recht enthaltener Befugnisse kann durch den Willen des Urhebers (z. B. Verlagsvertrag) oder durch Gesetz (Übergang des Verlagsrechts auf die Familienerben) auf andere Personen übertragen werden."57
An dieser Stelle läßt sich gut erkennen, wie stark Diskurse das aktuell Sagbare vorgeben und limitieren. Daß sich persönlichkeitsrechtliche Vorstellungen ohne die starke Verknüpfung von Schöpfer und Werk, die in den fortwirkenden Diskursen des deutschen Idealismus und der deutschen Frühromantik als kulturell geprägte Evidenz hergestellt worden war, hätten durchsetzen können, erscheint un53 Ähnlich Simon 1981: 35, 37; vgl. dort den Hinweis auf Konrad Haenisch, Die Not der geistigen Arbeiter, Leipzig 1920, S. 29, der die „verlegerische Willkür gegenüber dem häufig unerfahrenen und wirtschaftlich schwachen Autor demonstriert" (Simon 1981: 37, Fn. 75). w Vgl. Klingenberg 1979: 183 f., 197; Dölemeyer / Klippel 1991: 206 ff., bes. 209, 223; M. Rehbinder 1995: 76. 55 Diese Einschätzung klingt auch bei Simon 1981: 29 ff. an. 56 Simon 1981: 33; M. Rehbinder 1995: 69 m. Nachw. 57 Felix Dahn, Zur neuesten Deutschen Gesetzgebung über Urheberrecht, in: Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preußen mit besonderer Rücksichtnahme auf die Deutsche Gesetzgebung, hrsg. v. Fr. Behrend, V (1871), S. 1 - 7 4 (11), zit. n. M. Rehbinder 1995:73.
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wahrscheinlich. Es hätten die Argumente des Wirtschaftsliberalismus dominiert, die die zeitweilige Durchsetzung der Vorstellung geistigen Eigentums flankiert hatten58. Denn warum die Verletzung wirtschaftlicher Interessen zugleich eine ideeller Integritätsinteressen des Autors sein sollte, mußte erst einmal nachvollziehbar gemacht werden59. Bezogen auf die Normstruktur von Persönlichkeitsrechten60 liegt darin ein erstaunliches Phänomen: Indem Handlungsräume des geistigen Schaffens der individuellen Sphäre zugeordnet wurden, ließen sich defensive Argumente, die zunächst darauf abzielten, eigenständig wahrnehmbare Freiräume durch Limitierung fremden Handelns zu sichern, nutzbar machen, um rechtlich und expansiv ökonomisch nutzbare Freiheitsmöglichkeiten zu konstituieren 61. Wie auch immer die sicher komplexen Bedingungsverhältnisse liegen mögen, man kann jedenfalls konstatieren, daß sich im juristischen Diskurs um die Persönlichkeitsrechte ideelle Integritätsinteressen mit wirtschaftlichen Gesichtspunkten vermengten und erstere zu einer erheblichen Evidenz und rhetorischen Schubkraft persönlichkeitsrechtlicher Argumentationen beitrugen.
2. Ein BGB ohne allgemeines Persönlichkeitsrecht Eine Art „Etappensieg" erzielte die Lehre von den Persönlichkeitsrechten dadurch, daß es ihr gelang, ihre Klassifizierung der zahlreichen durch die Gesetzgebung geschaffenen „ausschließlichen Privatrechte" als Persönlichkeits- bzw. Individualrechte durchzusetzen. Diese wurde ab etwa 1880 anerkannt62, und zwar zunehmend auch von der Pandektistik, der eigene Kategorien fehlten 63. Auf der Ebene der Gesetzgebung waren die Erfolge zunächst bescheidener. Die Novellierung des Urhebergesetzes im Jahre 1901 schränkte die Verkehrsfähigkeit des 58
Methodisch mag man hier einwenden, daß Überlegungen der Gestalt „Was wäre gewesen, wenn ..." unzulässig, weil empirisch nicht zu widerlegen seien. Der gleiche Vorwurf trifft jedoch jede historisch-kausal verfahrende Zuordnung einzelner Geschehnisse zu größeren Entwicklungen. 59 Wie stark solche Evidenzen keine Zwangsläufigkeit qua „Natur der Sache", sondern gesellschaftliche Konstrukte sind, zeigt Seemann (1996a; 1996b) am Beispiel der Prominenz. Dort werden ebenfalls Produkte (Images), die wesentlich auch auf kulturellen, d. h. gesellschaftlichen Vorgaben beruhen, mit dem Argument der Originalität ausschließlich ihren Trägern zugeordnet. 60 s. o., § 1 n. 61 Es seien, so resümiert Helmut Kohl, gerade die Vermögensrechtler gewesen, die eine Vielzahl neuer vermögenswerter Positionen mit ethisch-moralischen Argumenten etablierten (1975: 63). Aus von ihm als „Sperrforts der Persönlichkeit" bezeichneten Positionen habe Köhler „ein fein ausdifferenziertes System des Schutzes vor unlauterem Wettbewerb, des Warenzeichen- und des Urheberrechts ab(geleitet), welches in seinen Grundstrukturen von Lehre und Rechtsprechung allmählich rezipiert wurde" (ebd.: 62 m. Nachw.). 62 Klippel 1982: 148 ff.; Dölemeyer/Klippel 1991: 226 f., jew. m. w. N.
63 Vgl. Klippel 1982: 139.
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Urheberrechts nicht ein 64 . Der Streit um ein allgemeines Persönlichkeitsrecht65 zog keine umfassende gesetzliche Absicherung im BGB nach sich. Was an „Persönlichkeitsrechten" im BGB aufgenommen wurde, wurde nicht als Anerkennung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts gewertet66. Geschützt wurden wirtschaftliche Interessen sowie das persönliche Ansehen; letzteres allerdings nur, soweit man davon ausging, daß dieses auch von materiellem Wert war 67 . Konsequenterweise wurde der Schadensersatzanspruch auf den reinen Vermögensschutz beschränkt mit den bekannten Ausnahmen (§ 253 i.V. m. §§ 847 68 ,1300 BGB a. F.).
3. Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Inkrafttreten des BGB Nach Inkrafttreten des BGB setzte sich der Streit um ein allgemeines Persönlichkeitsrecht fort 69, ohne daß es zunächst zu einer Anerkennung durch die Rechtsprechung kam. Restriktive Auslegungen der speziellen Persönlichkeitsrechte bedienten sich mit Vorliebe des Arguments, ein allgemeines Persönlichkeitsrecht sei gesetzlich nicht anerkannt70. Aber die mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht seit Köhler und Gierke verknüpfte Betonung des ideellen Gehalts persönlichkeitsrechtlich geschützter Interessen wurde immer wieder als Argument genutzt, um den Schutzbereich der speziellen, gesetzlich normierten Persönlichkeitsrechte auszuweiten. So untersagte das OLG Kiel unter Berufung auf eine persönlichkeitsrechtlich geschützte Geheimsphäre der Person die Aufführung eines Theaterstücks, « Vgl. Simon 1981: 44 f. 65 Zur Gesetzgebungsdiskussion vgl. Brehmer/Voegeli 1978: 374 ff.; Simon 1981: 155 ff.; Gottwald 1996: 7 ff.; Klippel/Lies-Benachib 2000: 348 ff. 66 Die gesetzgeberischen Motive sprechen dafür, daß mit Inkrafttreten des BGB ein allgemeines Persönlichkeitsrecht als sonstiges Recht i. S. v. § 823 I BGB anerkannt wurde (Klippel/Lies-Benachib 2000: 351 ff., 380; Damm 2002c: 61), doch ändert dies nichts an der gegenläufigen Rezeption nach Inkrafttreten des BGB. 67 Ähnlich die Einschätzung bei Brehmer/Voegeli 1978: 375 f. und Gottwald 1996: 10 f. Zu nennen sind das Recht am eigenen Namen (§12 BGB), am eigenen Bild (§ 22 Urheberrechtsgesetz von 1907), die Kreditwürdigkeit (§ 824 BGB), die von § 823 I BGB erfaßten Persönlichkeitsgüter (Leben, körperliche Integrität, Fortbewegungsfreiheit) und verschiedene, über § 823 II BGB spezialgesetzlich geschützte Persönlichkeitsgüter. 68 § 847 BGB wurde zum 1.8. 2002 aufgehoben. Eine entsprechende, im Anwendungsbereich ausgeweitete Regelung findet sich nun in § 253 II BGB. Da hier die Rechtsentwicklung vor der Novellierung Gegenstand ist, ist mit den §§ 249 ff., 847 BGB stets, soweit keine andere Kennzeichnung erfolgt, die alte Fassung gemeint. 69 Vgl. Simon 1981: 191 ff. 70 Ebenso standardmäßig, wie wohl unzutreffend (s. o., Fn. 66), wurde konstatiert: „Ein allgemeines subjektives Persönlichkeitsrecht ist dem geltenden bürgerlichen Recht fremd. Es gibt nur besondere, gesetzlich geregelte Persönlichkeitsrechte wie das Namensrecht, das Warenzeichenrecht, das Recht am eigenen Bilde, die persönlichkeitsrechtlichen Bestandteile des Urheberrechts." (RGZ 69, 401/403 - Nietzsche-Briefe; 79, 397/398; 113, 413/414; ähnl. KG JW 1928, 363; LG Berlin IJW 1929,451/452; OLG Kiel, JW 1930,78/79).
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Teil 4: Persönlichkeitsrechtsentwicklung
in welchem die Angehörigen von Mordopfer und Tater dadurch belastet wurden, daß familiäre Geschehnisse thematisiert wurden71. Das Kammergericht verbot weitere Aufführungen eines Antikriegsstückes mit der Begründung, die Darstellung des Klägers (des abgedankten Kaisers Wilhelm II.) erfolge in einer einseitig tendenziösen Weise, die es gebiete, die §§ 22, 23 KUrhSchG unter Ausweitung des Bildnisbegriffs entsprechend anzuwenden72. Die Verkehrsfähigkeit des Urheberrechts wurde mehrfach eingeschränkt, indem zwischen frei veräußerlichem Verwertungsrecht und einem beim Urheber verbleibenden höchstpersönlichen Persönlichkeitsrecht unterschieden wurde - mit der Folge, daß nur vom Urheber autorisierte Veränderungen oder neue Verbreitungsformen zulässig waren 73. In einer Reihe von Entscheidungen wurde die Generalklausel § 826 BGB herangezogen, um originär persönlichkeitsrechtlichen Erwägungen, die keinem speziellen Persönlichkeitsrecht zuzuordnen waren, Gewicht zu verleihen74. Rezeptionsgeschichtlich von erheblicher Bedeutung war schließlich auch die sog. Graf-Zeppelin-Entscheidung. Dort wurde § 12 BGB herangezogen, um unter Berufung auf ideelle Belange unkonsentierte Werbung mit Bild und Namen des Klägers zu untersagen75. Der rhetorisch fungible „Antagonismus zwischen dem hohen Wert der ideellen Seite der Persönlichkeit des Verletzten und den miserablen eigennützigen Belangen des Verletzers" 76 läßt sich als Argument, die Ausweitungen und Neukonstituierungen persönlichkeitsrechtlicher Positionen flankiert, bis in unsere Zeit hinein festmachen. Zugleich hatte die idealistische Legierung persönlichkeitsrechtlicher Argumentation in der deutschen Rechtstradition einen merkwürdig bremsenden Effekt: Sie implizierte eine Präferenz für Ansprüche, die auf Abwehr und Naturalrestitution zielten, während Geldkompensation als „fragwürdige zweite Wahl" 71 OLG Kiel, JW 1930, 78 ff. m. Anm. Adler - Familie Donner/Amrie Delmar. In ähnlicher Weise bejahte das Kammergericht ein teilweise indisponibles, von § 826 BGB umfaßtes Recht auf Schutz der persönlichen Geheimsphäre vor öffentlicher Bloßstellung (UFTTA 1931, 319/328 f.). 72 KG JW 1928, 363 ff. - Piscator. Einen Unterlassungsanspruch bei unautorisierter Darstellung der Person (Verbreitung der Lebensgeschichte) leitete das Landgericht Berlin (JW 1929, 451/452) mit ähnlichen Erwägungen in Analogie zum Namensrecht (§12 BGB) und zum Recht am eigenen Bilde ab. 73 Vgl. RGZ 79, 397/399 ff. - Fresken/Sirenen; 123, 312/319 f. - Rundfunk ü/Wilhelm Busch; 151, 50/52 f., 56 - Babbit-Übersetzung. In diese Richtung weist auch die Entscheidung in RGZ 110, 393/395 f. Auch in der umgekehrten Konstellation - ein Maler mahlte und vertrieb ein seinem erfolgreichen Auftragswerk ähnliches Bild und wurde vom Auftraggeber verklagt - wurde ähnlich argumentiert; RGZ 119,408/412 f. - Elfenreigen. 74 RGZ 72, 175/176; 115, 416/417 f. - Auskunftei; 162, 7/14 ff. - Musiker; w. Nachw. bei Coing 1947a: Sp. 642. 75 RGZ 74, 308/310 ff.; lesenswert die unterschiedliche Gewichtung im parallel gelagerten Fall RGZ 125, 80 - Tull Härder; vgl. hierzu Brehmer/Voegeli 1978: 378 f. Zur persönlichkeitsrechtlichen Rechtsprechung zum Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb vgl. Simon 1981: 135 ff. 76 Helle 1996: 455.
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(Stürner) erschien77. Obwohl mit dem Argument ideeller Integritätsinteressen immer wieder kleinere Extensionen des Persönlichkeitsschutzes gerechtfertigt wurden, blieb dieser Aspekt zunächst insofern minoritär und latent, als ihm die Existenz in Form einer vollwertigen Ausprägung als allgemeines Persönlichkeitsrecht bestritten wurde. Mit „Anerkennung" des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch BGH und Bundesverfassungsgericht sowie die sich anschließende Rechtsentwicklung scheint diese Komponente endgültig zur hegemonialen geworden zu sein. Was daraus in normstruktureller Hinsicht zu folgern ist, muß die Rechtsprechungsanalyse ergeben. Die Frage lautet, ob die Persönlichkeitsrechte mit der Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts von einer Rechtsform, die in erster Linie auf Teilhabe und Kontrolle der Verwertung geistiger Produkte zielte, zu primären Abwehrrechten geworden sind. Wäre dem wirklich so, so läge die Vermutung nahe, daß damit innerhalb des juristischen Diskurses ein Umschwung kulturell prägender Selbstverständnisse mitvollzogen worden ist, der für eine Vielzahl außerrechtlicher Diskurse prägend ist: von dem den klassischen Liberalismus begleitenden Fortschrittsoptimismus hin zum Fortschritts- und Technikskeptizismus unserer Tage.
m . Die Durchsetzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts: Ausbildung eines neuartigen Modus zivilrechtlicher Argumentation und Normbildung Mit der hier untersuchten Entscheidungssequenz setzte sich das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch. Aus einer ursprünglich minoritären Position wurde allmählich eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung. Allerdings etablierte sich damit zunächst kein fest umrissenes, in Regelform gegossenes Recht. Vielmehr erhielt ein im Zivilrecht und auch im persönlichkeitsrechtlichen Kontext bereits gebräuchlicher Begründungsmodus, die Interessen- und Güterabwägung, größere Bedeutung. Im folgenden soll rekonstruiert werden, wie sich dieser durch eine Reihe aneinander anknüpfender Entscheidungen herausgebildet hat - zufällig, unbeabsichtigt insofern, als die Begründungen im Modus der Abwägung aus Einzelfallperspektive zunächst fast nebensächlich oder beliebig anmuten. Es ist nicht anzunehmen, daß die Akteure jener ersten Entscheidungen zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht die unerhörte Dynamik, die ihre Begründungen auf lange Sicht durch ständige Inbezugnahme entfalteten, intendiert hatten. Von Bedeutung ist dabei nicht zuletzt, daß das zunächst nur ergänzende Argument, Persönlichkeitsrechte böten Schutz vor den Gefahren neuartiger Techniken, zunehmend tragenden Charakter erhielt. Damit wurde eine wesentliche Grundlage für die Korrespondenz von Persönlichkeitsrechtsentwicklung und Risikodiskursen gelegt. 77 Vgl. Stürner 1998a: 5 ff. Exemplarisch Ridders Kritik, mit dem Soraya-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts werde „Seelenschmerz zu schönem Geld" (1973: 456).
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Teil 4: Persönlichkeitsrechtsentwicklung
Die in den vorangehenden Kapiteln gewonnenen Kriterien und Kategorien können i.f. nicht in jeder einzelnen Entscheidung abgearbeitet werden. Ich beschränke mich darauf, das erste Urteil ins Detail gehend zu analysieren, um einmal die grundlegenden Mechanismen zu exemplifizieren. Bei den Folgeentscheidungen werde ich selektiver verfahren, v. a. die groben Entwicklungslinien skizzieren und auf Mechanismen und Strukturfragen nur an den wesentlichen Stellen zu sprechen kommen.
1. Die Leserbriefentscheidung In der sog. „Schachtbrief'- oder auch „Leserbrief'-Entscheidung des BGH vom 25. Mai 195478 wurde erstmals von einem deutschen Obergericht das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Bestandteil des bürgerlichen Rechts anerkannt und damit als geltendes Recht. Innerhalb der juristischen Zunft wurde die Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als scharfer Bruch zur bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung wahrgenommen. Anhand dieses Urteils und der sich anschließenden Entscheidungen läßt sich ein bemerkenswerter Prozeß richterlicher Normbildung rekonstruieren. a) Sachverhalt und Prozeßgeschichte Die Beklagte hatte in ihrer Zeitung „Welt am Sonntag" 1952 einen Artikel über das Wirken Hjalmar Schachts während und nach dem Nationalsozialismus veröffentlicht. Im Dritten Reich war Schacht Reichsbankpräsident und Reichswirtschaftsminister gewesen. Das Schreiben, mit dem der Kläger als Rechtsanwalt Schachts von der Beklagten eine Berichtigung des Artikels verlangt hatte, veröffentlichte diese unvollständig unter der Rubrik Leserbriefe. Für die Öffentlichkeit mußte dadurch der Eindruck entstehen, der Anwalt habe privat für seinen Mandanten Partei ergreifen wollen. Der Klage auf Widerruf der Behauptung, der Kläger habe an die Beklagte in dieser Sache einen Leserbrief gesandt, hatte das LG Hamburg nach § 823 I I BGB i.V.m. §§ 186, 187 StGB stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hatte das OLG Hamburg die Klage abgewiesen. Die Begründung lautete, die unrichtige Tatsachenbehauptung sei weder geeignet, den Kredit des Klägers zu schädigen, noch ihn verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen. b) Die Entscheidung des BGH Der BGH gab der Klage statt. Im folgenden möchte ich anhand der Argumentation des Gerichts zeigen, wie der Bruch mit den kommunikativen Vergangenheiten des zu diesem Zeitpunkt bestehenden Regeldiskurses erfolgt ist und in welcher 78 BGHZ 13, 334 = NJW 54, 1404 = JZ 54, 698 m. Anm. Coing.
§ 10 Zwischen Prinzipienabwägung und Regelbildung
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Weise die dadurch entstandene kommunikative Distanz durch Rekurs auf kommunikative Vergangenheiten wieder eingeholt worden ist. Nach dem, was die Vorinstanzen entsprechend den Vorgaben des Regeldiskurses als einschlägige Vorschriften des geltenden Rechts ausgemacht hatten (§§ 823 I I BGB, 186, 187 StGB bzw. § 824 BGB 79 ), war eine Verurteilung zum Widerruf des inkriminierten Abdrucks nur schlecht möglich. Der vom Landgericht vollzogene und vom Oberlandesgericht abgelehnte Schluß, die implizit durch Kürzung und Abdruck unter falscher Rubrik enthaltene Behauptung einer unwahren Tatsache sei geeignet, den Kläger verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen (§§ 823 I I BGB, 186, 187 StGB), war in der Tat zumindest zweifelhaft 80. Insofern war an der Begründung des OLG nichts auszusetzen. Als Revisionsinstanz kam der BGH an der entsprechenden Tatsachenfeststellung der Vorinstanz nicht vorbei (vgl. § 561 I I ZPO a. F.). Die auf dieser Grundlage basierende Subsumtion konnte nicht beanstandet werden. Offenkundig waren die Richter des I. Zivilsenats mit diesem Ergebnis nicht einverstanden81. Statt die Klageabweisung zu bestätigen, brach der BGH mit den Vorgaben des bisherigen Regeldiskurses und konstruierte einen neuen Obersatz: Zum Widerruf ist verpflichtet, wer Aufzeichnungen (sprachliche Festlegungen eines bestimmten Gedankeninhalts) ohne Genehmigung des Verfassers verändert und der Öffentlichkeit zugänglich macht82; dies jedenfalls dann, wenn darin eine fortwirkende Beeinträchtigung des Verfassers liegt83. Worin eine solch unzulässige Veränderung insbesondere liegen kann, spezifizierte das Gericht zugeschnitten auf den Fall: Darunter sollten vom Verfasser nicht genehmigte Streichungen wesentlicher Teile der Aufzeichnungen sowie „Zusätze, durch die seine nur für bestimmte Zwecke zur Veröffentlichung freigegebenen Aufzeichnungen eine andere Färbung und Tendenz erhalten, als er sie durch die von ihm gewählte Fassung und die Art der von ihm erlaubten Veröffentlichung zum Ausdruck gebracht hat" 84 fallen. Mit diesem regeiförmigen Zuschnitt des Obersatzes bedurfte es keines großen Aufwands, um den Sachverhalt kunstgerecht zu subsumieren85. 79 Vgl. BGHZ 13, 334/336 f. 80 So auch Brehmer/Voegeli 1978: 381. Zudem wäre zu begründen gewesen, daß wenigstens bedingter Vorsatz hinsichtlich der Ehrenrührigkeit der behaupteten Tatsache bestand. § 826 BGB schied als Anspruchsgrundlage aus, denn neben Schädigung, Schädigungsvorsatz hätte auch die Sittenwidrigkeit nachgewiesen werden müssen; ebenso Brehmer /Voegeli 1978: 381. Da der BGH insoweit selbst keine tatsächlichen Feststellungen treffen konnte, hätte also allenfalls aufgehoben und zurückverwiesen werden können - mit aus Sicht der offenkundig zur Stattgabe entschlossenen Richter des I. Zivilsenats unsicherem Ausgang. 81
Zu den mutmaßlich dahinterstehenden Motivationen siehe Gottwald
78 f. BGHZ 13, 334/338 f. w BGHZ 13, 334/341. w BGHZ 13, 334/339. S5 Vgl. BGHZ 13, 334/339 ff.
1996: 62 ff., bes.
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Teil 4: Persönlichkeitsrechtsentwicklung
Neben den §§ 823 ff. BGB hätte der BGH noch eine spezielle Vorschrift, nämlich § 1 LitUrhG (von 1901) extensiv anwenden können. Diese urheberschutzrechtliche Norm war in der Vergangenheit mehrfach zum Schutz von Briefen gegen Verfälschungen herangezogen worden. Die nur geringfügig erweiternde Auslegung der Vorschrift wäre eine naheliegende und vergleichsweise unaufwendige Alternative zu dem gewählten Weg gewesen. Seit langem war anerkannt, daß Schriftwerke im urheberrechtlichen Sinne nur mit Genehmigung des Urhebers (oder seiner Erben) und nur in der von ihm genehmigten Form veröffentlicht und vertrieben werden dürfen 86. Dies galt jedoch nicht für Briefe, „deren Inhalt sich im wesentlichen auf die Mitteilung persönlicher Nachrichten, die Besprechung geschäftlicher Angelegenheiten oder dgl. beschränkt(e)"87, sondern nur für solche, die „sich als Ausfluß einer individuellen geistigen Thätigkeit"88 darstellten und damit als Schriftwerk im urheberrechtlichen Sinne galten. Folgerichtig galt die Qualität des Werkes als Differenzierungskriterium, obwohl trennscharfe Definitionen hier nicht möglich waren 89. Immerhin gab es, wie verschiedene Definitionsversuche zeigen, vergleichsweise prägnante Vorstellungen, die allesamt auf die im Werk enthaltene individuelle und originelle, seinem Urheber zugeschriebene geistige Leistung abstellten90. Auf die auch in der persönlichkeitsrechtlichen Rechtsprechung tradierte, kulturgeschichtliche Fundierung solcher Vorstellungen wurde bereits hingewiesen. Man kann also annehmen, daß auch jenseits sprachförmiger Definitionen weitgehend konsentierte Vorstellungen bestanden, was ein gewöhnlicher Brief und was ein „sich durch seine Individualität von der Masse alltäglicher Gebilde"91 abhebendes, dem Urheberschutz unterliegendes Sprachwerk war 92 . Wollte man nun im Falle der Berichtigungsforderung des Klägers eine Zuordnung zum urheberrechtlich geschützten Bereich vornehmen, so hätte es nahegelegen, auf die im anwaltlichen Schreiben enthaltene Logik von Darstellung und Gedankenführung abzustellen, wie dies etwa das Kammergericht im Falle der w RGZ 12, 50/51 f. vom 1. Juli 1884; RGZ 18, 10/17 f. vom 10. Juli 1886, beide zum LitUrhG von 1870; RGZ 41, 43/46f. vom 28. Februar 1898 - Wagner-Briefe; RGZ 69, 401/405 vom 7. Nov. 1908 - Nietzsche-Briefe; KG MuW 1920/21, 251; Ulmer 1951: 86, 327 ff. 87 RGZ69,401/405-Nietzsche-Briefe. «8 RGZ 41, 43/48 - Wagner-Briefe; RGZ 69, 401/404 - Nietzsche-Briefe. In der Schachtbrief-Entscheidung ist von „individuelle(r) Formprägung" die Rede (BGHZ 13, 334/ 337). 89 Das konstatierte auch das Reichsgericht, RGZ 41,43 /48 f. - Wagner-Briefe. 90 Vgl. RGZ 41, 43/48 f. - Wagner-Briefe: „Schriften, die sich als Ausfluß einer individuellen geistigen Thätigkeit darstellen", „individuelle Geistesschöpfungen", „originale geistige Schöpfungen", „Erzeugnisse schaffender Authortätigkeit"; 69, 401/404 f. - NietzscheBriefe: „individuelle Geistesschöpfung", „literarische Bedeutung", die auf einem „originalen Gedankeninhalte" oder einer „künstlerischen Formgebung" beruhen kann. 91 Ulmer 1951: 85. 92 Zu Grenzfällen (Katalogen, Preislisten, Adreßbüchern, Rechentabellen, Kochbüchern, Theater-, Rundfunkprogrammen, Stadtplänen) gab es eine Fülle reichsgerichtlicher Entscheidungen (Nachw. b. Ulmer 1951: 86).
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Briefe Wilhelms IL an Bismarck getan hatte93; keine zwingende, aber eine vertretbare Lösung, die das gleiche Ergebnis ohne Anerkennung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Rahmen tradierter hegemonialer Begründungskonventionen 94 und damit mit viel geringerer kommunikativer Distanz ermöglicht hätte. Insofern ist es bemerkenswert, daß der I. Zivilsenat des BGH diese Möglichkeit explizit angesprochen, aber offen gelassen hat 95 , zumal die extensive Auslegung durch Analogiebildung die Begründungsform war, mit der bislang persönlichkeitsrechtlich legitimierte Rechtspositionen ausgeweitet worden waren 96. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht wurde mit bisherigen kommunikativen Vergangenheiten gebrochen. Auch mit der viel weitergehenden Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wurde die bislang gebräuchliche Differenzierung zwischen Briefen, die aufgrund ihrer „auf individueller geistiger Tätigkeit beruhenden Formgestaltung" Persönlichkeitsrechtsschutz genossen und solchen, denen dieser Schutz nicht zukommen sollte, eingeebnet. Damit wurde die Stichhaltigkeit der bisherigen Differenzierung bestritten - mit dem Ergebnis, daß die Rechtsfolgenanordnung einer in einem anderen Problembereich unbestrittenen Rechtspraxis (Schutz vor vom Urheber unkonsentierter Verwertung und Veränderung) auf die vorliegende Fallkonstellation ausgedehnt wurde 97. Es wurde also Distanz zu den professionstypischen kommunikativen Vergangenheiten hergestellt, die nunmehr, zur Sicherung von Zustimmung, durch möglichst weitgehenden Rekurs auf kommunikative Gemeinsamkeiten eingeholt werden mußte. Vier Argumente nutzte der Senat, um den Bruch zu rechtfertigen: (1) Zunächst wurde auf die einschlägigen Veröffentlichungen von Köhler und Gierke zum Schutz privater Briefe Bezug genommen98. Das Renommee99 dieser anerkannten Rechtsgelehrten war geeignet, der Gleichsetzung von privaten Briefen und solchen mit künstlerischem Wert den stets exotisch und voluntaristisch anmutenden Charakter des erstmals Gedachten zu nehmen. 93 KGMuW 1920/21,251. 94 Ähnlich Bussfeld (1978: 51 f.) und Gottwald (1996: 84), die eine Lösung durch Extension der reichsgerichtlichen Rechtsprechung für unproblematisch und naheliegender halten. 95 BGHZ 13, 334/337. Möglicherweise wurde eine unkalkulierbare Ausweitung urheberrechtlicher Verwertungsmöglichkeiten befürchtet. Zumrichterlichen Bestreben, unkalkulierbare Selbstbindungen zu vermeiden, s. o., § 8 II. 3. Heutzutage sind anwaltliche Schriftsätze, soweit sie schöpferische Eigenheiten enthalten, urheberrechtsfähig; vgl. BGH MDR 1986, 999; Seitz 2000: 119. 96 In diese Richtung weist die Urteilskritik von Larenz, der sich für die Anerkennung eines besonderen Persönlichkeitsrechts im Rahmen von § 823 I BGB, über die Veröffentlichung der eigenen Aufzeichnungen selbst zu entscheiden, aussprach (1955: 525). 97 BGHZ 13, 334/339: explizite Bezugnahme auf RGZ 41,43/48 f.; 69,401 /404 f.; 151, 50. 9
» BGHZ 13, 334/338. Vgl. obige Ausführungen zur „Ersetzung von Wahrheit durch Autorität", § 5 HI. 3.
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(2) Eine ähnliche Richtigkeitsvermutung suggerierte die Bezugnahme auf Art. 28 Schweizer ZGB 1 0 0 , der gegenüber Verletzungen immaterieller Interessen Persönlichkeitsschutz gewährt. Was in einem verwandten Rechtskreis anerkanntes Recht ist, so die Stoßrichtung des Arguments, kann kaum als völlig abwegig gel.101 ten (3) Zentral und neu war die Bezugnahme auf Artt. 1 und 2 GG. Der Primärtext des Art. 2 I GG („Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit") wurde ohne weitere Ableitung genutzt, um das allgemeine Persönlichkeitsrecht als „verfassungsmäßig gewährleistetes Grundrecht" 102 einzuordnen. Man postulierte einfach die Geltung höherrangigen Rechts und begnügte sich, zur Fundierung drei neuere Veröffentlichungen zu zitieren. Damit wurde das zentrale Argument der bisherigen Rechtsprechung, Wortlaut und Entstehungsgeschichte des BGB, also einfaches Recht, stünden einem allgemeinen Persönlichkeitsrecht entgegen, erledigt. Grundrechte zur Auslegung einfachgesetzlicher Vorschriften heranzuziehen, war keine ganz neue, aber doch noch relativ ungebräuchliche Argumentform, die nicht ohne weiteres auf die Zustimmung der professionellen Diskursgemeinschaft hoffen konnte103, zumal keinerlei Ableitung erfolgte 104, die kommunikative Distanz also an diesem Punkt nicht argumentativ überbrückt wurde. Zur Absicherung bedurfte es daher eines ergänzenden Arguments (4). Dieses lautete unter Andeutung einer Güterabwägung ebenso schlicht wie überzeugend: gleiche Schutzbedürftigkeit - gleiche Interessenlage105 (wie bei urheberrechtlich geschützten Briefen). Mit der Abwägung wurde eine Argumentform genutzt, die sich im Gefolge der lnteressenjurisprudenz ausgebildet hatte, bereits häufiger im Rahmen persönlichkeitsrechtlicher Rechtsprechung genutzt106 und zudem bis in die jüngste Zeit im Rahmen der Rechtsprechung zum Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb angewandt worden war 107 . Das Güterabwägungsargument wurde allerdings nur angedeutet, nicht ausgeführt - mit der auf Evidenz pochenden Begründung, daß „schutzwürdige Belange der Beklagten, aus der sie 100 BGHZ 13, 334/338. 101 Zur Rezeption rechtsvergleichender Argumente im persönlichkeitsrechtlichen Diskurs der 50er Jahre vgl. Gottwald 1996: 125 ff. 102 BGHZ 13, 334/338. 103 Für eine verfassungsrechtliche Ableitung sprach immerhin, daß die einzige gerichtliche Instanz, die das Urteil mit dem Verdikt rechtlicher Fehlerhaftigkeit hätte aufheben können, das Bundesverfassungsgericht war. 104 Das in dieser Konstruktion liegende Problem einer direkten Drittwirkung wurde nicht problematisiert. ios BGHZ 13, 334/337, 339. 106 Genauer hierzu mit Nachw. im Fortgang unter § 10 IE. 4. d). 107 BGH GRUR 1953 - Pelzhändler; GRUR 1956, 212; BGHZ 3, 270/Ls., 281 f. - Constanze I; zu dieser Entwicklung vgl. Pawlowski 1987: 117. Einen Vorgriff auf die Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sieht Kleine in seiner Anmerkung zur ConstanzeEntscheidung (1952: 229/230).
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eine Berechtigung zu ihrem von dem Kläger beanstandeten Vorgehen herleiten könnte, nicht ersichtlich" seien108. Rhetorisch geschickt wurde damit das Vorgehen der Beklagten ohne weiteres Argument ins Unrecht gesetzt109. Für den zentralen Stellenwert, den die Güterabwägung im Kontext des allgemeinen Persönlichkeitsrechts später erlangen würde, war an dieser Stelle allenfalls ein schwacher Anknüpfungspunkt gesetzt, wenn er auch Kontinuität zu vorgängigen rechtlichen Entscheidungen herstellte. Mit vorstehender Begründung rechtfertigte der BGH eine neue Norm. Damit entstand ein Ansatz für die Bildung neuer Eigenwerte. Zwei potentielle110 Eigenwerte möchte ich unterscheiden: Den das Ergebnis tragenden und notwendigerweise in Regelform gefaßten Obersatz sowie seine Begründung, die Anerkennung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts.
c) Erster Eigenwert : Der Obersatz Der den Tenor tragende Obersatz111 hatte klassische Regelform. Er war also geeignet, umstandslos für eine Vielzahl ähnlich gelagerter Fälle angewandt zu werden, ohne daß es dazu weiterer Verdichtungen durch sich anschließende Urteile bedurft hätte112. Das Urteil modifizierte damit ohne größeren Destabilisierungseffekt das vorhandene Geflecht regelförmiger rechtlicher Eigenwerte. Indem die bisher nur im Urheberrecht geltende Regel zu einem allgemeinen Verbot, Schriftstücke ohne Genehmigung ihres Verfassers zu ändern und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ausgeweitet wurde, wurden bislang rechtlich ungeschützte Interessen in das Recht internalisiert. Unterscheidet man, wie eingangs113 vorgeschlagen, zwischen bewehrter und unbewehrter Seite negatorischer Freiheitsrechte sowie rechtlich konstituierten Freiheiten, so wird man den Obersatz, eine auf ihrer Rechtsfolgenseite zum Widerruf verpflichtende Regel, dem letztgenannten Normbereich zuordnen müssen. Ganz ähnlich wie das Eigentums- oder das Patentrecht konstituierte die neue Norm eine rechtliche Möglichkeit des Verfassers eines Schriftwerkes, die Einwirkung anderer auf sein geistiges Produkt zu bestimmen. los BGHZ 13,334/338 f. 109
Zur rhetorischen Senkung und Hebung von Aufmerksamkeitsschwellen s. o., § 81.1. b). Korrekterweise muß von potentiellen Eigenwerten die Rede sein. Erst die mehrfache (redundante) Wiederholung erzeugt einen Erwartungssicherheit verbürgenden Eigenwert; s. o., § 4 VIII., § 6 II., § 6 IV. Hätten weder der BGH noch andere Gerichte in späteren Entscheidungen auf die Urteilsbegründung Bezug genommen, so wäre keine neue gerichtliche Praxis richtigen Begründens entstanden. Allenfalls fänden sich in rechtswissenschaftlichen Werken vereinzelte Hinweise auf einen „Ausrutscher" ohne wesentliche Bedeutung. in s. o., § 10 in. 1. b), bei Fn. 82 und 83. 112 s. o., § 8 I. 2. Verdichtung im Sinne ausdifferenzierter Konkretisierung ist nicht zu verwechseln mit dem Phänomen der Eigenwertstabilisierung; vgl. o., § 8 I. 2. a). 113 § 11. 2. bis § 1 n. 110
20 Maitra
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Das mag überraschen, weil man auf den ersten Blick geneigt ist, das tragende allgemeine Persönlichkeitsrecht primär als negatorisches Abwehrrecht zu interpretieren. Und in der Tat konnte der Kläger durch Konstitution der Regel die ihn persönlich treffende Verfälschung seiner Äußerung abwehren. Stellt man darauf ab, wie die Beeinträchtigung wirkt - der Verfasser ist gekränkt, weil ihm eine Äußerung zugeschrieben wird, die er in dieser Form nicht getan hat so mag man ein eher passives, auf Integrität und Unversehrtheit gerichtetes Interesse abgesichert sehen114. Doch Vorsicht bei der normstrukturellen Einordnung! Weder war in unserem Fall der Bereich unbewehrter, d. h. selbstexekutiver Freiheit tangiert. Der Kläger konnte sich ungehindert und in eigener, faktischer Handlungskompetenz äußern und den Brief schreiben. Noch stand die negatorische Bewehrung dieses Freiraums in Rede. Durch die neue Regel wurde niemand daran gehindert, den Kläger in diesem Tun zu beeinträchtigen. Geregelt wurde, was geschehen sollte, nachdem ein Briefeschreiber sein Geisteswerk in die Außenwelt entäußert und die faktische Kontrolle darüber verloren hatte. Die neue Regel, oder besser: ihre Ausweitung auf urheberrechtlich bislang nicht geschützte Geisteswerke, konstituierte eine rechtliche Kontrolle, wo eine faktische nicht mehr existierte. Dies mochte geschehen, um Beeinträchtigungen des Betroffenen zu verhindern, aber es erfolgte, indem seine Kontrollmöglichkeiten rechtlich erweitert wurden. Dies erscheint folgerichtig, da Persönlichkeitsrechte ihrer sozialen, lebensweltlichen Fundierung nach darauf gerichtet sind, Kontrolle (wieder-)herzustellen 115. Das in Rede stehende Veränderungsverbot war zwar nicht inhaltlich, aber doch strukturell urheberrechtlichen Verwertungsverboten ganz ähnlich.
d) Zweiter Eigenwert: Die Anerkennung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts Die Begründung hätte, wie gezeigt, auch in Formen traditioneller Dogmatik erfolgen können. Scheinbar ohne Not ist der BGH auf den abstrakten, höherrangigen Primärtext der Verfassung ausgewichen und hat daraus ein allgemeines Persönlichkeitsrecht mit direkter Drittwirkung konstruiert, ohne diese Konstruktion auch nur in Ansätzen zu problematisieren. Von einer Double-Bind-Situation116, also einer Konstellation, die Richter zwingt, Antagonismen zwischen regelhaften juristischen Eigenwerten, öffentlichen Diskursen und persönlichen Präferenzen mit Hilfe eines rhetorisch gesättigten Rückgriffs auf höherrangige und abstraktere Rechtssätze aufzulösen, scheint es hier keine Spur zu geben. Weshalb aber dann der für eine effektive Begründung eigentlich unnötige Rückgriff auf die Verfassung? ii4 Die Einordnung verliert bereits an Eindeutigkeit, wenn man berücksichtigt, daß der Kläger an seinem Ruf als unabhängiger Rechtsanwalt vermutlich auch ein starkes ökonomisches Interesse hatte. Iis s. o., § 91. 2. d).
ii6 s. o., § 7 n. 3. d), § 91. 3.
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Zunächst einmal ist festzuhalten, daß man jedenfalls nicht von einem scharfen Bruch im Sinne großer kommunikativer Distanz sprechen kann. Durch Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wurde lediglich mit einer hegemonialen Diskurstradition gebrochen, die bereits vor dem Dritten Reich aufgeweicht worden war. Indem der ideelle Gehalt der persönlichkeitsrechtlichen Interessen immer wieder als Argument für eine Ausweitung spezieller, gesetzlich normierter Persönlichkeitsrechte genutzt worden war 117 (teilweise mit durchaus ökonomischen Implikationen), hatte sich das durch die Rechtsprechung ausdifferenzierte Normensystem einem Status angenähert, der die Anerkennung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts in greifbare Nähe rücken ließ 118 . Durch die antiindividualistische Gemeinschaftsideologie des Nationalsozialismus wurde diese Entwicklung weitgehend unterbrochen 119. Nach Ende des Dritten Reiches wurden Forderungen nach Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in der rechtswissenschaftlichen Literatur wieder verstärkt formuliert 120. Auch in der Rechtsprechung fanden sich deutliche Ansätze. So erklärte das Landgericht Mainz im September 1949, ein allgemeines Erfinderrecht, das „auf dem Wesen und der Würde der menschlichen Persönlichkeit und der Befugnis zu ihrer freien Entfaltung" beruhe 121 , gewähre einen Anspruch auf Unterlassung von Nachahmungen einer technischen Erfindung. Das Landgericht Freiburg entschied in einem Scheidungsurteil im April 1948, das dem Ehemann nach § 1354 BGB zustehende Entscheidungsrecht über Wohnsitz und grundsätzliche Ehefragen, wie die Berufsausübung der Ehefrau, finde seine Grenzen „an dem sozialen und darüber hinaus dem Persönlichkeitswert, den die Frau jeweils verkörpert"; eine „Unterwerfung ihrer Person als Persönlichkeit" sei nicht gerechtfertigt 122. Deutliche Anklänge an ein allgemeines Persönlichkeitsrecht finden sich auch in zwei Entscheidungen des - insoweit U7 s. o., § 10 II. 3. ii® In einem Urteil vom 9. Juli 1929 äußerte das OLG Kiel offen Zweifel, ob sich die Rechtsprechung einer Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auf Dauer verschließen könne (JW 1930, 78 ff. m. Anm. Adler - Familie Donner/Amrie Delmar), s. o., § 10 II. 3. Das Kammergericht griff diese Zweifel auf (UFITA 1931, 319/322). Das Reichsgericht selbst erging sich in einer Entscheidung vom 2. Februar 1933 in Überlegungen, wie ein allgemeines Persönlichkeitsrecht eingegrenzt werden müßte, wenn man es anerkennen wolle (RG HRR 1933, Nr. 1319 - Wechselreiterei). Siehe hierzu auch Gottwald 1996: 42 ff.; J. Simon 1981: 222 ff. 119 Siehe Gottwald 1996: 47 ff.; J. Simon 1981: 226 ff.; differenzierend Bussfeld 1978: 18 ff. 120
Neben den vom BGH im Urteil selbst zitierten Stellen sind dies u. a. Hubmann 1953; Going 1947a; Kleine 1952: 230; Palandt-Dankelmann 1949: 674 (Einf. vor § 1 Anm. 2); vgl. hierzu Gottwald 1996: 62 ff. m w. N. 121 LG Mainz GRUR 50,44/45. 122 LG Freiburg DRZ 1949, 88/f. § 1354 BGB wurde im Jahre 1957 aufgehoben. Der Einschätzung von Gottwald und Dilcher, in einem Beschluß des OLG Koblenz von 1947 (DRZ 1948, 175 ff. m. Anm. Nipperdey) sei der unzureichende Persönlichkeitsschutz bereits vorsichtig angedeutet, vermag ich nicht zu folgen, da dort an keiner Stelle Mängel des Persönlichkeitsschutzes moniert werden. *
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Art. 100 der Bayerischen Verfassung (Achtung der Würde der menschlichen Persönlichkeit) interpretierenden - Bayerischen Verfassungsgerichtshofs von 1948 123 sowie in der ersten Constanze-Entscheidung des BGH vom 26. Oktober 1951 124 . In letzterer wurde ein Eingriff in den Gewerbebetrieb mit dem Argument bejaht, daß in dem streitgegenständlichen Artikel die Warnung vor der Zeitschrift der Klägerin „mit einer achtungsverletzenden Herabsetzung der hinter der Klägerin stehenden Personen" verbunden wurde 125 . Des ungeachtet war man zu jener Zeit noch stark am rechtswissenschaftlichen Diskurs vor dem Nationalsozialismus orientiert. Trotz der genannten Aufweichungstendenzen war das hegemoniale Postulat des Reichsgerichts, das BGB enthalte kein allgemeines Persönlichkeitsrecht, präsent. Zeitgenossen, das zeigen nicht zuletzt die Reaktionen auf letztgenanntes Urteil, hatten dieses Diktum noch als herrschende Meinung wahrgenommen126, obwohl doch eine quantitative Auswertung der jüngeren juristischen Publikationen eher zu dem Ergebnis hätte führen müssen, daß aus der Mindermeinung eine herrschende Lehre oder doch mindestens, wie es in der zu feinsten Nuancierungen fähigen juristischen Fachsprache so schön heißt, „eine im Vordringen befindliche Mindermeinung" geworden war. Worauf aber beruhte diese Umkehr von minoritärem und hegemonialem Diskurs? Die beiden zitierten landgerichtlichen Urteile mag man als Einzelfallentscheidungen interpretieren, die vor allem praktischen Bedürfnissen der Nachkriegszeit geschuldet waren. Die kriegsbedingte Berufstätigkeit eines Großteils der weiblichen Bevölkerung mußte ein Bestimmungsrecht der männlichen Ehegatten überholt erscheinen lassen. Die patentamtslose Zeit machte einen gerichtlichen Erfinderschutz erforderlich, der nicht an die zeitweise unmögliche Patentanmeldung anknüpfte 127. Dies erklärt aber weder, weshalb das allgemeine Persönlichkeitsrecht in der neueren juristischen Literatur so viele und teilweise nachdrückliche Befürworter fand, noch, warum bei recht unterschiedlichen Fallgestaltungen Begründungen der Judikatur plausibel auf diesen Topos gestützt werden konnten. 123 Bayer. Verfassungsgerichtshof, Entsch. v. 22. 3. 1948, Sammlung von Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs mit Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, Neue Folge, Erster Band, 1947/1948, II. Teil, S. 28/32 ff. sowie Entsch. v. 2. 9. 1948, a. a. O., S. 53/56. Es geht dort um die Achtung der Würde der menschlichen Persönlichkeit als eines subjektiv-öffentlichen Rechts. Die Ausführungen wurden in der grundlegenden Monographie Hubmanns zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht zustimmend rezipiert (1953: 101 ff.). Anschauliche Belege für den Pathos, mit dem argumentiert wurde, finden sich in Hubmanns Habilitation (1953: 1, 59 ff.) sowie in der ersten hier zitierten Entscheidung. 124 BGHZ 3, 270 - Constanze I = BGH JZ 1952, 227 m. Anm. Kleine. 125
BGHZ 3, 270/280. Dementsprechend äußerte Kleine in seiner Anmerkung zum Urteil die Erwartung, der BGH werde das allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkennen (Kleine 1952: 230). 126 Vgl. Koebel 1955: 1337; Benkhard 1950: 481. 127 Vgl. Benkhard 1950: 486 ff. m. w. N.
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Vieles spricht für die These Gottwalds, der in seiner Analyse der frühen Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht wesentliche Motive dafür in Bestrebungen sieht, die jüngste nationalsozialistische Vergangenheit zu bewältigen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Feststellung, daß es im Nachkriegsdeutschland einen Diskurs gab, in welchem in Abgrenzung zur Ideologie des Nationalsozialismus der Wert von Individuum und Individualität dominierte 128 und der im juristischen Kontext in eine „Naturrechtsrenaissance" mündete 129 . Es war - an dieser Stelle setzt Gottwalds psychohistorisches Erklärungsmodell an die teilweise persönliche Verstrickung der Richter 1 3 0 wie jene der deutschen Eliten, die diesen naturrechtlichen Evidenzen, die insbesondere den Begriff der Menschenwürde im neueren persönlichkeitsrechtlichen Diskurs der Nachkriegszeit prägten 131 sowie Schubkraft und Plausibilität verliehen: Man konnte „den zivilrechtlichen Schutz der so böse beschädigten Menschenwürde vor alle anderen rechtspolitischen Z i e l e " 1 3 2 stellen, zugleich jedoch die Vergangenheit beschweigen. In einer ganzen Reihe von Urteilen des BGH, von Gottwald als „Defensiv128 Zum Ausdruck kommt dies in seltsam verhaltenen Wendungen, wie „So haben uns gerade die Erfahrungen der Vergangenheit gezeigt, daß das Schlagwort: Gemeinnutz geht vor Eigennutz, nicht richtig ist, daß der Gemeinschaftswert dem Persönlichkeitswert nicht überlegen ist." (Hubmann 1953: 132). Zu den Begriffen Gemeinschaft, Volk und Volksgemeinschaft und ihrer antindividualistischen Stoßrichtung im nationalsozialistischen Rechtsdenken vgl. Stolleis 1994; Lepsius 1994: 32 ff., 49 ff., 56 ff., 64 ff., 106 ff. 129 Gottwald 1996: 60 ff., 74 ff., 157 ff.; vgl. auch Bussfeld 1978: 34 ff. Zum Phänomen dieser stark spätidealistisch geprägten „Naturrechtsrenaissance" vgl. A. Kaufmann 1984: 79 ff.; Kühl 1990: 333 ff.; Sprenger 1996: 226 f.; Stolleis 1994a: 269 ff. (mit vorsichtiger Relativierung der praktischen Auswirkungen auf die gerichtliche Entscheidungsfindung); zur Kritik vgl. Kühl 1990: 343 ff. Man kann diese Umwertung zentraler Maßstäbe weg von der Volksgemeinschaft hin zur Betonung der Würde des Individuums als Ausdruck einer sich anbahnenden Veränderung öffentlicher Risikowahrnehmung interpretieren, in der eine nachholende Identifikation mit der Opferseite die Abwehr von Schuldgefühlen ermöglichte. Zum Stellenwert des NS in deutschen Risikodiskursen vgl. Gaudard 1993: 76 ff. 130 Vgl. Gottwald 1996: 75 ff.; zur personellen Kontinuität zwischen 3. Reich und Bundesrepublik am BGH und an anderen bundesdeutschen Gerichten vgl. Klee 1990: 244 ff.; /. Müller 1987: 210 ff.; Stolleis 1994a: 260 ff. 131 Zumindest zwei maßgebliche Exponenten des Nachkriegsdiskurses zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht waren ebenfalls in das Herrschaftssystem des NS eingebunden gewesen: Hans Karl Nipperdey als Mitarbeiter der nationalsozialistischen Akademie für deutsches Recht (Wahsner 1994: 121 ff.), Karl Larenz als Mitglied der die nationalsozialistische Umformung des Rechts betreibenden „Kieler Schule" (vgl. FrasseJc 1998; Rüthers 1988: 42, 46, 76 ff.; bes. 88 ff. zu Larenz' völkischer Umdefinition des Personenbegriffs). Der sich antinazistisch gebärdende Pathos des persönlichkeitsrechtlichen Diskurses sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Rematerialisierung des formalistischen, strikt an Erfolgsunrechtszurechnung geknüpften § 823 I BGB durch weitethische Zweckerwägungen bereits im Dritten Reich begann, nicht zuletzt mit Nipperdeys Empfehlung einer deliktischen Generalklausel, bei der die Rechtswidrigkeit vom sozial adäquaten Verhalten des Schädigers abhängen sollte (vgl. Nipperdey 1940: 37 ff.). Auch war der Terminus der Persönlichkeit der NS-Ideologie nicht fremd, sondern diente der Rechtfertigung ihrer eliteorientierten Staatstheorie sowie der anti-egalitären Abgrenzung gegen den Marxismus; exemplarisch Hitler 1943: 492-503.
1 32 Gottwald 1996: 74.
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Urteile" bezeichnet133, wirkte das allgemeine Persönlichkeitsrecht in dieser Weise zugunsten der Täterseite. Das Schachtbrief-Urteil als erste Entscheidung dieser Serie amalgamiert in der Vehemenz seiner sich auf höchste Werte berufenden Begründung narrativ die jedermann plausible Empörung über die Verfälschung eines Briefes mit dem Interesse, der Presse bei der Thematisierung der jüngsten Vergangenheit Grenzen zu setzen134. Soweit die Darstellung von Gottwalds aussagekräftiger, wenn auch personengeschichtlich verengter Analyse, die hier nicht weiter vertieft werden soll. Mir geht es bei der Bewertung des Schachtbriefurteils und seiner diskursiven Umgebung vor allem um drei Phänomene: Zum einen vollzog sich der Bruch, d. h. die Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, nicht aus dem heiteren Himmelrichterlicher Intuition oder persönlicher Interessen heraus. Die möglicherweise auch lebensgeschichtlich riickführbare Intentionalität der Entscheider vollzog sich auf der Matrix einer Diskursformation, deren Traditionslinien unterschiedliche Begründungsangebote (Redundanzen) entnommen werden konnten. Ohnehin war die einstmals herrschende Meinung stark aufgeweicht. Intentionen und Entscheidungen bewegen sich, dies lehrt auch der genaue Blick auf die rechtswissenschaftliche Diskussion im zeitlichen Kontext dieser Entscheidung, zwangsläufig im Rahmen des diskursiv Möglichen, das sie allerdings zugleich in kleinen Schritten verändern 135. Zweitens kam es in der Restaurationsphase neben den innerhalb der Jurisprudenz eher selten angestellten Überlegungen zur Rolle der deutschen Richter im Nationalsozialismus136 zu einem „zunehmenden Druck der öffentlichen Aufmerksamkeit, der umso größer zu werden schien, je mehr von dem Justizunrecht bekannt wurde" 137. Das bisher Geltendes umwertende Primat demokratischer Werte in öffentlichen Diskursen verlieh persönlichkeitsrechtlichen Argumenten zusätzliche Schubkraft. Die persönlichkeitsrechtliche Betonung des Individuums bot die Möglichkeit, persönliche Bedürfnisse nach Abgrenzung und Verdrängung der Vergangenheit darin aufzuheben, eine Konstellation, die dem Phänomen einer richterlichen Double-Bind-Situation recht nahekommt. Die Anerkennung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechtes hatte für Zeitgenossen eine lebensgeschichtlich begründete Plausibilität, die in der weitgehend zustimmenden Reaktion auf das Urteil 138 133 BGHZ 13, 334 - Schacht; 31, 308 - Alte Herren; NJW 1966 - Luxemburg; JZ 1967 Vor unserer eigenen Tür; BGHZ 50,134 - Mephisto; vgl. hierzu Gottwald 1996: 78 ff., 81. 134 Ähnlich die Einschätzung bei Gottwald 1996: 83 f. Zur narrativen Struktur von Entscheidungsbegründungen s. o., § 81. 1. b), dort bes. Fn. 30. 135 Darin liegt die Dialektik des Prozesses, die aber am strukturierenden und limitierenden Primat des Diskurses nichts ändert; vgl. § 5 II. 1. b), § 5 II. 2. a). 136 Vgl. etwa Radbruchs Abhandlung „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht" (1963/1946). 137 Gottwald 1996: 105. 138 Coing 1954: 700; v. Gamm 1955: 1826; Koebel 1955: 1337 m. w. N. (Fn. 2); Reinhardt in: E. Schulze BGHZ Nr. 10, LG München UFITA Bd. 20, 1955/11, 230/233; KG GRUR 1956, 47 = NJW 1956, 26; LG Hagen BB 1955,489; a.A.: Palandt-Gramm 1956: 674 [§ 823,
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zum Ausdruck kam. Aus der Vielfalt des Sagbaren wurde eine Argumentationsfigur gewählt, die Zeitgenossen, welche die prägenden Erfahrungen der vergangenen zwanzig Jahren teilten, in ihrer auf die neukantianische Rechtsphilosophie zurückgreifenden 139, pathetischen Betonung individueller Würde aus ganz unterschiedlichen persönlichen Motivationen heraus plausibel erscheinen mußte. Deren gemeinsames, integrierendes Moment lag darin, daß diese Argumentationsfigur der in der NS-Ideologie besungenen Unterordnung des Einzelnen unter die Volksgemeinschaft diametral und eindeutig entgegenstand, zugleich aber so vage war, daß sie für unterschiedliche Interessen fungibel gehalten werden konnte140. Wichtig erscheint mir schließlich ein dritter Gesichtspunkt, wenn er auch nichts zur Beantwortung der Frage, weshalb das allgemeine Persönlichkeitsrechts im Schachtbrief-Urteil anerkannt wurde, beiträgt: Die Entscheidung, ein allgemeines Persönlichkeitsrecht als Topos juristisch zulässigen Begründens zuzulassen, hat später eine von der ursprünglichen mutmaßlichen Motivation der Entscheider völlig abgelöste Dynamik entfaltet. Wir haben zunächst eine einzige Vorrangrelation und einen sehr vagen Topos. Allerdings ist dieser aufgrund einer zeitgenössischen Juristen präsenten Diskurstradition in der Lage, konvergierende Vorstellungen über seine Bedeutung abzurufen. Im Verlauf der Sequenz, in der er sich durch wiederholende rekursive Bezugnahme von Entscheidungsbegründung zu Entscheidungsbegründung zu einem etablierten juristischen Eigenwert stabilisiert und in Teilbereichen zu Regelstrukturen ausdifferenziert und verdichtet, verändert sich der Topos. Man kann nachzeichnen, daß er allmählich mit anderen, neuen Bedeutungen versehen wird, die weder mit den mutmaßlichen Intentionen der Verfasser des Ausgangstextes noch mit dessen Problemkontext in Beziehung stehen. In Folgeentscheidungen und in den die ,3egleitmusik" liefernden rechtswissenschaftlichen Veröffentlichungen wurde mit zunehmender Entschiedenheit postuliert, das allgemeine Persönlichkeitsrecht schütze das Individuum vor bestimmten entindividualisierenden Gefahren moderner Techniken. Erst mit diesem Zusatzargument hat der persönlichkeitsrechtliche Diskurs jene Tendenz gewonnen, die seine Dynamik bis heute wesentlich bestimmt141 und damit dem Bruch, den das Schachtbriefurteil darstellt, einen eigenen, von seinen historischen Bedingtheiten unabhängigen Sinn verleiht. Innerhalb des oben präsentierten Stufenkatalogs 142 ist das Urteil hinsichtlich des ersten Eigenwerts der ersten Stufe (geringe kommunikative Distanz, Stabilität des Rechts bleibt gewahrt) zuzuordnen. Was den zweiten Eigenwert, die Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts angeht, so muß man sich wohl für Stufe Anm. 6.i)]; lediglich im Erg. zustimmend unter Ablehnung eines allg. Persönlichkeitsrechts Larenz 1955: 522 ff. 139 Vgl. Sprenger 1996: 220 ff. i4
° Vorzeitige Selbstbindungen (vgl. o., § 8 II. 3.) waren also nicht zu befürchten. Eingehend dazu im Fortgang unter § 10IV. 142 § 61.4., § 101. 1. 141
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zwei entscheiden. Die kommunikative Distanz zu existierenden regelförmigen Begründungsmustern war größer als beim ersten Eigenwert - insbesondere was die freihändige Ableitung aus dem Verfassungsrecht anging. Sich im Rahmen tradierter juristischer Argumente haltend, möglicherweise sogar innerhalb der aktuell herrschenden Lehre, blieb sie jedoch gering. Ob mit ihr Varietät in destabilisierendem Ausmaß erzeugt wurde, läßt sich nur durch Betrachtung der an das Urteil anknüpfenden Folgeentscheidungen feststellen, war also im Zeitpunkt der Entscheidung selbst noch offen. Seinen Stellenwert als einer der zentralen „starting points" (Josef Esser) für verfassungsrechtlich aufgeladene Argumentationsformen und -inhalte im Zivilrecht hat das Urteil erst im Nachhinein erhalten. Den entscheidenden Bruch im Sinne kommunikativer Distanz zum etablierten Regeldiskurs sehe ich weniger im Leserbriefiirteil, als in der Herrenreiter-Entscheidung, in der ein Ersatzanspruch für aufgrund einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts entstandene immaterielle Schäden zuerkannt wurde 143 . Während die Kritik im Falle der Leserbriefentscheidung weitgehend zumindest das Ergebnis gebilligt144 und lediglich die Ableitung moniert und wohl eher für einen „Ausrutscher" gehalten hatte, kam es hier zu entschiedener Ablehnung der Instanzgerichte145 und schroffer Ablehnung durch die Literatur 146. Erst mit der Herrenreiter-Entscheidung und ihrer Bestätigung und Ausdifferenzierung in den Folgeurteilen wurde der Unterschied zur bisherigen Rechtsprechung greifbar und augenscheinlich zu Richterrecht, das zum Primärtext des BGB und den tradierten Eigenwerten des civilistischen Regelverständnisses in deutlichem Widerspruch stand.
2. Cosima Wagner Konnte auch die Anerkennung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts verfassungsrechtlicher Provenienz zunächst im Hinblick auf die Reaktion anderer Gerichte noch nicht als gesicherter Eigenwert gelten, so deutete sich doch an, daß zumindest der I. Zivilsenats des BGH entschlossen war, daran festzuhalten. Ohne i « BGHZ 26, 349/357 f. - Herrenreiter; eingehend zu Urteil und Rezeption im Fortgang, § 10 IE. 5. 144 s. o., Fn. 138. 145 OLG Frankfurt NJW 1962, 2062 (nur Leitsatz; die entsch. Textpassagen sind wiedergegeben bei Löffler 1962d: 282 f.); OLG Karlsruhe NJW 1962, 2062; SchlHOLG JZ 1961, 573/575 f. m. Anm. Weitnauer; OLG München VersR 1963, 1086/1087. Zustimmung kam lediglich vom OLG Hamburg (NJW 1962, 2062). Bemerkenswerterweise wurde diese im Anschluß an BGHZ 35, 363 - Ginseng - wesentlich darauf gestützt, daß der BGH an seiner Rechtsprechung festhalte. 146 Larenz 1958: 827 ff.; Bötticher 1960: 400 ff.; E. Kaufmann 1963: 423, 436 ff.; Bußmann 1958: 411; differenzierend Nörr 1960: 3 ff., 9; nur im Erg. zustimmend, ablehnend hinsichtlich der an § 847 BGB orientierten Begründung: Reinhardt in: E. Schulze 1979 (BGHZ Nr. 43); w. Nachw. zur Rezeption bei Gottwald 1996: 254 f., Fn. 239-243.
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daß diesem Hinweis tragende Bedeutung zugekommen wäre, nahm der Senat im Urteil vom 26. November 1954 ausdrücklich auf seine Schachtbriefentscheidung Bezug 147 . Im Kern ging es bei dem Rechtsstreit um die Frage, ob die verstorbene Cosima Wagner auch das Urheberrecht an ihren Tagebüchern übertragen hatte, als sie diese zu Lebzeiten ihrer Tochter schenkte, oder ob dieses ihren Erben zustand. Der BGH bejahte ersteres und unterstellte dabei, daß die streitgegenständlichen Tagebuchaufzeichnungen vollständig die urheberrechtlichen Schutzvoraussetzungen erfüllten 148 . Für die Begründung konnte es somit allenfalls auf die persönlichkeitsrechtlichen Anteile des Urheberrechts, nicht aber auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht ankommen. Dennoch erfolgte die wiederholende Bezugnahme nicht nur am Rande. Gleich drei Erweiterungen bzw. Präzisierungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wurden angedeutet: Zum einen wurde implizit postuliert, daß das Veröffentlichungsrecht des Verfassers, auch soweit es aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (und nicht aus dem Urheberpersönlichkeitsrecht) erwächst, nicht nur für Briefe, sondern auch für andere Schriftwerke höchstpersönlichen Charakters, also z. B. Tagebücher, gelten solle und zweitens, daß insoweit die Übertragung unter Lebenden möglich sei 149 . Schließlich wurde explizit festgestellt, daß auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht über den Tod des Rechtsträgers hinaus fortwirke 150. Mit der wiederholenden Bezugnahme wurden Redundanz und damit Stabilität geschaffen. Ein weiterer Schritt war getan, aus einem potentiellen einen echten, auf Dauer angelegten Eigenwert zu schaffen. Zugleich fand eine Erweiterung und Ausdifferenzierung jenes Regelkonstrukts statt, das wir im Rahmen des Schachtbriefurteils als ersten Eigenwert ausgemacht hatten - mit der Folge, daß weitere Rechtspositionen ins Recht internalisiert wurden 151. Für die Zukunft konnte auch derjenige, dessen Tagebücher nicht ohne weiteres über die urheberrechtlichen Schutz nach sich ziehende Schaffenshöhe 152 verfügten, unter Berufung auf das neue BGH-Urteil anderen mit Aussicht auf Erfolg untersagen, diese öffentlich zu machen oder zu verändern.
147 BGHZ 15,249 / 257 f. - Cosima Wagner [BGHZ 15,249 = JZ 55,214 m. Anm. Ulmer]. 148 BGHZ 15,249/255. 149 BGHZ 15,249/258. Daß ein unverzichtbarer Kernbestandteil stets beim Verfasser verbleibt, führte der BGH - insoweit eine im persönlichkeitsrechtlichen Diskurs tradierte Formel aufgreifend (s. o., § 10 II. 1., § 10 II. 2.) - explizit nur zum Urheberpersönlichkeitsrecht aus (BGHZ 15, 249/260, 262). Doch lag es angesichts der parallelisierenden Bezugnahme auf Urheberpersönlichkeitsrecht und allgemeines Persönlichkeitsrecht nahe, diese Einschränkung auch auf letzteres anzuwenden. 150 BGHZ 15,249/258 f. 151 Zur Internalisierung von Interessen s. o., § 8 I. 2. d) cc). Zur stabüisierenden Wirkung regeiförmiger Ausdifferenzierung s. o., § 8 I. 2. 152 Zu diesem Tatbestandsmerkmal s. o., § 10 HI. 1. b), bei Fn. 88.
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3. Paul Dahlke Obwohl sie regelmäßig als Etappe in der Geschichte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aufgeführt wird, mag man bezweifeln, daß die Entscheidung zum Fall Paul Dahlke vom 8. Mai 1956 153 in die Reihe der wesentlichen Urteile gehört, denn explizit wurde auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht lediglich in einem obiter dictum durch Hinweis auf die Schachtbriefentscheidung Bezug genommen 154 . Einschlägig war ein gesetzlich anerkanntes Persönlichkeitsrecht, das Recht am eigenen Bild (§ 22 KUG) 1 5 5 . Dennoch ist die Entscheidung von Interesse, weil sie Parallelen zur Problemstruktur der beiden vorstehend besprochenen Urteile aufweist und insbesondere die Bedeutung späterer Entscheidungen zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht nur vor ihrem Hintergrund verständlich wird. Zwecks Veröffentlichung in einer Zeitschrift hatte einer der beiden Beklagten, ein Pressefotograf, den Kläger, den Schauspieler Paul Dahlke, mit dessen Einverständnis auf einem Motorroller sitzend fotografiert. Ohne Einverständnis Dahlkes überließ der Fotograf die Aufnahmen dem Zweitbeklagten, einem Motorrollerhersteller, zu Werbezwecken. Dahlke verklagte beide auf Schadensersatz, nachdem die Firma eines der Bilder als Reklame mit Bildunterschrift veröffentlicht hatte. Der BGH sprach ihm gegen beide Beklagten Zahlungsansprüche aus dem Gesichtspunkt entgangener Lizenzgebühren zu. Abgesehen vom bekräftigenden Selbstzitat der Schachtbriefentscheidung, ist zunächst die Problemstruktur von Interesse: Allen drei Entscheidungen des I. Zivilsenats (Schachtbrief, Cosima Wagner, Paul Dahlke) lagen Konstellationen zugrunde, in denen etwas dem höchstpersönlichen Bereich Zugeordnetes vom Berechtigten aus seiner unmittelbaren faktischen Kontrolle willentlich entäußert und später in anderer Weise als von ihm intendiert der Öffentlichkeit preisgegeben wurde. Die von der Rechtsprechung ausgesprochene Sanktion lief immer wieder auf eine Herstellung von Kontrolle hinaus - durch Gewährung eines rechtlichen Anspruchs. Genau dies machte ihre unmittelbare Plausibilität jenseits aller dogmatischen Sättigung ihrer Begründung aus 156 . Zwei wesentliche Unterschiede wies der Fall Dahlke gegenüber der Schachtbriefentscheidung auf:
153 BGHZ 20, 345 = NJW 1956,1554 = JZ 56, 657 m. Anm. Kleine. 154 BGHZ 20, 345/351. 155 BGHZ 20, 345/347 ff. Eine Abwägung zwischen öffentlichem Informationsinteresse und Rechtspositionen, die dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zuzuordnen gewesen wären, erfolgte nicht, weil der BGH § 23 I Nr. 1 KUG bei Veröffentlichungen zu Werbezwecken für unanwendbar erklärte (ebd., Ls. 2, S. 349 f.). 156 Persönlichkeitsrechte korrespondieren einer lebensweltlich fundierten, bis in die individuelle psychische Struktur hineinreichenden Angst vor Kontrollverlusten, indem sie Kontrolle rechtlich wiederherstellen, wo diese fakisch verlorenging; eingehend hierzu unter § 91. 2. d); vgl. auch § 10 III. 1. c).
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Zum einen vollzog sich die Begründung im Fall Dahlke weit deutlicher in den etablierten regeiförmigen Strukturen (§§ 22, 23 KUG i.V.m. § 823 I I BGB bzw. 812 BGB 1 5 7 ). Die kommunikative Distanz war vergleichsweise gering 158. Zwar stellte die Übertragung der vom Reichsgericht entwickelten patent-, Urheber- und gebrauchsmusterschutzrechtlichen Schadensliquidationskriterien auf ein reines Persönlichkeitsrecht159 eine erhebliche Neuerung dar. Doch wurde sie im Rahmen konventioneller, allmählicher Regelausdifferenzierung („step by Step")160 begründet, nämlich im Wege der Analogie161. Unterschiedlich waren auch die Klagebegehren. In der Schachtbriefentscheidung wurde Widerruf einer unrichtigen Behauptung verlangt. Es ging also darum, den status quo ante wiederherzustellen, so daß offenbleiben konnte, ob das Primärinteresse des Verletzten ideeller oder kommerzieller Natur war. Immerhin lag es angesichts der Art der Beeinträchtigung nahe, den Integritätsschutz zu betonen. Paul Dahlke dagegen verlangte eindeutig Schadensersatz in Form materieller Kompensation. Er klagte ein und erhielt, was er erhalten hätte, hätte er der Veröffentlichung zu Werbezwecken von vornherein zugestimmt. Auch auf Verletztenseite ging es um kommerzielle Interessen. Insofern trifft es sicher zu, daß im Urteil eine persönlichkeitsrechtliche Position kommerzialisiert 162 und so der zunehmenden Ökonomisierung von Bildern Prominenter Rechnung getragen wurde. Es wurden Verwertungsinteressen ins Recht internalisiert. Indem das Interesse, das eigene Bild kommerziell zu verwerten, als ein gewerblichen Schutzrechten vergleichbares „vermögenswertes Ausschließlichkeitsrecht"163 eingeordnet und zugesprochen wurde, tat das Gericht einen kleinen, aber wesentlichen Schritt: Ein reines Persönlichkeitsrecht, dem im juristischen Diskurs der Schutz von Integritätsinteressen zugeschrieben worden war, wurde dem kommerziellen Interessenschutz dienenden Rechten angeglichen164. Damit ist erneut die Frage aufgeworfen, wie trennscharf die Differenzierung zwischen ideellen Integritäts- und kommerziellen Verwertungsinteressen 165 ist. Im 157
Die Norm wurde nicht explizit angesprochen; es war lediglich die Rede von einem auf schuldhafter Verletzung des Persönlichkeitsrechts beruhenden vermögensrechtlichen Ersatzanspruch (BGHZ 20, 345 / 352 f.). 158 Nicht umsonst konstatierte Kleine: „Auch die grundsätzlichen Ausführungen über die Schadensberechnung entsprechen gesicherter Rechtsprechung, soweit es sich um Urheberrechtsverletzungen handelt." (1956: 659) i » BGHZ 20, 345/352 f., 354 f. 160 Vgl. o., § 61.4., Fn. 53. 161 Vgl. die Argumentation bei BGHZ 20, 345 / 352 f. 162 So Gottwald 1996: 146 f.; Helle 1991: 67; Ulimann 1999: 211; Brehmer/Voegeli 1978: 382, vgl. S. 379. 163 BGHZ 20, 345/353. 164 Dies wurde auch daran deutlich, daß der BGH die gesamtschuldnerische Verurteilung des zweitbeklagten Motorrollerherstellers damit begründete, dieser habe nach § 812 BGB jene ersparte Honorierung zu erstatten, die er für Dahlkes Einwilligung in die gewerbliche Auswertung hätte entrichten müssen (Z 20, 345/354 f.). 165 Vgl. o., § 10 II. 1.; zu den normstrukturellen Aspekten s. o., § 1 II und § 10 HI. 1. c).
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Falle der Schachtbriefentscheidung kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Kläger, der in seinem Integritätsinteresse verletzte Rechtsanwalt, zugleich auch kommerzielle Interessen verfolgte, weil er im Interesse effektiver Mandantenakquise auf seinen guten Ruf bedacht sein mußte. Umgekehrt kann die Verletzung von Integritätsinteressen für zukünftige, gleich gelagerte Fälle kommerziellen Interessen die Bahn ebnen. Besteht keine Möglichkeit der Naturalrestitution, bleibt nur die Möglichkeit finanzieller Kompensation. Ist ein entsprechender Anspruch einmal anerkannt, wird es schwierig, rechtlich (d. h. nicht aus der Innenperspektive des Verletzten) zwischen Integritäts- und kommerziellen Interessen zu unterscheiden. Die zunehmende Verquickung der im persönlichkeitsrechtlichen Diskurs bislang sorgsam unterschiedenen Dualität zwischen kommerziellen und ideellen Interessen führt dazu, daß letztere kommerzielle Stoßkraft gewinnen. Die als unerträglich empfundene Intensität bestimmter Übergriffe begünstigt, wie die ersten drei Caroline v. Monaco-Entscheidungen plastisch zeigen, daß Kompensationsleistungen zugesprochen werden, die auf der Verletztenseite kommerzielle Erwägungen nahelegen166. Nachdem der BGH auf das Schachtbriefurteil ohne Notwendigkeit Bezug genommen hatte, war damit zu rechnen, daß er seine Kategorisierung eines besonderen Persönlichkeitsrechts als „vermögenswertes Ausschließlichkeitsrecht" auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht übertragen würde.
4. Krankenpapiere/Versicherungsakten Einen wesentlichen Schritt in diese Richtung vollzog das Gericht mit seiner Krankenpapier-Entscheidung vom 2. April 1957 167 , in der das allgemeine Persönlichkeitsrecht als „sonstiges Recht" i. S. v. § 823 I BGB eingeordnet wurde. Von Interesse ist hierbei insbesondere, daß erstmals nicht der erste, sondern der sechste Zivilsenat den Topos „allgemeines Persönlichkeitsrecht" nutzte, dabei auf wesentliche Elemente der bisherigen Rechtsprechung des anderen Spruchkörpers Bezug nahm und diese ausbaute. Damit wurde diese Rechtsprechung ganz wesentlich stabilisiert. Aus dem vorsichtig tastenden Experiment eines Spruchkörpers, das dieser 166 BGHZ 128, 1 = JZ 1995, 360 m. Anm. Schlechtriem = NJW 1995, 861 - Caroline v. Monaco I; BGH NJW 1996, 984 - Caroline v. Monaco II, BGH NJW 1996,985 - Caroline v. Monaco HI; vgl. auch OLG Hamburg NJW 1996, 2870 - Caroline v. Monaco I (nach Zurückverweisung). Nicht selten werden daraus kommerziell verwertbare Positionen; siehe dazu im Fortgang, § 10 HI. 9. Allein, daß finanzielle Kompensation erfolgen, rechtfertigt nicht die Aussage, das geschützte Interesse sei kommerzieller Natur. In dem Maße, in dem in unserer Gesellschaft Handlungen kapitalisierbar geworden sind, wird materielle Kompensation möglich. Das die Gesetzgebungsdiskussion zum BGB begleitende Argument, die Ehre sei einer pekuniären Kompensation nicht zugänglich (vgl. v. Bar 1980: 1724; Gottwald 1996: 216 f.), mag sich erledigt haben. Dies macht jedoch Ehrverletzungen nicht schlechthin zu Verletzungen kommerzieller Interessen. 167 BGHZ 24, 72 = NJW 1957,1146 = JR 1957, 600 m. Anm. Pohle.
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bei Ablehnung auf breiter Front selbst hätte revidieren können, wurde ein seiner alleinigen Spruchsouveränität unverfiigbarer Eigenwert 168.
a) Sachverhalt und Begründung Der gegen unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit versicherte Kläger war nach mehreren Schadensfällen im Auftrag seiner Versicherung vom Beklagten, einem Arzt, untersucht worden. Dieser hatte dabei erstellte Krankenunterlagen dem Anwalt eines Unfallgegners ausgehändigt. Bei deren Sichtung kam der Verdacht auf, der Kläger habe Verletzungsschäden erfolgreich geltend gemacht, die von einem anderen Unfall herrührten. Der Rechtsanwalt erstattete Strafanzeige wegen Betruges. Obwohl das Gericht erhebliche Bedenken gegen seine Einlassungen hatte, wurde der Kläger freigesprochen. In der Folge verlangte er - bis in die Revision hinein erfolglos - vom Beklagten Schadensersatz für die ihm aus dem Strafverfahren entstandenen Anwaltskosten und Erwerbseinbußen. Der BGH postulierte zwar, grundsätzlich verbiete das allgemeine Persönlichkeitsrecht die Weitergabe ärztlicher Krankenpapiere, hielt diese aber im konkreten Fall unter Abwägung der Interessen für gerechtfertigt. Der Begründungsaufwand, mit dem der VI. Senat seine Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts rechtfertigte, war größer, als jener des I. Senats in dessen jüngeren Entscheidungen, die sich insoweit weitgehend auf Selbstzitate beschränkten. Der Spruchkörper sah sich einem gesteigerten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, da die Neuerung v. a. hinsichtlich ihrer dogmatischen Ableitung Kritik erfahren hatte. Seine durch die neue Positionierung geschaffene kommunikative Distanz zur bisherigen, ein allgemeines Persönlichkeitsrecht ablehnenden Meinung, vermochte der VI. Senat nur einzuholen, indem er eine differenzierte und damit aufwendige Begründung lieferte. Ausführlich beleuchtete der Senat, ob „die Möglichkeit eines aus § 823 I BGB abzuleitenden Schadensersatzanspruchs wegen Verletzung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Betracht" 169 komme. Erstmalig wurde vom BGH explizit und in Auseinandersetzung mit den in der Literatur geäußerten Auffassungen das Problem der Drittwirkung erörtert - mit der eindeutigen, recht umstandslos aus dem staatlichen Schutzauftrag in Art. 112 GG abgeleiteten Folgerung, das Persönlichkeitsrecht gelte als unmittelbar geltendes Recht im Privatrechtsverkehr gegenüber jedermann 170. Einem weiteren zentralen Kritikpunkt an der neueren persönlichkeitsrechtlichen BGH-Rechtsprechung begegnete der Senat. Insbesondere Larenz hatte die generalklauselartige Weite des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als unvereinbar mit der 168 Eine grundlegende Beseitigung hätte einer Vorlage beim Großen Senat bedurft (§§ 136, 137 GVG a. F.). 169 BGHZ 24, 72/76. 170 BGHZ 24,72/76 f. in Anknüpfung an BGHZ 13, 334/338.
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Teil 4: Persönlichkeitsrechtsentwicklung
den Unrechtscharakter bestimmter Handlungen vertypenden Regelstruktur des § 823 I BGB gerügt 171. Dies wurde umstandslos zugestanden und auf spätere Konkretisierungsmöglichkeiten entlang den „besonderen Bestimmungen des bisherigen Rechts" verwiesen 172. Indem offensiv postuliert wurde, daß das auf dem „Recht des Menschen auf Achtung seiner Würde" fußende „allgemeine Persönlichkeitsrecht seinem Inhalte nach nicht abschließend geregelt" 173 werden kann, wurde einmal mehr die Gefahr vorzeitiger Selbstbindung174 umgangen - um sogleich finden konkreten Fall eine konkrete Regel zu entwerfen. Diese wurde im Rahmen einer umfassenden Güterabwägung als Vorrangrelation konstruiert. Ausgangspunkt war die Feststellung des I. Senats im Schachtbriefurteil, die ungenehmigte Veröffentlichung privater Aufzeichnungen stelle regelmäßig einen unzulässigen Eingriff in die geschützte menschliche Geheimsphäre dar 175 . Das Interesse, daß ärztliche Aufzeichnungen über den Gesundheitszustand ohne Zustimmung des Betroffenen nicht weitergegeben werden dürfen, wurde nunmehr über die einschlägigen, spezielle Konstellationen erfassenden Vorschriften hinaus als persönlichkeitsrechtlich geschützt anerkannt, also als eigenwertgesicherte Rechtsposition ins Recht internalisiert.
b) Erster Eigenwert: Das Recht, über die eigenen Daten zu bestimmen Wir wollen uns diese Erweiterung etwas genauer ansehen. Denn dieser unter dem Aspekt kommunikativer Distanz klein und unspektakulär erscheinende Schritt hatte erhebliche Konsequenzen für spätere Möglichkeiten rechtlichen Begründens. Anders als in den klassischen Fallkonstellationen wurde nicht das Interesse des Verfassers selbst geschützt, sondern das desjenigen, der Gegenstand der Aufzeichnungen war, oder moderner: desjenigen, dessen Daten aufgezeichnet wurden. Oben wurde darauf hingewiesen, daß neuzeitliche Machtformen privat gehaltene Räume durchdringen, vermessen und ihrem normierenden Zugriff unterwerfen 176. In gegenläufiger Bewegung wird versucht, den als Autonomiedefizit erlebten faktischen Verlust persönlicher Kontrolle zu kompensieren, indem unter Berufung auf Individualität, Privatheit und Selbstbestimmung rechtliche Kontrollmöglichkeiten 171 Larenz 1955: 521; ähnl. Palandt-Gramm 1956: 674 [§ 823, Anm. 6. i)]. 172 BGHZ 24, 72/78. Es ist mittlerweile üblich geworden, dem Vorwurf unzureichender Bestimmtheit von Normen mit dem Argument späterer richterrechtlicher Konkretisierungsmöglichkeiten zu begegnen. 173 BGHZ 24, 72/78. 174 Vgl. o., § 8 II. 3. 175 BGHZ 13, 334/339 zitiert vom VI. Senat bei BGHZ 24, 72/79. Auch dieser Eigenwert [s. o., § 10 m. 1. b), § 10 m. 1. c)] wurde durch zustimmendes Zitat bestätigt und damit für den juristischen Diskurs stabilisiert. 176 s. o., § 91. 2. b), § 9 II.
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hergestellt werden 177. Diese Entwicklung beschleunigt sich in der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit der zunehmenden Erosion autoritärer Strukturen. Das beginnt mit der Relativierung der Lehre von den besonderen Gewaltverhältnissen178, setzt sich fort in der egalisierenden rechtlichen Durchdringung des vormals paternalistisch geprägten Arzt-Patienten-Verhältnisses sowie der von Habermas beklagten (in dieser Hinsicht durchaus ambivalenten, weil normierenden) Kolonialisierung der Lebenswelt und endet - vorerst - beim Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Dessen diskursive Voraussetzungen wurzeln unter anderem in dem besprochenen Urteil. Gleiches gilt für die kasuistisch verfeinerte Rechtsprechung zum Einsichtsrecht des Patienten in seine Krankenunterlagen und zu den persönlichkeitsrechtlichen Grenzen, innerhalb derer persönliche Lebensäußerungen aufgezeichnet werden dürfen.
c) Zweiter Eigenwert: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht als sonstiges Recht im Sinne von § 8231 BGB Obwohl erstmals mit aller Deutlichkeit postuliert wurde, daß das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein sonstiges Recht i. S. v. § 823 I BGB sei, entzündete sich die Kritik an dieser Erweiterung der Vorschrift nicht an dieser Entscheidung179. Grund dafür mag gewesen sein, daß der sich in dieser Neuerung anbahnende grundlegende Bruch dadurch verdeckt wurde, daß der Kläger ganz reale, pekuniär problemlos bemeßbare materielle Schäden, seine Anwalts- und Prozeßkosten, geltend machte und außerdem die Klage schon dem Grunde nach abgewiesen wurde. Das Grundproblem, daß die bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts typischerweise auftretenden Schäden immaterieller Art sind, trat erst in der Herrenreiter-Entscheidung offen zutage180. d) Dritter Eigenwert: Die einzelfallbezogene Interessen - und Güterabwägung als Argumentationsmodus Von noch größerer Bedeutung ist die Art und Weise, in der die Interessenabwägung erfolgte. Erstmalig im Kontext des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wurde höchstinstanzlich jene später übliche Ausprägung dieses Begründungsmodus ausgearbeitet181. An der sich anschließenden Entwicklung kann man deutlich sehen, 177 s. o., § 91.2. d), § 9 n. 178 BVerfG 33, 1/11; 47,46/78 ff.; 58, 358/367. 179 Siehe die Urteilsbesprechung bei Neumann-Duesberg 1957: 1276 f.; Pohle 1957: 603. 180 BGHZ 26, 349; siehe dazu im Fortgang unter § 10 DI. 5. b). 181 Die erste ausgearbeitete Anwendung auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht erfolgte durch das Kammergericht am 3. 6. 1955, GRUR 1956, 47/48 = NJW 1956, 26/27; dies-
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wie eine nach den geltenden professionellen Kriterien fast fehlerhafte, d. h. unter großer kommunikativer Distanz entstandene Begründungsform durch beständige rekursive Bezugnahme zu einer standardgemäßen, weil eigenwertgesicherten Praxis werden kann. Die Grundregel, das hatten wir gesehen, sollte lauten, daß die Weitergabe ärztlicher Krankenunterlagen ohne oder gegen den Patientenwillen Schadensersatzansprüche nach § 823 I BGB auslöst. Wollte man, wie der VI. Senat, dieser regeiförmigen Grundnorm mit strikter Tatbestands-Rechtsfolgen-Verknüpfung im konkreten Fall aus Gerechtigkeitserwägungen nicht folgen, so mußte eine Ausnahme konstruiert werden. Es gab eine tradierte Argumentationsform, mit der dies möglich war. Über den engen Bereich des Ehrenschutzes hinausgehend hatten Gerichte § 193 StGB (Wahrnehmung berechtigter Interessen) im Zivilrecht, und zwar auch im persönlichkeitsrechtlichen Kontext für anwendbar erklärt 182. Auch im Rahmen von § 23 II KUG war immer wieder zu begründen gewesen, weshalb aufgrund entgegenstehender „berechtigter" Interessen eine an sich nach § 23 I KUG zulässige Abbildung unzulässig sein sollte 183 . Die Vorstellung der lnteressenjurisprudenz, das Gesetz sei eine „Kraftdiagonale ringender Interessen"184, hatte in unterschiedlichen Formen Eingang in die Praxis juristischen Begründens gefunden 185. Zum einen gab es eine Begründungsform, die auf der Ebene abstrakter Normauslegung verblieb. Man formulierte Argumente dafür, welche typische Interessenlage der Gesetzgeber mit einer bestimmten Norm bezüglich zust. u. a. Werhahn 1957: 35 f.; Nipperdey 1959/1957: D 16 f. Vorausgegangene Entscheidungen des BGH hatten die Interessen- und Güterabwägung als Argument genutzt (BGHZ 13,334/338 f. - Schachtbrief; 15, 249/261 f. - Cosima Wagner; 20, 345/350ff. Paul Dahlke), jedoch mit Ausnahme der letztzitierten Entscheidung, bei der die Abwägung aufgrund gesetzlicher Vorgabe (§ 23 II KUG) erfolgte, nicht ausgeführt; vgl. o., § 10 HI. 1. b), dort unter (3). Die zeitlich erste Anschlußentscheidung, die diesen Modus auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht bezogen wiederholt, stellt BGHZ 24,200/ 208 f. - Spätheimkehrer - dar. 182 So etwa KG JW 1928, 363/365 - Piscator; OLG Kiel JW 1930, 78/80 - Fam. Donner/ Amrie Delmar; KG UFITA 4, 1931, 319/322 ff.; RGZ 51, 369/376 ff.; 95, 339/342 f.; 115, 416/417 f. - Auskunftei; 125, 80/82 ff. - Tull Härder; LG München UFITA 20, 1955/ n, 230/233 ff.; BGHZ 3, 270/Ls., 280 f. - Constanze I; 8, 142/145 - Schwarze Listen; für eine solche Ausdehnung des § 193 StGB auch Hubmann 1957: 527. 183 RGZ 74, 308/311 f. - Graf Zeppelin; 125, 80/81 ff. - Tull Härder; KG JW 1928, 363 / 365 - Piscator, BGHZ 20, 345 / 350 ff. - Paul Dahlke. 184 Ellscheid 1974: 3. Bei Philipp Heck, einem der Hauptexponenten der lnteressenjurisprudenz heißt es: „Die Gesetze sind die Resultante der in jeder Rechtsgemeinschaft einander gegenübertretenden und um Anerkennung ringenden Interessen materieller, nationaler, religiöser und ethischer Richtung." (1932: 74). 185 Im wesentlichen ging es dabei um Abgrenzung gegenüber der als zu dezisionistisch empfundenen Freirechtsschule, der ein über die Begriffsjurisprudenz hinausweisender methodischer Standardrichterlichen „denkenden Gehorsams" entgegengesetzt werden sollte; vgl. Heck 1968/1932: 9 f., 105 f., 116 ff., 200 f.; Edelmann 1967: 90. Zur Entwicklung der Interessenjurisprudenz vgl. ebd.: 1ff., 53 ff., 82ff.; Hubmann 1956: 89 ff.); zu den zugrundeliegenden Entwicklungstendenzen der juristischen Methodenlehre Damm 1976; R. Schröder 1988.
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habe regeln wollen. In einem zweiten Schritt konnte man Argumente für eine neue (teleologische) Auslegung gewinnen, indem man veränderte Interessenlagen beschrieb und Wertungsgesichtspunkte postulierte186. Eine andere, im persönlichkeitsrechtlichen Diskurs unter Bezugnahme auf § 193 StGB und § 23 I I KUG tradierte Form war simpler und konkretistischer: Für den konkreten Fall wurden die rechtlich faßbaren Interessen der am Konflikt Beteiligten unter Einbezug öffentlicher Interessen benannt und gewichtet187. Diese Form war vordergründig nicht geeignet, das Rechtsverständnis im Hinblick auf zukünftige Entscheidungen zu gestalten, weil sie sich selbst als auf die Konstellation des entschiedenen Einzelfalls beschränkt auswies. So auch im vorliegenden Fall, in dem ganz konkret das ,»Interesse des Klägers an der Geheimhaltung der Unterlagen gegen das Interesse abgewogen" wurde, das andere Beteiligte, darunter der Beklagte, „daran hatten, Klarheit darüber zu gewinnen, was es mit den Unfällen des Klägers ( . . . ) in Wirklichkeit auf sich hatte" 188 . Im Unterschied zu den einzelfallbezogenen Abwägungen im Rahmen von § 193 StGB und § 23 I I KUG, die bei der Rechtswidrigkeitsprüfung erfolgten, wurden bei der in Rede stehenden Entscheidung allerdings Tatbestands- und Rechtswidrigkeitsebene nicht säuberlich geschieden. Die Regel-Ausnahme-Form (die Rechtswidrigkeitsvermutung eines regeiförmig beschriebenen Tatbestands wird ausnahmsweise durch Abwägung konkreter Interessen suspendiert) blieb nicht gewahrt. Vielmehr wurde - wohl in Anlehnung an die sich zu dieser Zeit noch in der Entwicklung befindliche verfassungsrechtliche Schrankensystematik - eine andere Konstruktion versucht: Die Frage, ob eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vorliege, wurde schon auf Tatbestandsebene aufgeworfen. Dies unter Abwägung der betroffenen Interessen verneinend, wurde konstatiert, daß die Frage der Rechtswidrigkeit nicht beantwortet werden müsse189. Mit diesem Ebenenwechsel, dies ist von zentraler Bedeutung, mußte sich die Argumentform der Interessenabwägung grundlegend wandeln190. Der Argumentationsmodus „Abwägung von Interessen" diente nicht mehr als eines von mehreren Argumenten und vornehmlich im Rahmen teleologischer Auslegung dazu, 186 Exemplarisch hierfürRGZ 113; 413/418 f. - 1 . Rundfunkurteil; BGHZ 2, 176/184 ff.; 17, 266/275 ff.; 20, 345/350 ff. - Paul Dahlke. 187 Vgl. etwa RGZ 51, 369/377 ff. (§ 193 StGB); KG JW 1928, 363/364 ff. - Piscator (§ 23 n KUG). iss BGHZ 24, 72/82. 189 BGHZ 24, 72/83. 19° Man kann den Ebenenwechsel gut an einem Aufsatz Hubmanns aus dem Jahre 1956 (dort S. 90-97) nachvollziehen, der übergangslos von der klassischen Vorstellung der lnteressenjurisprudenz, Normen seien Ausdruck einer Interessenbewertung, zur Interessenabwägung im Einzelfall überleitet. Reflektiert wird dieser qualitative Unterschied zwischen zwei verschiedenen Abwägungskonzepten erstaunlich selten; soweit ich sehen kann, nur bei Pawlowski 1987: 118 f. Von Caemmerer hat 1960 immerhin auf die besondere Bedeutung des Urteils „wegen der in ihm vorgenommenen Interessenabwägung" (1960: 110) hingewiesen. 21 Maitra
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den Gehalt einer Regel über den konkreten Fall hinausweisend für eine Vielzahl anderer Fälle festzulegen oder zu modifizieren 191. Vielmehr postulierte er nun zunächst nur für den konkreten Einzelfall eine Ausnahme von der Regelanwendung, transformierte „unter Beibehaltung des Vorrangs der Regel regelwidriges Verhalten aus dem Zustand des Verbotenen in den Zustand des Erlaubten" 192. Indem man in der persönlichkeitsrechtlichen Rechtsprechung dazu überging, häufiger und damit mit immer größerer Selbstverständlichkeit (also mit geringerer kommunikativer Distanz) den Tatbestands-Rechtsfolge-Automatismus der Regel durch eine Abwägung der Interessen im Einzelfall zu ersetzen, wurde dieser „Vorrang der Regel" zunehmend gefährdet. Die Regelsuspendierung schien auf Dauer gestellt. Aus einer Argumentform, einer „Methode" der teleologischen Regelauslegung, also der allmählichen, schrittweisen Modifizierung bestehender Regelkonstrukte, war zunächst eine solche ausnahmsweiser Regelsuspendierung und nunmehr eine regelmäßigen Regelersatzes geworden. In dieser Begründungsweise lag, gemessen an den bisherigen Standards korrekten Argumentierens, ein grundlegendes Problem. War sie richtig, dann war das allgemeine Persönlichkeitsrecht das erste absolute Recht i. S. v. § 823 I BGB, dessen Grenzen nicht im zeitlichen Vorgriff, d. h. in Regelform 193 gefaßt, festgelegt war 194 . Die stabilitätsverbürgende Regel-Ausnahme-Konstruktion eines rechtswidrigkeitsindizierenden (Erfolgsunrechts-)Tatbestands, dessen Vorgaben sich nur dann, wenn ausnahmsweise ein vordefinierter Rechtfertigungsgrund vorlag, suspendieren ließen, war aus den Angeln gehoben. Im Rahmen einer „Abwägung im Einzelfall" konnte man bei der Suche nach Argumenten ad hoc und komparativistisch im Nachhinein verfahren. An dieser Stelle, mit dieser scheinbar harmlosen Veränderung einer argumentativen Form erfolgte eine in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende Zeitumstellung 195. Dieser Argumentationsmodus dürfte sich nicht zuletzt auch deshalb in der Rechtsprechung der Zivilgerichte als Routine zweiter Ordnung196 etabliert haben, weil das Bundesverfassungsgericht seinerseits und v. a. im Rahmen von Urteilsverfassungsbeschwerden einen gleichläufigen Begründungsmodus praktizierte: die Güterabwägung zwischen den durch fachgerichtliche Entscheidungen in ihrer objektiv-rechtlichen Dimension betroffenen Grundrechten 197. s. o., § 3 H. 2. unter (2). 192
So eine Formulierung Luhmanns (1974a: 32), die sich allerdings nicht direkt auf Abwägungen, sondern allgemein auf das Phänomen tolerierter Abweichungen von strikten Regeln, bezeichnet als „parajuristische Normbildungen", bezieht; zur Regelsuspendierung durch Abwägung s. o., § 8 II. 3., bei Fn. 140. 193 Zur Temporalstruktur von Konditionalnormen s. o., § 1 I. 2. b), § 1 I. 3., § 7 IV. und Luhmann 1990b: 129; 1995a: 197. m
Dieser systematische und argumentative Bruch wird nachdrücklich in der Urteilsanmerkung von Neumann-Duesberg (1957b: 1276 f.) kritisiert; ähnl. Nipperdey 1959: D 16. 195 s.o., §7IV., §8 II. 1. e). 196 Zum Begriff s. o., § 81. 1. a) dd), § 81. 2. b). 197 Vgl. etwa die für das Verhältnis von Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit so grundlegende Lüth-Entscheidung vom 15. 1. 1958 (BVerfGE 7,198/210 f., 220).
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Bis heute dominiert die Auffassung, der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sei durch einzelfallbezogene Interessen- und Güterabwägung zu konkretisieren 198. An der daraus resultierenden Unbestimmtheit macht sich ein großer Teil der Kritik an dieser Rechtsfigur wie an der Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht fest 199 . Und in der Tat: wer sich allein der Kasuistik bedient, sich an regeiförmigen Obersätzen der Einzelentscheidungen dieser Rechtsprechung orientiert, wird wenig Anleitung für eine möglichst bestandsfeste Begründung einer Klage oder eines Urteils finden. Nicht für jeden Fall existiert eine veröffentlichte höchstrichterliche Vorrangrelation. Aber auch die Endwertung eines für paßgenau befundenen Parallelfalles eignet sich nur bedingt für Prognosen. Wie soll man voraussehen, welche besonderen Gesichtspunkte im Verlauf eines Prozesses entdeckt und für geeignet befunden werden könnten, als zu berücksichtigende Umstände des Einzelfalles die Wertungen der Entscheidungsbegründung im Parallelfall zu suspendieren?
e) Abwägung und Restabilisierung
durch Systembildung
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob im Kontext des allgemeinen Persönlichkeitsrechts systembildende Dogmatik stattfindet, ob sie überhaupt möglich ist oder ob die Rechtsentwicklung hier nicht auf die Ausbildung eines richterrechtlichen „reasoning from case-to-case" beschränkt bleibt. Es zeigt sich, daß schon frühzeitig Versuche unternommen wurden, die Rechtsprechung zu systematisieren und via Fallgruppenbildung abstrahierend typische 198 Umfangreiche Nachw. bei Larenz/Canaris 1994: 489, Fn. 20; Baston-Vogt 1997: 152, Fn. 3. Canaris zitiert an erster Stelle BGHZ 13, 334/338 - Schachtbrief; BGHZ 15, 249/ 261 - Cosima Wagner. Interessanterweise beriefen sich beide Entscheidungen zwar auf eine Interessenabwägung, doch fand eine solche gar nicht statt. In beiden Urteilen wurde umstandslos und apodiktisch ein Interesse als das vorzugswürdige benannt. Der Hinweis auf eine Interessenabwägung diente als rhetorische Formel, die zwar den Ableitungszusammenhang des Obersatzes unterstrich, aber vor allem - vorzeitigen Selbstbindungen vorbeugend (s. o., § 8 II. 3.) - signalisierte, daß in anderen, ähnlichen Fällen die Entscheidung anders ausfallen könnte. Des ungeachtet sind diese Begründungen ex post zu „starting points" (/. Esser) einer sich zunehmend verfestigenden Diskurstradition geworden. Sie wurden zu Nachweisen (Begründungsabbrüchen, s. o., § 5 III. 3.) dafür, daß es kunstgerechter juristischer Argumentation entspricht, persönlichkeitsrechtliche Ansprüche im Modus der Abwägung herzuleiten. 199 Vgl. nur Larenz/Canaris 1994: 493; w. Nachw. b. Baston-Vogt 1997: 153, Fn. 4. Unter diesem Aspekt ist von Interesse, daß sich die frühe persönlichkeitsrechtliche Rechtsprechung des BGH vor dem Hintergrund einer Methodendiskussion entwickelte, die unter den Stichworten Hermeneutik, Topik, Vorverständnis das dezisionistische Elementrichterlicher Entscheidungsfindung und Begründung betonte (vgl. hierzu Gottwald 1996: 165 ff.). Problematisch ist der Verzicht auf ein Indikationsverhältnis zwischen unrechtsvertypender, tatbestandlich gefaßter Verletzungshandlung und Rechtswidrigkeit auch deshalb, weil Darlegung- und Beweislast nicht dem sich aus der Gliederungsabfolge Tatbestand-Rechtswidrigkeit ergebenden, üblichen Regel-Ausnahme-Verhältnis folgen [Erman-Ehmann 2000: 36 (Anh. zu § 12, Rn. 72)]. 2 *
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Verletzungsformen zu bestimmen200. Systematisierungsversuche aus neuerer Zeit, die über reine Kasuistiken201 und die auch heute noch vertretene rechtsgutzentrierte Sphärentheorie 202 hinausgehen, machen deutlich, daß die Rechtsprechung auf dem Umweg über die Vielzahl ihrer Einzelfallentscheidungen mittelfristig generalisierbare regelförmige Strukturen ausbildet. Damit ist nicht nur ein Teil der juristischen Kritik an der Güter- und Interessenabwägung zumindest relativiert, sondern auch deren soziologische Reformulierung Luhmanns, soweit sie ausblendet, daß im Rechtssystem selbst immer wieder Regelbildungen erfolgen, deren Ausgangspunkte notwendigerweise einzelfallbezogene Abwägungsbegründungen sind. Vorstehend wurde immer wieder auf die Internalisierung von Interessen abgestellt. Genau an dieser Stelle setzen die genannten Systematisierungsversuche an: Canaris versucht, anhand der Rechtsprechung möglichst tatbestandsähnliche Schutzbereiche herauszuarbeiten, die geeignet sein sollen, das Rechtswidrigkeitsurteil zu indizieren 203. Das geschieht, indem nach strukturellen, verallgemeinerbaren Gemeinsamkeiten der von der Rechtsprechung zunächst für den Einzelfall erarbeiteten Vorrangrelationen gesucht wird. Ein so weitgehender Versuch der Dogmatisierung, der über die reine Fallgruppenbildung hinausgeht,findet zwangsläufig seine Grenzen in der dynamischen und ausufernden Kasuistik zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht 204. Vorsichtiger sind jene Versuche, die schon unterhalb der Ebene abgeschlossener Tatbestände ansetzen205. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, daß sie in einer Art 200 Siehe Bussmann 1957: 22 ff. Teilweise wurde gar nicht erst die Rechtsprechung abgewartet, sondern vorgreifend beschrieben, welche Verletzungsformen tatbestandlich als Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu qualifizieren seien; vgl. Hubmann 1953: 140 ff.; Bussmann 1957: 42 ff. 201 Beispielsweise beschränken sich viele Kommentierungen weitgehend auf eine einzelnen Problemgebieten zugeordnete Kasuistik; vgl. Palandt-Sprau 2006: 1242 ff. (§ 823, Rn. 94 ff.); Münchener Kommentar-Schwerdtner 1993: 181 ff. (§ 12, Rn. 186 ff.); RüßmannLuxenburger/J. Lange 2004: 1252 ff. (§ 823, Rn. 65 ff.); Soergel-Zeuner 1998: 61 ff. (§ 823, Rn. 70 ff). Bei letzterem ist allerdings von „Linien einer tatbestandlichen Konkretisierung" die Rede (ebd.: 65, Rn. 75). Den Kommentaren ist aber immerhin deutlich zu entnehmen, welche Interessen typischerweise zu berücksichtigen sind. Eine ähnliche Systematisierung findet sich bei Brüggemeier (1986a: 151 ff.), die auf die „für den fraglichen Bereich geltenden Verhaltensregeln" (ebd.: 154, Rn. 219) abstellt. 202 Vgl. nur Degenhart 1992: 363 f.; Heldrich 1998: 327 ff.; Arnauld 1996: 290 ff. m. w. N.; w. Nachw. und Kritik b. Baston-Vogt 1997: 180, Fn. 128; 191 ff. und Damm 1998b: 136. Die Auffassung, das Bundesverfassungsgericht habe diese Theorie verworfen (Pieroth/ Schlink 1995: 100 im Anschluß an BVerfGE 65, 1/41 f., 45; anders Pieroth/Schlink 2004: 88 f.), wird bestritten (Degenhart 1992: 363, Fn. 68; Baston-Vogt 1997: 188). 2 03 Canaris 1989: 169 ff.; Larenz/Canaris 1994: 498 ff.; vgl. auch Conans' Dikussionsbeitrag in Karlsruher Forum 1997: 58 f. Canaris grenzt sich durchaus von den gerichtlichen Begründungen ab, insbesondere durch die Aussage, eine Abwägung sei nicht erforderlich (ebd.: 500, 502, 504). Des ungeachtet läuft seine Arbeit letztlich darauf hinaus, durch abstrahierende Generalisierung der in der Rechtsprechung vorgefundenen Vorrangrelationen Tatbestände herauszuarbeiten. 204 Ähnlich skeptisch Baston-Vogt 1997: 156, Fn. 18.
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Zweiteilung Regel-Ausnahme-Verhältnisse konstruieren. Ihre Prämisse lautet, daß sich die (Einzelfall-)Rechtsprechung durch Fallgruppenbildung in einer Weise systematisieren läßt, die typische, das heißt durch die Rechtsprechung mehrfach und dauerhaft anerkannte persönlichkeitsrechtliche Interessen erkennen läßt. Nach diesen Konzeptionen sind in Begründungen zunächst die in dieser Weise mehr oder weniger stark tatbestandsähnlich ausgebildeten Eigenwerte abzuarbeiten. Abweichungen von den so begründbaren Ergebnissen lassen sich nur mit großen Begründungslasten, also größerer kommunikativer Distanz und geringerer Abnahmewahrscheinlichkeit206, rechtfertigen. Marion Baston-Vogts Modell lehnt sich an dem verfassungsrechtlichen Argumentationsmodus an, der zwischen Beeinträchtigung des Schutzbereichs, Eingriff in diesen und Schutzbereichverletzung unterscheidet, wobei letztere begrifflich das Rechtswidrigkeitsverdikt beinhaltet. Ob durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützte Interessen beeinträchtigt sind, ist danach auf der ersten Ebene zu erörtern; gegenläufige Interessen werden auf der zweiten Ebene der einzelfallbezogenen Güter- und Interessenabwägung O/V7 _ ^AO berücksichtigt . Ehmann differenziert weniger filigran , gelangt aber zu ähnlichen Ergebnissen. Sein Argumentationsmodell dürfte unter dem Primat stabilitätsverbürgender Regelbildung das tauglichere sein. Weil bei ihm die typischen persönlich geschützten und gegenläufigen Interessen auf erster Ebene festgestellt und bewertet werden 209, ist es besser möglich, eine durch ihre Typizität bestimmte „Vorwertung" (Ehmann) herauszuarbeiten, die dazu zwingt, Argumentationslasten abzuarbeiten und damit tatbestandsähnlichen Charakter erlangt. Wer in einer solcherart typisierbaren Sachverhaltskonstellation von der obergerichtlich praktizierten Grundwertung abweichen will, muß - auf einer zweiten Ebene - herausarbeiten und begründen, warum die konkreten Umstände des Einzelfalls eine andere Be205 Baston-Vogt 1997: 156 f., 207 ff.; Ehmann 1997: 194; 197 ff.; Erman-Ehmann 2000: 34 f., 53 ff. (Anh. zu § 12, Rn. 65 ff., 211 ff.); Erman-Ehmann 2004: 20 ff. (Anh. zu § 12, Rn. 1 ff.); ähnl. Münchener Kommentar-Rixecker 2001: 226, 236 ff. (Anh. zu § 12, Rn. 9, 30 ff.); zu den verschiedenen Ansätzen vgl. Damm 1998b: 137 ff. Daneben gibt es meist bereichsspezifisch zugeschnittene Versuche, die rechtlich internalisierten Interessen zu benennen, die im Rahmen einer Abwägung zu berücksichtigen sind, so z. B. bei Rehm 1999: 418 ff.; Ehmann 1988: 283 ff.; für eine solche Lösung plädiert auch Klippel 1987b: 18 f. 206 s. o., § 4 DC., § 5 m. 2.-4., § 6 HI. 207 Ergibt diese Abwägung (und die Antwort auf die Vorfrage, ob der Eingriff sozialadäquat sei) eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, so ist laut Baston-Vogt die Rechtswidrigkeit indiziert und lediglich das Vorliegen allgemeiner Rechtfertigungsgründe zu prüfen (1997: 154 ff., 165 f.); krit. Erman-Ehmann 2004: 21 f. (Anh. zu § 12, Rn. 8) m. w. N. 208 Ehmann [Erman-Ehmann 2000: 35 (Anh. zu § 12, Rn. 68)] knüpft seinerseits explizit an Stürners Versuch an, im Wege eines Kodifizierungsvorschlages die für den persönlichkeitsrechtlichen Individualschutz gegenüber Medienübergriffen entfalteten Abwägungskriterien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs wiederzugeben (Stürner 1990: A 67 ff.). Stürner selbst nimmt die Abwägung von Interessen und Gegeninteressen auf der Rechtswidrigkeitsebene vor. 209 Ähnlich verfahren Deutsch 1995: 110 f., Rn. 206 f.; Rehm 1999: 418; Hoppe 2001: 78 ff.; zust. Taupitz 1998: 595.
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wertung erzwingen. Man kann sich sowohl hinsichtlich der persönlichkeitsrechtlich geschützten als auch der gegenläufigen Interessen erst einmal damit befassen, was an dem konkreten Fall im Vergleich mit anderen, bereits entschiedenen Fällen typisch ist, nutzt also die mit „anerkannten"/„berechtigten", d.h. internalisierten Interessen verknüpfte TVpik, um die Annahme zu rechtfertigen, daß ein die Rechtswidrigkeit indizierender Regelfall vorliegt. Bei Baston-Vogt erfolgt die Berücksichtigung der Gegeninteressen auf gleicher Ebene wie die Beantwortung der Frage, was an dem konkreten Fall besonders, d. h. atypisch ist. Es wird also Typisches mit Atypischem vermengt, was eine indizierende Regelfallbildung erschwert. Unabhängig davon, welchem Modell man den Vorzug gibt, wird man konstatieren müssen, daß in Teilbereichen der Persönlichkeitsrechtsentwicklung, wie zum Beispiel der Fallgruppe entstellter Persönlichkeitsäußerungen210, die Begründungspraxis der Gerichte so starke Verfestigungen ergeben hat, daß Ansätze einer Dogmatisierung erkennbar sind. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, daß sie eine Form des Handlungsunrechts konzipieren. Obwohl oft von „Schutzbereichen" die Rede ist, knüpfen sie weniger an verletzten Persönlichkeitselementen, sondern an tatbestandlich beschreibbaren, also als Konditionalnorm faßbaren Formen beeinträchtigenden Handelns (Entstellung, Eindringen, Heimlichkeit, Ausnutzung zu kommerziellen Zwecken etc.) an und beziehen daraus ihre Präzison 211. Dies ist nicht verwunderlich. Schon frühzeitig wurde das Problem erkannt und beschrieben 212 : Eine Vielzahl sozial akzeptierter Handlungen beeinträchtigen persönlichkeitsrechtlich relevante Interessen. Anders als bei den ausdrücklich in § 823 I BGB genannten, sinnlich unmittelbar faßbaren Rechtsgütern und den regeiförmig fest umrissenen Rechten Eigentum und (Fortbewegungs-)Freiheit reicht der unspezifizierte Verletzungserfolg daher nicht aus, um ein Rechtswidrigkeitsverdikt zu indizieren. Für eine in Konditionalform faßbare Beschreibung rechtswidrigen Handelns bleibt daher wenig anderes übrig, als die Art des verletzenden Handelns zu beschreiben, von Erfolgs- auf Handlungsunrecht umzuschalten213. 210 Vgl. Erman-Ehmann 2000: 89 ff. (Anh. zu § 12, Rn. 421 ff.); stärker ausdifferenziert in Erman-Ehmann 2004: 24 ff. (Anh. zu § 12, Rn. 18 ff); Larenz/Canaris 1994: 449 f. (§ 80 II); Boston-Vogt 1997: 423 ff. 211 Canaris hat dies für die sich teilweise abzeichnende tatbestandliche Präzisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts beschrieben, vgl. Larenz/Canaris 1994: 519; ähnl. die Differenzierung Hans Forkels zwischen rechtsguts- und eingriffsformbezogener Rechtsausprägung (1985: 96 ff.); s. o., § 8 I. 2. b). 212 Vgl. nur Larenz 1955: 523 f.; Bussmann 1957: 66 ff. 213 Steindorffs Vorschlag, schutzbereichsbezogen einen abwägungsresistenten Kern uneinschränkbarer Persönlichkeitsrechtspositionen herauszuarbeiten (1983: 16 ff.; krit. Klippel 1987b: 19), ist, soweit ich sehen kann, nicht weiter aufgegriffen worden, vermutlich weü er bei der Beschreibung solcher Kernbereiche sehr vage bleibt und die ins Auge gefaßten Positionen tatbestandlich präzise allenfalls über den Umweg der typischen Verletzungshandlungen beschrieben werden können. Andere frühe Systematisierungen versuchen, die Fallgruppensystematisierung in einen übergeordneten Theorie- und Rechtfertigungszusammen-
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f) Destabilisierung
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durch Abwägungsbegründungen?
Seine die Überlegungen des Berufungsgerichts paraphrasierende und kommentierende Revisionsentscheidung beendete der BGH mit der Feststellung: „Diese Beurteilung (d. h. die Abwägung des Berufungsgerichts, D.M.) ist nicht zu beanstanden." Damit war klargestellt, daß die im Rahmen von § 823 I BGB erfolgende Abwägung persönlichkeitsrechtlicher mit gegenläufigen Interessen nicht innerhalb eines der revisionsgerichtlichen Überprüfung unzugänglichen, tatrichterlichen Beurteilungsspielraums stattfinden, sondern als Rechtsfrage sorgfältig begründet werden sollte214. Begründungslasten, das zeigt nicht zuletzt dieses Beispiel, entspringen keiner rein argumentationstheoretischen Modellüberlegung, sondern stellen ein soziologisch faßbares Phänomen dar 215 , auch und gerade für den Kontext des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Auch Unsicherheit kann einen stabilisierenden Effekt haben; stabilisierend in dem Sinne, daß die Akteure sich zu vorsichtigem Verhalten genötigt sehen und versuchen, möglichst alles zu berücksichtigen, was auf den Erfolg ihrer Intentionen eine Auswirkung haben könnte. Dazu können auch solche Interessen zählen, die in Literatur oder einzelnen Entscheidungen häufiger oder auch nur einmalig als rechtlich relevant anerkannt worden sind, also lange bevor sie sich zu verläßlichen Eigenwerten stabilisiert haben. Die Unsicherheit, wie die nächsthöhere Instanz entscheiden werde, legt Begründungsstrategien nahe, mit deren Hilfe man diese Unwägbarkeit minimieren zu können meint. Im Kontext von Abwägungsdiskursen bedeutet dies, den Nachweis zu versuchen, daß man alles berücksichtigt hat, was nach den professionstypischen kommunikativen Gemeinsamkeiten zu berücksichtigen war oder beriicksichtigenswert erscheinen konnte. Darin scheint mir der tiefere Sinn der so wenig konkret erscheinenden Formel, daß alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen seien, zu liegen. Mangels vollständiger Regelausdifferenzierung mögen Instanzgerichte teilweise keine andere Möglichkeit haben, als eine einzelfallbezogene Darstellung ihres Abwägungsvorganges zu wählen. Doch spätestens mit der hier besprochenen Entscheidung wurde deutlich gemacht, daß sie gut daran tun, ihre Entscheidung so zu begründen, daß zumindest all jene Interessenlagen berücksichtigt erscheinen, die bislang rechtlich internalisiert wurden; sei es durch die Rechtsprechung oder durch Normen, denen im juristischen Diskurs ein bestimmter Schutzzweck unterstellt wurde, die also bereits von Juristen als rechtlich relevant kommuniziert wurden. Es sind also keinesfalls alle, schon gar nicht alle beliebigen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, sondern vorrangig jene, die schon in vorangegangenen hang zu stellen (Schwerdtner 1976; Bussfeld 1978). Diese frühen Dogmatisierungsversuche bleiben notwendigerweise hinter den hier erörterten späteren, stärker um abstrahierende Typisierung bemühten Versuchen zurück. 214 Angesichts der in der Revision nur begrenzt überprüfbaren Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln (vgl. Stein/ Jonas-Grunsky 1994: 348 f., §§ 549, 550IV, Rn. 28 ff.; Wieczorek/Rössler/Schütze-Rössler 1988: 214 f., § 549 Rn. B m e) war dies nicht selbstverständlich. 215 s. o., § 5 m. 4.
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Begründungen als Wertungsgesichtspunkte benannt wurden 216. In aller Regel genießen dabei Interessen Präferenz, die durch den Gesetzestext oder daran anknüpfende Sekundärtexte bereits rechtlich internalisiert wurden 217. Mit unterschiedlichen Wertigkeiten spielt somit eine Rolle, was in amts- und landgerichtlichen Urteilen sowie letztinstanzlichen Entscheidungen, in Kommentaren, Urteilsanmerkungen, Monographien und anderen Abhandlungen einmalig, mehrfach oder gar dauerhaft als rechtliches Interesse proklamiert und deshalb bei Strafe professioneller Kritik nicht unberücksichtigt gelassen werden darf. Betrachtet man, was von der besprochenen Entscheidung auf lange Sicht verworfen wurde und was geblieben ist, wird noch deutlicher, in welcher Weise und in welchen Grenzen die Abwägung im Einzelfall etwas spezifisch anderes als ein grandioser Destabilisierungsfaktor unseres Rechtssystems ist. Die Abwägung als solche mußte höchst beliebig erscheinen, allein schon deshalb, weil dem beklagten Arzt hier ein das Geheimhaltungsinteresse des Klägers überwiegendes Interesse auf Aktenweitergabe zugesprochen wurde, obwohl er doch allenfalls Interessenwalter der Versicherung war, in deren Interesse die Weitergabe an den Rechtsanwalt des Unfallgegners kaum liegen konnte218. Auch das Argument, der Kläger hätte angesichts des Verdachts „als akademisch gebildeter Mensch" sich „selbst für verpflichtet halten müssen", der Aktenweitergabe zuzustimmen219, erscheint krude, macht es doch aus der Möglichkeit, ein Recht preiszugeben, eine Rechtspflicht. Diese Argumentation war nach geltenden juristischen Standards wenig zwingend und somit auch nicht ansatzweise in Form einer schwachen Wahrscheinlichkeitsannahme prognostizierbar. Niemand, das zeigt diese Begründung so gut wie fast jede andere Entscheidung, bei der auf die Abwägung einer einzelfallspezifischen Interessenkonstellation gepocht wird, kann also ausschließen, daß - u. U. erst in letzter Instanz - singuläre Interessen, an die zuvor niemand gedacht hatte, als fallentscheidend dargestellt werden. Insoweit verweisen die Kritiker dieses Begründungsmodus zu Recht auf dessen willkürlich erscheinenden Charakter und seine destabilisierenden oder, positiv formuliert, flexibilisierenden Effekte. Dies ändert nichts daran, daß sich das Risiko der Überraschung minimieren läßt, indem wenigstens die bislang internalisierten Interessen berücksichtigt, also zur 216
Ähnlich, soweit er im persönlichkeitsrechtlichen Kontext Abwägungen akzeptiert, Canaris, der darauf hinweist, daß „i. d. R. nur wenige immer wiederkehrende Kriterien in Form eines »beweglichen Systems4 relevant" seien (1989: 170 f.). 2,7
s. o., § 8 I. 2. d) cc). Einer der Väter des allgemeinen Persönlichkeitsrechts schrieb 1977: „Die Entscheidung darüber, ob ein Interesse schutzwürdig ist oder nicht, ist in erster Linie dem Gesetz zu entnehmen." (Hubmann 1977: 64) Ähnlich Rehm 1999: 418; vgl. auch Langenbucher zur Entwicklung von Richterrecht: „Die Entwicklung einer richterrechtlichen Regel erfordert die Ausarbeitung verallgemeinerungsfähiger Anwendungskriterien für zukünftige Fälle entlang den Vorgaben der Rechtsordnung." (1996: 48). 218 So bereits zutreffend Neumann-Duesberg 1957b: 1277. 219 BGHZ 24, 72 / 82.
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Reduktion von Komplexität verwendet werden. Hätte die Rechtsprechung die konkrete Vorrangrelation in Folgefällen durch wiederholende Bezugnahme in vollem Umfang bestätigt, so müßte man sich an den damit zu Eigenwerten geronnenen Kriterien orientieren. Dies aber ist nicht der Fall gewesen. Die regeiförmige Vorrangrelation lautete, daß keine rechtswidrige, zum Schadensersatz verpflichtende Persönlichkeitsrechtsverletzung vorliegt, wenn ein Arzt Krankenakten seines einer konkreten Straftat verdächtigen Patienten, die mutmaßlich nichts Peinliches über diesen enthalten, an Dritte weitergibt 220. Demgegenüber hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, grundsätzlich bestehe das persönlichkeitsrechtlich geschützte Geheimhaltungsrecht des Patienten unabhängig davon, ob die Krankenunterlagen „Krankheiten, Leiden oder Beschwerden verraten, deren Offenbarung den Betroffenen mit dem Verdacht einer Straftat belastet, ihm in anderer Hinsicht peinlich oder seiner sozialen Geltung abträglich ist" 221 . Zwar könnten überwiegende Gemeinwohlbelange dazu führen, daß das Geheimhaltungsinteresse des Patienten weichen müsse, doch lasse sich dies gerade nicht allein „mit dem Interesse an der Aufklärung von Straftaten rechtfertigen, die alleine dem Patienten (nicht zugleich dem Arzt, D.M.) zur Last gelegt werden" 222. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts zeigt zugleich, welche Teile der hier besprochenen Urteilsbegründung als Eigenwerte durch rekursive Bezugnahme in Rechtsprechung und Literatur stabilisiert und teilweise ausdifferenziert worden sind. Unbestritten ist heute der regeiförmige Grundsatz, daß ärztliche Krankenunterlagen Dritten nicht ohne oder gegen den Willen des Patienten ausgehändigt werden dürfen 223, und ferner, daß dieser Grundsatz nur ausnahmsweise gegenüber anderen Interessen zurücktritt 224. Selbst diese flexibilisierende Einschränkung der Regel schafft erhebliche Begründungslasten, die innerhalb des Instanzenzuges abgearbeitet werden müssen, wenn man an guten Abnahmechancen interessiert ist. Als zentralen Eigenwert wird man angesichts der andauernden, wenn auch teilweise heftig kritisierten Rechtsprechungspraxis die Einbettung der - einzelfallbezogenen - Abwägung der persönlichkeitsrechtlich geschützten mit den jeweilig gegenläufigen Interessen im Rahmen des § 823 I BGB betrachten müssen. Darin liegt keine Freigabe für beliebige Argumentation. Vielmehr werden Begründungslasten konstituiert. In die jeweilige Abwägung sind vorrangig bereits als Eigenwert internalisierte Interessen und Gewichtungsvermutungen einzubeziehen. Das Risiko, daß in einer der Folgeinstanzen erstmals neue Interessen einbezogen oder Bewertungen vorgenommen werden, dürfte sich deutlich, letztlich jedoch nur graduell von dem niemals prognostizierbaren Risiko der Rechtsfortbildung im Rahmen konventionellerer Argumentationsformen unterscheiden. 220 Vgl. BGHZ 24,72/80. 221 Beschluß v. 8. 3. 1972, BVerfGE 32, 373 / 380 - Krankenblattbeschlagnahme. 222 BVerfGE 32, 373/380 f. 223 Vgl. nur BGH NJW 1991, 1948; OLG Köln NJW 91, 753/754f.; BVerfGE 32, 373/ 379 f. 224 BVerfGE 32, 373/380 läßt nur „überwiegende Belange des Gemeinwohls" gelten.
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Halten wir also fest: Eine auf den Einzelfall zugeschnittene Abwägung mag im Zeitpunkt der Begründungsveröffentlichung recht beliebig oder gar willkürlich erscheinen. Mangels Nähe zu bestehenden Eigenwerten des Regeldiskurses oder großer kommunikativer Distanz zu diesen wirkt eine solche Begründung dann aus Sicht der juristischen Profession so wenig zwingend und so sehr auf den Einzelfall zugeschnitten, daß ihr die Prognosetauglichkeit für andere Fälle und möglicherweise sogar die juristische Qualität abgesprochen wird. Dennoch kann sie mittelfristig im Verbund mit weiteren bestätigenden Entscheidungen und zustimmenden Bezugnahmen in der Literatur tauglich werden, den Möglichkeitsraum dessen zu definieren, was im juristischen Diskurs gute Chancen hat, als Begründung abgenommen zu werden. Sie vermag der „normativen Leitung der Rechtsfindung" zu dienen225.
5. Herrenreiter Wenn es in der früheren bundesrepublikanischen Zivilrechtsgeschichte einen Bruch im Sinne maximaler kommunikativer Distanz gegeben hat, dann ist es die Herrenreiter-Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 14. Februar 1958 226 gewesen. Exemplarisch für die Vehemenz der nach dem Urteil einsetzenden Kritik 227 ist Werner Flumes Bemerkung auf dem Deutschen Juristentag 1966, er habe sich nach dieser Entscheidung überlegt, ob er nicht Anzeige wegen Rechtsbeugung erstatten solle 228 . a) Sachverhalt und Begründung Der Sachverhalt war ähnlich wie im Fall des Künstlers Paul Dahlke gelagert: Der Kläger machte Ersatzansprüche für einen Fall unkonsentierter Werbung mit einem Foto, auf dem er abgebildet war, geltend. Die besondere Note aus damaliger Sicht lag darin, daß es sich beim Kläger um einen seriösen Brauereibesitzer handelte, dessen Bild als Turnierreiter für das Werbeplakat eines Potenzmittels verwendet worden war. Unterschiedlich waren die Intentionen bei der Entstehung der Fotografie. Dahlke hatte seine Aufnahme im eigenen kommerziellen Interesse anfertigen lassen. Im Herrenreiter-Fall machte der Kläger dagegen geltend, er hätte einer kommerziellen Verwertung nicht zugestimmt229. 225 Findet sich in der Fach- und Kommentarliteratur nicht sogleich eine typische Fallkonstellation, für die sich in der obergerichtlichen Rechtsprechung tatbestandsförmige Differenzierungen abzeichnen, wird man sich also darum bemühen, die bislang rechtlich anerkannten und auf den Fall passenden Interessen zu finden. Mit den entsprechenden, rechtlich gesättigten Argumenten (Bargaining-Chips) kann man als Anwalt unter Umständen ganze Vergleichsverhandlungen bestreiten, ohne daß es tatbestandlich gefaßter Regeln bedürfte. 226 BGHZ 26, 349 = JZ 1958, 571 = NJW 1958, 827 m. Anm. Larenz. 227 Nachw. s. o., Fn. 145 f. 228 Pawlowski 1983: 2809.
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Während die Vorinstanz, wie der BGH im Fall Dahlke, dem Kläger Schadensersatz unter dem Gesichtspunkt entgangener Lizenzgebühren zugesprochen hatte, nahm der erste Zivilsenat des Bundesgerichtshofs den genannten Unterschied zum Anknüpfungspunkt für die Proklamation eines ganz neuen Ersatzanspruchs. Zwar wurde, wie im Falle Paul Dahlke, auf die Verletzung des Rechts am eigenen Bild (§ 22 KUG) abgestellt. Doch wurde nun in einer Art Parallelisierung von allgemeinem Persönlichkeitsrecht und dem Recht am eigenen Bild deutlich gemacht, daß Verletzungen beider Rechte unter Durchbrechung von § 253 BGB analog § 847 BGB zu einem grundrechtlich gerechtfertigten Ersatzanspruch führen, wenn dabei ein immaterieller Schaden entsteht230. Im wesentlichen wurden zwei Argumente bemüht: In Anknüpfung an vorangegangene Entscheidungen231 wurde die durch Artt. 1 I und 2 I GG garantierte Hochwertigkeit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts betont und daraus die Notwendigkeit abgeleitet, „Schutz gegen die der Verletzung wesenseigentümlichen Schäden zu gewähren" 232. Ein Schutz der vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht garantierten inneren Freiheit sei aber nur wirksam, wenn Freiheitsberaubungen ,4m Geistigen" ebenso wie die in der Regel einer Naturalrestitution gleichfalls unzugängliche körperliche Freiheitsberaubung in § 847 BGB einbezogen werde. Durch die Parallelisierung von allgemeinem Persönlichkeitsrecht und dem Recht am eigenen Bild wurde die Entscheidung von vornherein für solche Konstellationen anschlußfähig konstruiert, die nicht mit einer Verletzung eines besonderen Persönlichkeitsrechts einhergehen233.
b) Der Systembruch Man griffe viel zu kurz, sähe man die zentrale Neuerung einzig in der Zuerkennung eines Anspruchs, den es zuvor nicht gab. Hinsichtlich der Rechtsfolge und der Obersatzbildung war die Entscheidung wenig spektakulär. Ähnlich wie im Fall Dahlke lautete der zentrale, regeiförmige Obersatz, daß der Abgebildete bei nicht 229
Pikanterweise ist späteren Äußerungen seines Anwalts zu entnehmen, daß er mit der Klage ausschließlich kommerzielle Interessen verfolgt habe; vgl. Gottwald 1996: 234, Fn. 163 m. w. N. 230 BGHZ 26, 349/352 ff. Bereits zuvor hatte es in der Rechtsprechung des BGH Tendenzen gegeben, die vergleichsweise restriktive Reichsgerichtsrechtsprechung zu § 253 BGB ohne Bruch, allein durch Veränderungen des Schadensbegriffs aufzuweichen; vgl. Nörr 1960: 1 f.; Gottwald 1996: 205 f. m. w. N. 2
31 BGHZ 13, 334/338 - Schachtbrief; 24, 72 ff. - Krankenpapiere. Deren zentrale Aussagen wurden damit zugleich durch wiederholende Bezugnahme bestätigt und somit in Richtung auf bleibende Eigenwerte hin stabilisiert. 2 32 BGHZ 26, 349/355; vgl. ebd. S. 354 f. 23 3 In späteren Entscheidungen hat der BGH dann explizit darauf hingewiesen, daß § 22 KUG nicht den Rückgriff auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht versperrt (NJW 74, 1947 / 1948 - Nacktaufnahme; VersR 85, 391 / f - Nacktfoto; w. Nachw. b. Schwerdtner 1985: 523, Fn. 19) bzw. lediglich dessen Ausprägung darstellt (so zuletzt in NJW 2000, 2195 - Marlene Dietrich; NJW 2000, 2201 - Der blaue Engel).
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konsentierter Bildverwertung gegen den Verwertenden einen Anspruch auf finanzielle Kompensation hat. Der zugesprochene Betrag blieb der gleiche, den die Vorinstanz unter dem Gesichtspunkt entgangener Lizenzgebühren zugesprochen hatte. Entscheidend war die Begründung. Das noch im Paul-Dahlke-Fall bestätigte, eherne Dogma, ein Geldersatzanspruch für Nichtvermögensschäden scheitere am Enumerationsprinzip des § 253 BGB 2 3 4 , wurde aufgegeben. Darin nun lag erkennbar ein radikaler Bruch mit der bis dahin hegemonialen Diskurstradition des deutschen Schadensersatzrechts, wonach Ersatzansprüche für immaterielle Schädigungen grundsätzlich abgelehnt wurden 235. Das tradierte System fest umrissener Deliktstatbestände diente, von wenigen, gesetzlich festgeschriebenen Ausnahmen abgesehen, ausschließlich dem Schutz vermögenswerter Güter bzw. Rechte236. Gemeinsam war diesen (Leben, Körper, Gesundheit, Fortbewegungsfreiheit), daß infolge ihrer sinnlich unmittelbar faßbaren Materialität bereits ihre Verletzung Tatbestand genug war, um für den Regelfall Rechtswidrigkeit zu unterstellen237 und daß sich ihr Wert in aller Regel nach ökonomischen Kriterien beziffern ließ. Die Aufnahme personaler Aspekte war daher in zweifacher Hinsicht ein Systembruch: Aufgenommen wurde ein Recht, das als solches nicht für eine Vielfalt von Fällen generalisierend, sondern konkretistisch erst rechtlich durch inhaltliche Bewer234 BGHZ 20, 345 / 352 f. 235 Genaugenommen bestand diese spätestens seit Abschaffung der actio injuriarum aestimatoria im Jahre 1879; vgl. hierzu Scheyhing 1960: 505 ff.; Bussfeld 1978: 9 f.; E. Kaufmann 1963: 423 ff. Zur Entstehungsgeschichte des traditionellen Verständnisses, die §§ 823 ff. BGB als einen numerus clausus von unrechtsvertypenden Haftungstatbeständen zu interpretieren, vgl. Börgers 1993: 52 ff. Stürner beschreibt diese Haltung zutreffend als Fortschreibung einer vom deutschen Idealismus geprägten Abneigung, „ideelle Rechtsgüter in Gold aufzuwiegen" (1998a: 6). Zur idealistischen Prägung des persönlichkeitsrechtlichen Diskurses s. o., § 10 II. 1.; zur dort gebräuchlichen Dichotomie von Verwertungsinteressen versus ideeller Integritätsinteressen s. o., § 10 II. 3. Beide Seiten, Befürworter wie Gegner eines Ersatzanspruchs für immaterielle Schäden, nutzten das im persönlichkeitsrechtlichen Diskurs tradierte Motiv der Hochwertigkeit ideeller Interessen. Die einen, um eine staatliches Handeln erzwingende Schutzbedürftigkeit zu begründen, die anderen, um die Anrüchigkeit solchen Schutzes darzulegen. Der BGH versuchte sich in einem Mittelweg. Zwar wurden Verletzungen ideeller Interessen pekuniärer Kompensation zugänglich gemacht. Aber durch Zuweisung unterschiedlicher Anspruchsgrundlagen wurde die Trennung von ideellen und kommerziellen Interessen fortgeschrieben; vgl. hierzu BGHZ 30, 7/17 f. - Caterina Valente/Kukident. 236 Vgl. Scheyhing 1960: 507; s. o., § 10 Iü. 4. d). 237 Ich hatte diesen Aspekt bereits in der Analyse der Krankenpapier-Entscheidung (BGHZ 24, 72) angesprochen, dort allerdings unter dem Gesichtspunkt, wie sich die Veränderung der Interessenabwägung zu einer regelersetzenden Argumentform als Systembruch auswirkte; vgl. § 10 HI. 4. d). Systematisch war darin und in der damit einhergehenden Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als „sonstiges Recht" i. S. v. 823 I BGB der entscheidende Bruch angelegt. Nur wurde dies im Falle der Krankenpapier-Entscheidung eben nicht in gleicher Schärfe erkannt, wie bei der Herrenreiterentscheidung; s. o., § 10 in. 4. c).
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tung, was aus der Sphäre des Privaten schützenswert sei, zu konstituieren war. Damit wurde das rechtsgutsbezogene Gefüge einfacher, hochabstrakter und doch präzis-anschaulicher Tatbestandsbildung gesprengt, ein auf Erfolgsunrecht beruhendes System, das Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit verbürgte 238. Solange nur Verletzungen von Vermögenswerten Rechtsgütern oder Rechten kompensiert werden konnten, mußte die Logik eines auf Garantie des formalisierbaren Warenaustauschs ausgerichteten Schuldrechtssystems239 nicht durch wertungsmäßige Einbrüche aus der privaten Lebenssphäre der Privatrechtssubjekte gebrochen werden. Die Wertungskriterien für die Bemessung von Schadensersatzansprüchen ließen sich ohne Probleme an die Preisbildungsmechanismen des Marktes delegieren. Nun waren immaterielle Schädigungen zu bewerten und damit tauchte schon bei der Frage, ob überhaupt eine sanktionswürdige Verletzung gegeben sei, das Problem des Bewertungsmaßstabes auf. Wie sollte man etwas in unverdächtiger pekuniärer Formalität bewerten, dessen Wert durch Marktmechanismen nicht bewertet wurde oder diesen doch per se entzogen bleiben sollte? Die vehement ablehnenden Reaktionen auf das Urteil werden angesichts dieser Systembrüche wesentlich verständlicher. Nicht umsonst lief die oben angeführte Äußerung Flumes auf das Verdikt hinaus, das Urteil sei von einem offenen Rechtsbruch nicht oder doch kaum zu unterscheiden. Bereits mehrfach wurde darauf hingewiesen: Innerhalb eines Diskurses muß man „im Wahren" bleiben240. c) Systembruch und Destabilisierung Bis in die jüngste Zeit hinein ist immer wieder betont worden, daß das gleiche Ergebnis in erheblich konventionelleren Bahnen juristischer Dogmatik (also mit geringerer kommunikativer Distanz zu etablierten Eigenwerten) als Ersatz entgangener Lizenzgebühren oder bereicherungsrechtlicher Anspruch hätte erzielt werden können241. Dies wirft die Frage auf, warum der BGH eine so erhebliche 238 Exemplarisch für die Kritik am Systembruch Lorenz 1955: 523 f.; Nörr 1960: 10; vgl. auch Nipperdey 1959/1957: D 13. Zum Problem s. o., § 8 I. 2. d) aa), § 10 III. 4. e). Zur Kritik an der Konzeption des Systems vgl. v. Caemmerer 1960: 115 ff., bes. 127 ff.; Brüggemeier 1986b: 975 ff. 239 Zur primär vermögensbezogenen und personenrechtlich vergleichsweise enthaltsamen Ausrichtung des deutschen Schuldrechts vgl. Esser/Schmidt 1995:14 ff., 25 f. (§ 1 m. u. V.). 240 vgl. Foucault 1991: 13 ff., bes. 24; s. o., § 4 I X . 241 Schwerdtner 1985: 523 f.; Klippel 1987b: 35 f.; Degenhart 1997: 203; Gottwald 1996: 208 f., 253; Helle 1996: 464 ff.; Canaris 1999: 89 ff.; Seitz 1996: 2850; Ulimann 1999; zur Darstellung des Streitstandes vgl. Gotting 1995 52 ff.; vgl. auch BGH NJW 1979, 2205/ 2206 - Fußballtor - sowie Magold 1994: 445 ff.; abl. mit gleicher Argumentation wie BGHZ 26, 349/353 f. Gounalakis 1998: 18 f.; Steffen 1997: 13 f.; zur zeitgenössischen Diskussion vgl. Bötticher 1960: 402 ff. Als weitere Variante wird die Anwendung von § 687 I I BGB erwogen; vgl. v. Caemmerer 1967: 40; Mertens 1962: 268 f.; Prien 1985: 175 ff.; Schlechtriem 1995: 364; Schwerdtner 1997: 41 f.; Taupitz 2002: 45 f.; Beuthien 2003: 1221 f.; ablehnend Gounalakis 1998: 19; Canaris 1999: 86.
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kommunikative Distanzriskierte. Gottwald, der dies im Detail zu klären versucht hat, hat die These aufgestellt, es habe sich um ein zufalliges Zusammenspiel zwischen der damals neuen Rechtsprechung des Großen Senats für Zivilsachen zur Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes242 und Billigkeitserwägungen gehandelt 243 . Deren Ursache sieht er in dem sendungsbewußten Selbstbewußtsein des I. Zivilsenats und seines Vorsitzenden, Hermann Weinkauff. Vor dem Hintergrund der Gesetzgebungsdiskussion zum Schmerzensgeld für Persönlichkeitsrechtsverletzungen sowie sich wandelnder Anschauungen zur Kommerzialisierbarkeit von Ehrverletzungen hätten die Richter, geleitet von naturrechtlichen Erwägungen, den personalen Höchstwert der Würde des Individuums betonen wollen. Auf dieser Matrix mußte die Überlegung zwingend erscheinen, man könne eine unkonsentierte Persönlichkeitskommerzialisierung nicht mittels einer Anspruchsgrundlage kompensieren, die von ihrer Anlage her auf finanziellen Ausgleich zielt und den Geschädigten so stellt, als habe ein von kommerziellen Interessen geleitetes Einverständnis von vornherein vorgelegen244. Eine andere Wertung hätte den BGH in Widerspruch zu dem die individuelle Menschenwürde betonenden Pathos der vorangegangenen Entscheidungen zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht gesetzt. Weiter als Gottwald, der bis hin zu schichtentheoretisch geleiteten Überlegungen zur Herkunft der Bundesrichter das der Entscheidung zugrundeliegende Ursachengeflecht zu ergründen versucht, wird man angesichts des zeitlichen Abstands kaum gelangen. Seine Analyse bietet einen guten Beleg für den Anteil, den emotional gesättigte Präferenzen der Entscheider bei Brüchen mit dem hegemonialen professionellen Diskurs haben245. Bemerkenswert erscheint mir die in diesem Zusammenhang nicht nur in zeitgenössischen Urteilsrezensionen häufige Referenz an Affekte, etwa den „Mut", den die Richter bei ihrer Entscheidung bewiesen bzw. nicht bewiesen hätten246. Bei Hubmann ist von einem „kühnen Schritt" die Rede 247 , bei Steffen vom „leidenschaftlichen Engagement der Richter" und davon, daß „die Enge des Enumerationsprinzips für die Schmerzensgeldberechtigung beim Richter Auflehnung (provoziere), und zwar nicht nur deshalb, weil ihn die Ängste des Gesetzgebers vor richterlicher Zügellosigkeit empören" 248 . Seitz spricht im Zusammenhang mit den Soraya-Entscheidungen von BGH und Bundesverfassungsgericht sowie den neueren Caroline-Entscheidungen ebenfalls von „Mut zur Verteidigung der Gerechtigkeit"249 und Gounalakis von „Empörung und unartikuliertes Rechtsgefühl beflügelnde(r) Kreativität von Bun2« Urt. v. 6. 7. 1955, BGHZ 18, 149/154 ff. = NJW 1955,1675. 243 Gottwald 1996: 209 ff. 244 V g l . BGHZ 26, 349/353; ebenso noch jüngst Gounalakis 1998: 18 f.; Steffen 1997: 13 f.; krit. Ulimann 1999: 212 f.; Magold 1994: 438 ff.; Beuthien/Schmölz 1999: 3 ff. 245 s . o . , § 8 1 . l . a ) d d ) , § 9 1 . 3 .
246 Vgl. Reinhardt in: E. Schulze 1979 (BGHZ Nr. 43, S. 22); Bötticher 1960: 401. 247 Hubmann 1962: 122. 248 Steffen 1997: 10. 249 Seitz 1996: 2849 f.
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desrichtern" 250. Damit möchte ich die Frage nach dem Warum der Begründung auf sich beruhen lassen. Viel entscheidender ist in unserem Zusammenhang, was von diesen möglicherweise zufällig 251 entstandenen, neuartigen Begründungsteilen des Urteils geblieben ist, was verstetigt, stabilisiert und was ausdifferenziert wurde. Die mit Brüchen einhergehende Destabilisierung des Rechts ist mehrfach angesprochen worden 252. Man ist verunsichert: Setzt sich die darin liegende, als grundlegend wahrgenommene Änderung einer bestimmten Begründungskonvention durch, kennzeichnet sie eine Gesamttendenz oder bleibt sie eine singuläre Ausnahme?253 Was mögen die sich daraus ergebenden Konsequenzen für den dogmatischen Zusammenhang der umgebenden Regelungsgeflechte sein? Dies alles ist nach einer solchen Entscheidungsbegründung unklar und sorgt für Unsicherheit, wie zukünftig entschieden werden wird, wie die Abnahmechancen für neue und alte Begründungen aussehen, was in näherer Zukunft vertretbar, kurzum: wie die Rechtslage ist 254 . Im konkreten Falle stellten sich vor allem folgende Fragen: Was waren die genauen Voraussetzungen eines Ersatzanspruchs für einen immateriellen Schaden, wie sah dieser überhaupt aus?255 Sollte der Anspruch nur für Verletzungen des Rechts am eigenen Bilde oder auch darüber hinaus gelten?256 Mußte nun damit gerechnet werden, daß der BGH zukünftig weitere Durchbrechungen des § 253 BGB schaffen würde und dessen Enumerationsprinzip auch für andere Ansprüche zur Disposition gestellt würde 257? Die sich aus dem skizzierten Systembruch ergebenden 250 Gounalakis 1998: 10. 251 „Zufällig" bedeutet hier nicht schicksalhaft. Gemeint ist jener Anteil des Geschehens, der mit soziologischen Kategorien nicht abschließend beschrieben, sondern nur individuell zugeschrieben werden kann. 252 § 6 HI., § 81.1. a) aa). 253 Frühzeitig wurde reflektiert, daß die sich aus der Rechtsprechung ergebenden Konsequenzen grundlegender Natur seien, weil argumentative Kategorien wie die der Sozialadäquanz oder der Interessenabwägung und die damit verbundene teilweise Abkehr vom Erfolgsunrecht auf eine generalklauselartige Zentralnorm hinauslaufen würden, vgl. v. Caemmerer 1960: 107,112; Larenz 1962; Reinhardt 1961. 254 in seiner Urteüsanmerkung prognostizierte Karl Larenz, „daß eine erhebliche Rechtsunsicherheit" Platz greifen werde, da gar nicht abzusehen sei, „ob und in welchem Umfang die unteren Gerichte dem BGH auf seinen neuen Wegen folgen" würden (1958: 829). Die Gefährdung der Rechtssicherheit wurde in der Folge zu einem Zentralargument gegen die persönlichkeitsrechtliche Rechtsprechung des BGH; vgl. Löffler 1962a: 251 f.; 1962b: 227; 1962d: 283; Schultz 1962: 957; Hartmann 1964: 796 f., 799; Bötticher 1960: 401. 255 Vgl. Larenz 1958: 829; Bötticher 1960: 401; Reinhardt in: E. Schulze 1979 (BGHZ Nr. 43, S. 19 f.). 256 Pawlowski hat darauf hingewiesen, daß § 35 KUG bis 1974 an Verletzungen des Rechts am eigenen Büde finanzielle Sanktionen knüpfte, so daß sich die Entscheidung durchaus dahingehend interpretieren ließ, daß Ansprüche dieser Art mit Hilfe des allgemeinen Persönlichkeitsrechts über das KUG hinaus ausgedehnt werden sollten (1987: 128, Fn. 29). 257 Teilweise wurde gefordert, § 847 BGB a. F. auf alle „durch § 823 I geschützten Persönlichkeitsgüter zu erstrecken" (v. Caemmerer 1960: 108 m. w. N.).
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Destabilisierungseffekte waren so gravierend, daß man das Urteil hinsichtlich dieses Teils seiner Begründung jener dritten Kategorie zuordnen muß, die durch große kommunikative Distanz zu den bestehenden rechtsspezifischen Eigenwerten gekennzeichnet ist 258 .
d) Restabilisierungsversuche durch Rekurs auf kommunikative Vergangenheiten Scharfe Brüche begründen stets eine emotionalisierte, aber produktive Unruhe. Letztlich zielen dabei die Bemühungen aller auf Rückgewinnung von möglichst viel Sicherheit, Stabilität, Redundanz. Die Urheber des Ärgers und ihre Unterstützer bemühen sich um den Nachweis, daß die Begründung regelgerecht erfolgte, sich also weitgehend in das bestehende, eigenwertgesättigte Regelgeflecht einordnen läßt. Ihre Kritiker geißeln in aller Schärfe den Bruch und seine Inkonsistenzen, weisen auf seine verheerenden Konsequenzen hin, erwägen Alternativmöglichkeiten und fordern damit die möglichst weitgehende Rückkehr auf den Pfad dogmatischer Tugend, also geringere kommunikative Distanz ein 259 . Man muß sich in diesem Zusammenhang zunächst vergegenwärtigen, daß kein Bruch so radikal ist, als daß er sich nicht doch in gewissem Ausmaß gemeinsamer kommunikativer Vergangenheiten bediente. Mindestens drei Ansätze weist die Entscheidungsbegründung auf: (1) Explizit 260 nahm der I. Senat Bezug auf die grundlegende Entscheidung des großen Senats für Zivilsachen zur Rechtsnatur des Schmerzensgeldes von 1955. Dieser hatte postuliert, immaterielle Schäden beträfen nicht „in Geld meßbare Güter", mit der Folge, daß die Schmerzensgeldleistung mit Blick auf „eine gewisse durch den Schadensfall hervorgerufene persönliche Beziehung zwischen Schädiger und Geschädigtem" unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles bemessen werden müsse261. (2) Der BGH hatte die Differenz zwischen bereicherungs- bzw. lizenzrechtlicher Kompensation zugänglicher materieller Schädigung und Schmerzensgeldansprüche auslösendem immateriellem Schaden262 an das Kriterium geknüpft, ob der 258 S.o., § 1 0 1 . 1 . , § 6 1 . 4 .
259 Beispielsweise wollte Christian v. Bar mit seinem Verkehrspflichtenkonzept den Versuch unternehmen, u. a. die persönlichkeitsrechtlich abgeleiteten Ergebnisse der Rechtsprechung „mit dem geringsten dogmatischen Bruch" (1980: 145) über Abs. 2 statt über Abs. 1 des § 823 BGB herzuleiten. Zu Redogmatisierungstendenzen infolge der Rechtsprechungsentwicklung zu § 823 I BGB vgl. Börgers 1993: 25 ff. Ein gutes Beispiel für den Versuch, die kommunikative Distanz gering zu halten, findet sich bei Neumann-Duesberg, der vorschlägt, § 253 BGB in Fällen, „die dem § 847 BGB interessegleich gelagert sind", restriktiv auszulegen, statt sich auf die Grundsatzfrage der Verfassungswidrigkeit einzulassen (1960: 367). 260 BGHZ 26, 349/358. 261 BGHZ 18, 149/156 f. 262 Die in BGHZ 20, 353/352 ff. - Paul Dahlke - ausgearbeitete Differenzierung wurde als solche beibehalten, mit dem Unterschied, daß auch für immaterielle Schäden ein Ersatz-
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Geschädigte sein Interesse durch vorherige Verwertungsentscheidung zur Güterqualität präformiert hatte 2 6 3 . Aber auch für immaterielle Schäden mußte eine Möglichkeit geschaffen werden, eine tatbestandsähnliche Präzisierung des rechtlich geschützten Raumes herzustellen, um überhaupt einen rechtswidrigen Eingriff konstatieren zu können - zur Not durch einzelfallspezifische Ad-hoc-Begründungen, wie sie der Begründungsmodus der Abwägung erlaubte. Bereits das Reichsgericht hatte beim Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb entscheidend darauf abgestellt, ob der Wille des Gewerbetreibenden im Betrieb selbst eine für andere erkennbare gegenständliche Verkörperung gefunden hatte 2 6 4 . In ähnlicher Weise und parallel zur Argumentation in neueren Urteilen 2 6 5 zu diesem ebenfalls von § 823 I BGB umfaßten Recht versuchte nun der B G H in der persönlichkeitsrechtlichen Rechtsprechung verstärkt, durch Interessenabwägung einen für andere erkennbaren, freier Selbstbestimmung unterworfenen Raum zu konzipieren Dabei wurde nicht allein an die eigene Rechtsprechung angeknüpft. Auch in der juristischen Literatur war frühzeitig erörtert worden, wie man das allgemeine Persönlichkeitsrecht angesichts seiner generalklauselartigen Weite in handhabbarer Weise verdichten könne. Verschiedene Begründungsmöglichkeiten, die bereits in ansprach zugesprochen wurde (vgl. BGHZ 26, 349/353 f., 357 f. - Herrenreiter; BGHZ 35, 363/366 ff. - Ginseng). Durch die Folgerechtsprechung (BGHZ 44, 372/374 f. - MeßmerTee H; BGHZ 81, 75/82 - Carrera; BGH NJW 1979, 2205/2206 - Fußballtor; OLG Stuttgart NJW 1983, 1203 f. - Nacktfoto) ist diese Differenzierung zu einem - kritisierten (vgl. nur Magold 1994: 438 ff.; Ulimann 1999: 212 ff.; Beuthien/Schmölz 1999: 41 ff.) - Eigenwert geworden, an dem auch das BVerfG (NJW 2000, 1021/Ls. 2, 1023 - Caroline v. Monaco) festhält. Da das allgemeine Persönlichkeitsrecht von der Novellierung des § 249 BGB nicht berührt wurde, wird sich dies voraussichtlich nicht ändern. 263 Vgl. Bötticher 1960: 403 ff.; Magold 1994: 426 ff.; Helle 1996: 465 f.; Gotting 1995: 50 ff. 264 RGZ58,24/29f.-Juteplüsch. 265 BGHZ 3, 270/280 ff. - Constanze I; BGH GRUR 1953, 130/131. Dies war eine Zeitgenossen durchaus geläufige Parallele; vgl. Bussmann 1957: 69; Hubmann 1957: 527. Bereits in seiner Anmerkung zum Constanze-Urteil hatte Kleine bezüglich der darin ausgesprochenen Ausweitung formuliert, diese sei „sehr zu begrüßen, weil sie mir erkennen zu geben scheint, daß der BGH ein allgemeines Persönlichkeitsrecht, das durch § 823 I geschützt wird, anerkennen will" (1952: 230). 266 Vgl. Ehmann 1988: 250 ff. Die Rechtsprechung versuchte, einen vergegenständlichten persönlichkeitsrechtlichen Bereich zu bestimmen, indem auf eine Materialisierung in Bildern, Texten, Worten und räumlich-territorialen Kategorien abgestellt wurde; vgl. Funk 1994: 569 f. Das Kriterium ist in der Folge durch die beständige Bestätigung durch BGH und Instanzgerichte (Nachw. bei Gotting 1995: 51, Fn. 189) zu einem stabilen Eigenwert geronnen. Von diesem Merkmal abgesehen, haben Versuche, in Analogie zu den klassischen Rechtsgütern des § 823 I BGB über eine tendenziell auch sinnlich faßbare Vergegenständlichung des geschützten Rechtsguts Rechtssicherheit herzustellen, letztlich wohl nicht zum Erfolg geführt (krit. zu dieser quasi-territorialen, am Modell Eigentum ausgerichteten Konzeption des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Damm 1998b: 133 ff.). Soweit sich Tatbestandsbildungen durchgesetzt haben, basieren diese auf einer Typisierung der Verletzungshandlung; vgl. hierzu oben, § 81. 2. d) aa). 22 Maitra
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anderen Rechtsbereichen Anwendung gefunden hatten, wurden auf ihre Vereinbarkeit mit den bestehenden Regelverständnissen abgeklopft. Bereits frühzeitig hatte Larenz die zunächst im Kontext des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb entfaltete Lehre der Sozialadäquanz Nipperdeys 267, wonach sich der Unrechtsgehalt einer Handlung generell aus ihrer Beziehung „zur allgemeinen Ordnung des menschlichen Zusammenlebens"268 bestimme, auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht bezogen erörtert - und abgelehnt269. Besonderen Anklang wie Widerspruch fand die vor allem von Heinrich Hubmann in seiner Monographie zum Persönlichkeitsrecht präferierte Argumentationsform der Interessenabwägung 270 . Der vom BGH genutzte Begründungsmodus lag also keineswegs völlig außerhalb dessen, was die Breite des zeitgenössischen juristischen Diskurses inklusive minoritärer Traditionslinien als juristische Argumentation zuließ 271 . (3) Noch in anderer Hinsicht versuchte der BGH die durch seinen Systembruch entstandene kommunikative Distanz unter Rückgriff auf im juristischen Diskurs vertretene Argumentationsmuster, d. h. gemeinsame kommunikative Vergangenheiten einzuholen. Insbesondere wurde das in der Persönlichkeitsrechtsrechtsprechung bereits tradierte 272 verfassungsrechtliche Argument bemüht. In zweierlei Hinsicht wurden damit gängige juristische Argumentationskonventionen bedient: Mit einem ersten Teilargument wurde die Höhererrangigkeit von Verfassungsrecht betont, das einfachgesetzliche Normen wie die Sperrklausel des § 253 BGB zu suspendieren in der Lage sei. Das zweite Teilargument postulierte eine die richterliche Rechtsfortbildung rechtfertigende Gesetzeslücke: Der sich aus der hohen Schutzwürdigkeit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ergebende Sanktionsbedarf habe bei Erlaß des BGB nicht bestanden, sondern ergebe sich erst aus den grundlegenden Werten der neuen Verfassung. Die dem zugrundeliegende Prämisse, daß es sich beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht um ein durch Artt. 1 I, 2 I GG
267 Nipperdey 1953: 39f.; vgl. mcYiNipperdey 1959/1957: D14ff.,bes. D16; s. o., Fn. 130. 268 Nipperdey 1953: 39. 269 Larenz 1955: 522 f.; ebenso Bussmann 1957: D67 ff., differenzierend Hubmann 1957: 523 f. Larenz' Einwand, er denaturiere das Recht durch seine Bezugnahme auf soziale Werturteile (1955: 523), lief auf den Vorwurf hinaus, sich an außeiTechtlichen, das heißt nicht durch rechtsspezifische Eigenwerte gesicherten Präferenzen zu orientieren. Damit war sowohl die spezifische Qualität wie auch der aus Sicht der Profession entscheidende Nachteil des durch diese Begründungsform geprägten allgemeinen Persönlichkeitsrechts thematisiert. 270 Hubmann 1953: 131 ff.; ders. 1957: 523, 526; vgl. Reinhardt 1954: 549, 552 ff.; Bussmann 1957: D66 ff., bes. D69; Nipperdey 1959/1957: D 14 ff.; ablehnend z. B. Larenz 1955: 522 ff.; Nörr 1960: 10 f. 271 Vgl. auch oben § 10 m. 4. c). 272 Vgl. BGHZ 13, 334/338 - Schachtbrief; BGHZ 15, 249/257 f. - Cosima Wagner; 26, 349/354 - Herrenreiter. Man darf nicht vergessen, daß der VI. Senat knapp zehn Monate zuvor mit ganz ähnlicher Begründung und in Auseinandersetzung mit Gegenstimmen aus der Rechtswissenschaft die Möglichkeit bejaht hatte, bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts den Ersatz materieller Schäden aus § 823 I BGB zu verlangen; BGHZ 24, 72 - Krankenpapiere/ Versicherungsakten; s. o., § 10 III. 4. c).
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geschütztes Grundrecht handele, hatte sich zur Zeit der Herrenreiter-Entscheidung bereits zu einem von der herrschenden Meinung getragenen stabilen Eigenwert entwickelt. Dies dürfte erklären, weshalb dieser Argumentationsstrang frühzeitig die meisten Anhänger unter den Befürwortern der geänderten Rechtsprechung fand 273 . Bezeichnend für die Wechselwirkung zwischen juristischer Lehre und Rechtsprechung ist, daß diese Ansicht in einer verfassungsrechtlich halbwegs validen und einer die breite juristische Öffentlichkeit erreichenden Form 274 erstmals von einer juristischen Autorität, dem renommierten Zivilrechtler und ersten Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts Hans Karl Nipperdey auf dem Deutschen Juristentag 1957 entfaltet wurde 275 . Zwar nahm der Senat in seiner Entscheidung darauf nicht explizit Bezug, doch wurde der Zusammenhang zur Diskussion auf dem Juristentag von den zeitgenössischen Rezipienten durchaus hergestellt276. Es ist, so gewinnt man bei Lektüre der ablehnenden und zustimmenden Stimmen zur Entwicklung der BGH-Rechtsprechung den Eindruck, ganz wesentlich die auch auf dem Deutschen Juristentag 1957 277 ausgetragene Kontroverse zwischen Larenz und Nipperdey gewesen, die mit ihren Argumenten Ausgangspunkte für die Anschlußkommunikation beider Fronten setzten278. Larenz wollte die Gewährung einer finanziellen Kompensation bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen aus Gründen der Rechtssicherheit sowie unter Hinweis auf die Sperrwirkung des § 253 BGB dem Gesetzgeber vorbehalten und hielt § 847 BGB mangels Gesetzeslücke richterlicher Analogiebildung für nicht zugänglich. Dagegen befürwortete Nipperdey eine Kompensation mit dem Argument, das allgemeine Persönlichkeitsrecht sei auf273 Vgl. Gottwald 1996: 256 mit Nachw. (Fn. 52). 274 Vgl. die Berichte vom Deutschen Juristentag 1957 in Juristen Zeitung (1957: 727 f.) und Neuer Juristischer Wochenschrift (1957: 1510). 275 Nipperdey 1959: D8 ff., D13, D21. Dargelegt hatte Nipperdey seinen Standpunkt erstmals 1952; siehe Enneccerus/Nipperdey 1952: 293 (§ 78); vertieft in Enneccerus/Nipperdey 1959: 95 ff. (§ 15), 577 ff., bes. 528 f. (§ 101). Ausführlich und kritisch referiert wurde er von Larenz anläßlich der Schachtbriefentscheidung (1955: 522 f.); vgl. auch Hubmann 1957: 522 f. 276 Vgl. Bötticher 1960: 400 f.; Larenz 1958: 828 f.; Löffler 1962a: 249 f.; ders. 1962b: 225 f.; Weitnauer 1961: 577. 277 Larenz 1959/1957: D34 ff.; Nipperdey 1959/1957: D8 ff. 278 Auf Larenz' Ausführungen und seine im wesentlichen gleichlautende Kritik am Herrenreiter-Urteil nahmen u. a. explizit Bezug: Süss 1956: 195; Heimerich 1956: 251; Werhahn 1957: 32; Roeber 1957: 13; Neumann-Duesberg 1957a: 1343; Bötticher 1960: 401; Löffler 1962b: 225, 227; 1962d: 282; Hartmann 1964: 796; SchlHOLG JZ 1961: 573/576 m. Anm. Weitnauer; OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 9. 5.1962 - 7 U 146/61 - (Leitsatz veröffentlicht in NJW 1962, 2062; die entsch. Textpassagen sind wiedergegeben bei Löffler 1962d: 282); BGHZ 24, 72/77; 35, 363/369; auf Nipperdey: Süss 1956: 196; Heimerich 1956: 251; Roeber 1957: 13; Neumann-Duesberg 1957a: 1343 f.; Werhahn 1957: 29; Larenz 1958: 828; Bötticher 1960: 400 f., Bußmann 1958: 411; Weitnauer 1961: 577; Löffler 1962a: 250 f., 1962b: 225; Fromm 1965: 1201; Reinhardt 1961: 714 f., v. Caemmerer 1960: 105 und 1967: 31; BGHZ 24, 72/76 f. 2 *
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grund seiner verfassungsmäßigen Bedeutung so schützenswert, daß die Begrenzung des § 253 BGB im Hinblick auf Artt. 1, 2, 123 G G nicht mehr geltendes Recht sei 2 7 9 . Wohl nicht zuletzt infolge der massiven K r i t i k 2 8 0 wurde die als vordergründig und wenig überzeugend empfundene 281 , auf dem Argument einer „Freiheitsberaubung im Geistigen" gestützte Analogie zu § 847 BGB wieder aufgegeben. Zwar wurde der Schmerzensgeldanspruch als solcher in Richtung auf einen stabilen Eigenwert hin verstetigt, als zunächst der IV. Zivilsenat und dann der V I . Zivilsenat des B G H 2 8 2 auf das Herrenreiter-Urteil des I. Zivilsenats bestätigend Bezug nahmen 2 8 3 . Doch erwähnte der V I . Zivilsenat die Analogie zu § 847 BGB einfach nicht 2 8 4 . Man bemühte allein das stärkere verfassungsrechtliche Argument Es finden sich in diesem Zusammenhang deutliche Belege für den o b e n 2 8 6 beschriebenen Mechanismus der Eigenwertstabilisierung. So formulierte das O L G Hamburg, es sehe trotz vielfach erhobener Bedenken keine Veranlassung, von der Rechtsprechung des B G H wieder abzuweichen, „nachdem der B G H gerade 279 Auf den teilweise auch landesverfassungsrechtlich verbürgten Menschenwürdegrundsatz beriefen sich bereits vor Inkrafttreten des Grundgesetzes Coing (1947a: Sp. 643 f.) und einzelne gerichtliche Entscheidungen (s. o., Fn. 123), wobei Coing lediglich einen auf Naturalherstellung gerichteten Schadensersatzanspruch, keine monetäre Kompensation gewähren wollte (ebd.: Sp. 645). 280 Nachw. s. o., Fn. 146. Siehe die Zusammenfassung der Argumente bei Löffler 1962a; vgl. Ehlers 1977. 2 *i Vgl. Lorenz 1958: 829; Hartmann 1964: 793 ff. m. w. N.; Löffler 1962a: 250 f.; 1962b: 226; 1962c: 210; a. A. Weitnauer 1961: 577; Fromm 1965: 1203. 282 Urt. v. 19. 6. 1961, BGHZ 35, 363 - Ginseng = NJW 1961, 2059 = VersR 1961, 951 = JZ 1962, 120 m. Anm. Hubmann. 2 *3 Vgl. BGHZ 30, 7 /10 f., 17; BGHZ 35, 363 / 366 f. 284 Zuvor hatte der I. Zivilsenat in seiner „Hochzeitsbildentscheidung" (BGH, L M Nr. 5 zu § 23 KUG) angedeutet, daß auf die extensive Auslegung des Begriffs der Freiheitsberaubung argumentativ verzichtet werden könne. Vereinzelt wurde das Argument in späteren Entscheidungen des BGH wieder aufgegriffen; vgl. Schwerdtner 1985: 524 m. Nachw. Für eine extensive Auslegung des Begriffs der Freiheitsberaubung in § 823 I BGB erneut Beuthin/ Schmölz 1999: 22 f.; Beuthin 2003: 1222. 285 Heute geht man weitgehend von einem direkt aus Artt. 11, 21 GG abgeleiteten Geldersatzanspruch sui generis aus (BGHZ 128, 1/15 - Caroline v. Monaco I; BGH NJW 1996, 984/985 - Caroline v. Monaco II; Degenhart 1992: 362; Steffen 1996: 10), was aus richterlicher Sicht den Vorteil hat, daß Rückwirkungen auf andere Rechtsbereiche, z. B. Schmerzensgeld für Körperverletzungen, vermieden werden können (vgl. Steffen 1996: 367; Seitz 1996: 2849 sowie BVerfG NJW 2000, 2187 /f; zum richterlichen Bestreben, vorschnelle Selbstbindungen zu vermeiden s. o., § 8 II. 3.). Weil der Ersatzanspruch verfassungsrechtlich abgeleitet wird, war es nicht erforderlich, im Rahmen des 2. Schadensersatzrechtsänderungsgesetzes die Aufhebung des § 847 BGB durch Aufnahme des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in den neugeschaffenen § 253 II BGB zu kompensieren (vgl. Jaeger/Luckey 2002: 50, 99 ff.; Wagner 2002: 2056 f.). 286 § 4 VIH.; § 5 III. 4., § 6 II., § 6IV., § 81. 1. a) dd), § 81. 2.
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in neuester Zeit mit Entschiedenheit an seiner Auffassung festgehalten hat" 287 . Löffler, einer der schärfsten Kritiker der neuen BGH-Rechtsprechung, monierte ein (unveröffentlichtes) Urteil des LG Berlin, das sich ohne weitere Begründung auf die „nunmehr ständige Rechtsansicht des Bundesgerichtshofs, der gefolgt werden" könne, stützte288. Weitnauer hielt Kritikern 1961 unter Hinweis auf die zitierte Entscheidung des OLG Hamburg entgegen, es komme „wohl nicht so sehr auf die Begründung als auf die in der Rechtsprechung des BGH zum Durchbruch gekommene, auch schon in die Rechtsprechung der Instanzgerichte übergegangene Rechtsüberzeugung an" 289 . Geringes Vertrauen in die Kraft der eigenen Argumente zeigten angesichts des Fortbestandes der BGH-Rechtsprechung auch einige jener Oberlandesgerichte, die dem BGH nicht folgen wollten und dessen Argumentation ausdrücklich kritisierten. Ihrer Kritik folgte sogleich eine Hilfsargumentation auf Basis der vom Bundesgerichtshof vorgegebenen Kriterien 290. Spätestens Anfang der 70er Jahre hatte sich der BGH mit seiner Rechtsprechung durchgesetzt291. Man sieht also: Die wiederholte rekursive Bezugnahme auf eine mit den bisherigen gemeinsamen kommunikativen Vergangenheiten als unvereinbar empfundene, das heißt „falsche" Begründungsform, führt auf Dauer dazu, daß diese internalisiert, d. h. „richtig" wird; dies jedenfalls dann, wenn sie auf Dauer von der Rechtsprechung mit dem Symbol der Rechtsgeltung versehen wird 292 . Solcherart stabilisierte Eigenwerte ermöglichen Begründungsabbrüche293. Wahrheit im Sinne vernünftigen Begründens kann dann durch Autorität ersetzt werden.
287 Urt v. 1. 3.1962, MDR 60,1008 = NJW 62, 2062. Dagegen votierten drei andere Oberlandesgerichte auch später noch gegen den BGH (OLG Frankfurt v. 9. 5. 1962, NJW 1962, 2062; OLG Karlsruhe v. 5. 7. 1962, NJW 1962, 2062; OLG München v. 6. 2. 1963, VersR 1963, 1086/1087). 288 Löffler 1962a: 252. 289 Weitnauer 1961: 577; ähnl. v. Caemmerer 1960: 106; H. Kaufmann 1963: 368. 290 Vgl. SchlHOLG, Urt. v. 30. 11. 1959, JZ 1961: 573/575 f.; OLG München, Urt. v. 6. 2. 1963, VersR 1963: 1086/1087. 291 Die Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wird man spätestens Anfang der 60er Jahre als herrschende Meinung bezeichnen können; vgl. nur Mertens 1962: 262 m. w. N. 292 in seiner Kritik der Soraya-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts konstatierte Karl Larenz : „Eine fast zwei Jahrzehnte hindurch fortgesetzte höchstrichterliche Rechtsprechung, die von der Öffentlichkeit längst als geltendes Recht betrachtet wird, gewinnt eben dadurch ein eigenes Gewicht. ( . . . ) Es kann der Geltung des nunmehrigen Gewohnheitsrechtes keinen Abbruch tun, daß die dazu führende Übung sich ursprünglich unter Verletzung rechtlicher Vorschriften gebildet hat." (1973: 452 f.). 293 s. o., § 5 HI. 3. Umgekehrt sind gehäufte Begründungsabbrüche unter Hinweis auf eine gefestigte Rechtsprechung oder herrschende Meinung ein gutes Indiz dafür, daß eine Eigenwertstabilisierung so weit erfolgt ist, daß Zustimmung auch ohne argumentativ aufwendigen Rückgriff auf andere, weitgehend konsensual geteilte kommunikative Vergangenheiten wahrscheinlich erscheint.
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Teil 4: Persönlichkeisrechtsentwicklung
6. Die Soraya-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1971 befand das oberste deutsche Zivilgericht, daß angesichts der eigenen gefestigten Rechtsprechung und der Zustimmung eines erheblichen Teils der Literatur sowie anderer Spruchkörper eine weitere Auseinandersetzung mit den Gegenstimmen in der Literatur entbehrlich s e i 2 9 4 . Diese Einschätzung teilte wohl auch das Bundesverfassungsgericht, das zwei Jahre später in seiner Soraya-Entscheidung 2 9 5 die bisherige BGH-Rechtsprechung zum Geldersatz bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen für verfassungskonform befand 2 9 6 , also den richterlichen Bruch mit der etablierten Zivilrechtsdogmatik akzeptierte 297 . Angesichts der wenig konsistenten Begründung 298 , die in der Tat kaum als ein Meisterwerk juristischer Begründungsfertigkeit gelten kann, liegt die Annahme nahe, das Gericht habe sich dabei primär an den Folgen orientiert, die eine Verwerfung der seit fast 20 Jahren praktizierten BGH-Rechtsprechung im Hinblick auf Rechtssicherheit und öffentliche Reaktion gehabt hätte 2 9 9 . Auf der Grundlage seiner bisherigen Rechtsprechung hatte der B G H in der Veröffentlichung eines erfundenen Interviews eine schwere Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der vorgeblich interviewten Ex-Ehefrau des Schah gesehen und dieser Schmerzensgeld zugesprochen 300 . M i t ihrer Verfassungs294 BGH NJW 1971, 698 / 699 - Pariser Liebestropfen - m. umfangr. Nachw. 295 Beschluß v. 14. 2. 1973, BVerfGE 34,269. 296 BVerfGE 34, 269/281 ff. Explizit wurde darauf abgestellt, daß sich das allgemeine Persönlichkeitsrecht ,4m Laufe einer jahrzehntelangen Erörterung in der Wissenschaft durchgesetzt" hatte (ebd., S. 281). Dieser Verweis auf die normative Kraft des Faktischen wurde von den Kritikern der BGH-Rechtsprechung nicht akzeptiert (vgl. nur Ridder 1973: 455). Doch die Rechtsprechung orientierte sich an ihnen nicht mehr. 1985 konstatierte Schwerdtner mit Blick auf die Soraya-Entscheidung von 1973, die noch ablehnenden Stellungnahmen im Schrifttum seien durch diese Rechtsprechung „zur Makulatur geworden" (1985: 525). 297 Einen ersten Schritt in diese Richtung hatte das Bundesverfassungsgericht bereits im Jahre 1971 unternommen, als es unter Berufung auf die BGH-Rechtsprechung einen persönlichkeitsrechtlichen Achtungsanspruch Verstorbener bejahte; BVerfGE 30, 173/193 ff. Mephisto. Spätestens, als das Verfassungsgericht einige Wochen nach der Soraya-Entscheidung, gleichfalls unter Berufung auf den BGH, das Recht am eigenen Bild und das Recht, „allein gelassen zu werden" als Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (BVerfGE 35, 202/224, 233 - Lebach; vgl. o., § 3 I. 2.) selbst zur Anwendung brachte, mußte die Rechtsprechung des BGH als nicht nur verfassungsrechtlich unbedenklich, sondern als wenigstens in diesen Kernbereichen verfassungsrechtlich anerkannt gelten. Zur verfassungsrechtlichen Entwicklung vgl. Grimm 1997. 298 Krit. Müller 1986: 69 ff.; Gottwald 1996: 321 ff.; Diederichsen 1998: 194 ff.; zur rhetorischen Kompensation dieses Defizits vgl. Sobota 1992: 234 f. und oben, § 81. 1. b). 299 Ähnl. Lorenz 1973: 452; Gottwald 1996: 329; letzterer unter Berufung auf ein Interview mit dem damaligen Berichterstatter, Helmut Simon. Ohnehin unterliegt das Bundesverfassungsgericht aufgrund seiner Zwitterstellung als politisches Gericht (Verfassungsorgan und Teil der Judikative, vgl. § 1 BVerfGG) einer geringeren Einbindung in die Zwänge des fachjuristischen Diskurses (vgl. Preuß 1987; D. Maitra 1991). 300 BGH GRUR 1965, 254/255 f. - Soraya = JZ 1965,411 m. Anm. Koebel.
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beschwerde rügten die Beklagten nun u. a. die Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips, weil contra legem judiziert worden sei. Immer wieder treffen wir dort, wo die rechtswissenschaftliche Literatur den Systembruch thematisiert, auf dieses Argument der Metaebene301. Bis heute wird dieses Argument gegen die obergerichtliche Persönlichkeitsrechtsrechtsprechung ins Feld geführt 302 und im wesentlichen war dies der zentrale Gesichtspunkt, mit dem sich das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Soraya-Entscheidung zu befassen hatte. Die zeitgenössischen Äußerungen zu dieser Entscheidung303 wird man auch vor dem Hintergrund der knapp einen Monat vor dem Herrenreiter-Urteil erlassenen Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betrachten müssen, der zufolge Richter kraft Verfassung zu prüfen haben sollten, ob „die anzuwendenden materiellen zivilrechtlichen Vorschriften ( . . . ) grundrechtlich beeinflußt sind" und das Privatrecht modifizieren 304. Damit war neben der rein normsystematischen Frage zugleich die richterliche Rechtsfortbildungskompetenz angesprochen und erweitert worden. Dieser erste Schritt fand seine Fortsetzung in der Soraya-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Dort wurde ausgesprochen, daß es Aufgabe der Rechtsprechung sei, jenes „Mehr an Recht ( . . . ) , das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag", durchzusetzen. Diederichsen, der diese Rechtsprechung mit einem nachdrücklichen Plädoyer für die Eigenwertigkeit der Zivilrechtsdogmatik scharf kritisiert hat, bringt dies auf die Formel: „Der Richterspruch deckt, mit dem Grundgesetz im Rücken, die Korrektur von Gesetzen!"305 Wenn v. Caemmerer in seinen „Wandlungen des Deliktsrechts" zustimmend resümierte, mit den Verkehrspflichten, dem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb sowie dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht seien drei Generalklauseln in das Deliktsrecht eingefügt worden, die entgegen der ursprünglichen gesetzgeberischen Intention auf einen allgemeinen Deliktstatbestand hinausliefen 306, dann hatte dies zugleich Implikationen für die Zulässigkeitrichterrechtlicher Rechtsfortbildung. Denn wer, wenn nicht zunächst die Gerichte aufgrund des an sie herangetragenen Fallmaterials, sollte die dann notwendige Konkretisierungsarbeit erbringen? 307 301 Löffler 1962a: 253; 1962c: 210; Schultz 1962: 957; Hartmann 1964: 796 f. m.w.N. (Fn. 71); Lorenz 1959/1957: D36 und 1973: 450 ff.; Ridder 1973: 454 ff. 302 Statt vieler Müller 1986: 69 ff.; Diederichsen 1998: 193 ff. 303 Löffler 1962a: 253; 1962c: 210; Hartmann 1964: 767; Schultz 1962: 957. 304 BVerfGE 7,198/206. 305 Diederichsen 1998: 195. 306 v. Caemmerer 1960: 65 ff., 113 ff. 307 Es erscheint daher weniger als Radikalisierung, denn als logische Konsequenz, wenn Brüggemeier, anknüpfend an v. Caemmerer, als konstitutives Prinzip des gewandelten Deliktsrechts „von einem deliktischen Generaltatbestand der Haftung für verkehrswidrige Verletzung rechtlich geschützter Interessen" ausgeht, dessen Präzisierung und Formulierung Aufgabe der Rechtsprechung sei; Brüggemeier 1986a: 125 ff., 128 (Rn. 174 ff., 180), ders. 1986b: 972, 974; ähnl. bereits v. Caemmerer 1975: 36 ff.; Schwerdtner 1976: 97 f. und in Münchener Kommentar 1993: 182 (§ 12, Rn. 188). Letzterer betrachtet das allgemeine Per-
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Zweifelsohne hat die Persönlichkeitsrechtsprechung von BGH und Bundesverfassungsgericht nicht allein die betreffenden Rechtsstrukturen verändert, sondern zusätzlich das tradierte Verhältnis verschiedener rechtlicher Subdiskurse308 grundlegend infrage gestellt. Mehrfach wurde bereits angesprochen, daß sich Diskurse unter anderem durch Verknappungsmechanismen konstituieren309. Zu diesen Mechanismen zählen Ausschluß, Beschränkung und Bevorzugung der berechtigt sprechenden Subjekte310. Während die Rechtswissenschaft unter Verzicht auf das Symbol der Rechtsgeltung de lege lata und de lege ferenda argumentieren darf, sind Richter gehalten, geltendes Recht zu sprechen und sich rechtspolitischer Ambitionen zu enthalten. Rechtspolitisch Erwünschtes (und in der politischen Arena Durchsetzbares) in Rechtsgeltung umzumünzen, ist Privileg der Legislative. Auf der Matrix dieses verfassungsrechtlichen Ideals wird bis heute ein Metadiskurs überrichterliche Machtbefugnisse geführt, der immer wieder positiv oder negativ auf die Persönlichkeitsrechtsprechung Bezug nimmt. Dabei geht es nicht allein um dogmatische Fragen, sondern auch um einen Kampf um Einflußsphären. Daß die rechtswissenschaftlichen Hüter der Gewaltenteilung zugleich für die Relevanz der Zivilrechtswissenschaft und damit ihrer eigenen Beiträge streiten, mag zumindest teilweise ihren Nachdruck erklären. Die Bedeutung der Zivilrechtsdogmatik als Domäne der Zivilrechtswissenschaft droht umso geringer zu werden, je größer der richterliche, v. a. der verfassungsgerichtliche Spielraum für eigenverantwortliche Rechtsfortbildung wird 311 . Aus sozial wissenschaftlicher Sicht wird der Streit nicht durch das bessere institutionentheoretische Argument entschieden, sondern durch die unterschiedlichen Funktionserfordernisse von Legislative und Judikative. Der Zwang, beständig und vergleichsweise schnell entscheiden zu müssen, Routinisierungs- und Abnahmezwänge, denen mittelfristig selbst Obergerichte unterliegen312 und der sich daran knüpfende Zwang, Begründungen mit möglichst geringer kommunikativer Distanz in den juristischen Diskurs einzupassen, begrenzen den Spielraum der Gerichte in spezifisch anderer Weise als jene Restriktionen, denen die Gesetzgebung unterworfen ist.
sönlichkeitsrechts als Ermächtigungsnorm zurrichterlichen Aufstellung von Verhaltensnormen (ebd.); krit. Börgers 1993: 44,106 ff. 308 Zivilrecht und Verfassungsrecht konstituieren rechtliche Subdiskurse mit spezifischen Ordnungsmechanismen (z. B. Argumentationstraditionen und -Präferenzen), aber auch der Diskurs der Rechtswissenschaft kann in diesem Sinne als ein von der Rechtsprechung gesonderter betrachtet werden. 309 s. o., § 4 VI., § 8 II. 2., § 91. 3.; vgl. Foucault 1991: 11, 26 ff. 310 Vgl. Foucault 1991: 11, 26 ff. 311 Teilweise wird der Gegensatz auf einen Konflikt zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit zugespitzt (vgl. nur Starck 1996 und 1997: 780; E. Schmidt 1995; W. Roth 1996). Das mag vordergründig als Variation erscheinen, hat aber insofern eigene Schärfe, als das Bundesverfassungsgericht einer geringeren Konsistenzbindung und geringeren Routinisierungserfordernissen als die Fachgerichtsbarkeit unterliegt, so daß die Gefahr einer Aufweichung eigenwertgesicherter Dogmatik größer erscheinen muß. 312 s. o., § 5 HI. 3., am Ende.
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Welcher der beiden Extrempositionen der Vorzug zu geben ist, kann aus Perspektive dieser Arbeit, die weder eine rechtsdogmatische noch eine rechtspolitische ist, nicht entschieden werden. Man kann an dieser Stelle aber immerhin konstatieren, daß der Vehemenz, mit der seitens namhafter Rechtswissenschaftler für eine eigenwertgesättigte Zivilrechtsdogmatik gestritten wird, eine merkwürdige Ambivalenz anhaftet: Bestimmte Tendenzen und Begründungsformen der Rechtsprechungsentwicklung werden in einem mitunter befremdlich anmutenden Anachronismus selbst nach dreißig Jahren noch als „falsches Recht" gebrandmarkt, das allenfalls vom Ergebnis her zu billigen sei, obwohl die Rechtsprechungspraxis teilweise durchaus stabile Eigenwerte 313 ausgebildet hat. Andererseits hat das Beharren auf traditionellen Argumentationsformen durchaus Auswirkungen auf den juristischen Diskurs. Die darin liegenden Konsistenzforderungen und Begründungsangebote bieten die Möglichkeit, die vorgeblich aus dem Ruder laufende Rechtsprechung zu redogmatisieren 314. Damit wird Funktionserfordernissen der Rechtsprechung nach möglichst schneller, knapper, routineförmiger und abnahmeverbürgender, d. h. möglichst regeiförmiger Begründung entsprochen315. Der soeben angedeutete Anachronismusvorwurf ist aus einer rechtssoziologischen, auf die Frage der Funktionalität zielenden Perspektive auch aus einem weiteren Grunde schwerlich zu halten. Die Geschichte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts macht deutlich, daß die jenseits aller Konjunkturen über mittlere Zeiträume durchgehaltene, beharrliche Kritik in Form minoritärer Diskurse Begründungsalternativen enthält, die als spezifisch juristische bei Bedarf vergleichsweise problemlos in das rekursive Netzwerk juristischer Eigenwerte eingepaßt werden können.
7. Das Ginseng-Urteil Weit vor der verfassungsgerichtlichen Bestätigung der BGH-Rechtsprechung hatte der VI. Zivilsenat des BGH in seiner Ginseng-Entscheidung vom 19. September 1961 316 zwei Differenzierungen vorgenommen, die für die spätere Entwicklung von erheblicher Bedeutung waren. Beide betonten das Genugtuungselement des Schmerzensgeldanspruchs. Nicht jede schuldhafte Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sollte einen Ersatzanspruch begründen317, sondern nur eine 3,3 Zu nennen sind die Interessen- und Güterabwägung als Argumentationsmodus und auf der Ebene der Regelbildung - die Ausbildung von Fallgruppen; s. o., § 10 m. 4. d), § 10 HI. 4. e). 314 s .o.,§ 10I.2.,§ 10 III. 4. e). 315
Eben darin liegt die Selbstwidersprüchlichkeit solcher Kritik: Indem sie richterliche Bindungsbedürfnisse und die Restabilisierungstendenzen der Rechtsprechung selbst ausblendet und ein drohendes Chaosrichterlicher Kadijustiz beschwört, wirkt sie daran mit, daß eine Restabilisierung erfolgt. BGHZ 35, 363 = NJW 1961, 2059 = JZ 1962, 120 m. Anm. Hubmann = GRUR 1962, 214 m. Anm. Bussmann = JuS 1962, 261 m. Anm. Mertens. 317 So aber noch BGHZ 26, 349 / 357 - Herrenreiter.
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solche, bei der sich die immaterielle Einbuße nicht anderweitig ausgleichen l ä ß t 3 1 8 . Ferner sollte der Anspruch nur bei objektiv schweren Persönlichkeitsbeeinträchtigungen oder bei schwerer Schuld des Schädigers zugesprochen werden 3 1 9 . Der durch diese Ausdifferenzierung erzeugte Stabilisierungseffekt 320 wurde zumindest vorübergehend gebremst, weil bis in die achtziger Jahre hinein streitig blieb, ob die beiden letztgenannten Einschränkungen kumulativ oder alternativ gelten sollten 321 . Die genannten Differenzierungen wurden sämtlich aus der Genugtuungsfunktion, deren Bedeutung für das allgemeine Persönlichkeitsrecht bereits in der Herrenreiter-Entscheidung betont worden w a r 3 2 2 , abgeleitet. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die strafrechtliche Herkunft des Schmerzensgeldes und das schweizerische Recht hatte der Große Senat des B G H 1955 eine Genugtuungskomponente des Anspruchs postuliert, die gegenüber dessen Ausgleichsfunktion zwar zweitrangig sein 3 2 3 , aber für Fälle immaterieller Schäden besondere Bedeutung haben sollte 3 2 4 . Im Rahmen der Ginseng-Entscheidung wurde nun erneut der Genugtuungsgesichtspunkt hervorgehoben. Dabei wurde ausdrücklich an Larenz' kritische Interpretation des Herrenreiter-Urteils 325 angeknüpft, die ihrerseits auf
318 BGHZ 35, 363/369; bestätigt durch BGH NJW 62, 1004/1005 - Doppelmörder; 1970, 1077 f. m. w. N.; 1971, 698/700 - Pariser Liebestropfen; BGHZ 39, 124/133 f. Fernsehansagerin; w. Nachw. b. Ehlers 1977: 233. 319 BGHZ 35, 363/369; bestätigt durch BGH NJW 1971, 698/700 - Pariser Liebestropfen; BGHZ 39, 124/133 f. - Fernsehansagerin; w. Nachw. b. Ehlers 1977: 233. 320 Vgl. oben, § 8 I. 2. a). Beeinträchtigungsgrad und Verschuldensschwere sollten nach den Umständen des Einzelfalls bewertet werden. Daher mag man daran zweifeln, daß die Ausdifferenzierung des Tatbestandes stabilisierend wirkte. Doch wurden Argumentationslasten begründet und eine Reihe zu berücksichtigender Kriterien benannt und von der Folgerechtsprechung beständig wiederholt (vgl. v. Bar 1980: 1725), die zwar kein in sich widerspruchsfreies System boten (vgl. ebd.: 1727 ff.), aber eben einen im Vergleich zu gänzlich freigestellter Argumentation das diskursiv Mögliche limitierenden und damit stabilisierenden Effekt haben mußten. Es kann nicht nachdrücklich genug wiederholt werden: Stabilität bedeutet nicht, daß eindeutige Entscheidungen zwingend ableitbar sind. Es reicht, daß bestimmte Entscheidungen wahrscheinlicher als andere sind, weil sie nach den Eigenwertpräferenzen des Diskurses erheblich besser und einfacher, weil mit geringerer kommunikativer Distanz zu diesen zu begründen sind; s. o., § 6IV. 1. 321 Vgl. Ehlers 1976: 233 ff.; v. Bar 1980: 1725; Gottwald 1996: 238; jew. m. w. N. Heutzutage wird von kumulativer Geltung ausgegangen; vgl. Steffen 1997: 10 f.; ebenso wohl bereits BVerfGE 34, 269/286 - Soraya. In der Verschuldensschwere wird ein Unterkriterium dafür gesehen, daß eine schwerwiegende Persönlichkeitsverletzung besteht (BGH VI. Zivilsenat NJW 1996, 985/986 - Caroline v. Monaco m). Für den wichtigen Teilbereich der Verletzung vermögenswerter persönlichkeitsrechtlicher Interessen ist es aufgegeben worden (BGH NJW 2000, 2195/2200 - Marlene Dietrich; NJW 2000, 2201/2202 - Der blaue Engel, beides Entscheidungen des I. Zivilsenats; siehe dazu unter § 10 HI. 9.). 322 BGHZ 26, 349/358. 323 BGHZ 18, 149/154. 324 BGHZ 18, 149/157. 325 Larenz 1958: 829.
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die rechtspolitischen Forderungen des Düsseldorfer Juristentages 1957 rekurrierte - ein gutes Beispiel dafür, wie Argumentation durch Wechsel von Selbst- und Fremdzitat verstärkt wird, Kritik und Gegenkritik (wechselseitige Beobachtung) durch Schnittmengenbildung stabilisierende Effekte zeitigen. Des ungeachtet stellte die Betonung der Genugtuung einen ganz wesentlichen Bruch dar und wurde als „unerhörte Neuerung" (v. Caemmerer) wahrgenommen. Die daran anknüpfende Kontroverse prägt bis heute den persönlichkeitsrechtlichen Diskurs. Dies hängt damit zusammen, daß der Genugtuungsgedanke historisch mit der Ausdifferenzierung von Straf- und Zivilrecht ersterem Rechtsgebiet zugeordnet 326 wurde und somit ein enger Bezug zu strafrechtlichen Sühne- und Präventionsaspekten hergestellt war 327 . Ob bzw. in welchem Umfang im Schmerzensgeldanspruch strafrechtliche Komponenten mitenthalten sind, war bereits im 19. Jahrhundert umstritten328. Während aber Genugtuung im klassischen Sinn als Element der Sühne auf psychische und moralische Satisfaktion des Verletzten zielte 329 , floß nun ein weiterer, den modernen relativen Straftheorien entnommener Aspekt in die Argumentation ein: die Generalprävention. Dies dürfte wesentlich auch der verfassungsrechtlichen Argumentation des BGH geschuldet gewesen sein, denn die neubegründete Texttradition eines den Artt. 1 und 2 GG entnommenen aktiven Schutzauftrags 330 rückte Präventionsaspekte zwangsläufig in den Vordergrund: Die „abschreckende Wirkung" einer Genugtuung könne nicht entbehrt werden 331, das Privatrecht müsse hier eine „Abschreckungswirkung" entfalten 332 , kurzum: die „unter dem Einfluß der Wertentscheidung des GG erfolgte Ausbildung des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes wäre ( . . . ) lückenhaft und unzureichend, wenn eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts keine der ideellen Beeinträchtigung adäquate Sanktion auslösen würde" 333; unlauteres Gewinnstreben müsse „mit dem Risiko eines fühlbaren materiellen Verlustes belastet"334 werden. Folgerichtig lautete eines der zentralen Argumente der Kritiker der persönlichkeitsrechtlichen Rechtsprechung des BGH, dem deutschen Zivilrecht würden system- und wesensfremde strafrechtliche Zweckbestimmungen eingefügt 335.
326 Vgl. Ehlers 1977: 181 f.; Niemeyer 1972: 38 f., 49 ff. 327 Vgl. BGHZ 18, 149/155: „... schwingt im Ausgleichsgedanken auch heute noch etwas vom Charakter der Buße mit." 328 E. Kaufmann 1963: 424 ff.; Gottwald 1996: 210 ff. 329 Vgl. Niemeyer 1972: 38 f., 43 ff.; Ehlers 1977: 181 ff. 330 BGHZ 13, 334/337 f. - Schachtbrief; 15, 249/257 f. - Cosima Wagner; 24, 72/76 f. - Krankenpapiere; 26, 349 / 354 - Herrenreiter; 35, 363 / 367 ff. - Ginseng. 331 Larenz 1958: 829. 332 Nipperdey 1959: D19. 333 BGHZ 35, 363 / 367 - Ginseng. 334 BGHZ 35, 363/369 - Ginseng; zust. Going 1958: 560; Bussmann 1962: 107 f. 335 Vgl. nur Larenz 1973: 452; Darstellung und weitere Nachweise bei Ehlers 1977: 192.
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8. Die „Caroline-von-Monaco"-Entscheidungen I - D 3 Gleichwohl hat der BGH an dieser Rechtsprechung festgehalten und den Präventionsaspekt in neuerer Zeit sogar verstärkt. Bei in Gewinnerzielungsabsicht begangenen Persönlichkeitsverletzungen wurden im Kontext der ersten drei Caroline-v.-Monaco-Entscheidungen besonders hohe und damit für den Verletzer spürbare Geldentschädigungen zugesprochen336. Die Reaktionen der Rechtswissenschaft zeugen von dem erneuten Bemühen, die Rechtsprechungsergebnisse in einen dogmatischen Kontext zu zwingen, der als weniger beliebig als die persönlichkeitsrechtliche Argumentation empfunden wird. Drei Positionen lassen sich beschreiben, denen eines gemein ist, nämlich die Überzeugung, daß die neuere Fortentwicklung der BGH-Rechtsprechung, sollte sie denn in letzter Konsequenz zu einer Gewinnabschöpfung beim in Gewinnerzielungsabsicht handelnden Schädiger führen, endgültig die Grenzen der klassischen deutschen schadensersatzrechtlichen Systematik sprengen würde. Während beispielsweise Gounalakis eine Annäherung an amerikanische punitive damages als systemfremd ablehnt337, werden diese von Stürner unter Hinweis auf die nach seiner Ansicht verfehlte idealistische deutsche Rechtstradition befürwortet 338. Der VI. Zivilsenat des BGH hatte sich um einen Mittelweg bemüht: Die Kompensationsleistung war mit Blick auf ihre Präventivwirkung 339 erhöht worden. Gleichzeitig versuchte das Gericht, jegliche destabilisierende, systemsprengende Wirkung zu vermeiden. Ausdrücklich ließ es die Gewinnerwartung des Schädigers als eines von mehreren Bemessungskriterien für die Anspruchshöhe zu, verwarf zugleich aber die vollständige Gewinnabschöpfung 340. Eine solche hätte schließlich als Annäherung an bereicherungs- und lizenzrechtliche Ausgleichsargumente einerseits und an punitive damages andererseits interpretiert werden können. Bislang wird eine Übertragung auf die allgemeine Schmerzensgeldrechtsprechung unter Hinweis auf den eigenständigen persönlichkeitsrechtlichen Charakter des Anspruchs abgelehnt341, was einer Destabilisierung des Schadensersatzrechts ebenfalls vorbeugt. 336 BGHZ 128, 1 /15 f. und - Caroline v. Monaco I; BGH NJW 1996, 984/985 - Caroline v. Monaco II, BGH NJW 1996, 985/986 f. - Caroline v. Monaco III; vgl. auch OLG Hamburg NJW 1996, 2870/2872 f. - Caroline v. Monaco I (nach Zurückverweisung). Unter Betonung des Präventionsaspektes wurde die zugesprochene Summe von etwa 30.000 DM auf ca. 180.000 DM erhöht. 337 Gounalakis 1998: 11 ff.; krit. auch Seitz 1996: 2848 f.; Soehring 1997: 372; Siemes 2001: 212 ff.; Hoppe 2001: 116 ff. 338 Stürner 1998a; i. E. ähnl. Rosengarten 1996, differenzierend T. Dreier 2002: 128 ff., 500 ff., 515 ff., 553,614 ff. 339 Der damalige Vorsitzende des VI. Senats umschreibt dies mit den Worten: „Das Schmerzensgeld soll den Verleger ruhig schmerzen." (Steffen 1996: 367). 340 BGHZ 128, 1/16 - Caroline v. Monaco I; BGH NJW 1996, 984/985 - Caroline v. Monaco II. 341 Steffen 1997: 367 sowie BVerfG NJW 2000, 2187/f; anders Prinz 1996: 955; krit. auch Seitz 1996: 2849.
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Zentral scheint mir, daß unabhängig von der jeweiligen Position nicht das Ergebnis des BGH in Frage gestellt wird 342 , sondern vielmehr die Frage aufgeworfen wird, ob man nicht die in der Rechtsprechungsentwicklung liegende letzte Konsequenz, den offenen Systembruch, wagen darf und soll. Zwar erscheint die Debatte auf den ersten Blick wie eine Neuauflage der Diskussion um die Herrenreiter-Entscheidung. Der Austausch der Argumente zur alternativen Anwendbarkeit der §§812 ff. 3 4 3 , 687 n 3 4 4 BGB und der Rechtsprechung zum Ersatz entgangener Lizenzgebühren wiederholt sich 345 . Bei genauerem Hinsehen erweist sich aber, daß sich angesichts der langen eigenwertgesättigten und deshalb nicht mehr riickholbaren Rechtsprechungstradition der Blick geweitet hat. „Systemfremd" ist kein Verdikt mehr, angesichts dessen der Rechtsprechung und ihren Befürwortern nur ein Ausweichen auf möglichst viele Argumente mit geringstmöglicher kommunikativer Distanz zu etablierten Eigenwerten des juristischen Diskurses bliebe, kein Verdikt also, mit dem die Diskussion beendet werden kann. Während im persönlichkeitsrechtlichen Diskurs der 50er Jahre die Rezeption rechtsvergleichender Forschung vor allem darauf abzielte, Argumente für eine Ausweitung des persönlichkeitsrechtlichen Schutzes zu gewinnen346, wird das deutsche Rechtssystem jetzt rechtshistorisch und rechtsvergleichend auf seine Bedingtheiten und Prämissen, seine Rationalität und Effektivität hin untersucht und zur Diskussion gestellt 347 . Der Diskussionsstil ist reflektiver geworden 348. Die Fragerichtiger dogmatischer Ableitung ist in stark umstrittenen Bereichen nur noch ein Teilaspekt der Auseinandersetzung. Recht kann im juristischen Diskurs nunmehr nur dann Bestand haben, wenn es auch effektives Recht ist. Die traditionell den rechtspolitischen und rechtssoziologischen Diskursen zugeordneten Effektivitätsüberlegun342
Die Instanzgerichte sind der Rechtsprechung des BGH gefolgt; Nachw b. Siemes 2001: 204, Fn. 14. 343 Degenhart 1997: 203; Gottwald 1996: 208 f., 253; Helle 1996: 464 ff.; Conans 1999: 89 ff.; Seitz 1996: 2849 f.; Ulimann 1999; Siemes 2001: 215 ff.; ; Beuthien/Schmölz 1999: 4 f., 39 ff.; Hoppe 2001: 89 f.; T. Dreier 2002: 258 ff., 277 f., 356 ff., bes. 367 ff.; Beuthien 2003: 1221 f.; ablehnend Gounalakis 1998: 18 f.; Steffen 1997: 13 f.; G. Müller 2000: 803, 805; Taupitz 2002: 45 f. 344 Vgl. Schlechtriem 1995: 364; Schwerdtner 1997: 41 f.; Seitz 1996: 2849; Siemes 2001: 228 ff.; Beuthien/Schmölz 1999: 4 f., 50 ff.; Hoppe 2001: 90 ff.; T. Dreier 2002: 274 ff., 278 ff., 341 f., 612; ablehnend Gounalakis 1998: 19; Canaris 1999: 86. 345 Vgl. o., § 10 in. 5. c), bei und in Fn. 241, dort auch Nachw. zur älteren Diskussion. 346 Vgl. Gottwald 1996: 125 ff., der diesbezüglich von einer Vorbildwirkung westlicher Rechtsordnungen spricht; siehe hierzu auch oben, § 10 III. 1. b), dort unter (2). 347 Vgl. Gounalakis 1998: 13 ff.; Stürner 1998a; Rosengarten 1996: 1935 f.; Seitz 1996: 2848 f.; Steffen 1997: 12 f.; Schwerdtner 1997: 40 ff.; Wallraff 1998; Karlsruher Forum 1997; T. Dreier 2002: 128 ff., 157 ff., 413 ff., 515 ff. Lediglich der BGH, um Minimierung erkennbarer kommunikativer Distanz bemüht, beschränkt sich im Urteil selbst, wie Seitz (1996: 2848) das treffend beschrieben hat, auf „ein Zitatengrab", also auf die Betonung von Eigenwerten. 348 Dies ist kein auf den persönlichkeitsrechtlichen Diskurs beschränktes Phänomen. Ungeachtet aller Kritik hat die reflektive Folgenorientierung im juristischen Diskurs insgesamt ganz erhebliches Gewicht erhalten; vgl. Deckert 1995: 5 ff.
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Teil 4: Persönlichkeitsrechtsentwicklung
gen werden auch im Zivilrecht verstärkt in den rechtsdogmatischen Diskurs einbezogen, der sich nicht mehr allein auf eine Orientierung an gesättigten Eigenwerten beschränken kann. Auffallend häufig werden dabei das rechtspolitische Problem, der Machtmißbrauch einer um Marktanteile wetteifernden Sensationspresse349, und der Empörungscharakter, derrichterlichen Entscheidungen zugrundeliegende Affekt bzw. die emotionale Konnotation der Auseinandersetzung thematisiert350. Es wird also in diesem Diskurs auf die in öffentlichen Risikodiskursen kommunizierten Evidenzen Bezug genommen351. Je nach Position wird derrichterliche Affekt als verständlich, jedoch nicht wünschenswert, oder aber als für die notwendige Fortentwicklung des Rechts erforderlich beschrieben. Ob man insoweit tatsächlich bereits von einem Risikodiskurs im klassischen Sinne sprechen kann, sei dahingestellt. Jedenfalls aber sind wesentliche Merkmale vorhanden. Zum einen werden in einer Dynamik von Beobachtung und Gegenbeobachtung352, die Entscheider (Medien) und Betroffene konstruiert, Gefährdungslagen thematisiert und bestritten: die zunehmende und immer rücksichtslosere Zwangskommerzialisierung durch Medien, die Kommerzialisierung menschlicher Würde durch Zuerkennung pekuniärer Ausgleichsansprüche, die Gefahren der persönlichkeitsrechtlichen Rechtsprechung für die Rechtssicherheit, ihre negativen Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit, die Bevorzugung prominenter Personen durch die Rechtsprechung, Wertungswidersprüche zu anderen Rechtsbereichen. Zum anderen legt die unter Juristen sonst verpönte Betonung affektiver Anteile 353 der Entscheidungen eine Nähe zur moralisierenden Angstrhetorik öffentlicher Risikodiskurse354 nahe. Unabhängig von der Kategorisierung wird man konstatieren müssen, daß damit der juristische Diskurs gegenüber außerrechtlichen Bewertungen offener geworden ist. Es scheint mir der Überlegung wert, ob außerrechtliche Rationalitäts-, Zweckund Effektivitätsüberlegungen von der modernen Zivilrechtswissenschaft nicht deshalb verstärkt einbezogen werden, weil dierichterliche Rechtsfortbildung jenen Bedeutungszuwachs erlebt, der mit dem nachdrücklichen Hinweis auf die Eigenwertigkeit der Zivilrechtsdogmatik beklagt wird 355 : Je stärker Gerichte ihre Ent349 So deutlich Schwerdtner 1997: 43 und Prinz 1996: 953; Seitz 1996: 2850; weniger drastisch, aber unter deutlicher Benennung des rechtspolitischen Problems formulieren Steffen 1996: 367; ders. 1997: 12 f.; Gounalakis 1998: 10, 22 ff.; Wallraff 1998: 46 ff.; Stürner 1998a: 1; Schlechtriem 1995: 363 f.; Forkel 1997: 45; Soehring 1997: 360 f., 365; Rehm 1999: 416 f.; di Fabio 1999: 126 ff.; Beuthien/Schmölz 1999: 1; Siemes 2001: 203. 350 Vgl. Steffen 1997: 10; Seitz 1996: 2849 f.; Gounalakis 1998: 10; Heldrich 1998: 326; Rehm 1999: 418; di Fabio 1999: 127; Soehring 1997: 360; w. Nachw. s. o., § 10 III. 5. c), bei Fn. 246 f. 351 352 353 354
Vgl. o., § 8 I. 1. b); zum Anteil von Affekten bei Brüchen s. o., § 8 I. 1. a) dd), § 91. 3. s. o., § 21. 3. d), § 7.Ü. 3. Vgl. o., § 61. 3., Fn. 41. s. o., § 21. 1., § 2 n. 1., § 7 n. 1., § 7 n. 2., bes. § 9 I. 3.
355 S.o., §81. l.a)aa),§ 10in.6.
§10 Zwischen Prinzipienabwägung und Regelbildung
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Scheidungen auf den Einzelfall zuschneiden und damit die Formalität der Eigenwerte negieren, desto näher liegt es, Begründungsangebote nicht mehr ausschließlich oder primär durch dogmatischen Rekurs herzustellen, sondern durch Kombination außerrechtlicher Argumente mit juristischen Texttraditionen. Damit wird die Ordnung des Diskurses, und das heißt zugleich: die Reduktion von Komplexit ä t 3 5 6 , wesentlich dadurch hergestellt, daß einer ihrer zentralen Mechanismen, die Verknappung der (bevorzugt oder ausschließlich) berechtigt sprechenden Subj e k t e 3 5 7 , an Bedeutung gewinnt. Der Rückgriff auf das, was Rechtswissenschaftler, d. h. Juristen als Recht postuliert haben, ist eher geeignet, eine gerichtliche Begründung zu stützen, als der direkte Durchgriff auf öffentliche Diskurse, weil er schnellere und umstandslosere Begründungsabbrüche ermöglicht 358 . Hält man sich allerdings den frühen persönlichkeitsrechtlichen Diskurs vor Augen, so mag man zweifeln, ob die Offenheit gegenüber rechtspolitischen Erwägungen wirklich eine neue Entwicklung i s t 3 5 9 . Neueren Datums ist jedenfalls die stark reflexiv auf die Folgewirkungen der Rechtsprechung und auf Effektivitätsgesichtspunkte ausgerichtete Betrachtungsweise. Man kann den entscheidenden Schnitt in den 50er Jahren verorten 360 , doch hat sich die Tendenz verstärkt 361 . Eine stärkere Öffnung für 356 Eine wesentliche Funktion des juristischen Diskurses ist, so meine ich gezeigt zu haben, die Verknappung des diskursiv Möglichen, weil nur auf diese Weise das notwendige Maß an Stabilität, Erwartungssicherheit und Routine hergestellt werden kann, das in einer ausdifferenzierten Gesellschaft notwendig ist. 3 57 Vgl. o., § 4 VI., § 8 n. 2., § 9 I. 3., § 10 III. 6.; vgl. Foucault 1991: 11, 26 ff. Die demokratische Version dieser Verknappung heißt Prozeduralisierung. Wird Recht durchlässiger, offener gestaltet, dann stellt sich in der Tat die Frage, ob die notwendige Verknappung einer sich zum Werten berufen fühlenden juristischen Zunft überlassen werden kann oder nicht durch eine demokratischen Prinzipien entsprechende Vorgabe des Ob und Wie der am Diskurs zu Beteiligenden erfolgen muß. Dies wird in der Regel am Aufwand scheitern, den solche Verfahren mit sich bringen, auch wenn die Beteiligung Externer durchaus nicht rechtsfremd ist. Man denke an die Handelskammern der Landgerichte, die Arbeitsgerichte und die Schöffenbeteiligung im Strafprozeß. 358
Gerade wenn eine solche Position von einer Vielzahl juristischer Autorinnen und Autoren und ohne nennenswerte Gegenstimmen postuliert wurde, wie dies etwa beim „Recht auf Nichtwissen" der Fall ist (siehe im Fortgang unter § 11 III. 2), kann ein solcher Begründungsabbruch durch Zitat und ohne allzu ausufernden Durchgriff auf außerrechtliche Erwägungen erfolgen, ohne daß Zustimmungs- und Abnahmewahrscheinlichkeit innerhalb des juristischen Diskurses sinken. 359 Man kann dies z. B. an Kohlers prägenden Ausführungen erkennen, die rechtspolitische und rechtsdogmatische Argumente miteinander vermengen (vgl. Kohl 1975: 62 m. Nachw. und obiges Zitat, § 10 IL 1., bei Fn. 52). 360 Zur Öffnung gegenüber rechtspolitischen Argumenten hat sicherlich beigetragen, daß die Diskussion zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht zwischen Ende der 50er bis Anfang der 70er Jahre im Kontext zweier Gesetzesentwürfe zur Verankerung des Persönlichkeitsschutzes stattfand (Darst. b. Gottwald 1996: 261 ff.), an deren Entstehung viele Exponenten des juristischen Diskurses wesentlichen Anteil hatten (vgl. ebd.: 261, 304 f.). Die Gesetzesvorhaben fanden erheblichen kritischen Widerhall in der Presse (vgl. ebd.: 262 ff., 268 ff., 307 ff.). 361 Dies ist wohl auch dem in den späten 60er Jahren erfolgten Kulturbruch geschuldet, in dessen Gefolge jede etablierte Theoriebildung kritisierbar wurde. In der Jurisprudenz finden
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Teil 4: Persönlichkeitsrechtsentwicklung
rechtspolitische Argumente hat sich daraus ergeben, daß im Prozeß der Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts jene Texttradition zur hegemonialen geworden ist, die schon immer auch rechtspolitisch und unter Hinweis auf gesellschaftliche Veränderungen argumentiert hat. Die Verteidiger juristischer Eigenwerte sind in die Defensive geraten und bemühen sich teilweise selbst um einen reflexiveren Argumentationsstil, der sich nicht allein mit dogmatischen Argumenten und dem alten (bereits reflexiven) Argument gefährdeter Rechtssicherheit begnügt. Faßt man dies in systemtheoretische Kriterien, so ist zu konstatieren, daß Reflexivität sich potenziert. Reflexivität des Rechts ist an sich nichts Neues. Die Orientierung an der eigenen vorangegangenen Kommunikation ist Selbstbeobachtung. Die Modifizierung von Eigenwerten durch Abgleich mit externen Veränderungen ist stets und notwendigerweise ein reflexiver Vorgang. Offenbar kann man aber in Bereichen, die gesamtgesellschaftlich unter starkem - kommunizierten - Veränderungsdruck stehen, dabei nicht stehen bleiben. Das Recht kann sich nicht damit begnügen, sich selbst und seine Umwelt zu beobachten. Vielmehr wird rechtlich beobachtet, wie Recht von außen beobachtet wird, wird die Geltung rechtlicher Eigenwerte damit in Abgleich gebracht. Die Dynamik dieses Prozesses wird dadurch angeschoben und in Gang gehalten, daß Juristinnen und Juristen in unterschiedliche Systemzusammenhänge integriert sind und dies wenigstens bis zu einem gewissen Grad aufgrund individueller Konsistenzzwänge in permanenten Abgleich bringen müssen362. Daß Recht nicht deckungsgleich mit Moral ist, mag man bis zu einem bestimmten Punkt hinnehmen und sogar begrüßen. In grundlegenden Dingen, die gesamtgesellschaftlich mit der großen und emotionalisierenden Intensität von Risikodiskursen kommuniziert werden, ist völlige Indifferenz individuell offenbar nicht zu leisten. Juristische Beobachter vollziehen den erforderlichen Spagat in professionalisierter Form, indem sie rechtliche Eigenwerte durch Rekurs auf abstrakte, höherrangige Normen für außerrechtliche Kriterien anschlußfähig machen. Die notwendige Schließung des Rechts, zuvor vor allem durch die autoritär wirkende Präferenz für rechtliche Eigenwerte, vornehmlich solchen in Konditionalform, gesichert, vollzieht sich nun vorübergehend, bis sich neue Eigenwerte ausdifferenziert haben, primär über die Verknappung der berechsich erste Ansätze in Josef Essers 1954 erstmals veröffentlichtem Werk „Grundsatz und Norm4' sowie Theodor Viehwegs in erster Auflage 1953 erschienener Studie „Topik und Jurisprudenz". Ab Mitte/Ende der 60er Jahre kam es dann zu einer methodenkritischen Renaissance (z. B. Hassemer 1968, Wassermann 1972, J. Esser 1972a: 124 f., Kriele 1976). Es ist stets schwierig, eine direkte Rückwirkung von Metatheorien auf die Theoriebildung selbst nachzuweisen. Man kann aber immerhin konstatieren, daß die lnteressenjurisprudenz zu einem „großen Einbruch des Problemdenkens in unsere Begriffsaxiomatik" (/. Esser 1990: 80; vgl. Damm 1976: 225) geführt hat, der im persönlichkeitsrechtlichen Diskurs und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Neuauflage erlebte und daß mit der ökonomischen Analyse des Rechts eine ganze Disziplin entstanden ist, die eine Integration rechtsfremder Rationalität in die zivilrechtliche Argumentation anstrebt. 362 s. o., § 7 n. 3. d), § 7 m., § 8 I. 1. a) dd), § 91. 3.
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tigt sprechenden Subjekte. Wenn schon fast alles gesellschaftlich Kommunizierte auch im juristischen Diskurs kommunizierbar wird, dann kann eine rechtliche Orientierungsleistung nur erfolgen, indem gesichert wird, daß nicht alle kommunizieren, sondern nur jene, deren maximale Präferenz für rechtliche Eigenwerte verbürgt ist: Juristinnen und Juristen. Eine, wie mir scheint, merkwürdig autoritäre Wendung einer antiautoritär anmutenden Veranstaltung: Je mehr sich das juristische Deutungsmonopol des Rechts gesellschaftlicher Beobachtung und Kritik ausgesetzt sieht, desto wichtiger wird die Kanalisierung dieser Kritik, ihre Integration in das Recht durch jene, die bevorzugt berechtigt sind, im rechtlichen Diskurs zu sprechen.
9. Die „Marlene-Dietrich"-Urteile Oben 363 war die Frage aufgeworfen worden, ob die Persönlichkeitsrechte von einer Rechtsform, die in erster Linie auf Teilhabe und Kontrolle der Verwertung geistiger Produkte zielte, zu primären Abwehrrechten geworden sind, die wesentlich von einem Umschwung kulturell prägender Selbstverständnisse weg von dem den klassischen Liberalismus begleitenden Fortschrittsoptimismus hin zu einem zunehmenden Fortschritts- und Technikskeptizismus zehren. Ich glaube nicht, daß diese Frage zu bejahen ist. Zweifellos liefert das Risikokommunikation prägende geminderte Vertrauen in Technik argumentatives Potential für die Ausweitung persönlichkeitsrechtlicher Positionen. Aber diese sind durchaus nicht nur jenen Normbereichen zuzuordnen, die Freiräume durch Limitierung fremden Handelns sichern 364, obwohl die Aufsehen erregenden Urteile, etwa das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts und zuletzt die Caroline-von-Monaco-Entscheidungen des BGH, diesen klassisch abwehrrechtlichen Aspekt und mit ihm die ideellen, auf Integritätsschutz gerichteten Seiten des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sehr betont haben. Schon ein kurzer Blick auf die beiden Ende 1999 ergangenen Marlene-Dietrich-Urteile des I. Zivilsenats des BGH 3 6 5 verdeutlicht jedoch, wie schnell aus ideellen Aspekten solche des Vermögensschutzes werden können In beiden Verfahren wurde die unkonsentierte Verwertung von Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Bildnis, Name, Namenszug und die bildliche Nachstellung einer berühmten Szene) der verstorbenen Marlene Dietrich mit 363 § 10 n. 3. 364 Vgl. o., § 11. 2., § 1 II. 2. 365 Urteile vom 1. 12.1999, NJW 2000, 2195 = BGHZ 143, 214 - Marlene Dietrich - und NJW 2000, 2201 - Der blaue Engel; zu den instanzgerichtlichen Entscheidungen vgl. F. Seifert 1999: 1890,1895 ff. 366 Der Übergang erscheint fließend, wenn man den Umstand, daß sich der BGH in den Caroline-von-Monaco-Entscheidungen am Gewinn des Verletzers orientierte, als Beleg dafür nimmt, daß das allgemeine Persönlichkeitsrecht Vermögenswert besitzt; so etwa Siemes 2001: 213; ähnl. Taupitz 2002: 12 ff. 23 Maitra
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der Zuerkennung von Schadensersatzansprüchen geahndet. Das Problem persönlichkeitsrechtlicher postmortaler Rechtspositionen kann hier nicht vertieft werden. Nur soviel: Das Problem hatte schon frühzeitig einen kommerziellen Aspekt. Die Frage, ob Briefe eines Verstorbenen gegen den Willen der Erben verwertet werden können, hatte das Reichsgericht noch vor Inkrafttreten des BGB u. a. mit der Begründung verneint, ein allgemeines Persönlichkeitsrecht erlösche jedenfalls mit dem Tod seines Trägers 367. Die Mephisto-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestätigte - in Abgrenzung zum B G H 3 6 8 - diese Auffassung, um sich mit der Rechtsposition eines von Art. 1 I GG geschützten Persönlichkeitsbereichs des (verstorbenen) Verletzten zu behelfen 369. Der BGH hat diese Formel eines nach dem Tode fortwirkenden „allgemeinen Wert- und Achtungsanspruchs" aufgegriffen und perpetuiert 370. Stets ging es dabei um Unterlassungsansprüche, also die Abwehrkomponente. Mit den beiden Marlene-Dietrich-Urteilen wurde nun zum einen die Rechtsposition der Erben insoweit gestärkt, als ihnen ein persönlichkeitsrechtliches Verwertungsrecht zuerkannt wurde 371 . Zum anderen aber hat sich der I. Zivilsenat des BGH, was nicht weniger von Bedeutung ist, ausdrücklich der bislang eher als Mindermeinung einzustufenden Literaturmeinung angeschlossen und ausgesprochen, daß Vermögenswerte Bestandteile des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als selbständige Bestandteile desselben übertragbar sind 372 und eine Verletzung dieser Rechtspositionen unabhängig von der Schwere des Eingriffs einen Schadensersatzanspruch begründet373. 367 RGZ 41,43/50 - Wagner-Briefe. 368 Der BGH hatte postuliert, daß das allgemeine Persönlichkeitsrecht in einzelnen Ausstrahlungen fortwirke; vgl. BGHZ 15, 249/259 - Cosima-Wagner (s. o., § 10 III. 2.) sowie BGH NJW 1968,1773 - Mephisto. 369 BVerfGE 30, 173/194 ff. - Mephisto; ähnl. BVerfG-K NJW 2001, 594/f - WillyBrandt-Gedenkmünze; NJW 2001, 2957/2958 f. - Wilhelm Kaisen; krit. Zacharias 2001: 2951; Pabst 2002: 1001 ff. 370 BGH GRUR 74, 797/798 - Fiete Schulze; GRUR 84, 908 - Frischzellenkur; BGHZ 107, 384/391-E. Nolde. 371 BGHZ 143, 214/219 ff.; NJW 2000, 2201. Rechtsnachfolger der Vermögenswerten Rechtspositionen sind die Erben, während die nächsten Angehörigen unabhängig von ihrer Erbenstellung als Sachwalter der ideellen Interessen der Verstorbenen gelten; BGHZ 143, 214/226; zu den Konsequenzen vgl. Taupitz 2002: 33 ff. 372 BGHZ 143, 214/220 ff. - Marlene Dietrich. 373 BGHZ 143, 214/228; NJW 2000, 2201 /f. Zur Zeit kann noch nicht als gesichert gelten, daß sich diese Position des I. Zivilsenats zum stabilen Eigenwert verfestigt (weitgehend zust. Gotting 2001; Weichen 2001: 1466 f.; Taupitz 2002: 24 ff.; Haläsz 2004: 101 ff., 162 ff.; i.Erg. zust. Beuthin 2003: 1222; krit. Schach 2000: 1062; Peuken 2000: 713 ff.). Denn der VI. Zivilsenat des BGH h.atte vor nicht allzu langer Zeit Schadensersatzansprüche Prominenter bei unkonsentierter Vermarktung persönlichrechtlicher Positionen noch an dieses Kriterium geknüpft (NJW 1996, 985/986 - Caroline v. Monaco III). Ob andere Spruchkörper folgen, bleibt abzuwarten (skeptisch die Vorsitzende des VI. Senats, Gerda Müller 2000: 805 f.; 2002: 63 ff.). Auch hat das Bundesverfassungsgericht in zwei Kammerentscheidungen erneut verneint, daß das allgemeine Persönlichkeitsrecht über den Tod hinaus Wirkung entfalte und den postmortalen Persönlichkeitsschutz direkt aus Art. 1 I GG abgeleitet
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Damit wurde eine eigenständige, von den persönlichkeitsrechtlichen ideellen Interessen unabhängige kommerzielle Komponente des allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt. Unterstellt, es entstehen insoweit stabile Eigenwerte, dann sind die betreffenden Rechtspositionen damit verkehrsfähig geworden. Wir haben es hier mit rechtlich konstituierten Freiheitsrechten 374 zu tun, die nun auch Verwertungsinteressen schützen - gestützt auf Argumente, welche den Integritätsschutz, also ideelle Interessen betonen375. Die bislang postmortal bestehenden persönlichkeitsrechtlichen Abwehransprüche waren in der Praxis häufig wirkungslos geblieben 376 . Zutreffend weist Gotting darauf hin, das angesichts dieses Umstandes zentrale und letztlich tragende Argument des Gerichts laute, daß „die Vererblichkeit geboten ist, um den Schutz gegenüber einer kommerziellen Nutzung von Name, Bildnis und sonstigen Persönlichkeitsmerkmalen der Verstorbenen durch Nichtberechtigte zu gewährleisten"377. Erneut stehen wir vor einem Mechanismus, der den gesamten persönlichkeitsrechtlichen Diskurs durchzieht: Die rhetorische Schubkraft ideeller Interessen wird (auch) genutzt, um wirtschaftlichen Verwertungsinteressen zum Durchbruch zu verhelfen. Weil solche Rechtspositionen durchstrukturierten Regelgeflechten (Patent-, allgemeines Vertragsrecht und gewerbliche Schutzrechte) aufruhen 378, bedürfen sie, einmal anerkannt, im Vergleich zu reinen Abwehrrechten weitaus geringerer Präzisierung durch die Gerichte. Gerade im Bereich von Gentechnik und Reproduktionsmedizin kann sich dies auswirken, weil die Konservierung von Erbmaterial postmortale Anwendungen (Zeugung, Verwertung und Manipulation) ermög(s. o., Fn. 369). Daß im Vorgriff auf die beiden Marlene-Dietrich-Entscheidungen eine Rechtfertigungsschrift (Ulimann 1999) für erforderlich gehalten wurde, spricht dafür, daß diese aus Sicht des I. Zivilsenats zunächst als „Versuchsballons" gestartet wurden und hinsichtlich der entstandenen kommunikativen Distanz in Kategorie 2 (s. o., § 61.4., § 101. 1.) fallen. 374 s. o. § 1 II. 3. 375 Zu Recht weisen Autoren, die die ökonomische Komponente des allgemeinen Persönlichkeitsrechts betonen (Forkel 1985; Helle 1996: 458 ff.; Freitag 1993; Magold 1994: 657 ff.; Gotting 1995: 1 f., 4 ff., 54 f., 134 ff.; Ulimann 1999), daraufhin, daß das persönlichkeitsrechtliche Selbstbestimmungsrecht „nicht nur ein Verbietungs-, sondern ( . . . ) auch ein Verwertungsrecht sein" (Ulimann 1999: 211; zust. Weichen 2001: 1466 f.) kann. Der Vorsitzende des I. Zivilsenats hat dies dahingehend bewertet, daß insoweit aus Rechten Prominenter an der Verwertung von Bildnis, Namen und Stimme aus persönlichkeitsrechtlichen Rechtspositionen personenbezogene Immaterialgüterrechte geworden seien (Ulimann 1999: 213 f.). Diese Entwicklung hatte sich bereits in der Nena-Entscheidung des BGH (JZ 1987, 158 = GRUR 1987, 128) angedeutet (vgl. Ulimann 1999: 212; F. Seifen 1999: 1893; Gotting 2001: 586). 376 Vgl. Gotting 2001: 585 f.; BGHZ 143, 214/223 f. 3
77 Gotting 2001: 585; vgl. BGHZ 143,214/223 ff.; G. Müller 2002: 65. 8 s. o., § 1 I. 3., § 1 II. 3. So führt etwa die Anwendung dieser Rechtsprechung auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dazu, daß Berechtigte ihre Daten veräußern und unberechtigte Verwertungen kondiziert werden können, ohne daß es, wie beim Anspruch auf entgangene Lizenzgebühren [s. o.; § 10 III. 5. d), bei und in Fn. 263], darauf ankäme, ob der Betroffene grundsätzlich verwertungsbereit ist (vgl. Weichen 2001: 1466 ff.). 37
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licht 379 . Was liegt näher, als die Veränderung der Rechtsprechung auch mit den von diesen Anwendungsfeldern betroffenen persönlichkeitsrechtlichen Positionen in Abgleich zu bringen? Mit Überzeugung konnte man hinsichtlich genetischer Selbstbestimmungsrechte bis vor kurzem noch vertreten, daß die persönlichkeitsrechtliche Bestimmungsmacht mit dem Tode des Keimzellenträgers erlösche und grundsätzlich nicht auf Erben oder sonstige Dritte übergehen könne380. Nachdem die Marlene-Dietrich-Entscheidungen „mit dem lange Zeit als unumstößlich geltenden Dogma der Unvererblichkeit" gebrochen und „geradezu in dessen Umkehrung den Grundsatz aufgestellt (haben), dass die Vermögenswerten Bestandteile des Persönlichkeitsrechts vererblich sind" 381 , ist dies, jedenfalls soweit Vermögensinteressen betroffen sind, nicht mehr so einfach möglich. Gegebenenfalls muß kommunikative Distanz eingeholt, müssen Begründungslasten abgearbeitet werden. Kernfrage wird sein, ob Verwertungs- oder Integritätsinteressen betroffen sind, eine Entscheidung, die im Einzelfall schwierig sein dürfte, weil vom Körper abgetrennte Körperteile als (u. U. persönlichkeitsrechtlich überlagertes) Sacheigentum gelten 382 .
IV. Verselbständigung der Eigenwerte: Die Internalisierung des Risikodiskurses über die Gefahren moderner Medientechnik Bei der Rechtsprechungsanalyse sind bislang zwei wesentliche Elemente der persönlichkeitsrechtlichen Entwicklung zugunsten einer gesonderten Darstellung weitgehend ausgespart geblieben: das „Technikargument" und das persönlichkeitsrechtliche Selbstbestimmungspostulat. Beide Elemente haben einen ganz erheblichen Anteil daran, daß Begründungen, die sich im Modus der Abwägung persönlichkeitsrechtlicher Positionen mit anderen Interessen vollziehen, durch Rückgriff auf außerrechtliche Risikodiskurse Akzeptanz zu erzeugen vermögen.
379 s. o., § 1 II. 3.; vgl. auch Coester-Waltjen 1986: B37 f.; Lanz-Zumstein 1990: 35; Benda- Kommission 1985: 30 ff.; Taupitz 1992: 1093 f.; Damm 1991: 283; 1993: 170 und 1998a: 930 f. 380 So etwa Brohm 1998: 201. 381 Gotting 2001: 585. 382 Lippert 2001: 407 m. w. N.; Simitis 1994: 117 f. und passim; Forkel 2001: 75; Freund/ Weiss 2004: 316; Taupitz 1993: 67 ff., bes. 69 ff.; von Freier 2005: 322 f.; grundlegend neuerdings Haläsz (2004: 20 ff.), der in Anknüpfung an die in Rede stehende Judikatur ein (eingeschränktes) vererbliches Persönlichkeitsverwertungsrecht an vom Körper abgetrennten Substanzen (einschließlich DNA) postuliert (ebd.: 92 ff., 162 ff.).
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1. Das „Technikargument" Der Topos, den ich in Anlehnung an Bussfeld und Gottwald als „Technikargument" 383 bezeichnen will, ist bei genauerem Hinsehen weit mehr als ein Argument. Es handelt sich zugleich um eine Argumentform 384, die erheblichen Anteil an der Offenheit des persönlichkeitsrechtlichen Diskurses gegenüber außerrechtlicher Risikokommunikation und rechtsexternen Rationalitäten hat. Es sei, so lautet das Technikargument, die fortschreitende technische Entwicklung, die zu einer quantitativen wie qualitativen Zunahme neuartiger Gefährdungen und Beeinträchtigungen von Individualität, Persönlichkeit und deren Grundlagen führe und so einen lückenschließenden persönlichkeitsrechtlichen Schutz erzwinge. Der gesamte Diskurs, der die persönlichkeitsrechtliche Rechtsprechung des BGH begleitete, ist davon durchdrungen 385. Nicht erst seit dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts ist aus dem zunächst nur ergänzenden Argument, Persönlichkeitsrechte böten Schutz vor den Gefahren neuartiger Techniken, ein Zentralargument mit zunehmend tragendem Charakter geworden 386, das in fast jeder persönlichkeitsrechtlichen Abhandlung seinen Platz findet 387. Verschiedene Argumente des persönlichkeitsrechtlichen Diskurses sind darin verwoben: • der staatliche Schutzauftrag (Art. 112 GG); • das richterliche Rechtsfortbildung rechtfertigende „Altern der Kodifikation", mit dem das tradierte juristische Lückenargument, der Gesetzgeber habe die zur Entscheidung stehende Konflikt-/Problemlage nicht vor Augen haben können, genutzt wird; • die der konservativ-romantizistischen Kultur- und Kapitalismuskritik des 19. Jahrhunderts entlehnte Vorstellung einer die heile, unversehrte, aber verletzliche Natur gefährdenden und bedrohenden Technik und schließlich • das Bild einer hochdynamischen technischen Entwicklung, der ein auf Bewahrung angelegtes Recht hinterher eilt 388 . Die Plausibilität des Technikarguments zehrt v. a. von der die gesamte Moderne, verstärkt aber die Innovationsschübe der vergangenen fünfzig Jahre begleitenden, 383 Vgl. Bussfeld 1978: 162; Gottwald 1996: 133. 384 Zum Begriff s. o., § 4 VIII., Fn. 109. 385 Exemplarisch Hubmann 1957: 521, 524; Going 1958: 559; Reinhardt 1954: 549; Koebel 1955: 1338 f., v. Caemmerer 1960: 105; Süss 1956: 190 ff., bes. 208-210, 195; Bussmann 1957: 5, 26, 60; Nipperdey 1959/1957: D7; w. Nachw. bei Bussfeld 1978: 161 ff.; Gottwald 1996: 133 ff. 386 Vgl. nur BGHZ 27, 284/286 ff., bes. 288 f. - Tonbandaufnahme I; 39, 124/130 f. Fernsehansagerin; BVerfGE 34, 238/246 f. - Tonbandaufnahme; 65, 1 /41 f. - Volkszählung I; BVerfG NJW 2000, 1021 /1022 - Caroline v. Monaco (dort nur implizit); BGH NJW 2000, 2195/2197 - Marlene Dietrich. 387 Vgl. nur v. Bar 1980: 79 f.; Schwerdtner 1985: 522; ders. 1997: 28 f., 43; Klippel 1987b: 21; Grimm 1997: 12 f.; Helle 1996: 450; Gotting 1995: 6, Lorenz 1989: 128 (§ 8 II). 388 Ausführlich hierzu oben, § 1 V.; exemplarisch Henkel 1957: 148 f.; Süss 1956: 190 f.
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permanent kommunizierten Grunderfahrung, daß neue Techniken und die durch sie eröffneten neuen Handlungsoptionen die bisher tradierten, handlungsleitenden Orientierungsmuster und Wissensbestände zersetzen und so verunsichern 389. Seine Triftigkeit ist immer wieder relativiert und bestritten worden; im wesentlichen mit dem Hinweis, daß es sich zumindest bei den Gefährdungen der 50er /60er Jahre durch Tonträger, Fototechnik sowie die Massenpresse keineswegs um neuartige, dem Gesetzgeber des BGB unbekannte Gefährdungen gehandelt habe 390 . Gottwald geht soweit zu behaupten, das durchaus ernstgemeinte Technik-Argument sei lediglich zur Absicherung des gefundenen Ergebnisses herangezogen worden, weil die naturrechtliche Neubegründung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in der Lehre zunehmend auf Kritik gestoßen sei 391 . Dies sei zunächst dahingestellt. Selbst wenn das Technik-Argument lediglich eine die eigentlichen Intentionen bemäntelnde Scheinbegründung lieferte, so konnte es doch nur deshalb ein funktionales Argument sein, weil es narrativ an hegemoniale Wirklichkeitsverständnisse anknüpfte und diese reproduzierte. Neue Gefährdungsqualitäten wurden öffentlich zunehmend exzessiv kommuniziert. Wenn es stimmt, daß gesamtgesellschaftliche Realität durch öffentliche Diskurse hergestellt wird, dann sind Gefährdungen erst in dem Moment real, in dem sie öffentlich kommuniziert werden. Risiko ist, das wurde oben ausgeführt, was als Risiko kommuniziert wird 392 . Am Beispiel des Problems unkonsentierter Tonbandaufnahmen läßt sich nachvollziehen, wie ein rechtlicher Diskurs den Charakter von Risikokommunikation gewinnt und wie dabei die dogmatische Argumentation entlang tradierter Eigenwerte zumindest vorübergehend in den Hintergrund gerät. Die magnetoelektrische Tonbandaufnahme hatte zunächst Fragen urheberrechtlich gesicherter Verwertung von Text- und Musikprodukten aufgeworfen 393. Anfang der 50er Jahre kamen tragbare Tonbandgeräte auch für den privaten Gebrauch in den Handel und wurden zunehmend zu einem Produkt des Massenkonsums394. Der Mißbrauch heimlicher oder vom Aufgenommenen nicht autorisierter Aufnahmen beschäftigte ab Mitte der 50er Jahre die Gerichte 395. Dem entsprach eine 389 s. o., § 1 VII., § 7 I. 1., § 7 I. 2.; zum Kontext Gentechnik siehe im Fortgang unter § I I I . und § 11 n. 390 Vgl. H. Kaufmann 1963: 377 f.; Bussfeld 1978: 162 ff., bes. 170 ff., 241 f.; Gottwald 1996: 133 ff. 391 Gottwald 1996: 136 f. 392 s. o., § 71. 2. 393 Exemplarisch Gentz 1952; Neumann-Duesberg 1952; Mediger 1951; Roeber 1957: 14 ff.; Nipperdey 1964: 9 ff. mit umfangr. Nachw.; BGHZ 8, 88; 17, 266; vgl. hierzu auch Simon 1981:52, 54 ff., 82 ff. 394 Mitte der 60er Jahre konnten Tonbandgeräte zu einem Preis ab 250 DM (Nipperdey 1964: 61) „von jedermann preiswert erworben werden" (ebd.: 9). 395 Arbeitsgericht Kassel BB 1955, 31; LG Hagen BB 1955, 489; AG Bremen BB 1956, 864; KG NJW 1956, 26; OLG Düsseldorf BB 1956, 481; OLG Stuttgart GRUR 1956, 519; BayObLG JZ 1956, 228; BGHSt 10, 203; BGH JZ 1956, 227; BGHZ 27, 284 - Tonband-
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ausgedehnte rechtswissenschaftliche Debatte über die Gefahren heimlicher Tonbandaufzeichnungen 396, die wiederum in einen allgemeinen technikkritischen Diskurs eingebettet war 397 . Zunehmend wurden Gefahren thematisiert, die daraus entstanden, daß tragbare und immer kleinere Tonbandgeräte und Kameras die unauffällige, unbemerkte und damit unkontrollierbare Beobachtung von jedermann durch jedermann sowie eine vom ursprünglichen Lebenszusammenhang abgelöste und massenhafte Reproduktion ermöglichten398. Fast unisono und vor allem mit Argumenten, die die soziale Bedeutung ungestörter Kommunikation betonten, wurden in verschiedenem Kontext heimliche, ohne Wissen der Betroffenen oder gegen ihren Willen aufgenommene Tonbandaufnahmen als Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewertet 399. Einen ähnlichen diskursiven Prozeß konnte man im Kontext der Volkszählung 1983 bei der Diskussion um ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung verfolgen 400. Ich meine, daß die Kritiker des TechnikArguments verkennen, welche ungeheure Dynamik die Massenproduktion in der Nachkriegsgesellschaft freigesetzt hat. Die Geräte wurden kleiner, billiger und aufgrund gestiegener Massenkaufkraft zu für jedermann erschwinglichen Konsumprodukten. Deshalb und weil zudem die damit gefertigten Aufnahmen durch Massenmedien einem breiten Massenpublikum zugänglich gemacht werden konnten, wurden die Gefährdungen als ubiquitär wahrgenommen und kommuniziert. Im Rahmen dieses Diskurses erhielt das zunächst nur ergänzende Argument, das Persönlichkeitsrecht diene der Abwehr neuer technischer Gefahren, zunehmend tragenden Charakter. Es ist ein modernes Argument. Indem es auf staatliche Schutzpflichten (Artt. 1, 2 GG), also die objektivrechtliche Grundrechtsdimension aufnähme I; BVerfGE 34, 238 - Tonbandaufnahme; weitere Beispiele aus der Rechtsprechung bei Henkel 1959/1957: D117 f. 396 Siegert 1953 und 1957; Heimerich 1956; Larenz 1959/1957: D26 ff.; Bussmann 1957: 26 ff., 44 ff.; Henkel 1957, 1957a und 1959/1957: D117ff.; Coing 1957; Röhl 1957; Lang 1960; Nipperdey 1964: 33 ff.; w. Nachw. in der den Arbeiten von Roeber 1957 und Werhahn 1957 beigefügten Liste (S. 50 f.). 397 Vgl. Heimerich 1956: 249. 398 Erstmals war eine solche Problematik aufgetreten, als 1888 die erste handliche Kamera, die Momentaufnahmen ermöglichte, auf den Markt kam; vgl. F. Seifert 1999: 1890. 399 Coing 1957: 36 ff.; Werhahn 1957: 28 ff.; Larenz 1959/1957: D26ff.; Sarstedt 1956: 124 ff; Heimerich 1956: 250 f.; Siegert 1957: 689 f.; Bussmann 1957: 44 ff.; Henkel 1957: 150; 1957a: 47 ff. und 1959/1957: 122 f.; Lang 1960: 76; Nipperdey 1964: 39; deuüich auch BGHZ 27, 284/286 ff. - Tonbandaufnahme I. Ob heimliche Aufnahmen grundsätzlich rechtswidrig sind, blieb zunächst umstritten, mit der deutlichen Tendenz, dies zu bejahen und diese Vermutungsregel nur ausnahmsweise, bei überwiegenden gegenläufigen Interessen, widerlegt zu sehen. Diese Auffassung hat sich in der Rechtsprechung (BGHZ 27, 284/286 ff. - Tonbandaufnahme I; BGH VersR 1982, 191 /192 f.; VersR 1988, 379/380 f.; ArztR 1998, 42; BVerfGE 34, 238/246 ff. - Tonbandaufnahme; BVerfG NJW 1992, 815/816) längst zum etablierten Eigenwert verfestigt. 400 s. o., § 1 I. 1., bei und in Fn. 14. Auch die seit etwa Mitte der 80er Jahre zur Genanalyse geführte Diskussion um ein „Recht auf Nichtwissen" (siehe § 11 HL 2) vollzieht sich in ähnlicher Weise.
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rekurriert, weist es starke Berührungspunkte über die v. a. im öffentlichen Recht geführte Diskussion über den Staat als „Schutzstaat" (H. A. Hesse) und das Erfordernis dynamischen Grundrechtsschutzes auf 401 . Es ermöglicht den umstandslosen Rekurs auf eine Vielzahl außerrechtlicher Argumente, die sich typischerweise in Risikodiskursen über die Gefahren neuer Techniken finden und ist damit mehr Argumentform, denn Argument. Der Topos, der durch bisherige Konkretisierungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gewährleistete Schutz sei ,4m Blick auf moderne Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen neuen Gefährdungen der menschlichen Persönlichkeit ( . . . ) nicht abschließend"402, ist direkter Ausdruck der in diesem Verständnis enthaltenen Furcht vor einer davoneilenden technischen Dynamik. Er enthält eine Öffnungsklausel, die signalisiert, daß in dem konkreten Problembereich die Möglichkeit von Rechtsänderungen besteht, die u. U. auch quer zu den bisherigen Routinen des Regeldiskurses liegen können403.
2. Das persönlichkeitsrechtliche „Recht auf Selbstbestimmung" Zusammen mit dem Technikargument setzte sich ein weiterer Topos der persönlichkeitsrechtlichen Rechtsprechung endgültig und nachhaltig durch: das „Selbstbestimmungskonzept" (Grimm). Jeder Versuch, das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch Vergegenständlichung eines abgrenzbaren Schutzbereichs handhabbar zu machen, stand und steht vor einem grundlegenden konstruktiven Problem, sobald es um technisch ermöglichte Beeinträchtigungen geht, insbesondere dann, wenn die Techniken der Gewinnung, Umwandlung, Verwertung oder Weitergabe von Daten dienen. Dazu zählen Ton- und Bildtechnik ebenso, wie die elektronische Datenverarbeitung und die Genanalyse. Auf einen Nenner gebracht, geht es bei der persönlichkeitsrechtlichen Regulierung solcher technischen Gefahren stets um Kontrollverluste, die das Individuum erleidet, wenn seine Lebensäußerungen, technisch fixiert und von ihren ursprünglichen Entstehungs- und Verwendungszusammenhängen abgelöst, beliebig und zudem in veränderter Form reproduziert werden können404. Dadurch kann, wie das Bundesverfassungsgericht zur automatischen Datenverarbeitung ausgeführt hat, „ein für sich gesehen belangloses Datum einen neuen Stellenwert bekommen; insoweit gibt es ( . . . ) kein belangloses Datum mehr" 405 . Das aber macht die abstrakte und generalisierende Beschreibung eines 401 s.o., § 2 ü . 1.und2. 402 BVerfGE 65,1/41 - Volkszählung I. 403
Zu diesem systemtheoretisch als Irritationsbereitschaft bezeichneten Mechanismus s. o., § 8 I. 2. b). 404 Im Zusammenhang mit dem Persönlichkeitsrecht am eigenen Bild spricht das Bundesverfassungsgericht von der „Möglichkeit, das Erscheinungsbild eines Menschen in einer bestimmten Situation von diesem abzulösen, datenmäßig zu fixieren und jederzeit vor einem unüberschaubaren Personenkreis zu reproduzieren" (NJW 2000, 1021 /1022 - Caroline v. Monaco). 405 BVerfGE 6 5 , 1 / 4 5 - Volkszählung I.
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Schutzbereichs fast unmöglich. Albrecht Funk hat in diesem Zusammenhang konstatiert, daß „die Antiquiertheit eines Persönlichkeitsrechts, das auf der autonomen Verfügung über identifizierbare private Lebensbereiche und Güter basiert, ( . . . ) durch die neuen Technologien nicht geschaffen, sondern nur offenkundig geworden" sei und daß mit „Entstehung umfassender Informations- und Kommunikationssysteme ( . . . ) die bisherigen Bemühungen, abgrenzbare Bereiche privater und öffentlicher Kommunikation und Lebensgestaltung zu fixieren, endgültig zum Scheitern verurteilt" seien406. Ich bezweifle, daß den Richtern, die dem Vergegenständlichungsproblem mit Hilfe des Selbstbestimmungsarguments begegneten, bewußt war, daß sie damit einen Paradigmenwechsel einleiteten. Dieter Grimm hat angemerkt, daß mit der Tonband-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1973 407 , in der es um einen unautorisierten, der Staatsanwaltschaft zugespielten Mitschnitt eines Geschäftsgespräches ging, eine Wendung weg vom Privatsphären-, hin zu einem abstrakteren und daher aufnahmefähigeren Selbstbestimmungskonzept vollzogen worden sei 408 . Es dürfte zutreffen, daß sich dieser Paradigmenwechsel in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung erst Anfang der siebziger Jahre vollzieht. Die zitierten zivil- und strafrechtlichen Urteile zum Problemkomplex Tonbandaufnahmen machen jedoch deutlich, daß die wesentlichen Ansätze dazu bereits erheblich früher, nämlich von Mitte der 50er Jahre an, von den ordentlichen Gerichten in eher alltäglichen, unspektakulären Fällen geliefert wurden. Ganz kategorisch, weit über das Problemfeld unkonsentierter Tonbandaufnahmen hinausgehend, hatte das Kammergericht bereits in einem Urteil vom 3. Juni 1956 konstatiert: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht beinhaltet ( . . . ) die ausschließliche Befugnis, zu bestimmen, wann, wo, wie und welche von der Persönlichkeit ausgehende, sinnlich wahrnehmbare Erscheinungsformen gleich welcher Art von Dritten fixiert, wiedergegeben oder sonst genutzt werden." 409 Schon zuvor war in verschiedenen Zusammenhängen ein aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht resultierendes Selbstbestimmungsrecht postuliert worden: als Recht des Verfassers, „zu entscheiden, ob und in welcher Form seine Aufzeichnungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden" 410 und als Recht des Abgebildeten, darüber zu entscheiden, „ob, 406 Funk 1994: 571; vgl. hierzu auch Brüggemeier 1986b: 971 f. 407 BVerfGE 34, 238. 408 Grimm 1997: 12 ff., unter Hinweis auf BVerfGE 35, 202/220 - Lebach; 54, 148/153 - Eppler; 54, 208 - Böll/Walden; 63, 131 - Gegendarstellung; 65, 1 - Volkszählung I; ähnl. Funk 1994: 563 ff. 409 KG GRUR 56, 47/48; ähnl. - immer bezogen auf das Problemfeld der Tonbandaufnahmen - OLG Stuttgart GRUR 1956, 519/521; BGHSt 10,202/205; BGHZ 27, 284/286 Tonbandaufnahme I; BVerfGE 34, 238/246 - Tonbandaufnahme. Ansätze finden sich bereits in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, das es in das Beheben des Abgebildeten gestellt sehen wollte, ob und wem er es erlaube, sein Bild als Warenzeichen oder Reklame zu nutzen; RGZ 74, 308/312 f. - Graf Zeppelin. 410 BGHZ 13, 334/338 f. - Leser-/Schachtbrief; ähnl. BGHZ 15, 249/256 ff. - Cosima Wagner.
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wann und unter welchen Umständen sein Bildnis der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden darf" 411 . Immer ging es dabei - im weitesten Sinne - um die rechtlich (wieder) hergestellte Verfügungsgewalt über persönliche Daten. Mir erscheint von Interesse, daß das Selbstbestimmungspostulat als Argumentform Zusammenhängen entlehnt wurde, in denen es, das zeigen die Leserbriefund die Paul-Dahlke-Entscheidung in aller Deutlichkeit, um Verwertungsbefugnisse geht 412 . Bei diesem Hinweis geht es mir nicht primär um die Frage nach dem ideellen oder kommerziellen Gehalt der betreffenden Rechtspositionen413, sondern vor allem um deren Normstruktur. Mit der Postulierung eines persönlichkeitsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts wurde kein Bereich unbewehrter, d. h. selbstexekutiver Freiheit thematisiert oder durch Verbotsregeln geschützt414. Vielmehr wurde eine zuvor nicht vorhandene Freiheitsmöglichkeit rechtlich konstituiert. Für Fälle, in denen Lebensäußerungen Betroffener mit technischen Mitteln ihrer faktischen Kontrolle entzogen worden sind, wurde eine Rechtsposition geschaffen, die ihre Kontrollmöglichkeiten rechtlich erweitert 415. Dies ist von kaum zu überschätzender Bedeutung. Der Intention nach zunächst auf die Bewehrung individueller Freiräume gerichtet, wurde dieser abstrakte Grundsatz der Selbstbestimmung als eigentumsanaloges Recht auf Herrschaft über die eigenen Daten 416 ausgeformt. Damit war schon der Normstruktur nach ein wesentlicher Ansatzpunkt für die Ausweitung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auf kommerzielle Verwertungsinteressen gesetzt. Im Rahmen der technikkritischen Rechtsprechung zu den Tonbandaufnahmen wurde der Gesichtspunkt der Selbstbestimmung nun zu einem, wenn auch abstrakten, so doch zentralen Eigenwert mit umfassender Geltung ausgeweitet. Noch vor BGHZ 20, 345/347 - Paul Dahlke. Eher konservativ dem Sphärendenken verhaftet blieb demgegenüber die Begründung im klassischen datenschutzrechtlichen Fall [BGHZ 24,72 - Krankenpapiere; vgl. o., § 10 III. 4. a)], in dem noch auf den vergegenständlichten Bereich einer geschützten Geheimsphäre abgestellt wurde (ebd.: 79 ff.); ähnl. auch noch BVerfGE 32, 373 / 378 ff. - Krankenblattbeschlagnahme. 412 In der Leserbriefentscheidung wurde das urheberrechtliche Verwertungsprivileg des Verfassers zu einem allgemeinen Verbot ausgeweitet, Schriftstücke ohne dessen Genehmigung zu ändern und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen [s. o., § 10 III. 1. b), § 10 III. 1. c)]. Mit der Paul-Dahlke-Entscheidung wurden originär patent-, Urheber- und gebrauchsmusterschutzrechtliche Schadensliquidationskriterien auf ein reines Persönlichkeitsrecht übertragen (s. o., § 10 HI. 3.). 413 Allerdings halte ich Bruno Seemanns Hinweis für zutreffend, daß ein auf Selbstbestimmung abzielender Persönlichkeitsschutz geeignet ist, die „ursprünglich ideelle Grundausrichtung des Individualitätsschutzes zu überwinden und wirtschaftliche Interessen durch Ausgestaltung ideell-wirtschaftlicher Doppelrechte an Identitätsmerkmalen wie Namen, Bild, Stimme etc. miteinbinden zu können" (1996b: 65; vgl. ebd.: 64 f.). 4 4 * Zum normstrukturellen Problem s. o., § 11. 2. a), § 11. 2. b), § 1 II. 1. und 2. 415 Der Mechanismus wurde bereits am Beispiel der Leserbriefentscheidung erläutert; s. o., § 10 III. 1. c), vgl. auch § 10 IE. 3. Zum Begriff des rechtlich konstituierten Freiheitsrechts s. o., § 11. 3. und § 1 II. 3. 4 16 So auch Trute 1998: 825.
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aller regelförmigen Verdichtung wurden mit diesem Eigenwert Argumentationslasten begründet, die sich in ihrer Evidenz auf den kulturell tradierten engen Zusammenhang zwischen persönlichen Lebensäußerungen, Angst, Vertrauen und dem reaktiven Verlangen nach Kontrolle und Selbstbestimmung417 stützen konnten. Für zentral halte ich Dieter Grimms Hinweis, daß das Selbstbestimmungskonzept aufnahmefähiger als das Privatsphärenkonzept ist 418 . Das Postulat, der einzelne habe grundsätzlich die Befugnis, über die technisch reproduzier- und veränderbare Verwertung seiner Lebensäußerungen zu entscheiden, ist ein sehr abstrakter Satz, der die Aufnahme von Argumenten, die in rechtsexternen Diskursen kursieren, begünstigt. Mit ihm ist ein Prinzip beschrieben, das aufgrund seiner lebensweltlichen Fundierung und affektiven Verankerung in der Binnenstruktur der Individuen hohe Plausibilität aufweist 419 und damit, sobald thematisiert, Argumentationslasten begründet. Daß diese erheblich sind, daß es sich bei dem Selbstbestimmungspostulat nicht lediglich um eines von vielen rechtlich anerkannten Interessen handelt, darauf verweist schon die Formulierung als Grundsatz, von dem nur ausnahmsweise abgewichen werden darf 420 . Wer in diese Rechtsposition einzugreifen trachtet, hat die Darlegungs- und gegebenenfalls auch die Beweislast dafür, daß andere Interessen im konkreten Fall gewichtiger sind 421 . Was aber wird dargelegt? Mit dem Hinweis auf die Hochrangigkeit der betroffenen Interessen wird sich keine der streitenden Parteien und auch kein Gericht begnügen können. Wer immer hier in einem rechtlichen Zusammenhang argumentiert, wird die besonderen, im konkreten Fall zutage tretenden Nutzen- und Gefahrenseiten des Eingriffs vortragen. Worin das Spezifische einer Gefahr oder Beeinträchtigung liegt, ist zu beschreiben. Die Berufung auf Rechtspositionen und vorfindbare rechtliche Strukturen reicht dazu jedenfalls dann nicht aus, wenn es sich um vergleichsweise neue Problemwahrnehmungen handelt, denen noch keine rechtlichen Eigenwerte entsprechen. Im Falle neu auftretender Problemkonstellationen wird man in der Regel gezwungen sein, auf außerrechtliche Erwägungen, Rationalitäten und Risikokommunikationen Bezug zu nehmen422. Man kann dies s. o., § 91.2. d), § 91. 3. 418 Grimm 1997: 15. 419 Siehe hierzu eingehend § 9, bes. § 91. 2. d), § 91. 2. c) aa), § 9 II. 420 Vgl. nur BVerfGE 65,1 /43 f. - Volkszählung I. 421 Vgl. zum Problemkreis der Verfälschung des Persönlichkeitsbildes Erman-Ehmann 2000: 91 (Anh. zu § 12, Rn. 429); zum Problemkreis Ehrenschutz Erman-Ehmann 2004: 31 (Anh. zu § 12, Rn. 49 f.). Im weitgehend zur Regelform verdichteten Bereich des Arzthaftungsrechts geht es in zweierlei Hinsicht um persönlichkeitsrechtliche Selbstbestimmung: Sowohl bei der Selbstbestimmungsaufklärung (BGH NJW 1991, 2349; BGHZ 102, 17; BGH VersR 1992,314), als auch hinsichtlich des informationellen Selbstbestimmungsrechts des Patienten (BGH NJW 1992,737; NJW 1996,773/774) ist der Arzt als Eingreifender darlegungsund beweispflichtig dafür, daß Eingriffe in diese Rechtspositionen gerechtfertigt waren. 422 Es handelt sich um Erwägungen, die Alexy als „empirische Argumentation" bezeichnet (1991: 285 ff.). Zu dieser zählt er empirische, verschiedenen Wissensgebieten und Wissen-
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an einer Vielzahl verfassungsgerichtlicher Entscheidungsbegründungen deutlich erkennen 423, aber auch an den frühen Entscheidungen ordentlicher Gerichte zur Tonbandaufnahme 424. Insofern also trifft es zu, daß das Selbstbestimmungskonzept aufnahmefähiger als das Privatsphärenkonzept ist. Man muß sich nicht rechtsgutbezogen um begriffliche Zuordnungen zu Intim-, Privat- oder Geheimsphäre bemühen, deren Grenzbereiche sich zunehmend verwischen, weil Konventionen infolge von Individualisierungsschüben schwinden und sich das Gefährdungspotential moderner Informationstechniken diesen Kategorien ohnehin entzieht. Es gilt die noch abstraktere, aber eben darum griffigere Vorgabe, daß Eingriffe in das persönlichkeitsrechtliche Selbstbestimmungsrecht rechtfertigungsbedürftig sind. Was persönlich, insbesondere, was (wenigstens auch) persönliches Datum ist, läßt sich einfacher bestimmen, als eine Feinzuordnung zu verschiedenen Sphären vorzunehmen. Auf der Grundlage einer solche Gewichtungsregel werden Gefahren- und Interessenlagen stets handlungsbezogen beschrieben. Dies erleichtert einerseits die Aufnahme bislang rechtsfremder Kategorien und Interessen in das Recht, andererseits aber auch die spätere Regelbildung, weil Konditionalprogramme in der Regel konkrete Handlungen, nicht abstrakte Rechte, Rechtsgüter oder Interessen beschreiben425. Eine Weitergabe oder Verarbeitung persönlicher Daten kann eben ohne Willen des Berechtigten nur dann erfolgen, wenn dies gesetzlich vergleichsweise detailliert, also in Konditionalform geregelt ist 4 2 6 oder auf den konkreten Fall und damit handlungsbezogen beschrieben werden kann, aufgrund welcher spezifischen Problemkonstellation andere Interessen überwiegen427. Die Argumentform läßt sich, schatten zuzuordnende Sätze über singuläre Tatsachen, einzelne vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Handlungen, Motive des Handelnden, Ereignisse, Zustände, natur- und sozialwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten (1991: 286). 423 Vgl. nur BVerfGE 34, 238/246 f. - Tonbandaufnahme; 35, 202/222 ff. - Lebach; 65, 1 / 42 ff. - Volkszählung I; NJW 2000,1021 /1022 ff. - Caroline v. Monaco. 424 Vgl. Arbeitsgericht Kassel BB 1955, 31; AG Bremen BB 1956, 864; OLG Düsseldorf BB 1956, 482; BayObLG JZ 1956, 228/f; BGHZ 27, 284/286 ff. - Tonbandaufnahme I; BVerfGE 34, 238 - Tonbandaufnahme; weitere Beispiele aus der Rechtsprechung bei Henkel 1959/1957: D 117 f. 425 Der Ausnahmefall strikt rechtsgutsbezogener Erfolgsunrechtshaftung setzt einen vergleichsweise harten, d. h. eigenwertgesättigten Bestand konsensualer Vorstellungen voraus, was das geschützte Rechtsgut umfaßt und was nicht. Zur Differenzierung zw. rechtsguts- und eingriffsformbezogener Rechtsausprägung im Zusammenhang mit dem Problem der Ausbildung von Regelstrukturen s. o., § 81. 2. b), § 81. 2. d) aa), § 10 IE. 4. e). 426 Daß Datenschutzbestimmungen oft auf den Zweck der Datenverarbeitung abstellen, macht ihre Konditionalprogramme nur zu (partiellen) Finalprogrammen, wenn die Zweckvorgaben sehr abstrakt gehalten sind. 427 Mit der Umstellung auf das Selbstbestimmungskonzept wurden bisherige Differenzierungen nicht obsolet. Beispielsweise lassen sich Leben, Körper und Körpersubstanzen, Stimme, Psyche, das eigene Bild, persönliche Daten etc., kurzum, das gesamte Sammelsurium der Interessen, Rechte und Rechtsgüter, die von der Rechtsprechung dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und besonderen Persönlichkeitsrechten zugeordnet wurden, dem persön-
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das hat insbesondere die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Arzthaftungsrecht gezeigt, in ein ausdifferenziertes Regelungsgeflecht einpassen, das sich zumindest teilweise zunächst in anderen Problembereichen entwickelt hat und auf den klassischen regelförmigen Konstrukten der Einwilligung und der Aufklärung beruht 428. Wir haben es somit mit einer Form der Zweckprogrammierung zu tun, die ihrer Struktur nach eine schnelle und umstandslose Konditionalisierung erleichtert.
3. Die Verselbständigung von Eigenwerten Vorstehend skizzierte Entwicklung zeigt, wie wenig der Stellenwert eines allmählich zum rechtlichen Eigenwert gerinnenden Arguments aus der Entscheidungssituation heraus beurteilt werden kann. Ursprünglich haben das Technikargument und das persönlichkeitsrechtliche Selbstbestimmungspostulat im rechtswissenschaftlichen Diskurs um die Gefahren der Magnetton- und der modernen Medientechnik für die Privatsphäre eine erste deutliche Verfestigung erfahren. Es handelte sich um plausible, weil oft kommunizierte Argumente, die sich zunächst auf wenige Problemkreise bezogen. Im Verlauf der weiteren Entwicklung haben sich diese Eigenwerte von ihrem ursprünglichen Problemzusammenhang abgelöst und verselbständigt. Sie haben auf der Systemebene ein emergentes, von ihrer Nutzung in den ursprünglichen Begründungs- und Entscheidungszusammenhängen losgelöstes Niveau erreicht 429, sind von inhaltlichen Argumenten zu Argumentformen geworden, die sich mit immer neuen Argumenten sättigen lassen und auf immer neue Risikodiskurse Zugriff nehmen. Mit dem Technikargument und dem persönlichkeitsrechtlich geprägten Topos individueller Selbstbestimmung haben sich zwei Argumentformen herauskristallisiert und stabilisiert, die im Zusammenspiel mit dem Begründungsmodus der Abwägung ermöglichen, sehr weitgehend, umstandslos und flexibel von einer dogmatischen (d. h. eigenwertgesättigten und tendenziell regelorientierten) auf eine empirische (d. h. weitgehend rechtsexterne) Argumentation umzuschwenken, den Dynamiken öffentlicher Risikodiskurse Rechnung zu tragen und deren Konjunkturen und technikskeptischen Evidenzen zu nutzen, ohne sich der Möglichkeit jederzeitiger Eigenwertbildung zu begeben.
lichkeitsrechtlichen Selbstbestimmungsrecht als Gegenstandsbereiche zuordnen; vgl. BastonVogt 1997: 219 ff. mit umfangr. Nachw. zur Rspr. 428 Vgl. Baston-Vogt 1997: 224 ff. Auch wenn es sich beim informationellen Selbstbestimmungsrecht und dem Modell des informed consent um zwei unterschiedliche Grundkonzeptionen handelt (Damm 1999a: 439), so hat doch der Umstand, daß die Aufklärung mit Hilfe des Selbstbestimmungspostulats zur „Selbstbestimmungsaufklärung" erstarkt ist, als probates Argument die ärztliche Aufklärungspflicht erheblich aufgewertet (vgl. Hart 1998: 308 ff.). Zur persönlichkeitsrechtlichen Grundierung der neueren Rechtsprechung zur ärztlichen Dokumentationspflicht und zum Einsichtsrecht des Patienten vgl. Damm 1998a: 928 f. M Zum Begriff der Emergenz s. o., § 5 II. 1. b), Fn. 40.
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Teil 4: Persönlichkeitsrechtsentwicklung
V. Zwischenergebnis: Die Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zwischen Bruch und kontinuierlicher Verfestigung Mit vorstehender Rechtsprechungsanalyse habe ich versucht, eine Reihe jener Mechanismen nachzuweisen, die man als Kennzeichen prinzipienorientierter Diskurse ausmachen kann. Brüche mit etablierten, eigenwertgesättigten und regeiförmigen Strukturen werden mit der Abwägung abstrakter und hochrangiger Prinzipien begründet. Deren vergleichsweise große Abstraktheit und Offenheit gegenüber außerrechtlicher Argumentation begünstigt, daß auf Brüche, solange offen ist, ob sie nur Episode bleiben und wie weitgehend sie auf andere Problemfelder übergreifen, eine Phase vergleichsweise großer, verunsichernder, oft heftig beklagter und kritisierter Instabilität folgt. Dennoch erfolgen Brüche nie so radikal, wie es den Anschein hat, wenn man vom Ideal stabiler, ausdifferenzierter Regelkonstrukte ausgeht. Sie nehmen stets Rekurs auf gemeinsame kommunikative Vergangenheiten, nutzen deren gefestigte Evidenzen. Brüche bedienen sich zu ihrer Rechtfertigung unter anderem solcher Argumente, die in minoritären juristischen Texttraditionen aufgehoben waren. Stets wird sowohl von den Gerichten selbst wie von ihren Kritikern ein möglichst weitgehender Abgleich mit den vorhandenen Eigenwerten versucht, wird die kommunikative Distanz zum etablierten Regeldiskurs so gering wie möglich gehalten. Stabilisierung erfolgt schon durch die Entfaltung einer an den Bruch rekursiv anknüpfenden Rechtsprechung. Dem Bruch folgen seitens der Rechtswissenschaft Systematisierungsbestrebungen, die aus Ketten einzelfallspezifischer Entscheidungen Gemeinsamkeiten und über den Einzelfall hinausweisende Eigenwerte herauszudestillieren versuchen. Stabilisierung geht in aller Regel mit Ausdifferenzierung einher. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht hat so in Teilbereichen durchaus Strukturen erhalten, die vergleichsweise stabil sind, also für routineförmiges Entscheiden und Berechenbarkeit stehen. Insoweit ist die Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Normbildungsprozeß 430 zu begreifen, bei dem die zunächst einzelfallspezifisch begriffene Kollisionslage zwischen verschiedenen Freiheitssphären „auf einem Kontinuum zwischen offener Abwägung und zunehmend eindeutiger Präponderanz des Personalitätsaspekts auch zunehmend »eindeutig' und ,indikativ' werden" 431. Man kann der Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts entnehmen, daß jene radikale Instabilität der dritten Stufe 432 ein im 430
Ich neige dazu, mit Blick auf den Geltungsaspekt von einemrichterlichen Normbildungsprozeß zu sprechen. Darin liegt allerdings die Gefahr, die starke Wechselbezüglichkeit zu Entwicklungen in der rechtswissenschaftlichen Literatur und außerrechtlichen Diskursen auszublenden. Zum Problem s. o., § 101. 2. Deren Stellenwert soll im Folgekapitel beleuchtet werden. 431 Damm 1998a: 937; vgl. auch Damm 1998b: 137 ff. 432 Zum Stufenschema s. o., § 61. 4., § 101.1.
§10 Zwischen Prinzipienabwägung und Regelbildung
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Rechtssystem eher seltener Aggregatzustand mit Ausnahmecharakter ist, wohingegen mit dynamischen und in einem positiven, weil produktiven Sinne irritierenden Phasen hoher Varianz 433, wie sie oben als zweite Stufe klassifiziert wurden, weit eher zu rechnen ist. Vor diesem Hintergrund wird man die von Luhmann u. a. im Hinblick auf weiche Rechtsformen beschworene Gefahr einer Entdifferenzierung sozialer Subsysteme relativieren müssen. Lösen Gerichte Double-Bind-Situationen durch Rückgriff auf außerrechtliche, d. h. im rechtlichen Zusammenhang bislang nicht tradierte Erwägungen auf, so erzwingen die systeminternen Zwänge mittelfristig stets eine gewisse Restabilisierung zugunsten einer Ausbildung rechtlicher Eigenwerte. Damit soll das Stabilitätsproblem, das diese Form der Normbildung aufwirft, nicht verharmlost werden. Der größte Bruch liegt wohl weniger in den inhaltlichen Veränderungen, die das allgemeine Persönlichkeitsrecht seit der Schachtbriefentscheidung als Eigenwerte ausgebildet hat, sondern vor allem darin, daß die Interessenabwägung von einer „Methode" der Regelauslegung, also der allmählichen, schrittweisen Modifizierung bestehender Regelkonstrukte, zu einer solchen des permanenten Regelersatzes gemacht wurde. Zwar erzwingen schon die institutionellen Zwänge und die Routinisierungsbedürfnisse der Praxis, daß auch hier nicht tatsächlich alle Umstände des Einzelfalls zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, sondern vorrangig ein eingeschränkter Set solcher Interessen und Aspekte, die bereits durch die vorangegangene Rechtsprechung rechtlich internalisiert wurden. Dennoch ist natürlich allein schon der Umstand, daß eine etablierte juristische Argumentform nicht auf das Gemeinsame mit den bereits entschiedenen Konstellationen, sondern das Spezifische, das Abweichende des Einzelfalls zielt, verführerisch und erleichtert ad-hoc-Entscheidungen, die Begründungslasten geschickt umgehen. Jedenfalls in solchen Problembereichen, die außerrechtlich sehr kontrovers und mit hohem emotionalen Gehalt wahrgenommen werden, muß diese Möglichkeit fast notwendig Inkonsistenzen erzeugen 434. Die Geschichte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zeigt jedoch auch, daß eine Bewertung die „Habenseite" nicht aus dem Blick verlieren darf. Der Rekurs auf hochabstrakte Basiswerte und minoritäre Diskurstraditionen ermöglicht eine verstärkte Aufnahme außerrechtlicher Problembewertungen. Die narrativen Bezugnahmen auf die kommunikativen Gemeinsamkeiten lebensweltlicher Evidenzen oder in öffentlichen Risikodiskursen kommunizierter Plausibilitäten lassen erkennen, daß diese in ihrem emotionalen Gehalt auch den kommunikativen Bruch wesentlich mitmotiviert haben. Gerade dies verleiht ihnen aber u. U. auch außer433 Vgl. o., § 7 HL, § 81. 2. 434 Der Bereich des Persönlichkeitsschutzes im Bereich der Medien wird hier häufig und wohl zu Recht als Beispiel genannt; vgl. nur Ladeur 2000: 1977 ff. Dennoch darf man auch hier nicht verkennen, daß Beliebigkeit im Einzelfall durchaus nicht bedeutet, daß der betreffende Bereich ohne limitierende Struktur wäre und etwa auch nur annähernd jedes beliebige Urteü begründbar wäre; s. o., Fn. 320.
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Teil 4: Persönlichkeitsrechtsentwicklung
halb der juristischen Diskursgemeinschaft Plausibilität. Das kann in Phasen gesellschaftlicher Verunsicherung wichtig sein. Die Würde des Individuums unter Rückgriff auf naturrechtliche Vorstellungen zu betonen, mag Episode und Ausdruck restaurativer Tendenzen der Nachkriegszeit gewesen sein. Das hat den Topos aber in der historischen Situation weder seiner vor dem Hintergrund der menschenverachtenden Gemeinschaftsideologie Nationalsozialismus entfalteten Plausibilität beraubt, noch geht darin die systemische Eigendynamik auf, die das sich in der Folge herauskristallisierende und als Argumentform eigenwertgesättigte Selbstbestimmungskonzept entfaltet hat. In diesem und dem Technikargument ist eine Korrespondenz von Persönlichkeitsrechtsentwicklung und Risikodiskursen angelegt, die im folgenden Kapitel am Beispiel des rechtswissenschaftlichen Diskurses zum Problemkomplex Genanalyse verstärkt beleuchtet werden soll.
§11 Genanalyse und Persönlichkeitsrechtsentwicklung
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§ 11 Genanalyse und Persönlichkeitsrechtsentwicklung ,£>er Mensch wird Herr sein über eine unerhörte Macht. Es muß Vernunft geben, Regeln und Sicherheitsmaßnahmen."1 „Die Menschen distanzieren denkend sich von der Natur, um sie so vor sich hinzustellen, wie sie zu beherrschen ist. Gleich dem Ding, dem materiellen Werkzeug, das in verschiedenen Situationen als dasselbe festgehalten wird und so die Welt als das Chaotische, Vielseitige, Disparate vom Bekannten, Einen, Identischen scheidet, ist der Begriff das ideelle Werkzeug, das in die Stelle an allen Dingen paßt, wo man sie packen kann."2
Eingangs hatte ich dargelegt, in welcher Weise die innovationsoffene Grundstruktur unseres Rechtssystems begünstigt, daß neue technische Möglichkeiten wahrgenommen werden können3: Negatorische Freiheitsgarantien und rechtlich konstituierte Freiheiten ermöglichen, neue Handlungsoptionen ungehindert wahrnehmen zu können. Gegenläufige Abwehr- und Verfügungsrechte müssen dagegen oft erst konstituiert werden. Manch neuartige Beeinträchtigung wird von vorhandenen, tatbestandlich typisierten Verboten (Bewehrungen von Freiräumen) nicht erfaßt. Ohne neue Verbote sind Arbeitgeber und Versicherer kaum gehindert, Gentests zur Vorbedingung von Vertragsschlüssen zu machen. Ohne neu konstituierte Verbote ist Ärzten, die von ihrer Schweigepflicht freigestellt wurden, nicht versagt, Familienmitgliedern des Patienten ein diese selbst schwer belastendes Ergebnis des Gentests mitzuteilen. Auch können bestehende Verfügungsbefugnisse, die sich aus rechtlich konstituierten Freiheiten ergeben, unzureichend erscheinen. Ärzte und Industrie können einzigartige genetische Dispositionen verwerten, ohne daß die Genträger dies zureichend verhindern oder davon profitieren können. Dem mögen überzeugte Dogmatiker eiitgegensetzen, ein Recht auf genetische oder geninformationelle Selbstbestimmung müsse nicht erst geschaffen werden, vielmehr existiere es bereits, sei von bestehenden Normierungen verwandter Problembereiche ableitbar und stimme daher mit der Rechtsüberzeugung breiter juristischer Kreise überein. Ob jedoch die postulierte Rechtsposition bereits zum rechtlichen Eigenwert erstarkt ist, hängt wesentlich von rekursiven, bestätigenden Bezugnahmen im juristischen Diskurs ab. Das evidenzheischende Postulat, es gebe „ein Recht auf ...", gängige Praxis dogmatischer Arbeit wie rechtspolitischer Streitschriften, droht den Blick auf das Problem der Temporalstruktur von Freiheitsrechten zu verstellen. Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung wurde bereits darauf hingewiesen, daß mit der 1
Craig J. Venter, damaliger Präsident der maßgeblich an der Entschlüsselung des menschlichen Genoms beteiligten Celera Genomics Corp., zu den Möglichkeiten der Biotechnologie in einem Gespräch in der FAZ v. 11. Okt. 2000 (Nr. 236), S. 65. 2 Horkheimer/Adorno 1984/1947: 38. 3 § 1. Wie Handlungsoptionen gesellschaftliche Realität überformen und rechtliche Freiheiten unmittelbar erweitem, wurde, auch auf die Genanalyse bezogen, ausgeführt; s. o., §11. und VII., § 21. 3. d), §91. 2. d). 24 Maitra
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Teil 4: Persönlichkeitsrechtsentwicklung
Gefahr nicht stets zugleich das Rettende wächst4. Gleiches läßt sich hinsichtlich jener Rechtspositionen darstellen, die mit der Forderung nach einem „Recht auf geninformationelle Selbstbestimmung" verknüpft sind. Mag sein, daß es den meisten Zeitgenossen evident erscheint, daß die Befugnis, über die genetischen Daten eines Menschen zu verfügen, zunächst einmal diesem selbst zustehen muß5. Wie solche Evidenz entstehen kann, welch starke Kräfte von Texttradition und kollektiver Weltdeutung sie unter Umständen aufzubieten vermag, möchte ich in diesem Kapitel analysieren. Es soll gezeigt werden, wie sich unter Rückgriff auf außerrechtliche Risikodiskurse, die sich solcher Evidenzen bedienen, in einem juristischen Diskurs über gendiagnostische Verfahren erste Ansätze für neue persönlichkeitsrechtliche Eigenwerte herauskristallisiert haben. Diese präformieren die Möglichkeiten gerichtlicher und gesetzgeberischer Entscheidungen, indem sie rechtliche Texttraditionen (Eigenwerte) mit außerrechtlichen Problemsichten amalgamieren und auf diese Weise ganz spezifische Interessen ins Recht internalisieren. Dazu werde ich folgendermaßen vorgehen: In einem ersten Schritt (I.) werde ich an die bisherigen Überlegungen zur Risikokommunikation anknüpfen und auf Struktur und Dynamik der gesellschaftlichen Diskurse zur Humangenetik, respektive zur Genanalyse, eingehen. In welcher Weise außerrechtliche Problemwahrnehmungen und -bewertungen ins Recht diffundieren und erste Ansätze für rechtliche Eigenwertbildungen entstehen, möchte ich dann zunächst (II.) am Beispiel des Menschenwürdegrundsatzes verdeutlichen. Daran anknüpfend (III.) wird an zwei Beispielen herausgearbeitet, wie die Ausprägung rechtlicher Eigenwerte im Kontext Genanalyse verläuft: am „Recht auf Nichtwissen" und am Recht auf „genetische Selbstbestimmung". Es schließen sich (IV.) Überlegungen zur Auswirkung der aufgezeigten Mechanismen für Stabilität und Dynamik des Rechts an. In den ersten beiden Abschnitten beziehen sich die Ausführungen weitgehend auf die Diskurse zur Humangenetik insgesamt, denn die Mehrzahl der auch für die Genanalyse relevanten Äußerungen beschränkt sich nicht auf diesen bedeutsamen Teilanwendungsbereich6.
4
§ 11. 1., bei und in Fn. 14; zum normstrukturellen Problem s. o., § 11., VI. und VII. 5 Schon der Blick auf andere Kulturen und unsere eigene jüngere Vergangenheit sollte uns belehren, daß Evidenz weder zwingend, noch aus sich selbst heraus existiert, daß man also auch anders entscheiden kann. 6 Dabei unterscheide ich nicht zwischen den Themen Genanalyse, invasiven Gentechniken und Reproduktionsmedizin, weil deren Techniken oft kombiniert werden und aufeinander bezogen sind, so daß auch in Risikodiskursen keine scharfe Scheidung besteht und die argumentativen Figuren die gleichen sind. Gezielte Veränderungen des Erbguts haben dessen Analyse zur Voraussetzung. Die moderne Reproduktionsmedizin „schafft als Einstiegstechnik die Voraussetzungen für Genmanipulation und Genomanalyse" (Laufs 1991: 100).
§11 Genanalyse und Persönlichkeitsrechtsentwicklung
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I. Diskurse zur Humangenetik Spätestens Mitte der 80er Jahre wurden die neueren Möglichkeiten moderner Gentechnik und der Reproduktionsmedizin zunehmend Gegenstand öffentlichen wie juristischen Interesses. Von staatlicher Seite wurden Expertenkommissionen eingesetzt, die dieses Problemfeld auch hinsichtlich rechtlichen Handlungsbedarfs untersuchen sollten. Der öffentliche Diskurs um die Gentechnologie intensivierte sich. Beides hat die bis heute anhaltende Flut juristischer Publikationen zur Genanalyse befördert. Von praktischer Relevanz waren zunächst vor allem jene genanalytischen Verfahren, die der Individualisierung im Straf- und Zivilverfahren dienen. Sie konnten weitgehend in den konventionellen Bahnen der Regeldiskurse abgearbeitet werden. Man subsumierte in klassischer Manier unter die einschlägigen Normen (§ 372a ZPO 7 , § 81a StPO a. F.8). Es schien wenig Anlaß zu geben, anders als bei herkömmlichen Beweismitteln, etwa Fingerabdruck und serologischen Befunden, zu verfahren. Da der „genetische Fingerabdruck" nichtcodierende Bereiche des menschlichen Genoms nutzt, wurde in Gerichtsurteilen, die sich mit der verfassungsmäßigen Zulässigkeit befaßten, fast durchgängig betont, die Methode ermögliche keine „Rückschlüsse auf persönlichkeitsrelevante Merkmale wie Erbanlagen, Charaktereigenschaften oder Krankheiten des Betroffenen" 9. Mit zunehmender Bedeutung der Genanalyse im Bereich genetischer Beratung und pränataler Diagnostik wurden verstärkt die Folgen fehlerhafter genetischer Beratung Teilaspekt jenes Problemfeldes, das unter dem Schlagwort „Kind als Schaden" in Rechtsprechung und Literatur kontrovers diskutiert wird 10 . Mittlerweile jedoch thematisieren Risikodiskurse zur Humangenetik, respektive zur Genomanalyse, 7
Vgl. BGH NJW 1991, 749/751 f. (ohne ausdrückliche Erwähnung der Norm); Deutsch 1991: 83 mit Hinweis auf OLG Karlsruhe - 14 U 328/86 v. 18. 8. 1989. In diesen Kontext gehört auch das Recht, die eigene Abstammung, u. U. durch Genanalyse, festzustellen. Dieses „Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung" ist hier trotz persönlichkeitsrechtlicher Ableitung und Bedeutungszunahme in der Reproduktionsmedizin (vgl. Giesen 1989: 368 f.; Damm 1998a: 931 f.; 1998b: 129 f.) nicht von Interesse, weil es sich darauf richtet,fremde Daten zur Identitätsfeststellung zu erlangen bzw. nicht an deren Erlangung gehindert zu werden (s. o., § 1 n. 1., Fn. 49). 8 Vgl. BVerfG-K NJW 1996, 3071/3072 f.; LG Berlin NJW 1989, 787/788; LG Darmstadt NJW 1989, 2338/2339; LG Heilbronn NJW 1990, 784/785 sowie zu § 2 DNA-IFG a. F. i.V. m. 81g StPO a.F. BVerfG-K NJW 2001, 879/880 ff. Fragen der Datengewinnung, speicherung und -Verwendung ließen sich mit den ausdifferenzierten Kategorien des informationellen Selbstbestimmungsrechts bewältigen (vgl. Sternberg-Lieben 1987: 1245 f.). Die Regelung des „genetischen Fingerabdrucks" (§§ 81e-81g StPO; DNA-IFG a. F., seit 1. 11. 2005 auch § 81h StPO) wurde als eher überflüssig empfunden; vgl. Senge 1997: 2409, 2412. 9 Nachweise siehe Fn. 8; Sternberg-Ueben 1987: 1244 ff.; Deutsch 1991: 81; krit. Dix 1993. 10
s. o., § 5 HI. 3., Fn. 195. Eine unterrechtliche Regelung medizinischer Praxis erfolgt durch professionsinterne ärztliche Normen und Standards; Nachw. bei Regenbogen/Henn 2003: 152 (Fn. 4) 156 (Fn. 39 f.). 24*
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Teil 4: Persönlichkeitsrechtsentwicklung
vor allem jene Anwendungsbereiche, in welchen sich ein Zusammenhang zwischen genetischer Ausstattung und persönlichkeitsrelevanten Merkmalen herstellen läßt. Zunehmend geht es nicht mehr um die Fälle mißlingender Technik, sondern um die individuellen und kulturellen Risiken gelingender Technik11. Es lassen sich verschiedene Diskurse zum Gegenstand Humangenetik ausmachen. Zu nennen sind zunächst die fachinternen Diskurse der forschenden Biochemiker, Humangenetiker und der mit konkreten Anwendungen befaßten Mediziner. Diese Schrittmacherdiskurse sind Bestandteil eines Macht-Dispositivs, in welchem Diskurse mit nicht-diskursiven Praktiken, Techniken und Ritualen verschränkt sind und durch die Zuweisung von Handlungsoptionen und Kompetenzen Macht entfalten 12. Die Dynamik von Risikodiskursen ist, das wurde oben im Anschluß an konstruktivistische Risikotheorien dargelegt13, wesentlich durch den Antagonismus von Entscheidern, die selbstgesetzte Risiken schaffen, und Betroffenen, die sich ungefragt fremderzeugten Beeinträchtigungen und Gefährdungslagen ausgesetzt sehen, bestimmt. Erschließen Techniken neue Handlungsmöglichkeiten, so haben wir es meist mit einer Doppelung der Differenz von Entscheidern und Betroffenen zu tun: Die erste dissensträchtige Differenz wird geschaffen, indem die Technik entwickelt und zur Verfügung gestellt wird, eine zweite entsteht in der Regel aus den konkreten Anwendungssituationen. Wer neue Techniken generiert und zugänglich macht, schafft Entscheidungszwänge, weil zuvor unhinterfragbar hinzunehmende Natur gestaltbar gemacht wird. Damit wird „das Privileg der Nichtentscheidung ( . . . ) ebenso abgeschafft, wie die Möglichkeit, in der Suche nach Zwecken sich am Vorgegebenen auszurichten"14. Direkten, ohne weiteres zurechenbaren Einfluß darauf, daß menschliche Handlungsräume biotechnologisch erweitert werden, haben aber nur wenige, teilweise korporative Akteure. Deren rechtlich flankierte Definitionsmacht begünstigt, daß innerhalb verschiedener Risikodiskurse diametral entgegengesetzt beobachtet wird und völlig unterschiedliche, teilweise unvereinbare Wertpräferenzen und Wahrnehmungsmuster bestehen. Moderne Biotechnologien, also auch die Genomanalyse, sind dadurch gekennzeichnet, daß durch sie erzeugte Optionen und Einschränkungen unterschiedliche n Vgl. Damm 1999a: 437 f. 12 In Anlehnung an Foucaidt beschreiben M. Jäger/Schulte-Holtey/ Wiehert gentechnische Wissenspraktiken und Fachdiskurse als Bestandteile eines umfassenden biopolitischen Macht-Disposititivs (1997: 8 ff.; zum Begriff vgl. Foucault 1978b: 119 ff.). Beck spricht in diesem Zusammenhang von „medizinischer Subpolitik", die aufgrund organisatorischer Arrangements (Klinik, Universität, Forschung) und ihren in der bürgerlichen Moderne liegenden Fortschrittsmaximen abgeschirmt von politischen und demokratisch legitimierten Eingriffen Handlungsfelder und Grundkategorien von Leben und Tod zu verändern kann (1986: 329 ff.). 13 s. o., § 21. 1., siehe auch § 7 II und in. 14 Beck 1988a: 48 f. Zu diesem Zusammenhang siehe auch oben, § 21. 3. d).
§11 Genanalyse und Persönlichkeitsrechtsentwicklung
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Akteure und soziale Gruppen treffen. Dabei kann ein und dieselbe Person zu verschiedenen Zeiten je nach Lebenslage und sozialer Situation handlungsermöglichenden oder -limitierenden Effekten ausgesetzt sein. Wer zwecks Familienplanung seine genetische Disposition ermitteln läßt, hat möglicherweise wenig Interesse, darüber vor seiner Anstellung Auskunft erteilen zu müssen. Bei Krankheiten, die erst in fortgeschrittenem Alter auftreten, macht es einen erheblichen Unterschied, ob man mit 20 oder 50 Jahren mit seiner genetischen Disposition konfrontiert wird 15 . Weil individuelle genetische Informationen fast immer auch Aussagen über Verwandte ermöglichen, werden diese mit jeder Erhebung zu mindestens potentiell Betroffenen: Auch sie müssen bei Information über bestimmte Ergebnisse entscheiden, ob sie sich beraten oder testen lassen wollen, wem das Ergebnis bekanntgegeben und ob es registriert werden soll. Mit beiden strukturellen Konfliktkonstellationen ist das Recht konfrontiert. Im ersten Fall wird diskutiert, ob wir dürfen und sollen, was wir - meist aufgrund unerbetener Offerte - nun prinzipiell können oder möglicherweise können werden. Es geht um die Frage nach Forschungs- und Anwendungsverboten. Im zweiten Fall ist Gegenstand der Auseinandersetzung, wie bei Anwendung bereits freigegebener Techniken die Konflikte, die sich aus unterschiedlich verteilten Chancen und Risiken, Optionen und Restriktionen ergeben, zu lösen sind. Infolgedessen sind die Diskurse durch unüberbrückbare Dissense gekennzeichnet: Wahrend die Befürworter epochale medizinische, ökologische und ökonomische Erfolge prognostizieren und in Bio- und Gentechnologie gegenüber natürlicher Evolution und klassischer Züchtung keinen qualitativen Unterschied ausmachen können, konstatieren Skeptiker unkontrollierbare Manipulationen des natürlichen Genpools und befürchten, daß „die Biologisierung der Welt eine Dehumanisierung der Gesellschaft mit sich bringe ( . . . ) . Die »Risikosemantik' bietet den Aufhänger für immer neue Problemdimensionen der sich ausdifferenzierenden ,Querschnittstechnologie4: Gesundheit, Umwelt, Lebensqualität, aber auch die Frage der Standortsicherung können als »Risiko4 kommuniziert werden."16 Von ihren Kritikern werden Humangenetik und Genomanalyse als sublime Selektionsinstrumente17, als modernisierte und nichtsdestotrotz barbarische Formen der Eugenik18 oder behindertenfeindliche Institution einer technokratischen Humanmedizin19 ausgemacht. Gegenstand rechtlicher Betrachtung ist u. a. die Ergebnispräsentation der Molekularbiologen, Biochemiker und Humangenetiker im Zentrum der Wissensproduk15
Besonders drastisch stellt sich dies im Falle von Veitstanz (Chorea Huntington) dar (vgl. Scholz 1995: 45, 68; Krahnen 1989): Läßt jemand mit einem 25 %igen Erkrankungsrisiko seinen definitiven Genstatus ermitteln, so sind die Eltern, deren Status damit zugleich geklärt wird, zweifach negativ betroffen. Sie werden mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit erkranken. Ihre Zeit bis zum Krankheitsausbruch ist viel geringer. 16 Martinsen 1997: 10 f.; vgl. Weingart 1997. 17
Exemplarisch Waldschmidt 1996: 267 ff. und passim. 18 So dezidiert Beck 1988a: 31 ff. 19 So etwa Radtke 1993; krit. zu dieser Argumentation van den Daele 1997: 93 ff.
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Teil 4: Persönlichkeitsrechtsentwicklung
tion. Entlang der Leitdifferenz Krankheit/Gesundheit definiert sie das medizintechnisch Machbare oder Denkbare und ist aufgrund der strukturell angelegten Innovationsoffenheit unseres Rechtssystems oftmals unhinterfragter Ausgangspunkt und Rahmen rechtlicher Fragestellungen20. Argumente für eine Limitierung technischer Möglichkeiten liefert sie kaum. Fachmedizinische Diskurse bieten wenig Anknüpfungspunkte für die sollensbasierte rechtliche Argumentationskultur, welcher der Schluß vom Sein auf das Sollen als naturalistischer Fehlschluß gilt. Aufgrund seines Primats für Freiheit läßt rechtliches Denken in der Moderne faktischer Machbarkeit grundsätzlich zunächst freie Bahn und benötigt daher Argumente in der Regel vor allem für deren Limitierung. Diese finden sich schon eher in Äußerungen von Medizinern, die mit den konkreten Auswirkungen genetischer Techniken konfrontiert und daher auch stärker an ethischen Fragen interessiert sind, sowie in Veröffentlichungen und medienwirksam erzeugten Auseinandersetzungen von Ethikern der philosophischen Zunft. Dabei überwiegen Argumente moralischer Rationalität. Letztere sind schon ihrer normativen Ausrichtung nach juristischem Denken verwandter und damit umstandsloser anschlußfähig, als Aussagen rein fachmedizinischer Provenienz21. Die in rechtlichen Kommunikationszusammenhängen rezipierte gesellschaftliche Auseinandersetzung um die modernen Biowissenschaften und - als Subthema - die Humangenomanalyse erfolgt durch unterschiedliche, wenn auch miteinander verwobene Diskurse22, die an spezifische soziale Orte gebunden sind: Kliniken, Beratungen, Institute, Expertenkommissionen, Fachtagungen, Fachzeitschriften, vor allem aber in der medialen Öffentlichkeit. Hier wird zwar spezialisiertes Wissen in die Alltagsverständnisse breiter Bevölkerungsschichten wie auch den rechtlichen Diskurs eingespeist23. Doch ist dieser Prozeß nicht auf den Aspekt der Informationsvermittlung beschränkt. Vielmehr werden auf der Matrix bereits vorhandener Muster kollektive Deutungen konstituiert24. Anläßlich konkreter, durch die Medien 20
Juristische Studien zur Genanalyse beginnen regelmäßig mit einem Abriß der technischen Möglichkeiten; vgl. Vollmer 1989: 4 ff.; A. Schmidt 1991: 5 ff.; C. Hofmann 1999: 2 ff., 6 ff.; Simon 1993a: 4 ff.; Deutscher Bundestag 1987: 147 ff.; Tjaden 2001: 29 ff.; Regenbogen 2003: 27 ff.; Haläsz 2004: 5 ff. 21 Für Juristen liegt es daher nahe, v. a. moralphilosophische und ethische Untersuchungen zum Thema aufzugreifen; exemplarisch Köhl 1985: 167 ff., 178 ff.; Fechner 1986 und 1991; Püttner/Brühl 1987: 536; U. Neumann 1998; Brohm 1998: 200; Laufs 1987a: 184 f., 193; Buchborn 1996: 444; Stümper 1995: 511; Fisahn 2001: 49 ff.; F. Herzog: 2001: 395 f. Zum philosophischen Diskurs über Bioethik vgl. K. Braun 2000: 85 ff. 22 Vgl. S. Jäger/M. Jäger 1997: 310 ff., die eine Verschränkung von Moral- und Gesundheitsdiskurs konstatieren. 23 Vgl. M. Jäger/ Schulte-Holtey /Wiehert 1997: 19 f. 24
Die Berufung von Expertenkommissionen kann (auch) als Versuch der Politik verstanden werden, diesen Prozeß zu beschleunigen und so dem oben thematisierten cultural lag kultureller und mentaler Strukturen gegenüber der Dynamik technischer Entwicklung zu begegnen (s. o., § 1 V.). Je stärker der Bruch mit Konventionen, je skandalträchtiger ihre Empfehlungen oder Äußerungen einzelner Mitglieder, desto mehr schaffen Expertenkommis-
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sensationsheischend präsentierter Ereignisse werden bestimmte Themen zu diskursiven Veranstaltungen, die weit über das Ereignis hinaus Diskussionen auslösen und deren wesentliche Argumentationslinien vorstrukturieren 25. „Keine Generation kann ihre Zukunft vom existentiellen Nullpunkt her neu erfinden, sondern muß sich an Erkenntnis- und Wertreservoirs halten. Hier ist das Innovationspotential begrenzter, als man oft meint."26 Diskurse, also auch Risikodiskurse, entfalten sich auf einer Matrix kulturell tradierter Muster, die ihre dramaturgischen und narrativen Plausibilitätsstrukturen wesentlich prägen27. Solche Leitbilder konstituieren nicht nur kollektive Wahrnehmungsstrukturen, sondern sie ermöglichen Kommunikation und Koordination von Akteuren unterschiedlicher Aktionszusammenhänge, Wissenskulturen und Beziehungsgeflechte. Ich möchte zwei davon nennen, die mir im Kontext der Humangenetik bestimmend zu sein scheinen: (1) Mechanistische Bilder vom menschlichen Körper, Organismen und Zellen als Maschinen oder Fabriken sind in biologischen wie biopolitischen Diskursen ubiquitär: als Illustration, Karikatur, filmische Inszenierung oder in Sprachbildern. Das Bild vom menschlichen Körper als Maschine ist ein wirkmächtiges Kollektivsymbol geworden, weil es allgemein verständlich ist und sich mit ihm zudem „hochgradig komplexe und zudem äußerst widersprüchliche Sachverhalte ( . . . ) erfaßbar" 28 machen lassen. Die mechanistische Vorstellung vom menschlichen Körper 29 greift auf ein Paradigma zurück, das in der sich neuzeitlichem Kausaldenken öffnenden Veränderung des ärztlichen Blicks30 angelegt ist: Normalität wie Pathologisches werden damit, so die Vorstellung, berechenbar und gezielten Eingriffen und Konstruktionen zugänglich31. Daran knüpft sich die Übernahme kybernetischer Modelle und Leitbilder 32. So hat sich die Molekulargenetik „die Basis-
sionen mediale Ereignisse, entlang derer öffentliche und veröffentlichte Auseinandersetzung über das jeweils ethisch Zulässige erfolgen kann. 25 Vgl. M. Jäger/ Schulte-Holtey/Wiehert 1997: 19 f., die exemplarisch den Fall des von einer hirntoten Schwangeren ausgetragenen „Erlanger Babys" nennen; vgl. auch 5. Jäger/M. Jäger 1997: 317 f. Das erste Retortenbaby Louise Brown, das geklonte Schaf Dolly und die „Entschlüsselung" des menschlichen Genoms sind weitere Beispiele. 26 Hettlage 1987: 171. 21 Argumentation nutzt narrative Strukturen, indem sie auf die als gleichläufig unterstellten, affektiv konnotierten Wahrnehmungsmuster und Weltverständnisse der Zuhörer rekurriert; s. o., § 81.1. b), bei Fn. 30. 28 M. Jäger/Schulte-Holtey/Wiehert 1997: 21. 29 Zur historischen Entstehung dieser Metapher vgl. Attali 1981: 153 ff.; zur metaphorischen Betrachtung organischer Strukturen als Fabriken in Medizin und Molekularbiologie vgl. Martin 1989: 55 ff. m. Nachw. 30 Vgl. Wesiack 1995: 11 ff.; Hohlfeld 1988: 61 f., 68; Foucault 1976; Attali 1981: 150 ff. sowie oben, § 9 I. 2. c). Foucault beschreibt diesen Prozeß auch als Entwicklung von einer organfixierten Medizin der Krankheiten zu einer sich auf den Organismus als Gesamtheit richtenden Medizin pathologischer Reaktionen. 31 Häufig wird der Ingenieursbegriff verwendet, ist von „genetic engineering" die Rede; vgl nur Köhl 1985: 163.
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metaphorik einer ganz anderen Wissenschaftsprovinz zu eigen gemacht, hat das Computermodell, wie es in der Informationstheorie entwickelt wurde, inkorporiert und es zur eigenen Erkenntnisvoraussetzung aufgespreizt" 33, wobei v. a. Codierung und De-Codierung ins Blickfeld rückten34. Dies legte nahe, ,4m ,Knacken4 des genetischen Kodes die Enträtselung eines Computerprogrammes zu sehen ( . . . ) . Die Verbindung eines solchen Begriffsrahmens mit einem Rahmen, der den Menschen als physikalisches Objekt auffaßt, drängt einem fast den Schluß auf, daß der Mensch nach Maßgabe bestimmter Eigenschaften entworfen und konstruiert werden kann."35 Diskurse über Humangenetik sind von dieser mechanistischen Leitmetaphorik durchzeichnet. Die Heilsversprechen der Gentechnikbefürworter fußen darauf ebenso wie die Kritik 36 . Das darin angelegte Grundverständnis schlägt auf den juristischen Diskurs durch. In der Vorstellung, hier wie dort handele es sich um Probleme der Informationsverarbeitung und der Verfügbarkeit über individuelle Daten, wird recht umstandslos die Figur des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung in ein Recht auf geninformationelle Selbstbestimmung transponiert. Das Leitbild der menschlichen Maschine läßt sich zwanglos in den Vorwurf manipulativer Vergegenständlichung überführen, wie er im Kontext des Menschenwürdearguments tradiert ist. (2) Die Ambivalenz menschlicher Naturbeherrschung findet sich bereits im Mythos des Titanen Prometheus, der aus Mitleid mit den nackten, ungeschützten Menschen das Feuer aus dem Tempel der Athene und des Hephaistos stahl und dafür am Gipfel des Kaukasos angeschmiedet erdulden mußte, daß ein Adler seine nachwachsende Leber fraß. In diesem Mythos hat die abendländische Vorstellung des Verhältnisses von Kultur und Natur eine gleichermaßen dramaturgisch prägnante wie tiefgründig verdichtete narrative Formgebung erfahren. Kulturstiftung wird als befreiender und zugleich anmaßender Akt der Naturbeherrschung beschrieben37. Als erster Schritt der Emanzipation aus dem Tierreich steht die Fähig32 Vgl. Weizenbaum 1978: 207 ff.; Kluge 1988b: 71 ff.; Kay 2001: 118 ff., 179 ff., 316 ff., 385 ff. und passim. 33 Kluge 1988b: 71. 34 Weizenbaum 1978: 209. 35 Weizenbaum 1978: 209. 36 „Schöpfungstechnik: Natur und Mensch vom Reißbrett?" betitelt Ulrich Beck seine Ausführungen zur Gentechnik (1988a: 31). „Der Mensch kann nun selbst direktes Objekt seiner eigenen Baukunst sein (...).", leitet Hans Jonas (1982: 464) seine Kritik an der Gentechnologie ein. Eine frühe feministische Kritik moderner Reproduktionstechnologien lautete, durch diese würde die Frau auf eine „Muttermaschine" reduziert (Corea 1986). Kritisiert werden v. a. reduktionistische Implikationen mechanistischer genzentristischer Theoreme CHohlfeld 1988: 68; Beck 1988a: 42 ff.; Narr 1988: 94; Weingarten 1988: 25 f.; Altmeyer 2001; Neumann-Held 1998; Reiber 1998; Kay 2001: 420 ff.), welche Evolution als Informationsansammlung und Lebewesen nur als kontrollierbare genetische Programme für bestimmte Zweckanordnungen (Kluge 1988b: 73 f.) begreifen. 37 Vgl. hierzu auch Gekle 1993: 49 f., 54 ff., 60 f. Die „prinzipielle Unterscheidung von formenden geistigen Ideen und einer an sich chaotischen Materie, vor allem aber die Tren-
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keit zur Feuererzeugung als Metapher für den Triumph menschlicher Naturbeherrschung, zugleich aber auch für eine umgehend sanktionierte Anmaßung. I m wesentlichen besteht die Anmaßung in dem Versuch, die Menschen und Götter scheidende menschliche Mängelausstattung zu beseitigen. Die in Diskursen um die Gefahren der Gentechnik anzutreffende Warnung, der Mensch dürfe sich nicht anmaßen, Gott zu spielen 38 , ist also ebenso wie die Angst, dies werde auf den Menschen zurückschlagen, keineswegs neu 3 9 . Wir finden dieses Grundmuster in einer Vielzahl populärer literarischer Mutations- und Menschenschöpfungsphantasien der Moderne 4 0 , die von Goethes „Homunculus" 41 und Mary Shelleys ,frankenstein oder der neue Prometheus" über „Dr. Jekyll und Mr. Hyde" von Robert Louis Stevenson, Aldous Huxleys „Brave New World", „Die Insel des Dr. Moreau" sowie Herbert George Wells „Die Zeitmaschine" und Hanns Heinz Ewers*,»Alraune" bis hin zu Oscar Wildes' Faust-Adaption „Das Bildnis des Dorian Gray" reichen. Erwähnung verdient auch der 1935 veröffentlichte Roman des amerikanischen Genetikers und späteren Nobelpreisträgers Hermann J. Müller „Out of Night" 4 2 .
nung von Natur ( . . . ) und Kultur bzw. technae" (K. Koch 2001: 65; Hervorh. im Orig., D.M.) hat sich in der hellenistisch geprägten Rezeption der christlichen Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit fortgesetzt; vgl. ebd. 38 „Gen-Welten. Prometheus im Labor?" lautete beispielsweise der Titel einer Ausstellung in Bonn im Jahre 1998. Publikationen zum Thema Humangenetik sind nicht selten mit einem Ausschnitt von Michelangelos „Schöpfung des Adam" illustriert. Sprachliche Umschreibungen des „Playing God" (vgl. nur Flämig 1985: 20; Heyd 1999: 74; Robbers 2003: 150; Dworkin 1999) und von „Prometheus' Traum, den Göttern das Feuer zu stehlen" (Hescheler/Feld 2003: 5) oder „Menschen formen ( . . . ) , diese immer wieder versuchte ( . . . ) Rivalisierung mit dem Göttlichen" (A. Kaufmann 1985: 10) haben Konjunktur. Bemerkenswert scheint mir, daß Prometheus in anderen Fassungen des Mythos den ersten Menschen geschaffen hat; vgl. Kerenyi 1983: 169; Priester 2003: 112. Günther Anders hat den Mythos aufgegriffen, als er ein „prometheisches Gefälle" zwischen der technischen Perfektion und Serienexistenz der menschlich geschaffenen Apparatewelt und der Fehlerhaftigkeit und Sterblichkeit der einzelnen Menschen diagnostizierte. Eine auf die Humangenetik zentrierte Paraphrasierung des Gedankens findet sich bei Gabbert (1988), der von „prometheischer Schamlosigkeit" spricht. Hans Jonas' Vorwort zu seiner wirkmächtigen Technikkritik „Das Prinzip Verantwortung" beginnt mit den vorwurfsvollen Worten: ,,Der endgültig entfesselte Prometheus ( . . . ) ruft nach einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, dem Menschen zum Unheil zu werden." (1984: 7). 39 „Und Gott der Herr sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, daß er nur nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden ..." (Genesis 3, 22-23). 40 Auch sie reproduziert die mechanistische Vorstellung von der ingenieurswissenschaftlichen Konstruktion zugänglichen lebenden Organismen; vgl. Gross/Hohner 1990: 111 f. von Goethe 1999: 209 ff. (Der Tragödie zweiter Teil, Vers 6819-7004). Goethe griff darin die in der mittelalterlichen Alchemie verbreitete Vorstellung eines künstlich gezeugten „Menschleins" (homunculus) auf. 42 Vgl. Flämig 1985: 22 ff. Zu Bedeutung und Einfluß Mullers im Diskurs um die Gentechnologie vgl. ebd.; Kollek 1986: 4 ff.; Weingart/Kroll/Bayertz 1992: 632 ff.; Weingart 1997: 121 f.
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Beginnend mit Shelleys „Frankenstein" scheiden sie alle virtuos und in biologistischer Weise angstmachende, weil gefahrlich monströse, degenerierte und verweiblicht triebhafte Wesen von solchen, die soldatischen oder intellektuellen, jedenfalls aber männlichen Eliteidealen der abendländischen Kultur entsprechen. Stets bleiben sie in ihrer widersprüchlichen Spiegelung von Idealen und extremer Abweichung, Wünschen und Ängsten, ihrer Verheißung menschlicher Kontrolle über eine perfektionierbare Natur und der Angst vor unabsehbaren Kontrollverlusten mehrdeutig und ambivalent43. Die Verwandtschaft eugenischer Vorstellungen zu diesem auch in der trivialen Alltagskultur vielfältig reproduzierten Muster 44 ist ebenso unübersehbar, wie jene zur Bedrohungsrhetorik (Beck-Gernsheim) moderner Verfechter der Humangenetik. Bei Darstellungen zur Genanalyse finden wir „zwar kein monolithisches Bild, aber ( . . . ) zahlreiche Aussagen, die sich in eine ähnliche Grundrichtung bündeln. ( . . . ) In Ausführungen zum Thema Evolution und Gentechnik schreibt Hubert Markl ( . . . ) , seit Beginn der Evolution sei jedes Lebewesen durch andere Lebewesen bedroht (z. B. durch eindringende Bakterien, Parasiten, Schmarotzer), und insofern bilde es eine »Front, an der unaufhörlich lebensentscheidende biologische Stellungskriege auszufechten sind' ( . . . ) . In einem Buch, von einem Nobelpreisträger der Medizin zusammen mit einem Journalisten verfaßt, wird die ,Jagd nach Genen' beschrieben, um damit die »mörderischsten Feinde des Menschen zu bekämpfen' ( . . . ) . In einer vom Bundesministerium für Forschung und Technologie herausgegebenen Broschüre heißt es, mittels Gentechnik sei es gelungen, daß Wissenschaftler einen »wahren Bösewicht in Sachen Krebs entlarvt' haben ( . . . ) . In einer ebenso renommierten wie verbreiteten amerikanischen Zeitschrift ist von »Legionen von Wissenschaftlern' die Rede, die sich anschicken, Gen-Mutationen wie »Verbrecher' aufzuspüren, um schließlich das ,Schurken-Gen zu fangen' ( . . . ) . Unerbittlich wird uns vor Augen geführt, wie unser Leben ständig bedroht ist von genetischen Risiken, Anomalien, Defekten, von Krankheit, Behinderung und Tod."45 43
Wie sich derartige Phantasmen der Populärkultur mit biologistischen Geschlechter- und Rassetheorien sowie Fortschrittsvorstellungen des frühen 20. Jahrhunderts verknüpften, ist dargestellt bei Dijkstra 1999: 9 ff., 117 ff., 297 ff.; vgl. auch Brittnacher 1988: 108 ff. Reichhaltige Belege für diese Zusammenhänge bietet Theweleit (1980 I: 71 ff., 311 ff.; II: 31 ff. und passim), der thematisiert, wie sich beängstigende Entgrenzungserfahrungen der Neuzeit in der Metaphorisierung eines zu kontrollierenden Körpers niedergeschlagen haben; vgl. auch Drolshagen 1993. Zumindest latent ist in sämtlichen Menschenzüchtungsutopien „die Kontrolle der menschlichen Sexualität ( . . . ) das durchgängige Thema" (Weingart 1997: 112). 44 Als Beispiel mag die unübersehbare Vielzahl populärer Science-Fiction-Filme dienen, z. B. „Boys of Brazil", ,31ade Runner", ,Alien - Die Wiedergeburt", „Die Stadt der verlorenen Kinder", „Germanica", ,31ueprint" oder „Species". Sie illustrieren „nur die, je nach Perspektive, evidenten, riskanten oder gefährlichen Hintergrunderwartungen und -theorien einer durch die moderne Medizin und Sozialpolitik hervorgerufenen, die natürliche Selektion vereitelnden eugenischen Verschlechterung der Menschheit und der Gegensteuerung durch eugenetische Maßnahmen." (Gross/Hohner 1990: 112). Zu Menschenzüchtungsutopien von Piatons „Staat" über Morus* „Utopia" und Campanellas „Sonnenstaat" bis hin zu rassenhygienischen Utopien des 20. Jahrhunderts vgl. Weingart 1997: 112 ff. 4 5 Beck-Gernsheim 1996: 285.
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So ist denn auch der auf die Verbrechen des 3. Reichs fokussierende EugenikVorwurf in Deutschland ein zentraler Bezugspunkt ethischer wie juristischer Auseinandersetzung mit humangenetischen Methoden46. Auch das Bild einer die Schatten des eugenischen Paradigmas abstreifenden, nicht-direktiven genetischen Beratung, die Betroffene die Möglichkeiten genetischer Diagnostik frei von politischen und anderen kollektiven Vorgaben bestimmen läßt, bezieht sich negativ auf diesen Vorwurf. Positiv nimmt es Bezug auf den bürgerlich-optimistischen Entwurf eines seiner selbst mächtigen, mündigen Individuums, welcher in vielen der genannten Werke in den Schöpfergestalten und deren Visionen immerhin als Möglichkeit angelegt ist. Auch dem frühen persönlichkeitsrechtlichen Diskurs dienten die Verbrechen des Nationalsozialismus und dessen menschenverachtende Kollektivitätsideologie als Negativfolie für die naturrechtliche Ableitung eines individuelle Einzigartigkeit betonenden allgemeinen Persönlichkeitsrechts47. Wer persönlichkeitsrechtliche Argumentation mit antieugenischen Forderungen verschränkt, vermag also eine ihrer narrativen Form nach tradierte Plausibilitätsstruktur zu nutzen, die Widersprüche in sich aufzunehmen vermag und gerade deshalb geeignet ist, Diskurse vorzustrukturieren und Beliebigkeit wie Komplexität zu reduzieren. Das „literarische Entsetzen" (Brittnacher) thematisiert Katastrophenängste, macht sie bildhaft öffentlicher Kommunikation zugänglich. Literarische Muster liefern öffentlichen Risikodiskursen Anknüpfungsmöglichkeiten für Beobachtung und Gegenbeobachtung, für Gegner und Befürworter der Gentechnik. Die Furcht Betroffener, die anonymen Techniker der Biotechnologie seien von Eigennutz, Machtgier und Ruhmsucht getrieben, mindestens an den Folgen ihres Handelns uninteressiert und dieser auch nicht mächtig, wird in den durch Mythos, Literatur und Populärkultur geprägten Metaphern plausibel. Auf dieser Matrix lassen sich Prozesse gesellschaftlicher Selbstvergewisserung führen, die die tradierten Grenzen des gegenwärtig ethisch und rechtlich als zulässig Erachteten feststellen und u. U. sogar verschieben. Der Tabubruch erhält eine diskursiv faßbare Gestalt und läßt sich damit bearbeiten. Soweit juristische Autoren auf solche Werke Bezug nehmen48, wird Vgl. Weingart 1997: 123. Exemplarisch Beck 1988a: 31 ff.; Anders 1987 II: 22 ff.; Jonas 1982: 470 ff.; Krahnen 1989: 90, 94 sowie aus der juristischen Literatur Flämig 1985: 21, 56; Vitzthum 1985: 206 und 1991: 71 f.; Riedel 1986: 471; Künzler 1990: 51, 135; Donner/Simon 1990: 910; Benda 1985a: 42; 1985b: 24, 32; A. Schmidt 1991: 133, 141; Steinmüller 1993: 9; Starck 1986: A 47; Tinnefeld/Böhm 1992: 62; Steinmüller 1993: 9; Simon 2001: 89; H. Dreier 2001: 233. Daß die eugenischen Verbrechen des NS nicht fiktiv sind, ändert nichts daran, daß die diskursive Struktur ihrer Thematisierung tradierten literarischen Mustern entspricht. 47 s .o.,§ 10 HI. l.d). 4® In einem Beitrag zum Stammzellengesetz konstatiert Blanke, die debattierte „Selbsterschaffung des Menschen aus dem Geiste der Wissenschaft" erwecke „die Mythen und Visionen der antiken wie modernen Aufklärung zu neuem Leben: Adam und Eva, Prometheus, Faust, Melmoth der Wanderer und Frankenstein lassen grüßen" (2002: 346 f.). Wurzel /Merz zitieren Brechts „Leben des Galilei", Dürrenmatts „Physiker" und Kipphardts „In der Sache J. Oppenheimer" als Belege ihrer Forderung „Der Mensch darf nicht alles, was er kann!" (1991:12 f.). Bezogen auf die Humangenetik thematisiert Köhl Phantasien über die „Züch-
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weniger bildungsbürgerliche Belesenheit zelebriert, denn plausibilitätsheischend auf kulturell geprägte Evidenzen verwiesen. Was aber ist Evidenz? Evidenz ist das Selbstverständliche und Unhintergehbare, das in der Kommunikation als gemeinsames, emotional gesichertes Weltwissen der Akteure unterstellt werden kann. Sie zielt auf Wahrnehmung und Phantasie, sie „erzeugt Redundanz (mehr desselben), aber in der Wiederholung statt des Selben das Gleiche, das Ähnliche, das Verwandte, das auch dazu Gehörige"49. Diskurse sind eng mit unhintergehbaren kollektiven Traditionen des Denkens, Wissens, Fühlens, Wahrnehmens und Handelns verknüpft. In einer Abhandlung über einige der genannten Romane wird beklagt, Kritiker der Gentechnologie analogisierten in ihren Zukunftsprognosen fiktionale literarische Horrorszenarien 50. Wären die Romane allein manipulative Fiktionen - was sie durchaus auch sein können so wären sie hier nicht von Interesse. Jedoch reproduzieren, tradieren und modifizieren sie zugleich diskursive Muster von Weltdeutungen. In ihrer emotionalen Fundierung strukturieren solche Muster die kollektive Wahrnehmung neuer Problemlagen wesentlich mit, indem sie den kulturellen Fundus tradierter Grundmythen der westlichen Zivilisation nutzen. Mir scheint es der Überlegung wert, ob nicht beispielsweise die selbstverständlich erscheinende Evidenz eines Rechts auf geninformationelle Selbstbestimmung ganz wesentlich auch von solchen immer wieder bis in unsere Alltagskultur hinein variierten Grundmythen zehrt. Recht entsteht auch bei Behandlung gänzlich neuer Problemlagen nicht abgeschlossen im luftleeren Raum. Der Bruch mit rechtsspezifischen Eigenwerten bedient sich der affektiv gesättigten, evident erscheinenden Wahrnehmungsmuster außerrechtlicher Diskurse, wenn er nicht sogar von diesen mitmotiviert wird. Zugleich ist das Recht als diskursive Praxis darauf angewiesen, Elemente rechtsexterner Diskurse, deren spezifische Problemsichten im Falle eines solchen Bruchs zu internalisieren und in den eigenen kommunikativen Zusammenhang einzupassen. Jenseits des oben beschriebenen Mechanismus rekursiver Eigenwertgenerierung kann es Evidenz nur gewinnen, wenn es sich auf der Matrix fremder diskursiver Grundmuster entfaltet. Es geht an dieser Stelle und bei den folgenden Überlegungen also nicht um alltung besserer Menschen", die „Machbarkeit einer schöneren und heileren neuen Welt" sowie ,Angst und Grauen vor den heraufziehenden Gefahren für die Würde des Menschen" und verweist dabei (1985: 165) auf Aldous Huxleys „Schöne neue Welt", ein Werk, auf das im Kontext Reproduktionsmedizin und Gentechnik in juristischen Publikationen besonders oft Bezug genommen wird (so bei A. Kaufmann 1985: 10; Benda 1985b: 22; Wahl 1987: 19; Giesen 1986: K52, K 75; Schwan 2001: 182; Renzikowski 2001: 2753; Raasch 2002: 285). Auf den erwähnten Science-Fiction-Klassiker ,3oys of Brazil" (Fn. 44) weist Tinnefeid (2000: 10, Fn. 4) hin. Einen „Fabrik-Homunkulus" befürchtet Jürgen Simon bei „Anwendung der Genomanalyse im Arbeitsleben" (1991: 8). In seiner Studie über Grenzen der Forschungsfreiheit dient Flämig (1985: 22 ff.; 51 ff.) H. J. Mullers Roman „Out of Night" als Vexierfolie für molekularrassistische Utopien fortschrittgläubiger Molekulargenetiker. 49 Fuchs 1998: 160; vgl. ebd.: 157 ff.; zur Orientierungsleitung narrativer Strukturen s. o., §81. l.b). 50 Brittnacher 1988: 105.
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gemeine kulturtheoretische Überlegungen. Vielmehr wird versucht, einige solcher Episteme51 zu skizzieren, die als historisches, im individuellen Weltwissen verankertes Apriori vorgeben und eingrenzen, was in juristischen wie außerrechtlichen Diskursen zur Gentechnik denk- und sagbar ist und was nicht.
II. Evidenz und narrative Struktur des Menschenwürdearguments Jene vorstehend benannten, durch Mythos, Literatur und Populärkultur ständig reproduzierten und variierten Metaphern diffundieren, wenn auch in abgeschwächter, rationalisierter Form, in juristische Diskurse hinein. Dort werden teilweise Parallelkonstruktionen generiert. Deren Plausibilität beruht nicht zuletzt auf jenen Evidenzen, die die öffentlichen und halböffentlichen Diskurse, welche sich solcher Metaphern offen bedienen, produzieren und reproduzieren. Dies läßt sich u. a. an dem vielfach genutzten Begriff der Menschenwürde nachweisen, einem Topos, der in medizinischen, soziologischen, ethischen und juristischen Abhandlungen gleichermaßen verwendet wird. Der Begriff der Menschenwürde, so hat dies Udo Di Fabio formuliert, symbolisiere „Einheit in der höchst heterogenen Welt", schon das Ereignis des Zusammentreffens unterschiedlicher Diskurse in jenem Begriff löse „unbestimmte Gefühle der Einheit" aus52. In Diskussionen um Reproduktionsmedizin und Humangenetik nimmt dieser Topos den ersten Rang ein 53 . Dies gilt auch und insbesondere für juristische Veröffentlichungen zur Humangenetik54. In 51 Zum Begrifff vgl. Foucault 1995a: S. 21 f.; Krasmann 1995: 246 f; s. o., § 5 H. 2. a). 52 Di Fabio 2001: 10. 53 So auch Kaufmann 1987: 840 m. umfangr. Nachw.; vgl. nur die Beiträge in Geyer 2001 und Nida-Rümelin 2002:403 ff. « Thematisiert wird der Grundsatz u. a. bei Köbl 1985: 185 ff.; Benda 1985a: 42, 49 fif.; 1985c: 1732; 2001a; 2001b; Eser 1987: 40, 46 f., 52, 54; Flämig 1985: 55 ff.; Vitzthum 1987: 36 f.; Deutscher Bundestag 1987: 187 f.; Giesen 1986: K 53, K 58, K 78 ff.; Starck 1986: A12 ff. und 2001, A 36 u. passim; Riedel 1986: 472 ff.; Püttner/Brühl 1987: 531; SternbergUeben 1987: 1244; Keller 1989: 2292 f.; C. Enders 1988: 187 ff.; Vollmer 1989: 100 ff., 144 f.; Wellbrock 1989: 204; Künzler 1990: 133 ff.; Donner/Simon 1990: 908 ff.; Deutsch 1991a: 1205; Arbeitskreis Genforschung 1991: 142 ff.; Wurzel/Merz 1991: 20, 23, 55; A. Schmidt 1991: 126 ff.; M. Schröder 1992: 134 ff.; Taupitz 1992: 1098 m.w.N.; Ruderisch 1992: 261 f.; Tinnefeld/Böhm 1992: 63; Steinmüller 1993: 9; Simon 1993a: 34 f., 82 f., 136f., 187ff.; Tünnesen-Harmes 1994: 145; Stümper 1995: 514; Damm 1996: 93 m.w.N.; 1999a: 437 f.; Brohm 1998; C. Hofmann 1999: 30 ff.; Tinnefeid 2000: 11; Ossenbühl 2000: 13, 17; Herdegen 2001; R. Beckmann 2001: 171 f.; Fisahn 2001: 51 f., Di Fabio 2001; Schwarz 2001; Faßbender 2001: 2749 ff.; F. Herzog: 2001: 396 f.; Simon 2001: 89 ff.; Taupitz 2001: 3435 ff.; Laufs 2001: 204 f.; Hufen 2001: 444 ff.; Tjaden 2001: 81 ff.; Schulz 2002; Blanke 2002: 357; H. Dreier 2002: 39 ff.; Frommel 2002; Raasch 2002: 287 f.; Starck 2002; Goerdeler/Laubach 2002: 117 f.; Höfling 2003: 102 ff.; Robbers 2003: 144 ff.; Schreiber 2003; Regenbogen 2003: 104 f.; Kersten 2004: 403 ff.; Haläsz 2004: 14, 19; vgl. auch die Richtlinie 98/44/EG über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen v. 6. 7. 1998 (AB1.EG Nr. L 213 v. 30. 7. 1998, S. 13-21), Begründungserwägungen 16, 38; EuGH
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moralphilosophischen wie juristischen Beiträgen zur Humangenetik ist die Berufung auf den Menschenwürdegrundsatz so allgegenwärtig, daß nachdrücklich vor seiner Inflationierung gewarnt wird 55 .
1. Die Würde des Menschen ist unantastbar, Artt 11,79 I I I GG Die Verpflichtung staatlicher Gewalt auf die Maxime, daß die Würde des Menschen unantastbar und zu schützen sei (Art. 1 I GG), gilt als oberster, von der Bestandsgarantie des Art. 79 IH GG umfaßter Verfassungsgrundsatz 56. In vielfältiger Weise wird er für die inhaltliche Bestimmung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Bezug genommen57. Von seinem Verständnis hängt wesentlich ab, wie sehr man das allgemeine Persönlichkeitsrecht auf die Sicherung individueller Selbstbestimmung58 hin zuspitzt. Die Drittwirkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gegenüber anderen Grundrechtsträgern und Privatrechtssubjekten wird durch den Menschenwürdegrundsatz gerechtfertigt 59. Im Kontext Humangenetik dient der Topos teils der Fundamentierung des Postulats individueller Selbstbestimmung, teils als Rechtfertigung absoluter Verbote, die sich, weil der Schutz der Menschenwürde nach herrschender Meinung abwägungsresistent ist 60 , durch Folgenindifferenz jenseits aller Kosten-NutzenEuZW 2001, 691 /695 f.; zu Menschenwürde und Genanalyse im internationalen Recht vgl. E. Klein 2003: 85 ff. 55 Vitzthum 1987: 33 ff.; U. Neumann 1998: 155; Hilgendorf 1999: 137 f.; Frommel 2000: 343 f.; H Dreier 2004: 164 ff., 179 f. (Art. 1 I, Rn. 45 ff., 76); w. Nachw. b. M. Schröder 1992: 134; Koppernock spricht von einer petitio principii, die auf einen juristischen Kunstfehler hinauslaufe (1997: 24 ff., vgl. auch ebd.: 18 ff.); ähnl. Herdegen 2000: 633, 640 ; Blankenagel 1987: 386 f.; differenzierend Benda 2001a: 2147; krit. zum Gebrauch Fechner 1986: 654 ff. und 1991: 38 ff.; Vollmer 1989: 86 ff.; Wahl 1987: 28 ff.; Frankenberg 2000: 328 ff.; K Braun 2000b: 337 ff.; Fisahn 2001: 51. 56 Benda 1994: 162 m. w. N.; w. umfangr. Nachw. bei Baston-Vogt 1997: 31, Fn. 96. 57 Inhalt und Reichweite des Art. 21 GG sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter Beachtung dieses Grundsatzes zu bestimmen (E 27,344/350 f. m. w. N.); vgl. auch oben, § 10 III. 1. d); Baston-Vogt 1997: 29 ff., 36 f. 58 Zur persönlichkeitsrechtlichen Selbstbestimmungskonzeption s. o., § 10IV. 2.; zu deren geschichtlicher Verwurzelung in der europäischen Moderne und im deutschen Idealismus s. o., §91. 2. c) aa), § 10 II. 1. 59 BGHZ 24, 72/76 f.; s. o., § 10 HI. 1. d), § 10 HI. 4. a); zum dogmatischen Problem vgl. Baston-Vogt 1997: 17 ff. 60 Vgl. BVerfGE 34, 238/245; 75, 369/380 - Strauß-Karrikatur; 80, 367/373; 93, 266/ 293; NJW2004,999/1002-Lauschangriff; Geddert-Steinacher 1990: 81 ff.; Starckin: v. Mangoldt/Klein/Starck 1985: 40 ff. (Art. I 1, Rn. 20 f.); Giesen 1989: 367 m.w.N.; w. Nachw. b. U. Neumann 1998: 154, Fn. 6 und Schwarz 2001: 199; Höfling 2003: 105 f. Auf große Beachtung sind die Relativierungen in Herdegens Neukommentierung von Art. 1 I GG [in: Maunz/ Dürig 2000/2003: 24 ff. (Rn. 41 ff.)] gestoßen, der mit einem streng rechtspositivistischen Ansatz zwischen einem unabwägbaren Begriffskern und einem abwägungsoffenen Begriffshof der Menschenwürde unterscheiden will; krit. Böckenförde 2003; Petersen 2004:319 f.
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Abwägungen auszeichnet61 und „allen Eingriffen der Gentechnologie eine unverrückbare Grenze" 6 2 setzt 63 . Argumentativ wird dabei mit dem aus dem Begriff der Menschenwürde abgeleiteten Verbot, Menschen zu instrumentalisieren, angesetzt. Man beruft sich auf eine auf Kant zurückgehende Texttradition, die in der juristischen Literatur als „Objektformel" bezeichnet wird. Der entsprechende Abschnitt in Kants Tugendlehre, dem zweiten Teil der „Metaphysik der Sitten", lautet: „Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden anderen verbunden. Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch so gar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Weltwesen, die nicht Menschen sind, und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt. Gleichwie er also sich selbst für keinen Preis weggeben kann (welches der Pflicht der Selbstschätzung widerstreiten würde), so kann er auch nicht der eben so notwendigen Selbstschätzung anderer, als Menschen, entgegen handeln, d. i. er ist verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen, mithin ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die jedem andere Menschen notwendig zu erzeigende Achtung bezieht."64 Die daran anknüpfende klassische Formulierung Günter Dürigs lautet, daß die Menschenwürde dann getroffen sei, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt" werde 65 . Die 61 Vgl. U. Neumann 1998: 154, 159. Wenn man indes, wie etwa Taupitz (2001: 3437 f.; 2002a: 113) die normative Bestimmung, was als Menschenwürdeverletzung gilt, Abwägungsprozesse konstituiert sieht, gelangt man zwangsläufig zu Folgenerwägungen. 62 U. Neumann 1998: 155. 63 Rigorose Verbote bestimmter gen- oder reproduktionstechnischer Verfahren durch die Menschenwürde begründet sehen z.B.: Wurzel/Merz 1991: 55; Köhl 1985: 187; Vitzthum 1987: 36 f. („Schändung des Menschenbildes" durch „»optimierenden* Zugriff auf die Gattung Mensch"); Steinmüller 1993: 9 (Verbot der Genomanalyse mit Erlaubnis vorbehält); Eser 1987: 54 f.; Stümper 1995: 514; Herdegen 2001: 776 f.; Höfling 2003: 2003: 110 ff.; Starck 2002: 1067 (Produktion von Embryonen zu Forschungszwecken; Selektion von Embryos zu Züchtungszwecken); R. Beckmann 2001: 176; Laufs 2001: 204 f.; F. Herzog: 2001: 396 f. (PID); Starck 1986: A33 ff., A45, A47 (Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken, Manipulation an Keimzellen, Menschenzüchtung); Haberle 1987: 856 f. (PID bzgl. „Lebensrisiken, die nicht über normale Krankheiten wesentlich hinausgehen"; Gentransfer in menschliche Keimbahnzellen); Benda 1985b: 28 f. (Leihmutterschaft), 32 (Gentransfer in Keimzellen); H Dreier 1996: 114 (Art. 1 I, Rn. 61) (durch Geschlecht, Rasse etc. motivierte Auslese von Erbmaterial); Herdegen in: Maunz/Dürig 2000/2003: 50 f. (Art 1 I, Rn. 98 m. w N.); Kersten 2004 (reproduktives Klonen); Kersten 2004 (therapeutisches Klonen). Gemäß der Richtlinie 98/44/EG über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen v. 6. 7. 1998 (Amtsblatt Nr. L 213 v. 30. 7. 1998, S. 13-21) von der Patentierbarkeit auszunehmen sind neben den in Art. 6 II genannten Beispielen Verstöße gegen die Menschenwürde, wie die Herstellung hybrider Lebewesen (Begründungserwägung 38 der Richtlinie; vgl. auch EuGH EuZW 2001, 691 / 695 f. 64 Kant 1997/1797: 600 f. (Tugendlehre, § 38; Hervorh. im Orig., D.M.); zur Rezeption vgl. Seemann 1996b: 62 ff. 65 Düng in: Maunz/Dürig 2000/1958: 14 f. (Art. 11, Rn. 28).
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Objektformel ist in der Rechtsprechung vielfach und in zentralen Entscheidungen aufgegriffen worden. Das Einsichtsrecht in die ärztlichen Unterlagen wurde damit ebenso begründet66 wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung67.
2. Menschenwürde und Mythos: Verwandte Evidenzen außerrechtlicher Metaphorik Indem die Objektformel, wenn auch in juristisch-versachlichender Sprache, einen grundlegenden affektiven Zusammenhang zwischen Angst vor Fremdbestimmung und daraus resultierenden Kontrollbedürfnissen 68 aufgreift, gewinnt sie hohe Plausibilität. Zum einen korreliert sie mit der affektiv aufgeladenen Differenz zwischen Entscheidern und Betroffenen 69. Vor allem aber zehrt ihre Evidenz, jedenfalls im Problemkontext Humangenetik, von einer kulturell tradierten SubjektObjekt-Dichotomie70, die im Prometheus-Mythos wie im biblischen Schöpfungsmythos angelegt ist: der Mensch macht sich als gestaltendes Subjekt die Natur als Objekt verfügbar 71. In der abendländischen Moderne, vor allem aber im deutschen Idealismus hat sich dieses Muster auf die Vorstellung selbstbestimmter individueller Selbstentfaltung hin zugespitzt. In den aktuellen Diskursen über die Humangenetik ist die Subjekt-Objekt-Dichotomie als dominantes Wahrnehmungs- und Deutungsmuster menschlicher Naturbeherrschung in mehrfacher Hinsicht anschlußfähig. In gleichem Maße, wie die biologische Grundausstattung des Menschen als Basis gestaltungsmächtiger Subjektivität zum Objekt menschlicher Gestaltungsmöglichkeiten wird, lösen sich die vordem für selbstverständlich gehaltenen Grenzen dieser Dichotomie auf. Gerade deshalb aber scheint sich der Diskurs um die moderne Humangenetik entlang der tradierten Subjekt-Objekt-Dichotomie zu zentrieren, eben weil definitionsbedürftig wird, mit Hilfe welcher normativen Vorgaben sich ihr Fundament wiederherstellen läßt. 66 BGHZ 85, 327/332. 67 BVerfGE 65,1 /41 f. - Volkszählung I; vgl. auch BVerfGE 27,1/6-Mikrozensus. 68 s. o., § 91. 2. d). 69 s.o., §21. 1., §21. 3. b), §91. 2. d). 70 Hier sei an die Befunde der Risikotheorie erinnert, wonach selbst eingegangene Gefährdungen als weniger bedrohlich empfunden werden, als solche, die auferlegt wurden (s. o., § 2 1. 1.). Sie können als Beleg für die hohe, affektiv gesättigte Plausibilität der SubjektObjekt-Dichotomie in einer sich seit Beginn der Moderne auf Egalität umwertenden Gesellschaft gewertet werden. Denn die Differenz zwischen Entscheidern und Betroffenen ist eine zwischen Subjekten und Objekten, die vorgegebene Hierarchien dem kulturellen Ideal nach tendenziell ausschließt, zustimmungs- und rechtfertigungspflichtig macht. 71 Vgl. Genesis 1, 28: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch Untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht." Ähnlich Jahwes Bund mit Noah nach der auf den Sündenfall folgenden ersten Zivilisationskatastrophe (Genesis 9, 1 und 2). Insgesamt sind insbesondere in den Printmedien im Kontext Biotechnologie Anspielungen auf die christliche Mythologie häufig; vgl. 5. Jäger/M. Jäger 1997: 326.
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Eine weitere diskursiv tradierte Dichotomie spielt hier hinein: Der Gegensatz von Kultur und Natur. Im ausgehenden 19. Jahrhundert begegnen wir der eng an den deutschen Idealismus anknüpfenden Vorstellung, Kultur und mit ihr das Recht als dem Werthaften verschriebene Kulturerscheinung seien einer (kulturell zu formenden) ungeformten Natur gegenübergestellt, besser: als höhere ideenbezogene Wirklichkeit vorgeordnet72. Man kann dies als Widerspruch gegen den fortschrittsoptimistischen Positivismus deuten, der Vernunft instrumentalistisch darauf reduzierte, empirisch wahrnehmbare Tatsachen zu erklären 73. Hier ist vor allem jene Traditionslinie von Interesse, die den juristischen Diskurs bis heute prägt. Das angesprochene Kultur- und Wertverständnis findet sich in der vor allem neukantianistischen Kritik an einem sich auf das gesatzte Recht beschränkenden Rechtspositivismus74. Als tragender Teil der staatsrechtlichen Legitimitätslehre der Weimarer Zeit wurde diese Kritik nach dem Dritten Reich aufgegriffen 75 und mündete in die bereits angesprochene „Naturrechtsrenaissance" 76, die neben der persönlichen Autonomie des Individuums erneut den werthaften Gehalt des Rechts betonte77. An dieser Stelle besteht ein wesentlicher Berührungspunkt zu Argumenten der gentechnikkritischen, antieugenischen Strömungen biopolitischer Diskurse, die die nationalsozialistische Eugenik78 in eine Traditionslinie zu eugenischen Anklängen 72 Vgl. Sprenger 1996: 219 ff. Von dieser Dualität, die an erheblich ältere Texttraditionen anknüpft (s. o. Fn. 37), zehrt etwa die auf Windelband und Richert zurückgehende, methodendualistische Unterscheidung von Natur- und Kulturwissenschaften (vgl. A. Kaufmann 1984: 82; Sprenger 1996: 221 ff.). Auf der Matrix dieser die deutsche Rechtsphilosophie bis heute prägenden Dualität vollzieht sich das dort unterschiedlich definierte Verhältnis von Sein und Sollen (exemplarisch A. Kaufmann 1984: 82 ff.). 73 s. o., § 10 II. 1., zur Geschichte des Persönlichkeitsbegriffs. Einiges spricht dafür, daß die starke Betonung von Kultur und ideellen Werten einer spezifisch deutschen Entwicklung geschuldet war; vgl. Elias 19761: 1 ff., 26 ff. „Was sich in diesem Kulturbegriff, in der Antithese von liefe und Oberflächlichkeit und in vielen verwandten Begriffen zunächst ausspricht, ist das Selbstbewußtsein einer mittelständischen Intelligenzschicht. ( . . . ) Das, ( . . . ) was ihr Selbstbewußtsein, ihren Stolz begründet, liegt jenseits von Wirtschaft und Politik: in dem, was man gerade deswegen im Deutschen ,Das rein Geistige* nennt, ( . . . ) vorwiegend durch das Medium des Buches, in der Persönlichkeit." (ebd.: 31 f.). 74 Vgl. Welzel 1962: 183 ff. 75 Sie ging einher mit der Behauptung, ihr aller höheren Werte entsagender Rechtspositivismus habe die deutsche Richterschaft unfähig gemacht, sich dem Unrechtsrecht des NS zu versagen; vgl. hierzu Walther 1989. ™ s.o., § 10ffl. l.d). 77 Vgl. Sprenger 1996: 226 ff.; Kühl 1990: 339 ff. Insbesondere Heinrich Hubmann (1953: 39 ff.) und Helmut Going (1947: 39 ff., 55 f., 64 ff.) haben in Anknüpfung an die Wertethik Nicolai Hartmanns und Max Schelers versucht, Rechtspositionen zu begründen, die auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht zulaufen. Die Überzeugung, Juristen seien als Wahrer grundlegender Werte berufen, den Gefährdungen ungebremster Technikeuphorie Einhalt zu gebieten, und dies notfalls jenseits positiven Rechts, hat also eine altehrwürdige Tradition. Auch die bereits im Eingangskapitel angesprochene Gegensatzbildung von dynamischer Technik und statischem, wertbewahrendem und „hinterherhinkendem" Recht, wurzelt wesentlich in dieser Diskurslinie.
78 Vgl. Weingart/Kroll/Bayertz 25 Maitra
1992: 188 ff.; R. Maitra 2001: 107 ff.
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gentechnischer Verheißungen stellen79. Jedenfalls im Kontext Humangenetik hat die deutsche Vorstellung von Naturbeherrschung so einen deutlich individualistischen, v. a. jedoch technikkritischen Impuls erhalten, der in deutlicher Antithese zum angloamerikanischen, auf Nutzenmaximierung gerichteten und damit tendenziell permissiven Utilitarismus steht. Welche Techniken den Grundwert der Menschenwürde beeinträchtigen, aus dem seiner selbst mächtigen Subjekt ein ohnmächtiges Objekt wissenschaftlicher, technologischer oder ökonomischer Verfügbarkeit machen, hängt maßgeblich davon ab, wie das Wesen des Menschen und seine biologische Basis, die menschliche Natur, definiert wird. Aus einer streng argumentationstheoretischen Sicht mag die Feststellung, der „zuweilen ermüdende Rekurs auf die Menschenwürde" im normativen Umgang mit moderner Bio- und Gentechnologie sei „oft wenig mehr, als das Bemühen hohler Begrifflichkeit, der die vorher eingespeisten Inhalte zu Tage fördert" 80, viel für sich haben. Berücksichtigt man jedoch die diskursive Tradition des Grundwertes, so wird zumindest klar, woraus er seine Plausibilität zieht. Eingekleidet in die Subjekt-Objekt-Dichotomie der Objektformel werden Kontrollbedürfnisse als Werte gegenüber humantechnologischen Optionen geltend gemacht, die ihrer narrativen Struktur nach weit über den juristischen Diskurs hinausreichen, in ihrer Tiefenschicht grundlegende Ängste thematisieren und gerade deswegen hohe Evidenz gewinnen. So erhält im „Frankenstein" das Unbehagen der Romantik an der die bürgerliche Moderne bestimmenden Unterscheidung zwischen Mensch und Natur und der darin angelegten, versachlichenden Entseelung durch eine Naturwissenschaft, die Natur zum Objekt macht, ein wirkkräftiges, auf einen grundlegenden Zivilisationsmythos der abendländischen Kultur zurückgreifendes Bild 81 . Wirkmächtig kommt hier das auch die Diskurse zur Humangenetik dominierende Leitbild vom menschlichen Körper als Maschine zur Geltung. Für einige der oben zitierten Romane wurde die klassisch romantische Entgegensetzung zwischen häßlichen, lasterhaften 79 s. o., § 111. Immer wieder wird in juristischen Veröffentlichungen zum Kontext Humangenetik betont, das Bekenntnis zur Würde des Menschen habe wesentlich an die Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft angeknüpft; vgl. nur Köhl 1985: 177; Benda 1985a: 42 und 1994: 168 f.; Fechner 1986: 661 und 1991: 39,58 f.; Vitzthum 1991:72; Gröner 1991: 310 f.; Tinnefeld/Böhm 1992:62. 80 Herdegen 2000: 633; ähnl. unter Hinweis auf das große Identifikationspotential des Menschenwürdetopos und dessen „oft mit großer Emotionali tät" verbundene Nutzung in der gegenwärtigen bioethischen Diskussion Hilgendorf 1999: 137 f. 81
Mary Wollstonecraft Shelleys Roman von 1816 verarbeitete neben Prometheus-Mythos und romantischer Literatur galvanistische Experimente, bei welchen dem Nervensystem toter und lebender Organismen, u. a. auch guillotinierten Köpfen, mit elektrischen Impulsen „Leben eingehaucht" wurde (vgl. Brittnacher 1988: 106; Hagner 1995: 96 ff.; Priester 2003: 101, 106 ff.). In Deutschland wandte sich eine anthropozentrische Bewegung im Zuge einer stark mit ganzheitlichen Natur- und Heilheitsvorstellungen einhergehenden, romantizistischen und antimodernistischen „konservativen Revolution" (mit deutlich antisemitischen Tendenzen) gegen medizinische Tier- und Menschenversuche (vgl. hierzu Elkeles 1996:162 ff.).
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Stadtgestalten und unberührter, heiler und ästhetischer Natur nachgewiesen82. „Die Häßlichkeit der Kreatur läßt eben das wiederkehren, was Frankenstein ausschließen wollte: Natur. ( . . . ) Die Utopie eines von Natur gereinigten, überlegenen künstlichen Wesens ist in den Alptraum kreatürlicher Häßlichkeit umgeschlagen."83 Mythen zielen ebenso wie die moderne Wissenschaft darauf, das Universum zu verstehen: „Wir können mit Hilfe des wissenschaftlichen Denkens die Natur beherrschen ( . . . ) , wohingegen der Mythos dem Menschen selbstverständlich keine größere Macht über seine Umwelt zu verschaffen mag", wohl aber „die Illusion, daß er das Universum verstehen könne und es auch tatsächlich versteht."84. Was also läge näher, als im (befürchteten) Scheitern von Naturbeherrschung und Naturvorstellungen auf tradierte, im Mythos verkörperte Wahrnehmungsmuster zurückzugreifen? Die (männliche) Beherrschung der Natur und die Wiederkehr einer als chaotisch, ungebärdig und triebhaft wahrgenommenen (weiblichen) Natur ist ein, möglicherweise das zentrale Grundmotiv abendländischer Zivilisationsmythen85, das beständig in unterschiedlichsten Formen variiert wird, sei es durch Goethes „Zauberlehrling", Freuds Wiederkehr des triebdominierten Verdrängten oder die populäre Beschwörung des Untergangs der Titanic86. Den oben erwähnten Romanen gemein ist eine ausgeprägte emotionalisierende Dichotomisierung von ästhetisch und häßlich, natürlich und künstlich, gut und böse, die gleichsam über Kreuz verläuft. Frankensteins aus Leichenteilen zusammengesetztes Monster hat eine zarte Seele, aber eben diese Diskrepanz zwischen Körper und Seele läuft der abendländischen „Vorstellung des ideal-schönen menschlichen Leibes, der nicht nur Ausdruck körperlicher, sondern auch seelischer und geistiger Schönheit ist" 87 zuwider. Stets wird letztendlich das Häßliche, Unperfekte, Leid Erzeugende und damit Böse ausgemerzt, eine Logik, der nicht nur Gegner, sondern auch Verfechter der Gentechnologie folgen 88. Der in solchen Bildern verkörperte „Verlust der Gestalt und das Beliebig-Werden der Lebensformen werden nicht nur vom religiösen Gemüt und der Schöpfungsontologie des Christentums- und Judentums als abgründige Gefahr gesehen, sondern auch von der Substanzontologie der Philosophie und von einem dem 82 Vgl. Dijkstra 1999: 129 ff.; Brittnacher 1988: 106 ff. 83 Brittnacher 1988: 108. m Lévi-Strauss 1996: 30 f. 85 Grundlegend Kurnitzky 1981: 71 ff. 86 Deren Wirkmächtigkeit dürfte nicht zuletzt darin begründet liegen, daß sie christliche Zivilisations- und Katastrophenmythen, wie den Turmbau zu Babel (Genesis 11) und die Arche Noah (Genesis 6 - 9 ) paraphrasiert. 87 Drolshagen 1993: 162 [Hervorh. im OrigD.M.]; vgl. ebd.: 161 ff. und Koslowski 1991: 49. 88 s. o., bei Fn. 45. In diesem Kontext scheint mir Herbert Viefliues Hinweis bemerkenswert, in der wissenschaftlichen Industriekultur verflüssigten sich die in der alteuropäischen Welt klar abgegrenzten Antagonismen von Wissenschaft (wahr/unwahr), Ästhetik (schön/ häßlich) und Ethik (gut/böse) (1989: 36 f.). 25*
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Mythos verbundenen Denken, die beide wie die Theologie in den Gestalten des Lebens Werte in sich erkennen, die leichtsinnig zu zerstören Frevel an der Natur ist" 89 . Die in den Möglichkeiten moderner Genetik liegende „prometheische Gefahr des Aufstandes gegen Gott" führe, so Peter Koslowski in einer theologischphilosophischen Reflexion soziobiologischer Konzepte, zu einem „Verlust der Gestalt und der aus der Gestalt hervorvorgehenden Normativität der Formen des Lebens"90. Mit den Grenzen schwinde „der Nomos, die grenzwahrende Macht. Hier, und nicht in der physischen Bedrohung, ist die Hefe des Schauders zu suchen, die den Menschen angesichts der proteischen Bildung ergreift" 91. Kann es da verwundern, daß es hochgradig plausibel erscheint, wenn Hans Jonas unter Verweis darauf, daß der Mensch zum Objekt der Technik wird 92 , hinsichtlich der Normgewinnung für eine „Heuristik der Furcht" plädiert93? Dem folgt Ernst Benda bei Erörterung des Problemkomplexes Humangenetik in seiner Kommentierung von Art. 1 1 G G 9 4 und zitiert zustimmend: „Wir brauchen die Bedrohung des Menschenbildes ( . . . ) , um uns im Erschrecken davor eines wahren Menschenbildes zu versichern" 95. Etwas nüchterner, und dennoch narrative Struktur und Evidenz des Prometheus-Mythos nutzend, appelliert Albin Eser: „Der Forscher als Schöpfer, Herr und Richter - dies ist langfristig vielleicht die gefährlichste Einstellung, die sich aus ungebremster Biotechnologie ergeben kann und der mit wachem Problembewußtsein zu begegnen ist." 96
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Koslowski 1991: 47 f.; ähnlich argumentiert, kommunikationstheoretisch gewendet, Habermas 2001: 49 ff. 90 Koslowski 1991: 47 f. 9 > Ernst Jünger (An der Zeitmauer, in: ders., Sämtl. Werke, Bd. 8, Stgt. 1981, S. 599) zit. n. Koslowski 1991: 49. 92 Vgl. Jonas 1984: 47 ff.; am Beispiel der Humangenetik werden die Überlegungen entfaltet bei Jonas 1982. » Jonas 1984: 63 f.; zust. Häberle 1987: 855; Benda 1994: 181 f.; 2001b: 258. 94 Benda 1994: 181 f. Bereits 1958 notiert Dürig in seiner legendären Kommentierung von Art. 1 I GG: „Als ein zur Wachsamkeit (zur »ethischen Unruhe* mahnendes Beispiel für einen Entpersönlichungsvorgang, der den Menschen zum Objekt entwürdigt, diene femer die neuerdings ( . . . ) diskutierte heterologe Insemination." [in Maunz/Dürig 2000/1958: 19 (Art. 1, Rn. 39)]. Die Wirkkraft solcher Vorstellungen befürchten auch jene, die formulieren: „Das Schreckensbild eines ,gen-gläsernen4 ( . . . ) Angeklagten liegt in derart weiter Zukunft, daß der Gesetzgeber auch in diesem Bereich nur vermeintlicher Gefahren der Humangenetik auf die plakativ wirkende Regelung eines Science-Fiction-Szenarios verzichten sollte." (Sternberg-Lieben 1987: 1246). 9 5 Jonas 1984: 63 [Hervorh. im Orig., D.M.]; Benda 1985b: 26; ähnl. A. Schmidt 1991: 138 f. Vielfach wird das Erschrecken über Möglichkeiten biotechnologischer Manipulierbarkeit mit Forderungen rechtlicher Restriktion verbunden; vgl. etwa Brohm 1998: 197; H. Dreier im: 200 (Art. 11, Rn. 111).
* Eser 1987: 57.
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3. Die Evidenz des Menschenwürdeprinzips Wir stehen also vor dem Phänomen, daß Plausibilität und Evidenz des Menschenwürdetopos im Kontext Humangenetik erzeugt werden, indem dieser auf der Matrix einer durch eine Diskurstradition geprägten, affektiv markierten Problemwahrnehmung verwendet wird. Selbst Kritiker der inflationären Verwendung des Menschenwürdearguments können sich dem nicht entziehen: Mit Nachdruck kritisiert Ulfrid Neumann in einer argumentationstheoretischen Abhandlung zur Verwendung des Menschenwürdeprinzips im Bereich der Humangenetik die in diesem Zusammenhang verbreitete „Ethisierung der Natur". Zutreffend weist er darauf hin, daß sich diese „im Alltag sehr verbreitet(e)" Denkweise „sprachlich in dem moralisch aufgeladenen Begriff des Widernatürlichen" spiegele97. Auch eine philosophisch und argumentationstheoretisch geschulte Kritik dieser Lesart des Prinzips beläßt es also nicht bei einer logischen Widerlegung, sondern sieht sich genötigt, deren in der Evidenz dieser alltagsmoralischen Betrachtungsweise liegende Fundierung zu thematisieren. Neumann selbst kommt bei seiner zurückhaltenden Interpretation des Menschenwürdeprinzips immerhin zu dem Schluß, daß dieses jedenfalls „Eingriffe zu dem Zweck, Menschen mit bestimmten Fähigkeiten zu erzeugen", verbiete98. Bekräftigend fügt er hinzu: „Der gentechnisch produzierte Olympiasieger ist eine Horrorvision.« 99 Womit wir wieder bei den im „Dr. Frankenstein" verbildlichten Evidenzen sind, die weitere Begründungen obsolet erscheinen lassen100. Eben solche Emotionalität kritisiert in einer weiteren neueren Abhandlung zur Verwendung des Menschenwürdetopos Eric Hilgendorf 101. Seine Beweisführung 97 U. Neumann 1998: 158. w U. Neumann 1998: 160 f.; Zitat auf S. 161. 99 U. Neumann 1998: 161 [Hervorh durch mich D.M.]. 100 Beim Verbot der Chimären- und Hybridbildung nach § 7 EmbryonenschutzG reagiere „das Gesetz sozusagen auf eine Horrorvorstellung", lautet der Befund des Gesetzgebungsdienstes der Juristen Zeitung vom 15. März 1991 (Beilage zu JZ Nr. 6/91, o. Verf.). Joerden spricht im Zusammenhang mit der Möglichkeit, Menschen zu klonen, von „perverse(n) Phantasien aus Frankensteins Labor", die allerdings teilweise immerhin nachvollziehbar seien (1999: 82). Schladebach (2003: 225) konstatiert, daß Gentests als Voraussetzung eines Arbeits- oder Versicherungsverhältnisses „immer noch als Horrorszenario" erschienen. Höfling sieht das „Monströse" der Embryonenerzeugung zu Forschungszwecken in ihrer funktionalistisch auf anschließenden Verbrauch reduzierten Erzeugung (2003: 110). Auf Evidenz pocht auch Benda, wenn er das Bild in Serie gefertigter kleiner Mozarts beschwört (1985b: 31). Gegen die Nutzung solcher Evidenzen plädiert Horst Dreier, wenn er fordert, „die verfassungsrechtliche Beurteilung biotechnologischer Erzeugungsverfahren (solle) sich nicht an der Imagination abenteuerlicher ,Fabelgestalten4 orientieren" [1996: 114 (Art. 1 I, Rn. 61)], räumt aber ein, der Konsens über das Verbot reproduktiven Klonens möge seine Wurzeln „durchaus auch in Gefühlen der Scham und Empörung ( . . . ) oder des Schauderns vor einem als monströs empfundenen Tun i.S. einer Tabuverletzung haben" [2004: 200 (Art. 11, Rn. 111)]. 101 Hilgendorf 1999: 137 f.; 140; vgl. auch die rechtsphilosophische und -theoretische Kritik bei Fechner 1986 und 1991.
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bedient sich einer bemerkenswerten Methode. Hilgendorf analysiert die Dürigsche Objektformel, insbesondere ihre Interpretation als Instrumentalisierungsverbot und weist ihr - m. E. weitgehend überzeugend - diverse begriffliche Unschärfen nach. Der Nachweis gelingt, indem er das tradierte Begriffsverständnis mit Beispielen konfrontiert, die sich damit seiner Ansicht nach nicht erfassen lassen, evidentermaßen jedoch vom Menschenwürdegrundsatz erfaßt sein müßten: Nazis, welchen die Folterung und Vernichtung ihrer Opfer nicht Mittel, sondern Endzweck ist 1 0 2 sowie Eltern, die „einem tödlich verunglückten Kind Zellen entnehmen, aus denen ein genetisch identisches Kind erzeugt wird, welches die Eltern anstelle ihres toten Kindes annehmen"103. Letztlich mündet auch diese rationalistisch erscheinende Argumentation in einen Rückgriff auf affektiv gesättigte Evidenzen104. Ich konstatiere dies ohne jede Demaskierungsabsicht. Es geht allein um den Nachweis, daß auch der juristische Diskurs in Problembereichen, die neu und konsensavers erscheinen, nicht umhin kommt, auf die kulturell tradierten, emotional verfestigten Evidenzen und deren narrative Muster zurückzugreifen, die die gesellschaftliche Wahrnehmung alles Neuen strukturieren. Nicht immer kommt das in den technizistisch gehaltenen Rechtstexten so deutlich zum Ausdruck, wie hier. Das ändert nichts am Mechanismus, der letztlich darauf beruht, daß auch Juristinnen und Juristen in die unterschiedlichsten Systemzusammenhänge integriert sind 105 . Die Vielzahl jener, die den allgegenwärtigen und als inflationär empfundenen Gebrauch des Menschenwürdearguments im Kontext Humangenetik kritisieren, bekräftigt ungewollt, daß der Topos über eine plausibilitätsgenerierende Evidenz verfügt, an der sich rationalistische argumentationstheoretische und juristische Darlegungen ebenso scharfsinnig wie mühsam und mit geringem Erfolg abarbeiten. Die vehemente und zahlreiche Kritik belegt seine nicht negierbare Existenz und Wirkkraft. Hilgendorf benennt den zentralen Gesichtspunkt, wenn er konstatiert, die starken, mit dem Menschenwürdeargument mobilisierbaren Emotionen speisten „sich aus der Ablehnung als unerträglich empfundener Individualverietzungen wie der Sklaverei oder der Folter" 106 , und fortfährt: „Dagegen wer102 Hilgendorf 1999: 143 f. 103 Hilgendorf 1999: 146 f. 104 Offen angesprochen wird dies, soweit ich sehen kann, nur von Birnbacher, der konstatiert, es sei für Verhaltensweisen, die sich als „Verletzungen der Menschenwürde in einem überindividuellen Sinn darstellen, ( . . . ) die Unmittelbarkeit, das fast Instinktive des Unbehagens und Widerwillens, mit dem wir auf sie reagieren. Es ist durch eine rationale Ethik, die Individualität, Schmerzfähigkeit, Denkfähigkeit oder Selbstbewußtsein zum Kriterium der Schutzwürdigkeit macht, nicht angemessen zu erfassen. ( . . . ) Das Widernatürliche und Monströse verletzt ( . . . ) eher ein Ideal der Natur, dem die Natur selbst nur unvollkommen entspricht." (1987: 84 f.). los Vgl. o.; § 7 n. 3. d). 106 Hilgendorf 1999: 140. Eine ähnliche, auf die Evidenz von „Folter, Sklaverei, Kindermord etc." rekurrierende Definition der Menschenwürde versucht Koppernock 1997: 119; in ähnlicher Weise auf die in solchen Fällen evidenterweise verletzte Menschenwürde verweisen Benda 1985b: 24; Fisahn 2001: 51, 53; H Dreier 2004: 213 (Art. 11, Rn. 139).
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den Handlungen oder Zustände, die ausschließlich ein bestimmtes Menschenbild verletzen, keineswegs so einstimmig abgelehnt."107 Auf das Menschenwürdeargument gestützte Verbote gentechnischer Verfahren, v. a. jenes der Menschenzüchtung, beziehen, das läßt sich an einer Vielzahl von Texten belegen, ihre Plausibilität wesentlich aus einer Parallelisierung zum Bild der Sklaverei 108: Beschworen wird das Bild einer menschlichen Kreatur/Natur, die nicht mehr zufallsblind und somit frei ihrer ganz eigenen naturwüchsigen genetischen Ausstattung unterliegt, sondern der Versklavung als zuhandenes Objekt fremder gentechnischer Manipulation ausgeliefert ist.
4. Individualistische und gattungsbezogene Lesarten des Menschenwürdearguments Ungeachtet inhaltlicher Bewertungen der aus dem Menschenwürdegrundsatz abgeleiteten Positionen sei festgehalten, daß Evidenzen im Diskurs einen unhintergehbaren, strukturbildenden Effekt haben, der nicht naturwüchsig oder anthropologischen Grundkonstanten geschuldet ist, sondern narrativ erzeugt wird 109 . Das Deutungsmuster, in dem die naturrechtliche Kategorie der Menschenwürde und naturalistische Verbotsargumente ineinander verwoben sind, basiert auf einer in den Mythen unserer Kultur, ihren elaborierten Reflexionstheorien und ihren populären Trivialisierungen narrativ tradierten Grundsituation, die auch in Shelleys „Frankenstein" angelegt ist: Durch Wissenschaft und Technik verfährt der Mensch als gestaltendes Subjekt mit der Natur als ihm zuhandenes Objekt. Als Träger seines Subjektseins aber wird seine eigene Natur als Basis seines nicht instinktgesicherten Willens, seiner sensorischen und geistigen Fähigkeiten zur Freiheit, begriffen. An dieser Stelle befindet sich eine Weggabelung, die es Befürwortern wie Kritikern gentechnischer Eingriffe ermöglicht, sich auf die Menschenwürde zu berufen. Möglich sind sowohl eine individualistische als auch eine kollektivistische Lesart des Prinzips.
107
Hilgendorf 1999: 140. Auf die Evidenz dieser mit dem Menschenwürdeargument verknüpften Bilder weist auch Frankenberg (2000: 329) hin. »08 Vgl. Habermas 1998; Jonas 1987: 188 ff.; Anders 1987 II: 26 f.; K. Braun 2000b: 338 ff.; Dworkin 1994: 230; Koppernock 1997: 21, 119; Fisahn 2001: 51, 53; H. Dreier 2001:233. 109
Ich bevorzuge an dieser Stelle den Begriff „narrativ" [s. o., § 8 I. 1. b), bei und in Fn. 30]. Der Begriff „diskursiv" provoziert das Mißverständnis, es gehe allein um Sprachliches, obwohl auch Bilder die in Diskursen reproduzierten Evidenzen wesentlich mitbestimmen. Von „erzählerisch" zu sprechen, klingt nach „Geschichten" oder „Märchen" in einem unwahrhaften Sinne, obwohl gerade Märchen als Deutungsreservoir sich genau dieses Mechanismus von kultureller Prägung, Wederholung, emotiver Verfestigung und Wiedererkennen bedienen.
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a) Individualistische Lesart: Menschenwürde als Herrschaft selbstbestimmter Individuen Unter der Prämisse, daß Subjekt und Individuum gleichzusetzen sind, knüpft ein individualistisches Verständnis von Menschenwürde am stärksten an der beschriebenen Subjekt-Objekt-Dichotomie der Objektformel an. „Was das Subjekt vom Objekt unterscheidet", so Marion Baston-Vogt in ihrer exzellenten Studie über das allgemeine Persönlichkeitsrecht, „ist die Möglichkeit selbstbestimmten Handelns, also die Möglichkeit, sich seine Zwecke selbst zu setzen und diese nach eigenem Ermessen zu bestimmen"110. Folgt man diesem Ansatz, so enthält die Menschenwürde eine streng subjektbezogene Autonomieverbürgung, mit der Konsequenz, „daß jeder Mensch grundsätzlich selbst darüber entscheiden darf, wie er seine Persönlichkeit entfaltet" 111. Aus dieser strikt individualistischen Lesart heraus lassen sich transzendentale und traditionelle Vorstellungen von der menschlichen Natur völlig relativieren, läßt sich die Vorstellung vom Menschen, der sich alle Natur, auch seine eigene, zuhanden macht, auf die Spitze treiben. Die natürliche Ausstattung des Menschen als Mängelwesen wird „innerhalb dieser säkularen Perspektive" so betrachtet, „daß sie die Wünsche, Ziele, Entwürfe von Personen dominiert, beschneidet und begrenzt", so daß es „ganz natürlich wird, die Leistungsfähigkeit der Natur zu steigern, um das ganz unumwundene Ziel zu verwirklichen, Kinder mit so wenig geistigen und körperlichen Behinderungen wie möglich zu bekommen"112. In der Konsequenz gibt es „Natur" dann nur noch als „Ansammlung von kausalen Kräften, die kontrolliert und gesteuert werden müssen, so wie man reißende Ströme mit Wehren und Uferdämmen kontrolliert und steuert" 113. Folge ist eine tendenziell permissive Haltung gegenüber neuen biotechnologischen und humangenetischen Anwendungsfeldern 114. Aber auch dieses in der bürgerlichen Aufklärung angelegte und auf die Forderung nach individueller Kontrolle fokussierende Verständnis der Herrschaft über die menschliche Natur bezieht einen wesentlichen Teil seiner Evidenz daraus, daß es in seiner narrativen Struktur an die grundlegenden und in der Moderne vielfach variierten abendländischen Mythen, insbesondere die darin verkörperte Angst vor einer flutenden und chaotischen Natur anknüpft 115. Auf normativer Ebene mündet diese Lesart in der vehementen Forderung nach Selbstbestimmung und Kontrolle des Einzelnen, wie sie oben mit Blick auf die Rechtsprechung und ihre kulturhistorisch erklärbare psychische Fundierung angesprochen wurde 116. "0 Baston-Vogt 1996: 32. in Fischer 1997: 90; zur Geschichte des Persönlichkeitsbegriffs, insbes. zur Kantrezeption vgl. §1011. 1. 112 Engelhardt 1996: 41 f. 113 Engelhardt 1996: 42 f. 114 Exemplarisch H. Dreier 2004: 180 ff. (Art. 11, Rn. 79 ff.) m. w. N. 115 Grundlegend hierzu Theweleit 1980 I; Kurnitzky 1981; Horkheimer/Adorno 1947: 81; siehe auch oben, Fn. 43, sowie das einleitende Zitat bei Fn. 2. 116 s. o., § 91. 2. und 3., § 10 III. 4. b), § 10IV. 2., § 11 II. 1.
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Daher bezieht diese Vorstellung von Menschenwürde einen erheblichen Teil ihrer Evidenz aus den Selbstverständnissen und Kontrollbedürfnissen der starken Individualisierungsschüben ausgesetzten modernen Mittelschichten in den westlichen Industrienationen. b) Kollektivistische Lesarten: Menschenwürde als gattungsspezifischer Ausdruck menschlicher Natur Zunehmend spielt in der Diskussion um die Gentechnologie jene Deutung der Menschenwürde eine Rolle, „in der die Würde nicht primär dem individuellen Menschen, sondern der Gattung Mensch als Ganzer zugesprochen wird" 117 . Wie eng diese Lesart des Prinzips zunächst mit seiner individualistischen Deutung zusammenhängt, wird deutlich, wenn man die an das obige Zitat Baston-Vogts unmittelbar anschließenden Sätze liest: „Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Würde des Menschen und der Anerkennung seiner natürlichen Befugnis, Herr seiner selbst zu sein. Die Menschenwürde gründet in der potentiellen Fähigkeit des Menschen zu autonomer Selbstbestimmung; diese Fähigkeit ist es, die ihn von anderen Lebewesen abhebt."118 Wirfinden hier, ähnlich wie in dem Ausgangszitat von Kant, eine enge Verknüpfung einer auf Einzelne zugerechneten Subjektivität mit ihrer gattungsmäßigen Bestimmung. Ob man menschliche Individuen oder die Menschheit als Bezugspunkte und Letztwerte für ethische und, im Anschluß daran, auch rechtliche Bewertungen nimmt, macht jedoch einen Unterschied ums Ganze 119 . Im Kontext Humangenetik wird der Körper als natürliche Basis menschlicher Subjektivität und Würde Bezugspunkt für anthropologisierende Überlegungen, Ii? Birnbacher 1989: 219; Meyer-Abich 2002; zum juristischen Diskurs vgl. M. Schröder 1992: 137 f.; Tjaden 2001: 106 f. In der juristischen Literatur stellt die kollektivistische Interpretation - teilweise ist von „anthropologischer" Sicht der Menschenwürde (Enders 1989: 881; Mansees 1988: 2985), „Wert- und Mitgifttheorien" (Schwarz 2001: 202) oder „Mitgiftthese" [Herdegen in Maunz/Dürig 2000/2003: 19 f. (Art. 1 I, Rn. 31)] die Rede - die zur Zeit wohl noch herrschende Meinung; exemplarisch Häberle 1987: 843 f.; Starck 1986: A13 ff. und 2001; Höfling 2003: 102 ff.; w. Nachw. bei M. Schröder 1992: 137 f.; Herdegen in Maunz/Dürig 2000/2003: 19 f. (Art. 11, Rn. 31) und Tjaden 2001: 106 f. Ii« Baston-Vogt 1996: 32; ähnl. BVerfGE 39, 1/41 - Fristenlösung I; Habermas 2001: 56 ff. Zumindest der Ableitungszusammenhang ist schon bei Kant kollektivistisch auf die Gattung Mensch zugeschnitten, der formulierte, der Mensch sei „verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen" (1997/1797: 601 - Tugendlehre, § 38, vollst. Zitat o., bei Fn. 64). Das Verbot „die Menschheit selbst entehrende(r) Strafen" (1997/1797: 601 - Tugendlehre, § 39; vgl. Hilgendorf 1999: 140), Kants zweite Fassung des kategorischen Imperativs (1974/1785/86: 61, BA 66; vgl. Lenk 1982: 216 f.; Hilgendorf 1999: 140; K Braun 2000b: 337 f.), v. a. aber die teleologische Ausrichtung seiner Tugendlehre, wonach die individuelle Pflicht zugleich darauf zielt, der Vernunftbestimmung der im einzelnen Menschen verkörperten Menschheit würdig zu sein (vgl. Heyd 1999: 70 ff.; K Braun 2000b: 338), belegen dies.
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welchen Kritiker wohl nicht ganz zu Unrecht eine auf naturalistischen Fehlschlüssen beruhende Ethisierung der Natur 120 vorwerfen. Dem Verbot, vom Sein auf ein Sollen zu schließen, ließe sich entgegenhalten, genausowenig sei es zulässig, vom Können auf ein Dürfen zu schließen. Man dreht sich hier leicht im Kreise. Mügeln es jedoch nicht um eine argumentativer Logik folgende Konsistenz, sondern um die Frage, wie im juristischen Diskurs in Umbruchsituationen Evidenz und - mittelbar - Folgebereitschaft erzeugt werden. Plausibilität läßt sich offenbar auch unter Bruch argumentationslogischer Regeln erzielen, wenn die beschworenen Bilder nur eindrücklich genug sind und sich ihrer narrativen Struktur nach problemlos mit dem Weltwissen der Akteure verbinden lassen. Wie also lautet die Geschichte, die uns die Befürworter eines gattungsbezogenen Verständnisses Menschenwürde erzählen, was macht sie so plausibel? Die Ausstattung des Menschen als „Mängelwesen" (Herder) trennt ihn der Mythologie nach von den Göttern. Sie trennt ihn nach naturrechtlichen Vorstellungen und moderneren anthropologischen Überlegungen auch, darauf weist Hubmann in seiner philosophiegeschichtlichen Fundierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nachdrücklich hin, mangels instinktgesicherten Verhaltens vom Tier 121 . In diesem Zwang zur Freiheit seien menschliche Würde und gestaltungsmächtige Subjektstellung angelegt122. Anders als das höher organisierte Tier erscheint der menschliche Organismus aus dieser Sicht als Doppelung eines mit dem Ich unlösbar verbundenen Leibes und einem dem Ich gegenüber vergegenständlichten und als Werkzeug benutzbaren Körper 123. Wir finden also auch hier den beschriebenen, in der Subjekt-Objekt-Dichotomie angelegten Topos. Nun wird von kollektivistischen Interpreten des Menschenwürdegrundsatzes im Kontext Humangenetik aber nicht etwa die Gestaltungsmacht des Subjekts betont. Vielmehr besteht der Kunstgriff darin, die zufallsblinde, durch den Wurf der Natur erzeugte, stets mangelhafte Ausstattung als Freiheit erzwingendes Spezifikum der Gattung stark zu machen124. „Der Zufall", schreibt Hans Jonas, der 120 So U. Neumann 1998: 156 ff.; ähnl. A. Kaufmann 1987: 840; vgl. ferner die Darstellung bei Kluge 1988a: 48 ff.; a. A. Starck 2001, der auf den Dezisionismus anderer Definiüonsversuche verweist. 121 Hubmann 1953: 40 f. 122 Vgl. Hubmann 1953: 41 ff. Es sind v. a. Helmut Pleßner (1928: 309 ff.) und - im Anschluß an Max Scheler - Arnold Gehlen (1961: 14 ff.; 46 ff., 58 ff., 104 ff.) gewesen, die die natürliche Sonderstellung der Menschen als nicht spezialisierte und nicht instinktgesicherte Wesen betont haben. Gehlen (1961: 23) und später Jonas (1987: 177) verweisen auf Nietzsche, dem zufolge der Mensch das „nicht festgestellte Tier" sei. Nach Gehlen ist der Mensch „Mängelwesen und Prometheus" (1961: 46). Wenn man so will, handelt es sich um Variationen der in der Figur der Gottesebenbildlichkeit (Genesis 1, 27) angelegten jüdisch-christlichen Vorstellung von der menschlichen Sonderstellung, deren Dualität Gott-Mensch durch die Aufklärung teilweise zur Beziehung zwischen Mensch und Vernunft transformiert wurde (vgl. hierzu K. Braun 2000a: 68 ff.). 123 So Honnef eider (1996: 342) zum Problemkontext Humangenetik (in Anlehnung an Pleßner 1928).
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dieses Argument mit Blick auf die Gentechnik entfaltet hat, „ist der produktive Quell der Artentwicklung. Der Zufall: das ist in jeder geschlechtlichen Zeugung die Garantie, daß jedes geborene Individuum einmalig ist und keines dem anderen gleicht."125 Die menschliche Natur erweist „sich als der unbeliebig-entwurfsoffene Rahmen für die Entfaltung der Person" 126. Die Plausibilität dieses Arguments zehrt trotz ihrer gattungsbezogenen Fundierung wesentlich davon, daß die Einzigartigkeit jedes Individuums betont wird, also die affektiv gesicherte Evidenz der bürgerlichen Moderne par excellence. Auch hier finden wir wieder das eminente Interesse an Integrität und Ausschluß fremdbestimmter Manipulation. Das ethische Argument gegen genetische Eingriffe verdankt sich nicht dem Umstand, daß „dem »natürlichen Werden4 als solchem besondere Dignität zukäme, sondern weil die Alternative ( . . . ) in einem von außen erfolgenden Eingriff, d. h. in einer Manipulation besteht"127. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda hat wohl als erster Jonas4 Argumentation in den juristischen Kontext gestellt. Danach schützt die Menschenwürde ein bestimmtes Bild des Menschen, zu welchem wesentlich seine UnVollkommenheit gehört 128. Dies soll allen Versuchen entgegenstehen, den Menschen „mit Hilfe einer Veränderung seiner genetischen Ausstattung in einen Zustand vorgestellter Perfektion überzuführen 44129. Ganz ähnlich hat dies die Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie44 unter explizierter Berufung auf Kant formuliert: „Die Tatsache, daß der Mensch nicht der Entwurf und das geplante Experiment seiner Eltern ist, sondern das Produkt des Zufalls der Natur, sichert die Unabhängigkeit der Menschen voneinander, ihren individuellen Eigenwert. 44130 Die Angst, fremder Verfügung als ohnmächtiges Objekt ausgeliefert zu sein, wird genutzt, aber nicht etwa mit der Konsequenz, die subjekttypische Entscheidungskompetenz zu betonen, sondern indem Grenzen postuliert werden, die dem Grundrechtssubjekt unverfügbar sind 131 . 124 Ein Bekenntnis zur Kontingenz des Menschen ist insofern schon bei Kant angelegt, als dieser betont hat, der Mensch habe insoweit eine Würde, als er als vernünftiges, autonomes Wesen kein Äquivalent, keinen Preis kenne; vgl. Kant 1974/1785/86: 68 f., BA 78 f. 125 Jonas 1987: 212, vgl. auch ebd.: 179, 188 ff. 126 Honnefelder 1996: 343.
127 Honnefelder
1996: 346.
128 Benda 1985a: 49 ff.; 1985b: 33 ff.; 1985c: 1732 und 1994: 169; ähnl. A. Kaufmann 1987: 845 f. 129 Benda 1994: 169; vgl. auch Benda 1985a: 50 f.; 1985b: 35. 130 Deutscher Bundestag 1987: 187; ähnl. Häberle 1987: 857; Robbers 2003: 149 f.; Habermas 2001: 93 ff.; Kersten 2004: 528 ff. Bereits 1982 hat die Parlamentarische Versammlung des Europarates in diesem Sinne von einem „Recht auf Zufall" gesprochen, vgl. Honnefelder 1996: 347. 131 So etwa Flämig 1985: 57 f., 70 f.; Vitzthum 1991: 73 f.; Püttner/Brühl 1987: 531,536; Häberle 1987: 857; Fisahn 2001: 51, 53 sowie H Dreier 2004: 200 (Art. 1 I, Rn. 111), zum Verbot reproduktiven Klonens.
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Mit juristischen Eigenwerten läßt sich das kollektivistische Verständnis der Menschenwürde insofern zwanglos verknüpfen, als der von der h. M. anerkannten objektivrechtlichen Funktion der Grundrechte 132, die staatliche Schutzpflichten und die Drittwirkung begründen soll, ein kollektivistisches Verständnis der Grundrechtsberechtigung zugrunde liegt 133 . Insbesondere mit seinen Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch hat das Bundesverfassungsgericht Anknüpfungspunkte für eine Bezugnahme innerhalb des Problemkontextes Humangenetik geschaffen, weil deren Eingriffe v. a. während der pränatalen Phase menschlicher Entwicklung stattfinden. Wo menschliches Leben existiere, komme ihm Schutz zu, unabhängig davon, ob sich der Träger dieser Würde bewußt sei oder sie selbst zu wahren wisse134. Diese im Grunde aristotelische Vorstellung, daß das Wesen einer Sache sich nicht in ihren konkreten akzidentiellen Eigenschaften erschöpfe, ermöglicht es, allein auf die gattungsspezifisch mögliche Potenz abzustellen und davon zu abstrahieren, ob konkret die Bedingungen für Individualität oder Personalität überhaupt gegeben sind 135 . Die Expansion von Rechtssubjektivität im Bereich moderner Biotechniken136 findet darin einen zentralen argumentativen Ansatzpunkt. Je mehr humangenetische Verfahren auf pränatale Existenzformen Zugriff nehmen und postmortal Konsequenzen haben, umso mehr gewinnt die Frage, wo Personalität beginnt und wo sie endet, an Gewicht, zumal dann, wenn für bestimmte menschliche Wesen „das Erreichen einer eigenständigen individuellen Existenz womöglich gar nicht vorgesehen ist" 137 . In einem streng individualistisch auf Selbstbestimmung ausgerichteten normativen Konzept wäre die Grundrechtsträgerschaft eng an die subjektive Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Rechtswahrnehmung gekoppelt. Denn wer „unfrei oder nicht einsichtsfähig ist, eigenverantwortlich über die Nutzung seiner 132 St. Rspr. seit BVerfGE 7,198 / 205 f. - Lüth. 133 Vgl. Hilgendorf 1999: 140; Frankenberg 2000: 331; Künzler 1990: 145 f. Insoweit trifft sich die kollektivistische Interpretation von Art. 11 GG mit der sog. funktionalistischen Grundrechtstheorie, derzufolge Freiheit nur als Strukturbedingung der Gesellschaftsordnung geschützt ist. 134 BVerfGE 39,1/36 ff., 41 - Fristenlösung I; NJW 1993,1751 /1753 - Fristenlösung II. 135 So etwa Low (1985: 153 ff.), der, wenn auch ohne Anspruch auf Letztbegriindbarkeit, der befruchteten menschlichen Eizelle qua ihrer Potenzial!tät Subjektqualität zuspricht; ähnl. Fechner 1986: 658 und Eser 1987: 40 f. sowie i. E. die wohl herrschende juristische Meinung, vgl. BVerfGE 39, 1/36 ff. - Fristenlösung I (ab Nidation); Dürig in: Maunz/Dürig 2000/1958: 12 ff. (Art. 1 I, Rn. 19 ff.); dezidiert Starck 2001 und 2002 sowie in: v. Mangoldt/Klein/Starck 1985: 35 f. (Art. I 1, Rn. 14); Benda 1994: 166; Vitzthum 1985: 208; Brohm 1998: 200 f.; Laufs 1987a: 193; Wahl 1987: 30; Mansees 1988: 2985. Dem entspricht die derzeitige Legaldefinition des Embryos in § 8 I EmbrSchG. Zur Kritik an dieser substantialistischen Vorstellung von Personalität vgl. Beckmann 1996: 286 ff., 299 f.; H. Dreier 1996: 108 ff. (Art. 11, Rn. 47 ff.) und 2002: 23 f., 39 ff. 136 Vgl. Damm 1991: 282 ff.; 1993a: 168 ff.; 1998a: 926 f.; 1998b: 118 ff.; 2002a: 872 ff. 137 K. Braun 2000a: 60. Beispiele liefern etwa die embryonenverbrauchende Forschung und die PID.
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grundrechtlich geschützten Interessen zu entscheiden, dem wird durch staatliche Bevormundung keine Freiheit genommen"138. Rechtssubjektivität kann daher nur über die objektivrechtliche Ebene erweitert werden, indem Staat oder Dritte zu Interessenwaltern jener Existenzformen benannt werden, welchen menschliche Würde nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Spezies Mensch zugesprochen werden kann. Dies erfordert Aussagen darüber, was den Menschen zum Menschen macht. Genau an diesem Punkt setzt die Kritik an kollektivistischen Lesarten des Menschenwürdeprinzips an. Moniert wird zum einen die mangelnde Grenzschärfe eines biologistischen Konzepts139, das in der Konsequenz sogar beliebigen Körperzellen Menschenwürde zusprechen müßte, sobald es möglich geworden ist, unabhängig vom Zelltyp aus allen Zellen menschliche Individuen reproduzieren zu können. Zum anderen beanstanden Befürworter einer streng individualistischen Lesart, daß der gattungsbezogene Ansatz paternalistische, im Widerspruch zum Prinzip individueller Selbstbestimmung stehende Konsequenzen habe, wenn er entgegen konkreten empirischen Entscheidungen der Individuen Verbote aufrichte140. Nicht zuletzt bildet die Figur einer gattungsspezifischen Sonderstellung des Menschen „den zentralen Angriffspunkt aller Ethiken, die die Einheit der Menschheit auflösen und Menschen in verschiedene moralische Klassen einteilen, wie es v. a. der bioethische Utilitarismus tut" 141 .
c) Religiöse Perspektiven Christliche, teilweise auch andere religiöse Positionen stellen hinsichtlich manipulativer Eingriffe in die menschliche Natur, hier an erster Stelle Empfängnisverhütung und Abtreibung, traditionellerweise eher auf das Rechtsgut des menschlichen Lebens ab 1 4 2 . Wesentlicher Anknüpfungspunkt theologischer Stellungnahmen ist meist die auf Genesis 1, 27 beruhende Vorstellung vom Menschen als Ebenbild Gottes, aus der sich einerseits sein besonderer Stellenwert innerhalb der göttlichen Schöpfung, andererseits aber auch Vorstellungen der Unantastbarkeit und damit Unverfügbarkeitsforderungen ergeben. So formuliert die päpstliche Enzyklika Humanae Vitae zur Empfängnisverhütung von 1968: „Wie nämlich der Mensch ganz allgemein keine unbeschränkte Verfügungsmacht über seinen Körper hat, so im besonderen nicht über die Zeugungskräfte als solche, sind doch diese ihrer innersten Natur nach auf die Weckung menschlichen Lebens angelegt, deren Ur138 Schwabe 1998: 70; vgl. Harks 2002: 717; Schreiber 2003: 369. 139 Vgl. Hilgendorf 1999: 153 ff.; C. Enders 1988: 188 ff.; Koppernock 1997: 116 ff., 221; Schreiber 2003: 369; H Dreier 2002: 18 ff. 140 Blankenagel 1987: 386 ff.; Frankenberg 2000: 329 ff., bes. 331; C/. Neumann 1998: 166; Koppernock 1997: 27; Frommel 2002: 416. 1 41 Braun 2000a: 68 f.; wie diese jeglichen Anthropozentrismus relativierende Umwertung von Peter Singer u. a. begründet wird, ist gut dargestellt bei Hruschka 2001: 262 ff. i « Vgl. Dworkin 1994: 54 ff.
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sprung Gott ist." 143 Bereits im Dokument Donum Vitae der katholischen Kongregation für die Glaubenslehre von 1987 ist jedoch eine personalistische Scheinwendung angelegt, die starke Bezüge zur Diskussion um die Menschenwürde aufweist und als Zugeständnis an den individualitätszentrierten Diskurs um Fortpflanzungstechnologien begriffen werden kann: Der Empfangene könne „nicht als Produkt eines Eingriffs menschlicher Techniken gewollt oder empfangen werden: Dies würde bedeuten, ihn zum Objekt einer wissenschaftlichen Technologie zu erniedrigen." 144 Von personalistischer Scheinwendung spreche ich aus mehreren Gründen: Dem Individuum wird jede Verfügungsmacht abgesprochen. Auch wird kein Verhältnis zwischen menschlicher Beherrschung der eigenen Natur als Möglichkeit und seiner Subjektqualität hergestellt, wie das bei säkularisierten kollektivistischen Verständnissen von Menschenwürde versucht wird. Seine eigene Natur soll dem Mängelwesen Mensch gerade nicht zuhanden sein, sondern wird unverfügbar gesetzt145, indem sie mit einem in der aristotelischen Philosophie wurzelnden teleologischen Verständnis auf eine vorgegebene Zweckbestimmung abstellt. Der Mensch soll sich als Natur nicht zum Objekt machen. Die den modernen Diskurs tragende Objektformel wird so in einer ganz eigenen Weise aufgegriffen. Entscheidend ist nicht die menschliche Personalität, sondern der Gedanke der Unverfügbarkeit der Schöpfung. Das Gewicht liegt auf der in den beschriebenen Mythen tradierten Angst, sich eine gottgleiche Stellung anzumaßen. In ihrer Angstfundierung, wie auch in ihrer absolute Verbote rechtfertigenden, normativen Struktur ähneln solche religiösen Positionen kollektivistischen Lesarten des Menschenwürdeprinzips. Natürlich gibt es nicht eine einzige christliche Perspektive. Aber auch Positionen, die weniger apodiktisch argumentieren, greifen auf ein Menschenwürdeverständnis zurück, das die biologische Grundausstattung als gottgegeben und daher Eingriffe in diese als rechtfertigungsbedürftig erachtet 146. Nur vereinzelt wird versucht, mit Blick auf die Vorstellung menschlicher Gottesebenbildlichkeit Freiheitsmöglichkeiten bis hin zur Manipulation der menschlichen biologischen Ausstattung zu rechtfertigen 147. Nicht selten sind juristische Versuche, die Ebenbildlichkeitsvorstellung im Zusammenhang mit der Gentechnologie als über Säkularisierungsprozesse hinaus fortwirkenden Anknüpfungspunkt für inhaltliche Bestimmungen zu nutzen148. 143 Zitiert nach Dworkin 1994: 65; ähnliche theologische Aussagen referiert Gröner 1991: 296 f.; zu von der imago-Dei-Vorstellung abgeleiteten Forderungen, „bereits in der Zygote den göttlichen Funken personale Existenz und Würde zu erkennen" (H. Dreier 2002: 42) vgl. die Nachw. bei H. Dreier 2002: 42, Fn. 111. 144 Zitiert nach Engelhardt 1996: 39. 145
Exemplarisch die Ausführungen bei Huber 2002. So etwa Evangelische Kirche in Deutschland 1986; Zentralkomitee der deutschen Ka tholiken 2000. 147 So z. B. Altner 1986: 30 ff.; K Koch 2001: 60 ff. 148 So etwa bei Starck in: v. Mangoldt/Starck/Klein 1985: 26 f. (Art. 1 I, Rn. 3); Starck 1986: A 14; A. Schmidt 1991: 130; Kirchhof 2001: 161 f.; Kritik u. w. Nachw. b. H. Dreier 2004: 146 ff. (Art. 11, Rn 6 ff). 146
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d) Menschenwürde als interaktionistisch begründeter Anspruch auf Achtung Bereits Niklas Luhmann hatte in seiner frühen Grundrechtstheorie darauf abgestellt, daß Individualität als Konstituens menschlicher Würde keine auf die menschliche Naturausstattung zu reduzierende Entität, sondern eine erstrebte und stets riskante kommunikative Leistung sei 149 . Auch neuere Konzeptionen versuchen, teilweise unter Rückgriff auf soziologische und ethnologische Forschungen, die Menschenwürde nicht substantialistisch, sondern aus ihrer sozialen Bedeutung für die Interaktion zwischen Personen heraus zu definieren. Sie stellen darauf ab, „wodurch Menschen gedemütigt werden können, welche Handlungen eine Entwürdigung anderer implizieren" 150. „ Selbstachtung als eine positive Einstellung gegenüber sich selbst kann ein Individuum erst dann einnehmen, wenn es von den Mitgliedern seines Gemeinwesens als eine bestimmte Art von Person anerkannt wird." 151 Ihren besonderen Charme bezieht diese moderne Lesart des Menschenwürdearguments daraus, daß sich mit ihr unterschiedliche Konzeptionen zusammenführen lassen: die aus der Soziologie bekannte, orientierungsleitende interaktionistische Spiegelung der Subjekte ineinander152, eine in ihrer reflexiven Intersubjektivität begründete Verwandtschaft zur narrativen Struktur des Kategorischen Imperativs und nicht zuletzt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Menschenwürde nur verletzt wird, wenn der Wert eines Menschen als Person willkürlich im Sinne einer verächtlichen Behandlung mißachtet wird 153 . Vor allem lassen sich damit individualistische und gattungsbezogene Lesarten kombinieren, von deren Evidenzen diese Fassung des Menschenwürdeprinzips damit jedoch maßgeblich zehrt. Interpretiert man den Ansatz strikt individualistisch, so läuft dies auf eine formal verstandene Selbstbestimmungsforderung jenseits konkreter Inhalte hinaus, denn „die Mißachtung eigener Würde verletzt niemandes Anspruch auf Achtung seiner Würde" 154 . Da sich allerdings die Frage, durch was sich Menschen gedemütigt fühlen können, wohl wesentlich nur entlang von Konventionen bestimmen läßt 155 , kann man über den Achtungsanspruch auch zu einer 149
Vgl. Luhmann 1965: 57 ff. Auffallend häufig wird der Ansatz in juristischen Publikationen erwähnt, um sogleich verworfen zu werden; vgl. Benda 1985b: 25; Künzler 1990: 135; A. Schmidt 1991: 131 f., 136; Frankenberg 2000: 328; Häberle 1987: 838 f.; Kunig in v. Münch 2000: 73 (Art. 1, Rn. 13); Kirchhof 2001: 171; Tjaden 2001: 82 f.; H Dreier 2002: 43; a. A. (pos. Bezugnahme) bei Keller 1989: 2292 f.; Pieroth/Schlink 1995: 92 (Rn. 384 f.). 150 (/. Neumann 1998: 165 f.; vgl. Frankenberg 2000: 328 f.; H. Hofmann 1993: 11, 15 ff.; Koppernock 1997: 23; Honneth 1992: 114 ff., 212 ff.; grundlegend Margalit 1999. 151 Koppernock 1997: 23; [Hervorh im Orig., D.M.], 152 s.o., §4IV. 153 BVerfGE 30,1 /26 - G 10; krit. Pieroth/Schlink 1995: 92 f. (Rn. 388). 154 U. Neumann 1998: 166; ähnl. Frankenberg 2000. 155 U. Neumann merkt diesbezüglich an, daß konkrete „Verbote und Gebote, die dem Prinzip der Menschenwürde zugeordnet werden, ( . . . ) in weit höherem Maße konsens- oder doch jedenfalls begründungsfähig als generalisierende Definitionen der Menschenwürde" seien
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kollektivistischen Lesart des Ansatzes gelangen. Immerhin muß diese nicht notwendig mit der biologischen Grundausstattung des Menschen argumentieren. Damit sind u. U. auch paternalistische Verbote zulässig, vor allem jedoch ist es möglich, „dem Anspruch auf Achtung der Würde einen Inhalt zu geben, demzufolge er den Anspruch auf Bedingungen umfaßt, unter denen der einzelne die Fähigkeit zur Selbstachtung aufrechterhalten kann" 156 . In einer individualistischen Gesellschaft wie der unseren führt ein solcher Ansatz in der Konsequenz fast zwangsläufig zu einem Konzept, das vorrangig individuelle Selbstbestimmung und nur in Extremfällen deren paternalistische Einschränkung gestattet157.
e) Dogmatische Konsequenzen Der Unterschied zwischen individualistischer und kollektivistischer Interpretation der Menschenwürde hat durchaus dogmatische Konsequenzen, also Folgen für mögliche Eigenwertbildungen: Betont man den gattungsbezogenen Ansatz, so setzt dies der Selbstbestimmung der Verfügungsberechtigten enge Grenzen 158. Da ihnen Menschenwürde nicht allein als Individuum, sondern zugleich objektivrechtlich als Mitglied der Gattung zukommt, können sie nicht oder jedenfalls nicht nach Belieben disponieren159 und werden aus materialen Erwägungen, wie Menschenwürde und mit ihr Autonomie inhaltlich zu bestimmen seien, im Zweifel vor sich selbst „geschützt"160. Grundrechtsdogmatisch bindet man solche Verfügungsbeschränkungen und -verböte an die Figur eines abwägungsfest gehaltenen Wesensgehalts161 des allgemeinen Persönlichkeitsrechts162, teilweise auch an die dem (1998: 165 f.). Frankenberg fordert anstelle von Konsens „ein Mindestmaß an Evidenz" (2000: 129), was die Frage herausfordert, für wen die Evidenz bestehen soll. 156 U. Neumann 1998: 166; ähnl. Koppernock 1997: 20; Dworkin 1994: 324. 157 Vgl. etwa Koppernock 1997: 18 ff., der der Menschenwürde ein vorrangiges Autonomie- und ein nur ausnahmsweise einschlägiges, Schutzpflichten begründendes Solidarprinzip entnimmt; ähnl. Tjaden 2001: 97 f. 158 Erst recht gilt dies für die meisten christlich fundierten Positionen; s. o., § 11 II. 4. c). 159 In aller Konsequenz deutlich wird dies bei Fisahn, der mit deutlich gattungs- und menschenwürdebezogenen Argumenten ein „unveräußerliches Grundrecht am eigenen genetischen Code" postuliert (2001: 51 ff.); ähnl. Püttner/Brühl 1987: 531 ff., 536; Donner/Simon 1990: 911; Tünnesen-Harmes 1994: 145; Brohm 1998: 201. Die gleiche Argumentation trägt Haläszs Absage an eine uneingeschränkte Verwertbarkeit vom Köiper abgetrennter Substanzen (auch von DNA) durch den Berechtigten (2004: 92 ff., bes. 136 ff.); ähnl. die Argumentation Horst Dreiers [2004: 200 (Art. 11, Rn. 111)] zum Verbot reproduktiven Klonens. 160 Vgl. nur Dürig in: Maunz/Dürig 2000/1958: 12. (Art. 1 I, Rn. 13); Starck in: v. Mangoldt/Klein/Starck 1985: 40 (Art. I 1, Rn. 20); Baston-Vogt 1997: 239 f., 252 f. m. w. N.; BVerwGE 64, 274 - Peep Show I. Zum dogmatischen Problem des Grundrechtsverzichts vgl. Pietzcker 1978: 536 ff., 549 ff.; Fischer 1997: 185 ff. 161 BVerfGE 75, 369/380; Degenhart 1992: 366; Pietzcker 1978: 536 m. w. N. Die Auffassung, daß Grundrechte einen abwägungsresistenten, unverfügbaren und über Art. 1 I, 19 II, 79 m GG geschützten Menschenwürdekern enthalten, geht auf Günther Dürig zurück [in: Maunz/Dürig 2000/1958: 34 ff. (Art. 1 II, Rn. 79 ff., bes. 81)].
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objektiv-rechtlichen Gehalt des Menschenwürdegrundsatzes entnommene staatliche Schutzpflicht 163. In der persönlichkeitsrechtlichen Diskurstradition wird die uneingeschränkte Verfügungsbefugnis des Berechtigten mit dem Argument der Höchstpersönlichkeit verneint 164. Auf den ersten Blick mag es widersprüchlich erscheinen, mit der Formel der Höchstpersönlichkeit die Verfügungsberechtigung des Subjekts dieser Zuordnung einzuschränken. Zwar könnte man darin, daß Einwilligungen frei widerruflich sein sollen, eine Potenzierung subjektiver Freiheit sehen: Das Subjekt kann sich jederzeit bar jeder vorherigen Verpflichtung neu entscheiden. Doch bei genauerem Hinsehen ist dies die Freiheit eines Kindes. So liegt es durchaus in der paternalistischen Logik kollektivistischer Verständnisse von Menschenwürde, die Freiheit, sich der betreffenden Rechtsposition dauerhaft zu entäußern (was beinhalten würde, sie durch dauerhaft bindende Tauschgeschäfte verwerten zu können), zu versagen. Im Grunde bedeutet Höchstpersönlichkeit in diesem Kontext objektivrechtliche Höchstwertigkeit, die deshalb der schärfsten Konsequenz subjektiver Verfügbarkeit, sich der betreffenden Rechtsposition dauerhaft zu begeben, entzogen sein soll. In dieser Lesart hält das Menschenwürdeargument den persönlichkeitsrechtlichen Diskurs verstärkt für Argumente offen, die soziale Zwänge, Machtdisparitäten, die faktischen Grenzen individueller Autonomie und damit der Fähigkeit zur Selbstverantwortung betonen165. Aber auch jene neueren Konzeptionen, die auf die interaktionistische Basis des menschenwürdegeschützten Achtungsanspruchs abstellen, sind für derlei soziologistische Argumente empfanglich 166. Je mehr man solche Unverfügbarkeit betont, desto näher liegt auch für den Bereich humangenetischer Technologie eine Einschränkung der Verkehrsfähigkeit 167. Kraft seines 162 Vgl. etwa C. Hoffmann 1999: 36 f., 48; Simon 2001: 118 f. Im Verhältnis Privater zueinander läßt sich der Durchgriff solcher in jedem Fall hochrangigen persönlichkeitsrechtlichen Positionen als mittelbare Drittwirkung über die §§ 138, 242, 823 I BGB herstellen. 163 BVerwGE 64, 274/280 - Peep-Show I; vgl. Herdegen in Maunz/Dürig 2000/2003: 17 ff. (Art. 11, Rn. 27 - 29); zur rechtlichen Konstruktion vgl. Hillgruber 1992: 104 ff. 164 Vgl. Baston-Vogt 1997: 239 f., 252 f. m. w. N. 165 Vgl. etwa Simon 2001: 119 m. w. N.; Tjaden 2001: 129 f., 137. Dies ist kein Selbstläufer. Sobald das Menschenwürdeprinzip als Einfallstor für allgemeine sittliche Erwägungen geöffnet wird, sind recht unterschiedliche politische Interpretationen möglich. So läßt sich u. U. auch vertreten, die Menschenwürde rechtfertige auch Maßnahmen, die nicht im individuellen Interesse, sondern in dem der Allgemeinheit liegen. So hielt einer der exponiertesten Vertreter einer kollektivistischen Interpretation der Menschenwürde, Hans Jonas, Maßnahmen negativer Eugenik, etwa Fortpflanzungsverbote für Diabetiker, für zulässig (1982: 470 f.). 166 Vgl. nur Koppernock 1997: 20,27. 167 Zutreffend weist Taupitz darauf hin, daß die Grenzen der Eigenkommerzialisierung des menschlichen Körpers paternalistisch und angstfundiert begründet werden: „Überindividuelle Ansätze (gegründet auch auf die von der Rechtsordnung übernommenen Regeln der Sitte und Moral sowie auf religiöse Grundsätze) stellen die Herabwürdigimg des Menschen zum Handelsobjekt, den Verstoß gegen die Menschenwürde oder allgemein die Kommerzialisierung ideeller Güter und Werte in den Vordergrund; Urängste der Menschheit treffen sich hierbei 26 Maitra
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Menschenwürdegehalts ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht als höchstpersönliches Bestimmungsrecht dann nicht oder allenfalls eingeschränkt verkehrsfähig, weil Einwilligungen sowie vertragliche Ausübungsverzichte und Nutzungserlaubnisse nicht unwiderruflich erteilt werden können168. Auch Verfügungsbeschränkungen größerer Intensität bis hin zu Verfügungsausschlüssen lassen sich so rechtfertigen. Man kann Einwilligungen nur in gesetzlich vorgesehenen Fällen zulassen oder absolute Verbote aussprechen169. Betont man dagegen die individuelle Selbstbestimmung als zentralen Menschenwürdegehalt, so läßt sich ein unverzichtbarer Bereich allenfalls mit großer Zurückhaltung definieren. Absolute Grenzsetzungen sind damit im Bereich der Humangenetik nur schwer begründbar. Ist das Subjekt „ganz zur einzigen unbeschränkten, leeren Autorität geworden" 170, so zählt vom normativen Ansatz her, solange man auf den Rückgriff auf jede kollektivistisch verankerte Weitsetzung verzichtet, einzig die Entscheidung der Betroffenen. Selbstbestimmung ist insoweit ein formales Prinzip ohne materiale Vorgaben. Gilt die Menschenwürde ausschließlich einzelnen Individuen, so kann sie durch keine humangenetische Maßnahme, sei sie diagnostischer oder invasiver Art, verletzt sein, solange der Eingriff durch Einwilligung gedeckt ist 171 . Selbst bei gentechnischen Eingriffen in den Zeugungsprozeß, wie etwa bei Klonierung und Keimbahnintervention, ist das Prinzip nach streng individualistischer Lesart jedenfalls bei schädigungs- undrisikolosenEingriffen nicht beeinträchtigt172. mit vielfältigen Vorstellungen vom altruistisch und caritativ Handeln als dem ethisch allein Wertvollen." (1993: 54) Sie treffen sich mit der idealistischen Legierung persönlichkeitsrechtlicher Argumentation in der deutschen Diskurstradition, die häufig den Antagonismus zwischen dem hohen Wert der ideellen Seite der Persönlichkeit und eigennützigen Verwertungsinteressen des Verletzers betonte; s. o., § 10 II. 3. i « Vgl. Baston-Vogt 1997: 236 f., 251 ff. mit umfangr. Nachw., bes. S. 253; Brohm 1998: 201; Peukert 2000: 715, 718 ff. Zum gleichen Ergebnis gelangt man, wenn man, wie dies zuweilen geschieht, die betreffende Rechtsposition von vornherein vom Grundsatz der Menschenwürde ableitet. Die Einwilligung in die Ermittlung, Aufbewahrung und Weitergabe genetischer Daten wird für frei widerruflich gehalten von Deutsch 1989: 659; Einwag 1991: 98; Taupitz 1992: 1099; Rudolf 2003: 119; ähnl. zur Befündmitteilung nach Einwilligung in die Durchführung einer Genanalyse Wiese 1994: 97; Deutsch 1991a: 1207. 169 s. o., Fn. 63. 170 Horkheimer/Adorno
1980/1947: 81.
171 Vgl. Heyd 1999: 72 ff. und passim. Anders verhält sich dies, wenn man dem Menschenwürdegrundsatz ein Fürsorgeprinzip entnimmt, das eine Beschränkung autonomer Entscheidungen ermöglicht, wenn diese weitere Autonomie zu vereiteln drohen (so wohl Koppernock 1997: 20, 27) - eine schwerlich mit streng individualistischen Ansätzen in Übereinstimmung zu bringende Lesart. Nicht der fürsorgliche Vormund, sondern das eigenverantwortliche Individuum ist Leitbild des Prinzips individueller Verantwortung: „Niemand braucht deswegen vernünftig sein, aber jedermann wird behandelt ,als ob'." 0Fach/Martinsen 1991: 546). 172 So auch Birnbacher 1987: 77 ff. und 1989: 219; U. Neumann 1998: 156 (zur Keimbahnintervention); C. Hofmann 1999: 37 (Genanalyse); Joerden 1999: 83 ff., 89 f. m. w. N.; Frankenberg 2000: 329 f. (zum Klonen). Konsequenz der individualistischen Sichtweise ist,
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Eine weitgehende Dispositionsbefugnis des Berechtigten ist die Konsequenz173, so daß sowohl schuldrechtliche als auch Verfügungsgeschäfte in den üblichen, auf scharfe Formalität und persönliche Eigenverantwortung setzenden Regeln (Geschäfts- bzw. Einwilligungsfähigkeit) möglich sind. Dies aber ist Voraussetzung, wenn persönlichkeitsrechtlichen Positionen neben Abwehrbefugnissen auch eigentümerähnliche Verfügungsbefugnisse entnommen werden sollen. Die neuere Rechtsprechung des BGH zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht hat hier deutliche Ansatzpunkte für die Lesart geschaffen, das persönlichkeitsrechtliche Selbstbestimmungsrecht erzeuge nicht nur Verbietungs-, sondern auch Verwertungsbefugnisse174. Hinsichtlich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, nach herkömmlicher Lesart ein höchstpersönliches und somit nicht übertragbares Recht 175 , ist diese Rechtsprechung bereits aufgegriffen worden 176. Eine Übertragung auf den Bereich genetischer Daten liegt jedenfalls nicht fern 177 . Insbesondere im stark auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezogenen verfassungsrechtlichen Diskurs überwiegen Eigenwerte, die ganz stark an ein kollektivistisches Verständnis von Menschenwürde anknüpfen und insbesondere deren Unverfügbarkeit betonen, sowohl im Hinblick auf die Abwägung mit gegenläufigen Grundrechtspositionen, als auch bezüglich der Dispositionsfreiheit des Rechtsinhabers, der enge Grenzen gesetzt werden. Wie bereits ausgeführt, wurzelt in diesem Verständnis die objektivrechtliche Funktion der Grundrechte ebenso, wie der von der realen Fähigkeit zur (wenigstens zukünftigen) Selbstbestimmung abstrahierende Gedanke, allein seine gattungsbestimmte Potentialität begründe rechtlichen Schutz des Embryos. Nach diesem Verständnis ergeben sich pränataler wie postmortaler Schutz aus dem Grundsatz der Menschenwürde. Im Zivilrecht spitzt sich die Frage der Verfügbarkeit von jeher stark auf die Frage der Kommerzialisierbarkeit persönlichkeitsrechtlicher Rechtspositionen zu 1 7 8 . Im Kontext einer starken Ausrichtung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auf individuelle Selbstbestimmung besteht eine deutliche, wenn auch nicht unumstrittene Tendenz, weitgehende und über den Tod hinausreichende Dispositionsbefugnisse zuzuerkennen. Am Rande wurde bereits angemerkt, daß an diesem Punkt eine Difdaß alles, was als nicht menschenwürdefähig definiert wird, schutzlos gestellt ist (Frommel 2000: 341, 343). Man differenziert zwischen der Gattung Mensch und interessen- und damit rechtsfähiger Person (vgl. Höfling 2003: 101 f.). Folgerichtig wird man nach individualistischer Lesart Wesen, die kein kohärentes Selbstgefühl entwickeln können, Menschenwürde und Selbstbesümmungsrecht absprechen (so etwa Dworkin 1994: 308 ff. für den Fall der Demenz), während die kollektivistische Lesart Würde ungeachtet individueller Kompetenz zumißt (so etwa Grimm 1989: 1310 und 1991: 209 f.). na Vgl. C. Hoffmann 1999: 36 ff. 114
s. o., § 10 III. 9., eingehender hierzu im Fortgang unter § 11 in. 3. c). 175 Weichen 2001: 1466 m. w. N. 176 Vgl. Weichen 2001: 1466 ff. 177 Vorgenommen bei C. Hofmann 1999: 38, 87 ff.; s. o., § 1 H 3., § 10 m. 9. 178 s. o., § 10 n. 3., § 10 m. 4. e), bes. § 10 HL 8. und 9. sowie § 10IV. 2. 2 *
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ferenz zwischen Bundesverfassungsgericht und BGH besteht179: Während der BGH frühzeitig 180 und in letzter Zeit verstärkt davon ausgegangen ist, daß verschiedene Aspekte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts über den Tod hinaus fortwirken 181 , wird dies vom Bundesverfassungsgericht verneint 182. In der Konsequenz läuft die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung darauf hinaus, „daß die Menschenwürde einen Persönlichkeitsbestand schützt, der einer Veränderung durch den Grundrechtsträger im Regelfall entzogen ist. Demgegenüber schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht diejenigen Persönlichkeitsanteile, die einer permanenten Formung durch den Grundrechtsträger unterliegen."183 Das sich anbahnende Schisma läßt sich möglicherweise auflösen, indem man zwischen den Gehalten des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im verfassungsrechtlichen und im zivilrechtlichen Sinn strikt unterscheidet. Solch eine Strategie des „loose coupling" 184 ist jedoch im auf übergreifende Konsistenz ausgerichteten juristischen Diskurs unbeliebt und eher eine Notlösung. Sie stünde auch in dem Widerspruch, daß das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Privatrechts verfassungsrechtlich abgeleitet wurde und seine Drittwirkung gerade auf der objektivrechtlichen Dimension des Grundrechts beruht. Wie auch immer die Rechtsentwicklung verlaufen wird, soweit im juristischen Diskurs beide Interpretationen nebeneinander bestehen bleiben, werden streng individualistische Lesarten des Menschenwürdegrundsatzes vermutlich im persönlichkeitsrechtlichen Selbstbestimmungsrecht aufgehen, weil sich bei ihnen die Frage nach der Verletzung der Menschenwürde darauf reduziert, ob die fremde Beeinträchtigung oder Verfügung mit Einwilligung des Rechtsgutsinhabers erfolgte. Sowohl das individualistische Verständnis von Menschenwürde als auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung, die es insbesondere hinsichtlich seiner Kommerzialisierbarkeit durch den BGH erfahren hat, laufen auf individuelle Selbstbestimmung im Sinne ungehinderter Verfügbarkeit hinaus. Anders als beim gattungsbezogenen, kollektivistischen Menschenwürdeverständnis bleibt kein auf Unverfügbarkeit zielender „Rest", der sich nicht dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht oder besonderen Persönlichkeitsrechten zuordnen ließe. Entscheidend wird daher sein, welche Rechtspositionen im juristischen Diskurs dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zugeordnet werden und welche dem Grundsatz einer unverfügbar gesetzten Menschenwürde. Erstere werden ungehinderter Verfügung, respektive Verwertung sowie der Abwägung mit anderen Rechtspositionen zugänglich sein, 179 s.0.,§ 10m.9.,bes.Fn. 373. 180 BGHZ 15, 249/259 - Cosima Wagner; s. o., § 10 m. 2.; vgl. auch BGH NJW 1968, 1773 - Mephisto. 181 BGHZ 143,214/220 ff. - Marlene Dietrich; BGH NJW 2000, 2201 - Der blaue Engel; s. o.,§ ioni. 9. 182 BVerfGE 30, 173/194 ff. - Mephisto; BVerfG-K NJW 2001, 594/f - Willy-BrandtGedenkmünze; NJW 2001, 2957/2958 f. - Wilhelm Kaisen; s. o., § 10 in. 9. 183 Zacharias 2001: 2950. im Zum Begriff s. o., § 6 III., Fn. 74.
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letztere nicht 185 . Denkbar ist auch eine deutlichere zivilrechtsinterne Ausdifferenzierung in stark menschenwürdebezogene, abwehrrechtliche Rechtspositionen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und echte, auf Verwertung gerichtete Immaterialgüterrechte 186. Auch hier wird die Frage nach dem (kollektivistisch verstandenen) Menschenwürdegehalt der jeweiligen Rechtsposition entscheidend dafür sein, wie weit die subjektive Dispositionsbefugnis reicht.
5. Individuelle Selbstbestimmung als zentraler Menschenwürdegehalt im Kontext Humangenetik Damit steht die Frage auf der Agenda, welche Menschenwürdekonzeption in unserer Gesellschaft letztendlich über die größere Evidenz und die größeren Durchsetzungschancen verfügt. Nach meiner Einschätzung wird dies tendenziell wohl eher, mit wenigen Einschränkungen, die individualistische, auf Selbstbestimmung und individuelle Autonomie abhebende Lesart sein. Dafür möchte ich mehrere, teilweise miteinander verknüpfte Gründe nennen:
a) Holistische und individualistische in der modernen Gesellschaft
Ethiken
Die Autonomiepostulate des bürgerlichen Zeitalters haben in rechtsstaatlich verfaßten Staaten über die „Personalisierung von Rechtslagen" (Luhmann)187 dazu geführt, daß individuelle Selbstbestimmung als „normative Basisgröße"188 im Recht gilt. Positionen, die individuelle Personalität als Bezugspunkt nehmen, sind 185 in diese Richtung weist etwa die Entwicklung des Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung, das - jedenfalls nach Interpretation des Bundesverfassungsgerichts (NJW 1997, 1769/f.) - nicht unmittelbar aus Art. 1 I GG abgeleitet, sondern eine Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist und damit der Abwägung mit anderen konkurrierenden Rechtspositionen zugänglich ist; vgl. Giesen 1989: 367; Damm 1998a: 931 f. und 1998b: 127 ff.; zur dogmatischen Diskussion um die Zuordnung vgl. von Sethe 1995: 70 ff. 186 Die beiden Marlene-Dietrich-Entscheidungen (BGHZ 143,214; NJW 2000,2201; s. o., § 10 III. 9.) weisen aufgrund ihrer Differenzierung zwischen ideellen und vermögensrechtlichen Bestandteilen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts deutlich in diese Richtung. Der Vorsitzende des die Urteile erlassenden Spruchkörpers, Eike Ullmann, hat angemerkt, die zunehmende kommerzielle Verwertbarkeit einzelner Persönlichkeitselemente lasse diese „de facto zu einzelnen Vermögenswerten Rechten, läßt sie zu Immaterialgüterrechten werden" (1999: 210). Eine entsprechende Entwicklung hat etwa in den Bereichen des Bildnis-, Namens- und des Warenzeichenrechts stattgefunden; vgl. Gotting 1995:12 ff., 70 ff., 108 ff.; Ullmann 1999: 210 f. Einer vollständigen Aufspaltung in Persönlichkeits- und Immaterialgüterrechte, wie sie Beuthien/Schmölz (1999: 21 ff., 33 ff.) vertreten, steht vorerst entgegen, daß Verwertungsmaßnahmen, die sich auf die ideellen Interessen auswirken, vom Einverständnis des insofern Wahrnehmungsberechtigten abhängig sein sollen (BGHZ 143,214/226 f.). 187 s. o., § 1 m. 188 Damm 2002b: 376.
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in unserer ausdifferenzierten Gesellschaft tendenziell eher durchsetzungsfähig als solche, die auf die menschliche Gattung abstellen. Aus sozialpsychologischer Perspektive haben kosmozentrische und holistische Ethiken, wie sie v. a. von Umweltbewegungen propagiert werden, wenig Durchsetzungschancen, da solche Deutungsmuster nur bei hochsolidarischen Gruppen mit egalitärer Struktur auftreten 189 . Aussagen über die Menschheit als Gattung und deren Natur, das zeigt der Kontrast zwischen säkularisierten und religiösen Ansätzen, bedürfen konsensfähiger Wertungen, die gerade im Bereich der Humangenetik schwerlich anzutreffen und ohnehin in unserer stark ausdifferenzierten, individualisierten Gesellschaft Mangelware sind 190 . Insofern spricht vieles für van den Daeles Vermutung, daß „moralische Tabus, die die Unantastbarkeit der menschlichen Natur verbürgen sollen, in unserer Kultur einen prekären Status" haben und sich „in dem Maße auflösen, wie technische Möglichkeiten entstehen, in diese Natur gezielt einzugreifen" 191. Zutreffend konstatiert Engelhardt, die „Vorstellung, daß Männer und Frauen in einer hoch technologischen Gesellschaft ihr Leben um transzendente spirituelle Ziele ordnen würden, (scheine) für viele nahezu unbegreiflich zu sein" 192 . Aus einer säkularen Perspektive liege es demgegenüber nahe, „die Leistungsfähigkeit der Natur zu steigern, um das ( . . . ) Ziel zu verwirklichen, Kinder mit so wenig geistigen und körperlichen Behinderungen zu bekommen"193. Nach Ende des Nationalsozialismus erfolgte ein „Übergang von der staatlich verordneten, an der Erbqualität des Genpools orientierten Rassenhygiene ( . . . ) zu einer am Krankheitsbegriff orientierten und auf individuelle Entscheidung sich gründenden Humangenetik"194. Die Konsequenzen für die Argumentationslasten hat Jens Reich auf den Punkt gebracht: „Negative Eugenik und Rassenhygiene taten dem Einzelnen im angeblichen Interesse der Gemeinschaft Gewalt an. Die gegenwärtige Konfliktlage ist genau umgekehrt. Heutzutage muß sich gegen den Widerstand der betroffenen Individuen durchsetzen, wer »private4 Eugenik beschränken will (und nicht wie damals, wer sie durchsetzen will)/' 1 9 5 189 Döbert 1994: 313 ff. ,9 ° s. o., § 7 II. 3. Hohe und umfassende moralische Ansprüche werden tendenziell nur von kleinen Gemeinschaften, nicht aber von der Allgemeinheit als bindend erlebt, so daß moralischer Konsens auf eine „Ethik auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner" (van den Daele 1997: 87) hinausläuft (vgl. ebd.: 86 f.). Nicht umsonst wenden Befürworter der individualistischen Lesart ein, auf die menschliche Spezies zugeschnittene „Mitgifttheorien" der Menschenwürde beruhten letztlich auf Glaubenssätzen (vgl. Koppernock 1997: 20 ff.). Und nicht zufällig bemühen sich modernere Beiträge der christlichen Konfessionen darum, ihre religiös begründeten Unverfügbarkeitsforderungen mit dem individualitätszentrierten Menschenwürdeargument abzugleichen; vgl. Evangelische Kirche in Deutschland 1986; Zentralkomitee der deutschen Katholiken 2000; s. o., § 11 IL 4. c). 191 van den Daele 1989: 211; ähnl. van den Daele 1997: 89 f.; krit. Habermas 2001: 49 ff. 192 Engelhardt 1996: 41. 193 Engelhardt 1996: 42. 194 Weingart 1997: 121 f.; vgl. J. Reich 1997: 135 ff.
1 95 7. Reich 1997: 135. Herkömmliche eugenische und rassenhygienische Konzeptionen trachteten ihre primär gattungs- und gemeinschaftsbezogenen Ziele mit Mitteln der Zucht-
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b) Individualisierungsschübe und die Bedeutungszunahme von Gesundheit und Selbstverantwortung Mindestens zwei Entwicklungstendenzen begünstigen die bereitwillige Rezeption neuer Medizintechniken, wie z. B. der Genanalyse: Im Gefolge von Säkularisierungsprozessen fallen jenseitsgerichtete Heilserwartungen weg. „Was bleibt, ist der einzelne im Hier und Jetzt, sein individuelles Befinden", mit der Folge daß Gesundheit „zur irdischen Heilserwartung gewendet"196 wird. In der Einleitung hatte ich angesprochen, daß der Körper eine immense Aufwertung als Bedeutungsträger gewonnen hat. Die Gestaltung des eigenen Körpers ermöglicht „zumindest die Illusion von Macht und Selbstbestimmung"197, ein Bedürfnis, das umso mehr zunimmt, als die politischen und wirtschaftlichen Bestimmungsfaktoren der eigenen Existenz undurchschaubar und individuell unverfügbar erscheinen und traditionelle Bindungen wie transzendentale Orientierungsmuster an Bedeutung verlieren. Fortwährende Individualisierungsschübe lassen traditionelle Formen existenzsichernder Solidarverhältnisse entfallen. Auch dies führt zu einer auf Eigenverantwortlichkeit abstellenden Gesundheitsmoral aller, die in der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt bestehen müssen198. All dies bewirkt eine extreme Aufwertung individueller wie kollektiver Sorge um Körper und Gesundheitszustand. Technologien, die Gesundheit und Krankheitsprävention verheißen, profitieren von dieser Expansion von Verantwortlichkeit und perpetuieren sie. In aller Regel nimmt der Prozeß der Durchsetzung neuer Techniken seinen Ausgang von einer „Situation der zumindest partiellen Akzeptanz", die als „Brückenkopf für weitere Expansion" genutzt wird 199 . Ihr Bezug zum hohen Stellenwert der Gesundheit im öffentlichen Bewußtsein begünstigt im Fall der Gentechnologie gegen alle ethisch begründeten Widerstände, daß ihre Anwendungsformen expandieren200 und neue Erwartungshorizonte öffnen. Ergänzend tritt hinzu, daß moderne biomedizinische Risikofaktorenkonzepte entsprechend mittelschichtspezifischen Weitemustern und Verhaltensdispositionen an Selbstbestimmung und individueller Eigenverantwortung anknüpfen. Sie nehmen den gesellschaftlichen Basiswert individueller selbstverantwortwahl zu realisieren (Weingart 1997: 112 ff.; J. Reich 1997: 128 ff.). Die Entwicklung der rekombinanten DNA-Technik hat die gezielte Verbesserung des menschlichen Genoms am einzelnen Individuum in den Bereich des Möglichen gerückt und Humangenetik medikalisiert (Weingart 1997: 121 f.; J. Reich 1997: 135 ff.), die sich daher „auf die Wünsche des Individuums und seine autonome Entscheidungsfreiheit berufen" (/. Reich 1997: 136) kann und ,»nicht mehr mit rassebiologischen und sozialdarwinistischen Ideologien einhergehen" (ebd.) muß. «96 Beck-Gernsheim 1994b: 319. 197 Drolshagen 1993: 174. 198 Vgl. Beck-Gernsheim 1994b: 317 f.; van den Daele 1990: 207 f. 199 Weingart 1989: 190; vgl. ebd.: 188 ff.; Beck-Gernsheim 1994b: 322. Einer empirischen Studie zufolge nimmt die „Thematik »gentechnische Aspekte von Krankheit/Gesundheit* in allen untersuchten Print-Medien eine herausragende Rolle ein" (S. Jäger/M. Jäger 1997: 311). 200 Vgl. Beck-Gernsheim 1994b: 322 ff.; van den Daele 1997: 89 ff.
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licher Gestaltungsmacht in Dienst. Indem Autonomie unter Ausblendung ihrer Voraussetzungen postuliert wird, gewinnt das Dogma der Selbstverantwortung eine durchaus repressive Verantwortungszuschreibung. Der einzelne ist im Rahmen selbstverantwortlicher Lebensgestaltung für die Prävention von Gesundheitsrisiken verantwortlich - in einer solch unentrinnbaren Weise, daß man von freiwilligem Zwang zur Prävention sprechen kann 201 . Ähnlich, wie man nicht „gegen Gesundheit argumentieren (kann), schon gar nicht in einer Gesellschaft, die keinen Gott, keine allgemeinverbindliche Moral, keine fest vorgegebenen Traditionen mehr kennt" 202 , ist dies gegenüber Verantwortung oder Prävention kaum möglich, zumal in unserer säkularisierten Gesellschaft Leiden kein transzendenter Sinn mehr zukommt. Technische Möglichkeiten der Prävention, wie etwa die Genanalyse, haben es daher leicht, „den Status des Legitimen und Rationalen zu gewinnen, der Widerspruch kaum noch zuläßt" 203 .
c) Der Eingriff humangenetischer Techniken in höchstpersönliche Bereiche Einen weiteren Aspekt, der der Forderung nach Selbstbestimmung Evidenz verleiht, hat Hans Jonas benannt: Nach liberalem und individualistischem Verständnis hat sich der Staat in die Sexualsphäre nicht einzumischen204. Neue Fortpflanzungstechniken, in deren Rahmen Humangenetik und die Genanalyse ihre Hauptanwendungsbereiche finden, „ziehen den Staat nolens volens und präzedenzlos in dies intimste und privateste aller Verhältnisse als Mitspieler hinein" 205 , weil sie ärztliche, unter staatlich-monopolistischer Approbation stehende Mithilfe erfordern. Auch handelt es sich „nie um das jeweilige Behandlungssubjekt allein, sondern um andere - Ehegatten, Samen- und Eispender, Leihmütter, Fetusse, vor allem das zu erzeugende Kind -", die „mit ihren Rechten, Pflichten und Immunitäten unzertrennlich zum Vorgang" 206 gehören, so daß die beteiligten Belange staatlicherseits 201 Vgl. van den Daele 1989a; Beck-Gernsheim 1994b: 324 ff.; s. o., § 2 I. 3. d), § 9 HL Für moderne epidemiologische Konzepte ist charakteristisch, daß sie individualmedizinisch soziale Bestimmungsfaktoren von Krankheit ausblenden (vgl. Blanke/Kania 1996: 519 f.; Aueslander 1997; Franzkowiak 1986). 202 Beck-Gernsheim 1994b: 322. 203 Beck-Gernsheim 1994b: 324 im Anschluß an van den Daele 1989a. Daß dies auch für den juristischen Diskurs gilt, zeigen etwa neuere Überlegungen, ob und in welchem Umfang es ein „Recht auf Heilung" gibt (s. o., § I I . 1., bei Fn. 10 u. 11) und die exemplarischen Ausführungen Taupitzwonach durch Forschung neu in den Blick geratende Lebens- und Heilungsinteressen bei Interpretation des Menschenwürdegrundsatzes umso mehr zu berücksichtigen sein sollen,, je konkreter die Aussicht bei redlicher Betrachtung der wissenschaftlichen Möglichkeiten ist" (2001: 3438). 204 Vgl. Jonas 1994: 154 sowie BVerfGE 47, 4 6 / f - Sexualerziehung; 49, 286/298 Transsexuelle; 80, 367/373. 205 Jonas 1994: 155. 206 Jonas 1994: 155.
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abgeglichen werden müssen. „Drittens aber trifft das, was bei dieser Kunstintervention in das einst Intimste der Zeugungssphäre vorgeht - schon die dabei stattfindende Depersonalisierung derselben - , ins Herz unseres sittlichen Gefühls; und obwohl wir den Staat nicht zum Sittenrichter, nicht einmal zum Sittenwächter machen wollen, so wollen wir ihn doch andererseits nicht zum Komplizen und Schutzherren des Unsittlichen werden lassen."207 Die Angst, in einer Sphäre, die angestammtermaßen ausschließlich persönlicher Entscheidung unterliegt, Kontrollverluste zu erleiden, legt es nahe, staatlicher Einflußnahme zumindest aufzuerlegen, das Primat individueller Selbstbestimmung zu achten. Bei genauerem Hinsehen ist die Möglichkeit, Kontrollverluste zu erleiden, der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten in dieser Sphäre geschuldet. Doch werden Kontrollbedüfnisse dadurch wohl kaum vermindert.
6. Zwischenergebnis: Präferenz für Selbstbestimmungskonzepte als strukturbildender Effekt des Menschenwürdegrundsatzes Was also bleibt vom Menschenwürdetopos, wenn man ihn aus einer mehr soziologischen, diskursanalytischen Sicht betrachtet? Er ist, das dürfte angesichts der vielfältigen Kritik ein etwas überraschendes Ergebnis sein, nicht beliebig. Beliebig erscheint er lediglich, wenn man an ihn mit dem argumentationstheoretisch geschulten Bedürfnis nach trennscharfen Begrifflichkeiten gegenübertritt, das eigenwertgesättigte Regelstrukturen als Ideal verfolgt. Das bietet der Topos selbst nicht. Im Prinzip der Menschenwürde läßt sich aus argumentationstheoretischer Sicht vieles und Unterschiedliches unterbringen, erlauben oder verbieten. Dennoch vermag der Topos in seinem Bezug auf kulturell tradierte narrative Evidenzen den Diskurs über die neuen humangenetischen Möglichkeiten zu strukturieren, mit einer gewissen Diffusionswirkung teilweise auch über Systemgrenzen hinweg. Es handelt sich um einen ersten und starken Struktureffekt, der das Denkmögliche erheblich limitiert, also erlaubt, Komplexität, aber auch Kontingenz zu reduzieren, und der einen starken Schub in Richtung auf Selbstbestimmungskonzeptionen vorgibt 208 . Wo gesicherte Eigenwerte der gesellschaftlichen Subsysteme, insbesondere 207 Jonas 1994: 155. 208 will man Struktureffekte beurteüen, reicht es nicht, danach zu sehen, ob sie bestimmte Handlungen vorgeben. Viel wichtiger ist es, zu erkennen, welche Möglichkeiten sie ausschließen oder wenigstens erschweren. Siehe auch oben, § 6IV. 1. Fechner hat frühzeitig die Auffassung vertreten, die Berufung auf den Menschenwürdegrundsatz im Kontext Gentechnik scheitere in mindestens zweierlei Hinsicht: Auf die kantische Ethik könne man sich nicht berufen, weil Kant die Würde keineswegs allen Menschen zuerkenne [1986; 1991: 38; weitere Einwände zur Kant-Rezeption bei H. Dreier 2002: 42 f.; 2004: 149 f. (Art. 1 I, Rn. 13)] und eine subsumtive Ableitung scheitere an der Vielzahl der nur durch subjektive Wertung ausfüllbaren unbestimmten Rechtsbegriffe (1991: 45 ff.). Sein Schluß lautet, daß vor der richterlichen Entscheidung „alles offen" sei (1991: 52). Das aber stimmt gerade nicht. Diskurse, das habe ich zu zeigen versucht, folgen allenfalls partiell Anforderungen argumentationstheoretischer Konsistenz und haben dennoch limitierende Wirkung.
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solche rechtlicher Art, als Orientierungsmöglichkeit wegfallen, gibt es einen in unserer Kultur tief verankerten und daher evidenzerzeugenden Fundus an narrativen Strukturen, die eine erste Leitung kollektiver Orientierung ermöglichen und, was im folgenden Abschnitt genauer gezeigt werden soll, positive Anknüpfungspunkte für systemspezifische Eigenwertbildungen schaffen. Zumindest im deutschsprachigen Raum sind mit dem Menschenwürdegrundsatz zwei Überzeugungen als kulturell tradierte Basiswerte leibzentrisch, weil affektiv verankert: Zum einen bestimmt die meisten von uns die Gewißheit, daß Entscheidungen über die neuen Möglichkeiten eng daran orientiert sein müssen, was die jeweils betroffenen Individuen selbst, nach ihren eigenen Selbstentwürfen wollen. Die Präferenz für Selbstbestimmungskonzepte, die sich v. a. mit der individualistischen Lesart des Menschenwürdegrundsatzes verknüpfen, hat daher hohe Evidenz. Ganz ungebrochen ist das Bekenntnis zur Menschenwürde im streng individualistischen Sinne indes nicht. Vorerst besteht zumindest in Deutschland der mit einer kollektivistischen Lesart des Menschenwürdearguments verknüpfte, weitgehende Konsens, daß nicht alles erlaubt ist, daß es eine Grenze unangreifbarer Natürlichkeit gibt, die wir bei Strafe nicht überschreiten dürfen 209. Dieser mündet in die Überzeugung, daß es verboten ist, Menschen zu züchten210, insbesondere sie zu klonen211 oder mit tierischem Erbgut zu kreuzen 212. Das bedeutet zum einen, daß sich in Deutschland utilitaristische Argumentationen, wie sie aus dem angelsächsischen Sprachraum geläufig sind, im Bereich der Humangenetik schwerlich gegen das Konzept individueller Selbstbestimmung werden durchsetzen können. Auch wird die gezielte Chimären- oder Menschenzüchtung selbst auf niedrigstem Niveau aus diesem Grund in Deutschland auf absehbare Zeit hin verboten bleiben (vgl. § 7 EmbrSchG) 213. Die Diskussion um 209 Nachweise s. o., Fn. 63. Nicht seltenfinden sich Appelle, wie „Der Mensch darf nicht alles, was er kann!" (Wurzel/Merz 1991: 12); ähnl. Benda 1985a: 42. 210 Vgl. nur M. Schröder 1992: 137 m.w.N.; Neumann 1998: 161; Wurzel/Merz 1991: 55; Köbl 1985: 187; Deutscher Bundestag 1987: 189 f. Natürlich knüpft sich daran die Frage, ab welchem Punkt Menschenzüchtung beginnt. Das ändert nichts am den Diskurs und damit zugleich nichtdiskursive Praktiken vorstrukturierenden Gehalt dieses Argumentationslasten begründenden Verbotes. 21
1 So die ganz überwiegende Auffassung; vgl. Brohm 1998: 204 f. m. w. N.; Benda-Kommission 1985: 33 ff.; Köbl 1985: 187; Gröner 1991: 307 ff.; Neumann 1998: 161; grundlegend Kersten 2004; a. A. Joerden 1999: 83 ff.; teilweise wird zwischen reproduktivem und therapeutischem Klonen differenziert vgl. Taupitz 2001: 3425; Schulz 2002: 405; Höfling 2003: 108 ff.; Herdegen in: Maunz/Dürig 2000/2003: 50 f., 54 f. (Art. 1 I, Rn. 98 f., 107); H. Dreier 2004: 197 ff. (Art. 11, Rn. 108 ff). 212 Vgl. nur Laufs 1987a: 195; Benda-Kommission 1985: 33 ff.; Gröner 1991: 312 ff.; A. Kaufmann 1985: 11; Herdegen in: Maunz/Dürig 2000/2003: 51 (Art. 11, Rn. 100). 213 Was sich langfristig durchsetzen wird, weiß niemand. Diskurs ist Wandel und deshalb mag man zwar den Ewigkeitscharakter von Werten zur Stärkung der eigenen Position be-
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die Nutzung von Stammzellen zu Forschungszwecken und der mühsam errungene Kompromiß im Deutschen Bundestag214 belegen dies. Zum anderen führt, wie bereits angesprochen215 und im folgenden genauer ausgeführt, eine Zuspitzung des Menschenwürdearguments auf eine primär auf das Individualinteressen abstellende Selbstbestimmungskonzeption zu ganz erheblichen Rechtfertigungs- und Abstimmungszwängen.
I I I . Ein Recht auf umfassende genetische Selbstbestimmung? Mit unterschiedlicher Terminologie und teilweise unterschiedlichen inhaltlichen Zuschreibungen wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur ein Recht auf genetische bzw. geninformationelle Selbstbestimmung216 postuliert. In seiner grundlegenden Arbeit zu den ethischen und rechtlichen Geltungsgründen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat Martin Koppernock aus diesem für den Bereich moderner Medizin und Biotechnologie ein umfassendes „Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung" abgeleitet, dessen zentralen Vorteil er darin sieht, daß damit „die bisherigen Versuche obsolet (werden), das, worum es geht, mit den hilflosen Begriffen »Nichtwissen1, gen-informationelle 4 Selbstbestimmung etc. zu fassen" 217 . Indes reicht der Blick auf mögliche argumentative Ableitungen nicht aus, wenn man nach der Normstruktur der konkreten, in diesem „Grundrecht" angelegten Rechtspositionen und danachfragt, wie sich diese auf Stabilität und Dynamik des Rechts auswirken 218. haupten, empirisch aber liegt man damit wohl nur in Grenzenrichtig.Ob sich van den Daeles Annahme, „daß sich moralische Tabus in dem Maße auflösen, wie technische Möglichkeiten entstehen, in diese Natur gezielt einzugreifen" (1989b: 211; s. o.), auch an diesem Punkt als zutreffend erweisen wird, bleibt abzuwarten. Immerhin wurden bereits Kerne einer menschlichen fötalen Zellinie mit entkernten Schweinezellen verschmolzen; vgl. FR v. 7. 10. 2000, S. 34; Deutsches Ärzteblatt B-2000, S. 2282. 214 BT-Dr 14/8102; vgl. hierzu Taupitz 2002a 215 s .o.,§ 10IV. 2., § l i n . 4 . e ) . 216 Rose 1989: 121 f.; Sternberg-Lieben 1987: 1246; Vitzthum 1988: 130, Fn. 59; A. Schmidt 1991: 119 ff.; Cramer 1991: 181 ff.; Präve 1992; Taupitz 1992: 1092, 1099; Steinmüller 1993: 9; Wiese 1991: 487 und 1994: 98; Plettke 1995: 188 f.; Koppernock 1997: 92 ff.; Kienle 1998: 68; /. Meyer 2001: 177 ff.; Fisahn 2001; Tjaden 2001: 112 ff.; Vultejus 2002; vgl. auch Damm 1999a: 438 f., 442, 445; 2004: 7; von Fürstenwerth 2003: 49; Regenbogen 2003: 94 f. Darüber hinausgehend fordert Haläsz (2004: 82 ff., 311 ff. und passim) ein Persönlichkeitsrecht auf bio-materielle Selbstbestimmung an vom Körper entnommenen Substanzen incl. DNA. 217 Koppernock 1997: 219. Koppernock hat eine im positiven Sinne dogmatische Arbeit vorgelegt; dogmatisch (zu Begriff und Funktion von Dogmatik s. o., § 10 I. 2.) insofern, als er aus einer Vielzahl persönlichkeitsrechtlicher Positionen das Gemeinsame herausdestilliert - eine optimale Methode, neue Rechtspositionen durch Nachweis minimaler kommunikativer Distanz an den bestehenden juristischen Diskurs anzubinden. 218 Im übrigen bietet eine einzelne Arbeit, mag sie auch überzeugend Tendenzen der Rechtsentwicklung bündeln, keine Bestimmung, an welchen Punkten sich der rechtswissen-
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Daher möchte ich im folgenden davon absehen, von einem „Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung" zu sprechen und bevorzuge für all jene Postulate, die für den Kontext Genanalyse an das persönlichkeitsrechtliche Selbstbestimmungsrecht anknüpfende Rechtspositionen formulieren, den Oberbegriff „Recht auf genetische Selbstbestimmung". Das Fragezeichen in der Überschrift verweist darauf, daß die Rechtsentwicklung, selbst wenn man allein auf rechtsinterne Normbildungsprozesse jenseits der Legislative abstellt, an diesem Punkt noch längst nicht abgeschlossen ist. Ob die verschiedenen Aspekte, unter denen in diesem komplexen und variantenreichen Handlungsfeld originär persönlichkeitsrechtliche Argumentationen entfaltet und entsprechende Rechtspositionen benannt werden, tatsächlich in einem solch umfassenden und abstrakten Metaprinzip münden, erscheint zur Zeit noch offen. Entscheidend ist, daß ein Normbildungsprozeß in diese Richtung angelaufen ist, der unter Rückgriff auf öffentliche und halböffentliche Risikodiskurse die thematisierten Problemlagen mit bestehenden persönlichkeitsrechtlichen Rechtspositionen abgleicht. Die Beiträge dieses Diskurses zielen darauf, für sinnvoll erachtete Regelungsmöglichkeiten als Recht möglichst weitgehend in den Bahnen etablierter Dogmatik, also mit möglichst geringer kommunikativer Distanz zu begründen.
1. Anwendungsbereiche und Problemfelder der Genomanalyse In breiten öffentlichen und fachwissenschaftlichen Risikodiskursen wird seit etwa 20 Jahren thematisiert, welche Chancen und Risiken die neuartigen Möglichkeiten der Genanalyse bieten. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht neben spektakulären Fällen, in denen genanalytische Verfahren zu Identifikationszwecken eingesetzt wurden, vor allem die Genanalyse in der Reproduktionsmedizin und bei prädikativen Gentests. Letztere gehen über die Diagnose manifester Krankheiten hinaus. Indem sie die genetische Disposition Einzelner erfassen, ermöglichen sie Aussagen über mögliche spätere Erkrankungen. Schon zuvor waren mit vorgeburtlicher humangenetischer Beratung und Analyse befaßte Ärzte mit jenem in Risikokategorien zu fassenden Problempotential konfrontiert, das mit zunehmender Bedeutung genanalytischer Verfahren auch in anderen Anwendungsbereichen zunehmend thematisiert wird: Eigene genetische Daten sind teilweise auch jene der Blutsverwandten. Schon die Diagnose, ob die Disposition für eine Erkrankung oder deren Vererbung besteht, setzt teilweise voraus, daß auch die genetische Disposition Verwandter festgestellt wird 219 . Vor allem aber ist vom Ergebnis nicht nur betroffen, wer die Genanalyse vornehmen läßt. Prominentestes Beispiel ist die schaftliche Diskurs zu Rechtspositionen verdichtet, die für Gerichte im Falle konkreter Befassung unhintergehbare Begründungslasten konstituieren. 2i9 Fälle der sog. indirekten Gendiagnostik; vgl. H. Enders 1992: 125 f., 129; Schmidtke 1992: 139 f.; Scholz 1995: 44 f.; Krahnen 1989: 80.
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Nervenerkrankung Chorea Huntington220, für die seit Entdeckung des krankheitsverursachenden Gens 1993 ein genanalytisches und damit präsymptomatisches Diagnoseverfahren existiert. Die positive Diagnose läßt den relativ sicheren Schluß zu, daß ein Elternteil Genträger ist und nach längerem Siechtum im Alter zwischen 45 und 60 an der Krankheit sterben muß. Geschwister müssen von einem etwa 50% igen Risiko, selbst zu erkranken, ausgehen. Die genanalytischen Möglichkeiten machen zum Entscheider, wer um die eigene genetische Disposition oder jene der Blutsverwandten wissen will. Sie erzeugen eine Vielzahl von Betroffenen, vornehmlich die Verwandten. Aber auch Partner oder Partnerin sind von der jeweiligen Entscheidung für oder gegen eine Analyse in ihrer Lebensplanung betroffen. Denn ob mit einem Pflegefall zu rechnen ist oder eigene Kinder mit 25 % Wahrscheinlichkeit erkranken werden, wird kaum jemanden ungerührt lassen. Erkrankungen an Chorea Huntington sind ausschließlich genetisch bedingt. Ein positiver Gentest eröffnet daher keine Möglichkeit zu präventivem Vermeidungsverhalten, sondern nötigt nur zu einer am Ergebnis orientierten Lebensplanung. Dies trifft längst nicht auf alle genetisch determinierten Krankheiten zu. Die Mehrzahl der heute möglichen Gentests legt nur Erkrankungswahrscheinlichkeiten offen, weil neben der genetischen Disposition auch Umweltbedingungen und Verhalten mitursächlich für die Entstehung der manifesten Erkrankung sind. In jedem Fall aber steigert die Möglichkeit, um genetische Krankheitsdispositionen wissen zu können, den Druck, daran orientiert durch entsprechende Lebensplanung und Lebensweise verantwortlich zu handeln. Leicht werden so aus Gesunden Risikoträger. Erhebliche Bedeutung in der öffentlichen Diskussion haben seit 2001 zwei Anwendungsbereiche der Genanalyse in der Reproduktionsmedizin gewonnen: die Pränataldiagnostik und insbesondere die Präimplantationsdiagnostik221. Eines der Grundprobleme der Genanalyse erfährt hier eine sensationsheischende und somit medienwirksame Zuspitzung: Es geht um Leben und Tod, Selektion, die Schutzwürdigkeit des Embryos und damit in rechtlicher Hinsicht um den Beginn von Rechtssubjektivität222. In aller Regel bedeutet die positive Diagnose einer schweren genetischen Schädigung, daß die Abtreibung oder sonstige Vernichtung des Embryos zur Disposition steht. Die Diskussion um Leben und Tod verbirgt, daß hier nur in schärfster Konsequenz ein Basisproblem der Genanalyse deutlich wird: Die Möglichkeiten der kurativen Medizin halten nicht mit der diagnostischen Potenz genanalytischer Verfahren Schritt. Diese schaffen so Entscheidungssituationen, die zwar individuell aufgelöst werden können, dabei jedoch auf den zweiten Schritt ärztlicher Hilfe, die Heilung, verzichten müssen. 220
Vgl. statt vieler Krahnen 1989: 84 f. sowie zu den medizinischen Aspekten Epplen/ Przuntek 1998. 221 Exemplarisch die Diskussion unter Medizinern im Deutschen Ärzteblatt Heft 17/2000 (Jg. 97), S. B-959-B-969. Zum juristischen Diskurs vgl. R. Beckmann 2001; Herdegen 2001: 776 ff.; Renzikowski 2001; Faßbender 2001; Schneider 2000; Hepp 2001: 189 ff.; Laufs 2001; Hufen 2001; zur Pränataldiagnostik vgl. Hillmer 2004: 42 ff. und passim. 222 Vgl. Damm 1991: 282 ff.; 1993a: 168 ff.; 1998a: 926 f.; 1998b: 118 ff.
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Dieser Aspekt und daß genetische Daten über den engen Zweck hinaus, zu dem sie erhoben wurden, Bedeutung für andere gewinnen können, begründen das nicht allein auf Verwandtschaftsbeziehungen beschränkte Problem der „Sozialbereichsvernetzung" (Damm) 223 . Frühzeitig wurde thematisiert, daß in „Arbeits- und Versicherungsverhältnissen ein potentielles Interesse an genetischen Daten, die im Rahmen der individuellen Arzt-Patient-Beziehung gewonnen sind" 224 , besteht. Ob und in welchem Maße Versicherungen und Arbeitgeber genetische Daten erheben und verwerten dürfen, ist Gegenstand einer mittlerweile unüberschaubaren Vielzahl nichtjuristischer und juristischer Publikationen225. Die Evidenz eines engen persönlichkeitsrechtlichen Bezugs ergibt sich in all diesen Problembereichen nicht allein daraus, daß genetische Daten persönliche Daten sind. Entscheidend ist auch, daß die Konsequenzen von Wissen und NichtWissen um die eigene genetische Ausstattung weitreichende Auswirkungen auf individuelle Lebensplanung und persönliches Selbstverständnis haben und daß das Wissen Dritter darum Diskriminierungs- und Stigmatisierungsgefahren schafft. Dies wiederum wirkt auf die betroffenen Individuen zurück. Sind Minoritätenstatus, Stigmatisierungseffekte, Beschränkungen bei Partnerwahl, Familienplanung, Arbeitsplatz, etc. zu befürchten, so legt dies ein subjektiven Lebensentwurf, Verhalten und Selbstverständnis regulierendes Informationsmanagement nahe 226 . Die Angst vor Autonomieverlusten und das aus ihr resultierende Bedürfnis nach Wahrung bzw. Wiederlangung von Kontrolle verleiht jenen Erzählstrukturen eine affektiv gesicherte Evidenz, die ein individualistisches Verständnis von Menschenwürde und damit individuelle Selbstbestimmung propagieren. Wo ähnliche Problemkonstellationen in Kategorien persönlichkeitsrechtlicher Selbstbestimmung gefaßt 223 Vgl. Damm 1998a: 931; 1998b: 128, 130; 1999a: 440,444; Tinnefeld/Böhm 1992: 62; Spann/Liebhardt/Penning 1988: 29 f.; Taupitz 1998: 590, Fn. 41; Regenbogen 2003: 99 ff., 256 ff. Ein weiteres Problem der Sozialbereichsvernetzung ergibt sich daraus, daß mit Hilfe der Genanalyse das Auseinanderfallen sozialer und biologischer Elternschaft entschleiert werden kann, mit sehr unterschiedlichen Konsequenzen für alle Beteiligten des Seitensprungs, der Adoption oder der reproduktionstechnischen Zeugung; s. o., § 1 VII. (2). 224 Damm 1999a: 440. 225 Zu Untersuchungen an Arbeitnehmern vgl. Benda-Kommission 1985: 39, 41 f.; Wiese 1986; Bund-Länder-Arbeitsgruppe 1990: 35 ff., 86 ff.; 1991: 478 ff.; 1994; Künzler 1990: 56 f., 116 ff.; Deutscher Bundestag 1987: 162 ff.; Wellbrock 1989: 207 f.; Menzel 1989; Deutsch 1989: 660; Arbeitskreis Genforschung 1991: 205 ff.; Simon 1993: 31 ff.; 1993a: 26 ff. m. w. N.; Tjaden 2001: 142 ff.; Goerdeler/Laubach 2002: 118; Regenbogen 2003: 174 ff.; Schladebach 2003: 225 f., 228 f.; zu Untersuchungen an Versicherungsnehmern vgl. Benda-Kommission 1985: 39, 113 ff.; Deutscher Bundestag 1987: 173ff.; Bund-LänderArbeitsgruppe 1990: 39; Künzler 1990: 57; Arbeitskreis Genforschung 1991: 216ff.; Präve 1992; Wiese 1993 und 1994: 77 ff.; Diekgräf 1991; A. Schmidt 1991: 65ff.; Schulz-Weidner 1993; Damm 1998b: 131 f.; Lorenz 1999; Fenger/Schöff ski 2000; Simon 1993: 25 ff.; 1993a: 77 ff. und 2001; Fisahn 2001: 50, 52; Tjaden 2001: 185 ff.; Goerdeler/Laubach 2002: 118 f.; Max-Planck-Institut 2002; von Fürstenwerth 2003; Regenbogen 2003: 169ff.; Schladebach 2003: 226,228 f. 226 s. o., § 91. 2. d).
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worden sind, liegt es nahe, auf jene „Erzählungen" eines verwandten Problems und seiner Lösung zurückzugreifen, die neu entstandenen Risikobeschreibungen in genau den gleichen Kategorien abzuarbeiten. Geronnenes Recht wird so mit außerrechtlichen Problembeschreibungen legiert. Neues Recht entsteht. Ich möchte diesen Vorgang am Beispiel des „Rechts auf Nichtwissen" genauer beschreiben.
2. Evidenz und Entstehung eines „Rechts auf Nichtwissen": Von der Zeitungslektüre zur herrschenden juristischen Meinung 1981 berichtet die Süddeutsche Zeitung über eine Äußerung von Hans Jonas, wonach die Ethik ein „Grundrecht auf Nichtwissen" fordern müsse, weil der Mensch nur im Nichtwissen des eigenen Schicksals, soweit dieses genetisch bedingt sei, frei sein könne 227 . Diese Überlegung präzisiert der Philosoph bald darauf in mehreren publizierten Vorträgen dahingehend, daß der Mensch nicht umstandslos mit dem Wissen um seine Erbanlagen, die u. U. die Disposition zu späterem Leiden enthielten, konfrontiert werden dürfe 228. Ausführliche Überlegungen zu einem „Recht auf Nichtwissen" stellt der Techniksoziologe Wolfgang van den Daele in seinem Ende 1985 erschienenen Klassiker zur Humangenetik „Mensch nach Maß" 2 2 9 an. Auch der damalige Präsident des Bundesgesundheitsamts Georges Fülgraff nimmt auf Jonas* Ausführungen Bezug 230 . Von juristischer Seite werden sie erstmals von Ernst Benda aufgegriffen 231 und mit dem Menschenwürdegrundsatz des Grundgesetzes in Zusammenhang gebracht232. Diese Überlegungen werden nicht aus sich selbst heraus oder unter Bezugnahme auf juristische Fachdiskurse angestellt. Vielmehr wird an außerrechtliche Diskurse angeknüpft. Am Beginn der „Genese" des ,»Rechts auf Nichtwissen" stehen nichtjuristische Publikationen. Das Beispiel Chorea Huntington erhält dabei Schrittmacherfünktion 233, weil die Konsequenzen einer Genanalyse bei dieser Krankheit 22? Süddeutsche Zeitung v. 15. 5.1981, Nr. 111, S. 12. 228 Jonas 1982 und 1984. 229 Van den Daele 1985: 79 ff.; 1987/1985: 189 ff. 230 Fülgraff 1985: 34. 231 Benda 1985a: 47; 1985b: 34; 1985c: 1734. 232 Benda 1985b: 33 ff. 233 Auf die Krankheit bei Erörterung des „Rechts auf Nichtwissen" nehmen Bezug Deutsch 1986: 2; Krahnen 1989; Spann/Liebhardt/Penning 1988: 29 f.; Künzler 1990: 59; H. Enders 1992: 125 f. , 129; Schmidtke 1992: 139 f.; Scholz 1995: 44 f.; Buchborn 1996: 443; Arbeitskreis Genforschung 1991: 186 f., C. Hofmann 1999: 47; Rudolf 2003: 120; Regenbogen 2003: 97, 258 f. In nichtrechtlichen Publikationen wird im Problemkontext Gentests /Chorea Huntington ein „Recht auf Nichtwissen" frühzeitig geltend gemacht oder thematisiert bei van den Daele 1985: 79 ff.; 1987/1985: 189 ff. und Fülgraff 1985: 34; später bei Krahnen 1989; Reiter 1991: 96 („Recht auf Geheimnis") und Enders 1992: 126; Buchborn 1996: 442, 444; krit. Schmidtke 1992: 142 ff., bes. 148; Kuhlmann 1999: 96; Bartram 2003: 34 f. So prägnant dieses Beispiel ist, so sehr muß man sich vor Augen führen, daß
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Teil 4: Persönlichkeitsrechtsentwicklung
besonders drastisch ausfallen. Innerhalb der Betroffenenverbände kommt es zu Lagerbildungen, wobei sich Kritiker und Befürworter des Gentestverfahrens um Öffentlichkeitswirksamkeit bemühen 234 . In der Rechtswissenschaft wird in der Folge sowohl an Hans Jonas selbst als auch an Ernst Bendas Jonas-Rezeption angeknüpft 235 . Mittlerweile ist in der juristischen Literatur fast unbestritten, daß Betroffene hinsichtlich der Ergebnisse von Genanalysen ein „Recht auf Nichtwissen" haben 2 3 6 . Soweit ersichtlich, geht nicht nur die medizinethische 237 , sonnur etwa 1/5 aller angeborenen Behinderungen auf ein einzelnes imitiertes Gen zurückgeführt werden können {H. Enders 1992: 120). Genanalysen ergeben oft nur Risikodispositionen, aus denen nicht zwangsläufig auf einen späteren Krankheitsausbruch geschlossen werden kann. 234 Vgl. Krahnen 1989: 88 ff., 101 f.; zur internationalen Debatte vgl. ebd.: 79 ff., 84 ff., 101 f. 235 Jonas-Rezeption: Deutscher Bundestag 1987: 151; Kiinzler 1990: 59; A. Schmidt 1991: 121; Cramer 1991: 186, 252, 255; Wiese 1991: 477, Fn. 13; Tinnefeld/Böhm 1992: 62 f., 65, Fn. 10; Tinnefeid 1993a: 262 f., Fn. 18; Dix 1993: 281, 284, Fn. 3; Stümper 1995: 511; Buchhorn 1996: 444; Baston-Vogt 1997: 336, Fn. 622; Kienle 1998: 68; Damm 1999a: 446; Goerdeler/Laubach 2002: 116; Regenbogen 2003: 96; Benda-Rezeption: Riedel 1986: 475; Wiese 1986: 120, Fn. 1; Haberle 1987: 857; Cramer 1991: 252 f., 256; Vitzthum 1988: 130; A. Schmidt 1991: 121; Taupitz 1992: 1089, Fn. 4 und 1998: 583, Fn. 2; Simon 1993a: 82; Stümper 1995: 511, 515, Fn. 17, m. w. N. sowie jeweils unter Hinweis auf Jonas: Donner/ Simon 1990: 913, Fn. 74; Simon 1993a: 36, 82 f.; 2001: 115, Fn. 361; Goerdeler/Laubach 2002: 116; Stümper 1996: 122; /. Meyer 2001: 185. Zitiert wird auch der andere frühzeitige Befürworter des Rechts, Wolfgang van den Daele (.Deutsch 1986: 2; Riedel 1986: 475; Menzel 1989: 2042; Wiese 1986: 120, Fn. 1; 1991: 477; Vitzthum 1988: 130; Cramer 1991: 252, 256; Kienle 1998: 68; Damm 1999a; /. Meyer 2001: 185), der, wie seiner Studie ,»Mensch nach Maß" zu entnehmen ist (1985: 286), seiner Ausbildung nach promovierter Jurist ist. 236 Benda 1985b: 34; Menzel 1989: 2042; Wellbrock 1989: 208 ff. und 2003: 81; A. Schmidt 1991: 120 ff, 177 f.; Donner/Simon 1990: 907, 912 f.; Simon 1991: 10, 1993: 32 (dort nur angesprochen) und 1993a: 36, 82 ff., 2001: 111 ff.; Spann /Liebhardt /Penning 1988: 32; Künzler 1990: 56 f., 115; Beschluß der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder am 26.121. Oktober 1989 vgl. Einwag 1991: 104; Arbeitskreis Genforschung 1991: 210; Cramer 1991: 182 ff., 186, 252 ff., 266 ff.; Wiese 1991: 476 ff. m. w. N., 1993: 276 f. und 1994: 95 ff.; Vitzthum 1992: 69; M. Schröder 1992: 152 m. w. N.; Taupitz 1992: 1098 und 1998; Tinnefeld/Böhm 1992: 62 f.; Dix 1993: 281; Steinmüller 1993: 9; Tinnefeid 1993: 1118; Schnittler 1993: 290; Tünnesen-Harmes 1994: 145; Damm 1991: 285, 288; 1998a: 932; 1998b: 130 ff. und 1999a: 438 f., 446 ff.; 2002b: 380 f.; Stümper 1995; Buchborn 1996: 442, 444; Koppernock 1997: 16, 88 ff; Lorenz 1999: 1312; C. Hofmann 1999: 47 f., 79; Laufs 1999: 1764; M. Spranger 2000: 816 f.; Ehmann 1997: 201; ErmanEhmann 2000: 131 (Anh. zu § 12, Rn. 654) und 2004: 80 (Anh. zu § 12, Rn. 279); Tinnefeld 2000: 12; Kern 2001: 12; Hufen 2001: 443; Tjaden 2001: 117 f.; Sokol 2002: 1769; MaxPlanck-Institut 2002: 130; Deutsche Gesellschaft fir Medizinrecht e.V. 2002: 670; Goerdeler /Laubach 2002: 116; Regenbogen/Henn 2003: 155; Regenbogen 2003: 96 f., 262; Rudolf 2003: 119 f.; von Fürstenwerth 2003: 50; Robbers 2003: 147; ähnl. (ohne explizite Bezeichnung als „Recht auf Nichtwissen") Riedel 1986: 475; Deutscher Bundestag 1987: 167 f. und 2002: 132 f., 147; Vitzthum 1988: 130; Bund-Länder-Arbeitsgruppe 1990: 17 und Baston-Vogt 1997: 336; Diekgräf 1991: 1857; Ruderisch 1992: 262; Hillmer 2004: 191 ff., 240; befürwortend, aber offen gelassen bei Tinnefeld 1993a: 262; krit. Herdegen 2000: 635 f.; differenzierend Simitis 1994: 121 ff.; skeptisch in Bezug auf die pränatale Dia-
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dem auch die medizinisch-klinische Literatur 238 mit gleicher Selbstverständlichkeit von der Existenz dieses Rechts aus. Was den Mechanismus der Rezeption angeht, treffen wir auf eine bemerkenswerte Parallele zur Genese der Persönlichkeitsrechte als juristischer Kategorie: Mit Savignys ablehnender Stellungnahme zu den Persönlichkeitsrechten begann deren Rezeption durch den praktischen rechtswissenschaftlichen Diskurs 239. Auch hier wird an außerrechtliche Überlegungen angeknüpft, auch hier erfolgt die erste Thematisierung im juristischen Diskurs durch eine Autorität, in diesem Fall durch den ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda, der als Vorsitzender der ersten mit den Problemen der Genomanalyse befaßten staatlichen Expertenkommission deren Namenspatron gewesen ist. Man mag dies für ein zufälliges zeitliches Zusammentreffen halten. Daß andere, nichtjuristische Autoren ein „Recht" auf Nichtwissen proklamierten, hätte möglicherweise auch andere Juristinnen und Juristen zur Rezeption veranlaßt. Doch eine dogmatische, d. h. um detaillierten Abgleich mit juristischen Eigenwerten bemühte Kommunikation kommt im vorliegenden Fall in der Rechtswissenschaft erst in Gang, nachdem eine im juristischen Diskurs bevorzugt sprechende juristische Autorität ein solches Recht postuliert hat 240 . Auffällig ist, daß Bendas erste Überlegungen von 1985 kaum juristisch-dogmatischen Gehalt aufweisen, sondern sich weitgehend auf philosophische Überlegungen zu einem positiv aus dem Wesen des Menschen abgeleiteten Menschenwürdegehalt des Art. 1 I GG beschränken241. Eine weitergehende Verschränkung mit etablierten juristischen Eigenwerten erfolgt erst im Zuge der Rezeption. Zwar wird auch hier das Recht auf Nichtwissen oftmals „ohne weitere Problematisierung als gleichsam selbstverständliche Rechtsposition hervorgehoben" 242. Teilweise begnügt man sich weiterhin mehr oder minder umstandslos mit Bezuggnostik Spann/ Liebhardt/Penning 1988: 31; Herdegen in: Maunz/Dürig 2000/2003: 46 (Art. 1 I, Rn. 89). Das Europäische Parlament hat gefordert, das Recht des Einzelnen auf Kenntnis wie Unkenntnis seiner genetischen Disposition anzuerkennen; siehe AB1.EG Nr. C 69/1 v. 20. März 1989, S. 87. 237 Siehe die in Fn. 234 genannten nichtrechtlichen Publikationen. 2 3« Vgl. etwa Epplen/Przuntek 1998: A-35; Lamberti u. a. 1996: A-1403. Auch die Richtlinien der Bundesärztekammer zur Diagnostik der genetischen Disposition für Krebserkrankungen verweisen umstandslos auf ein solches Recht (Deutsches Ärzteblatt v. 29. Mai 1998, S. A-1396-1403, dort Punkt 1.2 und 1.3 auf S. A-1398). «9 Vgl. o., § 10 II. 1., bei Fn. 19 f. 240 Auf die diskurskonstituierende Verknappung der berechtigt sprechenden Subjekte wurde bereits hingewiesen (§ 4 VI., § 8 II. 2., § 91. 3, § 10 III. 6., § 10 III. 8.). Eine Autorität, sei es von Savigny oder Benda, wird im juristischen Diskurs qua Autorität gehört und rezipiert, kleinere Lichter müssen ausführlicher begründen und tendenziell stärker bemüht sein, die diskursspezifische kommunikative Distanz gering zu halten. Benda 1985a: 47 ff.; 1985b: 34 ff. 242 Damm 1999a: 446 zu den Richtlinien der Bundesärztekammer zur Diagnostik von Krebsdispositionen.
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nahmen auf den Grundsatz der Menschenwürde243. Meist konkreter in ihrem Bemühen, die möglichen Problemkonstellationen bestehenden Eigenwerten zuzuordnen, sind Versuche, das Recht auf Nichtwissen aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung abzuleiten244 oder aus dem Selbstbestimmungsprinzip des allgemeinen Persönlichkeitsrechts245. Nicht selten wird darauf abgestellt, daß das allgemeine Persönlichkeitsrecht den Schutz gegenüber neuen technischen Gefährdungen Individualschutz gewährt 246. Andere Autoren ordnen das Recht der negativen Grundrechtsdimension der Informationsfreiheit zu 2 4 7 . Teilweise wird eine Parallelisierung der Rechtsprechung zur Telefon- und Briefkastenwerbung 248 er-
.249
ortert Wo man sich auf die angesprochene psychosoziale Problematik bezieht, gerät das Selbstbestimmungsrecht des Patienten in den Blick. Insbesondere wird auf die Parallelproblematik zu AIDS-Fällen und erzwungenem HIV-Test verwiesen 250: Hier wie dort geht es um eine latente Krankheitsdisposition, bei der Wissen und Nichtwissen um die Diagnoseergebnisse jeweils dramatische Konsequenzen für Lebensgefühl und -planung des Betroffenen haben, durch die aber auch zugleich Dritte (Partner, Angehörige, Arbeitgeber, Versicherungen) potentiell betroffen sind und die Möglichkeit besteht, aus Körpermaterial Daten des Betroffenen über die von ihm bei seiner Einwilligung zur Entnahme gesetzte enge Zweckbindung hinaus zu gewinnen. Im Kontext des Arzt-Patienten-Verhältnisses wird die Abwehr unerwünschter Information nicht allein als Frage informeller Selbstbestimmung, 243 Benda 1985a, 1985b, 1985c; w. Nachw. bei Simon 2001: 111, Fn. 328; abl. ebd.: 112. 244 Menzel 1989: 2042; Einwag 1991: 104 (einen Beschluß der Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern vom 26./27. 10. 1989 referierend); A. Schmidt 1991: 119 ff.; Präve 1992: 282; Stumper 1995: 511 f., 514; Wellbrock 1989: 204 ff., 209; Wiese 1994: 95; C. Hofmann 1999: 47; Simon 2001: 137; beschränkt auf den Aspekt der Datenerhebung (Durchführung der Genanalyse) Simitis 1994: 121 f. und Meyer 2001: 174; auf die informationelle Dimension dieses Rechts weist auch Damm 1999a: 438, 443 f. hin; abl. Taupitz 1998: 594 f.; Cramer 1991: 253; Trute 1998: 824. 245 Koppernock 1997: 92; Taupitz 1998: 591 ff.; Deutscher Bundestag 1987: 167 ff.; auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht greifen auch die Bund-Länder-Arbeitsgruppe (1990: 12); Cramer (1991: 186, 253 ff.); Schnittler (1993: 290); Tjaden (2001: 113 ff., 118) und Simon (1991: 10,1993a: 84 ff., 2001: 112 ff. m. w. N., 135) zurück. 246 Stumper 1995: 512; Wiese 1991: 483 f.; Baston-Vogt 1999: 335; Cramer 1999: 182 f. (zum ein Recht auf Nichtwissen umfassenden geninformationellen Selbstbestimmungsrecht); Damm 1999a: 447. Zu diesem sog. „Technik-Argument" s. o., § 10IV. 1. 247 Tinnefeld/Böhm 1992: 63; Erman-Ehmann 2000: 131 (Anh. zu § 12, Rn. 654) und 2004: 80 (Anh. zu § 12, Rn. 279); abl. Wiese 1991: 476, Koppernock 1997: 90 f.; Taupitz 1998: 587,594 ff. 248 Nachw. bei Wiese 1991: 477, Fn. 11; Baston-Vogt 1997: 248 ff., Fn. 178 f., 183. 249 Koppernock 1997: 91; abl. Wiese 1991: 477 (vgl. aber den Erst-recht-Schluß auf S. 487); Taupitz 1998: 588 (vgl. aber die parallelisierende Argumentation auf S. 595). 250 Menzel 1989: 2042; Wellbrock 1989: 208; Cramer 1991: 187; Präve 1992: 282; Tinnefeld/Böhm 1992: 64; Tünnesen-Harmes 1994: 144; Simitis 1994: 117; Taupitz 1998: 594; Baston-Vogt 1999: 334, Fn. 612; Tjaden 2001: 117 f., Fn. 178,183; Damm 2002b: 381.
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sondern als Problem des kommunikativen Aspekts der Humangenetik und somit als Frage des informed consent thematisiert251. Diesbezüglich wird auf eine arztrechtliche Traditionslinie zurückgegriffen, die auf den ersten Blick mit dem Grundsatz des „therapeutischen Privilegs" 252 verknüpft zu sein scheint, wonach auf vollständige Aufklärung des Patienten verzichtet werden kann, wenn diese eine schwerwiegende und unbehebbare Gesundheitsschädigung nach sich ziehen würde. Dagegen wird eingewandt, die „mißverständlich als »therapeutisches Privileg* bezeichnete Pflicht des Arztes, dem Patienten nicht durch schonungslose Offenbarung eine Körper- oder Gesundheitsverletzung zuzufügen", stelle sich „nicht als Ausfluß des Rechts auf Nichtwissen, sondern als Ausfluß des Rechts auf körperliche Unversehrtheit bzw. des Rechts auf Gesundheit dar." 253 Je mehr ma die Einwilligungspflichtigkeit ärztlichen Handelns als Ausdruck persönlichkeitsrechtlicher Selbstbestimmung betrachtet254, desto näher liegt eine Ausweitung auf andere Bereiche. Sieht man hingegen in der Einwilligung lediglich den informed consent mit dem Eingriff in das Rechtsgut körperlicher Unversehrtheit, so ist eine Analogisierung nur möglich, soweit man darauf abstellt, daß sich das umstandslos zugemutete Wissen um die eigene genetische Disposition auf das körperliche Wohlbefinden nachteilig auswirken kann. Zusammenfassend ist zu konstatieren, daß sich in der Rechtswissenschaft im Einklang mit der oben beschriebenen, gesamtgesellschaftlich hegemonialen Präferenz 255 eine deutliche Tendenz abzeichnet, das „Recht auf Nichtwissen" persönlichkeitsrechtlich und stark auf den Gesichtspunkt individueller Selbstbestimmung zugespitzt abzuleiten. Offen erscheint bislang, ob insoweit stärker die informationelle Selbstbestimmung oder das Patientenautonomie verbürgende Konzept des informed consent in Bezug genommen wird. Anders als eine direkte Herleitung aus dem Grundsatz der Menschenwürde beinhaltet die persönlicheitsrechtliche Argumentation insbesondere in ihrer Zuspitzung auf den Gesichtspunkt informationeller Selbstbestimmung die Möglichkeit, gegenläufige Rechtspositionen Dritter (Familienangehörige, Versicherungen, Arbeitgeber) durch Abwägung in Abgleich zu bringen 256, die ihrerseits auf Inanspruchnahme der technischen Möglichkeiten der Genanalyse zielen. 251 Deutsch 1986: 2; Wolfslast 1996: 311; Koppernock 1997: 92 f.; Taupitz 1998: 590 f.; Damm 1999a: 438 f., 440 ff.; 2002b: 377 ff.; Regenbogen/Henn 2003: 154 ff.; Regenbogen 2003: 45 ff., 106 ff., 113 ff., 143,158 ff. 252 Vgl. BGHZ 29, 46/56 f.; 29, 176/182 ff.; Deutsch 1980; Wolfslast 1996: 305 ff.; Körner 2000: 135 ff., 146 ff.; w. Nachw. b. Taupitz 1998: 591. 253 Taupitz 1998: 590 f. [Hervorh. im Orig., D.M.]. 254 Zu dieser Tendenz vgl. Hart 1998; Koppernock 1997: 54 ff., 218; Wolffgang/Ugowski 1999: 595; Körner 2000: 134; Forkel 2001: 74 f.; Regenbogen 2003: 108 ff; BGHZ 124, 52/54 f. - Samenspende; vgl. o., § 8 I. 2. d) dd). 255 § I i n. 5. und 6. 256 Vgl. Gramer 1991: 258 ff.; 266 ff.; Taupitz 1998: 594 f., 599 ff; Meyer 2001: 175; Damm 1999a: 438 f., 445; Herdegen 2000: 635 ff; Regenbogen 2003: 265 f. 2 *
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Dies ist ein wesentlicher Vorteil, denn aufgrund der oben angesprochenen Sozialbereichsvernetzung gibt es eine Vielzahl von Konstellationen, in denen die Dualität des Arzt-Patienten-Verhältnisses durch die Interessen Dritter aufgebrochen wird. In einer Situation, in der ganz offenkundig noch längst nicht alle Anwendungsfelder der Genanalyse erschlossen und damit zwangsläufig nicht alle potentiellen Konfliktkonstellationen ersichtlich sind, könnte eine uneingeschränkte Dispositionsbefugnis der Betroffenen kaum befriedigen. Infolgedessen ist bislang auch innerhalb der Rechtswissenschaft noch nicht ganz abgeklärt, welche konkreten Rechtspositionen das Recht auf Nichtwissen umfaßt. Die Position hat zunächst vor allem Prinzipiencharakter, der hinsichtlich der konkurrierenden Rechtspositionen Dritter (noch) keine ausdifferenzierten festen Regelstrukturen korrespondieren, obwohl in der Literatur vereinzelt konkrete Verbote postuliert werden 257 und Tendenzen erkennbar sind, fallgruppenbezogen die divergierenden Interessen auf Vorrangrelationen, also Regeln hin zu konkretisieren 258. Aber schon in Prinzipienform begründet das Recht den Diskurs strukturierende Begründungslasten. ,3elange Dritter müssen ( . . . ) ein erhebliches Gewicht oder einen bedeutenden Sozialbezug aufweisen, um dieses Recht zu verdrängen." 259 Ein Beispiel: Bei Lebensversicherungen kann der Versicherer nach § 16 VVG vom Vertrag zurücktreten, wenn ihm nicht allerisikorelevanten Faktoren, von denen der Versicherungsnehmer bei Vertragsschluß Kenntnis hatte, offenbart wurden 260. Das gilt auch für Fälle, in denen sich der Versicherungsnehmer arglistig einer entsprechenden Kenntnis entzogen hat (§ 16 I I 2 W G ) . Muß nun ein Versicherungsnehmer, der sich einem Gentest auf eine Disposition für eine tödlich verlaufende Erkrankung bereits unterzogen hat, das ihm bislang unbekannte Ergebnis übermitteln? Sein Recht auf Nichtwissen, im rechtswissenschaftlichen Diskurs zu einer festen Rechtsposition mit Drittwirkung geronnen, steht dem entgegen. Wer behauptet, es sei de lege lata zulässig, die Beständigkeit des Vertragsschlusses von der Mitteilung eines solchen Ergebnisses, von dem der Betroffene durch die Reaktion des Versicherers in der Regel Kenntnis erlangen wird, abhängig zu machen, der muß begründen, welche berechtigten Interessen der Versicherungen oder der Allgemeinheit es in diesem besonderen Fall rechtfertigen, dieses Prinzip zurückzustellen261. 257
Absolute Verbote sind stets Konditionalnormen. 58 Vgl. etwa Simon 2001: 107 ff., 135 ff.; C. Hofmann 1999: 63 f., 150 ff., 156 ff., 193 ff.; Cramer 1991: 258 ff.; 266 ff. Dort werden allerdings nicht nur das Recht auf Nichtwissen, sondern unter dessen Einbeziehung umfassend informationelle Selbstbestimmungsrechte der Betroffenen mit gegenläufigen Rechten Dritter abgewogen. 259 Simon 1991: 13. 2
2
Zum Problem vgl. Präve 1992: 280 ff.; Wiese 1994: 77 ff.; Lorenz 1999; Fenger/ Schöffski 2000: 451; Simon 2001: 120 ff.; Tjaden 2001: 203 ff.; Goerdeler/Laubach 2002: 118 f.; von Fürstenwerth 2003: 46 ff.; Max-Planck-lnstitut 2002: 131 f. 261
Dies versucht etwa Simon (2001: 123-125), der argumentiert, Informationsparität und eine symmetrische Risikoverteilung müßten jedenfalls bei nicht die Grundversorgung betreffenden Verträgen gesichert bleiben.
§11 Genanalyse und Persönlichkeitsrechtsentwicklung
421
Gelingt dies und trifft dies auf Zustimmung im juristischen Diskurs oder vor Gericht, entsteht eine Vorrangrelation, also eine Regel für diesen spezifischen Fall, die sich durch rekursive Anschlußkommunikation zu einem festen Eigenwert verfestigen kann. Das Recht auf Nichtwissen wird für diese spezielle Konstellation zurückgestellt, ohne seine generelle Bedeutung als Argumentationslasten begründendes Prinzip und systeminterne, verstärkte Aufmerksamkeit für rechtsexterne Problembewertungen sichernde Irritationsquelle 262 zu verlieren. In anderen Konstellationen, z. B. im Bereich der privaten Krankenversicherung, könnte eine andere Gewichtung dazu führen, ein absolutes Verbot zu begründen, den Vertragsschluß von der Erhebung oder Mitteilung genetischer Daten abhängig zu machen263. Ungeachtet seines Prinzipiencharakters hat die breite Anerkennung des „Rechts auf Nichtwissen" zur Ausbildung von Regelstrukturen geführt, die nicht zuletzt deshalb nur schwer unhintergehbar erscheinen, weil sie stark mit tradierten Regelgeflechten des Medizin- und des Arbeitsrechts verknüpft sind. Übereinstimmung besteht, daß die Entscheidung über das Ob der Datenerhebung grundsätzlich dem Betroffenen zusteht, mit der Folge, daß Analysen des codierenden Bereichs der DNA nur aufgrund einer Einwilligung des Betroffenen (Datenträgers) 264 oder aufgrund formellen Gesetzes265 zulässig sind 266 . Teilweise wird sorgfältig zwischen der Datenerhebung und der Befundmitteilung differenziert: Soweit die Genomanalyse noch nicht durchgeführt wurde, ergebe sich das Einwilligungserfordernis schon unmittelbar aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung267. 262 s. o., § 71. 3., § 81. 2. 263 So etwa Simon 2001: 120 f. Die verfassungsrechtliche Argumentation läßt sich gut für rechtspolitische Forderungen nach entsprechenden gesetzgeberischen Maßnahmen nutzbar machen (exemplarisch ebd.: 126). 264 Benda 1985b: 34; Cramer 1991: 186 ff.; Wiese 1991: 480 ff.; Taupitz 1998: 589, 593; Koppernock 1997: 90; Simon 1993a: 49; 2001: 114 f.; Meyer 2001: 174; Kern 2001: 12; Goerdeler/Laubach 2002: 117. 265 Deutsch 1986: 2; 1991: 80 und 1991a: 1205; Eser 1987: 56; Einwag 1991: 96 f.; Simon 1993a: 143 ff.; Stümper 1995: 514; C. Hofmann 1999: 45 f., 48 f.; Simon 1993a: 36 f.; 2001: 114 f.; Satzger 2001: 642. Ein solches Gesetz müßte sich angesichts der aus der persönlichkeitsrechtlichen Fundierung resultierenden hohen Wertigkeit des Rechts auf Nichtwissen seinerseits mit erheblichen Dritt- oder Gemeinwohlinteressen rechtfertigen lassen; vgl. C. Hofmann 1999: 45 f.; Simon 2001: 114. 266 Cramer (1991: 186 f., 266 ff.) hält eine Einwilligung für entbehrlich, wenn erhebliche Dritt- oder Gemeinwohlinteressen gegenüber „der Intensität der Nachteile des Betroffenen" überwiegen. Im Kontext des Rechts, die eigene genetische Disposition nicht zu erfahren, ist dies Mindermeinung (ähnl. Tinnefeld/Böhm 1992: 63). In jedem Fall läßt sich eine Ausnahme von der Regel nur mit erheblichem Begründungsaufwand rechtfertigen. 267 Simitis 1994: 122; ähnl. Stümper 1995: 514; vgl. auch Damm 1999a: 441 ff. Daher wird die Rechtsposition auch ohne explizite Berufung auf das Recht auf Nichtwissen zuerkannt: Benda-Kommission 1985: 40 f.; Eser 1987: 56; Bund-Länder-Arbeitsgruppe 1990: 27, 30, 35; Einwag 1991: 96 f.; Präve 1992: 281; Deutsch 1989: 659, 1991: 80; 1991a: 1205; Donner/ Simon 1990: 912 f., 917; Taupitz 1992: 1090 f.; Simon 1993a: 143, 209; Plettke 1995: 188 f.; C. Hofmann 1999: 36 ff.; VGH Mannheim NJW 2001, 1082/1084 f. Auch auf das arztrechtliche Erfordernis des informed consent wird abgestellt; vgl. Deutscher Bundestag 2002: 133,
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Unabhängig davon, welchen Ableitungszusammenhang man bevorzugt, treffen wir insoweit auf eine Konditionalnorm: Wenn eine Einwilligung des Betroffenen (oder eine gesetzliche Eingriffsermächtigung, respektive Anspruchsgrundlage) vorliegt, ist die Genanalyse zulässig, wenn nicht, dann ist sie verboten 268 . Diese Regel ist ihrerseits mit einem ausdifferenzierten Regelgeflecht verknüpft. Wann die Voraussetzungen einer wirksamen (tatsächlichen oder mutmaßlichen) Einwilligung vorliegen, ist weitgehend durch weitere regelformige Eigenwerte gesichert: Einwilligungsfähigkeit, Erklärung, vorherige Aufklärung über Umfang und Tragweite des Eingriffs und seiner möglichen Folgen, Abwesenheit von Zwang oder Täuschung bei Abgabe der Erklärung 2 6 9 , Beweislasten etc. Noch nicht ganz abgeschlossen ist die Klärung, in welchem Ausmaß und mit welchen handlungsbereichstypischen Besonderheiten die Regeln der arztrechtlichen Aufklärung gelten, doch ist eine deutliche Tendenz zu erkennen, die vorherige Selbstbestimmungsaufklärung wenigstens im Anwendungsbereich der Reproduktionsmedizin zur Pflicht zu erklären 270 . Soweit genauer auf die Beratung vor Einwilligung eingegangen wird, wird gefordert, daß diese umfassend 271 und nicht-direktiv zu erfolgen h a b e 2 7 2 und 167 f. Das Einwilligungserfordernis bei Datenerhebung entnimmt Taupitz dem Zweck des Rechts auf Nichtwissen, die Zurkenntnisgabe effektiv zu verhindern (1998: 589 f., 593). 268 Taupitz faßt das Regel-Ausnahme-Verhältnis umgekehrt: die Informationsvermittlung sei „grundsätzlich erlaubt und nur bei abwehrendem Willen des Betroffenen untersagt" (1998: 593). Jedenfalls bei Genanalysen geht aber Taupitz wohl selbst davon aus, daß eine Zustimmung erforderlich ist (1998: 589 f., 593). 269 Eingehend zu den Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung im Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Baston-Vogt 1997: 226 ff. m. w. N.; zum Problemkontext Genanalysen vgl. C. Hofmann 1999: 77 f. 2
™ Deutscher Bundestag 1987: 168 f.; Eser 1987: 55; Deutsch 1989: 659 und 1991a: 1207; Cramer 1991: 186 ff., 190 ff.; Plettke 1995: 188 ff.; H Dreier 1996: 121 f. (Art. 1 I, Rn. 81); Stümper 1995: 514; Wiese 1986: 123 f. und 1994: 97; Baston-Vogt 1997: 335 m. w. N.; Koppernock 1997: 90 (im Rahmen genetischer Beratung); Taupitz 1998: 597 f.; C. Hofmann 1999: 48; Damm 1999a: 440 ff.; Simon 2001: 116; Kern 2001: 12. Teilweise wird auf faktische Zwänge hingewiesen, die der effektiven Wahrnehmung des Rechts auf Nichtwissen (so etwa Donner/Simon 1990: 916 f.; Simon 1993a: 50 f.; Cramer 1991: 278; Simitis 1994: 118 ff.; Deutscher Bundestag 2002: 134) oder der dieses sichernden, nichtdirektiven Beratung entgegenstehen (vgl. Damm 1999a: 443 f.; s. o., § 9 IE.). Daher wird gefordert, Benachteiligungsverbote für den Fall der Einwilligungsverweigerung und gesetzliche Datenverarbeitungseinschränkungen vorzusehen (Simitis 1994: 122; ähnl. Benda-Kommission 1985: 40) oder Genanalysen grundsätzlich auf gesetzlich geregelte Fälle zu beschränken (Deutsch 1986: 2; Donner/Simon 1990: 917 f.; Einwag 1991: 96; Wiese 1991: 482 f.), und dies aus Gründen der Menschenwürde auch nur in engen Grenzen (Stümper 1995: 514; Simon 1993a: 86). Von einer Verfestigung solcher meist de lege ferenda erhobenen Forderungen zu einem juristischen Eigenwert kann allerdings noch nicht die Rede sein. 2 ?i Simon 1991: 13; Cramer 1991: 191; Schnittler 1993: 292; Koppernock 1997: 90; C. Hofmann 1999: 120; Kern 2001: 12; ohne Bezugnahme auf das Recht auf Nichtwissen: Bund-Länder-Arbeitsgruppe 1990: 56; Plettke 1995: 190 f.; Rudolf 2003: 119; Deutscher Bundestag 2002: 155,166 ff. 27 2 Deutscher Bundestag 1987: 153 und 2002: 168; Cramer 1991: 214 f., 256 (einschränkend auf S. 215); Simon 1991: 13; 1993a 181; Wiese 1994: 95; Koppernock 1997: 90; Damm 1999a: 443 f.; das Prinzip der Nichtdirektivität modifizierend Regenbogen 2003: 247 ff.
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die Möglichkeit einer postnatalen Genanalyse bzw. der Mitteilung vorhandener genanalytischer Befunde nicht aktiv an die Betroffenen herangetragen werden dürfe 273 . Die Offenbarung vorhandener Ergebnisse darf jedenfalls nicht gegen den Willen des Betroffenen erfolgen 274 und bedarf, jedenfalls im medizinischen Bereich, ebenfalls vorheriger Aufklärung 275. Sanktionen bei Nichtbeachtung des Rechts auf Nichtwissen werden, wenn überhaupt, nur am Rande thematisiert276. Geht man jedoch mit der Mehrheitsmeinung davon aus, daß das Recht auf Nichtwissen eine zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht, respektive dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung gehörige Rechtsposition mit Drittwirkung sei 277 , so klinkt sich diese Rechtsposition automatisch in das gesamte Regelungsgeflecht vertraglicher und deliktischer Haftung ein, so daß insbesondere Schadensersatz-, Schmerzensgeld-, Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche in Frage kommen278. Ergebnis dieses Prozesses rekursiv aneinander anknüpfender Kommunikationen ist eine außerordentlich starke Verfestigung im rechtswissenschaftlichen Diskurs 279 , an der kein Gericht vorbeikommt, ohne ganz erhebliche kommunikative Distanz einzuholen. Das Rechtssystem hat mit Hilfe des rechtswissenschaftlichen 273 Deutscher Bundestag 1987: 153; Deutsch 1987: 309; Spann/Liebhardt/Penning 1988: 32; Cramer 1991: 256 f.; Steinmüller 1993: 9; Simon 1993a: 181 ff.; Koppernock 1997: 90; differenzierend zw. heilbaren und unheübaren Krankheiten C. Hofinann 1999:150 f. 274 Deutsch 1989: 659 und 1991a: 1207; Cramer 1991: 256 f.; Diekgräf 1991: 1860 (ohne direkte Bezugnahme auf das Recht auf Nichtwissen); Simon 1993a: 181 ff.; Wiese 1994: 97 f.; Stümper 1995: 511 ff.; Koppernock 1997: 90; Baston-Vogt 1997: 335 f.; Taupitz 1998: 592 f.; C. Hofmann 1999: 48, 79, 152 (pos. Einwilligung erforderlich); Tjaden 2001: 184 f., 213; krit. Simitis 1994: 122 f. 275 Koppernock 1997: 90; Damm 1999a: 443; C. Hofmann 1999: 79, 150 f. (sofern nicht vor der Datenerhebung bereits umfassend aufgeklärt wurde). 276 Wiese 1991: 487 f.; Deutsch 1991a: 1206 f., 1209 (ohne explizite Nennung des Rechts auf Nichtwissen); Cramer 1991: 186; Stümper 1995: 512; Taupitz 1998: 592; C. Hofmann 1999: 79; Tjaden 2001: 256 f. 277 Soweit die Frage der Drittwirkung aufgeworfen wird (Bund-Länder-Arbeitsgruppe 1990: 17 f.; Menzel 1989: 2042; Cramer 1991: 185 f.; Wiese 1991: 483 f.; Präve 1992: 281 f.; Stümper 1995: 512; Lorenz 1999: 1312; C. Hoffmann 1999: 41 f.; Simon 1993a: 89 ff. und 2001: 117 ff.; Meyer 2001: 175; Tjaden 2001: 121 ff.), wird sie für bislang thematisierte Regelungsbereiche (ärztliches Handeln, Arbeits- und Versicherungsrecht) im Sinne mittelbarer Drittwirkung bejaht (ebd.); zweifelnd Lorenz 1999: 1312 f.; dezidiert ablehnend M. Spranger 2000: 816 f. 278 Vgl. Wiese 1991: 487 f., Cramer 1991: 186 (§ 823 I BGB); Taupitz 1998: 592 (§ 823 I BGB); Deutsch 1991a: 1206 f., 1209 und 1995: 201 f.; Tjaden 2001: 256 f.; Deutsche Gesellschaft ßr Medizinrecht e.V. 2002: 670 (§ 823 I BGB). C. Hofmann erörtert zwar eingehend die Haftungsfolgen widerrechtlicher Genomanalysen (1999: 69 ff.), doch werden Konsequenzen einer Verletzung des Rechts auf Nichtwissen trotz dessen expliziter Erwähnung (1999: 79) nicht erörtert. 279 Das Recht auf Nichtwissen sei „weitgehend anerkannt" (Baston-Vogt 1997: 336) bzw. „weithin anerkannt und sogar auf dem Weg, Allgemeingut zu werden" (Taupitz 1998: 583), lauten einige jüngere Bewertungen.
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Diskurses intern starke Limitierungen des rechtlich Möglichen aufgebaut. Noch bevor eine gesetzgeberische Regelung getroffen wurde und vor aller konkreten Entscheidung wurde im juristischen Diskurs, also innersystemisch, ein erhebliches Maß eigenwertgesättigter Redundanz und damit Stabilität erzeugt. Diese zehrt insbesondere hinsichtlich ihrer Verknüpfung mit etablierten rechtlichen Eigenwerten von jenem rekursiven Prozeß innerhalb der Rechtswissenschaft, der seinen Ausgang mit der Zeitungslektüre Ernst Bendas genommen hat, zugleich aber, dies dürfte die Dynamik und Gleichstimmigkeit dieses Prozesses erheblich befördert haben, von der Evidenz, die Forderungen nach individueller Selbstbestimmung und ein individualistisches Verständnis der Menschenwürde insgesamt in unserer Gesellschaft zukommen. Die Ausbildung rechtlicher Eigenwerte wirkt ihrerseits auf den rechtspolitischen Diskurs zurück 280. Begünstigt wird dies durch die grundrechtliche Fundierung, die legislative Bestrebungen mit dem Vorbehalt verfassungsgerichtlicher Überprüfung konfrontiert. Sofern vorhandene rechtliche Strukturen keine Grenzen setzen, wird demnach die Limitierung des sozial Möglichen in Problemkonstellationen, die als neuartig bewertet werden, zunächst rechtsextern anhand kulturell tradierter Narrative erzeugt, die in den individuellen Binnenstrukturen emotional verfestigt sind. Angesichts geringer Konsensbestände in unserer dynamischen, polykontextualen Gesellschaft sind diese Barrieren vager und weniger zwingend als rechtliche Strukturen, zumal wissenschaftliche und wirtschaftliche Prozesse aufgrund ihrer stark ausdifferenzierten Eigenlogik und ihrer Einbettung in globale Zusammenhänge davon weitgehend entkoppelt sind. Der rechtsinterne Prozeß, in dem außerrechtlich formulierte Lösungsvorschläge in Rechtspositionen umgemünzt, verworfen oder ins Recht internalisiert und damit zu konkreten generalisierten Verhaltenserwartungen stabilisiert werden, beginnt jedoch schnell. Was außerrechtlich als Grundproblematik genanalytischer Verfahren kommuniziert und mit konkreten, ethisch legitimierten Forderungen verbunden wurde, wird im rechtswissenschaftlichen Diskurs mit jenen Wahrnehmungs- und Lösungsmustern ähnlicher Problemkontexte abgeglichen, die dort als gesicherte Eigenwerte tradiert sind. Abgleich bedeutet in diesem Zusammenhang zweierlei: Zum einen die Suche nach Ähnlichkeiten zwischen neuem Problem und bereits rechtsspezifisch gefestigten Problemlösungsmustern unter dem rechtlichen Primat, daß wesentlich Gleiches gleich zu behandeln sei und nur wesentlich Ungleiches verschieden behandelt dürfe. Zum anderen wird geprüft, ob die erkennbaren Konsequenzen der präferierten Lösung zu Widersprüchen mit anderen gesicherten Eigenwerten führen. Der Mechanismus läßt sich besonders gut an jenen Abhandlungen erkennen, die sich nicht mit der Präsentation und Rechtfertigung des eigenen Vorschlags begnügen, sondern ein ganzes Arsenal vorhandener Rechtsstruktu280 So hat etwa Bundesforschungsministerin Bulmahn eine gesetzliche Regelung von Gentests unter Hinweis auf das Recht auf Nichtwissen angekündigt; vgl. Frankfurter Rundschau v. 12. 3. 2002, S. 5.
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ren tastend auf die Möglichkeit hin abtasten, das Postulat möglichst widerspruchsfrei einzupassen281, eine Arbeit, die erschöpfend nicht von einzelnen Studien, sondern prozeßhaft durch beständige ablehnende und bestätigende rekursive Bezugnahmen im juristischen Diskurs geleistet wird.
3. Die Normstruktur eines „Rechts auf genetische Selbstbestimmung" Ein wesentlicher Argumentationsstrang bei der Diskussion um das „Recht auf Nichtwissen" wie überhaupt im Kontext Genomanalyse besteht darin, allgemein auf das „persönlichkeitsrechtliche Selbstbestimmungsrecht" zurückzugreifen, also auf ein Prinzip, dem mit Blick auf den konkreten Sachbereich Attribute wie „genetisch", „geninformationell" oder „bioethisch" hinzugefügt wurden. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, daß ich die Normgenese für noch zu unabgeschlossen halte, um anders als im Sinne eines vagen Oberbegriffs von einem„Recht auf genetische Selbstbestimmung" zu sprechen. Orientiert man seine normativen Forderungen am Postulat individueller Autonomie, so erscheint es fast zwingend, die gegenläufigen Interessen, die mit einem „Recht auf Wissen" einerseits versus einem „Recht auf Nicht-Wissen" andererseits thematisiert werden, in einem umfassenderen Recht auf genetische Selbstbestimmung aufzuheben und ihre Wahrnehmung individueller Entscheidung der jeweils Betroffenen, um deren genetische Disposition es geht, zu überantworten 282. Woraus sich dieses Recht auf Selbstbestimmung ergibt, scheint noch nicht abschließend geklärt. Fraglos geht es auch um die Erhebung und Verwendung persönlicher Daten, weshalb eine Ableitung vom Recht auf informationelle Selbstbestimmung naheliegt283. Die Selbstbestimmungskonzeption, die sich im Verlauf der Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ergeben hat, bezieht sich letztlich auf Daten, in Abstraktion: auf das Individuum bezogene Informationen jedweder Art. Auf das kulturell geprägte mechanistische Paradigma, das der Vorstellung, bei Fragen der genetischen Disposition gehe es vornehmlich um Probleme der Informationsverarbeitung und der Verfügbarkeit über individuelle Daten, zugrundeliegt und eine Parallelisierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung evident erscheinen läßt, wurde bereits hingewiesen284. Auch eine Ableitung vom medizin281 Vgl. etwa Taupitz 1998; Wiese 1991; Simon 2001. 282 Exemplarisch Krahnen 1989: 96 ff. 283 Ohne Einwüligung des Betroffenen oder seines gesetzlichen Vertreters vorgenommene DNA-Analysen werden auch in der jüngeren Rechtsprechung als Verletzungen des informationellen Selbstbestimmungsrechts gewertet; VGH Mannheim NJW 2001, 1082/1084 f.; BGH NJW 2005,497/498 f. 284 § I i I. Damit wird nicht bestritten, daß es Sachdimensionen gibt, die eine Verbindung nahelegen: Die Genanalyse als Verfahren der Datengewinnung macht Fragen der Daten-
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rechtlichen Patientenrecht auf Selbstbestimmung liegt angesichts des engen Körperbezugs nahe. Grundsätzlicher setzt Martin Koppernocks Ableitungsversuch eines Grundrechts auf bioethische Selbstbestimmung an, das alle Normaspekte eines Rechts auf geninformationelle Selbstbestimmung umfaßt und darüber hinausgeht. In starker Anlehnung an die US-amerikanische Diskussion extrahiert Koppernock aus den verschiedenen Freiheitsgrundrechten und dem Menschenwürdegrundsatz ein umfassendes, primär individualistisches Autonomieprinzip, das dem die Menschenwürde konkretisierenden allgemeinen Persönlichkeitsrecht zugrunde liegen soll 285 . Das in den meisten Veröffentlichungen stark auf das medizinische Selbstbestimmungsrecht des Patienten und den Aspekt der Datengewinnung und -Verarbeitung in der Humangenetik bezogene Selbstbestimmungsrecht begründet Argumentationslasten, die insbesondere der Selbstläufigkeit gegenläufiger selbstexekutiver Freiheitspositionen entgegenstehen. Unter dem Primat, daß Betroffene selbst über die Verwendung ihrer genetischen Daten entscheiden dürfen, wird die ansonsten unproblematische Freiheit, fremde genetische Daten zu erheben, zu übermitteln oder zu nutzen, rechtfertigungsbedürftig. Dies macht die Differenzierung zwischen aktiven und passiven Normdimensionen nicht entbehrlich und, anders als Koppernock in seiner rechtsphilosophischen und -dogmatischen Begründung eines umfassenden Grundrechts auf bioethische Selbstbestimmung meint 286 , auch nicht vordergründig, egal ob man sie an der Differenz von Options- und Schutzrechten287 oder an der hier vorgenommenen Unterscheidung zwischen negatorischen Freiheitsrechten, selbstexekutiven und rechtlich konstituierten Freiheiten 288 festmacht. Vielmehr läßt sich gerade an diesen Differenzierungen aufzeigen, wie sich die neuere Entwicklung des persönlichkeitsrechtlichen Diskurses eines solchen Grundrechts je nach Normaspekt in unterschiedlicher Weise auswirkt 289. speicherung, -Verwaltung, -Verwertung und -weitergäbe zwangsläufig auch zu Problemen der Informationstechnologie. Hinzu kommt, daß sie sich von herkömmlicher medizinischer Diagnostik vor allem hinsichtlich der Eigenschaften der durch sie erzeugten Information unterscheidet (vgl. Scholz 1995: 37 f.): Ihre Testergebnisse behalten unabhängig vom Lebensalter und aktuellen klinischen Zustand des Betroffenen lebenslang Gültigkeit, sind unabhängig von ihrer Aktivierung in fast allen Körpergeweben vorhanden und bedürfen zu ihrem Nachweis nur geringer Probemengen, die konserviert späteren Analysen mit möglicherweise effektiveren Verfahren zugänglich sind. Dies hat strukturbildende Effekte auf die machtbasierte Verfügung über Wissen durch „Informationskartelle, Patentregimes und allerhand ,Datenherren4 (Spinner) 11 (Heins 1997: 343, vgl. ebd.: 342 ff.; Spinner 1994: 57,106 f., Theisen 1991:109 ff.). 285 Koppernock 1997: 49 ff.; s. o., § 11 III. 286 Koppernock 1997: 15, 218; vgl. ebd.: 63 ff. 287 So Damm 1991: 287 f., 291 ff.; 1993a: 178 ff.; 1999a: 440; ähnl. mit anderer Begrifflichkeit Damm 1998b: 133 ff.; vgl. o., § 11.1., Fn. 13; zust. Taupitz 1998: 600. 288 s. o., § 11. 2., § 11. 3., § 1 H. 289 Möglicherweise besteht in der Sache kein Dissens. Koppernock interessieren ethische und rechtliche Geltungsgründe persönlichkeitsrechtlicher Positionen, weshalb für ihn „unter-
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a) Selbstexekutives
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negatorisches Freiheitsrecht
Geltend gemacht wird mit unterschiedlicher Terminologie ein „Recht auf Kenntnis der eigenen genetischen Disposition"290. Teilweise ist auch von einem ,»Recht auf Wissen" die Rede 291 . Soweit damit die Möglichkeit benannt wird, von den neuen genanalytischen Techniken Gebrauch zu machen, handelt es sich um eine schlichte faktische Möglichkeit, die schon alleine deshalb besteht, weil es keinerlei staatliche Restriktionen gibt 292 . Diese sich mit neuen faktischen Möglichkeiten, die Technik zu nutzen, selbstexekutiv ausdehnende Normkomponente garantiert einen zukunftsoffenen Möglichkeitsraum293. Insofern „handelt es sich bei dem Recht auf Kenntnis um einen Selbstläufer in Konformität mit dem Entwicklungsprozeß der Technik"294. Daß es ein solches Recht in dieser Ausformung als Garant selbstbestimmter Lebensplanung gibt, scheint unbestritten zu sein. Ob man allerdings angesichts solcher Selbstläufigkeit im Rahmen eines vom faktisch Machbaren bestimmten Möglichkeitsraums positiv von einem „Recht auf Wissen" sprechen kann, erscheint fraglich. Allein die Möglichkeit, die verfügbaren technischen Möglichkeiten der Genomanalyse zu nutzen, um Kenntnis von der eigenen genetischen Disposition zu erlagen, dürfte mangels einschränkender gesetzlicher Regulierung bereits vom Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit gedeckt sein 295 . Eine Verstärkung zu einer einen Schutzanspruch oder gar Leistungs- und Teilhaberechte begründenden selbständigen Rechtsposition wird erst dann notwendig, schiedliche Aspekte der nach ihrem Gegenstand zu unterscheidenden Grundrechte" (1997: 67) sekundär bleiben, während in Damms Arbeiten (1991, 1993a, 1997, 1998a, b, 1999a, b) ebenso, wie für die vorgelegte Studie, konkrete persönlichkeitsrechtliche Positionen und ihre Struktur im Kontext der Rechtsentwicklung von zentraler Bedeutung sind. 290 van den Daele 1985: 80 f.; Sternberg-Lieben 1987: 1245 f.; Bund-Länder-Arbeitsgruppe 1990: 17, 51 f.; Wellbrock 1989; Ruderisch 1992: 262; Taupitz 1992: 1090, 1094, 1098; 1998: 594 f.; Steinmüller 1993: 9; Schnittler 1993: 290; Stümper 1995: 513; Koppernock 1997: 92; Wiese 1986: 126; 1994: 96; Damm 1998b: 129; 1999a: 438, 446 f.; 2002b: 380; C. Hofmann 1999: 47; Simon 1993a: 87, 184; 2001: 115 f.; Hufen 2001: 443 f.; Tjaden 2001: 117. 291 Teilweise werden damit ohne Differenzierung all jene Interessen zu Rechtspositionen erklärt, die auf die Erlangung genetischer Daten gerichtet sind; so z. B. bei Meyer 2001: 175 ff. Von einem „Recht auf Wissen" im Sinne eines Rechts, die eigene genetische Disposition zu erfahren, ist die Rede bei Krahnen 1989: 84 ff.; Cramer 1991: 207; Tinnefeid 1993a: 262; Koppernock 1997: 92; Taupitz 1998: 599 f.; C. Hofmann 1999: 47; Damm 1998b: 129 und 1999a: 438, 446 f.; Hufen 2001: 443 f.; Deutscher Bundestag 2002: 132 f.; Hillmer 2004: 197. 292 s. o., § 1 n. 1. 293 s. o., § 11. 2. a), § 1 II. 1., § 1 m. 294 Damm 1999a: 447. 295 c. Hofmann 1999: 30. Dies gilt auch für das Recht auf Nichtwissen, sofern man den Verzicht auf eine Analyse der eigenen genetischen Disposition von diesem umfaßt sieht (so etwa Tjaden 2001: 118).
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Teil 4: Persönlichkeitsrechtsentwicklung
wenn diesem rechtlichen Freiraum faktische oder bereits konstituierte rechtliche Befugnisse anderer entgegenstehen oder wenn gesetzliche Einschränkungen anstehen, welchen unter Berufung auf die spezielle Wertigkeit des Freiraums begegnet werden soll. In diese Richtung geht die Aussage, das Recht auf Kenntnis der eigenen genetischen Disposition sei ein Grundrecht, in das etwa der Gesetzgeber nur aus schwerwiegenden Gründen eingreifen dürfe 296 . Eine solche Verstärkung Hefe auf eine fremde Handlungsmöglichkeiten limitierende Bewehrung eigener Freiheiten oder auf eine rechtlich konstituierte Handlungsmöglichkeit hinaus, also auf Rechtspositionen, die eine spezifisch andere Normstruktur aufweisen.
b) Bewehrung von Freiräumen durch Limitierung fremden Handelns Das Problem stellt sich aufgrund der starken Vernetzung der Sozialbereiche, in denen Genanalysen eine Bedeutung haben können, in einer Vielzahl von Konstellationen, etwa, wenn Patienten bestimmte genetische Anlagen feststellen lassen wollen, dazu auf die Daten naher Angehöriger angewiesen sind, diese jedoch ihrerseits eine Untersuchung verweigern und ihr Recht auf Nichtwissen geltend machen. Es stellt sich ferner, wenn Vertragspartner, etwa Arbeitgeber oder Versicherungen genetische Daten erheben oder nutzen wollen. In diesen Kontext gehört schließlich auch die Verwertung von Genanalysen zu Beweiszwecken. Verstünde man das „Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung" auch als bürgerlichrechtlichen Auskunftsanspruch gegen Dritte 297 , so wäre es hier ebenfalls zu erwähnen. All diesen Konstellationen ist gemeinsam, daß die Limitierung von Möglichkeiten, fremde genetische Daten zu erheben oder zu verwerten, in Rede steht. Es geht um die Abwehrdimension negatorischer Freiheitsrechte 298. Insoweit besteht in der rechtswissenschaftlichen Literatur wie in der Rechtsprechung weitgehend Konsens, mithin ein gesicherter Eigenwert: Eine Genanalyse darf prinzipiell nur mit Zustimmung des Betroffenen oder aufgrund eines allgemeinen Gesetzes erfolgen, weil dieser ein Recht auf Selbstbestimmung, respektive Nichtwissen hat 299 . Der Normstruktur nach limitiert dieses Verbot mit Erlaubnisvorbehalt fremde Handlungsfreiheiten. Es handelt sich um eine rechtlich konstituierte Position, die Regelform hat. Ohne eine erhebliche Verfestigung im juristischen Diskurs bestünde sie nicht. Sie hat sich innerhalb der Rechtswissenschaft in Reaktion auf seit etwa Anfang der 80er Jahre zunächst v. a. in rechtsexternen Risikodiskursen thematisierte Risiken genanalytischer Verfahren durch rekursive Kommunikation allmählich ausdifferenziert. Der Prozeß hat mit Einberufung der ersten 296 Bund-Länder-Arbeitsgruppe 1990: 51 f.; Hufen 2001: 443. Unter Berufung auf ein auf Art. 2 II GG gestütztes „Recht auf Wissen" lehnt beispielsweise Simon Verbote ab, Gentests an sich selbst vornehmen zu lassen (1993a: 87; 2001: 115 f.). 297 Dies ist bislang nicht der Fall; s. o., § 1 II. 1., Fn. 49. 298 Zum normstrukturellen Problem s. o., § 11. 2. b), § 1 n. 3., § 1 V., § 1 VII.
299 s. o., § 11 in. 2., bei und in Fn. 264-266.
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Expertenkommissionen zur Humangenetik begonnen und dauert an. Mit Blick auf die Veröffentlichungskonjunkturen wird man jedoch sagen können, daß eine erste Verfestigungsphase etwa 1985 beginnt und 1991 mit Erscheinen der ersten Monografien zu einem vorläufigen Abschluß kommt. Die stabilitätsverbürgende Einfügung der Norm in vorhandene Regelstrukturen führt nicht dazu, daß keine handlungsbereichsspezifischen Probleme offen bleiben. Nicht wenige Arbeiten zum Thema enden mit rechtspolitischen, durch verfassungsrechtliche Erwägungen gerechtfertigten Forderungen an den Gesetzgeber.
c) Rechtlich konstituiertes
Freiheitsrecht
Nachdem das menschliche Genom „entschlüsselt" worden ist, stellt sich angesichts der Vielzahl biotechnologischer Folgeprojekte verstärkt die Frage, wer humangenetische Daten verwerten darf. Unter welchen Umständen können diese patentiert werden? Wer darf sie für kommerzielle Nutzer (Agenturen, Arbeitgeber, Versicherungen, Anbieter medizinischer Produkte) aufbereiten und bereithalten? Eine umfassende gesetzliche Regelung fehlt bislang. Das geplante Gendiagnostikgesetz ist über das Entwurfsstadium nicht hinausgekommen, so daß sich Grenzen in erster Linie aus den bestehenden einfachgesetzlichen Regelungen ergeben 300. Darüber hinaus hat der juristische Diskurs aber auch hier fernab gesetzlicher Regulierung erste deutliche Akzentuierungen geschaffen: Es war bereits angesprochen worden, daß es nicht fernliegend erscheint, daß das persönlichkeitsrechtliche Selbstbestimmungsrecht insoweit eine Ausweitung seines Anwendungsbereichs erfahren wird 301 . Später hatten wir gesehen, daß das persönlichkeitsrechtliche Selbstbestimmungsrecht seiner Normstruktur nach teilweise auch ein „von Verdinglichungen nicht freies Herrschaftsrecht über »eigene4 Daten" 302 , mithin ein rechtlich konstituiertes Freiheitsrecht ist 303 , das nicht nur zum Abwehr-, sondern auch zum eigentumsähnlichen Verwertungsrecht taugt. Zumindest die jüngere BGHRechtsprechung hat neuerdings verstärkt erhobenen Forderungen der Literatur entsprochen und geht davon aus, daß das persönlichkeitsrechtliche Selbstbestimmungsrecht eine immaterialgüterrechtliche, auf Verwertung zielende Komponente enthält304. Der Schutz vor ungewollter Fremdkommerzialisierung scheint mit einem Recht zur Eigenkommerzialisierung einherzugehen. Ob sich dies endgültig 300 Exemplarisch sei auf die Veröffentlichung von Mand (2005) verwiesen, der die Anwendung datenschutzrechtlicher Vorschriften auf Biodatenbanken, die Forschungszwecken dienen, abarbeitet. 301 § 1 H. 3. 302 Trute 1998: 825. 303 § 10 in. 9.; § 10IV. 2. Zum Begriff s. o., § 11. 3. und § 1 II. 3. 304 BGHZ 143, 214 - Marlene Dietrich; BGH NJW 2000, 2201 - Der blaue Engel; s o., § 10 HI. 9., § 11 II. 4. e).
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Teil 4: Persönlichkeitsrechtsentwicklung
und umfassend durchsetzt, ist noch ungewiß305, auch, ob auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als spezifisches Derivat des persönlichkeitsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts tatsächlich zu einem Verwertungsrecht mit eigentumsähnlichem Charakter erstarkt. Erst recht ungewiß erscheint die Entwicklung beim Recht auf geninformationelle Selbstbestimmung. Soweit Daten vermögenswert sind, ist bei entsprechender gesetzlicher Ausgestaltung denkbar, daß Art. 141 GG einschlägig ist 306 . In keinem Fall wird sich der in der juristischen Literatur und ansatzweise auch in der Rechtsprechung hergestellte enge persönlichkeitsrechtliche Bezug von genetischen Daten, Persönlichkeitsrechten und Menschenwürde negieren lassen. Dies bietet jedoch sowohl Ansatzpunkte für als auch gegen eine Kommerzialisierung. Der enge persönlichkeitsrechtliche Bezug spricht dafür, die Träger genetischer Information zum Zuordnungssubjekt verwertungsbezogener Rechtspositionen zu machen307. Argumente in diese Richtung dürften sich auch daraus ergeben, daß nach heute wohl überwiegender Auffassung bei entnommenem Körpermaterial das Eigentum des ehemaligen Trägers stark persönlichkeitsrechtlich überlagert ist 308 , und zwar umso mehr, als aus dem Material Rückschlüsse auf dessen Person möglich sind 309 . Bei persönlichen Daten spricht schon die auf Herstellung rechtlicher Kontrolle gerichtete Normstruktur des Selbstbestimmungsrechts310 eine fast unwiderstehliche Einladung aus, auch hier eine Verwertungskomponente anzuerkennen311. 305 Vgl. o., § 10 m. 9., Fn. 373. 306 Vgl. Stettner 1996: 359. 307 So verfahren etwa C. Hofmann 1999: 38, 87 ff.; Halasz 2004: 92 ff., 162 ff.; a.A. Simitis 1994: 109. Zur Verwertung genetischer Daten vgl. Damm 1998a: 933; Taupitz 1992 und 1993 und oben, § 1 H. 3. 308 Uppen 2001: 407 m. w. N.; Simitis 1994: 117 f. und passim; Forkel 2001: 75; Freund/ Weiss 2004: 316; Halasz 2004: 20 ff.; von Freier 2005: 322 f.; Taupitz 1993: 67 ff., bes. 69 ff., mit der Einschätzung, daß ein Recht auf Eigenkommerzialisierung der eigenen Körpersubstanzen im deutschen Recht bisher keine ausreichende Grundlagefinde (ebd.: 67). Immerhin ließe sich mit einer solchen Konstruktion an tradierte persönlichkeitsrechtliche Formen, technologische Innovation zu verarbeiten, anknüpfen: Schon das Reichsgericht hatte neu entstandene Verwertungsmöglichkeiten durch den Rundfunk mit persönlichkeitsrechtlicher Begründung dem ursprünglichen Urheber zugesprochen (RGZ 113, 413/418 ff. - 1 . Rundfunkurteil; 123, 312/314 ff. - II. Rundfunkurteil/Wilhelm Busch). Derzeit tendiert die h. M. bei getrennten Körperteilen zu einer relativen strikten Bindung der Verwendungsbefugnis an die Reichweite der Einwilligung des Grundrechtsträgers bei vorsichtiger Privilegierung forschungsrelevanter Nutzung; zu Darst. und Kritik vgl. Brey er 2004: 319 f.; Nitz/Die rks 2002: 401 f.; von Freier 2005: 322 ff. m. w. N; krit. zur persönlichkeitsrechtlichen Überlagerung T. Spranger 2005: 1085. 309 Lippen 2001: 407 m. w. N.; Nitz/Dierks 2002: 401. 310 s.o., § 10IV. 2. 311 In diesem Sinne deutlich C. Hofmann 1999: 38, 87 ff.; Weichen 2001: 1466 f.; von Freier 2005: 325; Halasz 2004: 92 ff., 162 ff.; vgl. auch oben, § 1 II. 3., § 10 HI. 9. Die Drittwirkungsproblematik (eingehend hierzu beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung Stettner 1996: 363 ff.) würde hier wohl zu Auseinandersetzungen führen. Unüberwindbare Hindernisse im Sinne kommunikativer Distanz bestehen insoweit nicht, weil als gesicherter
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Doch individuelle Daten sind stets Teil des kollektiven Genpools. So liegt es nahe, daß Gegenpositionen in Deutschland an einem kollektivistischem Verständnis des Menschenwürdegrundsatzes anknüpfen 312. Je stärker man den höchstpersönlichen und damit zugleich den menschenwürderelevanten Gehalt des Selbstbestimmungsrechts betont, desto mehr sind individueller Verfügungsbefugnis Grenzen gesetzt313. In Deutschland hätte John Moore de lege lata wohl nicht ohne weiteres darauf rechnen können, für seine ohne Einwilligung weiterkultivierten und verwerteten Zellen einen nennenswerten pekuniären Ausgleich zu erhalten 314. Wie wäre der Fall wohl zu beantworten, wenn eine einzigartige genetische Disposition für die Heilung vieler nutzbar gemacht werden könnte? Der Blick auf den angloamerikanischen Rechtskreis lehrt uns, daß durchaus auch eher kollektivistische Antworten auf das Problem möglich sind. Ein Wechsel der Perspektive in Richtung auf die jüngere deutsche Vergangenheit zeigt, daß auch nicht immer Evidenzen zuhanden sind, die individuelle Interessen stützen. Solange jedoch selbstexekutive Freiheiten nicht eingeschränkt werden, kann verwerten, wer immer dazu faktisch in der Lage ist. Mit Blick auf die Zukunft bleibt zunächst offen, welche Risiken Entscheider den Betroffenen zumuten können und dürfen. Nur die rechtliche Wiederherstellung von Kontrolle, sei es in Form tatbestandlicher Fassung von Abwehrrechten oder durch Konstitution rechtlicher Befugnisse, insbesondere solcher der Verwertung, bedarf der Begründung, der Redundanz, des Rückgriffs auf kommunikative Gemeinsamkeiten, vor allem aber expliziter Konstituierung als geltendes Recht. Dies soll uns nicht davon abhalten, einen Blick auf die normstrukturellen Konsequenzen zu werfen, die es hätte, würde dieser Weg konsequent beschritten: Eine solche Strukturentscheidung würde sich vorhandenen Regelstrukturen einpassen, so daß lediglich das vorhandene Regelgeflecht abzuarbeiten wäre 315 . Ohne rechtsEigenwert gelten kann, daß das allgemeine Persönlichkeitsrecht zwischen Privaten unmittelbar Anwendung findet (st. Rspr. seit BGHZ 24,72/76 f.). 312 Erste deutliche Ansätze dazu finden sich bei Fisahn 2001: 52 f.; vgl. auch Herdegen 2000: 640 f. 313 Gattungsbezogene Menschenwürdekonzeptionen nutzen das Argument persönlicher Höchstwertigkeit für Unverfügbarkeitsgrenzen, so daß Einwilligungen, so überhaupt zulässig, frei widerruflich bleiben und paternalistische Erwägungen jede Formalität relativieren, indem sie unkalkulierbar materiale Weitungen einbeziehen [s. o., § 11 II. 4. e)]. Setzt sich ein Apriori für individuelle Selbstbestimmung durch, so schließt dies gattungsbezogene Argumente nicht völlig aus, doch werden diese rechtfertigungspflichtig, müssen also Begründungslasten abarbeiten. Residuen kollektivistischer Lesarten, soweit sie in öffentlichen Risikodiskursen thematisiert werden, würden über §§ 124, 138 BGB und andere Generalklauseln im Zivilrecht adaptiert werden. 314 Vgl. Taupitz 1993: 72 ff.; zum Fall Moore vs. Regents of University of California et al. s. o., § 1 H. 3. m. w. N. 315 Das heißt nicht, daß nicht erhebliche Probleme offen blieben. Was ausreichende Aufklärung für eine selbstbestimmte Einwilligung im Kontext einer Verfügung über genetische Daten ist, wird sich wohl nur problemfeldspezifisch erarbeiten lassen. Bei Anerkennung eines persönlichkeitsrechtlichen Immaterialgüterrechts am eigenen Genom blieben Abgrenzungsschwierigkeiten, insbesondere wenn das Arrangement der Datenverwendung die Schwelle
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wirksame Einwilligung bzw. Verfügung des Betroffenen wäre dann keine Verwertung zulässig316. Die bekannten Fragen der Grundrechtsmündigkeit, Geschäftsfähigkeit, Einwilligung bei ausreichender Aufklärung und ohne externen Zwang wären weitgehend im Rahmen altbekannter und regelförmiger Eigenwerte abgearbeitet, Verstöße würden über die einschlägigen Rechtsinstitute (§§ 241 I I i.V.m. §§ 280 DI, 282 BGB, GoA, §§ 812 ff., 823 ff., 1004 analog BGB) abgewehrt oder ausgeglichen317. Man kann diese Zusammenhänge an der soeben angesprochenen Abwandlung des Falls John Moore verdeutlichen. Die Frage, ob DNA-Sequenzen als Erfindungen patentierbar sind, ist nach der zwischenzeitlich erfolgten Umsetzung der EGRichtlinie über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen gesetzlich geregelt (§§ 1 ff. PatentG)318. In der 26. Begründungserwägung der genannten Richtlinie wurde festgelegt: „Hat eine Erfindung biologisches Material menschlichen Ursprungs zum Gegenstand oder wird dabei derartiges Material verwendet, so muß bei einer Patentanmeldung diejenige Person, bei der Entnahmen vorgenommen werden, die Gelegenheit erhalten haben, gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften nach Inkenntnissetzung und freiwillig der Entnahme zuzustimmen." 319 Ginge es also, anders als im Falle John Moore, nicht um weiterkultivierte Zellen, sondern um eine einzigartige und nach §§ 1, la PatentG patentierbare DNA-Sequenz, so würde sich die Frage stellen, ob die fehlende Einwilligung nicht einen solch schwerwiegenden Rechtsverstoß darstellt, daß die Patenterteilung nach § 21 PatentG wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten versagt werden müßte 320 . Indes gäbe selbst die Unwirksamkeit der Patentierung dem DNA-Träger, der dadurch selbst noch über kein Patent verfügt, nicht ohne überschreitet, ab der der urheberrechtliche Schutz für geistige Schöpfungen des Bearbeiters greift. Dies aber wäre ein im Kontext der bestehenden Regelstrukturen abzuarbeitendes Problem. 316 So dezidiert Haläsz 2004: 199, 205 ff., 216 f., 260 und passim. In Deutschland umfaßt die Selbstbestimmungsaufklärung des Patienten nicht die Aufklärung über finanzielle oder wissenschaftliche Interessen (Taupitz 1991: 375). Die Einwilligung in den medizinischen Eingriff rechtfertigt weder die kommerzielle Verwertung, noch erfaßt sie den Problemfall der ungewollten Entwendung von Körpersubstanzen (Taupitz 1993: 62 f.; vgl. T. Spranger 2005: 1086 f.; Haläsz 2004: 199, 210). Analog ist die gegenwärtige Rechtslage hinsichtlich der Verwertung entwendeter genetischer Daten zu beurteilen; vgl. hierzu Herdegen 2000: 635. Bejaht man ein vermögenswertes Verfügungsrecht am eigenen Genom, so wird man in entsprechenden Fällen konsequenterweise auch eine Aufklärung über etwaige finanzielle Interessen fordern müssen, weil das Einverständnis „die gesamte »Verwertungskette"' (ebd.: 634) erfassen muß. 317 Vgl. Haläsz 2004: 268 ff. m. w. N. Fehlt ein konkreter Schaden, kommen Ansprüche aus GoA und §§ 812 ff. in Betracht; vgl. C. Hofmann 1999: 86 ff.; Herdegen 2000: 635 (Anspruch aus § 812); Haläsz 2004: 290 ff. 318 s. o., § 1 II. 3., Fn. 61; zur Rechtslage vor der Novellierung vgl. ebd. 319 Richtlinie 98/44/EG v. 6. 7. 1998 (ABl. Nr. L 213 v. 30. 7. 1998, S. 0013 - 0021). 320 Grundsätzlich bei einwilligungsloser Entnahme von Körpersubstanzen verneinend T. Spranger 2005: 1089.
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weiteres einen Anspruch auf finanzielle Kompensation. Ein entsprechender Tatbestand müßte erst einmal konstituiert werden. Doch schon vorher entfaltet der rechtswissenschaftliche Diskurs eine orientierungswirksame, die bisherige Rechtslage relativierende Wirkung. Das Argument, es gebe ein Recht auf geninformationelle Selbstbestimmung, ermöglicht vor jeder gesetzlichen Regulierung eine spezifisch rechtliche Begründung, der mit dem persönlichkeitsrechtlich tradierten Argument, hochwertige, grundrechtlich geschützte Rechtspositionen bedürften effektiven Schutzes, sogar eine konkrete Rechtsfolge zugeordnet werden könnte. Das klingt beliebig. Aber ich hätte als Anwalt wenig Sorge, daß eine solche Argumentation vor aller gesetzgeberischen Tätigkeit zumindest die realistische Chance eines akzeptablen Vergleichs eröffnen würde, weil auf die Ansätze des rechtswissenschaftlichen Diskurses verwiesen werden kann. Auf diese Möglichkeit des „bargaining in the shadow of law" wurde bereits hingewiesen 321 . Sind bestimmte Positionen, wie hier das mit einem spezifischen Bezug auf die eigenen genetischen Daten ausgerichtete persönlichkeitsrechtliche Selbstbestimmungsrecht, in den rechtlichen Diskurs internalisiert worden, besteht auch bei jenen, die sich auf fehlende gesetzliche Regelungen zurückziehen, Unsicherheit, ob ein Gericht eine entsprechende Position nicht doch anerkennen wird. Das Prinzip erzeugt systemintern Irritationsbereitschaft 322. Dies gilt umso mehr, wenn in außerrechtlichen Risikodiskursen gleichläufige Problembewertungen kursieren. Die Akteure können nicht mehr auf die Beständigkeit der bisherigen Rechtslage vertrauen und sehen sich u. U. zu vorsichtigerem Verhalten genötigt. Auch hier geht Destabilisierung mit Stabilisierungstendenzen einher.
IV. Auswirkungen auf der Systemebene: Stabilität und Dynamik Damit komme ich zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen: Beim gegenwärtigen Stand der Diskussionen um die Humangenetik, respektive die Genomanalyse, meine ich, konstatieren zu können, daß sich im rechtswissenschaftlichen Diskurs vor allem unter Berufung auf das Menschenwürdeargument und das daraus abgeleitete persönlichkeitsrechtliche Selbstbestimmungsrecht deutliche Ansätze herausgebildet haben, die das oben beschriebene Apriori für Freiheit und damit die Wahrnehmung technischer Optionen in seiner Selbstläufigkeit 323 zumindest unter einen ersten deutlichen Vorbehalt gestellt haben, an dem sich mit unterschiedlichen Argumenten anknüpfen läßt. Über den Rechtsschutz hinaus, den vorhandene tatbestandliche Typisierungen bieten 324 , ist jedenfalls auf der Ebene unmittelbarer 321 § 81.2. d) cc). 322 Vgl. o., § 71. 3., § 81. 2, § 11ffl. 2. 323 s. O., § 1 I. 324 s. o., § 11. 2. b), § 11. 3., § 1 n. 2. 28 Maitra
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Anwendung an konkreten Menschen nicht alles möglich, lang bevor das erste einzelfallspezifische Urteil gesprochen ist. Das tradierte Argument der Menschenwürde hat im rechtswissenschaftlichen Diskurs erste Zuschnitte hin auf die Probleme der Humangenetik erhalten, die weder die Legislative noch die früher oder später mit konkreten Problemfällen konfrontierten Gerichte werden ignorieren können. Auf diese abstrakte Basisnorm wird de lege lata zurückgegriffen, soweit die legislative Normbildung nicht ausreichend erscheint. Dies ist möglich, weil sich die tradierte narrative Struktur und damit die Evidenz des Menschenwürdeargumentes auf die Probleme der Humangenetik übertragen läßt und sich dabei - teils ausgesprochen, teils unausgesprochen - auf einer Matrix kollektiver und fortwährend bis in unseren Alltagsbereich hinein reproduzierter Deutungsmuster vollzieht.
1. Konsequenzen individualistischer Verständnisse von Menschenwürde: Individuelle genetische Selbstbestimmung als persönlichkeitsrechtliche Position Strukturbildend wirkt das so vage erscheinende Menschenwürdeargument zum einen über die bestehende starke Präferenz für seine individualistische Lesart, die rein formal auf die Entscheidung selbstverantwortlicher Grundrechtsträgerinnen und -träger abstellt. Ähnlich wie der ältere persönlichkeitsrechtliche Formgebungsversuch, die Sphärentheorie, stehen kollektivistische Verständnisse von Menschenwürde vor dem Problem, daß inhaltliche Bestimmungen auf gesamtgesellschaftliche Vorstellungen Bezug nehmen müssen, obwohl Konsens rar ist. Was die einen als intim empfinden, ist anderen im Interesse ungehinderter Selbstverwirklichung öffentlicher Darstellung wert. Daran, weniger am dogmatischen Streit der Juristen, scheitert beispielsweise eine Einigung in der Frage, ob Peepshows gegen die Menschenwürde verstoßen oder nicht. Die Selbstbestimmungskonzeption umgeht dieses Problem elegant und in prozeduralistischer Manier. Vom Grundsatz her kann jede und jeder für sich selbst entscheiden, welche individuellen oder gruppenspezifischen Vorstellungen im Anwendungsbereich neuer humangenetischer Techniken Präferenz genießen sollen. Selbstbestimmung ist insoweit ein formales Prinzip ohne materiale Vorgaben. Entscheidend ist zunächst, was der Betroffene für einen Willen äußert oder geäußert hat. Dies ermöglicht sowohl die Abwehr technologisch erzeugter Beeinträchtigungen wie die Legitimierung der Forderung, neue Technologien in Anspruch nehmen zu können. Damit ist aber durchaus nicht Beliebiges möglich. Eine auf das Individuum zielende Selbstbestimmungskonzeption führt zu erheblichen Rechtfertigungs- und Abstimmungszwängen325. Soweit sich diese Ausprägung persönlichkeitsrechtlicher Selbstbestimmung, die sich mit der individualistischen Lesart des Menschenwürdegrundsatzes weitgehend deckt 326 , durchsetzt bzw. durchgesetzt hat, stabilisiert dies das Rechtssystem er325 s.o.,§ 10IV. 2., § l i n . 4 . e ) . 326 s. o., § 11 II. 4. e).
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heblich. Die Frage, ob eine genanalytische Maßnahme rechtens ist, hängt dann primär von der Einwilligung desjenigen ab, dessen genetische Disposition untersucht wird. Dieses entscheidende Scharnier hat Konditionalform. Die Abarbeitung seiner Voraussetzungen wie seiner Rechtsfolgen vollzieht sich, weitgehend in den Bahnen der Netzstrukturen etablierter Regelwerke. Dies gilt sowohl für das Recht auf Nichtwissen als auch für die verschiedenen Normdimensionen des Rechts auf genetische bzw. geninformationelle Selbstbestimmung. Mit der Präferenz für individuelle Selbstbestimmung hermetisiert sich das Recht nicht etwa völlig gegen außerrechtliche Diskurse. Abwägung und damit Dynamik bleiben dennoch möglich. Das Prinzip als Platzhalter des Rechtssystems für Selbstirritation bleibt erhalten. Materielle Erwägungen lassen sich über Generalklauseln und in jenen Bahnen einführen, die sich v. a. im Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als eigenwertgesicherte Routine zweiter Ordnung zur Internalisierung von Interessen327 etabliert haben. Eine Regelsuspendierung kann jedoch nur unter erschwerten Bedingungen erfolgen, weil die Argumentationslast auf Seiten jener liegt, die gegenläufige Interessen geltend machen wollen. Insofern ist von Bedeutung, daß das Recht auf geninformationelle Selbstbestimmung wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein in vielerlei Hinsicht aufnahmefähiges Prinzip ist. Im Konfliktfall sind die besonderen, konkret zutage tretenden und die gegenläufigen Interessen stützenden Nutzen- und Gefahrenseiten der jeweiligen Beeinträchtigung zu benennen. Damit ist ein Rückgriff sowohl auf bereits rechtlich internalisierte Interessen und vorhandene Regelstrukturen, aber auch auf außerrechtliche Erwägungen, Rationalitäten und Risikokommunikationen möglich, die somit umstandslos als empirische Argumente in den juristischen Diskurs aufgenommen werden können328. Das heißt nicht etwa, daß undifferenzierte Abwägung anstelle vorhandener Regeln gesetzt werden kann. Ein unschönes Beispiel hierfür bietet Meyer 329 , die das Recht auf Nichtwissen des Betroffenen mit nicht näher benannten „Informationsinteressen" von Arbeitgebern oder Versicherern abwägt, ohne zu benennen, an welche einfachgesetzlichen Regelungen anzuknüpfen ist und aufgrund welcher Normen oder Rechtsprechung es sich um rechtlich geschützte Interessen handelt. Das Gegenbeispiel findet sich bei Schulz-Weidner330, der streng orientiert an den einfachgesetzlichen Normen des Sozialversicherungsrechts und allgemeiner Versicherungsbedingungen der privaten Unfallversicherung Auskunftsverpflichtungen der Betroffenen prüft, allerdings fast ohne Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Dimension. Beide Herangehensweisen dürften angesichts der umfangreichen und teilweise differenzierten Überlegungen zum Thema wenig Folgebereitschaft finden, wobei allerdings letztere Arbeit insofern die besseren Anknüpfungs327
Zum Mechanismus von Routinen zweiter Ordnung s. o., § 8 I. 1. a) dd), § 81. 2. b). 328 Vgl. o., § 10IV. 2. 329 Meyer 2001: 176 f. 330 Schulz-Weidner 1993. 2t*
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möglichkeiten bietet, als dort die einfachgesetzlichen Normen, auf die bezogen etwaige Abwägungen zu erfolgen hätten, benannt und auf ihre Ratio hin überprüft werden. Einfach übergangslos Abwägung anstelle regeldiskursiver Vorgaben zu setzen, wie dies in der erstgenannten Abhandlung geschieht, kann sich allenfalls eine Autorität wie das Bundesverfassungsgericht unter Wahrung eines hohen argumentativen Aufwandes und unter Hinnahme scharfer Kritik der Rechtswissenschaft leisten. Doch auch dieses Gericht, vor allem aber andere Kommunikationsteilnehmer werden in aller Regel bemüht sein, kommunikative Distanz einzuholen, indem sie sich soweit irgend möglich, auf jene Positionen berufen, die im rechtlichen Diskurs bereits eine weitgehende Verfestigung erfahren haben. Auch dies erzeugt Stabilität. Soweit individuelle Selbstbestimmung als zentrales Kriterium des Umgangs mit genetischen Daten konstituiert wird, werden Betroffene zu Entscheidern, so daß der strukturelle Risikokonflikt zunächst stillgelegt ist. Auch darin liegt ein Stabilisierungseffekt begründet. Vor allem politischen Risikodiskursen wird damit ein Teil ihrer moralisierend-anklagenden Basis entzogen. Da normative Vorstellungen von Eigenverantwortung und Gesundheit soziale Zwänge entfalten, denen man sich individuell nur schwer entziehen kann, wird sich die oben beschriebene Präferenz für ein individualistisches Verständnis von Menschenwürde trotz aller Möglichkeiten, im Einzelfall Verbote zu begründen, tendenziell eher forderlich auf die Inanspruchnahme humangenetischer Technologien auswirken. Absolute Anwendungsverbote sind mit dieser Konzeption kaum zu begründen. Gesundheit als Basiswert begünstigt individualitätszentrierte Präventionskonzeptionen, die Genanalysen als Mittel selbstverantworteter Vorsorge erscheinen lassen. Die Möglichkeit, individuell, ja" oder „nein" zu sagen, setzt bereits voraus, daß die betreffende Technologie zur konkreten Anwendung bereitsteht. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung hat sich allen finsteren Szenarien der Technologiebefürworter zum Trotz definitiv nicht als Technologiehemmnis erwiesen.
2. Konsequenzen kollektivistischer Verständnisse von Menschenwürde: Abwägungsresistenz des Menschenwürdegrundsatzes Auch wenn individuelle Selbstbestimmung im Kontext Humangenetik als zentraler Menschenwürdegehalt auszumachen ist, im rechtlichen Diskurs also der Grundsatz persönlichkeitsrechtlicher Selbstbestimmung dominiert, bedeutet das nicht, daß das kollektivistische Verständnis des Menschenwürdegrundsatzes ganz ohne Bedeutung bleibt. Verbote, genanalytische Verfahren zu nutzen, werden zwar nicht grundsätzlich, aber unter Umständen doch in „hard cases" zulässig sein. Geht man davon aus, daß sich die individualistische Lesart der Menschenwürde im Grundsatz persönlichkeitsrechtlicher Selbstbestimmung auflöst, wird also die entscheidende rechtsdogmatische Frage sein, welche Rechtspositionen rein persönlichkeitsrechtlich fundiert und damit verfügbar sind und welche aufgrund ihres Menschenwürdegehalts unverzichtbar, abwägungsresistent gehalten, einer unwider-
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ruflichen Verfügung unzugänglich und damit - für die Betroffenen jedenfalls unverwertbar sind. Verschränkt mit Vorstellungen einer unantastbaren menschlichen Natur, reproduzieren kollektivistische Lesarten des Menschenwürdearguments in Deutschland eher technikrestriktive Wertigkeiten. Sie begründen rigorose Verbote, zumal die Technologien der Humangenetik stets das Argument der schiefen Bahn aufwerfen: Ist die konkrete Anwendung erst einmal zugelassen, besteht die Gefahr allmählicher Ausweitung zu Zwecken positiver Eugenik331. Offenbar - das zeigen die oben referierten, vielfältigen Variationen der Grundmythen menschlicher Formung menschlicher Natur - „ist die »Natürlichkeit4 des Menschen ein unverzichtbarer Bezugsrahmen kultureller Orientierung, der »vorgegeben4 bleiben muß und nicht in die Beliebigkeit technischer Projektionen abgleiten darf 4 3 3 2 , weshalb gegenwärtig das Bedürfnis überwiegt, „zu betonen, daß die Selbstmanipulation des Menschen nicht beliebig sein darf, sondern einer inhaltlichen Rechtfertigung durch einen akzeptablen Zweck bedarf 4333 . Beispielsweise ließe sich ein Verbot der genetischen Manipulation am Körper zu rein ästhetischen oder frivolen Zwecken größerer Schönheit oder Leistungsfähigkeit in Deutschland unter Berufung auf die menschliche Würde derzeit wohl ebenso rechtfertigen 334, wie das sich abzeichnende Verbot der Genanalyse im Bereich des Versicherungswesens335. Demgegenüber können gentechnische Verfahren, die der Gesundheit durch Prävention schwerer Erkrankungen dienen, zumindest mittelfristig damit rechnen, daß ihnen die Berufung auf eine kollektivistisch verstandene Menschenwürde nicht (mehr) entgegengesetzt werden kann. Restriktionen, vor allem aber absolute Verbote lassen sich nur noch schlecht begründen und sind daher nicht dauerhaft durchhaltbar, wenn Gesundheitsinteressen gegen sie vorgebracht werden können336. Derzeit ist die Keimbahntherapie in Deutschland verboten und tabuisiert. Sollte sie allerdings erst einmal technisch funktionieren, wird sich das Verbot zumindest hinsichtlich schwerer, Leid verursachender Defekte kaum halten lassen337. Das ändert nichts am bremsenden und damit zugleich stabilisierenden Effekt von Tabus, die im Sinne eines weitgehenden gesellschaftlichen Konsenses öffent331 332 333 334
Vgl. / Reich 1997: 139 ff. van den Daele 1997: 89. van den Daele 1997:91. Vgl. etwa Herdegen 2001: 778 zur Präimplantationsdiagnostik.
335 Vgl. die Entschließung des Bundesrats v. 10. 11. 2000 gegen die Verwertung von Genomanalysen in der Privatversicherung, BR-Dr. 530/00. Der Teilverzicht, den die Unternehmen des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. durch ihre freiwillige Selbstverpflichtungserklärung zur Durchführung und Nutzung prädikativer Gentests (VersR 2002, 35) mittlerweile bis zum 31.12. 2010 verlängert ausgesprochen haben, ist Ausdruck dieser Tendenz und dürfte v. a. darauf zielen, Residualräume für die Nutzung zu sichern. 336 Zudem kann, was heute als gesund und normal gilt, schon morgen als krank oder krankmachend gelten. 337 Ähnl. die Einschätzung bei J. Reich 1997: 138 ff.; van den Daele 1997: 90.
Teil 4: Persönlichkeitsrechtsentwicklung
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lieh kommuniziert werden. Da sich normative Orientierungen in aller Regel mit geringerer Geschwindigkeit wandeln, als technologische Möglichkeiten eröffnet werden 338, wirkt sich das über den Menschenwürdegrundsatz in den juristischen Diskurs eingespeiste Tabu der Natürlichkeit in jedem Fall stabilisierend aus, auch wenn sich seine Inhalte entsprechend dem Wandel gesellschaftlicher Lebenslagen und der sozialen Muster gelungener Lebensführung allmählich ändern. Selbst wo sie zu weichen drohen, wie dies beispielsweise derzeit in der Diskussion um die Verwendung klonierter Stammzellen zu Forschungs- und Heilungszwecken oder der Präimplantationsdiagnostik der Fall ist, werden Argumentationslasten begründet, muß im Diskurs ein Austausch darüber erfolgen, welche Optionen weiterhin tabuisiert und welche verfügbar sein sollen - möglichst aufgrund eigenverantwortlicher Selbstbestimmung der Betroffenen.
3. Rechtliche Stabilität als Vorbedingung wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Dynamik Zusammenfassend läßt sich konstatieren, daß der Grundsatz der Menschenwürde und die aus ihm abgeleiteten Tabus und Selbstbestimmungspostulate einen nicht zu unterschätzenden Struktureffekt haben, der sich auf rechtlicher Ebene stabilisierend und damit für die Subsysteme Wissenschaft und Wirtschaft dynamisierend auswirkt. Dynamik in Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft hat zur Vorbedingung, daß zumindest mittelfristig mit rechtlich stabilen Verhältnisse gerechnet werden kann. Spätestens auf der Ebene kommerzieller Verwertung droht dieser Dynamik eine erhebliche Bremsung, solange unklar bleibt, nach welchen Kriterien die Anwendung der neu gewonnenen Handlungsoptionen erlaubt bzw. verboten sein wird. Neue technische Möglichkeiten schaffen einen erheblichen Entscheidungs- und Orientierungsbedarf. Stabile Erwartungen können in ausdifferenzierten Gesellschaften, in welchen „Freiheiten nicht mehr durch gemeinsame Zielvorstellungen abgesichert sind" 339 , letztlich nur ausgebildet werden, wenn das Recht als Garant generalisierter Erwartungsbildung sicherstellt, daß bestimmte Geschehnisse und Handlungsverläufe wahrscheinlich und andere unwahrscheinlich sind und daß diese Erwartung allenfalls punktuell enttäuscht wird 340 . Dies ist nur möglich, weil der rechtsspezifische Wechsel von Stabilität (nicht Statik!) anders und mit anderer Geschwindigkeit erfolgt, als wissenschaftliche und technische Entwicklungen sowie deren Durchsetzung auf dem Markt und in ihren konkreten Anwendungsbereichen. Grundlegende Regeln dürfen sich nur allmählich verändern. Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Recht prozessieren notwendigerweise vor jeweils unterschiedlichen Zeithorizonten341. Ein primär auf kollektives Lernen 338 s. o., § 1 V., bes. in und bei Fn. 89, § 6IV. 4. und § 7 H 3. 339 Luhmann 1981b: 130. 340 s. o., § 6IV. 3. 341 s. o., § 1 V., § 1 VI., § 6 IV. 4., § 7 II. 3., § 7 IV. Oben (§ 8 I. 2., Fn. 44) war das Beispiel eines Fußballspiels bemüht worden. Es reicht nicht, daß der Ball rund ist, spielwillige
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ausgerichtetes Recht, das allein durch Expertenentscheidungen oder prozedural abgesicherte fallbezogene Konsensentscheidungen zustandekommt, intern also keine stabilen Eigenwerte ausbildet, würde die gesamte Gesellschaft unzumutbaren Unsicherheitszumutungen aussetzen. Rechtsspezifische Stabilität und damit Redundanz sind auch und gerade in neu entstandenen Problemfeldern notwendig, weil sonst Erwartungsbildung unmöglich ist - sowohl innerhalb als auch außerhalb des Rechtssystems. Keinesfalls darf man Stabilität im Recht mit Verboten oder anderen Restriktionen für Technik und deren Verwertung verwechseln. Man könnte meinen, angesichts des strukturellen Apriori für Technikanwendung342, also des Grundsatzes, daß erlaubt ist, was nicht verboten ist, sähen sich zumindest Nachfrager und Anwender nicht gebremst, solange keine nachfragemindernden Aspekte öffentlich thematisiert werden und die Legislative keine Restriktionen schafft. Dies trifft indes nicht zu. Zum einen steht in Frage, in welchem Umfang bestimmte Anwendungen überhaupt umstandslos den tatbestandlich vertypten Kategorien des Vertragsund Patentrechts unterliegen und somit effektiv geschützt und verwertet werden können. Wem soll das Recht zustehen, kommerzialisierbare Ergebnisse von Genanalysen zu verwerten? Zum anderen entsteht eine zumindest partiell bremsende Unsicherheit über die mittelfristigen Anwendungs- und Verwertungsbedingungen, sobald in einer breiten Öffentlichkeit Risiken und gegenläufige Interessen thematisiert werden. Denn dann kann nicht ausgeschlossen werden, daß in absehbarer Zeit rechtliche Regulierungen erfolgen, die Anwendungen ausschließen oder einer gewinnbringenden Verwertung entgegenstehen. In welchem Umfang diese technikrestriktiv sind, ist daher, sofern nicht absolute und vollständige Verbote ergehen, zunächst einmal nachrangig.
4. Rechtswissenschaftliche Normbildung als Stabilitätsgarant Soweit man überhaupt von einem Wettrennen zwischen Technik und Recht sprechen kann 343 , ist es jedenfalls nicht notwendig eines zwischen Hase und Igel. Sobald Chancen und Risiken in öffentlichen Risikodiskursen thematisiert werden und damit gesellschaftliche Realität erlangen 344, entstehen rechtliche Strukturen, die neue Techniken und ihre Anwendung limitieren. Auch in von der Gesetzgebung weitgehend unberührten Bereichen besteht nicht lange ein Zustand diffuser Varianz. Vielmehr erzeugen rechtswissenschaftliche Diskurse erstaunlich schnell Personen auf einem Feld zwischen zwei Toren stehen und alles bis hin zur Prügelei möglich ist. Man benötigt Regeln, die, damit zügig gespielt werden kann, Bestand haben müssen. Soweit sie geändert werden, muß „das Tempo, in dem dies geschieht, ( . . . ) wesentlich langsamer sein, als der eigentliche Spielverlauf" (Bonus 1998: 41; Hervorh. im Orig., D.M.). 342 s. o., § 1 V. und VI.
343 s. o., § i v.-vn. 344 s. o., §§ 2 und 7.
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Teil 4: Persönlichkeitsrechtsentwicklung
Redundanz, also einen Zustand vergleichsweise großer Stabilität, der Orientierung ermöglicht. Noch gibt es für die Frage, was im Bereich der Genanalyse rechtlich zulässig ist, wem Ergebnisse zu welchem Zweck zustehen und wem nicht, wie weitreichend die Träger genetischer Daten über diese verfügen dürfen, keine prognosesicheren Antworten, wohl aber rechtstypische Erwartungswahrscheinlichkeiten, womit zu rechnen ist. Die Einwilligung des Betroffenen, seine Daten zu nutzen, mag nicht ausreichen, sie ist aber keinesfalls entbehrlich. Zu ihrer Wirksamkeit als Rechtfertigungsgrund für Datenerhebung und -Verwendung müssen die klassischen Voraussetzungen, also eine entsprechende Erklärung des Berechtigten, Einwilligungsfähigkeit, Abwesenheit äußeren Zwangs, umfassende Aufklärung und Einhaltung der Zweckbindung vorliegen. Innerhalb des Anwendungsbereichs Genanalyse mag jedes einzelne Merkmal problemspezifischer Ergänzungen bedürfen, doch sind diese zumindest teilweise im rechtswissenschaftlichen Diskurs bereits abgearbeitet. So dürfte es unstreitig sein, daß angesichts der weitreichenden Konsequenzen, die das Wissen um die eigene genetische Disposition für Lebensentwurf und Selbstverständnis haben kann, über diese Konsequenzen umfassend und von einer Person mit ausgewiesener humangenetischer Beratungskompetenz aufzuklären ist 345 . Stabilität als Limitierung des Möglichen beruht nicht allein darauf, daß Neues wiederholt gedacht und gesagt wird. Sie hat wesentlich zwei andere Quellen: die Anknüpfung an vorhandene systemspezifische Eigenwerte und andere über Texttraditionen erzeugte Evidenzen. Der allgegenwärtige Rekurs auf den Menschenwürdegrundsatz zeigt, daß Evidenz nicht allein durch spezifisch juristische Texttraditionen erzeugt wird. Für existentiell erscheinende Probleme gibt es auch in ausdifferenzierten Gesellschaften mindestens residuale Basisevidenzen, die ihrer narrativen Struktur und affektiven Verankerung nach noch vor aller Orientierung an gesicherten rechtlichen Eigenwerten das faktisch Denkmögliche durch ein normativ Mögliches stark limitieren. Solche Limitierung ergibt sich nicht etwa daraus, weil Recht, konkrete Normativität einfach „da ist", sondern weil sie in intensiven rechtlichen Diskursen, die auch an außerrechtliche Kommunikation anknüpfen, konstituiert wird. Umstandslos wird in der Rechtswissenschaft aufgegriffen, was in außerrechtlicher Risikokommunikation als relevantes und damit regelungsbedürftig erscheinendes Problem benannt wurde. Sofern vorhandene tatbestandliche Typisierungen auf der Matrix rechtsexterner Problembewertungen unzureichend erscheinen, weil sie nach tradierten Begriffsverständnissen nicht vollständig oder zu weitgehend greifen, entsteht auch hier ein fachinterner Risikodiskurs, der sich nicht damit begnügt, rechtliche Argumente auszutauschen, sondern, angeregt durch Medienberichte, 345 Juristischer Konsens bedeutet nicht, daß Mißstände ausgeschlossen wären: Die wenigsten Schwangeren dürften vor einer genetischen Beratung ausreichend informiert worden sein, daß eine Abtreibung als mögliche Konsequenz auch die vorherige, für die Mutter qualvolle Tötung des Embryos im Mutterleib bedeutet.
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fachmedizinische und -philosophische Äußerungen, auf rechtsexterne Bewertungen, vornehmlich solche ethischer Provenienz zurückgreift. Das neu Kommunizierte wird mit vorhandenen Regelstrukturen abgeglichen. Dabei wird die Rechtslage nicht allein rechtspolitisch de lege lata bewertet. Vielmehr werden neue Rechtspositionen als geltendes Recht postuliert, indem tradierte rechtliche Eigenwerte verändert und mit außerrechtlichen Problembewertungen verknüpft werden. Neue Problembewertungen und Argumente ohne einen solchen Abgleich als rechtliche zu kommunizieren, wäre zu unsicher und hätte angesichts der starken Präferenz für Eigenwerte im juristischen Diskurs wenig Chancen auf Zustimmung. Um die kommunikative Distanz zwischen der eigenen Position und dem, was als gesichertes Recht gelten kann, möglichst gering zu halten, muß man sich um möglichst weitgehende Verknüpfungen bemühen. Da dies ein Prozeß ist, in welchem rekursiv aufeinander Bezug genommen wird, sich Kommunikation an Kommunikation knüpft, entstehen teilweise vergleichsweise stabile Ansätze für neue Eigenwerte, die, obwohl ihnen das Symbol der Rechtsgeltung fehlt, gerichtliche Begründungsmöglichkeiten (und damit auch deren Entscheidungsmöglichkeiten) limitieren. Keine Richterin, kein Richter wird daran vorbeikommen, daß es ein im rechtswissenschaftlichen Diskurs konstituiertes, persönlichkeitsrechtliches „Recht auf Nichtwissen" und wohl auch ein solches auf genetische Selbstbestimmung gibt. Beide genießen Vorrang vor allen außerrechtlich formulierten, befürwortenden oder ablehnenden Argumenten von Wirtschaft oder Natur- und Sozialwissenschaft. Limitierung ist insoweit nicht etwa nur restriktive Beschränkung. Sie ist dies auch, weil demjenigen, der hier abweichen will, Begründungslasten entstehen, denen sich, wie wir gesehen hatten, auch Obergerichte nicht dauerhaft entziehen können. Zugleich bietet Limitierung jedoch Orientierung. Es ist nicht etwa alles möglich, vielmehr ist bereits weit vor jeder gerichtlichen oder gesetzgeberischen Entscheidung der Rahmen des Möglichen vorgegeben. Kein Gericht muß sich der Mühsal unterwerfen, aus der Fülle der in öffentlichen Risikodiskursen vorgebrachten Argumente das Passende herauszusuchen. Es kann an spezifisch Rechtliches anknüpfen und es der eigenen Alltagsplanung überlassen, wie weit es in seiner Begründung ausgreift, ob es eine knappe, apodiktische, mit Literaturnachweisen gesicherte Ableitung genügen läßt oder aber sein Reservoir an Zeit und Arbeit ausschöpft, weiter ausholt und die in der rechtswissenschaftlichen Literatur ausgebreiteten Argumente Revue passieren läßt und abarbeitet. Nur eines wird mit Sicherheit nicht geschehen: daß ein Gericht die argumentativen Möglichkeiten, welche zugleich Beschränkungen sind, unberücksichtigt läßt und etwas in weitem Umfang originär Eigenes schafft. Wie im Einzelfall entschieden wird, läßt sich vielleicht nicht mit großer Sicherheit prognostizieren, wohl aber, wo die (noch breite) Straße verläuft, auf deren Pflaster sich eine Begründung halten muß, will sie mittelfristig Bestand haben.
Teil 5
Fazit § 12 Persönlichkeitsrechtsentwicklung als Normbildungsprozeß im Kontext von Risikodiskursen ,Jch glaube, Erklärungen sind nur eine Erfindung, damit wir uns sicher fühlen. Ohne Erklärungen bekommen wir Angst vor einem völlig sinnlosen Chaos, das jeden von uns jederzeit treffen kann."1
Möglich ist vieles. Sobald wir die vordergründigen Selbstverständlichkeiten unseres Alltags verlassen, wird deutlich, wie wenig sicher erwartet werden kann, wie prekär und voraussetzungsvoll das halbwegs reibungslose Funktionieren unseres Rechtssystems wie aller gesellschaftlichen Ordnung ist. Man muß dazu nicht notwendig anders organisierte Gesellschaften betrachten. Partielle Zusammenbrüche von Rechtsstaatlichkeit und sozialer Ordnung, Korruption, Nepotismus, soziale Desintegration und Klientelismus sind in modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften auch jenseits gewaltförmiger Krisen keine völlig randständigen Phänomene. Auch ist unsere Gesellschaft darauf angelegt, beständig und hochdynamisch ihren eigenen Wandel voranzutreiben. Sie unterminiert so ihre eigene Stabilität. Fortwährend entstehen neue Handlungsbereiche, in welchen nicht auf einen festen Bestand an Handlungsroutinen und Normen zurückgegriffen werden kann, in denen also Erwartungssicherheit nicht garantiert ist. Angesichts der unabsehbaren Kontingenz sozialer Ereignisse und der unüberschaubaren Komplexität sozialer Zusammenhänge muß es geradezu erstaunen, daß immer wieder die Vielfalt des Möglichen limitierende und damit orientierungsleitende Strukturen entstehen. Die meisten sozialwissenschaftlichen Arbeiten versuchen, für den schmalen Ausschnitt ihres Gegenstandsbereichs die Frage nach den Mechanismen solcher sozialen Ordnung zu beantworten, oft in Anlehnung an eine oder mehrere Metatheorien der modernen Sozialwissenschaft. Auf der Matrix einiger solcher Theorieangebote, u. a. Michel Foucaults Überlegungen zur Ordnung von Diskursen und der Systemtheorie Niklas Luhmanns, habe ich hier für einen kleinen Bereich herauszuarbeiten versucht, wie sich Recht als kommunikativer Zusammenhang ändert und reproduziert, wie rechtliche Diskurse eine Ordnung entfalten, die rechtliche i Der Mörder Inspector Cray im Spielfilm „Nightwatch" (USA 1997, Drehbuch: O. Bornedal / S. Soderbergh).
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Begriindungsmöglichkeiten und damit indirekt auch rechtliches Entscheiden limitiert und dennoch für Wandel offenhält. In Abweichung vom juristisch Gebräuchlichen habe ich dabei weitgehend in der ersten Person Singular oder, Leserin bzw. Leser vereinnahmend, im Plural formuliert. Eine Subjektivität ausblendende, objektivitätsheischende Perspektive ist das Privileg dogmatischer Arbeiten2. Demgegenüber findet sich hier keine Darlegung, wie mit den Möglichkeiten, die uns genanalytische Verfahren bieten, rechtsdogmatisch korrekt und zwingend zu verfahren sei, sondern lediglich eine Beschreibung, wie neues Recht entsteht, indem im juristischen Diskurs formuliert wird, was richtiges Recht ist. Selbstverständlich zielt auch diese Arbeit auf Zustimmung. Doch bietet sie nur ein sich auf aktuelle Theorieangebote beziehendes Erklärungsmodell. Vermutlich könnte man auch anders beschreiben, welche Bedeutung juristische Argumentation in ihren unterschiedlichen, historisch geronnenen Formen für Stabilität und Dynamik des Rechts hat, mit anderen Kriterien, anderen Unterscheidungen, an anderen Beispielen.
I. Technische Innovationen und individuelle Selbstbestimmung Über kurz oder lang wird es vermutlich technisch möglich sein, lebensfähige menschliche Klone zu erzeugen. Ob, wo und in welchem Ausmaß dies zulässig oder verboten sein wird, ist zur Zeit noch weitgehend offen. Wie mit den expandierenden technischen Möglichkeiten, die moderne genanalytische Verfahren bieten, umzugehen ist, wer über ihre Veranlassung und über die Nutzung und Verwertung der so gewonnenen Daten zu entscheiden hat, erscheint angesichts der faktischen Zugriffsmöglichkeiten nicht ganz so offen. Ist also doch nicht alles möglich? Oder hat der technische Fortschritt, haben Wissenschaft und ökonomische Verwertungsinteressen eine unhintergehbare Definitionsmacht? Gewiß ist das vielstrapazierte Bild eines der davoneilenden Technik mühsam hinterherhinkenden Rechts übertrieben, sogar falsch, soweit damit ausgeblendet wird, daß es nicht zuletzt die Grundstrukturen unseres auf formaler Freiheit seiner Rechtssubjekte beruhenden Rechtssystems sind, die Technik als dynamischen Prozeß fortwährender Entwicklung ermöglichen. Der Blick auf die Normstruktur negatorischer Freiheitsgrundrechte und rechtlich konstituierter Freiheitsgarantien hat gezeigt, daß hier eine strukturelle Asymmetrie angelegt ist, die es tendenziell 2 Sie findet eine merkwürdige Entsprechung sowohl bei Luhmann als auch bei Foucault, denn weder Kommunikationssysteme noch Diskurse kennen einen Autor. Die Ausblendung des Subjekts, besser: von Subjektivität, erscheint mir als unangemessen überspitzte Betonung der Übermacht sozialer Systeme. Noch Marx war dialektischer, als er konstatierte, Geschichte vollziehe sich hinter dem Rücken ihrer Subjekte. Subjektivität als emotional und damit körperlich Verankertes bleibt, das unter anderem habe ich hier zu zeigen versucht, ein wesentlicher Motor gesellschaftlicher Veränderung, mögen auch individuelle Intentionen weit hinter jener Wirkmacht zurückstehen, die eine emergente Eigenlogik systemischer Kommunikation entfaltet.
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Teil 5: Fazit
begünstigt, neue technische Möglichkeiten zu entwickeln, zu nutzen, auf den Markt zu bringen und zu verwerten. Insbesondere rechtlich konstituierte Freiheiten, aber auch der fremde Eingriffsmöglichkeiten limitierende Bewehrungsaspekt negatorischer Freiheitsgrundrechte sind v. a. in regelförmigen rechtlichen Tatbeständen ausdifferenziert formiert. Deren Formalität öffnet bislang ungekannten Optionen freien Handelns die Zukunft. Formalität in diesem Sinne bedeutet, daß nur bestimmte, auf Basis der Erfahrungen der Vergangenheit tatbestandlich vertypte Aspekte für die rechtliche Bewertung relevant sind. Nur insoweit werden zukünftige Möglichkeiten eingeschränkt und kalkulierbar. Alles übrige aber soll irrelevant sein, wird also ohne rechtliche Zeitbindung zukunftsoffen der freien Verfügbarkeit der Rechtssubjekte überantwortet. So kann man faktisch zuhandene (neue) Möglichkeiten nutzen, soweit sie nicht an bestehende Verbote rühren. Und man kann auf der Basis rechtlich konstituierter Freiheiten Verträge schließen, kann das ganze staatlich garantierte Ensemble zivilrechtlicher Regelungen nutzen, um jene Möglichkeiten zu verwerten. Die faktische Wahrnehmung neu entstandener technischer Möglichkeiten klinkt sich somit in vorhandene rechtliche Normstrukturen ein und erweitert deren Wirkungsraum. Dagegen sind Restriktionen solcher Freiheiten nicht ohne weiteres vorhanden. Oft setzen die innerhalb der juristischen Diskursgemeinschaft tradierten Verständnisse tatbestandlich typisierter Restriktionen keine oder als unzureichend empfundene Grenzen. Solche Grenzen müssen dann neu konstituiert werden. Einschränkungen von Freiheit sind jedoch stets zu rechtfertigen. Integritätsinteressen, aber auch Verwertungsinteressen, die sich darauf richten, den freien Umgang mit neuen Optionen zu limitieren, erlangen rechtlich nur dann Geltung, wenn sie als Rechtsposiiiontn internalisiert werden. Welche von vorhandenen Tatbeständen nicht oder nur unzureichend erfaßten Aspekte des überraschend Neuen rechtlich relevant sein, als neue Relevanzkriterien rechtlicher Formalität in Recht transformiert werden sollen, muß erst einmal ausgehandelt werden - in der Politik oder im Rahmen rechtlicher Diskurse. In § 1 hatte ich den Unterschied am Beispiel unterschiedlicher Eingriffsdimensionen eines Gentests beschrieben: Wer einen solchen vornehmen will, muß sich Körpermaterial verschaffen. Das geht ohne Einwilligung des Betroffenen nur in engen Grenzen. Hinsichtlich vom Körper getrennter Teile ist er zunächst einmal ausschließungsbefugter Eigentümer. Die Blutentnahme erfordert als tatbestandliche Körperverletzung nach dem im juristischen Diskurs tradierten Textverständnis seine Einwilligung oder eine gesetzliche Ermächtigung. Jenseits aller vorherigen Befassung mit den neuen technischen Möglichkeiten stoßen diese also durchaus auf vorhandene, tatbestandlich typisierte Grenzen. Jedoch bedarf es, soweit nicht staatliche Eingriffe in Rede stehen, keiner darüber hinausgehenden Rechtsgrundlage, solange es kein entsprechendes Urteil gibt, keine entsprechende gesetzliche Regelung oder wenigstens eine entsprechende gefestigte Mehrheitsmeinung im juristischen Diskurs. Jenen, die neue technische Möglichkeiten schaffen oder anwenden, steht daher rechtlich vieles offen. Die davon direkt oder indirekt betroffenen Rechtssubjekte
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sind durch diese Offenheit tendenziell benachteiligt. Sie werden ungefragt entweder beeinträchtigt oder durch neue Angebote als potentielle Nachfrager in einen entscheidungsbedürftigen Möglichkeitsraum geworfen. Sofern überhaupt restriktive Normen einschlägig erscheinen, obliegt ihnen zumindest der Nachweis, in eigenen Freiheiten beschränkt zu sein. Das ist nicht allein ein Problem prozessualer Darlegungs- und Beweislast, sondern vor allem eines der Normgenerierung. Verbote müssen sich durch argumentative Ableitung zu vorhandenen Normen rechtfertigen lassen, und diese Ableitung muß geeignet sein, Zustimmung zu finden. Gespiegelt, überlagert und verstärkt findet sich diese strukturelle Asymmetrie imrisikotypischenDissens zwischen Anwendern und Betroffenen neuer Techniken. Was für Anwender selbstgesetztes Risiko darstellt - insofern werden sie zutreffend auch als Entscheider bezeichnet - ist für die Betroffenen eine fremdverursachte Gefahr, der sie ausgesetzt sind. Die Entwicklung moderner genanalytischer Verfahren liefert dafür einen deutlichen und sehr doppelbödigen Beleg. Aus Krankheit als schicksalhafter Gefahr werden genetische Krankheitsdispositionen, also Risiken, die weit vor jedem manifesten Krankheitsausbruch vor allem individuell zu verantwortende Entscheidungen aufoktroyieren: Entscheidungen über Vorsorge, Lebensplanung und nicht zuletzt über den Umgang mit Daten, die teilweise zugleich für andere, vornehmlich Blutsverwandte, relevant sein können. Insoweit sind wir Entscheider. Doch sind wir dies nicht aus freien Stücken. Es waren andere, die, ohne uns zu fragen, die technischen und ökonomischen Möglichkeiten dazu geschaffen haben. Leicht können es andere sein, die uns ungefragt unsere eigenen Daten und damit existentielle Entscheidungszwänge zumuten, so daß wir auch insoweit zu Betroffenen werden. DerleirisikotypischeWahrnehmungsbrüche bestimmen wesentlich die Frontverläufe und die Dynamik von Beobachtung und Gegenbeobachtung öffentlicher wie halböffentlicher Risikodiskurse über die Gefahrendimensionen und Chancen neuer technischer Möglichkeiten. Sie führen zu einer starken Moralisierung der Kommunikation über Risiken, deren Kennzeichen in unserer auf Indivdualität ausgerichteten Gesellschaft ein markanter Zusammenhang von Angst vor Fremdkontrolle und Forderungen nach Selbstbestimmung ist. Einigkeit besteht dabei in der Regel allenfalls insoweit, als rechtlicher Regelungsbedarf angemahnt wird. Solche Forderungen sind nicht zwangsläufig technikrestriktiv, da an einer Zuordnung neuer Verwertungspositionen, die von bestehenden Rechtskategorien nicht erfaßt werden, auch Anwender und Nachfrager technologischer Innovationen interessiert sind. Da jedoch Entscheider potentiell Profiteure der zukunftsoffenen und tendenziell für Innovation optierenden Seite unseres Rechtssystems sind, ist wesentlicher Gegenstand von Risikodiskursen stets v. a. die Frage, ob und inwieweit deren Entscheidungsmacht rechtlich gebremst oder gebrochen werden muß. Werden neuartige Gefährdungs- und Verwertungsformen in Risikodiskursen in einer Weise thematisiert, die bestehende Regulierungen defizitär erscheinen läßt, wird die Forderung nach neuen Rechten virulent. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis der modernen Risikosoziologie, daß Risiken keine informationsbasierter Definition oder Auflösung zugängliche
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Teil 5: Fazit
Entitäten sind, sondern stets Produkt spezifischer Zurechnung bestimmter Beobachter, die erst dann verhaltensrelevante gesellschaftliche Realität werden, wenn sie kommuniziert werden. Als Retter, als Adressat, gegenüber dem Betroffene immer neue techniklimitierende Rechte geltend machen, erscheint der Staat in seiner wohlfahrtsstaatlichen Ausprägung als Vorsorge-, Versicherungs- und Sicherheitsstaat. Staatliche Institutionen, an vorderster Front die Gerichte, sollen insbesondere die individuelle Autonomie der Betroffenen garantieren oder wiederherstellen, wenn diese durch neue technische Möglichkeiten gefährdet erscheint. Da legislative Anpassung zeitintensiv ist und Konsens erfordert, werden oft, noch vor jeder Gesetzgebung, wesentliche Weichen durch Rechtswissenschaft und Gerichte gestellt. Der Zuschnitt unseres Zivilrechts- wie unseres Grundrechtssystems ist individualistisch. Das macht seine Lösungen so verführerisch wie ihre Reichweite beschränkt. Geklagt wird individuell. Es bedarf dazu keiner politischen Mobilisierung oder der Organisierung von Interessen3, auch wenn es von Vorteil sein dürfte, wenn öffentliche und veröffentlichte Risikodiskurse das individuelle Interesse als berechtigtes thematisieren. Die Grundrechte sind im wesentlichen solche des bürgerlichen Individuums, wurzeln also in einem voraussetzungsvollen, historisch gewachsenen Modell individueller Autonomie. Ein weiteres verstärkt diese strukturell angelegte Tendenz zur Individualisierung gesellschaftlicher Konflikte: Der Verlust an Sicherheit, der Entscheidungs- und Orientierungsbedarf, der mit den neuen technischen Möglichkeiten einhergeht, wird individuell meist als angsterzeugender Kontrollverlust erlebt. Im Kontext Genanalyse wird dieser Effekt dadurch verstärkt, daß genetische Daten in den Händen Dritter Ausgrenzung und Stigmatisierung, Beschränkungen bei Partnerwahl, Familienplanung, Arbeitsplatz, etc. nach sich ziehen können. Genetisch Abweichende werden leicht zu diskreditierbaren Personen. Um gar nicht erst in Situation von Stigmatisierung oder Diskriminierung zu geraten, bedienen sich diskreditierbare Personen in aller Regel Strategien der Informationskontrolle, die damit zum Management der eigenen Identität und Biographie werden. Auch hat die kulturtheoretisch orientierte Risikoforschung gezeigt, daßrisikoaverse Haltungen wesentlich davon abhängen, in welchem Maß Risiken als fremdgesetzt und damit als der eigenen Kontrolle entzogene Gefahr erscheinen. Risikodiskurse, die entsprechende Ängste in einer andere soziale Differenzen einebnenden Weise für normative Forderungen in Dienst nehmen, verstärken diese Tendenz. Dieser risikotypische Zusammenhang von Angst vor Fremdbestimmung und Kontrollbedürfnis verleiht Forderungen nach individueller Selbstbestimmung und damit nach rechtlicher (Wieder-)Herstellung individueller Kontrolle eine geradezu körperlich empfundene Evidenz. Das gilt für die Risikodiskurse über die Gefahrdungen von Intimität und Privatheit durch die Möglichkeiten technischer Bild- und Tonaufzeichnungen 3
Die Klage von Organisationen ist ein Ausnahmefall, der organisationsfähige Interessen zur Bedingung hat und dazuhin, sofern im Interesse repräsentierter Dritter geklagt werden soll, zuvor rechtlich konstituiert sein muß.
§12 Persönlichkeitsrechtsentwicklung als Normbildungsprozeß
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ebenso, wie für die Risikokommunikation über die Gefahrdungen moderner Gentechnik respektive Genomanalyse. Gefragt sind demnach individuell verfügbare Rechtspositionen. Schließlich ist individuelle Autonomie, verstanden als selbstgenerierende Verfügung über die eigene Identität, die zentrale Forderung der Moderne, verfestigt gleichermaßen in den kulturell prägenden Narrativen und nichtdiskursiver Alltäglichkeit wie in den individuellen, affektiv verfestigten Selbstverständnissen, die mit körperlich fundierten Ängsten vor Kontrollverlusten einhergehen. Daß dies insbesondere für Handlungsbereiche gilt, die, wie die Genanalyse, den Körper als Basis individueller Identität betreffen, liegt auf der Hand.
II. Regeln und Prinzipien im Kontext von Risikodiskursen Das Rettende in Form rechtlich generierter Selbstbestimmung aber wächst nicht schon ohne weiteres mit der Gefahr. Die in unserem innovationsoffenen Rechtssystem selbstläufigen Rechte auf Entwicklung, Anwendung und Vermarktung neuer Techniken lassen sich nur limitieren, wenn sich neue, gegenläufige Rechtspositionen begründen lassen, und zwar in einer Weise, die Gerichte überzeugt. Was aber überzeugt? Was erscheint evident oder doch wenigstens plausibel? Überzeugend, das war bereits in der antiken Rhetorik geläufig und findet seinen Beleg in den Erkenntnissen der Wahrnehmungspsychologie, ist das, was möglichst eng an das Weltwissen der Zuhörer anknüpft, also an ihre emotiv verfestigten Gewißheiten und damit ganz wesentlich auch an kulturell tradierte Narrative.
1. Regeiförmige Eigenwerte als vergangenheitsorientierte Routine In einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, in welcher Recht einer von Moral, ökonomischer Rationalität und wissenschaftlichem Wahrheitsstreben gesonderten Eigenlogik folgt, sollten Juristinnen oder Juristen vor allem jenen narrativen Evidenzen folgen, die im rechtlichen Diskurs tradiert wurden. Darauf jedenfalls läuft die Theorie der operativ geschlossenen und kognitiv offenen Systeme, wie sie von Niklas Luhmann und anderen vertreten wird, hinaus. Es ist erstaunlich, daß dieser als Jurist ausgewiesene Soziologe Zeit seines Lebens unter Juristinnen und Juristen auf so viel Ablehnung gestoßen ist. Gerade in diesem Geschlossenheitspostulat war er ein leidenschaftlicher Verfechter juristischer Unabhängigkeit und Feind solch unschöner Gemengelagen, wie sie die insbesondere unter Zivilrechtsdogmatikern unbeliebten Prinzipien- und Interessenabwägungen mit sich bringen. Vielleicht beruhte die Ablehnung darauf, daß Luhmann als Rechtspositivist und Apologet sozialer Differenzierung entschieden die Trennung von Recht und Moral postulierte und noch weit vor jeder autopoietischen Wende in seinem Werk „Legitimation durch Verfahren" einen auf die Funktion der Konfliktabsorption reduzierten, emphatischer Gerechtigkeit entkleideten Legitimationsbegriff verwendet hatte. Das hat man ihm wohl nie verziehen. Denn Juristinnen und Ju-
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Teil 5: Fazit
listen wollen nicht nur das gesatzte Recht, sondern Recht und Gesetz (Art. 20 III GG), positives Recht und Gerechtigkeit. Ich meine allerdings, daß dieses juristische Mißtrauen in gewissen Grenzen berechtigt war, trotz des Motivverdachts wohlfeiler Selbstlegitimation, welcher sich unschwer zu Lasten der juristischen Zunft formulieren ließe. Vorliegende Arbeit belegt, daß das Modell einer solch strikten Schließung des Rechts gegenüber außerrechtlicher Kommunikation, wie es die Systemtheorie Luhmannscher Prägung entwirft, wohl keine ausreichende Beschreibung rechtlicher Prozesse liefert. Sie belegt aber zugleich, daß das Modell eines sich an spezifischen Eigenwerten orientierenden rechtlichen Diskurses dennoch seine Berechtigung hat: Im Interesse von Erwartungssicherheit und alltagstauglicher Routine ist das Recht darauf angewiesen, Eigenwerte auszubilden, die sich gegen außerrechtliche Argumentationsmöglichkeiten hermetisieren und für die unter Juristinnen und Juristen eine starke Präferenz besteht. Was rechtfertigt es, von rechtlichen Eigenwerten zu sprechen, zwischen „rechtlich" und „außerrechtlich", rechtlichen und außerrechtlichen Diskursen zu unterscheiden und dabei rechtliche Kommunikation für das Recht als Ganzes zu nehmen? Etwas vereinfacht und auf den Punkt gebracht kann man sagen: Recht ist, was Juristinnen und Juristen als Recht kommunizieren. Strukturen entstehen durch Wiederholung, durch rekursive Prozesse. Recht auf der Grundlage und jenseits der Gesetze - die hier im Anschluß an Foucault als Primärtexte bezeichnet werden entsteht, indem Juristinnen und Juristen beobachten, was andere Juristinnen und Juristen als Recht kommunizieren. Daran orientiert erzeugen sie (weitere) Sekundärtexte, die vorgeben, den authentischen Inhalt der Primärtexte zu reproduzieren. Was in juristischen Zusammenhängen als Normverständnis, Argument oder Argumentationsform tradiert worden ist und somit unter den professionalisierten Mitgliedern der Zunft Präferenz vor anderen, juristisch nicht tradierten normativen Problembeschreibungen, Argumenten und Argumentformen besitzt, ist Recht. Diese Präferenz ist Voraussetzung und Garant für die Ausbildung spezifisch rechtlicher Rationalität, Wahrnehmung, Problembewertung sowie für eine starke Eigenlogik rechtlicher Kommunikation. Gegenüber den Intentionen ihrer Sprecherinnen und Sprecher weist diese Eigenlogik ein emergentes Niveau auf. Ihre systemische Dynamik entzieht sich den stets nur aktuell und fallbezogen entscheidenden und begründenden Akteuren, den Sprecherinnen und Sprechern im juristischen Diskurs. Als emergenter Strukturzusammenhang vermag rechtliche Kommunikation eigene Zeithorizonte sowie eine auch rechtsextern zur Erwartungsbildung genutzte Stabilität auszubilden. Solche Präferenz ist nicht etwa rätselhaften Konsensen oder einer vereinigenden Kraft der Sprache geschuldet. Es handelt sich, wie ich vor allem im zweiten Teil der Arbeit zu zeigen versucht habe, um ein sehr voraussetzungsvolles Phänomen, das auf einer Vielzahl ineinandergreifender sozialer Mechanismen beruht. Zu nennen sind die spezifische juristische Sozialisation jener, die bevorzugt berechtigt sind, im juristischen Diskurs zu sprechen, ferner institutionelle Gegebenheiten, die über Abnahmezwänge Begründungslasten verstärken. Daß Arbeit und Zeit im
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forensischen Alltag knappe Ressourcen sind, erzwingt insbesondere innerhalb des Rechtsstabs einen großen Bedarf an kurzen, routineförmigen Begründungsmöglichkeiten. Weil diese weitgehend am gesicherten Basisbestand gemeinsamer kommunikativer Vergangenheiten der juristischen Zunft anknüpfen, erweisen sie sich aus einer makrosoziologischen Perspektive als redundant: Sie verändern den Systemzustand nicht oder nur in kleinen und kleinsten Schritten durch neue Information, d. h. mit geringfügiger Varianz. Insbesondere jene Strukturen in Konditionalform (Regeln), die in ihrem Bezug auf eine gemeinsame kommunikative Vergangenheit Fallösungserfahrungen kondensieren, eignen sich besonders gut, schnell, also mit geringstmöglichem Aufwand an Zeit und Arbeit Entscheidungen so zu begründen, daß eine Abnahme durch die meist juristisch vertretenen Parteien, höhere Instanzen und die Rechtswissenschaft wahrscheinlich erscheint. Größere Veränderungen, die den Systemzustand kurzfristig deutlich verändern, also große Varianz erzeugen, erfordern demgegenüber begriindungs- und damit zeitund arbeitsaufwendige Begründungsformen. Deren Abnahme durch andere Angehörige der juristischen Zunft ist aufgrund der erheblichen Distanz zu den eigenwertgesicherten kommunikativen Vergangenheiten vergleichsweise unwahrscheinlich, ein Risiko, das ungern und deshalb selten eingegangen wird. Man greift daher zu kurz, wenn man meint, Urteilsbegründungen seien eine die „wahren Gründe" verschleiernde, nachträgliche Selbstlegitimation. Egal, welche Motive in einer Entscheidung wirksam wurden, ihre Begründung ist nicht beliebig. Nicht Motive, sondern Begründungen werden im juristischen Diskurs kommuniziert. Begründungen unterliegen der Kritik der professionellen Diskursgemeinschaft, an sie wird im Fortgang der Kommunikation negativ oder positiv angeknüpft, sie bilden Strukturen aus. In Wechselwirkung mit einer Vielzahl von constraints limitieren die Begründungsmöglichkeiten jeder auf Zustimmung und Abnahme zielenden Entscheidung den Entscheidungsspielraum, zumal dann, wenn die Ressourcen Zeit und Arbeit knapp sind und dies zu möglichst kurzen und dennoch zustimmungsfähigen Begründungen zwingt. Wieviel kommunikative Distanz zu den gefestigten Eigenwerten des juristischen Diskurses aktuell möglich ist, ist zum einen eine Frage der konkreten Abnahmeerfordernisse (von denen selbst Obergerichte nicht frei sind), zum anderen eine solche der Intensität außersystemischer Kommunikation. Regeln (synonym für Konditionalnormen), genauer: ausdifferenzierte Regelgeflechte, stehen somit für Stabilität eines eigenwertgesicherten und damit vergleichsweise präzisen und vergangenheitsgestützten Rechts.
2. Risikodiskurse und rechtliche Dynamik Wollte man hier stehenbleiben, so gäbe es Rechtsentwicklung jenseits kleiner, an Begriffsinterpretation geknüpfter Verschiebungen nur als Gesetzgebung. Große kommunikative Distanz zu bestehenden rechtlichen Eigenwerten bis hin zum Bruch und damit eine verstärkte Internalisierung rechtsexterner Kommunikation wären ausgeschlossen. Dies aber ist offenkundig nicht der Fall. Nicht zuletzt jene 29 Maitra
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Teil 5: Fazit
zunächst auf den konkreten Einzelfall zielenden regelsuspendierenden Begründungen, die sich des Modus der Abwägung von Prinzipien oder rechtlich anerkannter Interessen bedienen, prägen unser Zivilrechtssystem verstärkt seit etwa einem halben Jahrhundert, mag dies auch weiterhin auf Kritik einer rechtspositivistisch orientierten Rechtswissenschaft und eines Teils der systemtheoretisch fundierten Theorie sozialer Differenzierung stoßen. Das Bild hermetisch geschlossener gesellschaftlicher Subsysteme, die nur an den Vorgaben ihrer eigenen Programme orientiert operieren, hat einen Nachteil: Es blendet einen wesentlichen Aspekt jeder menschlichen Entscheidungssituation aus. Erkenntnisse der Hirnforschung sowie der Wahrnehmungs- und Kognitionspsychologie weisen darauf hin, daß Affekte Bewertungsfaktoren und Motoren jeder Entscheidung sind. Subjektiv erlernte Präferenzkriterien sind ebenso wie die kategorialen Wahrnehmungsmuster affektiv markiert. Dies hat zur Folge, daß Situationen, in denen gegenläufige Rationalitäten unterschiedliche Entscheidungen fordern, aufgrund der durch affektive Markierungen geleiteten individuellen Bewertungen entschieden werden. Öffentliche Risikokommunikation rekurriert nicht zuletzt auf kulturell tradierte und damit auch affektiv besetzte Evidenzen, z. B. den Grundsatz der Menschenwürde. Gerade aufgrund ihrer affektiven Markierung sind solche narrativen Figuren besonders geeignet, die hochselektive juristische Präferenz für rechtliche Eigenwerte zu stören, für Irritation zu sorgen und auf diesem Umweg Einbrüche außerrechtlicher Problemwahrnehmungen und -bewertungen in das Recht zu bewirken. Damit denunziert man juristisches Entscheiden nicht als irrational, sondern berücksichtigt lediglich, daß systemische Entscheidungen stets auch solche von Personen sind und folglich schwerlich allein systemspezifischen Programmen folgen. Eine in diesem Sinne konditionale „Programmierung" beruht darauf, daß sie durch ein Zusammenspiel verschiedener, gruppenspezifisch wirksamer constraints zur individuellen Präferenz umgeprägt wird. Diese Präferenz kann im Einzelfall zurückgestellt werden. Gegen Luhmanns Autopoiesiskonzept, soweit es auf der Behauptung beruht, ihre Operationen vollzögen gesellschaftliche Subsysteme ausschließlich entlang den Vorgaben ihrer eigenen Programme, möchte ich daher einwenden, daß Rechtsentwicklung so nur schwer faßbar ist. Diese basiert wesentlich darauf, daß Außerrechtliches ins Recht internalisiert wird - aufgrund affektiv markierter, abweichender Präferenzen der aus den sozialen Systemen seiner Systemtheorie verbannten Subjekte4. 4 Ob man subjektive Präferenzen von Personen in systemtheoretischen Kategorien (struktureller Kopplung soziale und psychischer Systeme, Interpénétration, Perturbation, kognitiver Offenheit) zureichend fassen kann, sei dahingestellt. Ich habe darauf aus mehreren Gründen weitgehend, mit Ausnahme eines Rückgriffs auf Teubners Beschreibung der Interferenz unterschiedlicher Systemrationalitäten, verzichtet: Zum einen wollte ich auf die schwer verständliche Kunstsprache der Luhmannschen Systemtheorie nur zurückgreifen, wo dies erforderlich ist, weil andere Kategorien fehlen. M. E. ist dies vor allem dort der Fall, wo die emergente Eigenlogik von Systemen beschrieben wird. Zum anderen sind Emotionen und
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Präferenzen, auch solche, die eng mit professionellen Selbstverständnissen verbunden sind, können gewechselt oder vorübergehend aufgegeben werden. Regeldiskurse mögen den alltagstypischen Alternativenraum des Entscheiden vorgeben, sie markieren jedoch nicht den gesamten Möglichkeitsraum juristischer Begriindungs- und damit Entscheidungsmöglichkeiten. Juristinnen und Juristen sind in unterschiedlichste Zusammenhänge und Sinnhorizonte integriert. Als Personen und als Rollenträger sind sie nicht nur kognitiv, sondern auch affektiv in unterschiedlichste System- und Kommunikationszusammenhänge einbezogen. Widersprechen die Handlungsimperative aus unterschiedlichen Erfahrungs- und Handlungskontexten, in die sie eingebunden sind, einander, so kommt es zu DoubleBind-Situationen, in welchen der gesamte Möglichkeitsraum ausgelotet wird. Größere Entscheidungsspielräume sind dann erforderlich, weil sich allein mit den eigenwertspezifischen Programmelementen systemeigener Kommunikation jene Entscheidungen nicht begründen lassen, die rechtsextern kommunizierte Problembewertungen und Lösungskonzeptionen dringend nahelegen. In solchen Entscheidungssituationen kann es sich geradezu aufdrängen, rechtliche Begründungen nicht regelorientiert darzustellen, sondern auf abstraktere Rechtsformen, z. B. auf Prinzipienabwägungen, zurückzugreifen. Diese bieten größere Begründungs- und damit zugleich größere Entscheidungsspielräume. Sie ermöglichen, rechtsexterne Problembewertungen und Argumente in die Begründung aufzunehmen, also solche, die im rechtlichen Kontext bislang nicht oder selten thematisiert worden, geschweige denn durch rekursive, wiederholende Bezugnahme zu Eigenwerten geronnen sind. Man kann dieses Problem aus einer eher makrosoziologischen, dem Gesichtspunkt der Systemfunktionalität verhafteten Perspektive betrachten (1), aber auch aus einem eher mikrosoziologischen Blickwinkel, der die Entscheidersituation reflektiert (2). (1) Veränderungen und ihre gesellschaftlich kommunizierte Wahrnehmung vollziehen sich in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsystemen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Im Rechtssystem führt dies zu Problemen. Wenn die Schere zwischen jenem, was außerrechtlich und dem, was im Recht an Entscheidungsgesichtspunkten und Problembewertungen kommuniziert wird, zu groß wird, dann verliert das tradierte Normverständnis, die Art und Weise, wie der Normtext von der juristischen Interpretationsgemeinschaft verstanden wurde, an Selbstverständlichkeit. Es wird für die Normunterworfenen wie für die Rechtsanwender problematisch und damit Gegenstand rechtsinterner wie -externer kritischer Kommunikation. Die lautstark in die verschiedenen Arenen politischer Öffentlichkeit getragene Risikokommunikation zu ignorieren, führt u. U. zu erhebAffekte keine Phänomene, die sich in eine reine Kommunikationstheorie ausreichend einbinden ließen. Auch habe ich Zweifel, daß die Unterscheidung von operativer Geschlossenheit und kognitiver Offenheit in Bezug auf soziale Systeme wirklich trägt, basieren doch beide Mechanismen auf der orientierungsleitenden Beobachtung zwecks weiteren Prozessierens. 29*
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licher Delegitimation. Das kann vor allem dann zum Problem werden, wenn gesetzgeberische Anpassungen des geltenden Rechts nicht erfolgen. Würde sich das Rechtssystem vollständig und ausschließlich an der eigenen Kommunikation, d. h. an seinen eigenwertgesättigten Regelgeflechten orientieren, so würde es sich abkoppeln von dem, was außerhalb des Rechts als gemeinsame Realität kommuniziert wird, und damit mittelfristig dysfunktional. Davon sind wir, soweit ich sehen kann, in Deutschland selbst im Bereich moderner Biotechnologien zur Zeit weit entfernt. Doch kann ein solches Auseinanderdriften durchaus dazu führen, daß der Rechtsweg bei Konflikten nicht beschritten wird, daß Recht im jeweiligen Handlungsbereich als Konfliktlösungsgarant nicht oder nur noch von bestimmten Akteursgruppen nachgefragt wird und in der Folge auch nicht mehr der Bildung generalisierter Erwartung dienen kann. (2) Sich auf vorstehend beschriebene Perspektive zu beschränken, wäre unzureichend. Sie erklärt nicht, weshalb Recht und rechtsexterne Kommunikationen nicht völlig auseinanderdriften, es sei denn, man wollte soweit gehen, dem Recht als Kommunikationszusammenhang umstandslos eine einem Systemimperativ der Funktionalität geschuldete Selbstreflexion zuzusprechen. Daß es zu einem solchen Auseinanderdriften nicht kommt, hat einen anderen Grund, den man nur erfaßt, wenn man berücksichtigt, daß jene, die im juristischen Diskurs sprechen, in unterschiedliche Zusammenhänge und Sinnhorizonte integriert sind und schon aus Gründen innerer Konsistenz vermeiden, daß Double-Bind-Situationen unaufgelöst bleiben. Sicher agieren Personen je nach sozialer Situation und Rolle unterschiedlich. Dies jedoch in Grenzen. Personen agieren als Rollenträger in unterschiedlichen Systemzusammenhängen nicht vollständig gelöst von anderen Bezügen. Sie unterwerfen sich systemischer Eigenlogik nur in Grenzen, insbesondere dann, wenn sie sich normativ rechtfertigen müssen. Das Bild des Richters, der am Vormittag nach § 218 StGB verurteilt und am Nachmittag als Staatsbürger gegen das zu restriktive Abtreibungsrecht demonstriert, mag dem französischen Ideal der Differenz von Staatsdiener und Citoyen entsprechen, ist jedoch eine idealisierende Fiktion. Die Brüche, die Gerichte gegen gefestigte Strukturen der Zivilrechtsdogmatik vollzogen haben, etwa im Rahmen der Bürgschaftsentscheidungen oder bei der Durchsetzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als sonstiges Recht i. S. v. § 823 I BGB, lassen nur den Schluß zu, daß in Einzelfällen die alltagstypisch bevorzugte Orientierung an rechtlichen Eigenwerten zugunsten anderer Präferenzen aufgegeben wird. Das macht den Blick auf das gesellschaftliche Subsystem Recht nicht obsolet. Dessen Dynamik ist nicht die Summe einzelner individueller Entscheidungen und ihrer Begründungen, sondern weist ein emergentes Niveau auf. Wer anders entscheidet, muß kommunikative Distanz zur Systemgeschichte, also den systemspezifischen Eigenwerten einholen. Und ob die Einzelentscheidung sich lediglich als vorübergehender Ausfall des Systems, als „Fehlentscheidung" erweist oder ob die neuen Elemente ihrer Argumentation zu Eigenwerten gerinnen, also positiver Bestandteil der Systemgeschichte werden, ist nicht von den subjektiven Präferenzen,
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die im Einzelfall ausschlaggebend waren, abhängig, sondern von den rekursiven Bezugnahmen innerhalb der professionellen Diskursgemeinschaft. Rechtswissenschaft und Gerichte verfügen bei ihrer Argumentation über unterschiedliche Spielräume. Die Diskurse ersterer zielen stärker auf Reflexion, können dabei in aller Regel auf ein weitaus größeres Reservoir an Zeit und Arbeit zurückgreifen und unterliegen weniger institutionalisierten, eher informellen Abnahmezwängen. Gerichte hingegen müssen Entscheidungen mit möglichst abnahmefähigen Begründungen versehen. Zeit und Arbeit sind ihnen äußerst knappe und wertvolle Ressourcen. Redundanz ist für sie erheblich wichtiger. Rechtliche Innovation und die Aufnahme rechtsexterner Problemlösungen sind der Rechtswissenschaft eher möglich. Daher sind es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vor allem rechtswissenschaftliche Beiträge, die den Raum des diskursiv Möglichen, was als „Recht" sagbar ist, vergrößern. Sie dienen als bevorzugtes Reservoir für „neuartige" Begründungen, wenn die Begründungs- und Entscheidungsspielräume der Rechtsprechung zu eng werden. Nicht zuletzt aufgrund ihrer moralisierenden Angstfundierung können öffentliche Risikodiskurse wesentlich zu solchen Abweichungen beitragen. Ihre emotiven und wertenden Gehalte, ihre Zentrierung auf die affektiv besetzte Differenz von Fremdbestimmung und Selbstbehauptung lassen auch jene, die im juristischen Diskurs sprechen, nicht unberührt. Die im juristischen Diskurs verbreitete Selbstbeschreibung rechtlichen Handelns als Bemühen, Integritätsinteressen gegenüber Risiken technischen Fortschritts durch bewahrende Wertung zu schützen, ist ebenso Ausdruck dieser Tendenz, wie die stark in einer idealistischen und romantischen Diskurstradition stehende Beschreibung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als entwicklungsoffene Schutzbarriere gegenüber neuen technischen Gefährdungen persönlicher Autonomie. Der oben angesprochene risikotypische Zusammenhang von Angst vor Fremdbestimmung und Forderungen nach individueller Selbstbestimmung legt eine Identifikation mit der Opfer- bzw. Betroffenenseite nahe, zumal sich bei technisch ermöglichten Gefährdungen individueller Autonomie potentiell jedes Mitglied der Gesellschaft betroffen fühlen muß. Zwar kann man auch andere, entscheiderfreundliche Präferenzen teilen, kann sich jenen in Risikodiskursen so eindringlich eingeforderten Pflichten, sich Sorgen zu machen, an Befürchtungen Anteil zu nehmen und Maßnahmen zur Gefahrenabwendung zu ergreifen, unangenehm berührt entziehen. Entscheidend jedoch ist, daß die Informationslagen und Wahrnehmungsmuster öffentlicher Risikodiskurse über eine erhebliche affektive Intensität verfügen. Diese kann dazu führen, daß die Präferenz für die vergleichsweise präzisen, eigenwertgesättigten, der Regelform unterworfenen Begründungsmodi verdeckt oder offen zugunsten anderer Bewertungen an Gewicht verliert. Stets besteht das Risiko, daß sich Entscheider aufgrund ihrer persönlichen Präferenzen, von denen die aktuell und systemspezifisch geforderten als Rollenzuschreibungen stets nur einen Teil ausmachen, nicht nur innerhalb der vorgegebenen Spielräume systemspezifischer Kommunikation halten. Das ist keine spezifischen Risikolagen geschuldete Besonderheit. Doch läßt sich damit auch er-
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klären, weshalb Problembewertungen und Argumente, die in Risikodiskursen kommuniziert werden, in Diskurse diffundieren können, obwohl diese unter dem strikten Primat stehen, vorrangig an spezifisch rechtliche Eigenwerte anzuknüpfen.
3. Prinzipienabwägung als zukunftsoffene Routine zweiter Ordnung In aller Regel diffundieren außerrechtliche Problembewertungen und Argumente allmählich und in kleinen Schritten in den rechtlichen Diskurs, teilweise unter Vermittlung rechtswissenschaftlicher Beiträge. Aufgrund vorstehend beschriebener Mechanismen kann es jedoch auch zu deutlich erkennbaren Brüchen zu den gesicherten, primär der Regelform unterworfenen Eigenwerten kommen. Dieses deutlich erkennbare Umschwenken zerstört die Illusion streng rechtsgebundenen Entscheidens und dient Vorwürfen richterlicher Willkür als Begründung. Brüche können somit als Reaktionen auf Entscheidungssituationen betrachtet werden, in denen eine Orientierung innerhalb des Alternativenraums der vergleichsweise präzisen Vorgaben rechtlicher Regeldiskurse suboptimal erscheint. Unter Bezugnahme auf abstraktere Normtexte, mit denen keine oder geringere verständnisgebundene Vorgaben professionsinterner kommunikativer Vergangenheit verbunden sind, wird dann versucht, auf rechtsexterne Bewertungsmaßstäbe umzuschwenken. Mithin bedeutet Bruch auch Dezision, die als solche deutlich wahrnehmbar wird, weil der gängige Alternativenraum verlassen wird. Dabei greifen obergerichtliche Innovationen, die als „Anerkennung" neuer Rechtspositionen gefeiert werden, fast immer auf rechtswissenschaftliche Veröffentlichungen zurück. Insbesondere minoritäre Texttraditionen, die im rechtlichen Diskurs lange „Hungerperioden" überdauern können, dienen als Reservoir. Die allmähliche Durchsetzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bietet dafür einen deutlichen Beleg. Bei der Abwägung von Prinzipien, respektive von Interessen (die, um als Abwägungsgegenstand in Betracht zu kommen, eines nachgewiesenen Bezugs zu rechtlichen Normen bedürfen), handelt es sich um einen Argumentationsmodus, der als nur der Form nach eigenwertverbürgte Routine zweiter Ordnung ermöglicht, den rechtlichen Diskurs zu verlassen, ohne ihn zu verlassen. Man begibt sich zu etablierten rechtsspezifischen, regeiförmigen Eigenwerten in maximale kommunikative Distanz, suspendiert deren Geltung, nutzt dazu aber eine spezifisch rechtliche, d. h. im rechtlichen Diskurs tradierte Argumentationsfigur. Indem sich die Abwägung höchster Prinzipien (Grundrechte) im Einklang mit einem modernen Begründungsmodus der juristischen Sprachtradition hält, wird eine Ausgrenzung aus dem juristischen Diskurs erheblich erschwert. Es wird auf höchstrangige Prinzipien zurückgegriffen, deren unhintergehbarer Wertgehalt unterstellt werden kann. Daß diese zugleich hochabstrakt sind, ermöglicht, außerrechtliche Problembewertungen in rechtliche Bewertungen zu transformieren. Während im traditionellen, eigenwertpräferierenden Modus der Subsumtion nur in Ausschnitten kommunizierbar ist, was gesamtgesellschaftlich als Wirklichkeit kommuniziert wird, schaffen Prinzipien als Optimierungsgebote die Möglichkeit, daß Recht - vorübergehend, diese
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Einschränkung ist wichtig - zu einem Kommunikationsmedium über Realität insgesamt werden kann. Neue Prinzipien und ihre bereichsspezifische Ausbildungen schreiben den nach dem Gewaltenteilungsgrundsatz nur durch Gesetzgebung veränderbaren Primärtext durch einen aktualisierenden Sekundärtext fort, stellen sich jedoch als Schöpfung eines neuen Primärtextes dar, der neben den bisherigen tritt und diffuse Wertvorstellungen für einen grob von anderen Problemlagen abgrenzbaren Bereich assoziieren läßt. Die selbstreflexiven Potentiale des Rechts werden so erheblich gesteigert. Werden neue Prinzipien oder Ausprägungen bestehender Prinzipien, wie beispielsweise das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, „anerkannt", so wird im Rechtssystem eine erhöhte Bereitschaft angelegt, bereichsspezifisch quer zu den bisherigen Routinen des Regeldiskurses auf außerrechtliche Erwägungen einzugehen und diese in Rechtsform zu transformieren. Aus systemtheoretischer Perspektive entsteht eine Variable, durch die sich das Rechtssystem operationsleitend irritieren läßt - hin auf einen rechtsinternen Umbau selbstbindender Kommunikationen (rekursiver Regelnetzwerke). Diese Form des „Lernens" erzeugt rechtsintern erst einmal erhöhte Varietät und damit Instabilität.
4. Schließung und Öffnung des Rechts durch Regeln und Prinzipien Die Geschlossenheit systemspezifischer Kommunikation gerät damit ins Wanken, relativiert sich. In Begründungsmodi, die sich gegenüber rechtsexterner Kommunikation offen halten, kann das Rechtssystem daher keinesfalls die Normalform seiner Entscheidungsorientierung finden. Sie muten ihm ungebremstes Räsonieren, man könnte auch sagen: unterschiedliche Rationalitäten zu, und dies in einer Phase ohnehin erschütterten Vertrauens in die Beständigkeit rechtsspezifischer Maßstäbe. Die damit einhergehendenriesigenSpielräume des argumentativ Möglichen sind wenig geeignet, Entscheidungsspielräume einzuschränken. Nicht nur auf Seiten der Nachfrager von Recht schafft dies Unsicherheit. Ohne Schließungsprozesse gegenüber rechtsexterner Kommunikation, d. h. ohne starke Präferenzen für rechtsspezifische Unterscheidungskriterien und Problembewertungen würde sich Recht auflösen. Auf Dauer gestellt, würde seine Entformalisierung in Entscheidungsaversion und Orientierungsverlust münden. Es trifft eben nicht zu, wenn unter Hinweis auf Rückgriffe des Rechts auf öffentliche Diskurse, Sachverständige und technische Normen behauptet wird, wo eine offene Gemeinschaft von Verfassungsinterpreten oder die jeweils sachnähere Profession adäquatere Normen schaffen könnten, könne man auf die Vermittlung der juristischen Zunft verzichten. Dieser wirft man sicher nicht immer ohne Grund vor, sachfremd und von antiquierten Vorstellungen geprägte Entscheidungen zu treffen. Nur kann man, will man sich weiter am Recht orientieren, also Erwartungen über rechtliches Entscheiden ausbilden, nicht darauf verzichten, daß Juristinnen und Juristen primär an der eigenen Systemgeschichte, also einem aufgrund seiner Eigenwerte von anderen Diskursen geschiedenen fachlichen Diskurs orientiert entscheiden, was Recht ist oder sein kann und - nicht weniger wichtig - was nicht.
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Gegenüber dem alltäglichen Argumentationsmodus regelförmiger Begründungen erscheint der Modus der Abwägung relativ beliebig. Er suspendiert etablierte Regelstrukturen. Dem begegnet die Rechtswissenschaft mit scharfer Kritik und Redogmatisierungsbemühungen. Beides zielt auf Einholung kommunikativer Distanz. Ich habe diesen Prozeß an der Geschichte der Durchsetzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als sonstigem Recht i. S. v. § 823 I BGB und als Anspruchsgrundlage für den Ersatz immaterieller Schäden aufgezeigt. Weit vor jedem Bruch entsteht aus der bunten Vielfalt öffentlich kursierender Lösungsvorschläge Recht, indem persönlichkeitsrechtliche Argumentationsformen und Problembewertungen von der rechtswissenschaftlichen Literatur mit unterschiedlichsten Argumenten und Bewertungskriterien aus außerrechtlichen Diskursen verknüpft und damit als rechtspolitische Vorschläge, aber auch als Begründungsangebote an die Rechtsprechung präsentiert werden. So ist etwa der rechtswissenschaftliche Diskurs zum persönlichkeitsrechtlichen Recht auf Nichtwissen noch vor jeder gesetzgeberischen oder gerichtlichen Entscheidung durch Dogmatisierungsbemühungen, also Versuchen, Verknüpfungen mit etablierten, möglichst regeiförmigen Eigenwerten herzustellen, bestimmt. Ein erheblicher Druck zur Entwicklung regelförmiger Eigenwerte geht v. a. von den Gerichten aus. Alltägliche Routineentscheidung sind nur möglich, wenn auf die arbeits- und zeitökonomischen und vergleichsweise abnahmesicheren Begründungsformen, die ein eigenwertgesättigter Regeldiskurs bietet, zurückgegriffen werden kann. Mittelfristig benötigen nicht nur Gerichte die Möglichkeit routinisierter Begründung. Auch die Nachfrager gerichtlicher Entscheidungen benötigen ein Minimum an inhaltlicher Rechtssicherheit, das hinausgehend über die Gewißheit, daß Gerichte entscheiden, nach Wahrscheinlichkeiten, wie sie entscheiden werden, verlangt. Die ganze Organisation unseres Rechtssystems ist darauf ausgelegt, so weitgehend wie möglich zu solchen Normalformen zurückzufinden, und das heißt: vom Prinzip zur Regel zu gelangen. Vorrangig dient die eigene Systemgeschichte der Limitierung des rechtlich Sagbaren und damit der Orientierung. Der Durchsetzungsprozeß des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, durchdrungen mit deutlichen Rekursen auf Außerrechtliches, zeigt deutlich, wie sehr selbst radikale Brüche mit gefestigten rechtlichen Eigenwerten Rekurs auf gemeinsame kommunikative Vergangenheiten nehmen, weitgehend mit vorhandenen Eigenwerten abgeglichen werden und sich zu ihrer Rechtfertigung zwar minoritärer, aber doch spezifisch rechtlicher Texttraditionen bedienen. Eine deutliche Stabilisierung und Ausdifferenzierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts war möglich, weil die Rechtsprechung an die verschiedenen Brüche (Anerkennung, die Aufnahme in den Güterkatalog des § 823 I BGB und der Ersatz immaterieller Schäden) rekursiv angeknüpft hat und weil die Rechtswissenschaft aus Ketten einzelfallspezifischer Entscheidungen Gemeinsamkeiten und damit Eigenwerte herausdestilliert hat, die eine starke Verdichtung in Richtung auf Konditionalnormen und Gewichtungsregeln unterhalb der Regelform aufweisen. Auch die vehemente Kritik am allgemeinen Persönlichkeitsrecht, die als Forderung nach Verringerung kommunikativer
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Distanz zu verstehen ist, hat dazu wesentlich beigetragen. Zumindest in Teilbereichen sind stabile, regeiförmige Strukturen geronnen, die die Vielfalt des Möglichen deutlich limitieren und damit routineförmiges Begründen, Entscheiden und damit generalisierte Erwartungsbildung ermöglichen. Im Verlauf solcher Prozesse werden neue Eigenwerte gebildet, deren Unterscheidungen zwischen Recht und Unrecht zunächst noch keine fixen materiellen Rechtsfolgen enthalten, also noch keine Regelform haben. Sie zielen vorerst darauf, dem Schutzbereich des neuen Grundrechtsabkömmlings spezifische Interessen zuzuordnen. Soweit es der Rechtswissenschaft gelingt, über Fallgruppenbildung Ansätze für Regelbildungen und präferenzwürdige Gewichtungsregeln herauszubilden, werden diese aufgrund der erwähnten Alltagszwänge und der erlernten Präferenz von den Rechtsanwendern in den forensischen Situationen (Prozeß und anwaltliche Beratung) genutzt. Mittelfristig werden in aller Regel immer mehr, material gehaltvollere Eigenwerte gebildet, also in Rechtsprechung und herrschender Meinung verfestigte Begründungsroutinen, die auf typische Form der Konditionalnorm hinauslaufen und für typische Sachverhalte rechtsspezifische, d. h. gegen außerrechtliche Kommunikation tendenziell immune Problembewertungen, Argumentationen und Entscheidungslösungen vorgeben. Prinzipien erfahren im Rahmen einer solch stabilisierenden Schließung eine starke Ausdifferenzierung hin zu Regelstrukturen5. Dem Bruch der Regel durch das Prinzip folgt also eine starke Tendenz zur regeiförmigen Ausformung des Prinzips. Diese ist normstrukturell in jener Referenz an den Regeldiskurs angelegt, die Alexy beschrieben hat: Abwägungsentscheidungen werden in Regelform gebracht, indem sie auf eine Vörrangrelation, d. h. eine konkrete, zunächst einzelfallbezogene Regel als Obersatz zugespitzt werden. Vermeiden läßt sich dies kaum. Auch Abwägungen müssen sich auf der Darstellungsebene der auf Formulierung eines klaren Geltungsanspruchs zugespitzten binären Codierung von Recht und Unrecht unterwerfen, die impliziert, das Gleiches gleich zu behandeln ist und deshalb in der strikten Wenn-dann-Relation der Konditionalnorm ihre idealtypische Programmform findet. Dies erleichtert in der anschließenden Kommunikation, meist über den Umweg von Fallgruppenbildungen, eine stabilisierende wie ausdifferenzierende Rezeption, die ebenfalls auf die Regelform zuläuft. Im Falle des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wird dies zudem durch die moderne Ausrichtung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auf ein formales Prinzip der Selbstbestimmung begünstigt. Eingriffe in das persönlichkeitsrechtliche Selbstbestimmungsrecht sind rechtfertigungsbedürftig. Notwendigerweise werden Interessenlagen, die im Einzelfall seine Anwendung oder Zurückstellung rechtfertigen, konkretistisch handlungs- und nicht rechtsgutbezogen beschrieben. Zwar werden mit solchen Beschreibungen bislang rechtsfremde Kategorien in das Recht internalisiert. Doch zu5 Ihre Prinzipienform erledigt sich dadurch nicht, sondern bleibt auf Abruf vorhanden. Für das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist dies im Rahmen des 823 I BGB durch das Abwägungsgebot sogar institutionalisiert.
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gleich werden die spätere Regelbildung und damit die Selbsthermetisierung des Rechts erleichtert. Denn Konditionalprogramme beschreiben primär Handlungen, nicht abstrakte Rechte, Rechtsgüter oder Interessen. So wechseln Phasen vergleichsweise großer Dynamik und Flexibilität mit solchen relativ großer Stabilität: Prinzipienorientierte Begründungsformen ermöglichen den Bruch mit ausdifferenzierten Regelgeflechten und münden ihrerseits über eine sich allmählich stabilisierende Kasuistik wieder in die Entstehung stabilerer Rechtsformen. Vereinfacht kann man diese Prozesse als Abfolge von der Regel zum Prinzip zur Regel beschreiben, zumal Prinzipien als Optimierungsgebote zur Brechung des Regeldiskurses nur nutzbar gemacht werden können, weil man unterstellt, daß sie die den Regeln inhärenten, rechtsspezifischen Wertungsmaximen in abstrakter Form verkörpern. Darin liegt das Vermächtnis der Interessenjurisprudenz.
m . Persönlichkeitsrechtsentwicklung als Normbildungsprozeß in der massenmedial dynamisierten Risikogesellschaft Mit Schwerpunkt auf der Ausbildung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in den beiden Nachkriegsdekaden und neuen persönlichkeitsrechtlichen Entwicklungen im Problembereich der Genanalyse habe ich versucht, die Entwicklung von Recht im rechtlichen Diskurs jenseits parlamentarischer Gesetzgebung zu beschreiben und seine normstrukturellen Konsequenzen zu analysieren. Es ging dabei einerseits darum, darzulegen, wie außerrechtliche Erwägungen in rechtliche Diskurse diffundieren, zum anderen sollte die Entstehung eines spezifischen, das Zivilrecht prägenden neuen Argumentations- und Entscheidungsmodus nachgezeichnet werden. Denn im Verlauf der Nachkriegsentwicklung wurden nicht nur neue Rechtspositionen ausgebildet. Vielmehr wurde im Wechselspiel mit einer sich emanzipierenden Grundrechtsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit der Abwägung von Prinzipien und Interessen eine Routine zweiter Ordnung etabliert, die einen rechtsspezifischen Rahmen für außerlegislative Normbildungsprozesse gewährleistet. In Zeiten raschen Wandels ermöglicht dieser mehr Flexibilität, als dies die alltagstypische und stark konsistenzabhängige und variationslimitierte Form der Step-by-step-Modifizierung von Regelstrukturen zuläßt. Zugleich ermöglicht dieser Argumentationsmodus die Internalisierung rechtsexterner Gesichtspunkte und verhindert so ein allzu großes Auseinanderdriften von Rechtssystem und anderen gesellschaftlichen Subsystemen. Es handelt sich angesichts der Öffnung gegenüber außerrechtlichen Diskursen um klassisches soft law, wie wir es aus anderen Rechtsbereichen kennen. Dies ist der Grund, weshalb die Kritik an diesem Modus in solcher Breite formuliert wird. Sie reicht von berechtigter Sorge um dogmatische Konsistenz und Rechtssicherheit der Zivilrechtsdogmatik über staatstheoretische Beschwörungen formaler Rationa-
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lität des Rechts im Interesse von Gewaltenteilung und Demokratieprinzip bis hin zur soziologisch formulierten Befürchtung, eine wesentliche Errungenschaft der Moderne, die soziale Differenzierung, werde hier zugunstenrichterlicher Helferattitüden und willkürlicher ad-hoc-Entscheidungen zur Disposition gestellt. Auf den ersten Blick drängt die Abwägung im Einzelfall den juristischen Argumentationshaushalt in Richtung einer stärkeren Orientierung an außerrechtlichen Diskursen, zum Beispiel der öffentlichen und massenmedial veröffentlichten Meinung. Die an die Existenz rechtsexternen Entwicklungen unverfügbarer rechtlicher Eigenwerte geknüpfte Wirkung des Rechts, berechenbar normativen Schutz individueller Freiräume zu garantieren, leidet darunter. Darum mag man sich in der Tat sorgen. Die Gefahr, daß Medien „neben den paradoxalen Rollen des Anwalts und Chefanklägers auch noch die ( . . . ) Rolle des Richters besetzen" oder „die moderne Ausdifferenzierung öffentlicher Gewalt in die eigenständigen Bereiche von Legislative, Judikative und Exekutive einebnen und eine alleinige repräsentative Gewalt, eine neue magisch-technische Souveränität erzeugen"6, ist nicht von der Hand zu weisen. Es gibt aber mindestens zwei funktional bzw. strukturell verdichtete Systemgesetzlichkeiten, die dem entgegenwirken: Zum einen beobachten und operieren Massenmedien stark ereignis-, neuigkeits- und sensationsbezogen. Alltäglichkeit entzieht sich ihnen weitgehend, so daß von ihnen wohl Strukturbrüche initialisiert und die Regelung neuartiger Problembereiche wesentlich mitbeeinflußt werden können, weit weniger aber die alltägliche Eigenläufigkeit entlang systemspezifischer Alltagsroutine. Erlanger Baby, Retortenbaby Louise Brown, Schaf Dolly, ein höchstricherliches Urteil oder ein furioser Streit in einer der politisch inthronisierten, bioethischen Expertenkommissionen mögen in den Massenmedien unentziehbar meinungsprägende Impulse auslösen oder reaktualisieren. Sind jedoch die massenmedial ausgelösten Entrüstungsstürme und Kontroversen abgeebbt, so schwenken die kurzzeitig aufgeschreckten Fachdiskurse zwangsläufig in routinegeprägte und damit massenmedial weitgehend unbeachtete Versuche zurück, das Neue möglichst gut und weitgehend in Abgleich mit jenem Altbekannten zu bringen, das als gesichert gelten kann. Damit bin ich beim zweiten Mechanismus, der, bezogen auf das Recht, Gegenstand dieser Arbeit ist: dem alltagstypischen Prozeß der Eigenwertsicherung und -entwicklung, der stets auf eine Verringerung systemspezifischer kommunikativer Distanz des Neuen gegenüber dem Tradierten hinausläuft. Erst im Verlauf der Arbeit zeichnete sich ab, daß ihre Ergebnisse darauf hinauslaufen, die Berechtigung soziologischer Kritik an Interessen- und Prinzipienabwägungen entschieden in Frage zu stellen und die Kassandrarufe, die von juristischer Seite formuliert werden, zu relativieren. Der Ausgangspunkt war ein Mißtrauen, das sich im Einklang mit jener Kritik befand. Im rechtswissenschaftlichen Diskurs zur Genanalyse waren mit ethischen Bewertungen vermengte Häufungen von persönlichkeitsrechtlichen Argumenten, Menschenwürdeerwägungen und Selbst6 Maresch 1995: 413.
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bestimmungspostulaten zu konstatieren, die gemessen an den Standards zivilrechtlicher Dogmatik, vergleichsweise beliebig erschienen. Die vielfaltig bis in die Binnenstruktur ihrer Subjekte hinein verankerten Verknappungsmechanismen der juristischen Diskurse garantieren jedoch, wie im 2. Teil der Arbeit aufgezeigt, da stets eine stark gegenläufige Tendenz zu stabilen Eigenwerten besteht. Insbesondere in der Rechtsprechungs- und Literaturanalyse der §§ 10 und 11 habe ich - gegen rechtstheoretische und rechtssoziologische Relativierungen der Bedeutung juristischen Begründens - am Beispiel der Persönlichkeitsrechtsentwicklung zu zeigen versucht, daß rechtliches Begründen und die Bemühungen der rechtswissenschaftlichen Literatur um dogmatische Fortentwicklung keinesfalls in argumentativer Beliebigkeit enden, sondern wenigstens mittelfristig auf eine ganz handfeste, d. h. entscheidungsleitende Eigenwertigkeit des Rechts hinauslaufen7. Nicht Willkür ist die Folge jener Korrespondenz des Rechts gegenüber öffentlichen Risikodiskursen, sondern ein teilweise außerhalb der Legislative verlaufender Normbildungsprozeß. Eine doppelte Frontstellung dürfte aktuell sein. Einerseits werden von rechtswissenschaftlicher Seite die verfassungsrechtlichen, als beliebig empfundenen Einbrüche in die Zivilrechtsdogmatik massiv kritisiert, gerade auch jene, die mit der persönlichkeitsrechtlichen Entwicklung verknüpft sind. Diese Kritik ist nach den Ergebnissen dieser Arbeit zumindest teilweise überzogen, mag sie auch, indem sie eine Verringerung kommunikativer Distanz einfordert und fördert, ihre ganz eigene Funktionalität im juristischen Diskurs haben. Andererseits wird im Bereich technischer Entwicklung immer wieder überlegt, ob man Recht nicht durch wissenschaftlichen Sachverstand und rein prozedurale Entscheidungsformen ersetzen könne. Auf der Ebene des Entscheiden ist dies sicher denkbar. Doch läßt sich Recht dadurch nicht vollständig substituieren. Um der Erwartungsbildung dienen zu können, darf Recht nicht mit zu großen Rationalitäts- und Partizipationszumutungen belastet werden, sondern muß in der Lage sein, rechtsspezifische Eigenwerte auszubilden, die im juristischen Alltagsgeschäft gegenüber rechtsexterner Kommunikation weitgehend geschlossen bleiben. Dies allerdings setzt voraus, daß die sozialen Mechanismen, die eine solche Präferenz erzwingen, nicht unterminiert werden. Seitens der Politik wird teilweise mit erschreckender Praxisferne verkannt, daß gutes Recht nicht allein eine Frage (einzel-)richterlicher Kompetenz und Hinweistechnik ist, sondern daß es wesentlich der durch Instanzenzug und Kollegialgerichte wirkende sanfte Zwang zu konsistenter und tendenziell konservativ an rechtlichen Eigenwerten orientierter Begründung ist, der Willkür verhindert und Rechtssicherheit gewährleistet. Damit ist die Garantie eines umfassenden Rechtswegs nicht allein eine Frage individuellen Rechtsschutzes, vielmehr ist sie als Mechanismus konstitutiv für die Fähigkeit des Rechts, flexibel auf äußere Anforderungen zu reagieren, ohne an Stabilität zu verlieren.
7 Die dortigen Ergebnisse sollen hier nicht noch einmal diskutiert werden. Insoweit sei auf die vorangehenden Zusammenfassungen verwiesen (§ 10 V., § 11 n.6. und § 11IV.).
§12 Persönlichkeitsrechtsentwicklung als Normbildungsprozeß
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IV. Die Ambivalenz persönlichkeitsrechtlicher Selbstbestimmung Abschließend möchte ich eine spezifische Kostenseite, man könnte auch sagen: Ambivalenz dieser sicher in vielem begrüßenswerten und sehr funktionalen individualrechtlich formierten Abwehr technologischer Gefahrdungen von Individualität ansprechen. Versteht man persönlichkeitsrechtlichen Integritätsschutz verstärkt als Selbstbestimmung, so hat dies Auswirkungen auf die Normstruktur. Es wird der Verlust tatsächlicher Kontrolle kompensiert, indem rechtlich ein generelles, hochabstraktes Ausschließungsrecht generiert wird, das der gegnerischen Seite, wer immer sie sein mag, erhebliche Begründungslasten auferlegt. Normstrukturell handelt es sich dabei um eine rechtlich konstituierte Rechtsposition, die sich nicht auf einen tatbestandlich fest umrissenen Schutz gegen externe Beeinträchtigungen in Form von Verboten beschränkt, sondern in ihrem exklusiven Recht auf Ausschließung und Verfügungsbefugnis eigentumsähnlich konstruiert ist. Damit liegt es ausgesprochen nahe, Betroffenen umstandslos auch die im kommerziellen Interesse liegenden Verwertungsbefugnisse an den eigenen genetischen Daten zuzuerkennen, zumal die neuere persönlichkeitsrechtliche Rechtsprechung stark in Richtung auf eine stärkere Ökonomisierung persönlichkeitsrechtlicher Rechtspositionen weist. Das probate Gegenargument liegt auf der Hand: Ein gattungsbezogenes Verständnis der Menschenwürde schließt weitgehende Verfügungsbefugnisse, wie sie die Verkehrsfähigkeit erfordern, aus, zumal die Verfügung über die eigenen genetischen Daten zugleich auch stets eine solche über den Genpool der Gattung ist. Dennoch vermute ich, daß sich mittelfristig in unserer von weitgehenden Individualisierungsschüben gekennzeichneten Gesellschaft, deren letzte Basiswerte auf individuelle Autonomie und Selbstverantwortung setzen, über den Brückenkopf individuell zu verantwortender Gesundheit eher die individualistische Konzeption durchsetzen wird. Wenig Zweifel habe ich, daß sich zumindest langfristig die individualistische Konzeption auf der Ebene des Integritätsschutzes immer stärker durchsetzen wird, jener Ebene, die im deutschen persönlichkeitsrechtlichen Diskurs von jeher zumindest rhetorisch dominiert. Die Forderung nach Selbstbestimmung, verstanden als Herstellung oder Wiederherstellung individuell ausgeübter Kontrolle durch Konstitution von Rechtspositionen, korrespondiert nicht nur dem vordringenden Wert einer sich immer weiter individualisierenden Gesellschaft. Sie macht Betroffene zu Entscheidern, legt also denrisikotypischenstrukturellen Dissens still, ohne daß man in den so kontroversen Fragen der Genanalyse oder der Humangenetik zu inhaltlichen Konsensen oder wenigstens einer Mehrheitsmeinung gelangen müßte, die eine Regulierung ermöglichen würde. Betroffene wenigstens im rechtlichen Sinne zu Entscheidern zu machen, die selbst über ihre Daten verfügen, hat Evidenz und erzeugt Vertrauen8.
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Teil 5: Fazit
Damit geht eine partielle Deregulierung einher. Anstelle politisch verantworteter, kollektiv verbindlicher Entscheidungen in Form gesetzlicher Regelung treten individuell zu verantwortende Entscheidungen der Grundrechtssubjekte. Nur vordergründig setzt dieser Modus rechtlicher Regulierung das Individuum in sein originäres Recht, nachdem doch die grundlegenden Entscheidungen, daß bestimmte technische Möglichkeiten prinzipiell zuhanden sein sollen, in aller Regel längst gefallen sind. Sicher sind (neue) Persönlichkeitsrechte ein wesentlicher Gegenpol zur eingangs dargelegten Innovationsoffenheit des Rechts. Doch schon aufgrund ihrer hybriden Normstruktur, die auch expansive Anteile hat, also nicht nur auf Bewehrung individueller Autonomie, sondern auch auf deren Ausweitung und damit eigentumsähnliche Exklusion anderer zielen kann, ist dieses althergebrachte, dem deutschen Idealismus geschuldete abwehrrechtliche Verständnis heute mehr denn je ein gebrochenes. Selbstbestimmung bleibt für jene, deren Autonomie damit so nachdrücklich propagiert wird, nicht ohne Kosten, weil sie die faktischen Bedingungen von Autonomie nicht zu schaffen vermag. Die in den Alltagserfahrungen einer individualisierten Gesellschaft sowie in Aufklärung und Idealismus wurzelnde Evidenz der Forderung nach persönlichkeitsrechtlich gesicherter Selbstbestimmung ändert daran nichts. Subjektive Rechte auf genetische Selbstbestimmung, auf Nichtwissen oder Kenntnis der eigenen genetischen Disposition generieren nicht allein Rechtspositionen. Sie verstärken zugleich individuelle Verantwortlichkeit, die sich sozialen Zuschreibungen, wie vernünftige, verantwortungsbewußte und solidarische Entscheidungen auszusehen haben, kaum zu entziehen vermag, zumal diese oft gegenläufig sind und auch deshalb überfordern. „Anstelle der Drohung mit dem Mord ist es nun die Verantwortung für das Leben, die der Macht Zugang zum Körper verschafft." 9 Eine Gesellschaft, die sich durch Verweis auf rechtlich garantierte individuelle Selbstbestimmung von grundlegenden, kollektiv verbindlichen Entscheidungen entlastet, bezahlt, das sollte man deutlich sehen, für den damit erzielten Zugewinn an Dynamik. Leicht mündet die emphatische Forderung nach rechtlicher Gewährleistung persönlicher Autonomie in jenen Selbstbetrug, den Adorno mit seinem Verdikt gegen den Idealismus gegeißelt hat:, Jn der geistigen Allmacht des Subjekts hat seine reale Ohnmacht ihr Echo."10 In unserem Kontext wäre „geistig" unschwer durch „rechtlich" zu ersetzen, woraus sich kein Plädoyer gegen persönlichkeitsrechtliche Regelungen ergibt, wohl aber eine Warnung, allein wegen ihrer kulturell geprägten Evidenz ihre strukturellen Defizite zu unterschätzen.
8
Es ist zu vermuten, daß Recht, das so weitgehend an individuelle Selbstverständnisse und eine der kulturellen Basisevidenzen anzuknüpfen vermag, effektives Recht und damit gut geeignet ist, gesellschaftliches Vertrauen in Technik abzustützen. 9 Foucault 1983: 170. 10 Adorno 1975: 181.
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Sachwortverzeichnís 378, 384, 388, 392, 398, 401, 409, 414, 442,445 ff. Angstkommunikation 72, 207 f., 278, 294, 350,421 Anschlußfähigkeit 99,172,180, 374 Arbeit/Arbeitskraft (als Ressource) 130, 132, 150, 160 f., 169, 186, 188, 196, 255, 448 f., 453 Arbeitsrecht s. Genanalyse Argumentation 213, 246 (s. auch Argumente) - Einzelfallabwägung 251, 253, 263, Argumentationsmuster 160,213,338 321 ff., 459 - außerrechtliche /rechtsexterne 183,448 - Güterabwägung 214, 250, 255, 299, - empirische 363 f., 435 304 f., 318, 320, 322, 325, 345 - gerichtsinterne 192 - Interessenabwägung 24, 76, 167, 173 f., - juristische/rechtliche 89 ff., 110 f., 117, 214, 299, 317, 319ff., 325, 335, 337 f., 122,163 f., 167,180 ff., 338,443 345,447,454,458 - moralische 118 - Prinzipienabwägung 24, 30, 167, 173 f., Argumentationsform s. Argumentform 217, 227ff., 262, 264, 284, 366, 447, Argumentationskonventionen 156,222 450 f., 454,458 Argumentationslast s. Begründungslast Abwehrrechte s. Grundrechte Aigumentationstheorie 81, 84, 90 f., 130 Adäquanz, soziale 199 Argumente 238 (s. auch Argumentation) Affekt(e) 120 f., 153, 157 f., 160 f., 175, - rechtliche 189, 352,440,448 178 f., 208, 231 ff., 264ff., 278, 294, 334, - rechtsexterne 189,451 350, 363, 380, 389, 410, 414, 440, 447, - rechtspolitische 189 450 f. (s. auch Angst) - regelorientierte 216 Affektkontrolle 153,266 f., 272 - minoritäre 168 Akteure 42, 56, 71, 89, 97 ff., 102, 105 ff., Argumentform(en) 111, 320, 322, 329, 345, 113, 115, 120, 125, 133, 135 f., 138, 357, 365, 367 f., 448 140 f., 151 f., 158, 170, 174 ff., 184, 188, Arzthaftungsrecht 52, 188, 363, 365 196, 205 f., 218, 225, 230, 245, 257, 261, Aufklärung 246, 281, 365,423,431 f. 283, 299, 327, 372 f., 375, 380, 433, 448 - Selbstbestimmungsaufklärung 363, 365, (s. auch Subjekte) 422,432 Akzeptanz 166, 200,207 f., 244,255 Aufklärungspflichtverletzung 52,188,203 Alter und Ego 98, 102, 105 f.,108 f., 112 ff., Ausdifferenzierung s. Eigenwertbildung 193 Auslegung 80 f., 89, 92, 110, 117, 150, 157, Analogie 315, 340 182,211,218, 320 Analogiebildung 303, 339 - grundrechtskonforme 236 Angst 63, 155 f., 165, 179, 202, 204, 207, - teleologische 321 f. 219, 232 f., 273 ff., 278, 293, 314, 363, - verfassungskonforme 243 Ableitungszusammenhang 57, 76, 83, 114, 131, 143, 145 f., 161, 183, 189, 242, 245, 393,445 Abnahmewahrscheinlichkeit 181,187, 351 Abnahmezwänge 287, 344,448 f. Abstraktionsprinzip 115,288 Abwägung 24, 79, 83 ff., 88, 94, 155, 173, 217 f., 224, 227ff., 248 ff., 256, 258, 261, 282 f., 304, 314, 327, 337, 366, 382 f., 403 f., 435 f.
Sachwortverzeichnis Ausstattung, genetische s. genetische Disposition Autonomie 21, 30, 59,141,158, 265,270 f., 274, 279 ff., 392, 400 ff., 414, 425 f., 446 f., 461 f. Autopoiesiskonzept 170,174,176 f., 450 Autorität(en) 163 ff., 181, 217, 236, 287, 436 Bargaining-Chips 245, 330 Begriff(e) 103 f., 144 ff., 163,165,184,238 - Begriffsdifferenzierung 185, 221 - Begriffskern und Begriffshof 149 f., 382 - Begriffsverständnis(se) 103, 111, 117, 150, 155 f., 184 ff., 198, 218,440 - Begriffsverwendung 108, 124,237 - rechtliche s. Rechtsbegriffe - als referentielle Ausdrücke 111,113 Begriffsjurisprudenz 83, 89, 127,146, 320 Begründen 90, 113 Begründung(en) 126 ff., 131, 153, 156, 164, 179 ff., 244, 265, 320, 344, 441 f., 449, 451,453,456 Begründungsabbruch / Begründungsabbrüche 255, 341,351 Begründungsaufwand 149, 216,421 Begründungsformen, offene 159 Begriindungslast(en) 154 f., 168, 181, 244, 252, 262, 285, 325, 327, 329, 356, 363, 367, 410, 412, 420 f., 426, 431, 435, 438, 441,448,461 Begründungspflicht/-zwang 96, 128 ff., 132,157,160,181 Beobachtung 97 f., 180, 219 - sozialwissenschaftliche B. 175 - teilnehmende B. 94,182 - - und Gegenbeobachtung 68 ff., 204, 250, 256, 270, 294, 347, 350, 379,445 - zweiter Ordnung 27, 66 f., 172 Beratung - gerichtliche 94,120, 122,127,192 - humangenetische 282, 371, 379, 412, 422,440 - nicht-direktive 282, 379,422 Besitz 108 f., 112 f., 115 Betroffene und Entscheider 62 ff., 70 ff., 204, 253, 276 f., 279, 281, 294, 384, 436, 445,461
527
Bewehrung s. Freiheit, Bewehrung von Beweislast 191, 363,422,445 Bewußtseinssysteme 140,177,211,214 Billigkeit 216 f., 236,248 Bioethik 210,374, 386, 397 Biotechniken/Biotechnologie(n) 22 f., 25 f., 40, 59 f., 67, 369, 372, 379, 388, 396, 411,452 Biotechnikrichtlinie 47,432 Black Boxes 98,112 Blankettnormen 167,189,224 Bruch (mit kommunikativen Gemeinsamkeiten/Vergangenheiten) 91, 108 ff., 136,
179, 227ff.,
300, 307, 310, 319, 330ff.,
342, 349, 366 f., 374, 380,449,454,456 Bundesverfassungsgericht 342, 344, 404, 436,458 Bürgschaftsentscheidungen (BVerfG) 217, 228,452 Canones 92,111 Caroline v. Monaco-Entscheidung(en)
(BGH) 316, 334, 337, 348ff.,
353, 357,
360 Chimärenbildung, Verbot der 383, 389,410 Chorea Huntington 373,413,415 f. Code (Systemtheorie) 142,171 ff., 191, 210, 252 Code, genetischer 376 Codierung, binäre 171 f., 457 Constanze-Entscheidung 304, 308, 320, 337 Constraint(s) 132 ff., 150, 167, 170, 180 f., 277,449 f. Cosima-Wagner-Entscheidung (BGH) 312 f., 314, 320, 323,338, 347, 354, 361,404 Cultural Lag 55, 374 Darlegungslast 191, 363,445 Daten, genetische 47 f., 275, 370, 376, 402 f., 412, 414, 421, 426, 429 ff., 436, 440,443,445,461 Datenbanken 47 f., 429 Datenverarbeitung, automatische 360, 364 Destabilisierung 166, 305, 327 f., 333 ff., 433 Diagnostik - genetische D. 58 - pränatale D. 59 f., 371,416 f.
528
arverzeichnis
Delegitimation 207, 257 Demokratieprinzip 161,459 Differenzierung - funktionale 142,177,221 - soziale 142, 205,447,450,459 Diskriminierung, genetische 274 f., 414,446 Diskurs(e) 26 f., 114, 131,136ff, 142, 170, 184, 234, 285, 344, 371 ff., 403, 409 f., 412.442 ff., 455 - Abwägungsdiskurse 143,327 (s. auch prinzipienorientierte Prinzipiendiskurse) - Anwendungsdiskurse 118,121 - außerrechtliche/rechtsexterne 26, 257, 286, 380 f., 415,435 - hegemonialer 308 - juristische/rechtliche 50, 72, 75, 118 ff., 131 ff., 142, 153, 168,189,255, 349, 381, 404, 408, 411, 415, 417, 424 f., 433, 438, 441.443 ff., 452,454,458 ff. - medizinische 142, 374 - minoritäre 186, 308, 338 - moralische 374 - naturwissenschaftliche 200 - öffentliche 189, 351 - persönlichkeitsrechtlicher 289ff., 349, 426 - politische 72,142,349 - Prinzipiendiskurse 30, 258 (s. auch Abwägungsdiskurse, prinzipienorientierte ~) - prinzipienorientierte 91, 143, 365 (s. auch Abwägungsdiskurse, Prinzipiendiskurse) - praktischer / verständigungsorientierter 118 f. - rechtsdogmatischer 115,350,424 - rechtsphilosophische 290 - rechtssziologische 349 - rechtswissenschaftliche 26, 290, 411 f., 417,423 f., 433 f., 439,441,456 - Regeldiskurs(e)/regelorientierte - 91, 143,182 ff., 190, 196,218, 239 - Risikodiskurse 23, 26,28, 30,61, 70, 214, 232, 250, 253, 256 f., 259 f., 276, 278, 281, 294, 299, 309, 350, 352, 367, 370, 412,428,431,436,439,441,442 ff., 449, 453 f., 460 Diskursgemeinschaft, professionelle / juristische 119, 150, 163, 217, 234, 240, 304, 444,449,453
Diskurstheorie 139 ff. Diskurstradition(en) 241, 311, 389, 401 f., 453 - hegemoniale 307, 332 - minoritäre 367 Disposition, genetische 58, 282, 369, 373, 395, 412 f., 417, 419, 425, 427, 431, 440, 445 Dissens (e) 74, 108 f., 123, 145, 165, 204, 250, 260, 281,373,445,461 Distanz, kommunikative 89; 112ff., 116, 120, 123 ff., 130, 154, 162 f., 164, 168, 170, 182, 186 ff., 218, 233 f., 286, 288, 301, 303 f., 307, 311 f., 315, 317 f., 330, 334 ff., 344, 346, 349, 356, 411 f., 423, 430, 436, 441, 449, 452, 454, 456 f., 459 f. Distinguishing 165, 258 Dogmatik 23, 90, 93, 167 f., 187 f., 191,
221, 224, 287f., 306, 323, 350 ff., 411 f., 417,434,436,443,460 Dogmatisierung 288, 326, 327 Double-Bind-Situationen 214 ff., 232, 264, 276 ff., 306,310, 367,451 f. DNA 356, 400, 411, 421, 432 (s. auch Patentierung von ~) Drittwirkung 23, 50, 83, 280, 304, 306, 317, 382, 396,401,404,423,430 Dynamik 54 ff., 76, 164, 181 ff., 198, 229, 285, 352, 411, 424, 433 ff., 443, 448 f., 458,462 Effekte, synergetische 203 ff., 230 Effektivität 349, 351 EG-Biotechnikrichtlinie s. Biotechnikrichtlinie Eigentum 40 f., 51, 56 f., 60, 109, 112 f., 115, 305, 337,430 Eigentum, geistiges 291 f., 295 f. Eigentumsbegriff 292, 294 Eigenwert(e) 111 f., 143, 146, 150, 162 ff., 167 f., 183 ff., 190 ff., 208, 210, 237, 244 f., 248, 256, 259, 262, 285, 287 f., 305 ff., 317 ff., 325, 327, 329, 345, 349 ff., 363, 367, 370, 380, 396, 403, 417 f., 421 f., 424, 428, 432, 435, 440, 448 f., 451ff., 459 f.
Sachwortverzeichnis - als Aufmerksamkeitspräferenzen 195, 239 - juristische/rechtliche 110ff., 123, 159, 164, 229,441 - Präferenz für ~ 112,163, 346, 352 f. - als systemeigene Umwelt, 112,223 Eigenwertbildung 112, 182, 184, 213, 225, 237ff., 259, 284, 305 ff., 365, 380, 410, 439,459 - Ausdifferenzierung 237 f., 329, 366, 405, 456 - Stabilisierung 327, 329, 340, 346, 366, 433,439,456,458 - Verdichtung 240, 241 ff., 262,363 - Verfestigung 326,423,429,436 - Verstetigung 237 f. Einwilligung 36, 246, 365, 402 ff., 419, 421 f., 423,425,430 ff., 435,440,444 Embryo(nen) 277, 383, 396,413,440 Emergenz 29,135f., 170, 365,448,452 Emotion s. Affekte Entscheiden s. Entscheidungen Entscheider und Betroffene s. Risiko Entscheidungen 22, 60, 90, 143, 190, 199, 203 f., 214, 221 ff., 230ff., 248 f., 274, 441,443 - Entscheidungsbegründungen 121, 144, 152, 167,184, 189 ff., 194, 234, 288, 311, 452 - Entscheidungsgründe, wahre 120 - Entscheidungsspielraum/-räume 133 ff., 150, 166 f., 181, 188, 190, 198, 230 f., 278,286,449,451,453,455 - Entscheidungspräferenzen 175, 212,215 - Entscheidungsprozesse 177 f., 190, 214 - Entscheidungssequenz(en) 285 f., 299, 311 - Entscheidungsverhalten 29,90, 96,181 f. - Sekundärzweckerichterlicher -118, 257 - synergetische Effekte von ~ 203 ff. Episteme 137, 381 Erfahrung(en) 32, 52 f., 57, 60, 63 ff., 99 ff., 138,142,152,198 ff., 223 Erfolgsunrecht 243, 309, 322, 326, 364 Erkrankungen s. Krankheit Erwartungen 98,107,193 ff., 202, 225,455 - Enttäuschung von ~ 195,199 34 Maitra
529
- Erwartungsbildung 24, 56, 98 f., 106, 112,122,126 f., 169, 185,189 ff., 193 ff., 210,242, 261,438 f., 448,460 - Erwartungssicherheit 42, 86, 188, 200 f., 351,442,448 - Erwartungssicherung 95 - generalisierte 190,193ff, 438,452 Erzählstrukturen s. narrative Strukturen Ethik(en) 374, 377, 385, 387, 390, 397, 405 ff. Eugenik 373, 379, 385,401,406,437 Evidenz(en) 31, 75, 234, 292, 295, 304, 350, 363, 365, 367, 370, 379ff, 384, 386, 388 ff., 399 f., 405, 410, 414, 424 f., 431, 434,440,447,450,461 f. Experten 65 f., 70,156, 200,204 f., 439 Expertenkommission(en) 371, 374, 417, 429,459 Fallgruppenbildung 87, 288, 323 ff., 345, 456 Finalprogramme 29, 85, 169 (s. auch Zweckprogramme) Fingerabdruck, genetischer 371 Flexibilität von Recht 23, 75, 172, 224, 236, 284, 287,458 Folgebereitschaft 114, 117, 164 f., 181, 394, 435 Folgenerwägungen 74, 94, 201, 220, 229, 260, 383 Folgenorientierung 23,160, 349 Formalität 41 f., 122, 128, 333, 351, 403, 434,444 Forschungsfreiheit 33 f., 38 f., 380 Forschungsverbote 373 Frankenstein (Mary Shelley) 378 ff., 386 f., 389, 391 Freiheit(en) - Bewehrung von ~ 37,39f., 369,428,444 - rechtlich konstituierte 40ff., 43, 46ff., 198, 305, 355, 362,426,429,443 - selbstexekutive s. Freiheitsgrundrechte - unbewehrte 37 Freiheitsgarantien, negative 36 Freiheitsgrundrechte 32 - bewehrte 39 f. - negatorische 36 ff., 305,426,428,443 f. - Normstruktur 56 ff.
530
arverzeichnis
- rechtlich konstituierte s. Freiheit(en) - selbstexekutive 36ff, 43ff., 362, 426, 431 - zukunftsoffene 37f. Freiheitskorridor(e) 38,40,42,46 Freiheitsparadox 50 Freiheitsrechte s. Freiheitsgrundrechte Freiheitsvermutung (in dubio pro libertate) 51 ff. Freirechtslehre/-schule 147,320 Fundunterschlagung 117 Furcht s. Angst Gefahr 62, 66 Gefahrenabwehr 52,72 Gegendarstellung, Anspruch auf 280 Gemeinsamkeit(en), kommunikative 99, 102, 121, 125, 155, 164, 186 f., 218, 228, 230,234 ff., 303,431 Genanalyse 22, 25 f., 33 f., 43 ff., 58, 67,
69, 75, 274, 282, 284, 359, 368, 369ff., 383, 402, 408, 412 ff., 425 ff., 433, 436, 440,443,446 f., 458 f., 461 - im Arbeitsrecht 414,419,423,428, 435 - Bekanntgabe von Untersuchungsergebnissen 45,402 - Blutprobe 35 f. - Gentest(s) 22, 43 f., 69, 277, 369, 412 f., 416,428,437,444 - postnatale 423 - im Versicherungsrecht 71, 419 ff., 423, 428,435,437 - Verwertung 437 Gendiagnostik, indirekte 412 Gendiagnostikgesetz s. Gentestgesetz Generalklausel(n) 23 f., 42, 46, 76, 94, 173, 217, 224, 288,298, 327, 343,431,435 Genetik 388 Genetische Selbstbestimmung s. Recht auf ~ Geninformationelle Selbstbestimmung s. Recht auf ~ Genmanipulation 370 Genomanalyse s. Genanalyse Genomanalyse, prädikative 22 Genpool 373,406,431,461 Gentechnik /Gentechnologie 25, 60, 214, 250, 355, 371, 373, 377, 379 f., 393, 407, 409,447
Gentest(s) s. Genanalyse Gentestgesetz 27,429 Gentransfer 383 Gerechtigkeit 236,249,278,448 Gerichtsberatung s. gerichtliche Beratungen Geschichtenerzählen 234,251, 391,415 Geschlossenheit, autopoietische 91 Geschlossenheit, operative s. Systeme Gesetzesänderung 229 Gesetzesbindung 95,127,156, 224 Gesetzespositivismus 147,224 Gesetzestext 105,146 Gesetzgeber/Gesetzgebung 46, 52 f., 56, 75, 184, 213, 223, 284, 344, 439, 446, 449,455 Gesundheit 21, 25, 38, 60, 69 f., 269, 332, 373 f., 407 f., 419, 436 f., 461 (s. auch Recht auf ~) Gewaltenteilung 239, 343 f., 455,459 Gewaltmonopol 51,72, 195,266,287 Gewichtungsregeln 244,456 f. Ginseng-Entscheidung (BGH) 247, 312, 337, 345 ff. Gleichbehandlung 167, 181,248 Gottesebenbildlichkeit 377, 394, 397 f. Grenzwert(e) 172,199, 201, 255 Grundrechte 86, 279 f., 322, 427, 454, 458 (s. auch Freiheitsgrundrechte) - Abwägung von G. 235 - Abwehrgrundrechte 36 ff., 280, 306, 353, 355,431 - Drittwirkung von ~ 50, 83 - Grundrechtsverzicht 400 - Normstruktur von ~ 32 ff. - als Prinzipien 79, 217, 227,233,262f. Grundrechtsschutz, dynamischer 72 f., 360 Grundrechtstheorie, funktionalistische 396 Güterabwägung s. Abwägung Habitualisierung 129,151 Habitus, juristischer 96, 151 ff, 212, 216, 232 Haftung 52 f., 60 Handeln,richterliches 96,189 Handlungsfreiheit, allgemeine 37 f., 44,427 Handlungsmöglichkeiten, faktische 34 Handlungsspielräume 133 ff. Handlungssysteme 136
Sachwortverzeichnis Handlungstheorie 97, 122, 132, 170, 175, 187,196 Handlungsunrecht 326 Hard Cases 214,436 Heilung s. Recht auf ~ Hermeneutik 92, 104, 323 Herrenreiter-Entscheidung (BGH) 228, 230, 312, 319,330 ff, 343, 345 ff., 349 Humangenetik 7, 26, 279, 370 ff., 382 f., 386, 388, 390, 393 f., 396, 402, 406 ff., 419,426,429,433 f., 436 f., 461 Ich-Analogie 100,103,105 Ich-Ideal 155,161,163,233 Idealismus, deutscher 293,332,462 Idealtypus /Idealtypen 81, 88, 143 Identität(en) 21, 25, 59, 139, 265, 270 ff., 275 ff., 446 f. Immaterialgüterrecht(e) 291, 355, 405, 429, 431 Individualisierung 205, 393,407,446 Individualisierungsprozesse 58,269 Individualität 40, 44, 102, 263, 266, 268 ff., 281,318, 390, 396,461 Individualrechte 290 f. Individuum 41, 136, 152, 267, 269 ff., 392, 395,402,446 Information 64,185 f., 199 - genetische 373,426 Informationstechnologie 25,270,426 Informed Consent 365,419,421 Innovation 33,287, 289,430,445 Innovationsoffenheit (des Rechts) s. Rechtssystem Insemination, heterologe 388 Instanzenzug/-weg 96, 130, 161 f., 460 (s. auch Rechtsweg) Integritätsinteressen 28, 43, 75, 296, 299, 306, 315 f., 444,453 Interessen (s. auch Internalisierung von ~) - anerkannte 326 - ideelle 289, 332, 354 f., 405 - kommerzielle s. Verwertungsinteressen - rechtlich geschützte 343,435 Interessenabwägung s. Abwägung lnteressenjurisprudenz 84, 147, 224, 304, 320, 352,458 Interferenz 178,216, 450 34*
531
Internalisierung 46, 49, 61, 75 f., 141, 155, 180, 247, 313, 318,424,449,457 f. - von Interessen 39 f., 244f., 281,290, 305, 324 f., 327 f., 364,444 - von Rechtsgütern 239 Interpénétration 141,178,450 Interpretationsgemeinschaft 186,451 Interpretationsspielräume 134 f., 149 Intersubjektivität 99,102 Intimsphäre 265,270,277,279 Irritation 219, 232,421,435,450,455 Irritationsbereitschaft 239, 360,433 Judikative 74 f., 459 Judiz 127,157,230 Justizsyllogismus 89,126, 144 Justizverweigerungsverbot 73,223,259 Kadi-Justiz 183,214, 226, 345 Kasuistik(en) 30, 145, 191, 257, 262, 323 f., 458 Katastrophen 52, 60, 65, 70,205,207 Kausaldenken 65 f., 73 Keimbahnintervention /-therapie 383, 402, 437 Kenntnis der eigenen Abstammung s. Recht auf ~ Kenntnis der eigenen genetischen Disposition s. Recht auf ~ Kind als Schaden 167, 371 Klonen 383, 389, 395, 400, 402, 410, 438, 443 Kognition 157, 179 Kommentar(e) 117, 126, 146, 154, 164 f. 181, 324, 328 Kommunikation 70, 101 ff., 112 f., 124 f., 171 ff., 216,271,441,443,451,453,455 - Anschlußkommunikation 180 f., 183,423, 449,457 - außerrechtliche/ rechtsexterne 211, 255, 448 f. - binnengerichtliche 122 - herrschaftsfreie 109, 121 f. - juristische/rechtliche 96, 119 ff., 122, 171 ff., 179 f., 190,211,448 - moralische 171, 210 f. - offene 160
532
arverzeichnis
- verständigungsorientierte 109,119 ff. - verzerrte 121 Kompetenznormen 37 Komplexität, Reduktion von 140, 193, 329, 351 Konditionalisierung 241 ff., 265, 365 Konditionalnormen 143, 145 f., 149, 182 f., 211, 221, 223, 227, 230, 240, 242 ff., 265, 422, 449, 456 f. (s. auch Konditionalprogramme) - vergangenheitsorientierte 42, 224 Konditionalprogramm(e) 29, 75, 84, 85ff, 94 f., 131 ff., 364, 458 (s. auch Konditionalnormen) Konfliktabsorption 235,447 Konfliktstruktur(en) 23,28 Konsens(e) 53, 60, 64, 73 f., 108, 113 f., 117,120,123,129,145, 163 ff., 180, 200, 210, 234 f., 250, 255, 261, 424, 434, 437, 440,446,448,461 Konsistenz 217, 220 f., 260, 287, 344, 352, 394,404,409,458,460 Konstruktivismus 97 ff., 100 Kontingenz 27, 60,142,171,190 f., 442 - doppelte 98 Kontrolle 270 f., 274 ff., 281 f., 306, 314, 318, 362, 378, 386, 392 f., 414, 431, 446, 461 - Fremd- und Selbstkontrolle 63,445 - Kontrollverluste 360, 378,409,446 f. Konvention(en) 91, 96, 111, 122, 129, 146, 186,248,374 Kopplung, strukturelle 140, 177 f., 211, 219, 450 Körper 269, 332, 375, 386 f., 397,407,462 Körpermaterial/-substanzen 364, 418, 430, 432,444 Körperverletzung 36,444 Körperverletzungsdoktrin 188 Krankenpapier-Entscheidung (BGH) 316ff., 331 f., 338, 347 Krankenunterlagen 320, 329 - Einsichtsrecht des Patienten in ~ 365, 384 Krankheit(en) 21, 68 f., 371, 374 f., 383, 406 f., 412 f., 416,423, 437,445 Latenz 67f., 70, 199, 201, 204, 207, 214, 253 ff., 256
Ubach-Entscheidung (BVerfG) 75 f., 227, 235,241 ff., 277 Lebenswelt(en) (Habermas) 101, 116, 206, 209, 216,367 Legislative 53, 74,184,207,434,459 Legitimation 34, 261,447 Lehre, herrschende 154, 308 Lernen 153,178, 220,259 ff., 438,455 Leserbrief-Entscheidung s. Schachtbriefentscheidung Literatur, rechtswissenschaftliche 31, 56, 180 f., 194 Lizenzgebühren, entgangene 314, 331 ff., 349 Loose Coupling 188,404 Lüth-Entscheidung 322, 343 Macht 47, 53, 117, 119 f., 140 f., 194, 209, 268 f., 270, 274,287,407,462 Manipulation, gentechnische 391, 395,437 Marlene-Dietrich-Entscheidungen (BGH) 353ff, 357,404,429 Massenmedien 70, 205 ff., 272,440,458 f. Medizintechniken, moderne/neue 21 ff., 43, 250, 279 Meinung, herrschende (h. M.) 120,154,164, 212,308 Meinung, öffentliche s. Öffentlichkeit Menschenwürde 26, 309, 318, 334, 340, 376, 380, 415, 418 f., 422, 424, 426, 430, 433 ff., 450,460 - individualistische Interpretation der M. 391 ff., 397,410,433 ff., 461 - kollektivistische Interpretation der M. 391, 393 ff., 397,401,403,410,431,434, 436 ff., 461 - Kommerzialisierung der M. 350,430 - Mitgiftthese/-theorien 393,406 Menschenwürdegrundsatz s. Menschenwürde Menschenzüchtung 383, 391,410 Mephisto-Entscheidung (BVerfG) 342, 354, 404 Methodenlehre 92, 320 Mindermeinung 164, 308, 354,404 Monitoring 258 ff. Moore vs. Reg. of University of Calif, et al. (Supreme Court of Calif.) 47,431 f.
Sachwortverzeichnis Moral 72 f., 142, 171 ff., 184, 194, 209 ff., 213 f., 278, 352,408,447 Motiv(e) 94,118 ff., 132,174 ff., 449 Mythos/Mythen 376, 387 f., 392, 394,437 Narrativität s. Geschichtenerzählen Nationalsozialismus 300, 307 ff., 379, 384 ff., 406 Natur 60, 70, 369, 376, 378, 386 f., 389 ff., 392 - Ethisierung der N. 389, 394 - Gegensatz N. und Kultur 25, 385 - menschliche 59 f., 386, 392, 395, 399, 406,437 - Naturbeherrschung 279, 376 ff., 384, 386, 387 - und Tabus 60,389 Naturalrestitution 298,316, 331 Naturrecht 291, 368 Naturrechtsrenaissance 291, 309, 385 Negationsverbot 147, 287 Nichtwissen s. Recht auf ~ Noise 177, 219, 257 (s. auch Irritation, Störung) Normbildungsprozeß / Normbildungsprozesse 24, 26, 75 ff., 132, 143, 221, 242, 261, 284ff, 366,412,425,442 ff., 458 ff. Normen 37,77 ff., 209 f. Normstruktur 28, 32 ff., 362, 425, 428 f., 443 f., 461 f. Normtatsachen 23,191 Normtext(e) 81,92,105,151 Obersatz/Obersätze 105, 145, 241, 248, 301,305,323, 331,457 Objektformel 383f., 386, 390, 392 Öffentlichkeit 56, 70, 117, 130, 205 ff., 266, 268,272, 293, 339, 374,439,451 - Fachöffentlichkeit 117,130 - Meinung, öffentliche 205 ff., 459 Öffnung des Rechts 155, 261, 351, 360, 455 ff. Ökonomische Analyse des Rechts 280, 352 Operation(en) 97, 112, 171, 173, 177, 180, 182,219,236 Optionsrechte 35,426 Paradoxiebewältigungsprogramm 236,248 Partei Vortrag 191
533
Patent 42,47, 307 f., 432 Patentierung von DNA 47 f., 429,432 Patentrecht 40,47 f., 51,56 f., 305, 355,439 Patientenautonomie 282,419 Paul-Dahlke-Entscheidung (BGH) 314ff., 320, 330 ff., 336, 362 Personalität 25,40, 396 Personen, diskreditierbare 275, 446 Persönlichkeitsbegriff 239, 291, 385 Persönlichkeitsrecht(e) - Abwägung von ~ 75 f., 227 ff., 285 - Antwortcharakter von ~ 276,279 - besondere 240 f., 364,404 - Kommerzialisierung von ~ 315, 334, 350, 403,405,429 f. - neue 24,179,239 f., 265, 280,462 - Normstrukur von ~ 28, 32,42 ff., 241 - Persönlichkeitsrechtsentwicklung 51,186, 235,266,284 ff., 417,442 ff., 458 ff. - spezielle 42 f., 297 - postmortale 354 ff. - als Prinzipien 264 ff. - Verfiigungsbefugnis 401 - Verkehrsfähigkeit von ~ 401 ff. Persönlichkeitsrecht, allgemeines 25 f., 31, 35, 38, 44, 163, 176, 220, 224, 240,
296ff.,
379, 382, 385, 392, 402 ff., 411,
422 f., 431,435,453 f., 458 - Schutzbereich 323 ff. - als sonstiges Recht 319, 332,452,456 - als Topos 246 f., 308,311,316 - Wesensgehalt 400 Persönlichkeitsschutz, postmortaler 354 ff. Pfadabhängigkeit/Pfadbahnung 136, 165, 195 PID s. Präimplantationsdiagnostik Politik 54 f., 70,209,438 Pragmatik 100,104,106 Präimplantationsdiagnostik 277, 396, 413, 437 f. Präjudizien 153, 164, 166 ff., 181, 191, 203,
212, 288 Präjudizienbindung 166 f., 287 Pränataldiagnostik 42, 282,413 Prävention 53, 282,408,436 f. Primärtext(e) 146 ff., 150, 170, 238 ff., 262, 265, 288, 306, 312,448,455
534
arverzeichnis
Prinzipien 77ff., 90, 95, 132, 166, 179, 224, 227,259,261,420 f., 435,454 ff. - als Idealtypen 80 f., 88 - als Optimierungsgebote 78 f., 87 f., 454, 458 - als Primärtexte 238 ff. - als Relevanzkriterien 174 - als Sekundärtexte 238 ff. - als Topoi 246 f. - Verdichtung von ~ s. Eigenwertbildung - als Zweckprogramme 86 f. Prinzipienabwägung s. Abwägung Prinzipiendiskurse s. Diskurse Privatautonomie 40 Privatheit 265ff, 276,281,293, 318,446 Privatsphäre 240,265 ff., 270 ff. Privatsphärenkonzept 363 f. Professionalität 145,154 f., 157 Programme 171,173ff, 183 (s. auch Konditionalprogramme, Zweckprogramme) Programmierung, finale 89, 196 (s. auch Zweckprogramme) Programmierung, konditionale 41, 89, 177, 182 f., 196,450 Prometheus-Mythos 376ff, 384, 386, 388, 394 Psychoanalyse 159, 178 f. - Charaktertypus, nazistischer 159 - Über-Ich 159, 216 Punitive Damages 348 ff. Rassenhygiene 378,406 Rationalität 73, 195, 201 f., 209 f., 212, 257, 455 - Bounded Rationality 200,231 - formale 214, 217, 228,458 f. - Rational Choice 63 - rechtsexterne 210,214 - rechtsspezifische 196 - naturwissenschaftliche 199 - soziale 209 Realfolgen 74, 203 Realität als Konstruktion 144, 206 Recht - absolutes 322 - allein gelassen zu werden 342 - an Briefen 294, 302 f. - Definition 94,143,159,173
- am eigenen Bild 293, 298, 331, 335, 342, 360 - am eigenen genetischen Code 400 - Eigenlogik des - 197 - am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb 40,298, 304, 337 f., 343 - als „fait social" 27 - auf freie Entfaltung der Persönlichkeit 304 - flexibles s. Flexibilität - formales 42,49, 219 - auf Gehör, rechtliches 128 - geltendes 46, 300, 431, 441, 452 (s. auch Rechtsgeltung) - moralische Gehalte des ~ 209 ff. - auf Gesundheit 33 f., 44,419 - auf Heilung 34,408 - auf Kenntnis der eigenen Abstammung 44, 371,405 - auf Kenntnis der eigenen genetischen Disposition 44 f., 48,427 ff., 462 - lernendes 23,220 f., 261 (s. auch Lernen) - auf Nichtwissen 31, 46, 282, 351, 359,
370, 415ff, -
-
425, 427 f., 435, 441, 456,
462 als Praxis 142,210 prozedurales 23, 259 Öffnung des ~ s. Öffnung Recht/Unrecht 171 ff., 177, 180, 184, 191 f., 252 f., 457 relationales R. 23 reflexives 352 römisches 181 Schließung des ~ s. Schließung auf Selbstbestimmung (des Patienten) 246, 363,418,426 auf Selbstbestimmung, bioethische 283, 411 f., 426 auf Selbstbestimmung, genetische 44 ff., 411 f., 425 ff., 434 f., 441,462 auf Selbstbestimmung, geninformationelle 370,376,380,411,418,430,433,435 auf Selbstbestimmung, informationelle 3 5 , 40, 44, 46, 48, 75, 220, 240, 256, 318 f., 355, 359, 363, 365, 369, 376, 384, 403,418 f., 421 f., 425,430,435 f., 455 Vergangenheitsorientierung des - 41, 54, 223,253,449
Sachwortverzeichnis - weiches s. Soft Law und weiche Rechtsformen - auf Wissen 425,427 ff. - auf Zufall 395 Rechtfertigungszwänge 154,434,444 Rechtsbegriffe 110 f., 143 ff, 327,409 Rechtsentwicklung 26,50,188,210,427 Rechtsfähigkeit 290,403 Rechtsformen, weiche 23, 42, 225, 233 (s. auch Soft Law) Rechtsfortbildung 52,160, 176 ff, 182,215, 224, 329,343,350 Rechtsgefühl 127,157,179,215,230 Rechtsgeltung 49,181,287, 341,344,441 Rechtslehre, strukturierende (F. Müller) 147,
535
Reflexivität s. reflexives Recht Regel(n) 77f., 90, 93, 95 f., 132, 165, 238, 315, 322, 366 f., 420, 428, 439, 449, 456 f., 458 - Alles-oder-Nichts-Charakter von - 78, 81 - als Idealtypen 80 f., 88 - als Konditionalprogramme 85, 88 - Regelbefolgung, richterliche 94 - Regelorientierung, richterliche 176 - Regelsuspendierung 322,435 Regeldiskurs(e) 30, 91, 143, 148, 151, 153, 160, 182 f., 191, 197, 210, 222 f., 231, 235 f., 252, 258, 262, 278, 286, 300 f., 360,436 Regelgeflecht(e) / -netzwerke 23, 30, 41, 180 143, 206, 216, 223, 243, 355, 366, 422, Rechtsmittel 117,129 431,449,452,458 Rechtspositivismus 161, 385 Regelstrukturen s. Strukturen Rechtsprechung 31, 56, 74 f., 107, 116, Reproduktionsmedizin 222, 247, 355, 144 f., 159, 163 ff., 176, 180 f., 183 f., 370 f., 380 f., 412 f., 422 186,194, 206,240,243,284, 287 Reproduktionstechnologien 376 - ständige (st. Rspr.) 120,154,164,186 Restabilisierung 336 ff., 345 (s. auch EigenRechtsrealismus 93,197,264 wertbildung) Rechtssicherheit 24, 167, 170, 185, 188 f., Reziprozität 262 f. 193 f., 228,235, 339, 342,458,460 Rhetorik 235,248 ff, 254,305,342 - formelle 194, 229 Richter/Richterinnen 78, 92 ff., 96, 107, - materielle 169,194, 196,221, 249,456 122, 126, 128 ff, 144, 150, 156,160, 162, Rechtssoziologie s. Soziologie 167, 173 f., 177, 181, 190 ff., 203, 206, Rechtssubjektivität 25, 37, 40, 281, 396 f., 208, 210ff., 216 413 Richten-echt 223, 312 Rechtssystem 47, 56, 67, 70, 74, 89, 121, Risiko/Risiken 62 ff, 70, 75, 256,436,439, 123, 143,159,170 ff., 180, 184, 187,189, 445,461 207 f., 219, 223, 225, 261, 435, 442 f., - Gesundheitsrisiken/Krankheitsrisiken 451,455 68 f., 408 - Innovationsoffenheit des - 28, 32 ff., 54, Kalkulierbarkeit von ~ 65 56 ff., 369, 374,439,447,462 als Konstrukt 67 f. - operativ geschlossenes 112, 171,173 ff. - neue 219 - Stabilität des - 190 ff., 196,434,439 - Restrisiko 199, 205 Rechtstheorie 28, 77, 84, 87, 90 ff., 126, - Risikoaversion 202 128, 131,239,460 - Risikofaktorenkonzept 68 f., 407 Rechtsweg 160 ff., 460 (s. auch Instanzen- Risikoträger 58, 68 zug) - Risikoregulierung 71 ff, 198 ff. Rechtswissenschaft 24, 74 f., 286f., 436, - Risikowahrnehmung 65,204 ff., 215,309 446,450,453 Redundanz(en) 184ff., 210, 221, 225, 227, ^ - traditionale 218 - Zukunftsoffenheit von - 54, 71 234, 236, 238, 241, 243, 310, 313, 336, Risikodiskurs(e) s. Diskurs 380,424,439 f., 449,453
536
arverzeichnis
Risikogesellschaft 54,57,75 f., 458 Risikokommunikation(en) 28, 30, 62 ff., 70, 132, 198 f., 204 f., 207, 215, 218 f., 222, 286, 353, 357 f., 363, 370, 447,450 f. - und Angstkommunikation 72, 204, 207, 350,453 - Moralisierung von - 72,453 - Politisierung von - 72 Rollenideal, juristisches 153,156 Routine(n) 24, 96, 112, 116, 120, 151, 155, 158, 161, 167, 185, 196, 199, 221, 225, 232, 237, 239, 262, 287, 344 f., 351, 366 f., 442,448 f., 456 f., 459 - erster Ordnung 233 - zweiter Ordnung 233, 322,435,454,458 Rückwirkung 93ff., 167,192, 244 Sachverhalt 105,143 f., 151,234 Sachverhaltskonstruktion 119, 144, 190 ff.,
200 Sachverhaltssteuerung, richterliche 191 Samenspenderentscheidung (BGH) 246,257 Schachtbriefentscheidung (BGH) 238, 300ff, 313 ff., 320, 323, 331, 338, 347, 361,367 Schadensersatz 238, 281, 297, 315, 332 ff., 340,348, 354,423 Schäden, immaterielle 332 f. Schließung des Rechts 208, 284, 352, 448, 455 Schmerzensgeld 247, 258, 280, 334, 340, 345ff., 423 - Genugtuungsfunktion 245 ff. - Prävention 347 ff. Schutzrechte 35,426 f. Science Fiction 378, 388 Sekundärtext(e) 105, 146, 148 f., 150, 170, 182 f., 184 f., 238 ff., 262, 288, 328, 448, 455 Selbstbestimmung 40, 43, 188, 265, 270, 273 ff., 279 ff., 283, 318, 337, 363, 393, 399 f., 402 f., 407, 428, 438, 445 ff., 457, 460 ff. - bioethische s. Recht auf bioethische ~ - genetische s. Recht auf genetische ~ - geninformationelle s. Recht auf geninformationelle ~
-individuelle 270f., 382, 392, 402ff., 409 f., 414,419,431,435 f., 462 - informationelle s. Recht auf informationelle ~ - des Patienten s. Recht auf ~ 246, 363, 418,426 - persönlichkeitsrechtliche s. persönlichkeitsrechtliches Selbstbestimmungsrecht Selbstbestimmungskonzept / -konzeption 360ff, 382,411,425,434 Selbstbestimmungsrecht, persönlichkeitsrechtliches 247, 282, 355 f., 360ff, 365, 368, 403, 414, 418 f., 429ff., 433 f., 436, 461 Selbstbindung, richterliche 76, 257 f., 303, 311,318, 323, 340 Selbstverständnis - individuelles 45,97,270 ff. - juristisches 217,231, 234,451 - richterliches 212 Sicherheit 71 ff., 200, 202, 204, 269, 272, 336,446 Sinntransfer 176, 220 Soft Law 23, 251, 367, 458 (s. auch weiche Rechtsformen) Sonderfallthese (Alexy, Habermas) 109,118 Soraya-Entscheidung (BVerfG) 228, 234 f., 247, 299, 334, 341,342 ff. Sozialadäquanz (Nipperdey) 335, 338 Soziaibereichs vemetzung 414,420,428 Sozialisation - juristische 107,151 ff., 159,212,448 - primäre 102 - sekundäre 102,151 Soziologie - mikro- und makrosoziologische Ansätze 29, 89 f., 203,451 - Rechtssoziologie 28, 84, 87, 89, 94, 96, 118, 128, 156, 170, 182, 185, 188, 194, 345, 349,460 - verstehende 97 Sphärentheorie 38,243,434 Sprache (s. auch Typenbildung) - Alltagssprache 113, 115 - Begriffsverwendung 108 f. - Fachsprachejuristische 109, 113, 115 f. - Gebrauch sprachlicher Zeichen 100 - als Handlungsmedium 109 f.
Sachwortverzeichnis - Verwendung sprachlicher Zeichen 100, 108,110,124 - Umgangssprache 109,111 Sprachgebrauch, juristischer 108, 110 ff.,
212 Sprachgemeinschaft, juristische 107 f., 151 f. Sprachspiel 24,111, 113,150, 248 Stabilität 30, 55, 75, 119, 136, 141, 158,
164, 170, 181 ff., 187, 190ff.,
537
- Systemgeschichte/-Vergangenheit 175, 452,456 - Systemkomplexität 185 - Systemrationalität 175,219 - Umweltsysteme 219 Systemtheorie 29, 90, 97, 139, 174, 178 ff., 183,442,450 Tatbestand 143,145,191
203, 213, Technikargument 356,357 ff., 365, 368
Technikentwicklung 32 ff., 53 ff., 198, 204, 219, 222,257 Technologieoffenheit 32, 56 442ff. Temporalstruktur Stabilisierung s. Eigenwertbildung - von Abwägungen 256 Stammzellenforschung 222 - von Konditionalnormen 322 Statik 55,136,438 - negatorischer Freiheitsrechte 40,71,369 Steuerung 203 f. - des Rechts 54 Stigmatisierung IIA f., 414,446 - von Risiken 71 Stoppregeln 65,201 f. Texttradition(en) 31, 212 f., 291, 347, Störung 104, 177 f., 219, 258, 260 (s. auch 351 f., 370, 383, 385,401,440,444,456 Irritation, Noise) - hegemoniale 31,163 Struktur(en) 98, 133ff., 138, 141 f., 152, - minoritäre 31,163,, 285,291,366 f., 454 171, 187, 216, 230, 236, 319, 424, 427, Textverständnis(se) 92, 210 f., 214, 222, 439,442 f., 449 230, 233, 237,444 - narrative S. 375, 386, 388, 392, 394, 399, Therapiefreiheit 33 410,414,434,440,448 f. Topik 323, 352 - Regelstrukturen 222, 262, 264, 311, 324, Topos/Topoi 164, 246 f., 251, 308, 311, 409,421,429,431 f., 435,441,456 ff. 316, 360, 365,368 Strukturierung, Theorie der 135 Typenbildung /Typisierung(en) 33, 39 ff., Subjekt(e) 271,443,450 (s. auch Akteure) 49ff., 102, 103ff, 151, 222, 337, 433, - Abwesenheit/Ausblendung von ~ 135, 439 f., 444 443 Typus/Typik 104, 222, 252, 265, 326 Subjekt-Objekt-Dichotomie 384, 386, 392, 394 Überformung von Realität 57 ff. Subsumtion 91 ff., 126,145, 301,409,454 Unbestimmtheitsparadox 95 f., 127, 131, System(e) 197 - autopoietische 140,174ff, 183 Unrecht s. Recht/Unrecht - kognitiv offene 175, 177,447 Unsicherheit 62 ff., 68, 70, 199 f., 202 f., - komplexe 219 255, 280, 327,439 - operativ geschlossene 171, 173, 175 ff., Unsicherheitsabsorption 202 f. 447,450 Unterlassung, Anspruch auf 51, 281, 298, - politisches 184, 198, 210, 223 423 - psychische 97,141,450 Unterlassungsrechtsschutz 53,74 Urheberpersönlichkeitsrecht 313 - soziale 140 f., 158,450 - Subsysteme/Teilsysteme 141 f., 171, Urheberrecht 40 f., 51, 290, 295, 298, 302 f., 313, 358, 362 179,198, 206,209, 211,450,458 Urheberschutz 289, 302 - Systembruch s. Bruch 221, 227 f., 237, 285, 288, 311, 313, 336, 346, 351, 367, 370, 411, 424,429, 433 ff.,
538
arverzeichnis
Urteilsbegründung(en) 128, 131, 181 s. auch Begründungen Utlitarismus 386, 397,410
Vorrangrelation 79, 82, 88,173,241 ff., 253, 262,265,311,318,323 f., 329,420 f., 457 Vorverständnis(se) 92,94,106 f., 213,323
Variabilität s. Varianz/Varietät Varianz/Varietät 184ff., 211, 221, 224, 227 f., 236, 258, 261,439,449,455 Veitstanz s. Chorea Huntington Verbot(e) 37, 50 f., 56 f., 77, 216, 242, 259, 280, 298, 305 f., 322, 362, 369, 382 f., 389 ff., 395, 397 f., 400, 402, 410, 420, 422,428,437,439,444 - neuer Heilmethoden 34 - gentechnischer Verfahren 383, 391,436 Verdichtung s. Eigenwertbildung Verfassung 239,254,306 Verfassungsrecht 57, 76, 82, 173, 244, 246 f., 262,312, 338, 344 Vergangenheit(en), kommunikative 100ff., 109, 113, 117 f., 123 f., 151, 180, 186, 300 f., 303 f., 341, 366,449,456 - approximativer Charakter 102 f., 150 - Bruch mit - s. Bruch Verhaltenserwartungen 102, 112,424 Verkehrsfähigkeit 295 f., 298, 355,401 ff. Verknappung 108, 139, 159, 255, 344, 351 f., 417,460 Versicherung s. Genanalyse Verständigung 98,109,124 Verstehen 109,117,125 Verstetigung s. Eigenwertbildung Vertrag 40 ff., 51, 56 f., 444 Vertragsfreiheit 40, 51, 56 f. Vertragsrecht 48, 355,439 Vertrauen 66, 68, 165, 198ff, 204, 223, 253,274 f., 363,455,461 f. Verwertung - Fall John Moore s. Moore - des eigenen Genoms 48,431 - des menschlichen Körpers 43 Verwertungsinteressen 28, 43, 268, 315 f., 334,355, 362,402,444, 461 Verwertungsrecht, persönlichkeitsrechtliches 354,429 f. Verwertungsverbot 306 Volkszählungsurteil 235, 255, 353, 357, 360 f., 363, 384
Wahrheit 38, 99, 114, 116, 131, 142, 144, 163, 236, 341 Wahrnehmungsmuster 231, 375, 380, 387, 424,450,453 Werte 253 ff. Werteordnung 83,254 Wirtschaft 54 f., 174, 209,438,441 Wissen 47, 53, 64 ff., 69, 73, 165, 198 ff., 207, 223, 253, 257, 268 f., 270, 272, 378, 415,426 - Alltagswissen 64 - Recht auf ~ s. Recht - Weltwissen 102, 106, 115, 124, 234, 374, 394,447 - Wissensbestande, tradierte 358 - Wissensgenerierung 201 - Wissenskonstruktionen 57 - Wissensmaximierung 200 ff. Wissenschaft 54 f., 174, 190, 200, 204, 209, 424,438,441,443 Wissenschaftsfreiheit 33 (s. auch Forschungsfreiheit) Wortlautgrenze 117,127 Wortsinn 127 Zeichenverwendung 99 ff., 124,148 Zeichenwert 103 f., 115,148, 217 Zeit (als Ressource) 53, 57, 96, 114, 116, 130, 132, 150, 161,165, 169,186 ff., 196, 216, 255,448 f., 453 - Verknappung von ~ 131,165,449 - Zeitdruck 154, 244 Zeitausgleich (zwischen Systemen) 224 Zeiten, systemspezifische 184,195,210,224 Zeitbindung 49,444 Zeithorizonte (von Systemen) 54 ff., 195 f., 224, 261,438,448 Zeitumstellung 198,224, 252f., 256, 322 Zukunftsoffenheit 37,42,71 Zustimmung 109,117, 125, 130 f., 152,154, 164, 168, 182, 196, 217, 220, 230, 235, 304,441,445,449 Zweckprogramm(e) 75, 85ff, 131 ff., 155, 169, 217 f., 288, 365 Zweckrationalität 249