Der Joker im Schauspiel: Zur Reproduktion und Transgression von Typen im deutschen Ensembletheater am Beispiel des Theaterduos Vontobel/Schulz 9783839441916

Beyond gender, age and handicaps: Dipping into the heart of German local theater - the ensemble - Ellen Koban explores t

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German Pages 334 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Einleitung: Denken in Relationen
Teil 1: Zur Genese des Stadttheaters
Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem
Teil 3: Der Joker im Schauspiel
Schlussbemerkung: Stadttheater – Ensembletheater – Joker
Dank
Literatur
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Der Joker im Schauspiel: Zur Reproduktion und Transgression von Typen im deutschen Ensembletheater am Beispiel des Theaterduos Vontobel/Schulz
 9783839441916

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Ellen Koban Der Joker im Schauspiel

Theater  | Band 107

Gewidmet den Protagonist/innen dieser Arbeit: Jana Schulz und Roger Vontobel und meinen Hauptpersonen im Leben: Phillip, Lilith und Zelda Koban.

Ellen Koban (Dr.) war von 2013 bis 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin der interdisziplinären DFG-Forschergruppe 1939 »Un/doing Differences« an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit Sommer 2017 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Stabsstelle Kultur- und Kreativwirtschaft der Stadt Heidelberg.

Ellen Koban

Der Joker im Schauspiel Zur Reproduktion und Transgression von Typen im deutschen Ensembletheater am Beispiel des Theaterduos Vontobel/Schulz

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des Forschungszentrums Sozial- und Kulturwissenschaften Mainz (SoCuM). Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2017 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Fotoprobe »Glaube Liebe Hoffnung« mit Jana Schulz; © Marcus Brandt (dpa), 2009 Satz: Justine Buri, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4191-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4191-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorbemerkung  | 9 Einleitung: Denken in Relationen | 11 Forschungsfragen und Forschungsbeitrag | 11 Forschungsdesign und Auf bau der Arbeit | 22 Forschungsansätze: Verschränkung von Feld- und Dispositivanalyse | 28 Soziale Felder und ihre Re/produktionsbedingungen | 37 Illusio, Position, Kapital | 41 Feldanalyse zwischen Reproduktion und Transformation | 45 (Normalitäts-)Dispositive und Diskursformationen | 50 Geschlechterdispositiv(e) im sozialen Raum | 54 Post-/dramatisches Dispositiv als Raum des Möglichen | 66

Teil 1: Zur Genese des Stadttheaters | 73 1.1 Das (Bourdieu’sche) Feld der Kunstproduktion | 75 1.1.1 Erste Entstehungsphase: Autonomisierung des Feldes | 77 1.1.2 Zweite Entstehungsphase: Ausbildung einer dualistischen Struktur | 80 1.1.3 (Nationaler) sozialer Raum als Raum der Macht | 83 1.2 Das deutsche Stadttheater: Zur Genese eines sozialen Feldes | 87 1.2.1 Erste Entstehungsphase: Theater- und Bürgerkultur im Vormärz | 90 1.2.2 Zweite Entstehungsphase: Paradoxe Verhältnisse nach 1871 | 99 1.3 Das Stadttheater Bochum: Vom Kneiptheater zur Vorzeigeanstalt der Nation | 107 1.3.1 Zur Genese des (Neuen) Stadttheaters in Bochum | 109 1.3.2 Zur Re/produktion eines Dispositivs zwischen Reich und Republik | 117

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem | 125 2.1 Organisation der Schauspieler/innen im Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts | 126 2.1.1 Der Theateralmanach als Quellen- und Datenmaterial | 130 2.1.2 Das Personal als statistische und vermittelbare Größe | 134 2.1.3 Subjektivation und Subjektivierung durch das Rollenfach | 146 2.1.3.1 Das Rollenfach als Organisationsprinzip | 150 2.1.3.2 Das Rollenfach als künstlerisches Prinzip? | 155 2.1.3.3 Das Rollenfach als Habitus | 163 2.1.3.4 Das Rollenfach als Un/recht | 166 2.2 Funktion und Bedeutung des Ensemble-Prinzips im Gegenwartstheater | 175 2.2.1 E xploratives (Nach-)Fragen: Wie werden Ensembles zusammengestellt? | 180 2.2.2 Von Auswertungskategorien und Codes zur Kategorisierung von Schauspieler/innen | 185 2.2.3 Das Codieren der Stimmen: Was die Theaterproduzierenden (nicht) sagen | 191 2.2.3.1 Interferenzen von äußerem und innerem System: Die illusio des Stadttheaters | 192 2.2.3.2 Rekrutierung von Schauspieler/innen: Ästhetisches und soziales Kapital | 196 2.2.3.3 Strukturierung eines Ensembles: Einteilung nach Typen | 200 2.2.3.4 Funktionalisierung der Schauspieler/innen: Mannschaftsaufstellung | 209

Teil 3: Der Joker im Schauspiel | 215 3.1 Tatort Bochum | 224 3.1.1 Stellungnahmen I: Jana Schulz und Roger Vontobel | 226 3.1.1.1 Jana Schulz und Roger Vontobel über Rollen, Skripte und die eigene Berufung | 228 3.1.1.2 (Selbst-)Reflexionen | 234 3.1.2 Idee und Imagination: Menschen als Medien | 236 3.1.2.1 Über Menschen | 237 3.1.2.2 Über Medien | 239 3.1.3 Probieren und Inszenieren: Einsame Menschen auf der (Dreh-)Bühne | 242 3.1.3.1 Dieser Wahnsinn hat Methode: Praktikenkomplex Probe | 244 3.1.3.2 Die räumliche Situation: Proben-Alltag | 244 3.1.3.3 Die soziale Situation: soziale Differenzierung? | 245 3.1.3.4 Probensituation I: Leseprobe | 247 3.1.3.5 Probensituation II: Szenenprobe | 248 3.1.3.6 Perspektive der Regie: »Caspar David Friedrich auf Speed« | 251 3.1.3.7 Perspektive der Schauspieler/innen: »Wer sind wir dann?« | 252 3.1.3.8 Probensituation III: Bühnenprobe | 254 3.1.3.9 Premiere: die theatrale Situation | 257 3.1.3.10 Und jetzt? – Ein Stück Schauspiel- und Regietheorie | 258

3.1.4 Darstellung und Wahrnehmung(seffekt): Genderblending am Beispiel [ fi’lo:tas] | 262 3.1.4.1 »Wer bin ich?« – die Ausgangssituation | 263 3.1.4.2 [ fi’lo:tas] – eine Frage der Zugehörigkeit | 266 3.1.4.3 Was macht die Schauspielerin (nicht)? | 267 3.1.4.4 Was macht der Regisseur (nicht)? | 270 3.1.4.5 Was machen (rein theoretisch) die Zuschauer/innen? | 272 3.1.5 Stellungnahmen II: Überregionales und lokales Publikum | 276 3.1.5.1 Wie schreibt die Theaterkritik über das Theaterduo Vontobel/Schulz? | 281 3.1.5.2 Wie spricht das lokale Publikum über sie? | 287 3.2 Der Joker – eine symbolische Position? | 296

Schlussbemerkung: Stadttheater – Ensembletheater – Joker | 307 Dank | 311 Literatur | 313 Internetseiten | 332

Vorbemerkung »Daß die Geschichte des Feldes die Geschichte des Kampfes um das Monopol auf Durchsetzung legitimer Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien ist: diese Aussage ist noch unzureichend; es ist vielmehr der Kampf selbst, der die Geschichte des Feldes ausmacht; durch den Kampf tritt es in die Zeit ein.«1 P ierre B ourdieu

Diese Arbeit versteht sich als ein Dialog: ein Dialog auf (der) Probe, der im Laufe des Forschungsprozesses zwischen einer Vielzahl an Akteur/innen2 und ihren jeweiligen Positionen geführt und weiterentwickelt worden ist, der seinen Gegenstand relational artikuliert, revidiert und immer wieder von Neuem verhandelt. Was für meinen wissenschaftlichen Forschungs- und Schreibprozess gilt, gilt nicht weniger für das Forschungsfeld, dem sich diese Arbeit widmet: Theater entsteht nicht nur im fiktiven Dialog zwischen zwei oder mehreren Figuren, nicht nur als reales Ereignis zwischen leiblich anwesenden Schauspieler/innen und Zuschauer/innen. Es versteht sich genuin als soziale Praxis, die im Spannungsfeld zwischen ästhetisch und alltäglich gerahmten Selbst- und Fremddarstellungen, zwischen körperlicher und sprachlicher Bedeutungskonstitution Theater macht. Den Akteur/innen dieser Theaterpraxis und den unterschiedlichen Instanzen der Kunst- beziehungsweise Künstler/innen-Produktion gilt mein Interesse, der Aufführungssituation gleichermaßen wie den ihr vor- sowie nachgeschalteten Auswahl-, Proben- und Bewertungsprozessen von Schauspieler/innen durch Besetzungs-, Darstellungs- und Wahrnehmungspraktiken. Als Material der Untersuchung dienen folglich nicht nur die Schauspieler/innen, ihre Körper und ihre Darstellungen, sondern auch die Stimmen und Wahrnehmungen von Ko-Produzent/innen und Rezipient/innen. Ohne deren Stellungnahmen in mündlicher, schriftlicher wie auch künstlerischer Form wäre die hier vorliegende Forschungsarbeit nicht realisierbar gewesen. 1 | Bourdieu 1999 [1992], 253. 2 | Mit der Verwendung des Slashs führe ich im Rahmen meiner Arbeit eine auf den ersten Blick ungewöhnliche, geschlechtsindifferente Schreibweise ein, die dem differenzierungstheoretischen Konzept des Un/doing Differences entspringt. In diesem Sinne soll der Slash in der vorgeschlagenen Schreibweise »einen Moment der Ununterschiedenheit und In-Differenz zwischen der Relevanz und Irrelevanz« (Hirschauer 2014, 170) der Geschlechterdifferenz bedeuten.

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Der Joker im Schauspiel

An erster Stelle möchte ich daher den Protagonist/innen meiner Arbeit danken, Jana Schulz und Roger Vontobel, die ich bei ihrer täglichen Arbeit beobachten, befragen, deren Positionen ich kennenlernen durfte – für diese ganz persönliche Erfahrung ›im Feld‹ bin ich ihnen sowie dem Schauspielhaus Bochum und dessen ehemaligem Intendanten Anselm Weber zutiefst dankbar, ebenso all jenen Schauspieler/innen, Regisseur/innen, Dramaturg/innen, Vermittler/innen und Zuschauer/innen, deren Stellungnahmen in diese Arbeit in expliziter oder impliziter Form eingeflossen sind. Mit der Aufmerksamkeit auf produktive, reproduktive, aber auch transgressive Dynamiken innerhalb der sozialen (Arbeits-)Welt des Theaters befindet sich die Untersuchung in einem Spannungsverhältnis zwischen sozial-, kultur- und theaterwissenschaftlicher Forschung. ›Von Haus aus‹ vertrete ich dabei eine theaterwissenschaftliche Position. Als Mitarbeiterin der interdisziplinären DFG-Forschergruppe 1939 Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung habe ich jedoch viele meiner hier verarbeiteten Erkenntnisse erst im konstruktiven Dialog mit meinen Kolleg/innen aus den Sozial- und Geisteswissenschaften gewonnen. Die kultur- und differenzierungstheoretische Perspektive, welche die interdisziplinäre Forschergruppe vereint, ist grundständig in die nachfolgenden Kapitel – im doppeldeutigen, insbesondere aber produktiven Sinne des Foucault’schen Begriffes – ›eingeschrieben‹. Mein Dank gilt in diesem Zuge insbesondere meinem Doktorvater Friedemann Kreuder für sein stetes Vertrauen in meine Arbeit, für seine vielseitige Unterstützung und die kontinuierliche Betreuung. Meiner Projektkollegin Hanna Voss, den beiden Hilfskräften Noa Winter und Jonas Schönfeldt sowie dem gesamten Kolleg/ innenkreis der Forschergruppe, für die an dieser Stelle Stefan Hirschauer, Herbert Kalthoff und Tobias Boll stellvertretend genannt sein sollen, möchte ich für den äußerst inspirierenden Austausch in den vergangenen Jahren danken.

Einleitung: Denken in Relationen »Der soziale Mikrokosmos, in dem die kulturellen Werke produziert werden, das literarische, künstlerische, wissenschaftliche usw. Feld, ist ein Raum von objektiven Relationen zwischen Positionen – der des etablierten Künstlers und der des ›artiste maudit‹ zum Beispiel –, und was sich in ihm abspielt, ist nur zu verstehen, wenn man jeden Akteur und jede Institution in ihren objektiven Relationen zu allen anderen bestimmt. Diese spezifischen Kräfteverhältnisse sowie die Kämpfe um ihren Erhalt oder ihre Veränderung bilden den Entstehungshorizont für die Strategien der Produzenten, die Kunstform, die sie vertreten, die Bündnisse, die sie schließen, die Schulen, die sie begründen, und zwar mittels der von ihm bestimmten spezifischen Interessen.«1 P ierre B ourdieu

F orschungsfr agen und F orschungsbeitr ag Das in die vorliegende, theater- und sozialwissenschaftliche Untersuchung einführende Kapitel nähert sich seinem Forschungsgegenstand mittels eines spezifischen Zugriffs auf diesen: durch die kultur- und differenzierungstheoretische Forschungsperspektive auf die Re/produktion von Figuren und die soziale und ästhetische Subjektivation2 von Schauspieler/innen im Feld des deutschen Stadttheaters. Die Konzentration liegt daher im Folgenden auf der Beschreibung der das Forschungsvorhaben bereits in seiner Entstehung beeinflussenden Sichtweise auf die zentralen Begriffe (Theater-)Praxis, (Theater-)Kultur und (darstellende/rezipierende) Körper. Im Laufe dieser einleitenden Annäherung an das Thema werden 1 | Bourdieu 1998 [1994], 62. 2 | Mit der Unterscheidung der meist im Doppel verwendeten Termini der Subjektivation/ Subjektivierung übernehme ich die von Andrea Bührmann und Werner Schneider vorgeschlagene, analytische Perspektivierung beider Begriffe: Mit Blick auf Subjektivationsprozesse werden »diskursiv produzierte und vermittelte normative Vorgaben zu Subjektformierungen/ Subjektpositionierungen« fokussiert; Subjektivierung betont »Subjektivierungsweisen als formierende und darstellende Praktiken des ›Selbst-Verständnisses‹ und ›Selbst-Verhältnisses‹ von Subjekten« (Bührmann/Schneider 2008, 69).

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Der Joker im Schauspiel

erste Leitfragen formuliert und die besondere Beachtung der Schauspielerin Jana Schulz innerhalb der vorliegenden Arbeit begründet. Eine ausführliche Darstellung zweier als komplementär und heuristisch zu betrachtenden Forschungsansätze legt anschließend den Grundstein für die Konzeption des deutschen Stadttheaters als ein soziales Feld (Bourdieu) mit einem es begrenzenden (Normalitäts-)Dispositiv (Foucault), das – historisch, empirisch und fallanalytisch nachweisbar – innerhalb seiner feldspezifischen Produktionsbedingungen und -phasen nicht nur ›Kunst‹, sondern auch vordefinierte Kategorien von ›Künstler/innen‹ re/produziert. Als feldübergreifendes Ordnungsmuster scheint hierbei ein dramatisches respektive bürgerliches Geschlechterdispositiv zu fungieren, das, so meine These, einerseits die Subjektivation von Schauspieler/innen im Feld des Stadttheaters reguliert, andererseits besonders geschlechtsindifferente (Anti-)Subjekte prämiert. ›Theater‹ wird im Folgenden unter einer grundlegend kultur- und damit einhergehend praxistheoretischen Perspektive betrachtet, in gewissem Sinne in konkreter Aus- und Durchführung jener »Absichten«3, welche der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann bereits 1999 in seinem als Standardwerk zu bezeichnenden Werk Postdramatisches Theater formuliert hat. Die Intention seiner Studie sei nämlich gewesen, »eine ästhetische Logik des neuen Theaters zu entfalten«, da schließlich »[u]nter den Theaterwissenschaftlern […] jene in der Minderzahl« seien, »die Wissenschaft vom Theater in konsequenter Hinwendung zum real existierenden Theater als Reflexion von Theatererfahrung ansehen« würden4 – mit Blick auf eine »Praxeologie des Theaters«5 lässt sich dies bis heute als ein Defizit und Desiderat der deutschsprachigen Theaterwissenschaft konstatieren.6 Sofern Versuche in diese Richtung unternommen worden sind, interessieren sich diese insbesondere für ›neue‹ (Organisations-)Formen des postdramatischen Theaters und weniger bis gar nicht für das – in diesem Sinne – ›alte‹ und ›routinierte‹, in der Tradition des literarischen Bildungstheaters stehende deutsche Stadttheatersystem. Um ebendieses, um die ›Re/produktionsmaschine Stadttheater‹ – mit den Kultursoziologen Pierre Bourdieu und Andreas Reckwitz verstanden als ein »spezialisierte[r] und sachlich differenzierte[r] Praktikenkomplex[…]« 7 – soll es in meiner Untersuchung gehen. Dabei wird das ›Theatermachen‹ unter den spezifischen Bedingungen dieses historisch gewachsenen Feldes als ein arbeitsteilig und sukzessiv verlaufender Produktions- und simultan ablaufender Rezeptionsprozess analysiert, der im Spannungsfeld von sowohl ästhetischen und nichtästhetischen8 (etwa ökonomischen oder admi3 | Lehmann 1999, 15-19. 4 | Vgl. Lehmann, 1999, 15 [Herv. i. O.]. 5 | Otto 2014, 141. 6 | Eine Ausnahme bildet die Monografie der Theaterwissenschaftlerin Stefanie Husel, die mittels einer ethnografischen Feldforschung, im konkreten Fall durch teilnehmende Beobachtung von Proben und Aufführungsserien sowie durch lang jährige Begleitung der Akteur/ innen im Arbeitsalltag, Die Aufführungspraxis der britischen Kompanie »Forced Entertainment« untersucht hat, vgl. Husel 2014 sowie Husel 2016. 7 | Reckwitz 2011, 53f. 8 | Zur Unterscheidung von ästhetisch orientierten, ästhetisch imprägnierten und nichtästhetischen Praktiken vgl. Reckwitz 2012, 25 und 29; am Ende des vorliegenden Unterkapitels wird diese Unterscheidung zudem aufgegriffen und erläutert.

Einleitung: Denken in Relationen

nistrativen) als auch körperlich, sprachlich und schriftlich vollzogenen Praktiken9 ›Theaterkunst‹ macht. Mit der Subjektivation von Schauspieler/innen im Kontext des deutschen Stadttheaters im Fokus rücken auch die an der künstlerischen Produktion beteiligten Ko-Akteur/innen (aus den Bereichen der Ausbildung, Vermittlung, Regie, Dramaturgie, Theaterleitung) sowie die »Konsekrationsinstanzen«10 einer öffentlichen Anerkennung durch die künstlerische Rezeption (Publikum und [Fach-]Kritik) ins Blickfeld des Interesses: Denn Auswahl- und Vermittlungsverfahren stufen Schauspieler/innen bereits im Vorfeld eines Engagements nach bestimmten Kriterien und Kategorien ein; Praktiken der Ensemblezusammenstellung und der Produktionsbesetzung positionieren Darsteller/innen innerhalb eines Gruppengefüges; die konkrete Besetzung von Schauspieler/innen erfolgt (etwa ausgehend von Zuschreibungen, Zugehörigkeiten und Imaginationen) mit Blick auf das geplante (Regie-)Konzept und/oder eine intendierte (Publikums-)Reaktion; in der Probenpraxis wird mittels eines alltäglichen oder außeralltäglichen Gesten- und Stimmrepertoires ein (Figuren-)Habitus in unterschiedlichen Variationen ausprobiert, eingeübt und inkorporiert; während der Aufführungspraxis werden menschliche oder auch nicht-menschliche Figuren präsentiert, ausgestellt und von einem Publikum wahrgenommen; sie werden hierbei gesehen, gehört, gefühlt, nach unterschiedlichsten Kriterien und Kategorien verglichen, differenziert und – mimisch, mündlich und/oder schriftlich – kommentiert und gegebenenfalls ›konsekriert‹. Diesem Praktikenkomplex versucht meine Studie unter anderem mit Hilfe einer ethnografischen Feldforschung gerecht zu werden.11 Wie sich insbesondere in den empirischen und fallanalytischen Teilen der Arbeit (Teil 2 und 3) zeigen wird, können die Phasen der Ensemblezusammenstellung, der Proben und der Wahrnehmung durch professionelle und nichtprofessionelle Zuschauer/innen dabei in besonderer Weise als Umschlagplätze für eine kategorisierende Re/produktion von ›Kunst‹ und ›Künstler/innen‹ gelten. Ihnen wird dementsprechend das größte Gewicht im Rahmen der Arbeit beigemessen. Dabei sieht sich eine Forschung, die sich mit den Produktionspraktiken, -bedingungen und -phasen im institutionalisierten Theaterbetrieb des Stadttheaters auseinandersetzt, aber nicht nur mit einem Gesamtkomplex aus unterschiedlichsten Akteur/innen, Praktiken und Instanzen konfrontiert, sondern auch in theaterpraktische Spezial-, alltagsweltliche Elementar- sowie theaterwissenschaftliche Interdiskurse integriert.12 Im Anschluss und in Erweiterung an Lehmanns ›Absichten‹ in Bezug auf die Erforschung einer ästhetischen Logik sowie an eine »Praxeologie des Theaters«13, wie sie Ulf Otto im Rahmen der 2014 veröffentlichten Momentaufnahme Theaterwis9 | Wenn ich im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit den Begriff der (sozialen) Praktiken respektive Praxis verwende, beziehe ich mich auf eine in den Sozial- und Kulturwissenschaften allgemein anerkannte Grunddefinition Theodore R. Schatzkis, nach welcher eine soziale Praktik als ein »temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings« (Schatzki 1996, 89) begriffen wird. 10 | Bourdieu 1999 [1992], 86. 11 | Zur Ethnografie als Forschungsstil vgl. Breidenstein et al. 2013. 12 | Die Unterscheidung von Spezial- und Interdiskursen rekurriert auf Jürgen Link und seinen Vorschlag zur Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, siehe Link 1988, 284-307. 13 | Otto 2014, 141.

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Der Joker im Schauspiel

senschaft skizziert, schlägt die vorliegende Arbeit in dreierlei Hinsicht einen neuen Kurs ein: Erstens versucht sie methodisch, die ›Re/produktionsmaschine Stadttheater‹ mittels teilnehmender Beobachtung und offenen Interviews – ganz im Sinne des ethnografischen und in der Theaterwissenschaft noch kaum erprobten Erkenntnisstils – zu »entdecken«14. Theoretisch und feldanalytisch konkretisiert die Untersuchung mit Blick auf die Subjektivation von Schauspieler/innen zweitens nicht nur eine allgemeine ›Praxeologie des Theaters‹, sondern zudem die bislang auf Aufführungsanalysen15 oder historische Studien16 beschränkte theaterwissenschaftliche Geschlechterforschung.17 So werden im weiteren Verlauf nicht nur die der Aufführung vorgeschalteten Einstellungs-, Besetzungs- und Probenpraktiken, sondern auch die impliziten und nur stellenweise expliziten (Normalitäts-)Erwartungen von Zuschauenden sowie parallel dazu die institutionellen (Vor-)Bedingungen einer sozial und ästhetisch differenzierenden Theaterpraxis samt -kritik befragt. Und drittens kann die Wahl des zu untersuchenden Feldes, wie zuvor angedeutet, geradezu als reaktionär im theaterwissenschaftlichen Diskurs begriffen werden. Vor der Folie des postdramatischen Theaters, das seine Anleihen im performancenahen Theater einer wachsenden freien Szene seit den 1960er-Jahre hat18 und die deutschsprachige Theaterwissenschaft seit den 1990er-Jahren umtreibt, stellt die Untersuchung des deutschen Stadttheaters als einer nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern mehr noch im internationalen Vergleich hochsubventionierten Kultureinrichtung ein ernstzunehmendes Forschungsdesiderat dar, eine Tatsache, die erst kürzlich auch von anderer Seite erkannt worden ist: So wird ausgehend vom Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München unter der Leitung von Christopher Balme aktuell zwar ein größeres Forschungsprojekt zu einer Institutional Aesthetics im nationalen sowie internationalen Kontext vorbereitet und auf (inter-)nationalen Fachtagungen bereits diskutiert, jedoch liegen zum aktuellen Zeitpunkt noch keine Publikationen aus der jüngsten Forschung vor. Die früheren, von Balme publizierten Beiträge zum deutschen Stadttheatersystem werden im Kontext der historischen Rekonstruktion der Gene14 | Hirschauer/Amann 1997, 8. 15 | Exemplarisch Dreysse 2002, 2010 und 2011, Kolesch 2008, Schrödl 2006 und 2014. In dem von Jenny Schrödl 2016 publizierten Beitrag »Die Kategorie ›Gender‹ in der Theaterwissenschaft und im Gegenwartstheater« bietet die Theaterwissenschaftlerin zudem einen aktuellen Überblick und Forschungsstand zu genderorientierten Ansätzen sowie bestehenden Desideraten in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft; zu letzteren zählt sie unter anderem eine genderkritische Erforschung des Stadttheaters und seiner Strukturen, wie ich sie hier aus einer differenzierungstheoretischen Perspektive anstrebe, vgl. Schrödl 2016, 36f. Eine breite literaturwissenschaftliche Forschung befasst sich zudem mit der literarischen Performanz und Subversion von ›Geschlecht‹ in Theatertexten, siehe exemplarisch Bergmann 2015 und Pailer/Schößler 2011. 16 | Vgl. exemplarisch Hochholdinger-Reiterer 2014 und Wiens 2000. 17 | Hinsichtlich der Verbindung von »Geschlechterdifferenz und Theatralität« formuliert Kati Röttger bereits 1998 erste Überlegungen und konstatiert 2005 dahingehend ein Desiderat in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft (vgl. Röttger 1998 und 2005), doch wird dieses jüngst erst aufgegriffen und aktuell auch in einem breiteren Kontext, etwa dem von Un/doing Differences, erforscht. 18 | Lehmann 1999, 11-39.

Einleitung: Denken in Relationen

se des Stadttheaterfeldes im ersten Teil der vorliegenden Arbeit aufgegriffen und in meine Analyse integriert.19 Ausgehend von diesem Interesse und Desiderat lassen sich erste forschungsleitende Fragen der interdisziplinär verfahrenden, sowohl sozial- als auch theaterwissenschaftlich orientierten Studie formulieren: Unter welchen historischen Voraussetzungen und institutionalisierten Vorbedingungen, nach welchen Kriterien und Kategorien findet die Auswahl von Schauspieler/innen im Feld des deutschen, sich erst im 19. Jahrhundert etablierenden Stadt- und Ensembletheaters statt? Auf welchen (strukturellen, organisatorischen und/oder künstlerischen) Ebenen wird hierbei ›Geschlecht‹ respektive die ›Geschlechterdifferenz‹ als Ordnungs- und »Strukturkategorie«20 eingesetzt, tradiert oder auch relativiert? Welche Positionen sind im Rahmen heutiger Ensembles standardmäßig zu besetzen? Welche Sonderpositionen sind unter welchen Bedingungen möglich? Und welche transgressiven Handlungs- und Spielräume bleiben prinzipiell im Umgang mit (geschlechts-) differenzierenden Besetzungs-, Darstellungs- und Wahrnehmungspraktiken offen? Welche Kompetenzen, welche ›Kapitalformen‹ spielen für die Besetzung von Schauspieler/innen sowie für deren Erfolg im Feld des Stadttheaters eine Rolle? Welche Art von Kapital stellen deren Körper als Material der Kunst- und Künstler/ innen-Produktion dar? Und was passiert, wenn das ›Material‹ selbst eine Eigendynamik entwickelt? Die Schauspielerin Jana Schulz, von 2003 bis 2011 festes Ensemblemitglied am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg und fortan freischaffend unter anderem am Bochumer, Düsseldorfer und Frankfurter Schauspielhaus zu Gast, rückt hinsichtlich dieser Fragestellung in das Zentrum meiner Untersuchung. Noch während der Fertigstellung dieser Forschungsarbeit ist bekanntgegeben worden, dass Schulz im März 2017 der Gertrud-Eysoldt-Ring 2016, einer der renommiertesten deutschen Theaterpreise für Schauspieler/innen, verliehen wird: »Sie sprengt in den vielen weiblichen und männlichen Hauptrollen die Grenzen jedes gendergebundenen Spiels«21, heißt es in der Jurybegründung neben anderem. Mit dem Blick auf (die Subjektivation von) Schauspieler/innen rücken, das zeigen die skizzierte Fragerichtung und indirekt das Fallbeispiel ›Schulz‹ an, auch deren Körper in den Fokus des Interesses. Diese nehmen im Arbeitsfeld des Theaters im Rahmen der öffentlichen Situation der Aufführung und in teil-öffentlichen Situationen wie Theaterproben oder Vorsprechen eine zentrale, weil ausgestellte und sichtbare Stellung ein. Doch auch in geschlossenen, nur einem kleinen Kreis an Verantwortlichen zugänglichen Gesprächssituationen, in denen – oft über die Körper und Köpfe von Schauspieler/innen hinweg – über Engagements und Besetzungen verhandelt wird, werden deren Körper mit Sinn und Bedeutung (etwa mit Blick auf das Gesamtensemble oder eine Figurendarstellung) aufgeladen. Im Fall der doppelten Verfasstheit des Figuren- und Schauspieler/innen-Körpers22 findet eben nicht nur eine Darstellung von etwas oder eines Anderen/einer Anderen, sondern auch des Eigenen, des eigenen Körpers statt. Dieser fungiert im theatralen Rahmen 19 | Vgl. Balme 2006 und 2010. 20 | Aulenbacher 2008. 21 | Pressemitteilung der Stadt Bensheim vom 7.12.2016: »Gertrud-Eysoldt-Ring 2016 geht an Jana Schulz.« 22 | Vgl. Kreuder 2010.

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Der Joker im Schauspiel

gleichzeitig als Darstellungsmaterial fiktiver Figuren und realer Personen, als Ausweis schauspielerischer Leistung zwischen Präsenz und Repräsentation und nicht selten als Projektionsfläche künstlerischer und/oder erotischer Fantasien – kurz gesagt: Schauspieler/innen-Körper werden nicht nur als Träger von, sondern selbst sowohl als theatrale Zeichen als auch »kulturelle Entitäten«23 wahrgenommen. Sie sind sowohl Teil eines theatralen und überdeterminierten Sinnstiftungsprozesses als auch einer genuin kulturellen und im Sinne der jüngeren Kulturtheorien überhaupt erst sinnhaften Unterscheidungspraxis aller Akteur/innen. In dieser gleichsam doppelten Sichtbarkeit als Figuren- und Schauspieler/innen-Körper sind darstellende Akteur/innen im Theater nicht nur in die szenischen Interaktionen auf der Bühne und in institutionalisierte Darstellungs- und Wahrnehmungsakte sinn- und ordnungsstiftend integriert,24 sondern zwangsläufig auch in mediale, visuelle und ästhetische Diskurse involviert. Dabei unterliegen sie nicht nur relational, performativ und kognitiv hergestellten Identitätskategorien wie gender, race oder ethnicity,25 sondern auch ästhetischen Kategorisierungen des Weiblichen, Männlichen, Androgynen, des Normalen, Abweichenden, Schönen oder Hässlichen. Das Theater (theatron) als Ort des Schauens stellt sich dabei insbesondere in einem kulturellen Kontext, der mit Reckwitz als »›ästhetischer Kapitalismus‹ der Gegenwart«26 begriffen werden kann, als ein paradigmatischer (Untersuchungs-)Raum für eine kultur- und sozialwissenschaftliche Analyse von Subjekten, ihren Normierungen respektive Differenzierungen dar. Dabei lässt sich mit dem Soziologen Stefan Hirschauer forschungsleitend konstatieren: »Kulturelle Differenzen sind nicht nur Diskurseffekte, kognitive Schemata […] oder theoretische Essentialisierungen, […] es sind vor allem praktisch vollzogene, körperlich und situativ materialisierte sowie institutionell geronnene ›Real-Essentialisierungen‹, und diese sozial konstruierte Eigentlichkeit von Differenzen gilt es zu untersuchen.« 27

Aus kultur- und differenzierungstheoretischer Perspektive liegt der sozialen Praxis, die sich in routinisiert ablaufenden Darstellungs- und Wahrnehmungspraktiken – unabhängig von ihrer Rahmung – realisiert, »ein System zentraler Unterscheidungen und Klassifikationen«28 zugrunde, welches in seiner »spezifischen Form einer symbolischen Organisation der Wirklichkeit den notwendigen handlungskonstitutiven Hintergrund aller sozialen Praktiken darstell[t]«29. ›Kultur‹ und mehr noch ›das Kulturelle‹ sind aus dieser Sicht, wie Hirschauer exemplarisch beschreibt, 23 | Hirschauer 2010, 221. 24 | Es lässt sich davon ausgehen, dass auch im theatralen Rahmen – wie in alltäglichen Interaktionen – in gewisser Hinsicht ein »Ausweiszwang« (Hirschauer 2004, 22) der Geschlechtsmitgliedschaft besteht, ein Wille zu einem eindeutigen Wissen der Geschlechtszugehörigkeit des Gegenübers, welcher als Hintergrunderwartung die soziale Interaktion – wenn auch nicht permanent relevant, so doch omnipräsent – prägt. 25 | Vgl. Butler 1991 [1990], 32-49 und Brubaker 2007, 16-128 sowie Brubaker 2015. 26 | Reckwitz 2012, 11. 27 | Hirschauer 2014, 188. 28 | Reckwitz 2006, 36. 29 | Reckwitz 2008b, 25.

Einleitung: Denken in Relationen »– eher wie das Materielle – eine Dimension aller möglichen Phänomene in der Welt: Gespräche, Gesetze, Körper, Atome. Dass diese Dinge immer auch kulturelle Entitäten sind, heißt eben, dass sie nur über sinnhafte Unterscheidungen so da sind wie sie sind: in der Kommunikation, in der Geschichte, in einem geografischen Raum.« 30

Prägnant formuliert lässt sich mit Hirschauer sagen, »dass kulturelle Phänomene – anders als naturhaft gegebene Unterschiede – aus kontingenten sinnhaften Unterscheidungen bestehen, die von historisch und geografisch spezifischen Kontexten geprägt sind«31. Die vergleichende und differenzierende Wahrnehmung gibt Artefakten, Atmosphären und Körpern einen immer zugleich ordnungsstiftenden Sinn. Darstellungen und insbesondere Inszenierungen von Objekten oder Körpern aktualisieren, neutralisieren oder transformieren wiederum jene kulturellen Sinnsysteme, die als »implizites Wissen«32 respektive »background knowledge«33 allen Kognitionen und (sozialen) Körpern zugrunde liegen. Die kulturtheoretische Perspektive prägt in dieser Hinsicht nicht nur einen neuen Begriff von Kultur,34 sondern damit einhergehend auch eine spezifische Sicht auf die Körper,35 die als darstellende oder/und rezipierende Körper innerhalb der ›Theater-Kultur‹ des Stadttheaters – mit ihren alltagsweltlichen sowie feldspezifischen Unterscheidungspraktiken – den Untersuchungsgegenstand meiner historischen und empirischen Feldforschung bilden. In Erweiterung an die gängigen theaterwissenschaftlichen Ansätze, die den menschlichen Körper als semiotischen Zeichenträger36, phänomenologischen Leib37 oder/und als Produkt performativer Akte38 betrachten, werde ich die Körper (sowie Kognitionen) von sowohl Schauspieler/innen als auch Zuschauer/innen dementsprechend als kulturelle ›Agenten‹ in die Analyse einbeziehen. In ihnen treten gemäß Stefan Hirschauer gleich drei unterschiedliche Formen von Wissen zutage: das Wissen vom Körper, im Körper und am Körper.39 Mit dieser Konzeption von ›wissenden Körpern‹ zeigt Hirschauer zugleich die komplexe Eingebundenheit der sozialen Körper auf – in Diskurse, Texte, Wahrnehmungen und/oder Darstellungen/Performances, die sich über die Ebene der Interaktion hinaus in 30 | Hirschauer 2010, 221. 31 | Hirschauer 2014, 170. 32 | Hirschauer 2008, 86. 33 | Reckwitz 2002, 249 [Herv. i. O.]. 34 | Zum Kulturbegriff der jüngeren Kulturtheorien siehe exemplarisch Reckwitz 2008b, 1546. 35 | Ausgehend von und parallel zu diesen kulturtheoretischen Ansätzen lässt sich verstärkt seit Beginn des Jahrtausends ein body turn in den Sozialwissenschaften feststellen, der zur Etablierung einer ›Körpersoziologie‹ beigetragen hat, vgl. Meuser 2002, Schroer 2005, Gugutzer 2006. 36 | Siehe exemplarisch Fischer-Lichte 1983, 31-131. 37 | Siehe exemplarisch Roselt 2008. Einen weder rein semiotischen noch rein phänomenologischen Weg schlagen jene theaterwissenschaftlichen Ansätze ein, die mit dem Konzept der Verkörperung nach Thomas J. Csordas (exemplarisch: Fischer-Lichte 2001, Kolesch 2008) oder nach George Lakoff/Mark Johnson (exemplarisch: Stenzel 2010) arbeiten. 38 | Siehe exemplarisch Butler 1991 [1990] und 1995 [1993]. 39 | Siehe Hirschauer 2008, 82-93 [Herv. d. Verf.].

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Der Joker im Schauspiel

Institutionen und Artefakten (etwa in geschlechtssegregierten Toiletten oder einer geschlechtsdifferenzierten Namensgebung) materialisieren. Körper und ihre Praktiken lassen sich damit gleichzeitig als Gegenstand und »Index«40 von Diskursen, als Träger von praktischem, vor-sprachlichem Wissen und als visuell dauerpräsentes »Kommunikationsmedium«41 analysieren. In Bezug auf die performative Dimension des Körpers konstatiert Hirschauer (und in diesem Punkt der Gendertheorie Judith Butlers sehr nah42): »Darstellungen sind kommunikative Praktiken, die mit einer materiellen Formung des sie vollziehenden Körpers einhergehen.«43 Es verwundert daher auch nicht, dass der Kultursoziologe Andreas Reckwitz in expliziter Anlehnung an den poststrukturalistischen Ansatz Judith Butlers zur Performativität von Geschlecht44 und im Zuge eines sich Ende des 20. Jahrhunderts in den kulturwissenschaftlich orientierten Disziplinen vollziehenden performative turn 45 konstatiert, es habe »eine Blickverschiebung zum Körper als Aus- und Aufführungsort von Kultur und zum prozessualen, zeitlichen Charakter dieser Kulturproduktion«46 stattgefunden. Als kultureller Agent ist er folglich Produzent, Reproduzent und Rezipient seiner eigenen Sinnwelt und Unterscheidungspraxis. Reckwitz verdeutlicht das Potential, das hinter einer solchen Auffassung des Körpers als Kulturagent liegt: »Er [der Körper] dechiffriert Kultur immer als ein ›doing … (things)‹. Statt Klassen, Rassen, Geschlechter, Organisationen etc. als Ordnungen vorauszusetzen, werden sie als ein ›doing class/race/gender/organization‹ analysierbar. Auch das Subjekt wird damit zerlegt in eine Analyse des ›doing subject‹.« 47

40 | Hirschauer 2008, 83. 41 | Hirschauer 2008, 88. 42 | Zur Materialisierung von Geschlechtsnormen in die diskursiv und performativ konstruierten Geschlechtskörper siehe Butler 1995 [1993], 13-41. Auf einer anderen, nicht-diskursiven Ebene grenzt Hirschauer sich jedoch klar vom dekonstruktivistischen Ansatz Butlers ab, und zwar in dessen Personenzentriertheit und Situativität: »Das Performative winkt mit Freiheitsversprechen – ebenso wie der Begriff ›Spiel‹« (Hirschauer 2004, 15). Inwiefern das Spiel mit der Geschlechterdifferenz im theatralen Rahmen – und darüber hinaus – ein Stück ›Freiheit‹ zu erobern vermag, kann und soll meine ethnografische Forschung am »Tatort Bochum« im dritten Teil der vorliegenden Studie deutlich machen. 43 | Hirschauer 2008, 91, Fußnote 11. 44 | Vgl. Butler 1988, Butler 1991 [1991], 37-49 und 190-217 sowie Butler 1995 [1993] 13-41 und 305-332. 45 | Zum performative turn in den Kulturwissenschaften siehe exemplarisch Wirth 2002, Hörning/Reuter 2004; selbstverständlich darf hier nicht vergessen werden, dass der entscheidende Impuls und wesentliche Forschungsbeiträge zu einem performative turn in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften aus einer kulturwissenschaftlich orientierten Theaterwissenschaft und der zehnjährigen Arbeit des interdisziplinären DFG-Sonderforschungsbereiches 447 Kulturen des Performativen stammen, siehe exemplarisch FischerLichte/Kolesch 1998 und Fischer-Lichte 2004a. 46 | Reckwitz 2008a, 87. 47 | Reckwitz 2008a, 87.

Einleitung: Denken in Relationen

Der kultur- und differenzierungstheoretische Blick auf die Subjektivation von Schauspieler/innen öffnet damit den Fragehorizont meiner Untersuchung auf dreifache Weise: erstens in Bezug auf das implizite und (theater-)praktische Wissen von Theaterproduzent/innen und -rezipient/innen, das soziale und ästhetische Unterscheidungen von Figuren- und Schauspieler/innen-Körpern habitualisiert produziert und reproduziert; zweitens hinsichtlich der Frage nach den konkreten Interaktionen und Institutionen der ›Re/produktionsmaschine Stadttheater‹, nach deren Situationen, Produktionsphasen und zirkulierenden Diskursen, die Figuren und Schauspieler/innen etwa nach Geschlechts-, Alters- oder Attraktivitätsgraden subjektivieren; drittens in Richtung einer strategischen und/oder spielerischen Transgression von (in der Regel) normativen Besetzungs-, Darstellungs- und Wahrnehmungspraktiken durch die soziale und ästhetische Praxis. Denn was mit Blick auf die Theaterpraxis der ›Re/produktionsmaschine Stadttheater‹ nicht vergessen werden darf (aber unter soziologischer Perspektive gerne wird48): Es handelt sich um eine genuin ästhetisch orientierte Praxis und um dementsprechend sowohl alltäglich als auch ästhetisch habitualisierte Unterscheidungspraktiken aller Beteiligten. Ich folge hier Reckwitz, der ästhetische Praktiken (von griech. aisthésis) in Abgrenzung zu für gewöhnlich sozialen Praktiken wie folgt definiert: »Wenn Praktiken generell als sich wiederholende und intersubjektiv verstehbare, körperlich verankerte Verhaltensweisen – auch im Umgang mit Artefakten – zu verstehen sind, in denen ein implizites Wissen verarbeitet wird und die immer auch die Sinne auf eine bestimmte Weise organisieren, dann sind ästhetische Praktiken solche, in denen routinemäßig Sinne und Affekte als selbstbezügliche modelliert werden. Im Zentrum dieser Praktiken steht also die Hervorlockung ästhetischer Wahrnehmung – ob in anderen oder in einem selbst.« 49

In diesem Sinne lässt sich die ›Re/produktionsmaschine Stadttheater‹ hinsichtlich ihrer funktionalen Ausrichtung und vernetzten Komplexität – auch historisch betrachtet – als ein geradezu paradigmatischer »ästhetischer Apparat«50 definieren. Folgt man Reckwitz lassen sich unter diesem »ganze institutionelle Komplexe verstehen, die auf die Hervorbringung und Rezeption ästhetischer Ereignisse ausgerichtet sind – die Filmindustrie, die Fußballbranche, das Ausstellungswesen, die Modeindustrie, der Tourismus, die Erlebnisgastronomie etc.« 51

Als sowohl (pop-)kulturelle als auch kapitalistische Apparate vereint sie eine paradoxe Funktionslogik, denn:

48 | Mit der Anthologie Ästhetik und Gesellschaft – Grundlagentexte aus Soziologie und Kulturwissenschaften starten Reckwitz, Prinz und Schäfer auch den Versuch, so scheint es, das Ästhetische im Kulturellen im Kontext der Kultur- und Sozialwissenschaften als eigenständige Kategorie zu rehabilitieren und zu etablieren, vgl. Reckwitz et al. 2015 sowie Reckwitz 2008c. 49 | Reckwitz 2012, 25. 50 | Reckwitz 2012, 47 [Herv. i. O.]. 51 | Reckwitz 2012, 47f.

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Der Joker im Schauspiel »Aufgrund ihres Charakters als zielorientierte institutionelle Komplexe enthalten sie […] immer auch nichtästhetische Handlungsweisen, die zweckrational und normativ ausgerichtet sind (Verwaltung, Werbung, Handwerk, Technik, einfache Dienstleistungen etc.). Diese bilden eine Voraussetzung für die dauerhafte Produktion ästhetischer Ereignisse.« 52

Dass sich auch beziehungsweise insbesondere hinter den Kulissen der städtischen Bühnen ein großer technischer, organisatorischer und administrativer Produktionsbetrieb verbirgt, ist kein Geheimnis, sondern fest in die jeweilige Rechtsform, etwa Eigenbetrieb, GmbH oder Anstalt des öffentlichen Rechts (AdöR), eingeschrieben. Diese paradoxe Funktionslogik der Theaterbetriebe, die strukturell auf ästhetischen und nichtästhetischen Praktiken basieren,53 scheint sich jedoch auf eine paradoxe Logik der Re/produktion von Kunst und Künstler/innen übertragen zu lassen. Auf Ebene der Kunst und ›Kunstfreiheit‹, die sich im Feld selbst durch die Abgrenzung vom Ökonomischen und Zweckrationalen definiert und legitimiert,54 werden in zeitgenössischen Theatertexten, Proben und Aufführungen häufig alternative Darstellungs-, Erscheinungs- oder Lebensweisen thematisiert, wohingegen die Produktionsweise des Stadttheaters parallel dazu einen literarischen Kanon, stereotype Figuren und ›passende‹ Spieler/innen reproduziert. Was hier stark verkürzt dargestellt ist, soll als ›Problem‹ den weiteren Verlauf der Arbeit kennzeichnen und sowohl historisch als auch empirisch untersucht werden. Dabei macht es sich die Untersuchung zur Aufgabe, das Verhältnis zwischen ästhetischen und nichtästhetischen Praktiken innerhalb der einzelnen Produktionsphasen und zwischen diesen in Bezug auf die Re/produktion von Figuren und die Subjektivation von Schauspieler/innen zu ergründen. Auf Basis der Annahme einer geschlechtsdifferenzierten Ensemblestruktur nimmt die Schauspielerin Jana Schulz, wie bereits angeklungen und im Weiteren zu zeigen sein wird, eine (geschlechts-)indifferente Position ein. Doch worin zeichnet sich diese Position konkret aus, die gleichsam als Joker im Schauspiel fungiert? Welche symbolische Position nimmt ein solcher Joker innerhalb der ›Re/ produktionsmaschine Kunst‹ ein? Störfall und/oder Star? Im ästhetisch orientierten und paradox strukturierten Feld des deutschen Stadttheaters scheint ihr – betrachtet man allein die jüngste Bekanntgabe der Preisauszeichnung – der Erfolg sicher zu sein: »Jana Schulz sucht mit aller Radikalität, mit kämpferischem Elan 52 | Reckwitz 2012, 48. 53 | Zur paradoxen Funktionslogik von öffentlichen Theatern vgl. auch Haselbach 2009. Der Soziologe und Unternehmensberater Dieter Haselbach konstatiert: »Ein Theater ist kein im Sinne der These Max Webers rationalisierter Betrieb. Öffentliche Theater folgen gleichzeitig zwei Organisationsprinzipien: der bürokratischen Organisationsform, soweit es Betriebe der öffentlichen Hand sind, und dem künstlerischen Impuls – als Theater. Da Theater so zwei gegeneinander laufenden Gestaltungsimpulsen folgen, sind sie als Organisationen nur schwer beherrschbar.« (Haselbach 2009, 101.) Seine Ergebnisse aus der Erfahrung als Berater im Feld zusammenfassend, resümiert er: »Es ist für Strukturen und Prozesse dieser Betriebe nicht relevant, welche Rechtsform sie haben, ob sie als städtisches Amt, Regiebetrieb, GmbH oder anders firmieren. Der Intendantenbetrieb wäre organisationssoziologisch näher zu untersuchen. Die Besonderheiten und Steuerungsdefizite […] wären dann zu präzisieren.« (Haselbach 2009, 103 [Herv. d. Verf.].) 54 | Vgl. Bourdieu 1999 [1992], 187-226.

Einleitung: Denken in Relationen

und größter Leidenschaft die je eigene Menschlichkeit ihrer Figuren«55, so die Jury des Gertrud-Eysoldt-Rings. Dabei sei sie »in den letzten Jahren zu einer der ausdrücklichsten, wandelbarsten und wahrhaftigsten Schauspielerinnen geworden«56. Abbildung 1: Pressebild »der Schulz« anlässlich der Bekanntgabe des Gertrud-Eysoldt-Rings 2016

© Marcus Brandt (dpa), 2009 57

Inwiefern Jana Schulz hierbei mit dem bestehenden Ensemblesystem im Feld des deutschen Stadttheaters ›konform‹ geht oder worin sich gerade jene ›Wahrhaftigkeit‹ ausdrückt, wird die Forschungsarbeit im Hinblick auf die durchaus ambivalente Verortung der Schauspielerin im Stadttheatersystem als einem paradigmatischen Fall von Subjektivierung/Subjektivation durch die Transgression bestehender Subjektformen verdeutlichen. Im Gegenzug lassen sich aber zugleich Strategien der Fortschreibung der ›Re/produktionsmaschine Stadttheater‹ und einer damit einhergehenden ›Einverleibung‹ ambivalenter und/oder widerständiger Formen erkennen – eine Preisverleihung wie die angeführte mag eine dieser Strategien sein. Es lässt sich kritisch fragen: Welche Mechanismen im Feld dienen der Stabilisierung kultureller Subjektformen? Welche Praktiken führen zu ihrer Transgression und/oder Destabilisierung? Gibt es, wie Reckwitz fragt, »einen Ort des ›Individuellen‹ in Auseinandersetzung mit den kulturellen Subjektordnungen?«58

55 | Pressemitteilung der Stadt Bensheim vom 7.12.2016: »Gertrud-Eysoldt-Ring 2016 geht an Jana Schulz.« 56 | Pressemitteilung der Stadt Bensheim vom 7.12.2016: »Gertrud-Eysoldt-Ring 2016 geht an Jana Schulz.« 57 | Das Foto ist ursprünglich im Jahr 2009 während einer der Hauptproben zur Inszenierung Glaube Liebe Hoffnung am Schauspielhaus Hamburg (R: Karin Henkel) entstanden, in der Jana Schulz die arbeitslose Korsettverkäuferin Elisabeth darstellte. 58 | Reckwitz 2008a, 21.

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Der Joker im Schauspiel

F orschungsdesign und A ufbau der A rbeit Meine Studie verfolgt drei miteinander aufs engste verflochtene Aufgaben und Ziele: 1. das deutsche Stadttheatersystem als Ensemble- und Repertoiretheater als ein spezifisch künstlerisches Feld im Sinne eines »spezialisierten und sachlich differenzierten Praktikenkomplexe[s]«59 historisch zu rekonstruieren (Teil 1), 2. seinen modus operandi als ›Re/produktionsmaschine‹ von (fiktiven) Figuren und (realen) Körpern in Gestalt bestimmter (sozialer und literarischer) Typen empirisch zu analysieren (Teil 2) und 3. die subjektivierenden und zugleich transgressiven Effekte dieser Funktionsweise im Fall der Schauspielerin Jana Schulz im Zusammenspiel mit dem Regisseur Roger Vontobel und im Kontext des Bochumer Schauspielhauses exemplarisch zu dokumentieren (Teil 3). In der Analyse der Produktion und Subjektivation von Schauspieler/innen konzentriert sich die Untersuchung auf die Sparte des Sprechtheaters und damit auf einen – auch institutionell – eingegrenzten Teilbereich des Stadttheatersystems.60 Diese Fokussierung ist nicht allein dem Kriterium der Durchführbarkeit des Vorhabens (insbesondere hinsichtlich der empirischen Arbeitsweise) geschuldet, sondern ist vielmehr durch die Spezifik der jeweiligen darstellenden Kunstform begründet. Anders als etwa im Musiktheater, wo Opernfiguren primär durch Stimmen und Stimmfächer gesungen werden, werden Figuren im Schauspiel – abgesehen von wenigen Ausnahmen aus dem Bereich des Figuren- oder Objekttheaters – im Darstellungsmodus verkörpert.61 Figuren- und Schauspieler/innen-Körper gehen hier in sich gegenseitig verstärkender, neutralisierender oder kontrastierender Weise eine (während des Darstellens und Zuschauens) imaginative oder (bereits im Vorfeld beim Besetzen von Schauspieler/innen für bestimmte Figuren) imaginierte Beziehung ein. So basiert die Kommunikation im Sprechtheater stärker als im Musiktheater oder Tanz nach wie vor – auch in postmodernen und postdramatischen Zeiten – auf der »Idee der Identifikation«62 sowohl zwischen Schauspieler/ in und Rolle als auch zwischen Bühne und Publikum, die es primär über durch

59 | Reckwitz 2011, 53f. 60 | Auf die Produktion und Subjektivation von Sänger/innen oder Tänzer/innen wird an ausgewählten Stellen verwiesen, an denen ein Vergleich beziehungsweise eine Abgrenzung theaterhistorisch oder forschungslogisch nötig erscheint. 61 | Dass Figuren im Schauspiel primär ›verkörpert‹ werden, verweist an dieser Stelle auf die Materialität und Medialität des Körpers (auf das ›leibliche In-der-Welt-Sein‹) und die in der Theaterwissenschaft durch Erika Fischer-Lichte eingeleitete Redefinition des Konzeptes der Verkörperung (embodiment) nach Thomas Csórdas; in diesem Verständnis steht es dem theatralen Konzept der Verkörperung im Sinne einer »Entkörperlichung« zugunsten des literarischen Textes, wie es im bürgerlichen Theater des 18. und 19. Jahrhunderts entsteht, diametral gegenüber, vgl. Fischer-Lichte 2014, 379-382. 62 | Lehmann 2009, 16.

Einleitung: Denken in Relationen

Sprache und Körper dargestellte Figuren63 zu vermitteln versucht. In seiner Körper- und Sprachfixierung zu Identifikationszwecken zeichnet sich damit das Feld des deutschen Sprechtheaters als relativ autonome Handlungssphäre innerhalb des Gesamtkomplexes aus: Mit der Fokussierung auf die Körperlichkeit von Schauspieler/innen grenzt es sich einerseits von der dominierenden Stimmgewalt im Musiktheater ab. Darüber hinaus behauptet es hinsichtlich der Idee der Identifikation mit und Projektion von Figuren – die faktisch als die illusio des Sprechtheaters begriffen werden kann und die es im Zusammenspiel mit der (hochdeutschen) Sprache nicht nur inkorporiert, sondern auch in die Texte und Diskurse eingeschrieben hat – erfolgreich seine im Feld der Kulturproduktion hegemoniale Position als genuin bürgerliche Kunst gegenüber Formen der Performance Art oder Tanzkunst. In diesem feldspezifischen Sinne lässt sich das Schauspiel mit einem ganz anderen »Funktionsbereich […] moderner Gesellschaften«64 vergleichen, und zwar mit dem Sport, speziell dem Fußball, der nicht nur von der Soziologin Marion Müller, sondern auch anderen Vertreter/innen der Körpersoziologie als »fundamental körperbasierter Sozialbereich«65 beschrieben wird. Neben der »hochgradig sichtbaren Körperlichkeit«66 ist es laut Marion Müller die Angewiesenheit auf andere, das heißt die »physische Kopräsenz«67 aller Mitspieler/innen, die den Mannschaftsund Wettkampfsport Fußball von alternativen (Individual-)Sportarten, aber auch vollkommen anders orientierten sozialen Feldern wie der Wirtschaft oder Wissenschaft unterscheidet68 – und eine Analogie insbesondere mit dem institutionalisierten Sprechtheater möglich und fruchtbar macht. Denn umgekehrt ist auch die Verwendung der Fußball-Metapher, wie die Befragung von ›Funktionären‹ und ›Scouts‹ im Feld des Stadttheaters im zweiten Teil dieser Arbeit zeigen wird, ein elementarer Bestandteil des Theaterspiels. Das ihr zugrundeliegende Verständnis gehört zu einem zirkulierenden, sowohl diskursiven als auch praktischen Wissen unter den Feldteilnehmenden, das einerseits eine kompetitive Komponente zwischen Theaterhäusern, Inszenierungen oder Schauspieler/innen forciert, andererseits deren soziale Wirklichkeit als Mitglieder eines Mannschaftsensembles konstituiert. Während der von Marion Müller auf die soziale Praxis im Fußballspiel und auf die Interaktionen zwischen den leiblich anwesenden Fußballer/innen bezogene Begriff der physischen Kopräsenz aus theorielogischen Gründen ausschließlich die – auch ohne Zuschauer/innen austragbare – Spielsituation im engeren Sinne und die miteinander respektive gegeneinander agierenden Fußballer/innen fokussiert,69 integriert der Terminus unter der differenzierungstheoretischen Perspek63 | Die Verwendung des theaterwissenschaftlichen Begriffs der Figur soll grundlegend auf den performativen Akt der Herstellung verweisen, der in theatral gerahmten Situationen – unabhängig von sogenannten identitären oder nicht-identitären Spielformen – die Ambivalenz von Schauspieler/innen zwischen Repräsentation eines fiktiven und Präsentation eines realen Körpers konstituiert. 64 | Müller 2014, 347. 65 | Müller 2014, 348, zitiert nach Gugutzer 2006, 41. 66 | Müller 2014, 348. 67 | Müller 2014, 347. 68 | Siehe Müller 2014, 346-352. 69 | Siehe Müller 2014, 348-350, hier insbesondere Fußnote 6.

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tive der Produktion von Spieler/innen die leiblich anwesende Beobachterposition nicht nur fakultativ, sondern für beide Felder konstitutiv. Letztere sind eben nicht nur auf ihre Mitspieler/innen auf dem Spielfeld angewiesen. Insbesondere hinsichtlich einer aktuellen Qualifikation, ebenso aber in Bezug auf einen längerfristigen (Publikums-)Erfolg hängen sowohl Fußball- als auch Schauspieler/innen von den spezifischen Rahmenbedingungen und Besetzungsentscheidungen innerhalb des Feldes und nicht zuletzt von den auf die Körper gerichteten Erwartungen an deren Leistung und Performance ab. Betrachtet man den deutschen Fußball zugleich als ein soziales Feld und nutzt man ihn zum Zwecke eines heuristischen Vergleichs, rückt der gesamte Komplex des Deutschen Fußball-Bundes in das Blickfeld des Interesses. Dank seiner Bekanntheit lässt sich mit ihm schnell verdeutlichen, dass und auf welche Weise eine Vielzahl an (Ko-)Akteur/innen mit diversen Kompetenzen und Kapitalformen auf unterschiedlichsten (hierarchisch oder funktional gegliederten) Positionen am Fußballspiel beteiligt sind. In funktional verschiedenen, simultan ablaufenden Phasen (der Ausbildung, Kaderbildung, der Vermittlung und professionellen Ausübung des Berufs) sowie in unterschiedlichen sozialen Situationen (zum Beispiel in nichtöffentlichen Teambildungsgesprächen, im teilöffentlichen Training, öffentlichen Fußballspiel) tragen sie – kommentiert von den Ko-Akteur/innen aus dem Nachbarfeld des (Sport-)Journalismus – zu dem Erhalt oder gegebenenfalls einer Veränderung des im Jahr 1900 gegründeten Fußball-(Ver-)Bundes als einem weitgehend autonomen Feld bei. Dass sich weder die Personal- und Kostenbudgets des Deutschen Fußball-Bundes und des knapp 50 Jahre älteren Deutschen Bühnenvereins, noch die Außenwirkung von Fußball- und Theaterspiel heutzutage auch nur annähernd entsprechen, steht außer Frage. Doch verbindet beide quantitativ ungleichen Felder eine qualitativ vergleichbare Konzentration auf die Mannschaft beziehungsweise das Ensemble und die kollektive sowie individuelle Performance von Spieler/innen als letztlich Ausführende des eigentlichen Fußball- oder Theaterspiels, die von einem (Fach-)Publikum beobachtet und nach technischen, intellektuellen, sozialen, aber auch repräsentativen und ästhetischen Kompetenzen begutachtet werden. Der Vergleich mit dem Feld des Fußballs lässt nun aber nicht nur eine Analogie, sondern auch eine Abgrenzung zu. So stellen Sinn und Zweck der (professionellen und nichtprofessionellen) Beobachtung ein elementares Unterscheidungskriterium zwischen diesen strukturell ähnlichen, praxeologisch aber ebenso differenten Feldern dar. Der Einsatz des Spiels (illusio) macht den Unterschied: Während das Fußballtraining und Fußballspiel die Leistungssteigerung und den Leistungsvergleich im Rahmen einer öffentlichen Leistungsschau forcieren, verfolgen Theaterprobe und Theaterspiel den paradox anmutenden Zweck einer einerseits zweckfreien ›Schau‹ (griech. théa), andererseits bezweckten ›Vorschau‹ im Sinne des Hervortreten-Lassens (lat. prōicere: vorwärts-, vorwerfen, hervortreten lassen) einer »von anderen sinnlich wahrnehmbaren Darstellung« 70. Wenn Schauspieler/innen im Sprechtheater nun aber selbst das umkämpfte Interessens-objekt und gleichsam »materialisierte Produktionsmittel« 71 darstellen, findet ihre Subjektivation über den gesamten Produktionsprozess statt. Im Mittel70 | Reckwitz 2012, 27. 71 | Bourdieu 1996 [1992], 132.

Einleitung: Denken in Relationen

punkt der Analyse steht hierbei – entgegen der mit dem Feld-Begriff einhergehenden räumlichen Metaphorik und Ausrichtung – der zeitliche Re/produktionsfaktor, der sich nicht nur auf die Genese des Feldes, sondern auch auf den (berufsbiografischen) Verlauf und (routinemäßigen) Ablauf des professionellen Schauspielens bezieht. Einerseits soll damit die quasi horizontale Ausbreitung und Vernetzung des sich institutionalisierenden Ensemble- und Repertoiretheaters rekonstruiert (Teil 1), anderseits eine simultan ablaufende, vertikale Produktionskette von Schauspieler/innen gemäß den Phasen der Ausbildung, Vermittlung, Einstellung und Darstellung (samt öffentlicher Wahrnehmung) nachvollzogen werden (Teil 2 und 3). Wie zu zeigen sein wird, laufen beide heterochronen Prozesse im »Herz des Theaters« 72 zusammen, nämlich dem Ensemble, das – so meine These – als Betriebssystem der ›Re/produktionsmaschine Stadttheater‹ fungiert (Teil 2). Im Spannungsfeld von künstlerischen und nichtkünstlerischen (etwa ökonomischen oder sozialen) Praktiken liegt dann auch das vielseitig einsetzbare Kapital begründet, welches den Markt des Sprechtheaters reguliert. Als wesentliche Ressource von Berufsschauspieler/innen fungiert der Körper somit nicht allein als »kulturelle Entität« 73. In Bezug auf die (erfolgreiche) Ausübung des Berufes bedeutet er ebenso – ganz im Bourdieu’schen Sinne – ein ökonomisch, sozial, kulturell und erotisch verfügbares, hochgradig ästhetisches Kapital: Schauspieler/innen setzen von Beginn ihrer Karriere an ihre eigenen Körper samt Stimmen als ›materialisierte Re/produktionsmittel‹ ein; sie bauen nicht nur zu emotionalen, sondern auch beruflich-künstlerischen Zwecken ein soziales Netzwerk auf; verkörpert im Habitus bringen Schauspieler/innen kulturelles Kapital immer schon mit, das durch feld- respektive ›Theaterhaus‹-spezifische Dispositionen intern aus-, ab- oder umgebaut werden kann; als Medium der Identifikation und Projektion dient der sichtbare, ästhetische Körper von Schauspieler/innen in verstärktem Maße zudem als »erotisches Kapital« 74 eines imaginierten Begehrens. Betrachtet man die Körper von Schauspieler/innen unter der Perspektive der Verfügbarkeit im weiteren Sinne als ›Produktionsmittel‹ eines (nicht-)künstlerischen Produktionsprozesses, werden hinsichtlich der Subjektivation von Schauspieler/innen erneut die oben aufgeworfenen Fragen, unter anderem nach der Konsekration und Distribution innerhalb des Feldes, virulent. Das deutsche Stadttheatersystem als ›Re/produktionsmaschine körperbasierter Humandifferenzierungen‹ zu beschreiben, bedeutet damit auch, sich »[…] mit den Gesetzen [zu] befassen, gemäß derer die Strukturen die Tendenz haben sich dadurch zu reproduzieren, dass sie Vermittler produzieren, die mit dem Dispositionssystem

72 | Schultze 2015, 5, als eine Diskursfigur im Feld des Stadttheaters kann die Rede vom ›Herz des Theaters‹ gewertet werden, welche hier von dem Intendanten des Theaters und Orchesters Heidelberg, Holger Schultze, zugleich Mitglied im Vorstand der Intendantengruppe und Vorsitzender des Ausschusses für künstlerische Fragen des Deutschen Bühnenvereins, im Vorwort des Themenheftes »You’ll never walk alone. Ensembletheater am Theater und Orchester Heidelberg« der Fachzeitschrift Die Deutsche Bühne geäußert wird. 73 | Vgl. Hirschauer 2010, 221. 74 | Hakim 2014.

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Der Joker im Schauspiel versehen sind, das in der Lage ist, den Strukturen angepasste Praktiken zu erzeugen, und damit dazu beiträgt, die Strukturen zu reproduzieren.« 75

Die Funktion und Position der Vermittlung ließe sich, sofern der Begriff des Vermittlers wörtlich verstanden wird, im Kontext des deutschen (Stadt-)Theatersystems konkret bestimmen und auf die Praktiken der Vermittler/innen der staatlichen ZAV-Künstlervermittlung beziehen. Wie die Auswertung einer von Hanna Voss und mir durchgeführten, empirischen Studie in diesem Funktionsbereich des Feldes zeigt, erfüllt die von der Arbeitsagentur für Arbeit getragene ZAVKünstlervermittlung in ihrer Schnittstellenfunktion zwischen Ausbildungswesen und Arbeitsmarkt mittels Praktiken der Kategorisierung und Katalogisierung diese (vor-)selektierende und re/produzierende Aufgabe sogar auf exemplarische Weise.76 In einem weiteren Sinne bezieht sich die Position des Vermittlers/der Vermittlerin darüber hinaus jedoch auf den gesamten »Kreislauf der Konsekration« 77, den Bourdieu aufgrund der hochgradig symbolischen Funktion von Konsekrationsakten insbesondere innerhalb künstlerischer Felder am Werke sieht. Dieser Kreislauf lässt sich im Hinblick auf die (erfolgreiche) Subjektivation von Schauspieler/innen im Sprechtheater einerseits phasenweise (Ausbildung, Vermittlung, Einstellung, Erfahrung usw.) nachvollziehen, andererseits und parallel dazu mittels hierfür eingerichteter Konsekrationsinstanzen und Konsekrationsakte forcieren. Unter den Begriff der Vermittler/innen im phasenweisen Selektionsprozess der Kunst- und Künstler/innen-Produktion können demnach alle an der Auswahl, Einsetzung und Besetzung beteiligten Personen fallen, das heißt Künstlervermittler/innen ebenso wie Akteur/innen aus den Bereichen der Intendanz, Dramaturgie, Regie oder der Schauspielerei selbst. Zu den öffentlichen Konsekrationsakten gehört darüber hinaus die symbolische Anerkennung von Schauspieler/innen durch Wettbewerbe, Preise oder anderweitig öffentliche Rezensionen. Wie werden diese Vorannahmen und eingangs abgesteckten Ziele nun aber in eine feld- und dispositivanalytisch inspirierte Untersuchung des deutschen Stadt-, speziell Sprechtheaters überführt? Die nachfolgende Skizze zu Auf bau und Methodik der Forschungsarbeit wird die wesentlichen Schritte und inhaltlichen Schwerpunkte zusammenfassen. Dabei bilden die drei Teile der vorliegenden Arbeit in sich relativ abgeschlossene Einzelstudien, die jeweils eigenen Leitfragen und in Teilen recht heterogenen Forschungsansätzen folgen. Die Interdisziplinarität der Ansätze und Heterogenität der angewandten Methoden – von Historiografie bis zu Ethnografie – liegen zum einen dem kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschungsprogramm, zum anderen dem Feld selbst und der Notwendigkeit zugrunde, ›am Material‹ die vorgefundene, vielschichtige Praxis des (Stadt-)Theaters auch analytisch zu fassen zu bekommen. Aufgrund der Weite des Untersuchungsfeldes und der Breite des Ana75 | Bourdieu/Passeron 1973, 92. 76 | Vgl. Voss 2017, 117-132. Unter der Perspektive der Produktion von ›Typen‹ und Subjektivation von Schauspieler/innen werden Ausschnitte aus meinen Interviews mit ZAV-Vermittler/innen aus den Bereichen Schauspiel/Bühne und Tanz in die im Rahmen meiner Arbeit ausgewertete Interviewstudie mit Theaterproduzierenden unter Kapitel 2.2.3 integriert und im Zusammenhang der Ensemblezusammenstellung diskutiert. 77 | Bourdieu 1999 [1992], 272.

Einleitung: Denken in Relationen

lysegegenstandes wird die je konkrete Durchführung und Ausarbeitung der Untersuchungsschritte in der gebotenen Ausführlichkeit erst zu Beginn der jeweiligen Teile und Kapitel beschrieben. Teil 1: Zur Genese des Stadttheaters legt den Grundstein für die daran anschließende Analyse gegenwärtiger Voraussetzungen und Vorkehrungen der Produktion von Theaterkunst und der Subjektivation von Schauspieler/innen. Um die spezifische Feldstruktur des weitverzweigten, hochspezialisierten und -subventionierten deutschen Stadttheatersystems rekonstruieren und einschätzen zu können, wird zu Vergleichszwecken eingangs die Kunstfeldanalyse Pierre Bourdieus herangezogen und im selben Schritt zu korrigieren versucht (Kapitel 1.1). Denn besonders für das Feld des (Stadt-)Theaters – als ein eigenständiges Universum der Kunstproduktion – spielt der nationale und soziale (Macht-)Raum eine größere Bedeutung für die dominierende(n) Position(en) des Feldes und seiner Teilnehmenden, als Bourdieu dies anzunehmen scheint. In einem zweiten Schritt wird eine (theater-) historische Rekonstruktion des Autonomisierungs- und Institutionalisierungsprozesses des deutschen Theaters unter einer kulturpolitischen Perspektive vorgenommen. Der Zeitraum von den 1830er- bis zu den 1920er-Jahren wird hierfür schwerpunktmäßig untersucht, da sich mit Einführung des Tarifvertrages und der Verstaatlichung der höfischen Theater im Jahr 1919 die grundlegende Weichenstellung vollzogen und das Feld des deutschen Stadttheaters konstituiert haben wird – wobei einschneidende theaterhistorische Prozesse vor und nach dieser Zeit in die Überlegungen miteinbezogen werden (Kapitel 1.2). Am Fallbeispiel des Bochumer Stadttheaters werden darüber hinaus kulturpolitische und nationalstaatliche Implikationen offengelegt, welche die diskontinuierliche Genese des Systems verdeutlichen und die Tradierung eines ›dramatischen Dispositivs‹ – unter anderen Vorzeichen – erklären (Kapitel 1.3). Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem betrachtet im Anschluss an die Darlegung des die Kommunalisierung des Stadttheaters rahmenden Moderne-Diskurses aus praxeologischer Sicht die Institutionalisierung und Materialisierung des deutschen Theaterfeldes seit den 1830er-Jahren ausgehend von der Organisierung und Kategorisierung von Schauspieler/innen im Kontext des Ensembles (Kapitel 2.1); ausführlich widmet sich in diesem Zuge ein Unterkapitel dem »Rollenfach im Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts« 78 (Kapitel 2.1.3), wodurch sich anschließend Traditionslinien erkennen und Bezüge zum Ensemble- und Repertoiretheater dieser Tage herstellen lassen. Das hieran anschließende zweite Kapitel dieses zweiten und empirisch verfahrenden Teiles vollzieht schließlich die zeitliche Wende in die Gegenwart (Kapitel 2.2). Zugleich wagt die Studie ab diesem Moment den Sprung in das Feld und in die ethnografische Feldforschung, vorbereitend in Kapitel 2.2.1 und 2.2.2. Ausgehend von explorativen Interviews mit verantwortlichen Personen aus den Bereichen der Intendanz, Dramaturgie sowie Künstlervermittlung werden im Rahmen einer Interviewstudie daraufhin konkret Fragen hinsichtlich der En78 | Das Rollenfach im Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts (1926) von Hans Doerry wird in diesem Kapitel eine wesentliche Bezugsquelle darstellen, an welche sich weitere Fragen, das Gegenwartstheater betreffend, anschließen lassen. In Erweiterung an Doerrys Schrift sowie an die Vorgängerschrift Das Rollenfach im Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts (1913) von Bernhard Diebold könnte meine eigene empirische Forschungsarbeit in Teilen auch Das Rollenfach im Theaterbetrieb des 21. Jahrhunderts lauten.

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Der Joker im Schauspiel

semblezusammenstellung aufgegriffen und die Positionierung von Schauspieler/ innen innerhalb des Ensemble-Prinzips ›am Material‹ analysiert (Kapitel 2.2.3). Teil 3: Der Joker im Schauspiel rückt im Kontext des Stadt- und Ensembletheaters den ›Spezialfall‹ in das Zentrum der Betrachtung und fragt konkret nach seiner Position im Ensemble. Die Beantwortung der Frage wird in zwei Unterkapiteln erfolgen: Zunächst zeichnet die ethnografische Studie am ›Tatort Bochum‹ (Kapitel 3.1) in unterschiedlichen Phasen des Theatermachens den Prozess der Subjektivation und zugleich Imagebildung am Beispiel der Schauspielerin Jana Schulz nach, vor dem Hintergrund der Annahme, dass sich im Fall ›Schulz‹ ein (Gender-) Blending zwischen Figur(en) und Person vollzieht. Persönliche Stellungnahmen des Theaterduos Vontobel/Schulz sowie Stimmen von Seiten der Theaterkritik und des lokalen Publikums rahmen hierbei das tägliche Arbeiten – von der Konzeption und Besetzung einer Inszenierung über Proben bis zu Vorstellungen –, das in einzelnen Unterkapiteln beschrieben, kontextualisiert und analysiert wird (Kapitel 3.1.1 bis 3.1.5). Das den dritten Teil abschließende Kapitel zur symbolischen Position des Jokers im Schauspiel reflektiert anschließend und vom Einzelfall abstrahiert dessen spezifische Qualität (Kapitel 3.2). Das Fazit wird die drei unterschiedlichen »Aggregationsebenen« 79 des von mir dargelegten Stadttheater-Feldes (Genese, Betriebssystem, Joker) aufgreifen und die Ergebnisse der historischen und ethnografischen Forschung hinsichtlich der Re/ produktionsmechanismen und ihren tradierenden und dynamisierenden Wirkungen pointiert zusammenfassen.

F orschungsansät ze : V erschr änkung von F eld - und D ispositivanalyse Das Ziel der Studie, die Subjektivation/Subjektivierung von Schauspieler/innen und die Re/produktion von Typen im Feld des deutschen Stadttheaters unter einer kultur- und differenzierungstheoretischen Perspektive zu untersuchen, erfordert ein für unterschiedliche Methoden offenes und heuristisch anwendbares Begriffsund Analyseinstrumentarium. Wie die thematische und theoretische Einführung in die ›Kultur‹ des institutionalisierten deutschen Theatersystems skizziert, hat die analytische Perspektive sowohl Subjekte als auch diskursive und nicht-diskursive Strukturen in ihrem produktiven Zusammenspiel in den Blick zu nehmen; methodisch muss der Ansatz darüber hinaus derart unterschiedliches Material wie soziale Praktiken (in Gestalt von schauspielerischen Darstellungen und kulturellen sowie ästhetischen Wahrnehmungen) oder Diskurse (innerhalb des im Feld zirkulierenden impliziten und expliziten Wissens) in der Analyse verarbeiten können. Zu diesem Zweck werde ich Michel Foucaults Begriff des Dispositivs in den feldanalytischen Ansatz Pierre Bourdieus integrieren, um auf diese Weise die komplexen Verflechtungen von schauspielenden Akteur/innen gleichermaßen aus der Logik des Theaters und seinen Spezialdiskursen, wie auch aus der (Geschlechter-)

79 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 135.

Einleitung: Denken in Relationen

Ordnung eines institutionalisierten Dispositivs und seinen Interdiskursen heraus erklären zu können.80 Im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit kann es nicht darum gehen, eine Feldanalyse des deutschen Theaters oder eine Dispositivanalyse der kulturellen (Geschlechter-)Ordnungen im vollen Umfang anzustreben, wie sie in den theoretischen Konzepten der beiden Forschungsprogramme angelegt ist; vielmehr werden sie gemäß ihres »genuin heuristischen Anspruch[s]«81, den laut Reckwitz beide (post-)strukturalistisch geprägten Denker vertreten, in einer instruktiven Weise für meine zum einen historiografisch, zum anderen ethnografisch verfahrende Untersuchung zur Subjektivation von Schauspieler/innen und Re/produktion von Typen im Kontext des deutschen Stadttheaters genutzt. Wie der akademische Diskurs über das Gegenwartstheater sowie das praktische Wissen von Theaterschaffenden ersichtlich machen, liegt die Wahl der beiden Konzepte (auch) im Gegenstandsbereich selbst begründet: So zirkuliert zum einen der Dispositiv-Begriff innerhalb eines kontrovers geführten, das Gegenwartstheater beschreibenden und kategorisierenden Spezialdiskurses der Theaterwissenschaft und -praxis.82 Zum anderen ähneln die Beschreibungen im Feld hinsichtlich der Funktionsprinzipien des Ensembletheaters stark jenen »Konzeptmetaphern«83, mit denen Bourdieu die Struktur von sozialen Feldern illustriert. Wie bereits zur Veranschaulichung des Theaterfeldes im Rahmen des Forschungsdesigns heuristisch genutzt und sichtbar gemacht, operiert nicht nur Bourdieu im Zuge der Theoretisierung des Feldbegriffes mit der Fußball-Metapher und den ihr inhärenten Positionen, Praktiken und Institutionen; auch die Theaterpraxis und -produktion hat Wettbewerbs- und Mannschaftsmetaphern aus dem Bereich des Sports, speziell des Fußballs, in ihr kollektives, praktisches Wissen integriert, nutzt diese jedoch vornehmlich zum Zweck der Organisation und Motivation ihrer Betriebe. Auch wenn es logisch erscheint, mit den Begriffen der Feldteilnehmenden zu arbeiten, ist es zugleich schwierig, sich von den äußerst (selbst-)reflexiven Stellungnahmen einzelner Akteur/innen mit Hilfe der gebotenen wissenschaftlichen Reflexivität zu distanzieren und von deren Darstellungen für die Rekonstruktion des praktischen Wissens und der diesem eingelagerten kulturellen Schemata zu abstrahieren. Bourdieu selbst hat dieses Problem der »Komplizenschaft«84 zwischen Feldteilnehmenden und -beobachtenden, wie es sich exemplarisch im Verfahren der teilnehmenden Beobachtung äußert, als ein methodisches Problem der (qualitativen) Sozialforschung aufgeworfen. Im Rahmen seiner Theorie der Praxis 80 | Die Unterscheidung von Spezial- und Interdiskursen rekurriert auf Jürgen Link und seinen Vorschlag zur Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, siehe Link 1988, 284-307. 81 | Reckwitz 2011, 42. 82 | Vgl. exemplarisch Stegemann 2013, der hier die (theaterwissenschaftliche) Rede vom dramatischen Dispositiv aufgreift und aus seiner theaterpraktischen Erfahrung als Dramaturg (an den großen Häusern des deutschen Stadttheaters) zu einem postdramatischen Dispositiv umwendet. Zur theoretischen Wendung vom »Theater als Dispositiv« vgl. Aggermann et al. 2016. 83 | Moore 2004, 73: »Concept-metaphors are examples of catachresis, i.e. they are metaphors that have no adequate referent. Their exact meanings can never be specified in advance […] and there is a part of them that remains outside or exceeds representation.« 84 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 101.

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kommt er zu dem Schluss, dass nur im »doppelten Bruch«85 – das heißt in der Distanznahme zu dem sowohl zu untersuchenden als auch theoretisierenden Feld – eine reflexive Forschungshaltung möglich sei. Von einem »Befremden der eigenen Kultur«86 sprechen im Anschluss an Bourdieu auch Vertreter/innen einer jüngeren, ethnografisch verfahrenden Sozialwissenschaft. Was die Durchführung meiner eigenen (Feld-)Forschung betrifft, stehe ich selbst – als Beobachterin und Zuschauerin von Proben oder Aufführungen, als Interviewerin, als (kritische) Leserin von Theaterrezensionen sowie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einer interdisziplinären Forschergruppe – vor der permanenten Aufgabe, meine eigene Position zu objektivieren, das heißt, mit Bourdieu gesprochen, die »sozialen Bedingungen dieser Erfahrungsmöglichkeiten und […] des Aktes der Objektivierung«87 zu rekonstruieren. Eben nur im doppelten beziehungsweise dreifachen Bruch mit diesen Voraussetzungen – erstens mit der theaterwissenschaftlich und indessen auch ethnografisch geprägten, universitären Sozialisation, zweitens mit dem durch Interviews transportierten, praktischen Wissen anderer und drittens mit den eigenen, im Feld des Theaters inkorporierten Dispositionen88 – wird es möglich sein, die Verflechtungen des theaterproduzierenden, -rezipierenden und -theoretisierenden Feldes zu »entdecken«89. Anschließend gilt es, die immanent ambivalente re/ produzierende Logik des Stadttheaters hinsichtlich der Subjektivation/Subjektivierung von Schauspieler/innen aufzudecken. Zur theoretischen Verortung der hierfür zentralen Konzepte des sozialen Feldes (Bourdieu), des Dispositivs (Foucault) und nicht zuletzt des (kulturtheoretischen) Subjekts werde ich an die im deutschsprachigen Raum aufgeflammte Rezeption und Diskussion um Differenzen und Gemeinsamkeiten der beiden Forschungsprogramme Bourdieus und Foucaults anknüpfen, die seit den 2010er-Jahren aus einer dezidiert kultursoziologischen Forschungsrichtung vorangetrieben worden ist.90 Mit dem Ziel, ein sich gegenseitig ergänzendes Analyseinstrumentarium zu 85 | Bourdieu 1998 [1994], 83. 86 | Amann/Hirschauer 1997, 7-52. 87 | Bourdieu 1993, 365. 88 | Während und nach meinem Studium der Theaterwissenschaft habe ich zunächst als Dramaturgie- und Regiehospitantin, später als fest angestellte Regie- und Produktionsassistentin am Schauspiel Frankfurt und am Staatstheater Mainz gearbeitet, weswegen in meinem Fall als ›Theaterforscherin‹ auch von einem dreifachen Bruch mit Präkonstruktionen auszugehen ist. Über einen Zeitraum von insgesamt sieben Jahren habe ich nicht nur einen intensiven Einblick in die Stadttheaterstrukturen – aus Perspektive einer Teilnehmerin – gewonnen, sondern mir auch einen feldspezifischen, Verhaltens-, Denk- und Wahrnehmungsweisen prägenden Habitus im Bourdieu’schen Sinne angeeignet. Diese sozialisierten und inkorporierten Dispositionen gilt es nun zum Zweck der wissenschaftlichen Reflexion selbstkritisch zu befragen und in die Wahrnehmung und Bewertung von Situationen, Akteur/innen und Beziehungen im Feld einzubeziehen. 89 | Bernhard/Schmidt-Wellenburg 2012, 37. 90 | Vergleichende Schriften stammen in den letzten Jahren insbesondere aus der ›Reckwitz’schen Schule‹, auf die ich mich nachfolgend intensiv beziehen werde, vgl. Reckwitz 2011, Schäfer 2013, Prinz 2014. Die aktuelle Dichte vergleichender, das Denken Bourdieus und Foucaults in den Blick nehmender Arbeiten hängt eng mit der einleitend skizzierten, in den 2000er-Jahren begonnenen Neuausrichtung der Sozial- und Kulturwissenschaften

Einleitung: Denken in Relationen

erstellen, werde ich zunächst auf gedankliche Parallelen beider Ansätze eingehen und in jeweils eigenen Unterkapiteln deren Spezifik und Anwendungsbereiche separiert fokussieren. Ihre Nähe zeigt sich dabei nicht nur in einem gemeinsamen Forschungsinteresse, sondern auch in einer semantisch vergleichbaren Kontextualisierung ihres Denkens: Für Bourdieu und Foucault begrenzt maßgeblich ein durch historisch und lokal kontingente Wissensordnungen strukturierter »Raum des Möglichen«91 den sozialen respektive diskursiven (Lebens-)Raum aller Subjekte. Wie Hilmar Schäfer in einem Michel Foucault gewidmeten Beitrag hinsichtlich dessen Einfluss auf das Denken Bourdieus skizziert, entstammen die beiden in der strukturalistischen Denktradition Frankreichs sozialisierten ›Intellektuellen‹ – nicht nur metaphorisch, sondern auch wörtlich gemeint – derselben Schule.92 Michel Foucault (1926-1984) besucht ab 1946, fünf Jahre später Pierre Bourdieu (1930-2002) die École normale supérieure in der Rue d’Ulm von Paris.93 Sie gilt als Elitehochschule für den geistes- und naturwissenschaftlichen Nachwuchs, die Bourdieu in seinem als Vorlesung konzipierten Soziologischen Selbstversuch94 kritisch als »Gipfel des Bildungswesens«95 im Kontext des (bis zum Bologna-Prozess) zentralisierten französischen Bildungssystems bezeichnet. Das Studium der Philosophie – im damaligen akademischen Feld als ranghöchste Wissenschaftsdisziplin geltend – ist hier Pflichtfach, gewissermaßen ein Bildungsimperativ, dem sowohl Foucault als auch Bourdieu kritisch zu begegnen versuchen. Es verwundert daher nicht, dass sie unabhängig voneinander in der Denktradition der Epistemologie eine reflexive Forschungshaltung finden, die – verkörpert in der Figur des gemeinsamen Lehrers Georges Canguilhem – eine (historische) Auseinandersetzung mit den Bedingungen von Wissensstrukturen fordert.96 Der starke Einfluss dieser durch Canguilhem vermittelten, historisierenden Forschungsperspektive ist in das ihren Arbeiten zugrunde liegende Denken eingeschrieben: Mit der Genealogie97 legt Foucault einen machtanalytischen Ansatz vor, welcher die historisch und lozusammen: Praxeologie, Kulturtheorie und Körpersoziologie dienen als Schlagworte eines praxistheoretischen Forschungsprogramms, das Körper respektive Praktiken in ihrer kulturbildenden, performativen Dimension ins Zentrum von Kultur und Kulturwissenschaft rückt, vgl. Reckwitz 2000 und 2006, Hörning/Reuter 2004, Gugutzer 2004. 91 | Bourdieu 2004, 151. Bourdieu und Foucault benutzen beide diesen Ausdruck; nach Hilmar Schäfer hat Bourdieu den von Foucault eingeführten Begriff in seine Beschreibungen von sozial strukturierten Feldern übernommen, vgl. Schäfer 2014, 44. 92 | Vgl. Schäfer 2014. Die nachfolgenden Ausführungen zur akademischen Sozialisation von Bourdieu und Foucault rekurrieren im Wesentlichen auf die prägnante Zusammenfassung beziehungsweise Zusammenführung von Hilmar Schäfer. 93 | Von 1952 bis 1954 studierte Jacques Derrida (1930-2004) ebenfalls an der École normale supérieure; Bourdieu und Derrida lernen sich in diesem Kontext kennen. Damit zeichnet sich ab, welchen grundlegenden Einfluss die gemeinsam besuchte Hochschule an der Institutionalisierung des (Post-)Strukturalismus und der Dekonstruktion im Feld der Geisteswissenschaften hat. 94 | Bourdieu 2002. 95 | Bourdieu 2002, 12; als Vorlesung gehalten am Collège de France im März 2001. 96 | Vgl. Schäfer 2014, 44ff. 97 | Vgl. Foucault 2005c.

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kal spezifischen Bedingungen von Subjektformen in Diskursen und Dispositiven ergründet, während die »soziale Genese eines Feldes«98 gemäß Bourdieu nach der historisch gewachsenen Struktur und Logik sozialer Felder ausgehend von den Positionen und inkorporierten Dispositionen ihrer Akteur/innen fragt.99 Trotz des starken Einflusses Georges Canguilhems auf die beiden zeitlich nacheinander unterrichteten Schüler, der in deren Rezeption durchaus ähnliche Forschungshaltungen erkennen lässt, gibt es seitens des älteren Kollegen lediglich einen »Verweis auf Bourdieu«100. Die Erwähnung Bourdieus durch Foucault in einem Vorwort zu Ehren des gemeinsamen Lehrers bleibt »trotz langjähriger freundschaftlicher Bande und gemeinsamen politischen Engagements«101, wie Sophia Prinz in ihrer 2014 publizierten, die Schriften Foucaults diskutierenden Promotion zur »Geschichte des Sichtbaren«102 schreibt, die Ausnahme. Doch auch Bourdieu hat laut Prinz den intellektuellen Austausch lange Jahre nicht gesucht. Erst nach dem Tod Foucaults im Juni 1984 setzt er sich mit dessen diskurs- und machtanalytischen Schriften auseinander, jedoch in durchaus widersprüchlicher Weise. In ersten Diskussionen von Foucaults stark durch Friedrich Nietzsche beeinflusstem Denkansatz grenzt sich der jüngere Kollege dabei klar vom Älteren ab, und zwar aus folgendem Grund: »Michel Foucault verlegt die Gegensätze und Antagonismen, die ihre Wurzeln in den Relationen zwischen den Produzenten und den Benutzern der betreffenden Werke haben, in den Ideenhimmel, wenn ich einmal so sagen darf. Natürlich geht es nicht darum, die spezifische Determinierung zu leugnen, die vom Raum des Möglichen ausgeht, hat doch der Begriff des relativ autonomen, eine eigene Geschichte besitzenden Felds unter anderem die Funktion, gerade sie zu erklären; dennoch ist es nicht möglich, das Kulturelle, die Episteme, als ein vollkommen autonomes System zu behandeln: und sei es auch nur, weil man sich damit der Möglichkeit begibt, die Veränderungen zu erklären, die in diesem eigenständigen Universum eintreten, sofern man ihm nicht wie Hegel eine immanente Neigung zur Veränderung aufgrund irgendeiner mysteriösen Selbstbewegung zuspricht.« 103

In Bourdieus Meditationen lassen sich aber doch Parallelen in der Konzeption des Subjekts bei Foucault und derjenigen des Habitus bei Bourdieu erkennen, wenn letzterer schreibt: »Wir lernen durch den Körper. Durch diese permanente, mehr oder weniger dramatische, aber der Affektivität, genauer gesagt dem affektiven Austausch mit der gesellschaftlichen Umgebung viel Platz einräumende Konfrontation dringt die Gesellschaftsordnung in die Körper ein. Dies erinnert, zumal nach den Arbeiten Michel Foucaults, an den von der Disziplin 98 | Bourdieu 1997 [1985], 73 [Herv. d. Verf.]. 99 | Auch Loïc J. D. Wacquant sieht die Parallelen zwischen Bourdieu und Foucault hinsichtlich der »Frage der historischen Diskontinuität und der Zeitgebundenheit der begrifflichen Kategorien« im Studium der Wissenschaftsgeschichte bei George Canghuilhem begründet, siehe Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 124 (Fußnote 21). 100 | Prinz 2014, 283 (Fußnote 1). 101 | Prinz 2014, 283. 102 | Prinz 2014, 11. 103 | Bourdieu 1998 [1994], 58f.

Einleitung: Denken in Relationen der Institution ausgehenden Normierungsdruck. Man hat sich jedoch davor zu hüten, den Druck oder die Unterdrückung zu unterschätzen, die kontinuierlich und oft unmerklich von der gewöhnlichen Ordnung der Dinge ausgehen, die Konditionierungen, die von den materiellen Lebensbedingungen, von den stummen Befehlen und von der (um mit Sartre zu sprechen) ›trägen Gewalt‹ der ökonomischen und sozialen Strukturen und der ihrer Reproduktion dienenden Mechanismen auferlegt werden. Die strengsten sozialen Befehle richten sich nicht an den Intellekt, sondern an den Körper, der dabei als ›Gedächtnisstütze‹ behandelt wird.« 104

Der Körper ist die Schnittstelle beider Forschungsprogramme, die sich in diesem Punkt mit anderen praxistheoretischen Ansätzen treffen. Foucaults poststrukturalistische Perspektive beschreibt einen gesellschaftlich disziplinierten und diskursivierten, Bourdieus strukturalistische Konzeption eher einen konditionierten und sozialisierten Körper. Für Foucault ist ›Disziplin‹ »im Grunde der Machtmechanismus, über den wir den Gesellschaftskörper bis hin zum kleinsten Element, bis hin zu den sozialen Atomen, also den Individuen, zu kontrollieren vermögen. Es handelt sich um die Techniken der Individualisierung von Macht.« 105

So veranschaulicht Foucault in Überwachen und Strafen106 mit Hilfe Jeremy Benthams Entwurf des Panopticons gerade eine sich nach innen richtende Macht, die – über die engen Gefängnismauern des Panopticons hinaus – sich selbst und wechselseitig disziplinierende Körper schafft. »Die Sichtbarkeit ist eine Falle«107, schreibt Foucault über die räumliche und zugleich psychophysische Situation der ›durchleuchteten‹ Gefangenen, die sozialen (Beobachtungs-)Situationen und inkorporierten Habitus sozialisierter Körper gleicht.108 Durch die Inkorporierung der Institution(en) werden die Häftlinge »Gefangene einer Machtsituation, die sie

104 | Bourdieu 2001 [1997], 181. Als einen solchen sozialen Befehl führt Bourdieu an dieser Stelle exemplarisch die habitualisierte Geschlechterdifferenz als eine körperliche Übung an: »Männlichkeit und Weiblichkeit werden wesentlich dadurch erlernt, daß die Geschlechterdifferenz in Form einer bestimmten Weise, zu gehen, zu sprechen, zu stehen, zu blicken, sich zu setzen usw., den Körpern (vor allem durch die Kleidung) eingeprägt wird. Und die Einsetzungsriten sind nur der Grenzfall all der expliziten Handlungen, mit denen Gruppen darauf hinarbeiten, die sozialen Grenzen oder, was auf dasselbe hinausläuft, die sozialen Klassifizierungen (die Trennung männlich/weiblich zum Beispiel) einzuprägen, sie in Form von in den Körpern, in der körperlichen hexis, in den wie unauslöschliche Tätowierungen eingebrannten Dispositionen in Naturgegebenheiten zu verwandeln – und somit auch die kollektiven Prinzipien der Sichtung und Ordnung.« 105 | Foucault 2005b [1994], 233. Gefängnisse, Fabriken und Schulen dienen Foucault als exemplarische Orte der Disziplinierung bestimmter Subjektformen. 106 | Foucault (1976) [1975]. 107 | Foucault (1976) [1975], 257. 108 | Mittels Jeremy Benthams architektonischem Entwurf von (Straf-)Anstalten (1791), der die von zwei Seiten einsehbare Zellen kreisförmig um einen Wachturm anordnet, erläutert Foucault die Funktionsweise der Disziplinierung, in der »Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt« (Foucault 1976 [1975], 258).

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selber stützen«109. Zwischen diesem von Bourdieu in dessen zuletzt von mir angeführten Zitat als ›Normierungsdruck‹ bezeichnetem Effekt der ›Disziplin der Institution‹ und den in seiner Theorie beschriebenen, machtvollen Konditionierungen durch die »gewöhnliche[…] Ordnung der Dinge«110 besteht ein direkter Zusammenhang – nämlich dann, wenn der Begriff der Institution in einer Brückenfunktion zwischen Gesellschaft und Individuum verstanden wird. In diesem grundständig sozialwissenschaftlichen Sinne definiert auch Foucault den Begriff der Institution wie folgt: »Das, was man allgemein ›Institution‹ nennt, ist jedes mehr oder weniger erzwungene, erworbene Verhalten. Alles das, was in einer Gesellschaft als Zwangssystem funktioniert, ohne dass es eine Aussage ist, zusammengefasst, das gesamte nicht diskursive Soziale, ist die Institution.« 111

Institutionen generieren und bedeuten damit jene historisch und lokal kontingenten Regelwerke, die durch die Inkorporierung seitens der Individuen erst eine ›natürliche‹ oder – wie Bourdieu schreibt – ›gewöhnliche Ordnung der Dinge‹ hervorbringen. Im Begriff der Institution sind demnach die ›stummen Befehle‹ an die sozialen Akteur/innen enthalten, die Bourdieu in den Dispositivanalysen des Kollegen vermisst, Foucault jedoch mit dem analogen Terminus der Disziplinen als »Techniken der Individualisierung von Macht«112 fokussiert. Möchte man für den Moment nicht nur die »geschlechtliche Differenzierung«113 als ein kulturelles institutionalisiertes Ordnungssystem, sondern auch das deutsche Stadttheatersystem als regulierende Institution begreifen, lassen sich folgende Fragen nach der Disziplin des Theaters stellen: Um welche Art der Disziplinierung handelt es sich im Falle von Schauspieler/innen, aber auch Zuschauer/innen? Welche Disziplinarpraktiken wendet bereits das Ausbildungssystem, welche anschließend der Theaterbetrieb zur Individualisierung von (Geschlechter-)Normen an? Auch wenn die vorliegende Arbeit ›Theater‹ analytisch als soziales Feld in seiner »gesamte[n], in Institutionen und Mechanismen objektivierte[n] Geschichte«114 begreift – und somit Schauspieler/innen als kapitalstarke ›Produktionsmittel‹ und ›Projektionsflächen‹ zu verstehen vermag – und nicht als Institution gemäß Foucault betrachtet, werden die aufgeführten Fragen dennoch im Rahmen der Subjektanalyse (im Feld des Stadttheaters) im empirischen Teil der Arbeit Beachtung finden. Wie dargestellt werden konnte, ist Foucaults und Bourdieus Ansätzen die macht- respektive herrschaftsanalytische Verortung von Gesellschaftsordnungen – wie exemplarisch jene eines zweigeschlechtlichen Normalitätsdispositivs – in den Körpern der Individuen gemein, doch betrachten sie ihren gemeinsamen Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven: Während Foucault von einer Einschreibung von Institutionen und Diskursen in die Körper ausgeht, sieht Bourdieu die Einverleibung von praktischem Wissen durch die Körper reproduziert. Als modus 109 | Foucault 1976 [1975], 258. 110 | Bourdieu 2001 [1997], 181. 111 | Foucault 2005a [1977], 396. 112 | Foucault 2005b [1994], 233. 113 | Heintz 2008. 114 | Bourdieu 1999 [1992], 367.

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operandi und zugleich opus operatum (be-)gründet das einverleibende Prinzip im Bourdieu’schen Theoriekosmos den Habitus der sozialen Akteur/innen; Foucaults Vokabular beschreibt in ähnlicher Weise Subjektformen als Effekte einer sich einschreibenden Subjektivierung.115 Das Produkt aus beiden Funktionsweisen – Einschreibung und Einverleibung – ist ein »entsubjektiviertes«116 Individuum, das (paradoxerweise) im Begriff des Subjekts, wie es als theoretische Analysekategorie auch in den jüngeren Kultur- und Sozialtheorien zirkuliert, eine Neubestimmung erfährt: »Das Subjekt ist nicht mit seiner subjektiven Identität in diesem Sinne gleichzusetzen, sondern bezeichnet einen Prozess der Inkorporierung und Interiorisierung kultureller Ordnungen, der sich der Bewusstheit der subjektiven Perspektive in der Regel entzieht (was nicht ausschließt, dass sich im Rahmen dieser erworbenen kulturellen Subjektordnung ein dieser entsprechendes Selbstverstehen des Subjekts ausbildet). Bourdieu und Foucault sind in dieser Grundposition eindeutig vom Strukturalismus beeinflusst und gehen entsprechend auf Distanz zur Phänomenologie.« 117

Entgegen einer einseitig deterministischen Vorstellung, wie sie diese Bestimmung des Subjekts vermitteln könnte, macht Reckwitz im selben Zuge auf die von Judith Butler ausgearbeitete Performativität von (Geschlechts-)Körpern aufmerksam.118 Denn das performative Prinzip einer beständigen Wiederholung und Umcodierung von nachgeahmten Bewegungs-, Verhaltens- oder Sprechmustern unterläuft gerade jenen Subjektdeterminismus. Im Wechselverhältnis von Produktion und Reproduktion konstituiert sich vielmehr die ›Doppelbedeutung des Subjekts‹. So verstanden, handelt es sich bei Subjekten, wie Reckwitz zusammenfasst, »um Instanzen, die sich einer sozial-kulturellen Ordnung unterwerfen, diese sich einverleiben und die im Zuge dieser Unterwerfung – den jeweiligen gesellschaftlichen Kriterien folgend – zu sich selbst steuernden, kompetenten und intelligiblen Wesen werden«119. Im Rahmen meiner Forschung werden die Begriffe des Subjekts und des Habitus auf unterschiedlichen Ebenen angewandt, die jedoch – aufgrund des ›doppelten Leibes‹ von Schauspieler/innen auf der Bühne zwischen Figur und Person – fließend ineinander übergehen. Diese ästhetische Differenz (zwischen fiktiver Figur und realer Person) macht die Trennung der Begriffe nötig und sowohl für die theaterwissenschaftliche Aufführungs- als auch die kultursoziologische Feldanalyse überaus spannend, sodass ich sie hier als zentrale Analysekategorien einführen und heuristisch verwenden möchte. Beide Begriffe beziehen sich in meiner Untersuchung ausschließlich auf die Berufsgruppe von Schauspieler/innen (und nicht auf spezifische Subjektformen, wie sie etwa auch mit dem Berufsbild der 115 | Vgl. auch Reckwitz 2011, 41. 116 | Reckwitz 2011, 42. 117 | Reckwitz 2011, 42. 118 | Vgl. Butler 1991 [1990] und 1995 [1993]. 119 | Reckwitz 2011, 41 [Herv. i. O.]. Der Begriff der Intelligibilität entstammt der Butler’schen Gendertheorie und meint die soziale Erkennung und Anerkennung von Subjekten innerhalb der hegemonialen Norm, speziell der heterosexuellen Matrix, vgl. Butler 1991 [1990], 38.

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Regie oder der Intendanz als ›charismatische Führer‹120 verbunden werden könnten). Wenn von Schauspieler/innen als Subjekten die Rede ist, dann ist damit jene doppeldeutige und ambivalente Konstellation zwischen Unterwerfung (unter eine kulturelle und institutionalisierte Ordnung) und Selbstermächtigung (innerhalb der Grenzen dieser Ordnung) gemeint, welche Schauspieler/innen – im Raum des Möglichen zwischen Ausbildung und Aufführung – zu intelligiblen Subjekten innerhalb des Berufs- und Handlungsfeldes Theater macht, denn »Praktiken koppeln Subjekt und Struktur«121. Das heißt: Praktiken der Organisation, der Ausbildung, der Vermittlung, der Besetzung, der Darstellung und Wahrnehmung machen im Feld des (Stadt-)Theaters aus Privatpersonen professionelle, soziale und öffentlich ›sichtbare Subjekte‹122 . Hinsichtlich der Funktionalisierung von Schauspieler/innen im Stadttheaterbetrieb, das heißt im Hinblick auf ihre Organisation und Einsetzung/Besetzung im Rahmen von Ensembles, wird der Begriff des Habitus greifen. Löst man nämlich den Begriff des Habitus respektive der Habitusformen aus seiner – bei Bourdieu – klassentheoretischen Genese und begreift man ihn als feldabhängige soziale und identitätsstiftende Disposition (nicht zufällig wird Bourdieus Forschungsprogramm meist in der Verbindung von Feld- und Habitus-Theorie rezipiert), dann bezeichnet er genau jene ›Formen‹ oder ›Typen‹, mit denen Schauspieler/innen im Vokabular des Feldes nicht nur kategorisiert und differenziert, sondern insbesondere subjektiviert werden. Aufgrund der spezifischen (Berufs-)Situation von Schauspieler/innen, den eigenen Körper nicht nur als kulturellen, sondern in verstärktem Maße als sozialen und ästhetischen »Aus- und Aufführungsort«123 zu erfahren und zur Disposition stellen (zu müssen), sind im theatralen Rahmen – mehr noch als im alltäglichen – die Übergänge zwischen Person – Typ – Figur fließend, schließlich fallen, wie anhand der Persona Schulz exemplarisch veranschaulicht werden wird, »[i]m Habitus […] Merkmale der Person und des Systems zusammen«124. Während eine Habitusanalyse in der Regel mit milieuspezifischen Studien oder berufsbiografischen Interviews operiert, verorte ich den Begriff des Habitus folglich stärker in den Existenzbedingungen des Feldes selbst, in den Strukturen des Ensemble- und Repertoirebetriebs, welche sich in Bezug auf (die Ausbildung von) Schauspieler/innen in habitualisierten Dispositionen re/produzieren. Damit meine ich also weniger bis heute dominierende, bildungsbürgerliche Dispositionen (welche sich – historisch verankert – zwar auch biografisch bei einem Großteil der Schauspieler/innen widerzuspiegeln vermögen) als vielmehr funktionale Positionen im Ensemble, welche von Schauspieler/innen habitualisiert besetzt und darstellerisch ausgefüllt werden. Jene sich bereits während der Ausbildung ausprägenden und im Betrieb sich meist verfestigenden ›objektiven Kategorisierungen‹ in Gestalt von

120 | Vgl. Hänzi 2013, 72-77. 121 | Faulstich 2013, 197. 122 | Der Begriff des sichtbaren Subjekts respektive des »visual subject« ist mit Peter W. Marx der (Kunst-)Theorie Nicholas Mirzoeffs entlehnt und meint »a person who is both constituted as an agent of sight […] and as the effect of a series of categories of visual subjectivity« (Mirzoeff zitiert nach Marx 2008, 55). 123 | Reckwitz 2008a, 87. 124 | Faulstich 2013, 197.

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Typen betrachte ich demnach im Feld des Stadttheaters als spezifische Habitusformen, das heißt mit Bourdieu »als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepaßt sein können […].« 125

In diesem Sinne ist der Habitus auch als Verkörperung des Gesellschaftlichen per se zu verstehen, denn: »Wenn man vom Habitus redet, dann geht man davon aus, daß das Individuelle und selbst das Persönliche, Subjektive, etwas Gesellschaftliches ist, etwas Kollektives. Der Habitus ist die sozialisierte Subjektivität.« 126

Mit der Frage nach der Subjektivation/Subjektivierung von Schauspieler/innen und der Re/produktion von Typen im Feld des Theaters wende ich mich bewusst beiden Forschungsprogrammen zu. Damit betrachte ich beide Ansätze in ihrem »Komplementaritätsverhältnis«127, ein produktiver und mit Blick auf Subjektanalysen im Grunde unausweichlicher Vorschlag, dessen analytischen Nutzen in dieser Weise auch Reckwitz erkennt: »Eine Subjektivierungsanalyse unter dem Gesichtspunkt von Dispositiven fragt damit nach Subjektkonstitutionen im Rahmen jener makrosozialen Zusammenhänge, welche die – in differenzierungstheoretischer Perspektive häufig sakrosankten – Grenzen zwischen sozialen Feldern überschreiten (und dabei in der Regel einzelne Praktikenkomplexe aus spezifischen Feldern, nicht diese in ihrer Gesamtheit umfassen). […] Sie dynamisiert damit, wenn sie genealogisch ausgerichtet ist, auch die Perspektive auf Subjektkulturen, die ansonsten riskieren würde, auf die Reproduktion von Feldern und Klassen fixiert zu bleiben. Umgekehrt muss auch eine Diskurs- und Dispositivanalyse mit der relativen Eigenlogik von Lebensstilen wie von sozialen Feldern rechnen, die nie vollständig in Diskurs- und Dispositivzusammenhängen aufgehen.« 128

Im Folgenden wird an erster Stelle die Konzeption des sozialen Feldes nach Bourdieu anhand der zentralen Begriffe erläutert, bevor daran anschließend mit Foucault zwei das Feld des Stadttheaters einerseits überschreitende, andererseits es im sozialen Raum verortende Dispositive skizziert werden.

Soziale Felder und ihre Re/produktionsbedingungen Die nachfolgende Rezeption der für die Untersuchung der ›Re/produktionsmaschine Stadttheater‹ relevanten feldtheoretischen Begriffe rekurriert insbesondere auf Bourdieus Erläuterungen im Rahmen des 1992 veröffentlichten Gesprächs 125 | Bourdieu 1993 [1980], 99. 126 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 159. 127 | Reckwitz 2011, 55. 128 | Reckwitz 2011, 56f.

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mit dem Soziologen und Bourdieu-Schüler Loïc Wacquant über die »Logik der Felder«129, zieht aber ebenso andere Aufsätze und Monografien aus dem Gesamtwerk des französischen Sozialwissenschaftlers zu Erklärungszwecken heran. Diesen Schriften gemein ist eine wesentliche Grundannahme des Bourdieu’schen Denkens: »In Feldbegriffen denken heißt relational denken. […] Was in der sozialen Welt existiert, sind Relationen – nicht Interaktionen oder intersubjektive Beziehungen zwischen Akteuren, sondern objektive Relationen, die ›unabhängig vom Bewußtsein und Willen der Individuen‹ bestehen, wie Marx gesagt hat.« 130

Innerhalb des akademischen Feldes verortet Bourdieu selbst seine Forschung zwischen »strukturalistischem Konstruktivismus« und »konstruktivistischem Strukturalismus«.131 »Mit dem Wort ›Strukturalismus‹ oder ›strukturalistisch‹ will ich sagen, daß es in der sozialen Welt selbst … objektive Strukturen gibt, die vom Bewußtsein und Willen der Handelnden unabhängig und in der Lage sind, deren Praktiken und Vorstellungen zu leiten und zu begrenzen. Mit dem Wort ›Konstruktivismus‹ ist gemeint, daß es eine soziale Genese gibt einerseits der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die für das konstitutiv sind, was ich Habitus nenne, andererseits der sozialen Strukturen und da nicht zuletzt jener Phänomene, die ich als Felder und als Gruppen bezeichne […].« 132

Beide Perspektivierungen auf soziale Phänomene wie Felder, Institutionen und Praktiken, beispielsweise in Form kulturell codierter Darstellungs- und Wahrnehmungspraktiken, liegen ebenso der vorliegenden Arbeit zugrunde, die das Feld des deutschen Stadttheaters historisch und die Subjektivation/Subjektivierung von Schauspieler/innen empirisch zu ergründen versucht. Bourdieus programmatische Forderung nach einer historischen Kontextualisierung der zu untersuchenden Praktikenkomplexe bringt zugleich die Frage nach der Genese sozialer Felder und allgemeiner noch nach den strukturellen Bedingungen der Gesellschaft ins Spiel. Dabei zeigt sich, dass die Existenz von sozialen Feldern selbst ein historisch kontingentes Phänomen darstellt. Sie entstehen in historisch und lokal spezifischen Räumen, innerhalb einer ›modernen‹ Gesellschaftsform, in welcher sich im Zuge der Industrialisierung und der damit einhergehenden Arbeitsteilung eine funktionalen Differenzierung der Gesellschaft in einzelne Felder (Bourdieu) respektive Systeme (Luhmann) vollzieht:133 129 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 124-147. 130 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 126f. [Herv. i. O.] 131 | Vgl. Bourdieu 1992 [1987], 135. 132 | Bourdieu 1992 [1987], 135. 133 | Nach Fröhlich und Rehbein knüpfen sowohl Bourdieu als auch Foucault in ihren sozialwissenschaftlichen Theorien an die Forschung des Soziologen Emile Durkheims Über soziale Arbeitsteilung [1893] an, siehe Fröhlich/Rehbein 2014, 101. Bourdieu erkennt zwar in der Systemtheorie Luhmanns »oberflächliche Ähnlichkeiten mit der Theorie der Felder« (Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 134), doch grenzt er letztere klar von sozialen Systemen in deren Eigenschaft, kohärent, selbstregulierend und funktional zu sein, ab; im Gegen-

Einleitung: Denken in Relationen »In hochdifferenzierten Gesellschaften besteht der soziale Kosmos aus der Gesamtheit dieser relativ autonomen sozialen Mikrokosmen, dieser Räume der objektiven Relationen, dieser Orte einer jeweils spezifischen Logik und Notwendigkeit, die sich nicht auf die für andere Felder geltenden reduzieren lassen. Zum Beispiel unterliegen das künstlerische, das religiöse oder das ökonomische Feld einer jeweils anderen Logik: Das ökonomische Feld ist historisch als das Feld des ›Geschäft ist Geschäft‹ entstanden, business is business, aus dem die verklärten Verwandtschafts-, Freundschafts- und Liebesbeziehungen grundsätzlich ausgeschlossen sind; das künstlerische Feld dagegen hat sich in der und über die Ablehnung bzw. Umkehrung des Gesetzes des materiellen Profits gebildet.« 134

Die doppelte Struktureigenschaft dieser sozialen Räume, sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zu anderen Feldern aufzuweisen, verweist einerseits auf ihre Durchlässigkeit, andererseits auf »die Frage nach den Grenzen des Feldes«135. Wie Bourdieus offene Antwort auf diese Frage zeigt, handelt es sich in den meisten Fällen um eine diffuse Begrenzung: »Die Grenzen des Feldes liegen dort, wo die Feldeffekte aufhören.«136 Und andere Felder an Einfluss gewinnen, könnte man auf einer theoretischen Ebene hinzufügen, denn die Felder »durchdringen einander«137 und handeln nicht selten mit demselben Kapital (so sind etwa die deutschen Stadttheater sowohl Orte des künstlerischen Ausdrucks und der kulturellen Bildung als auch materielle und ökonomische Güter der sie jeweils tragenden Kommunen und Länder). Hinsichtlich der Grenzen eines Feldes lässt ihre Bestimmung zunächst aber »keine Antwort a priori zu«138, denn: »Erst wenn man diese Universen im einzelnen untersucht, kann man ermitteln, wie sie konkret beschaffen sind, wo sie aufhören, wer zu ihnen gehört und wer nicht, und ob sie wirklich ein Feld bilden.« 139

Während die Grenzziehung im Abstrakten nur als ein undifferenzierter Vorgang beschrieben werden kann, offenbart sie in der Empirie ihre sozial differenzierende Funktion. So materialisieren sich die Grenzen eines Feldes in den konkreten, bestimmte Akteur/innen einschließenden, andere ausschließenden Praktiken, das heißt in den jeweiligen »Zugangssperren«140, die im Feld eine »unausdrückliche oder institutionalisierte«141 Gestalt anzunehmen vermögen, wie mit Blick auf das Feld des deutschen Stadttheaters die empirische Forschung im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit expliziert.

satz dazu beruht die Dynamik von sozialen Feldern stärker auf den Beziehungen unter den Teilnehmenden sowie auf Macht- und Konkurrenzverhältnissen, siehe Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 134f. 134 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 127 [Herv. i. O.]. 135 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 130. 136 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 131. 137 | Fröhlich/Rehbein 2014, 101. 138 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 130 [Herv. i. O.]. 139 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 130. 140 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 131. 141 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 131.

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In seiner langjährigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit sozialen Feldern hat Bourdieu unterschiedliche Analogien zur Veranschaulichung der sozialen Voraussetzungen und Funktionsprinzipien dieser parallel existierenden Mikrokosmen entwickelt: In der Auffassung eines »Raum[s] des Möglichen«142 beispielsweise eröffnet und begrenzt das Feld die soziale Praxis der Akteur/innen in ihrem Handeln, Wahrnehmen und (Be-)Werten; im Bild des »Spiel[s]«143 impliziert es spielspezifische Regeln und die materiellen sowie symbolischen Einsätze aller (Mit-)Spielenden; verstanden als »ein Kräftefeld und ein Feld der Kämpfe«144 verdeutlicht es darüber hinaus seine machtvolle Struktur zwischen unterschiedlichen Positionen. Jede dieser Analogien lässt sich für die Beschreibung des hier zu untersuchenden Feldes des deutschen Stadttheaters fruchtbar machen, indem sie jeweils eine andere Dimension in das Zentrum der Betrachtung rücken. Um die spezifische Struktur, die Spielprinzipien und die (Ko-)Akteur/innen im Feld des Stadttheaters – vor dem Hintergrund der Re/produktion von Typen und der Subjektivation/Subjektivierung von Schauspieler/innen – auch angemessen rekonstruieren zu können, sollen im Folgenden die wesentlichen Annahmen der Feldtheorie Bourdieus mit Blick auf die relevanten und in der Empirie überprüf baren heuristischen Termini zusammengefasst werden: Den Positionen innerhalb von sozialen Feldern, der je spezifischen illusio, den verschieden wirkmächtigen Kapitalsorten und heterogen verfassten Stellungnahmen gilt hierbei das primäre Interesse. Angesichts der geringen Aufmerksamkeit, die im akademischen Feld der Theaterwissenschaft bislang der Feldanalyse Bourdieus und ihren Begriffen entgegengebracht worden ist,145 erscheint dieses Vorgehen für das Verständnis der weiteren Schritte nicht nur sinnvoll, sondern überaus notwendig.

142 | Bourdieu 1998 [1994], 55 [Herv. i. O]. 143 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 127ff. 144 | Bourdieu 1998 [1997], 20. 145 | Mir sind im Gesamten nur vier theaterwissenschaftliche Ansätze bekannt, die explizit mit Bourdieus Feldbegriffen arbeiten: Vor allem auf theoretischer Basis entwickelt die Theaterwissenschaftlerin Maria Shevtsova seit Ende der 1990er-Jahre Bourdieus Feldtheorie für eine Sociocultural Performance Analysis weiter, wobei sie von konkreten Aufführungen und/ oder Arbeitszusammenhängen mit Blick auf deren spezifische Produktionsbedingungen ausgeht, jedoch diese nicht im größeren Zusammenhang des ›Raums des Möglichen‹ historisiert, vgl. Shevtsova 2001 [1997] und 2002. Daneben existieren drei Dissertationen, die für das Feld des deutschsprachigen Theaters jeweils in Ausschnitten Feldanalysen vorlegen: Die Arbeit von Tanja Bogusz Institution und Utopie. Transformationen an der Berliner Volksbühne konzentriert sich auf deren Genese, auf die lokalen Verhältnisse Berlins und das künstlerische Schaffen der Volksbühne, vgl. Bogusz 2007; die auf Interview- und Theatertextanalysen mit Autor/innen und Intendant/innen basierende Untersuchung von Skadi Jennicke zum Theater als soziale Praxis. Ostdeutsches Theater nach dem Systemumbruch zeigt die Auseinandersetzung von Theaterpraxis und Kulturpolitik im spezifisch historischen Moment des Systemumbruchs auf, vgl. Jennicke 2009; die historisch und empirisch verfahrende, charismatheoretische Studie von Denis Hänzi Die Ordnung des Theaters. Eine Soziologie der Regie befasst sich mit dem Berufsbild der Regie und mit unterschiedlichen Habitusformen zeitgenössischer Regisseur/innen, vgl. Hänzi 2013; da letzterer ebenso die historischen Bedingungen der Institutionalisierung der Regie als einer autonomen (und geschlechtlich co-

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Illusio, Position, Kapital Wie bereits deutlich geworden ist, werden soziale Akteur/innen erst unter der Voraussetzung, »daß sie die Eigenschaften besitzen, die erforderlich sind, um im Feld Wirkungen zu entfalten«146, auch zu intelligiblen Subjekten des je spezifischen sozialen Möglichkeitsraumes. Als solche verfügen sie unweigerlich über die im Feld nötigen und hieran angepassten Dispositionen (etwa von Schauspielenden, Theaterproduzierenden oder -rezipierenden) sowie über einen mittels der spezifischen Praktiken und Institutionen erlernten Habitus, welcher sie zu »handelnde[n] und erkennende[n] Akteure[n]«147 macht: »Der Habitus ist jener Praxissinn, der einem sagt, was in einer bestimmten Situation zu tun ist – im Sport nennt man das ein Gespür für das Spiel, nämlich die Kunst, den zukünftigen Verlauf des Spiels, der sich im gegenwärtigen Stand des Spiels bereits abzeichnet, zu antizipieren.« 148

Der praktische Sinn ist – in Analogie zu dem im Kontext von Sportspielen bekannten Sinn – eng mit der illusio eines Feldes verknüpft. Es verwundert daher nicht, dass Bourdieu diesen zentralen Begriff seiner Theorie, um den sich weitere Merkmale sozialer Felder anschließen, insbesondere mittels der Metapher des Spiels veranschaulicht. Die illusio begründet das spezifische »Interesse«149 eines jeden Feldes, sie bestimmt die Regeln – Bourdieu spricht von »Regularitäten, die [im Gegensatz zu Spiel-Regeln] nicht expliziert und kodifiziert sind«150 – und zugleich das Ziel des Spiels: »Die Spieler sind im Spiel befangen, sie spielen, wie brutal auch immer, nur deshalb gegeneinander, weil sie alle den Glauben (doxa) an das Spiel und den entsprechenden Einsatz [illusio; Anm. d. Verf.], die nicht weiter zu hinterfragende Anerkennung teilen […].« 151

In sozialen Feldern geht es um etwas. Gekämpft wird einerseits um den allgemeinen Einsatz im Spiel, durch den es sich von anderen Spielen abgrenzt, und den es daher nach außen hin zu verteidigen gilt, andererseits um die je spezifischen Einsätze, das heißt um die interne »Gewichtung und Verteilung«152 des Kapitals, die zugleich zu einer hierarchisch angeordneten Konfiguration des Feldes führt. Obwohl Bourdieu nicht konkret benennt, um welche Art von Spiel es sich im Falle der sozialen Felder handelt, und die von ihm ins Spiel gebrachten Beispiele so unterschiedliche Formen wie Mannschafts-, Karten- oder Glücksspiele umfassen, lässt die Semantik seiner Sprache doch eine allgemeine Annahme zu: So assoziiert er mit der Metapher des Spiels in einem weiten Sinne ein strategisches Spiel, in dem dierten) Position im Feld des deutschen Stadttheaters beleuchtet, habe ich in seiner Arbeit produktive Parallelen erkennen und für meinen Ansatz fruchtbar machen können. 146 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 139. 147 | Bourdieu 1998 [1994], 41f. [Herv. i. O.] 148 | Bourdieu 1998 [1994], 41f. [Herv. i. O.] 149 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 149. 150 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 127. 151 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 127f. 152 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 127.

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alle Mitspieler – mit jeweils unterschiedlichen Einsätzen – um »den Erhalt oder die Veränderung der Konfiguration«153 kämpfen. Unter feldanalytischer Perspektive interessiert sich der Soziologe besonders für die verschiedenen »Strategien der Akteure«154. Diese seien, erläutert Bourdieu, »abhängig von ihrer Position im Feld, das heißt in der Distribution des spezifischen Kapitals, und von ihrer Wahrnehmung des Feldes, das heißt von ihrer Sicht auf das Feld als der Sicht, die sie von einem bestimmten Punkt im Feld aus haben.«155

Die (soziale) Position eines Akteurs ist damit einerseits an dessen je spezifisches Kapital geknüpft und unterliegt andererseits den im Feld wirkenden, zu reproduzierenden oder transformierenden »Kräfteverhältnisse[n]«156. Um die Relation von Position und »Sicht auf das Feld« zu verdeutlichen, greift Bourdieu selbst auf das Bild des Theaters zurück: Dieses assoziiert er in diesem Zusammenhang als theatron, als ein Ort des Schauens. Rezeptionstheoretisch beschreibt er damit die je nach Position unterschiedlichen Blickwinkel auf das Feld in Analogie zu der von einem konkreten Platz im Zuschauerraum gerichteten und jeweils anders wirkenden Perspektive auf das Bühnengeschehen. Doch nicht nur mit Blick auf das Wechselverhältnis von Position und Perspektive, sondern auch hinsichtlich der Relation von Position und Kapital lässt sich – zunächst oberflächlich betrachtet – ein Vergleich zum Theater ziehen. So leuchtet ein, dass bereits die (soziale) Position im Zuschauerraum vom ökonomischen Kapital des Einzelnen abhängig ist. Verfestigt in der architektonischen Anordnung des oftmals durch Ränge und Tribünen gestuften Zuschauerraumes und sich damals wie heute materialisierend in gestaffelten Preiskategorien erscheint allein die Gruppe der Rezipient/innen im Theaterraum als sozial differenziert und hierarchisch strukturiert: je höher das ökonomische Kapital, desto besser die Sicht und größer die (räumliche) Nähe zum Zentrum des Geschehens – sofern man die Aufführung als »umkämpftes Interessensobjekt«157 im Feld des Theaters definiert. Tiefgehender betrachtet wird zudem das (Spiel-)Ensemble im Bühnenraum, das die Aufführung(en) als eine Gemeinschaftsleistung hervorbringt, auf der Basis von Angebot und Nachfrage von Schauspieler/innen nach ›ökonomischen‹ Prinzipien organisiert, wie die empirische Analyse von En153 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 132. 154 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 132. Im Bild des Glücksspiels veranschaulicht Bourdieu plastisch Strategien der Reproduktion beziehungsweise Inflation durch Umwertung: »Die Spieler können spielen, um ihr Kapital, ihre Jetons, zu vermehren oder zu erhalten, sich also an die unausgesprochenen Spielregeln und die Notwendigkeit der Reproduktion von Spiel und Einsätzen halten; sie können aber auch darauf hinarbeiten, die immanenten Regeln des Spiels ganz oder teilweise zu verändern, beispielsweise den Wert der Jetons oder die Wechselkurse zwischen den verschiedenen Kapitalsorten, und zwar durch Strategien, die darauf angelegt sind, die Unter-Kapitalsorte, auf der die Macht ihrer Gegner beruht (etwa das ökonomische Kapital) zu entwerten und diejenige Kapitalsorte aufzuwerten, mit der sie selber besonders gut ausgestattet sind (etwa das rechtliche Kapital).« (Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 129.) 155 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 132. 156 | Bourdieu 1998 [1994], 62. 157 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 135.

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semblestrukturen im zweiten Teil dieser Arbeit zeigen wird. Denn Schauspieler/ innen investieren grundsätzlich mit ihrem eigenen Spielmaterial in das Feld des Theaters, das heißt mit einem Kapital, das einerseits an ihre Körper geknüpft ist, das aus Perspektive der Feldteilnehmenden andererseits zugleich durch einen individuellen Stil oder produktive Arbeitsbeziehungen aufgewertet (und ebenso abgewertet) werden kann. Für eine überblicksartige Darstellung der Kapitalformen soll es in diesem Zusammenhang ausreichen, die drei von Bourdieu identifizierten »Grundsorten«158 zu skizzieren: das ökonomische, das kulturelle und das soziale Kapital.159 Während das ökonomische Kapital auch mit materiellen Gütern gleichzusetzen ist, bestimmt Bourdieu das kulturelle Kapital – differenziert nach inkorporiertem, objektiviertem und institutionalisiertem Aggregatzustand dieser Kapitalform – in einem weiten Sinne als »Informationskapital«160, worunter er, den eben genannten Aggregationsformen entsprechend, etwa Dispositionen, Bilder oder allgemeiner auch Bildung fasst.161 Daneben kann das soziale Kapital als die innerhalb eines relativ stabilen Beziehungsnetzes zirkulierende »Summe aus aktuellen oder virtuellen Ressourcen [verstanden werden], die einem Individuum oder einer Gruppe aufgrund der Tatsache zukommen, daß sie über ein dauerhaftes Netz von Beziehungen, einer – mehr oder weniger institutionalisierten – wechselseitigen Kenntnis und Anerkenntnis verfügen […].« 162

Diesen drei Grundformen fügt Bourdieu zu einem späteren Zeitpunkt das symbolische Kapital als eine vierte Erscheinungsweise hinzu, welche jeweils die vorgängigen Kapitalsorten durch öffentliche Anerkennung und Konsekration in ihrem Wert zu steigern vermag.163 Insbesondere in Feldern, wo öffentliche Anerkennung nicht nur zu einem hohen Gut, sondern Repräsentation zur Praxis des Feldes grundständig dazugehört, wird das symbolische Kapital schließlich selbst zu einem wesentlichen »umkämpfte[n] Objekt«164 der Akteur/innen, wie etwa in den Feldern der Politik oder der darstellenden Kunst. Für jede Kapitalform kann dabei gelten, dass sie als ›Besitz‹ der Teilnehmenden in den feldspezifischen (Interessens-)Kämpfen diejenige Ressource darstellt, die »in einem bestimmten Feld zugleich als Waffe und als umkämpftes Objekt wirksam ist, das, was es seinem Besitzer erlaubt, Macht oder Einfluß auszuüben, also in einem bestimmten Feld zu existieren und nicht bloß eine ›quantité négligeable‹ zu sein.« 165

Um an die Schnittstelle zurückzukehren, an der sich das investierte Kapital und die spezifische Sicht auf das Feld überkreuzen und sich Handlungsmöglichkeiten 158 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 151. 159 | Für eine ausführliche Darstellung dieser drei Kapitalsorten, siehe Bourdieu 1983. 160 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 151. 161 | Siehe Bourdieu 1983, 185. 162 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 151. 163 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 151. 164 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992],128. 165 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992],128 [Herv. i. O.].

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dementsprechend vergrößern oder aber verringern, wird an dieser Stelle noch einmal auf die grundlegende, weil voraussetzungsvolle Rolle der Position von Akteur/ innen oder Gruppen eingegangen. Denn liest man die (in der Sekundärliteratur meist rezipierte) Bestimmung der analytischen Funktion des Bourdieu’schen Feldbegriffes, kann die soziale Position gar als zentrale Bezugsgröße eines Feldes und seiner Analyse gelten: »Analytisch gesprochen wäre ein Feld als ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen zu definieren. Diese Positionen sind in ihrer Existenz und auch in den Determinierungen, denen die auf ihnen befindlichen Akteure oder Institutionen unterliegen, objektiv definiert […].« 166

Als »objektiv definiert« lassen sich Positionen nur im Kontext einer spezifischen und machtvollen Struktur konkret verorten, die sich wiederum in Abhängigkeit von der/den jeweils hoch gehandelten Kapitalsorte(n) konstituiert. Innerhalb dieser Struktur wird der Status einer Position im Feld relational bestimmt, und zwar im Verhältnis der Akteur/innen untereinander in den Beziehungen von »herrschend, abhängig, homolog usw.«167 In diesem Sinne ist die agency der Akteur/innen prinzipiell positionsabhängig, so konstatieren auch die Bourdieu-Rezipienten Gerhard Fröhlich und Boike Rehbein: »Die Akteure sind in unterschiedlicher Weise befähigt, auf das Feld Einfluss zu nehmen und ihre Interessen geltend zu machen. Eben das ist mit ihrer sozialen Position gemeint. Die Position in der Struktur des Feldes schließt Möglichkeiten aus und bedingt die Stellungnahmen auf dem Feld.« 168

Mit dem Begriff der Stellungnahmen führen Fröhlich und Rehbein eine letzte, unmittelbar mit der konkreten Position im Feld verbundene Relationskategorie ein. Stellungnahmen werden von Bourdieu »als ein strukturiertes System der Praktiken und Äußerungen der Akteure«169 verstanden. Folglich subsumiert er darunter sowohl sprachlich, mündlich oder schriftlich verfasste Äußerungen in einem öffentlichen Kontext als auch körperlich und performativ vollzogene Handlungen, mittels welcher sich Akteur/innen in einem spezifischen (Um-)Feld positionieren. Es verwundert daher nicht, dass Bourdieu in seinem Standardwerk Die Regeln der Kunst170 den Begriff der Positionierungen synonym zu demjenigen der Stellungnahmen gebraucht. Beide Begriffe implizieren die aktive bis offensive Dimension öffentlich vollzogener und dementsprechend adressierter Praktiken (des Sprechens, Zeigens und/oder Aufführens) in Relation zu anderen Positionen und Positionierungen im Feld. Auch Stellungnahmen respektive Positionierungen sind damit nur in ihrem zweifachen Verhältnis zu anderen, feldanalytisch relevanten Kategorien (empirisch) zu bewerten. Erstens existieren sie ausschließlich in Bezug auf bestimmte Positionen, denn letzteren »entsprechen homologe Positionierun166 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 127. 167 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 127. 168 | Fröhlich/Rehbein 2014, 101. 169 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 136. 170 | Bourdieu 1999 [1992].

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gen: literarische oder künstlerische Werke selbstverständlich, aber auch politische Handlungen und Reden, Manifeste oder polemische Schriften […]«171. Zweitens erweisen sich solcherart Positionierungen im Zusammenspiel mit beziehungsweise in Kontrast zu anderen als eine sinnhafte (Unterscheidungs-)Praxis. Das Verhältnis von Position, Positionierung und Differenzierung fasst Bourdieu – im Kontext seiner Analyse des literarischen Feldes – wie folgt zusammen: »Wenn dieser und jener Position diese und jene Positionierung entspricht, dann nicht automatisch, sondern vermittels der beiden Systeme von Differenzen und der differentiellen Abstände und relevanten Gegensätze, in die sie sich einfügen (wie wir sehen werden, verhalten sich die unterschiedlichen Gattungen, Stile, Formen, Macharten usw. zueinander wie die entsprechenden Autoren). Jede (thematische, stilistische usw.) Positionierung definiert sich (objektiv und manchmal auch absichtlich) durch ihren Bezug auf das Universum der Positionierungen und ihren Bezug auf die dort als Raum des Möglichen indizierte oder suggerierte Problematik; sie erhält ihren distinktiven Wert von ihrer negativen Beziehung zu gleichzeitig bestehenden Positionierungen, auf die sie objektiv bezogen ist und die sie durch Begrenzung bestimmen.« 172

Aus feldanalytischer Perspektive bieten sich die verschiedenartig geäußerten Stellungnahmen in besonderer Weise für die Untersuchung der Struktur eines Feldes und der hierin jeweils eingenommenen, aber auch zugewiesenen Positionen an. Aus diesem analytischen Zusammenhang folgt zugleich eine methodische Konsequenz: So lassen sich im Rahmen einer Feldanalyse derart unterschiedliche ›Äußerungsformen‹ wie Ausstellungen oder Aufführungen, Inszenierungskonzepte, programmatische Schriften oder Programmhefte, kulturpolitische Reden, finanzielle Fakten oder auch persönliche Statements als – hinsichtlich ihrer Materialität und Medialität – verschiedenartige Praktiken, Position zu beziehen und Stellung zu nehmen, miteinander in Beziehung setzen und als empirisches Material erforschen. Diese methodische Annahme wird das Vorgehen der hier dargelegten Untersuchung zum (Stadt-)Theater als einem sozialen und sozial differenzierenden Feld wegweisend prägen.

Feldanalyse zwischen Reproduktion und Transformation Wie kann eine Feldanalyse aussehen und praktisch durchgeführt werden? Wie lassen sich die von Bourdieu entwickelten und dargelegten Begriffe als analytische Kategorien fruchtbar machen? Und in welchem Verhältnis stehen die theoretischen Begriffe zur Praxis in den jeweiligen Feldern? Wer hinsichtlich dieser methodisch orientierten Fragen eine eindeutige Antwort Bourdieus erwartet, wird enttäuscht: Bourdieu lässt die Frage nach der konkreten Vorgehensweise (relativ) offen, indem er an das jeweilige Forschungsinteresse und die Kreativität der Forschenden appelliert sowie auf die spezifische Logik des zu untersuchenden Feldes als Forschungsgegenstand verweist.173 Der Feld-Begriff selbst und das, was er zu beschreiben versucht, ist – das machen die vorangegangenen, theoretischen Erläuterungen deutlich – in seiner Funk171 | Bourdieu, Pierre 1999 [1992], 366. 172 | Bourdieu, Pierre 1999 [1992], 368. 173 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 125.

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tion als »ein wissenschaftliches Konstrukt«174 zu bewerten: »Es soll zwar die soziale Welt erklären, wie sie objektiv strukturiert ist und subjektiv erfahren wird, aber es existiert nicht wie ein Ding, auf das man zeigen kann.«175 Gerade dieser Umstand einer relativen Unbestimmtheit, auf den Fröhlich und Rehbein verweisen, muss feldanalytisch produktiv gemacht und empirisch gefüllt werden. ›Was‹ ein Feld ist, offenbart damit einerseits die empirisch beobachtbare, soziale Welt, wie sie sich in Organisationen, Institutionen und Praktiken zeigt; andererseits unterliegt die an ihr vorgenommene Einschätzung und damit auch die Bestimmung eines sozialen Feldes der je spezifischen wissenschaftlichen Perspektive. Diese kann ganze Komplexe (wie Politik oder Bildung) als soziale Felder fokussieren, definieren und die es tragenden Positionen unter dem Aspekt von Kräfteverhältnissen analysieren. Sie kann aber auch nur Teilbereiche als (Sub-)Felder historisieren und deren Aktualität reflektieren. Der ›Größe‹ oder dem ›Ausmaß‹ eines sozialen Feldes werden in Bourdieus Theorie keine definitorischen Grenzen gesetzt, im Gegenteil: »Der Begriff Feld kann auf verschiedenen Aggregationsebenen benutzt werden«176, wie sein Schüler Loïc Wacquant – tiefer gelegt in einer Fußnote – dem verschriftlichten Dialog über »Die Logik der Felder«177 hinzufügt. Bezogen auf potentielle Aggregationsebenen im Bereich der Kunst ließe sich mit dem Feldbegriff beispielsweise hinsichtlich des internationalen Kunstmarktes, der von Auktionshäusern, Galerien und Messen dominiert wird, aber auch im kleineren Maßstab in Bezug auf lokale Szenen oder das nationale Ausbildungssystem an Kunstakademien arbeiten.178 Analytisch entscheidet folglich die Perspektive der Feldforschung über den jeweils als Feld identifizierten Praxiskomplex. Wie im Rahmen meines Forschungsdesigns skizziert, bildet das deutsche Stadttheatersystem den zu untersuchenden Mikrokosmos meiner Feldanalyse, welche auf drei unterschiedlichen Aggregationsebenen die historisch gewachsenen, institutionalisierten Bedingungen für die aktuelle, empirisch zu beobachtende Produktion von Kunst und Künstler/innen im Stadt- und Ensembletheater zu ergründen sucht. Während der erste Teil der Untersuchung zunächst die Genese des Feldes anhand der Identifikation zentraler Positionen und Organisationen rekonstruiert, erforscht der zweite Teil das – mit Blick auf die Subjektivation/Subjektivierung von Schauspieler/innen – als ›Betriebssystem‹ identifizierte Ensemble-Prinzip sowohl in seinen historischen, theaterpraktischen Voraussetzungen als auch in seinem aktuellen Verhältnis zu illusio und Institutionen des Stadttheaters. Im dritten Teil werden konkrete Praktiken der Produktion von Kunst und Künstler/innen am ›Tatort Bochum‹ und am Beispiel des Theaterduos Vontobel/Schulz beobachtet und in diesem Zuge wird notwendigerweise nah an die hier beteiligten Akteur/innen ›herangezoomt‹. In diesem Sinne kann der Dreischritt der Arbeit als ein Zoom174 | Fröhlich/Rehbein 2014, 101. 175 | Fröhlich/Rehbein 2014, 101. 176 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 135. Wacquant führt an dieser Stelle ergänzend hinzu: »in der Ökonomie für den Markt, den alle Baufirmen bilden, die Eigenheime bauen, oder für das ›als eine relativ autonome Einheit betrachtete‹ Unternehmen.« 177 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 124-146. 178 | Bezogen auf das lokale Feld der Berliner (Kunst-)Szene hat etwa Valerie Moser in ihrer Studie Bildende Kunst als soziales Feld Begriff und Instrumentarium fruchtbar gemacht, vgl. Moser 2013.

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Vorgang verstanden werden, der ausgehend von den allgemeinen Voraussetzungen das Spezielle in der Praxis sowie im Habitus der Akteur/innen entdeckt. Dieses Vorgehen ist einem Vorschlag Bourdieus entlehnt, der an einer einzigen Stelle seiner Schriften methodische Schritte einer Feldanalyse skizziert. So impliziere eine »Analyse in Feldbegriffen […] drei miteinander zusammenhängende, notwendige Momente«179: 1. die Bestimmung der Position des Feldes im Verhältnis zum Feld der Macht 2. die Entdeckung der objektiven Struktur der Relationen zwischen den Positionen der in diesem Feld miteinander konkurrierenden Akteur/innen 3. eine Analyse der Habitus der Akteur/innen oder Institutionen.180 In kreativer Umsetzung dieses Programms werden die drei Teile meiner Arbeit ebendiese Momente und deren Schnittstellen im Feld des deutschen Stadttheaters ergründen. Die Identifikation eines Feldes als ein soziales Kräftefeld bildet per se die Voraussetzung für die Analyse seiner spezifischen Logik und Struktur. Letztere zeigt sich als »Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen«181 der unterschiedlichen Organisationen, Institutionen und Akteur/innen, welche interaktiv und performativ das sich dynamisch konstituierende Feld als Handlungsraum mit (begrenzten) Möglichkeiten, als Spiel mit (hohem) Einsatz und eigenen Regeln sowie als Schauplatz von (alten und neuen) Kämpfen produzieren, reproduzieren, ›reinszenieren‹ (im Sinne der Butler’schen Performativitätstheorie182) und damit im zeitlichen Verlauf auch umcodieren. Nach Bourdieu zeichnet sich folglich die je spezifische Struktur eines Feldes im Aushandlungsprozess von sich voneinander unterscheidenden und zugleich voneinander abhängigen Positionen ab: Akteurspositionen, die – ausgestattet mit unterschiedlichen Ressourcen und Kapitalsorten – in ein gemeinsames ›Unternehmen‹ investieren. Während ein Teil der Bourdieu-Rezeption meines Erachtens die in der Konzeption des Habitus angelegte Trägheit und Routinemäßigkeit (zu) stark auf den Begriff des Feldes überträgt,183 möchte ich an dieser Stelle die sozialen Feldern inhärente Dynamik im Sinne einer Logik der Re/produktion, das heißt von Mechanismen der Reproduktion und Transgression von Routinen und Ressourcen im Feld stark machen. Der in seiner Schreibweise ›zweigleisige‹ Begriff der Re/produktion soll die doppelte Struktur seiner Wirkungsweise verdeutlichen. Er verweist dabei – ähnlich dem performativen Funktionsprinzip einer zitatförmigen, diskursiven und performativen Produktion kultureller und identitätsstiftender (Gender-)Schemata – auf den instabilen Zustand der ›Identität‹ eines Feldes. Übertragen auf dessen Konstitution reproduzieren und affirmieren Praktiken, Inter- und Spezialdiskurse im Feld einerseits die dort bereits etablierten Strukturen, andererseits vermögen diese auch die strukturierende Struktur zu recodieren und zu transformieren. Wie die Bourdieu’schen Annahmen deutlich machen, ist diese produktive Logik der 179 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 136. 180 | Siehe Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 136. 181 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 127. 182 | Vgl. exemplarisch Butler 1995 [1993], 41-35. 183 | Vgl. exemplarisch Reckwitz 2004 und Schäfer 2013, 63-120.

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Re/produktion einerseits zwischen verschiedenen sozialen Feldern unterschiedlich stark ausgeprägt, andererseits auch innerhalb eines Feldes historisch variant, was Bourdieu wie folgt beschreibt: »Das Feld ist ein Ort von Kräfte- und nicht nur Sinnverhältnissen und von Kämpfen um die Veränderung dieser Verhältnisse, und folglich ein Ort des permanenten Wandels. Die Kohärenz, die in einem gegebenen Zustand des Feldes zu beobachten ist, […] [ist] ein Produkt von Konflikt und Konkurrenz und kein Produkt irgendeiner immanenten Eigenentwicklung und Struktur.« 184

Diese von Bourdieu zu einem eher späten Zeitpunkt seines Schaffens formulierte Bestimmung des Feldes als »Ort des permanenten Wandels« und »Produkt von Konflikt und Konkurrenz« zielt nicht nur auf das soziale Feld im Allgemeinen, sondern auf die Logik dieser Felder im Speziellen, auf das zu analysierende Zentrum, das sich als eine Logik der Re/produktion vollzieht: im Wechselverhältnis von Reproduktion und Wandel, das als Funktionsprinzip eine zugleich in/stabile Ordnung produziert. Diese Deutung des Bourdieu’schen Feldbegriffes widerspricht etwa der Einschätzung des Kultursoziologen Andreas Reckwitz, der in seinem Aufsatz »Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken«185 die Position Bourdieus im Kontext des heterogenen Forschungsprogrammes der Praxistheorien186 repräsentativ für jene praxeologischen Ansätze erörtert, die »Routinisiertheit und Reproduktivität als Normalfall«187 voraussetzen würden. Der Begriff der Reproduktivität meint hier argumentationslogisch die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung eines Status Quo, wohingegen die Subversion – und ebenso die Transgression – die »Unberechenbarkeit von Praktiken«188 indiziert. Das subversive Moment der Praxis ist exemplarisch in der poststrukturalistischen beziehungsweise dekonstruktivistischen (Gender-)Theorie Judith Butlers ausgearbeitet worden, die in Reckwitz’ Aufsatz die Gegenposition zu Bourdieu vertritt. Mit der Gegenüberstellung der beiden Extrempositionen verweist Reckwitz – seinem eigenen Ziel nach – nicht nur auf die potentiellen Defizite zweier Ansätze, sondern grundlegender noch auf ein Theorieproblem, nämlich auf die Frage nach der Positionierung von Forscher/ in und untersuchtem Feld: Sowohl Bourdieu als auch Butler tendierten – entgegen ihrer grundsätzlich kritischen Forschungshaltung – zu einer »Generalisierung von Aussagen über die Praxis«189, die jedoch vor dem Hintergrund von spezifischen Feldern oder Lebensstilen getroffen worden seien. Den Blick hier aber ebenfalls verengend betrachtet Reckwitz im Falle Bourdieus ausschließlich zwei frühe empi184 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 134f. 185 | Reckwitz 2004, 40-54. 186 | Zur Praxistheorie als (heterogenes) Forschungsprogramm siehe exemplarisch Schäfer 2016. 187 | Reckwitz 2004, 46. 188 | Reckwitz 2004, 41. 189 | Reckwitz 2004, 49. Hinsichtlich der Universalisierungstendenz subversiver Praktiken in Butlers Schriften verortet er deren theoretische Position in den künstlerischen Praktiken der (Neo-)Avantgarde, die im Verhältnis zur hegemonialen bürgerlichen Disposition per se ein transgressives Subjektmodell intendieren und inszenieren.

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rische Untersuchungen Bourdieus, die der kabylischen Gesellschaft in Algerien190 und die der ›feinen Unterschiede‹191 innerhalb des französischen Bürgertums der 1960er-Jahre. In deren Praktiken und Codes stelle Bourdieu »Vermeidungsstrategie[n]«192 gegenüber Neuem oder Abweichendem fest, auf deren Ergebnissen aufbauend er sein Konzept des Habitus respektive der »Habitusreproduktion«193 entwerfen würde. Der Reckwitz’sche Fokus liegt damit auf Bourdieus frühem Entwurf einer Theorie der Praxis194 und der gegenseitigen Verstärkung und Verfestigung von Habitus und Institutionen. Von diesem Modus der Reproduktivität ausgehend schließt Reckwitz auf die Routinisiertheit der Praxis, die für Bourdieu (und allgemein die Praxistheorie) den »Normalfall«195 darstellt. De facto funktioniert die von Bourdieu zuerst entwickelte ›Logik der Praxis‹ jedoch anders als die nachfolgend untersuchte ›Logik der Felder‹. In letztere ist das Spannungsverhältnis von Reproduktion und Wandel per se eingeschrieben, denn im Spannungsverhältnis von Habitus, Position und Feld vollzieht sich die zuvor bereits skizzierte, dialektische Logik der Re/produktion.196 Selbst in Bezug auf die Habitusformen lässt sich konstatieren, dass diese dem Sinn und den Regeln des Spiels zwar meist entsprechen, jedoch nicht entsprechen müssen. Bourdieu erkennt vielmehr »in der vorweggenommenen Anpassung des Habitus an die objektiven Bedingungen einen ›Sonderfall des Möglichen‹«197. So sei vielmehr unter Vorbehalt »das Modell der quasi-zirkulären Verhältnisse quasi-vollkommener Reproduktion für allgemein gültig zu erklären, das nur dann uneingeschränkt gilt, wenn der Habitus unter Bedingungen zur Anwendung gelangt, die identisch oder homothetisch mit denen seiner Erzeugung sind.« 198

Daraus lässt sich zugleich schlussfolgern: je kohärenter die ›Identität‹ von Habitus und Feld, desto stabiler die Reproduktionsrate; je größer ihre Divergenz und Diversität, desto instabiler beziehungsweise anfälliger ist die je aktuelle Struktur des Feldes für Transformationen. Welche Strategien oder – mit Reckwitz gesprochen – »Techniken eines Vermeidungsverhaltens oder eines Innovationsverhaltens«199 durch die Feldteilnehmenden angewandt werden, um den Status Quo der (aktuell) objektiven Relationen zwischen Positionen und der in dieser Verfassung legitimierten (hierarchischen) Struktur zu erhalten beziehungsweise zu verändern, 190 | Vgl. Bourdieu 1976. 191 | Vgl. Bourdieu (1982) [1979]. 192 | Reckwitz 2004, 50. 193 | Reckwitz 2004, 49. 194 | Bourdieu 1976. 195 | Reckwitz 2004, 46. 196 | Dieser theorieimmanente Wandel in Bourdieus Werk findet letztlich auch von Reckwitz Beachtung: In einer Fußnote räumt dieser ein, dass Bourdieu in seinen späten Schriften eine neue Richtung einschlage und darin »systematisch stärker Fissuren und Ambivalenzen der Praxis« (Reckwitz 2004, 47 [Fußnote 2]) berücksichtige. 197 | Bourdieu 1987 [1980], 117. 198 | Bourdieu 1987 [1980], 117. 199 | Reckwitz 2004, 52.

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lässt sich nur in einer empirischen Auseinandersetzung mit Akteur/innen und Organisationen des Feldes verstehen. Mit Blick auf die Genese des deutschen Stadttheatersystems und die damit einhergehende Institutionalisierung einer bestimmten Kunst- und Organisationsform, werden insbesondere die ersten beiden Teile der vorliegenden Arbeit die Frage nach der Reproduktion respektive Transformation des Feldes und seiner (Ensemble-)Strukturen beantworten.

(Normalitäts-)Dispositive und Diskursformationen Das Michel Foucault gewidmete Unterkapitel wird zum einen eine Bestimmung der beiden, für sein poststrukturalistisches Denken zentralen Begriffe Diskurs und Dispositiv vornehmen, zum anderen bereits zwei für die hier vorliegende Arbeit im Besonderen interessierende Dispositive im Kontext der ›Re/produktionsmaschine Stadttheater‹ (das Geschlechterdispositiv der Alltagskultur und dasjenige einer bürgerlichen Theaterkultur) skizzieren. Mit dem zu Beginn seines Schaffens etablierten Begriff des Diskurses, der – verstanden als ein in Aussageformationen gebündeltes, kontrolliertes und kanalisiertes Wissen200 – im Rahmen der Geistes- und Kulturwissenschaften seit den 1960er-Jahren bis heute nicht an Relevanz verloren hat, begründet Foucault seine wissen(schaft)sgeschichtliche Gesellschaftstheorie: Seine diskursanalytischen Untersuchungen von kulturgeschichtlichen Phänomenen, wie etwa die systematische Ausgrenzung des ›Wahnsinns‹ aus der abendländischen Gesellschaft »im Zeitalter der Vernunft«201 oder Die Geburt der Klinik202 im 18. und 19. Jahrhundert, legen nahe, dass sich die soziale Wirklichkeit und/oder kultureller Wandel erst in und durch die Zirkulation von (akademischem) Wissen sowie durch dessen ›Einschreibung‹ in die so verstanden »diskursive[n] Körper«203 vollzieht. Der Kontingenz204 dieser Wissensordnungen, dieser leibhaftig »Ordnung stiftende[n] Strukturen«205, die zugleich neue Subjektformen legitimieren und existierende reproduzieren, gilt bereits in den frühen Jahren seines Schaffens die Aufmerksamkeit. Als Aussageformationen stellen Diskurse »historisch spezifische ›Ordnungen des Denkbaren und Sagbaren‹«206 her, die über die sprachlichen Zeichen hinaus »systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen«207. Diskurse äu200 | Foucault 1991 [1972], 11. 201 | Vgl. die Unterüberschrift der ersten diskursanalytischen Untersuchung Michel Foucaults: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Foucault 1969 [1961]. 202 | Foucault 1976 [1963]. 203 | Gugutzer 2004, 74. 204 | Vgl. auch Bublitz 2003, 45-62. Den Begriff der Kontingenz erläutert Bublitz aus einer dekonstruktivistischen und zugleich kultursoziologischen Differenz-Perspektive: »Im Register der Dekonstruktion beschreibt Kontingenz das Denken der Differenz; dass eine Differenz zu dem denkbar wäre, was ist, bildet die Voraussetzung des Begriffs ›Kontingenz‹.« (Bublitz 2003, 46.) 205 | Bublitz 2003, 49. 206 | Reckwitz 2008a, 26. 207 | Foucault 1981 [1969], 74. Der Begriff des Gegenstandes ist an dieser Stelle missverständlich; Foucault meint hier allgemein die Materialisierung von sprachlich verfassten

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ßern sich in wirklichkeitskonstituierenden und damit produktiven Effekten; in Form diskursiver Praktiken stellen sie folglich, wie Judith Butler anhand ihrer Gendertheorie exemplarisch deutlich macht, zugleich eine performative, kulturelle Praxis dar.208 Spätestens in seinem ersten Band der Trilogie Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen209 verwendet Foucault den Begriff des Diskurses in diesem Sinne machtanalytisch und definiert damit die für sein Denken wesentliche Bestimmung einer dezentralen, produktiven Macht.210 Während er Diskurse in seinen früheren Analysen als »Prozeduren der Ausschließung«211 (in Form von Verboten, Grenzziehungen und der Unterscheidung zwischen wahr und falsch) untersucht hat, betrachtet er diese nun in anders gelagerter, subjektivierender Funktion. Wie er vor dem Hintergrund eines im 18. Jahrhundert um sich greifenden ›Willens zum Wissen‹ darlegt, produzieren Diskurse keine repressiven (Macht-)Wirkungen, sondern produktive Effekte, wie etwa die Erfindung der unter anderem durch die Wissenschaft vom Menschen definierten Sexualität im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert.212 In der zweiten Phase seines Schaffens ab Mitte der 1970er-Jahre fokussiert Foucault damit die Strategien und Prozesse der Subjektivation und Subjektivierung als Effekte von Diskursen, die sich unter kultur- und differenzierungstheoretischer Perspektive nun explizit als »kulturelle Räume der Klassifikation«213 begreifen lassen. Wie der Begriff des Diskurses und seine ›Macht‹ im Prozess der Subjektivation zeigen, werden soziale und kulturelle (Unterscheidungs-)Praktiken innerhalb der poststrukturalistischen Perspektive Foucaults von sich formierenden und zirkulierenden Wissens- und Ordnungssystemen sinnhaft und zuvorderst überhaupt denk- und sagbar gemacht. In diesen »historische[n] Denkrahmen«214 vollzieht sich die Konstitution von – mit Butler gesprochen – »intelligiblen«215, im kulturellen Rahmen wiedererkennbaren Subjekten. Hierbei wird erneut die Komplementarität der theoretischen Ansätze Bourdieus und Foucaults deutlich, die sich in einer Verschränkung von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken im Zusammenhang mit dem impliziten Wissen aus Elementar-, Spezial- und Interdiskursen einlösen wird. Zugleich wird ersichtlich, auf welchen unterschiedlichen Analyseebenen beide französischen Denker den ›Raum des Möglichen‹ verorten: Für Foucault regelt und reguliert die ›Ordnung des Diskurses‹ den die Subjektformen ermächtigenden Diskurs-Raum, während sich Bourdieus Konzeption von Habitus und Feld im Sozialraum unterschiedlicher Praktikenkomplexe bewegt. Foucault fragt nach den äußeren Bedingungen der sozialen Wirklichkeit, Bourdieu nach den internen Kräfteverhältnissen von Feldwirklichkeiten. Beide vertreten dabei mit ihren je eigenen Forschungsprogrammen ein ähnliches Geschichtsmodell, das Foucault explizit mit dem Begriff des historischen Diskursen in kulturell vor-kategorisierte Körper, vor-definierte Dinge oder prä-determinierte Sichtweisen. 208 | Butler 1991 [1990], 37-49. 209 | Foucault 1983 [1976]. 210 | Siehe auch Foucault 2005a [1977], 396-401 211 | Foucault 1991 [1972], 11 [Herv. i. O.]. 212 | Vgl. Foucault 1983 [1976], 11-20 und 57-76. 213 | Reckwitz 2011, 49. 214 | Bublitz 2003, 47. 215 | Butler 1991 [1990], 37.

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Apriori216 versieht und Bourdieu implizit in der strukturellen Reproduktion und Transformation von Feldern am Werke sieht: Subjekte treten in den je spezifischen Zeit-Raum von Diskursen und in eine je aktuelle Struktur von Gesellschaft und Feld ein. Welche analytische Funktion nimmt nun vor diesem theoretischen Hintergrund das Dispositiv ein, das gewissermaßen die frühen wissen(schaft)sgeschichtlichen Diskursanalysen Foucaults ablöst? Der von ihm ebenfalls ab Mitte der 1970er-Jahre entwickelte Begriff öffnet die Bedingungen einer Subjektanalyse sowohl auf einer (macht-)analytischen als auch methodischen Ebene, indem er neben diskursiven explizit auch nicht-diskursive Praktiken und nicht-sprachlich fixierte ›Anweisungen‹ als Voraussetzung der Subjektkonstitution in den Blick nimmt. Als ein »Netz«217 zwischen heterogenen Elementen – zwischen Diskursen (wie etwa wissenschaftlichen Aussagen, gültigen rechtlichen Bestimmungen und moralischen Lehrsätzen), Praktiken, Institutionen, architektonischen Einrichtungen oder Artefakten – umschreibt Foucault den Begriff des Dispositivs, das in seiner Gesamtheit als ein subjektivierender und normierender (Macht-)Apparat fungiert.218 In dieser Wirkung kann die Institutionalisierung eines Dispositivs niemals als ›wertneutral‹ begriffen werden. Foucault fasst zusammen: »Das eben ist das Dispositiv: Strategien von Kräfteverhältnissen, die Arten von Wissen unterstützen und von diesen unterstützt werden.«219 Der Begriff des Dispositivs nimmt damit eine genuin strategische Funktion ein – sowohl im Gesellschaftsmodell Foucaults als auch im Analysemodell der hier vorliegenden Arbeit. Die Soziolog/innen Andrea Bührmann und Werner Schneider erkennen in der Erweiterung Vom Diskurs zum Dispositiv 220 insbesondere einen methodologischen Zugewinn, den sich auch die vorliegende Studie zunutze machen wird. Zum Zweck der sozial- und kulturwissenschaftlichen Analyse systematisieren die Autor/innen das theoretische Konzept des Dispositivs. In diesem Sinne erklären sie die Dispositivanalyse nach Foucault zu einem empirisch anwendbaren, »sozialwissenschaftlichen Forschungsstil«221, der in seiner Art und Weise, keine konkrete Methode, aber »konkrete forschungsstrategische/-praktische Hinweise für das empirische Vorgehen«222 zu liefern, der sozialwissenschaftlichen Grounded Theory 223 vergleichbar sei.224 In ihrem Handbuch erläutern sie systematisch das 216 | Nach Foucault stellt das historische Apriori von Diskursen ihre historischen »Realitätsbedingungen« (Ruoff 2007, 137) dar. In Die Ordnung der Dinge skizziert Foucault die Genese eines bis heute wirkmächtigen, historischen Apriori, wenn er die »Existenz einer Naturgeschichte: die Organisation eines bestimmten Sichtbaren als Gebiet des Wissens« (Foucault 1974 [1966], 204) für das 18. Jahrhundert nachweist, das im hegemonialen (natur-)wissenschaftlichen und alltäglichen Diskurs bis heute den möglichen Erfahrungs- und Wissensraum definiert. 217 | Siehe Foucault 2005a [1977], 392. 218 | Siehe Foucault 2005a [1977], 392ff. 219 | Foucault 2005a [1977], 395. 220 | Bührmann/Schneider 2008. 221 | Bührmann/Schneider 2008, 16. 222 | Bührmann/Schneider 2008, 111. 223 | Zum Forschungsstil der Grounded Theory siehe Glaser/Strauss 1967. 224 | Siehe Bührmann/Schneider 2008, 16f.

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dispositivanalytische Vorgehen hinsichtlich vier zusammenhängender, analytisch potentiell getrennt zu untersuchender Aspekte: der Frage nach Praktiken, Subjektivationen/Subjektivierungen, Objektivationen und sozialem Wandel225 – stets im Verhältnis zu den jeweils dispositiv- und/oder feldrelevanten Elementar-, Spezialund Interdiskursen. Die Unterscheidung respektive Verzahnung von Elementar-, Spezial- und Interdiskursen ist auch für das spezifische Feld des (Stadt-)Theaters und die Analyse seiner Phänomene zentral: Elementardiskurse (wie etwa der das Alltagswissen dominierende, naturwissenschaftlich geprägte Geschlechterdiskurs) wirken feldübergreifend und bündeln ein so verstanden allgemeines, unhinterfragtes Wissen. Spezialdiskurse (wie beispielsweise Geschlechterdiskurse im Kontext von medizinischen Disziplinen) sind demgegenüber an die Wissensproduktion einzelner Fachgebiete gekoppelt, während Interdiskurse wiederum zwischen einzelnen Feldern zirkulieren und selektiv unterschiedliches Spezialwissen bündeln.226 Mit dem Fokus auf die Subjektivation von Schauspieler/innen ist einerseits der Hauptaspekt benannt, auf welchen sich – neben den damit zusammenhängenden Besetzungs-, Darstellungs- und Wahrnehmungspraktiken – das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit richtet, anderseits bereits eine die spezifischen Subjekte konstituierende Verzahnung von Diskursen unterschiedlicher Wissenskomplexe angedeutet. So sind Schauspieler/innen zwar die Protagonist/innen eines ganz spezifischen, dergestalt außeralltäglichen Feldes. Jedoch basiert ihre Außenwirkung – ob in der Darstellung einer fiktiven Figur oder ihrer selbst – auf alltäglichen, fachspezifischen oder/und interdiskursiven (etwa die Felder der Kunst und Mode verbindenden) Kategorien: und zwar sowohl auf Leistungskategorien als auch sozial differenzierenden ›Identitätskategorien‹, die – das legt der Begriff der Kategorie nahe – das Produkt eines diskursiv hergestellten und zu routinisierten Praktiken geronnenen Wissens sind. Die Verschränkung des feldspezifischen und elementaren Wissens, der Theaterpraxis/Theaterkultur und Alltagspraxis/Alltagskultur, versucht die vorliegende Arbeit in Bezug auf die Re/produktion von Kunst und Künstler/innen zu ergründen – ein Vorhaben, das nur mittels der Verschränkung eines feld- und dispositivanalytischen Ansatzes zu verfolgen ist. Dispositive üben als »Subjektivierungsnetzwerk[e]«227, wie Reckwitz Funktion und Effekt von Dispositiven beschreibt, ihre (Macht-)Wirkung quer zu einzelnen beziehungsweise mehreren Feldern aus, sie bilden den Denk- sowie Handlungsrahmen der sich in sozialen Feldern einfindenden und begegnenden Subjekte. Auf zwei spezifische Dispositive, die ihre subjektivierende Wirkung mittelbar oder unmittelbar im Feld des (Stadt-)Theaters entfalten, soll nachfolgend näher eingegangen werden. In Analogie zu Pierre Bourdieus Kontextualisierung von sozialen Feldern innerhalb anderer, sie umgebender ›Räume‹ verstehe ich die beiden, in zwei getrennten Unterkapiteln zu skizzierenden Dispositive als Macht-Räume auf unterschiedlichen Ebenen. Das post-/dramatische Dispositiv stellt in dieser Kon225 | Siehe Bührmann/Schneider 2008, 75-107. 226 | Siehe Link 1988, 285f. Der Literaturwissenschaftler Jürgen Link bringt die Unterscheidung zwischen Spezial- und Interdiskursen in die Foucault-Rezeption ein und spezifiziert damit den Foucault ’schen Begriff im Kontext der Moderne und ihrer auf Arbeitsteilung basierenden funktionalen Differenzierung. 227 | Reckwitz 2011, 55.

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zeption den Raum des Möglichen für die zeitgenössische Theaterpraxis dar, das heißt den sich seit dem 18. Jahrhundert »schrittweise institutionalisierenden SpielRaum«228 »bereits vollzogener Positionierungen […], der als vorgegebene Problematik wirkt und damit tendenziell den Raum möglicher Positionierungen festlegt«229. Das Geschlechterdispositiv, das seit der Aufklärung den Körper und die Sexualität in sein »Subjektivierungsnetzwerk«230 miteinbezieht, steht darüber hinaus repräsentativ für den sozialen Raum. Dieser wird im europäischen Kontext ebenfalls in diesem Zeitraum nach einem dualistischen Prinzip neu geordnet, das die Unterscheidung respektive ›Erfindung‹231 von Kultur und Natur erfolgreich durch ein sich institutionalisierendes, komplementär vorgestelltes Geschlechterdispositiv legitimiert.

Geschlechterdispositiv(e) im sozialen Raum Die wissen(schaft)sgeschichtliche Transformation des Geschlechterdispositivs kann und soll hier nur in Ansätzen anhand der einschlägigen, aus unterschiedlichen Blickwinkeln denselben Effekt (nämlich denjenigen der subjektivierenden Verschränkung von Körper, Geschlecht und Sexualität seit dem 18. Jahrhundert) untersuchenden Studien Michel Foucaults, Thomas Laqueurs, Judith Butlers und Karin Hausens skizziert werden, um die daraufhin historisch und empirisch zu untersuchende Matrix der ›Re/produktionsmaschine Stadttheater‹ zu rahmen. In Anlehnung an Judith Butlers Feststellung und theoretischer Konzeption der »heterosexuellen Matrix«232, worunter ihr zufolge »das Raster der kulturellen Intelligibilität, durch das die Körper, Geschlechtsidentitäten und Begehren naturalisiert werden«233, zu verstehen ist, verwende ich an dieser Stelle den vorläufig noch offenen Begriff der Matrix folglich für die Frage nach der historisch und lokal spezifischen Geschlechterordnung von der Aufklärung bis in die Gegenwart. Das »Sexualitätsdispositiv«234, dessen Genealogie Foucault in seinem Werk Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen235 nachzeichnet, kann dabei als Vorläufer eines im 20. und zunehmend im 21. Jahrhundert in/stabil gewordenen Geschlechterdispositivs begriffen werden. Zum Einstieg in die nachfolgenden Aus228 | Bourdieu 1999 [1992], 273. 229 | Bourdieu 1999 [1992], 370. 230 | Reckwitz 2011, 55. 231 | Mit dem Begriff der ›Erfindung‹ möchte ich auf zwei, im Zusammenhang von Drama, Schauspiel und Geschlecht wesentliche Arbeiten verweisen: Zum einen auf Das Unbehagen der Geschlechter, innerhalb dessen Judith Butler die Performativität von Geschlecht als »durch leibliche Zeichen und andere diskursive Mittel hergestellte und aufrechterhaltene Fabrikationen/Erfindungen« (Butler 1991 [1990], 200) nicht nur theoretisiert, sondern auch historisiert; zum anderen auf die Kostümierung der Geschlechter. Schauspielkunst als Erfindung der Aufklärung, in welcher Beate Hochholdinger-Reiterer das sich institutionalisierende Theater des 18. Jahrhunderts (und seine ›historiografischen Tradierungen‹) als Schau-, Darstellungs- und Erfindungsraum der »Geschlechternaturalisierung« (Hochholdinger-Reiterer 2014, 45) erforscht. 232 | Butler 1991 [1990], 21. 233 | Butler 1991 [1990], 219 (Fußnote 6). 234 | Siehe Foucault 2005a [1977], 396. 235 | Foucault 1983 [1976].

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führungen möchte ich mit einem Ausschnitt aus einem im Jahr nach der Veröffentlichung des ersten Bandes zur Geschichte der Sexualität geführten Gespräches mit Michel Foucault beginnen, in welchem das Verhältnis von Körper (sex), Sexualität (desire) und Geschlecht (gender) auf den Punkt gebracht wird. Foucault beschreibt darin einen gedanklichen Umkehrpunkt in der Entstehung seiner historischen Studie, und zwar den Moment, in dem ›Geschlecht‹ nicht länger als etwas »vorweg Gegebenes«236 zu fassen gewesen sei. Daraufhin habe er seine Argumentation umgedreht, wobei er den neu entstandenen Ausgangspunkt folgendermaßen erläutert: M. Foucault: […] Das worauf der Sexualitätsdiskurs als Erstes angewandt würde, wäre nicht das Geschlecht, sondern das wäre der Körper, die Sexualorgane, die Lüste, die ehelichen Beziehungen, die Verhältnisse zwischen den Individuen … J.-A. Miller: Eine heterogene Ganzheit … M. Foucault: Ja, eine heterogene Ganzheit, die letztlich nur durch das Sexualitätsdispositiv aufgedeckt wurde, das zu einem gegebenen Zeitpunkt als Schlussstein seines eigenen Diskurses und vielleicht seines eigenen Funktionierens die Idee des Geschlechts hervorgebracht hat. G. Miller: Diese Idee des Geschlechts ist nicht zeitgleich mit der Einrichtung des Sexualitätsdispositivs? M. Foucault: Nein, nein! Das Geschlecht, das sieht man, wie mir scheint, im Verlauf des 19. Jahrhunderts auftauchen. G. Miller: Man hat ein Geschlecht seit dem 19. Jahrhundert? M. Foucault: Man hat eine Sexualität seit dem 17. Jahrhundert und ein Geschlecht seit dem 19. Jahrhundert. Davor hatte man zweifellos einen fleischlichen Leib. […]237

Was hier, wenn auch stark verkürzt, diskutiert und verhandelt wird, ist die Erfindung von Sexualität, Geschlecht und einem dergestalt geschlechtlich definierten (und nicht mehr nur codierten) Körper als humanwissenschaftliche, medizinische, gleichsam ontologische Kategorien, welche in ihrer Gesamtheit als ein ineinandergreifendes soziales Ordnungsmuster die ›Individuen der Aufklärung‹ neu konstituieren/subjektivieren und – im Postulat der Gleichheit – unter anderen ›Vorzeichen‹ erneut geschlechtliche Ungleichheiten legitimieren.238 Foucault legt mit seinen Schriften zur Geschichte der Sexualität (L’histoire de la sexualité), wie seine Trilogie im französischen Original heißt, den Grundstein für eine diskurs- und letztlich genderkritische (Sozial-)Geschichtsschreibung. Er selbst befasst sich in seinen Schriften jedoch nur randständig mit der Erfindung des ›Geschlechtskörpers‹ und der Institutionalisierung einer körperbasierten 236 | Foucault 2005a [1977], 409. 237 | Foucault 2005a [1977],409f. 238 | Vgl. auch Hausen 1976, 363-393.

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Zweigeschlechtlichkeit. Sein Interesse gilt der sprachlichen und mündlichen Hervorbringung von Sexualität und Wahrheit im Zusammenhang mit Subjektivation. Nach dem Vorbild und in Erweiterung der christlichen Beichtpraxis, die seit Mitte des 16. Jahrhunderts (laut Foucault seit dem Konzil von Trient) die Sexualität nicht mehr »von ferne kontrolliert«, sondern »zu Zwecken der Läuterung und der Ausbildung des kirchlichen Personals« dient,239 habe man sich die Geständnistechniken der Wahrheitsfindung in der gesamtgesellschaftlichen Umbruchsituation des 18. Jahrhunderts in unterschiedlichen »Disziplinen«240 angeeignet. Diese beziehen sich dementsprechend »nicht auf den Druck oder das Gebot zum Geständnis, sondern auf die Verfeinerung in den Geständnistechniken […]. In dieser Zeit, in der die Gewissenslenkung und die Beichte das Wesentliche von ihrer Rolle verloren haben, sieht man grobe medizinische Techniken hervortreten, von der Art: Na los, vorwärts, erzähl’ uns deine Geschichte, schreib’ sie uns auf …« 241

In der Entdeckung und Erkenntnis der Sexualität habe die »Medizinisierung«242 und Pathologisierung derselben durch die Entstehung der Humanwissenschaften aber nur einen geringen Anteil; an der großflächigen Verbreitung und Institutionalisierung eines Sexualitätsdispositivs wirke insbesondere eine – anstelle der die früheren Jahrhunderte prägenden Macht des Souveräns über den Tod – »Macht über das Leben«243 (Biomacht) mit, die sämtliche Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens umfasse: etwa die Bevölkerung als statistisch zu untersuchende und zu regulierende Größe oder die Sozial- und Liebesbeziehungen ihrer nun primär nach Geschlechtszugehörigkeit kategorisierten Mitglieder, die in Schulen, Spitälern oder Psychiatrien, in medizinischen Spezialdiskursen, in Populärdiskursen der Ratgeberliteratur oder Elementardiskursen zu Hygiene und Heim differenziert und diszipliniert werden.244 »[A]ls Schnittpunkt zwischen Körper und Bevölkerung«245 übernimmt das Sexualitätsdispositiv des 18. Jahrhunderts, wie Foucault es beschreibt, damit die strategische Funktion der Regulation und Re/produktion des Sozialen – nicht zuletzt auch in seiner heterosexuellen Struktur. Während er im Kontext seiner Schrift aber nur implizit die Geschlechterdifferenz als diskursive und praktische Wissensordnung historisiert und primär das Verhältnis von Körper und Sexualität fokussiert, lenkt die Studie des US-amerikanischen Historikers Thomas Laqueur Auf den Leib geschrieben: Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud246 – in Anlehnung und Erweiterung an Foucault – den Fokus explizit auf die Relation zwischen Körper und Geschlecht. 239 | Vgl. Foucault 2005a [1977], 398. 240 | Foucault (2005b) [1994], 233. 241 | Foucault 2005a [1977], 415. Des Weiteren konkretisiert Foucault seinen weiten Begriff von Geständnis, darin inbegriffen »sämtliche Verfahren, mit denen man das Subjekt anstachelt, über seine Sexualität einen Wahrheitsdiskurs zu halten, der auf das Subjekt selbst Wirkungen zu erzielen vermag«. 242 | Foucault 2005a [1977], 422. 243 | Foucault 2005a [1977], 427. 244 | Siehe Foucault 2005a [1977], 427. 245 | Ruoff 2007, 45. 246 | Laqueur 1992 [1990].

Einleitung: Denken in Relationen

Seine Erkenntnisse bezüglich der Transformation von einem flexiblen »Ein-« zu einem konstanten »Zwei-Geschlecht-Modell«247 erregen Anfang der 1990er-Jahre die (Fach-)Öffentlichkeit: Unser heutiges Denken, Sehen und Wahrnehmen von zwei anatomisch verschiedenen, ungleichen Geschlechtern sei eine noch junge Erfindung, eine kulturelle und wissensgeschichtliche Konstruktion, der von der Antike bis hinein ins 18. Jahrhundert die Vorstellung eines einzigen, nämlich männlichen (und weiblich minderen) Leibes vorausgehe. Ein epistemologischer und in dessen Folge wissenschaftsgeschichtlicher Wandel habe erst im 18. und verstärkt im 19. Jahrhundert die Geschlechterdifferenz als eine wissenschaftliche, insbesondere medizinische und sozial neu interpretierte Kategorie institutionalisiert.248 Damit laufen Laqueurs Thesen zwei wesentlichen, den Elementardiskurs bis heute bestimmenden (Alltags-)Annahmen zuwider: zum einen der Kongruenzannahme, welche nicht nur eine Übereinstimmung von anatomischem und sozialem Geschlecht, sondern vor allem eine körperbasierte als geschlechtliche Identität voraussetzt; zum anderen der Konstanzannahme, das heißt der Vorstellung einer bei Geburt feststellbaren und lebenslänglich geltenden Geschlechtszugehörigkeit. Entgegen der Auffassung eines respektive zweier ›natürlicher‹ Geschlechtskörper deckt Laqueur die Kontingenz des kulturellen (Geschlechts-)Körpers und des ihn definierenden Körperwissens auf und entlarvt sie als Produkte eines sich im 18. Jahrhundert etwa in schriftlichen und visuellen Diskursen der Anatomie institutionalisierenden, – man könnte mit Foucault sagen – sexualisierten Geschlechterdispositivs. Er konkretisiert sein übergeordnetes Anliegen wie folgt: »anhand historischer Zeugnisse [zu] zeigen, daß so ziemlich alles, was man über das Geschlecht des Leibes (sex) aussagen möchte – man mag unter Geschlecht verstehen, was man will –, immer schon etwas aussagt über das Geschlecht im sozio-kulturellen Raum (gender). Sowohl in der Welt, die das leibliche Geschlecht als ein einziges versteht, als auch in der, die von zwei Geschlechtern ausgeht, ist Geschlecht eine Sache der Umstände; erklärbar wird es erst im Kontext der Auseinandersetzungen über Geschlechtsrollen (gender) und Macht.« 249

Diese Thesen, die Laqueur einleitend formuliert, wird er im Rahmen seiner diskursanalytischen Studie anhand medizinhistorischer Schriften und anatomischer Zeichnungen über den langen Zeitraum ›von der Antike bis Freud‹ nicht nur darlegen, sondern auch plastisch illustrieren können. In den Geistes- und Sozialwissenschaften scheint die Annahme eines historisch- und lokalspezifischen, kontingenten (Geschlechts-)Körpers auch aus einem anderen Kontext bekannt: So veröffentlicht im selben Erscheinungsjahr von Laqueurs Studie auch Judith Butler, die 1993 – drei Jahre nach ihrem Kollegen – an die University of California in Berkeley berufen wird, ihr gendertheoretisches Standardwerk Gender Trouble (dt.: Das Unbehagen der Geschlechter), in dem sie aus einer völlig anderen, nämlich dekonstruktivistischen und post-feministischen Perspektive zu einem ähnlichen Ergebnis kommt:

247 | Laqueur 1992 [1990], 13-38, 80-219. 248 | Siehe Laqueur 1992 [1990], 23f. 249 | Laqueur 1992 [1990], 24f. [Herv. i. O.]

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Der Joker im Schauspiel »[…] daß das Geschlecht (sex) definitionsgemäß immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen ist. […] [D]er ›Leib‹ ist selbst eine Konstruktion – wie die unzähligen ›Leiber‹, die das Feld der geschlechtlich bestimmten Subjekte bilden. Man kann nämlich den Körpern keine Existenz zusprechen, die der Markierung ihres Geschlechts vorherginge.« 250

Der innerhalb des feministischen Diskurses der 1980er-Jahre politisch genutzten Trennung von sex und gender hält sie entgegen: »Die[…] Produktion des Geschlechts als vordiskursive Gegebenheit muß umgekehrt als Effekt jenes kulturellen Konstruktionsapparates verstanden werden, den der Begriff ›Geschlechtsidentität‹ (gender) bezeichnet.«251 Butlers Begründungen liegen, ihrer Profession entsprechend, mehr im philosophisch-theoretischen als im empirischen Bereich. So gelingt es ihr mit Hilfe der von ihr reformulierten Performativitätstheorie John L. Austins, den modus operandi einer sich in der fortwährenden »stilisierte[n] Wiederholung«252 von Sprech- sowie Darstellungsakten re/produzierenden und damit selbst konstituierenden Geschlechtsidentität offenzulegen.253 Damit führt Butler Anfang der 1990er-Jahre einen – nicht nur für die Geschlechts-, sondern für jegliche Identitätskategorien geltenden – performativen Identitätsbegriff in den kulturtheoretischen Diskurs und die queere Politik ein, der zugleich »Möglichkeiten zur Veränderung der Geschlechtsidentität« impliziert, nämlich »in der Möglichkeit, die Wiederholung zu verfehlen bzw. in einer De-Formation oder parodistischen Wiederholung, die den phantasmatischen Identitätseffekt als eine politisch schwache Konstruktion entlarvt.« 254

Die politische Dimension in ihren radikal-konstruktivistischen Arbeiten lässt sich nur im Rekurs auf die feministische Identitätspolitik jener Jahre und ihre Bezeichnungspraktiken sowie in Bezug auf die bis heute den Elementardiskurs dominierende ›heterosexuelle Matrix‹ (»Zwangsheterosexualität«255) und die mit ihr einhergehende »normative Anweisung«256 (dieses oder jenes Geschlechtswesen zu sein) verstehen. Im Konzept der Performativität von Geschlecht lässt sich bei Butler zwar ein zeitliches und im weitesten Sinne historisches Moment erkennen, doch sucht die Philosophin dessen Kontingenz nicht in der Sexual- und/oder Sozialgeschichte selbst. Umso bemerkenswerter ist es, dass sie (dennoch) genau jene historisierenden Fragen mit Verweis auf Foucaults Sexualität und Wahrheit und auf einen früheren Aufsatz von Thomas Laqueur und Catherine Gallagher257 zu Beginn ihrer Schrift stellt:

250 | Butler 1991 [1990], 26 [Herv. i. O.]. 251 | Butler 1991 [1990], 24 [Herv. i. O.]. 252 | Butler 1991 [1990], 206 [Herv. i. O.]. 253 | Zum Begriff des Performativen innerhalb Butlers Gendertheorie siehe Butler 1991 [1990], 49 und 198-208. 254 | Vgl. Butler 1991 [1990], 207. 255 | Butler 1991 [1990], 216. 256 | Butler 1991 [1990], 217. 257 | Laqueur/Gallagher 1987.

Einleitung: Denken in Relationen »Gibt es eine Geschichte, wie diese Dualität der Geschlechter (duality of sex) errichtet wurde, eine Genealogie, die die binären Optionen möglicherweise als veränderbare Konstruktion offenbart? Werden die angeblich natürlichen Sachverhalte des Geschlechts nicht in Wirklichkeit diskursiv produziert, nämlich durch verschiedene wissenschaftliche Diskurse, die im Dienste anderer politischer und gesellschaftlicher Interessen stehen?« 258

Während diese Fragen bei Butler letztlich offenbleiben, behandelt Laqueur (zeitlich parallel zur philosophischen Abhandlung seiner Kollegin) exakt diese Frage nach einer Genealogie der Geschlechterdifferenz innerhalb seiner historischen Studie und schlussfolgert: Die Geschlechterdifferenz als natürliche und naturwissenschaftliche (Ordnungs-)Kategorie ist nicht erst im 18. und 19. Jahrhundert diskursiv produziert, sondern bereits seit Ende des 17. Jahrhunderts zunehmend zu einem kulturellen und politischen Problem geworden, und zwar zu einem Legitimationsproblem des Patriarchats unter den veränderten Bedingungen der Aufklärung.259 In den Jahrhunderten zuvor sei die keine Legitimation bedürfende patriarchale Ordnung dagegen – im Kontext einer bis dato durch Analogien und Ähnlichkeiten strukturierten Epistemologie260 – Teil einer sozialen und routinemäßigen Praxis gewesen und ›als Problem‹ erst gar nicht in Erscheinung getreten. Laqueur fasst zusammen: »Ein Mann oder eine Frau zu sein, hieß, einen sozialen Rang, einen Platz in der Gesellschaft zu haben und eine kulturelle Rolle wahrzunehmen, nicht jedoch die eine oder andere zweier organisch unvergleichlicher Ausprägungen des Sexus zu sein. Anders gesagt, vor dem 17. Jahrhundert war der Sexus noch eine soziologische und keine ontologische Kategorie.« 261

Doch worin genau liegt der Unterschied zwischen jenem soziologischen und ontologischen Geschlechterstatus, welchen Laqueur hier beschreibt? Worauf gründet er seine Thesen? Als Untersuchungsgegenstand dienen ihm, wie oben bereits angedeutet, nicht nur schriftliche, sondern insbesondere visuelle Diskurse, welche er in medizinhistorischen und anatomischen Schriften und anderen historischen Dokumenten ›von der Antike bis Freud‹ aufzuspüren sucht. Anhand dieser (Bild-) Quellen legt er anschaulich dar, dass die kosmische Weltvorstellung der ›vormodernen‹ Jahrhunderte (die noch bis ins 18. Jahrhundert hinein das Denken und damit Sehen prägt) nur einen einzigen, männlich konnotierten, jedoch für alle Geschlechter geltenden Körper (inklusive Körperdiskurs) kennt. So zeigen die Zeichnungen von Georg Bartisch aus dem Jahr 1575 (Abb. 2), Laqueurs Notizen zufolge, nicht etwa männliche Geschlechtsorgane, sondern die 258 | Butler 1991 [1990], 23f. [Herv. i. O.] 259 | Siehe Laqueur 1992 [1990], 23f. 260 | Zur Verdeutlichung der hierarchischen und kosmischen Prinzipien rekurriert Laqueur auf den griechischen Arzt und Gelehrten Galen von Pergamon, der im 2. Jahrhundert die Humoralpathologie Hippokrates’ weiterentwickelt, die bis in die Renaissance das praktische und diskursive Wissen prägt: »Nun, gerade so wie die Menschheit das Vollkommenste unter allen Tieren ist, so ist innerhalb der Menschheit der Mann vollkommener als die Frau, und der Grund für seine Vollkommenheit liegt an seinem Mehr an Hitze, denn Hitze ist der Natur wichtigstes Werkzeug« (Galen zitiert nach Laqueur 1992 [1990], 42). 261 | Laqueur 1992 [1990], 21 [Herv. i. O.].

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»penisartigen weiblichen Fortpflanzungsorgane«262 . Und er fügt hinzu: »Rechts ist die Vorderseite der Gebärmutter weggeschnitten, damit ihr Inhalt [ein schwerlich zu erkennender Embryo] sichtbar wird.«263 Abbildung 2: Zeichnung weiblicher Fortpflanzungsorgane

in Georg Bartischs Kunstbuche (1575) Aus: Laqueur 1992 [1990], 106 Ähnlich wie diese Abbildungen lassen sämtliche Zeichnungen und Darstellungen in Anatomiebüchern noch in der Renaissance glauben, dass die Vagina ein innen liegender Penis sei. Die Bildquellen liefern dabei einen einschneidenden Befund: Trotz zunehmender Sektionen am menschlichen Körper glaubt der Expertenblick nicht, was er sieht, sondern kann nur sehen, was der (Denk-)Raum des Möglichen zulässt, oder in den Worten Laqueurs: »Glauben ist sehen«264, was bis ins 18. Jahrhundert hinein mit der Vorstellung eines nach Säften und Temperamenten regulierten, potentiell wandelbaren Körpers gleichzusetzen ist. Mit der Auffassung eines allen gemeinsamen, je unterschiedlich ausgeprägten Körpers gehe dabei aber keineswegs der Glaube an ein Gleich- oder gar Gleichwertig-Sein aller Menschen einher. Im Gegenteil sei das Verhältnis zwischen den sozialen Geschlechtsrollen in Analogie zu den Statusunterschieden aller Entitäten innerhalb der kosmischen Ordnung – und ganz im Gegensatz zum Verhältnis zwischen sozialem Geschlecht und anatomischem Körper – eindeutig geklärt gewesen: »In einer Welt, in der die Öffentlichkeit in überwältigendem Maß männlich war, zeigte das Ein-Geschlecht-Modell an, was ansonsten schon in der Kultur im allgemeineren unüberseh-

262 | Laqueur 1992 [1990], 106. 263 | Laqueur 1992 [1990], 106. 264 | Laqueur 1992 [1990], 97 [Herv. i. O.].

Einleitung: Denken in Relationen bar war: Der Mann ist das Maß der Dinge und die Frau als eine ontologisch distinkte Kategorie ist nicht vorhanden.« 265

Während sich das Ein-Geschlecht-Modell damit auf einer vertikalen Linie schematisch darstellen lässt, auf welcher das (idealisierte) männliche und das (defizitäre) weibliche Geschlecht die beiden äußeren Pole formieren, zwischen denen unzählige Geschlechtsgradierungen sowie Transformationen möglich sind, bildet das Zwei-Geschlecht-Modell, wie es seit dem 18. und insbesondere 19. Jahrhundert die Sozial-, Denk- und Diskursordnung strukturiert, zwei anatomisch (und psychologisch) unvergleichbare, biologische Geschlechtskörper auf einer horizontalen Ebene ab; während der eingeschlechtliche Körper/Leib von der Antike bis zur Aufklärung »als Epiphänomen«266 der sozialen Geschlechterordnung zu werten ist, wird er im Zuge des aufklärerischen Gleichheitspostulats zum eigentlichen Problem: der soziale Körper muss zum Gegenstand und zur biologischen Grundlage einer ontologischen Ungleichheit werden. Erst in dieser historischen Phase werde der Geschlechtskörper (sex) laut Laqueur als naturwissenschaftlich gerahmte und sozial neu codierte Identitätskategorie institutionalisiert.267 Die Butler’schen Fragen und Hypothesen konkreter fassend, begreift der Historiker die Ontologisierung und Institutionalisierung der körperbasierten, zweigeschlechtlichen und damit andere Geschlechtlichkeiten ausschließenden Differenz vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden und umfassenden Paradigmenwechsel: Das Zwei-Geschlecht-Modell als ein körperbasiertes Dispositiv, wie man es in der Aufklärung zu theoretisieren, zu sehen und zu propagieren beginnt, reagiert auf die geschichtliche Situation der »sozialen, politischen, gesellschaftlichen, wissenstheoretischen und religiösen Veränderungen«268. Zu diesen zählen für ihn etwa die politische Theorie der Aufklärung, der Aufstieg des Protestantismus, die Ausbildung neuer Räume der Öffentlichkeit während des 18. Jahrhunderts oder die einsetzende Arbeitsteilung im Zuge der Industrialisierung.269 Es ist dieses Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren und Praktiken, das sich in Laqueurs Dispositivanalyse als wesentlicher Motor für die rasante Genese der (Natur-)Wissenschaften vom Menschen – speziell der Gynäkologie – erweist, die sich im 19. Jahrhundert nicht nur zu etablieren, sondern erstmals ein Vokabular für die Bestimmung zweier, bis dato nicht voneinander unterschiedener Geschlechtskörper zu entwickeln beginnen.270 An die kulturhistorischen Dispositivanalysen Michel Foucaults und Thomas Laqueurs lassen sich die sozialgeschichtlichen Untersuchungsergebnisse der Historikerin Karin Hausen anschließen. Während sich ihre Kollegen auf die Erfindung der Sexualität respektive des Sexus als biologische Geschlechtskategorie konzentrieren, legt Hausen in ihrem bereits 1976 veröffentlichten Aufsatz »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹ – eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs-

265 | Laqueur 1992 [1990], 79 [Herv. i. O.]. 266 | Laqueur 1992 [1990], 20. 267 | Laqueur 1992 [1990], 23. 268 | Laqueur 1992 [1990], 24. 269 | Siehe Laqueur 1992 [1990], 24. 270 | Siehe Laqueur 1992 [1990], 127-133, 172-219.

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und Familienleben«271 den Institutionalisierungsprozess eines (sich in Teilen bis heute re/produzierenden) ›bürgerlichen Geschlechterdispositivs‹ offen. An diesem beteiligt zeigen sich gleich mehrere, miteinander verschränkte Institutionen, die sich, wie auch Laqueur in Ansätzen darlegt, im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts herausbilden: ein »Aussagesystem über ›Geschlechtscharaktere‹«272, das im selben Zuge in eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung sowie in ein darauf basierendes, bürgerliches Familien- und Bildungsmodell rücküberführt werde.273 Anders als die zuvor erörterten, diskursanalytischen Arbeiten argumentiert Hausen aus heutiger Sicht vor allem praxeologisch (sie selbst rekurriert insbesondere auf das sozialwissenschaftliche Rollenkonzept 274), wenn sie in Bezug auf eine historische Familienforschung fragt, »wie die zu einer bestimmten Zeit gängigen, jedoch nicht direkt institutionell durchgesetzten normativen Aussagen und Überzeugungen hinsichtlich ihrer Entstehung und Wirkung sozial zu verorten sind, wie also Sozialgeschichte die Ideengeschichte einbeziehen kann und muß, ohne dabei Gefahr zu laufen, erneut in Ideengeschichte aufzugehen.« 275

Unter dieser Perspektive geht es Hausen zwar ebenfalls um die Diskursivierung der Geschlechtskategorie(n), mehr aber noch um den Vorgang der Sozialisierung eines bürgerlichen und geschlechtsdifferenzierten Habitus bis hin zu einer psychischen Verinnerlichung der – nun komplementär strukturierten – Geschlechtszugehörigkeit: »Denn bei den geschlechtsspezifischen Verhaltensmustern für Mann und Frau, Ehemann und Ehefrau, Vater und Mutter handelt es sich erstens, da sie einem allgemeinen Muster der Arbeitsteilung zugeordnet sind, um Verhaltensmuster höchster Allgemeinheit, und zweitens, da sie bereits mit der frühkindlichen Sozialisation verankert werden, um Muster höchster Intensität.« 276

Die Einführung und Verbreitung des Begriffs des Geschlechtscharakters in den Elementardiskurs durch seine Ausdifferenzierung und Aushandlung in Lexikon- oder Wörterbuchartikeln während des 19. Jahrhunderts verweist hierbei auf eine grundlegende Neubestimmung der Kategorie.277 Im Vergleich zu den nach Ständen differenzierten Gesellschaften der vorangegangenen Jahrhunderte sei im Kontext der funktional differenzierten Gesellschaft am Ende des 18. Jahrhunderts ein Wechsel des Bezugssystems erkennbar, »an die Stelle der Standesdefinitionen

271 | Hausen 1976. 272 | Hausen 1976, 365. 273 | Siehe Hausen 1976, 363. 274 | Siehe Hausen 1976, 364f. 275 | Hausen 1976, 365. 276 | Hausen 1976, 364f. 277 | Claudia Honegger zeichnet in ihrer diskursanalytischen Studie Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib nicht nur die Institutionalisierung und Hegemonialisierung der Naturwissenschaften nach, sondern insbesondere die Naturalisierung und Essentialisierung von Weiblichkeit, siehe Honegger 1991.

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[treten] Charakterdefinitionen«278. So sei, wie im Konversationslexikon Meyer aus dem Jahr 1848 nachzulesen, »das Wesen des Weibes […] Liebe, aber weniger zum eigenen, als vielmehr zum anderen Geschlechte und zu den hülfsbedürftigsten und zartesten Kleinen«, während der (Ehe-)Mann »das Verbindungsglied zwischen Familie und Familie [Staat]« darstelle, denn »er hauptsächlich begründet den Staat«.279 Die sich im Zwei-Geschlecht-Modell jener Zeit neu konstituierenden Geschlechtskörper bilden dementsprechend nicht allein die biologische, sondern die – eigentlich sinnstiftende – innerpsychische Grundlage dessen, »was es heißt, Mann oder Frau zu sein«280, wie auch Laqueur die veränderte Funktion des Körpers für die Naturalisierung zweier ungleicher Geschlechter beschreibt. Zudem findet die Bedeutungsverschiebung von Körper und Geschlecht im Innerlichkeits- und Wahrhaftigkeitsdiskurs der bürgerlichen Familie und in deren Neuorganisation ihren Ausgangs- beziehungsweise Referenzpunkt, was Hausen anhand von Auszügen aus Lexikonartikeln praxistheoretisch rekonstruiert. Sie selbst fungiert dabei als Re/produktionsmaschine der bürgerlichen (Geschlechter-)Kultur, die sich – auf dem Ideal respektive »Regulativ der Ergänzung«281 basierend – in der Aufteilung von (natürlichen) häuslichen Erziehungspraktiken und (kulturellen) öffentlichen Erwerbspraktiken verwirklicht.282 Die mit dieser Sphärentrennung verbundenen, stereotyp-weiblichen und -männlichen Charaktereigenschaften weisen in der Folge komplementäre Attribuierungen wie Empfindsamkeit/Verstandeskraft, Religiosität/Wissen, Sympathie/Antagonismus, Schwäche/(Willens-)Kraft sowie einige ausschließlich weiblich konnotierte Eigenschaften wie die Tugenden Schönheit, Anmut und Schamhaftigkeit auf.283 Bemerkenswert ist, dass Hausen der deutschen Klassik eine wesentliche Bedeutung bei der Institutionalisierung eines (bildungs-)bürgerlichen Geschlechterdispositivs beimisst,284 ohne jedoch weiter auf deren Funktion einzugehen. Sie stellt folgenden Befund fest: »Das gesuchte Legitimations- und Orientierungsmuster geschaffen zu haben, ist die Leistung der deutschen Klassik, der es gelingt, die heterogenen Denkansätze bei gleichzeitiger Vergeistigung der ursprünglich praktisch revolutionierenden Elemente zu integrieren. Dieser um die Jahrhundertwende [um 1800] erfolgreich durchgeführte Prozeß der ideologischen Vergewisserung soll hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden. Es reicht darauf hinzuweisen, daß in dieser Zeit die Geschlechts-, Ehe- und Familienverhältnisse aufmerksam

278 | Hausen 1976, 370. 279 | Vgl. Meyer 1848, 742, zitiert nach Hausen 1976, 367. An dieser Stelle des Konversationslexikon Meyer aus dem Jahr 1848 sind auch die nachfolgenden Zitate zu finden. 280 | Laqueur 1992 [1990], 23. 281 | Hausen 1976, 378. 282 | Siehe Hausen 1976, 367-375. 283 | Zur Auswertung von medizinischen, pädagogischen, psychologischen und literarischen Schriften nach weiblichen respektive männlichen »Merkmalsgruppen« vgl. Hausen 1976, 368. 284 | Die Zuordnung des Geschlechterdispositivs zum Bildungsbürgertum trifft Hausen an späterer Stelle in ihrem Aufsatz, wo sie dieses geradezu als Umschlagplatz der »Polarisierung der Geschlechter […] um die Wende zum 19. Jahrhundert« (Hausen 1976, 383) benennt.

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Der Joker im Schauspiel beobachtet werden und alle Deutungsversuche darauf hinauslaufen, in diesen den vernünftigen Plan und Zweck der Natur zu entziffern.« 285

In ihrer Habilitationsschrift Kostümierung der Geschlechter. Schauspielkunst als Erfindung der Auf klärung widmet sich die Theaterwissenschaftlerin Beate HochholdigerReiterer dieser Aufgabe einer theater- und kulturhistoriografischen Untersuchung der produktiven Verschränkung von bürgerlicher Kultur und Schauspielkunst als – mit Reckwitz gesprochen – ästhetisch-imprägnierte und ästhetisch-orientierte (Unterscheidungs-)Praktiken in ihren simultan ablaufenden Entstehungsprozessen seit Mitte des 18. Jahrhunderts.286 Dabei gelingt es ihr, die gegenseitige Durchdrungenheit von Elementar-, Inter- und Spezialdiskursen innerhalb eines dergestalt überlagernden, bürgerlichen Geschlechterdispositivs aufzuzeigen, welches das institutionelle (Stadt-)Theater auch in der Folge – das heißt im 19. Jahrhundert und bis in die heutigen Tage – regulieren wird, so meine im nachfolgenden Unterkapitel noch zu präzisierende These. Für das 18. Jahrhundert bedeutet dies – zu Profilierungs- und Legitimationszwecken – zum einen die Integration von Ideen und Begrifflichkeiten aus der (bürgerlich geprägten) Alltagskultur in Theorie und Praxis der sich neu erfindenden Schauspielkunst, zum anderen die Erprobung und Inszenierung eines bürgerlichen und damit einhergehend spezifisch geschlechtlichen Habitus im öffentlichen Rahmen der Schaubühne. Dementsprechend konstatiert Hochholdinger-Reiterer: »Die Erfindungen von Schauspielkunst streben danach, […] das Schauspielen zu intellektualisieren und den körperlichen Ausdruck zu kanalisieren, womit zwangsläufig geschlechtliche Umcodierungen von Schauspiel und Schauspielkunst einhergehen. Die Reformen im 18. Jahrhundert zielen letztendlich darauf ab, im Theater Sinnlichkeit durch Sittlichkeit zu substituieren.« 287

So findet die Idee der Ergänzung der ›Geschlechtscharaktere‹ beispielsweise Eingang in den literarisch-dramatischen Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts, welcher das Verhältnis von Schauspielkunst und Dramatik, wie Hochholdinger-Reiterer anhand schauspieltheoretischer Schriften zeigt, »– dem Zwei-Geschlechter-Modell analog – komplementär codiert und, wie beispielweise in Eduard Devrients Geschichte der deutschen Schauspielkunst (1848-74), mit dem Ideal einer bürgerlichen Liebesehe [vergleicht].« 288

Das wechselseitige Verhältnis von Bürgerkultur und Theaterkultur wird auch die weiteren Ausführungen meiner Arbeit mit dem Fokus auf das deutsche Stadttheatersystem im 19. Jahrhundert begleiten und in die empirisch zu beantwortende Frage münden, in welchen Phasen und Praktiken unter historischen sowie gegenwärtigen Produktionsbedingungen von Kunst und Künstler/innen jenes sich im 18. Jahrhundert formierende, bürgerliche Geschlechterdispositiv heute noch wirk285 | Hausen 1976, 372f. 286 | Siehe Hochholdinger-Reiterer 2014, 18-20. 287 | Hochholdinger-Reiterer 2014, 20. 288 | Hochholdinger-Reiterer 2014, 28.

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sam ist. Um diese Frage auch ›feldspezifisch‹ beantworten zu können, soll im Anschluss an dieses Unterkapitel das sich im selben Zeitraum institutionalisierende, dramatische Theater selbst unter der theoretischen Perspektive des Foucault’schen Dispositiv-Begriffs kritisch beleuchtet werden. Die vorangegangene, sowohl zeitgeschichtliche als auch zeitdiagnostische Darstellung von historisch (und lokal) kontingenten Sexualitäts-, Körper- und Geschlechterdiskursen samt ihren Tendenzen einer je spezifischen kulturellen Subjektivierung und Normierung hat einen Einblick in den sozialen (europäischen) Raum insbesondere im Übergang von Früher Neuzeit und Moderne gegeben. Doch welche Bedeutung wird der Geschlechterdifferenz und der sozialen wie individuellen Geschlechtszugehörigkeit im 21. Jahrhundert beigemessen? Das Geschlechterdispositiv, wie es sich uns heute darbietet, erweist sich – so möchte ich im Rekurs auf Alltags-, Inter- und Spezialdiskurse behaupten – als ein paradoxes Phänomen. Eine »erneute Destabilisierung des Geschlechterdualismus am Ende des 20. Jahrhunderts«289, wie sie etwa der Kultursoziologe Reckwitz diagnostiziert, steht dem Diskurs des Feuilletons um eine ›neue Bürgerlichkeit‹ diametral entgegen. Worin sich die unterschiedlich situierten Geschlechterdiskurse jedoch ähneln, ist der Rückverweis auf die performative Praxis, die jene Diskursformationen allererst stabilisieren respektive subvertieren: »Bürger sein ist Übungssache«290, erklärt etwa Nils Minkmar im Feuilleton der Frankfurter Allgemeine, in Modefragen heißt es wiederum: »androgyn ist in«291 – zumindest was kreativ orientierte Felder wie Mode, Fernsehen oder auch das Theater betrifft. Aber nicht nur die medialen Interdiskurse sind durch Ambivalenzen gekennzeichnet, auch der akademische Diskurs spricht in doppeldeutigen Termini: Von einer »UnOrdnung der Geschlechter«292 ist vor dem sozialwissenschaftlichen Hintergrund von sexueller Vielfalt die Rede, von einem »Un/doing Gender«293 (respektive »Un/ doing Differences«294) im Sinne einerseits (fest) institutionalisierter, andererseits sich (kurz- oder langfristig) relativierender kultureller Unterscheidungspraktiken aus differenzierungstheoretischer Perspektive. Zudem ist Mitte der 2010er-Jahre eine Diskussion um den akademischen Geschlechterdiskurs selbst entbrannt, konkret um Forschungen, Organisationen und repräsentative Akteur/innen der Gender Studies: In Verkehrung des von Erving Goffman kritisch eingesetzten Begriffes des ›Genderismus‹ – im Sinne einer tiefenstrukturellen Institutionalisierung von Geschlecht und Geschlechterdifferenz in das Namensrecht, segregierte Toiletten, Kleiderordnungen oder Blickmuster – formiere sich »innerhalb einschlägiger Feuilletons und Blogs sowie in den sozialen Medien und Netzwerken«295 aktuell

289 | Reckwitz 2008a, 7f. 290 | Minkmar 2014. 291 | Schwanke 2011. 292 | Siehe den ähnlich lautenden Titel des Sammelbandes von Sven Lewandowski und Cornelia Koppetsch Sexuelle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter, Lewandowski/ Koppetsch 2015. 293 | Hirschauer 1994, 676-680. 294 | Hirschauer 2014. 295 | Hark/Villa 2015, 24.

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ein sogenannter »Anti-Genderismus«296, der in einem gleichnamigen Sammelband von Sabine Hark und Paula-Irene Villa anhand von exemplarischen Analysen in unterschiedlichen religiösen, politischen und nationalen Kontexten (gender-) kritisch untersucht wird. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Trotz einer aktuellen Tendenz der Vervielfältigung und Veruneindeutigung von geschlechtlichen Codes und Genderperformanzen scheint nur in wenigen, vor allem kreativen Feldern der Selbst- und Fremdkreation297 eine »Ambiguitätstoleranz«298 und damit eine anders gelagerte ›Praxis des Sehens‹299 zu bestehen, während in den meisten alltäglichen Situationen weiterhin ein »Ausweiszwang«300 in Bezug auf das Genus einer Person vorherrschend bleibt. Vor dem Hintergrund von alternativen und frei wählbaren Geschlechtsdarstellungen bis hin zum situativen und interaktiven Unterlassen einer solchen (und ihrer wechselseitigen Zuschreibung) kann jedoch kaum mehr von einer rein dualistischen Geschlechterordnung als vielmehr von einem Kontinuum gesprochen werden, innerhalb dessen sich Geschlecht als eine graduelle (auch situativ verschiedene ›Geschlechtsgrade‹ verkörpernde) und relationale (von den Interaktionsteilnehmenden unterschiedlich ir/relevant gemachte) Kategorie erfassen lässt.301

Post-/dramatisches Dispositiv als Raum des Möglichen Während mit den vorangegangenen Ausführungen der soziale (Geschlechts-)Raum umrissen worden ist, in dem sich sowohl alltägliche als auch theatrale (Gender-) Performances verorten lassen, sollen die folgenden Erörterungen speziell den das professionelle Schauspiel begrenzenden ›Raum des Möglichen‹ – unter anderem in Bezug auf das ihm inhärente Geschlechterdispositiv – aufzeigen. Hierbei gehe ich den (zeitlich) umgekehrten Weg: Anhand von Hans-Thies Lehmanns Aufsatz »Schauspielen zwischen Drama und Postdramatik«302 versuche ich ausgehend von den aktuellen Möglichkeiten des Schauspiel(en)s tradierte und simultan existierende Darstellungs- und Wahrnehmungsweisen im Feld des (europäischen) Theaters zu rekonstruieren, die – wie oben gezeigt – zugleich historisch und lokal spezifische Denk- und Sichtweisen auf Geschlecht implizieren und damit re/produzieren. Der Begriff des Dispositivs ist innerhalb der Theaterwissenschaft und -theorie nicht neu. Insbesondere in den letzten Jahren mehren sich Forschungsprojekte und Ansätze, die den Foucault’schen Terminus auf unterschiedliche Weise frucht296 | Hark/Villa 2015, 7. Zum medial zirkulierenden Phänomen des ›Anti-Genderismus‹ siehe exemplarisch die einleitenden Aufsätze von Hark und Villa im angegebenen Sammelband, 7-13 und 15-39. 297 | Exemplarisch sei hier das soziale und professionelle Feld der Mode genannt, das wiederum in sich gespalten ist: in einen heteronomen Pol der Massenware und einen homonomen/autonomen Pol der eingeschränkten Produktion, die – bezogen auf ein ›normales‹ Farb-, Schnitt-, Stoff-, Geschlechtsspektrum etc. – aus dem (unter anderem zweigeschlechtlich und heteronormativ codierten) Rahmen fallende Mode(n) estimiert. 298 | Hirschauer 2001, 232. 299 | Vgl. Prinz 2014. 300 | Hirschauer 2001, 215. 301 | Hirschauer 2001, 219. 302 | Lehmann 2009, 13-24.

Einleitung: Denken in Relationen

bar zu machen versuchen, etwa als »Dispositiv der Wahrnehmung«303 oder in historisch spezifischer Ausprägung als »Dispositiv des bürgerlichen Theaters«304 . Jüngst wird er darüber hinaus auch heuristisch genutzt, um den ›Produktionsapparat‹ des Theaters zu beschreiben.305 Was letzteren, besonders im Forschungskontext des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen vieldiskutierten Ansatz mit dem meinigen verbindet, ist etwa die Frage nach den (strategisch) regulierenden und normierenden Effekten auf die durch das Dispositiv erzeugten intelligiblen Subjektformen. Der Theaterwissenschaftler Gerald Siegmund beschreibt das Potential des »Konzept[s] des Dispositivs« für die Theaterforschung wie folgt: »[Es] erlaubt […], gesellschaftliche Produktion von Subjekten und künstlerische Produktion von Subjekten im Theater aufeinander bezogen zu denken, wobei dem ästhetischen Dispositiv eine andere, zusätzliche Funktion zukommen muss, will es nicht identisch werden mit den gesellschaftlichen Konstellationen, die es aufgreift.« 306

Im Theater als einem »aisthetische[n] und ein[em] ästhetische[n] Dispositiv«307 erkennt Siegmund – vor dem aktuellen gesellschaftlichen Hintergrund der Dominanz von (ökonomischen) »Kategorien der Verwertbarkeit und Verrechenbarkeit«308 – die Chance der »Wiederaneignung von Wirklichkeit«309, von alternativen Blickverhältnissen oder Maßstäben. Eine ähnliche Perspektive auf Theater nimmt der emeritierte Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann ein, der mit seiner bereits einleitend erwähnten, 1999 publizierten Schrift Postdramatisches Theater »eine ästhetische Logik des neuen Theaters zu entfalten«310 versucht. Den Begriff der Logik wendet er in diesem Zuge jedoch nicht auf die außer-ästhetischen Produktionsbedingungen an, vielmehr systematisiert er mit diesem das ›Postdramatische‹ anhand einer Vielzahl an zeitgenössischen (Aufführungs-)Konzepten. Dem postdramatischen Theater ist das »dramatische Dispositiv«311 zeitlich nicht vorgelagert, es ist parallel existent und bildet in seiner spezifisch tradierten Logik die Kontrastfolie, von welcher sich das Postdramatische seit den 1960er/70er-Jahren geradezu zu befreien sucht. In dem nun näher zu betrachtenden Aufsatz »Schauspielen zwischen Drama und Postdramatik«312 bezieht Lehmann regelrecht Stellung im Feld des Theaters und der Theatertheorie. Seiner Meinung nach ist in Anbetracht des »viele[n] innovativen Theater[s]«313, das sich insbesondere in einer Konzentration auf das körperliche Vollzugsmoment des Schauspielens, auf die Körperlichkeit von Schauspieler/

303 | Siegmund 2014, 187. Siehe auch Aggermann et al. 2016, 163-192. 304 | Siegmund 2014, 189. 305 | Vgl. auch Aggermann et al. 2016, 163-192. 306 | Siegmund 2014, 189. 307 | Siegmund 2014, 187 [Herv. i. O.]. 308 | Siegmund 2014, 197. 309 | Siegmund 2014, 196. 310 | Lehmann 1999, 15 [Herv. i. O.]. 311 | Lehmann 2009, 16. 312 | Lehmann 2009, 13-24. 313 | Lehmann 2009, 17.

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innen und auf die »kommunikative Sphäre«314 (wie schon Heiner Müller sagte) »zwischen Bühne und Zuschauerraum«315 zu erkennen gebe, »die Einsicht in einen Paradigmenwechsel«316 wesentlich: »Es scheint in diesem Sinne hilfreicher, ein Paradigma des Postdramatischen Theaters anzusetzen und von hier aus die Phänomene zu erörtern. Am Paradigma des dramatischen Theaters als Norm festzuhalten und an der diesem entsprechenden Weise des Schauspielens wird sich als immer unfruchtbarer erweisen.« 317

Wer sich mit dem »Schauspielen unter den heutigen Bedingungen verbreiteter ›Postdramatik‹« befassen möchte, so Lehmann weiter, der solle sich diesem Thema aber »am besten […] über die Tradition des dramatischen Schauspielens näher[n]«.318 Obwohl sich die vorliegende Arbeit nur ausschnitthaft mit dem Schauspielen als kulturelle Praxis beschäftigt und primär die (Subjektivation der) schauspielenden Akteur/innen fokussiert, folge ich in diesem Punkt Hans-Thies Lehmann, und zwar im Hinblick auf seine Argumentation in ›fünf Akten‹319 und auf die im dramatischen Dispositiv hervorgebrachten Subjekte. Lehmanns Ausführungen beginnen mit einer recht allgemeinen Reflexion über das Wesen und die kulturhistorische Bedeutung von Schauspieler/innen, die »Jahrhunderte vor der Heraufkunft der Massenmedien«320 – aufgrund der ihnen angestammten Medialität – zwischen ›zwielichtiger Gestalt‹ und ›heiliger Figur‹ anzusiedeln seien.321 Als ein Medium spielt der Körper von Schauspieler/innen vom antiken Maskentheater bis zum elisabethanischen Theater der Renaissance eine doppeldeutige und ambivalente Rolle: »Der Schauspieler ist ein Medium kultureller Identität, Kultur verkörpert sich in ihm und er verkörpert sie, indem er sein ›Selbst‹ zur Geltung bringt.«322 In Bezug auf diese kulturelle und mediale Funktion von Schauspiel und Schauspieler/in schlägt Lehmann die Brücke zum Gegenwartstheater: Im fünften, die aktuelle Bedeutung des Schauspielens reflektierenden Abschnitt beschreibt er Schauspieler/innen im Rekurs auf ihre ›ursprüngliche‹ Funktion erneut als »Boten« und Medien »von etwas anderem Fremdem«323. Das Ziel und der Ausgang des postdramatischen Spiels sei aber – im Vergleich zu jenen früheren Jahrhunderten – neu und geradezu ungewiss. Es bezwecke, »den Raum

314 | Lehmann 2009, 17. 315 | Heiner Müller zitiert nach Lehmann 2009, 23 [Herv. d. Verf.]. 316 | Lehmann 2009, 20. 317 | Lehmann 2009, 20. 318 | Vgl. Lehmann 2009, 13. 319 | Tatsächlich weist die Dramaturgie des Aufsatzes Lehmanns einen formalen und inhaltlichen Spannungsverlauf in fünf Abschnitten respektive Akten auf; besonders der umwendende Rückverweis auf den Ausgangspunkt der Argumentation im vierten Abschnitt erinnert dabei stark an das retardierende Moment einer fünfaktigen Dramenstruktur. 320 | Lehmann 2009, 13. 321 | Siehe Lehmann 2009, 13f. 322 | Lehmann 2009, 13. 323 | Lehmann 2009, 22.

Einleitung: Denken in Relationen

für den Zuschauer zu öffnen, um diesen dazu zu bringen, den Sinn selbst zu konstruieren, zu dekonstruieren, zu erfinden«324. Innerhalb dieser (argumentativen) Grenzen entwickelt Lehmann (beinahe als Fehler des Systems) jenes dramatische Dispositiv, das einerseits als historisch und lokal spezifische Form, andererseits und – für die weiteren Ausführungen grundlegend – als bis heute reproduzierte »Norm«325 die Theatertheorie und -praxis wenn nicht (mehr) dominiert, so doch in (weiten) Teilen reguliert, wie insbesondere die empirische Untersuchung im zweiten Teil dieser Arbeit in Erfahrung bringen wird. In Form einer »heterogene[n] Gesamtheit«326, das heißt im Diskursraum von Aufklärung, Humanismus und Realismus, im Bau von stehenden Theaterhäusern, in der räumlichen Trennung von Bühne und Zuschauerraum, in der Durchsetzung eines ›veristischen Schauspielstils‹327, habe sich im 18. Jahrhundert ein dramatisches Dispositiv durchgesetzt, dessen strategische Funktion in Bezug auf die durch es hervorgebrachten Subjekte Lehmann insbesondere in der ›Vereinigung‹ von zwei Elementen verwirklicht sieht: von Drama und Mimesis, von »einem gewissen Verlangen nach dem Drama, in welchem die Sehnsucht nach Ordnung und bestimmten Denkmustern sich untrennbar vermischt mit der Sehnsucht nach einer bestimmten Art des theatralen Vergnügens«328. An diesem Punkt beginnt Lehmanns kritische Reflexion dieser in Theatertheorie und -praxis bis heute wirksamen Prinzipien, welche die dualistische Ordnung der bürgerlichen Kultur, das Denkmuster der Repräsentation und damit zugleich die Reproduktion in das »bürgerliche Illusionstheater«329 integrieren. Vor dem Hintergrund der aktuellen (inter-)kulturellen, technologischen und sozialen Entwicklungen sei den im dramatischen Dispositiv materialisierten bürgerlichen Grundüberzeugungen gegenüber Skepsis geboten. Es wäre geradezu »ein Wunder, wenn sich das Theater mit seinen recht fixen und fixierten Basiselementen nicht ebenfalls radikal wandeln, seine Räumlichkeit und Zeitstrukturen, seine ästhetischen Mittel und seinen gesellschaftlichen Ort nicht von Grund auf befragen würde«330. Mit diesen Worten rahmt Lehmann den dritten Teil seiner Ausführungen, in welchem er anhand repräsentativer ›Marken‹ (etwa Forced Entertainment, Castorf, Marthaler, Pollesch, Stemann oder Goebbels) einige der bereits genannten postdramatischen Spielmöglichkeiten als Beispiele von »[g]ute[m] darstellende[m] Spiel«331 präsentiert. Zugleich führt er damit eine kategoriale Trennung »in zwei Schulen«332 im Feld des Gegenwartstheaters ein. Hierbei trenne die »Unterscheidung zwischen Verkörperung und Kommunikation«333 das dramatische vom postdramatischen Spielprinzip, wobei letztere »den gegenwärti-

324 | Lehmann 2009, 22. 325 | Lehmann 2009, 20. 326 | Foucault 2005a [1977], 392. 327 | Vgl. Baumbach 2012, 265-274. 328 | Lehmann 2009, 16. 329 | Kreuder 2010, 55. 330 | Lehmann 2009, 19f. 331 | Lehmann 2009, 19. 332 | Lehmann 2009, 19. 333 | Lehmann 2009, 17.

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gen Moment«334 und »die angestrebte Weise des kommunikativen Austausches«335 im theatralen Erfahrungsraum zurückerobern würde. Doch worin liegt das eigentliche Problem beziehungsweise das Problematische am Darstellungsmodus der Verkörperung und Repräsentation sowie an der ›KoAutorschaft‹ des Publikums im Rezeptionsmodus der Identifikation? Oder in den Worten Lehmanns: »Was ist das Wesen des Vergnügens an der Einfühlung?«336 In der Beantwortung dieser Frage spitzt sich Lehmanns Argumentation im dramaturgisch spannungsvollsten vierten Aufzug zu. Es besteht, so seine Hypothese, in der »Wiedererkennung« im Sinne eines »Gefühl[s] des totalen Verstehens oder des Verstehens der Totalität« – einerseits erzeuge dies einen »Freudenrausch« bei dem Sich-Wiedererkennenden, andererseits bedeute dieser rezeptive Vorgang ›Aneignung‹ und ›Einverleibung‹ von etwas anderem und anderen, weshalb Heiner Müller in Bezug auf die Wahrnehmungspraxis der Einfühlung gar von »Kannibalismus« gesprochen habe.337 Und dennoch dringt Lehmann mit dieser Einschätzung meines Erachtens (noch) nicht zum Eigentlichen vor. Vorläufig kann er nur resümieren, dass diese (sich) erkennende und verstehende Beobachterhaltung »keine unschuldige, neutrale Technik« mehr sei, »um der Wirklichkeit gegenüber eine kritische Haltung einzunehmen«.338 Warum diese (historisch kontingente) Art der Darstellung und Wahrnehmung kein neutraler Vorgang ist, lässt sich erst durch das Folgende erschließen. Denn Identifikation bedeutet zugleich Projektion. Das Sich-Einfühlen funktioniere – mit Jacques Lacan psychoanalytisch gewendet – allein »durch einen Projektionsmechanismus«, eine letztlich narzisstische Geste, »in de[r] ich die Haltungen meines eigenen Ego auf andere projiziere«.339 Bereits an einer vorhergehenden Stelle seines Aufsatzes hat Lehmann diese Spiegelung der dramatischen Erfahrung als »Identifikation mit der Identifikation«340, als »das Vergnügen am Zuhausesein, am Beisichsein«341 beschrieben – ein introvertiertes Gefühl, das sich wohl erst im Wissen (oder Glauben) um den Besitz des Eigenen einstellt. Wenn sich also im dramatischen Dispositiv – das heißt sowohl in den dramatischen Räumen des 18. und 19. Jahrhunderts (innerhalb des bürgerlichen Trauerspiels, der realistischen bis hin zur naturalistischen Dramatik) als auch in den theatralen Räumen der sich institutionalisierenden bürgerlichen Theater – die ›eigenen‹ (dramatischen) Situationen, ›ähnliche‹ Figuren und Figurenbeziehungen sowie im Zuschauerraum ›seinesgleichen‹ begegnen und wiedererkennen, erzeugt die soziale und ästhetische Situation gleichermaßen Gewissheiten und Erwartungen an die Normalität dieser Vorgänge und Konstellationen. ›Totales Verstehen‹ basiert folglich auf einer idealisierten und normativen Kommunikationssituation, auf einer Aneignung, Übertragung und Vermittlung des Eigenen, umgekehrt aber auch auf einem Nicht-Verstehen von ›Anderem‹, Unbekanntem und Fremdem.

334 | Lehmann 2009, 17. 335 | Lehmann 2009, 20. 336 | Lehmann 2009, 21. 337 | Vgl. Lehmann 2009, 21. 338 | Vgl. Lehmann 2009, 21. 339 | Vgl. Lehmann 2009, 21. 340 | Lehmann 2009, 16. 341 | Lehmann 2009, 16.

Einleitung: Denken in Relationen

Die normative und normierende Tragweite dieses »Kurzschlusses«342 wird erst sichtbar, wenn das Beobachtersubjekt als Komplize der sozialen und ästhetischen Situation in seinem Tun und seiner »Sehnsucht«343 nach Ordnung angesprochen und selbst als soziales Subjekt wahrgenommen wird. Der rezeptive Vorgang der Projektion (von Ego auf Alter, also auf den darstellenden Körper) bedeutet folglich – in unterschiedlichen Intensitäts- und Relevanzgraden – eine Identifikation mit Figuren- respektive Schauspieler/innen-Körpern vornehmlich derselben ›Sorte‹: etwa der als gleich beziehungsweise identisch vorgestellten Geschlechts- und (Bildungs-)Klassen oder ethnischen Zugehörigkeiten. Es sollte hierbei nicht verwundern, dass sich die Identifikation/Projektion gerade auf jene Figuren und sozialen (Ordnungs-)Kategorien bezieht, die im 18. und insbesondere im 19. Jahrhundert das bürgerliche Subjekt konstituieren. So lässt sich schließlich das von Lehmann auf die theatral gerahmte Wirklichkeit bezogene dramatische Dispositiv als ›künstlich‹ hergestelltes Spiegelbild eines die soziale Wirklichkeit konstituierenden ›Normalitätsdispositivs‹ verstehen. Welchen Ausweg erkennt Hans-Thies Lehmann aus diesem Dilemma, aus der von ihm diagnostizierten fortbestehenden Sehnsucht nach Drama und Mimesis,344 die reformuliert als Sehnsucht nach normativen Ordnungsmustern und sozialer Zugehörigkeit, nach einer kategorialen Wiedererkennung in der Selbst- respektive Fremddarstellung konkretisiert werden kann? Schließlich bleibt hinsichtlich der gegenwärtigen Theatertheorie und -praxis »das Problem […] bestehen, was Schauspielen sein kann – nach einem System der naturalisierenden Identifikation, das sich wesentlich als ein Modus des Vergessens und der Irrtümer erweist. Und wie man es denkend erfassen kann, ohne seine Komplexität zu reduzieren. Keine Erfahrung ohne Befremdung. Künstlerische Erfahrung ist an einen Vorgang der Unterbrechung gebunden, eine Störung in der Annäherung an einen Gegenstand, sogar einen Schock.« 345

Der fünfte Akt seines Aufsatzes schlägt folgende ›Schock‹-Möglichkeit vor: eine »Praxis des Widerstands«, um Theater als kulturellen Denkraum und um den Schauspieler/die Schauspielerin, wie bereits erwähnt, »als Bote, Medium, Kommunikator von etwas anderem Fremdem« zurückzugewinnen.346 Neben der dramatischen Tradition eines identitären, textbasierten Theaters sei Widerstand ausschließlich mittels der »Eigengesetzlichkeit der körperlich-gestischen Dimension« 342 | Lehmann 2009, 21. 343 | Lehmann 2009, 16. 344 | Während Lehmann prinzipiell von der Simultanität von dramatischen und postdramatischen Spielweisen im Gegenwartstheater ausgeht und auch »Mischformen« (Lehmann 2009, 19) am Werke sieht, kündigt der Hildesheimer Theaterwissenschaftler Hajo Kurzenberger bereits den Tod des illusionistischen Theaters an: »Weitgehend verabschiedet ist ein illusionistisches Theater. Tätigkeiten und Verfahren des Darstellens werden nicht mehr homogenisiert und zum Verschwinden gebracht hinter Masken der Wahrscheinlichkeit, durch behauptete und simulierte Identität zwischen Darsteller und Figur.« (Kurzenberger 2011, 82.) 345 | Lehmann 2009, 22. 346 | Vgl. Lehmann 2009, 22f.

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zu leisten, anstelle einer bewusst vollzogenen Handlung oder Strategie gehe es dabei um »eine ›instinktive‹ Bewegung gegen alle begriffliche Struktur als solche«.347 Der »Sinn-Dimension des Textes« müssen nach Lehmann folglich die Sinnlichkeit des Körpers und seine künstlerischen, ästhetischen Fähigkeiten entgegengestellt werden.348 Lehmann führt selbst erneut eine dualistische beziehungsweise antagonistische Argumentation ins Feld, die exklusiv nach dem Muster ›Sprache oder Körper‹, ›Sinn oder Sinnlichkeit‹, ›dramatisches oder postdramatisches Theater‹ funktioniert. Dass jeweils beide Aspekte, häufig ohne eine erkennbare Dominanz von nur einem Pol, eine Vielzahl aktueller kritischer und/oder reflektierter Inszenierungen prägen, ist Grund genug, hier von scharfen Trennlinien abzusehen. Wenn Widerstand insbesondere in der Reibung von tradiertem Text und aufgeführter Sinnlichkeit/Körperlichkeit entsteht, dann – so lässt sich schlussfolgern – kann dieser auch alternativ durch Gegenbesetzungen oder uneindeutige (Geschlechts-)Darstellungen erreicht werden– und zwar insbesondere im Fall der Aufführung von dramatischen, kanonisierten Texten und Figuren, die bereits eine literarische oder theatrale Rezeptionsgeschichte und damit einhergehende Erwartungshaltungen seitens eines geschulten Publikums mit sich führen. Auf der Basis eines solchen schulischen und durch die Theatererfahrung(en) angereicherten Wissen erhält der Ausdruck ›gegen den Typ besetzt‹ erst seine je spezifische Bedeutung, welche in Besetzungs-, Proben- und Aufführungssituationen auf einen leibhaftigen (und kulturell prädeterminierten) Signifikanten trifft: auf die Körper und Personen von Schauspieler/innen. Mit den Soziolog/innen Andrea Bührmann und Werner Schneider lässt sich mit Blick auf die Subjektivation/Subjektivierung von Schauspieler/innen nun konkret fragen, »ob und von wem in welcher Perspektive und wie, mit welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen Widerstand gegen Wissens(an-)ordnungen, gegen konkrete Herrschafts- bzw. Machtformationen, gegen Disponierende und Disponiert-Sein geleistet wird.« 349

Der dritte Teil meiner Studie wird sich gezielt diesen Fragen im Kontext der ›Re/ produktionsmaschine Stadttheater‹ widmen. Im Mittelpunkt der Betrachtung wird hierbei das Theater-Duo Vontobel/Schulz stehen, das – so möchte ich meinen – erfolgreich mit und an diesen sozialen, theatralen und ästhetischen Bedingungen arbeitet. Die Zuspitzung auf die beiden Protagonist/innen verfolgt ein analytisches Ziel. So geht die Forschungsarbeit sowohl feld- als auch dispositivanalytisch vor, um dem Zusammenspiel von (tradierten) Strukturen und (nicht-)ästhetischen Praktiken, von Akteur/innen und Artefakten in Anbetracht der erfolgreichen Arbeit(en) des Theaterduos Vontobel/Schulz – im breiten Kontext des deutschen Stadttheaters und im konkreten Rahmen des Schauspielhauses Bochum – nachzuspüren.

347 | Vgl. Lehmann 2009, 23. 348 | Vgl. Lehmann 2009, 23. 349 | Bührmann/Schneider 2008, 107.

Teil 1: Zur Genese des Stadttheaters

Die historische Rekonstruktion des deutschen Stadttheatersystems, das auch heute noch, etwa 100 Jahre nach seiner weitverzweigten Institutionalisierung, in Gestalt repräsentativer Theaterbauten das architektonische und symbolische Selbstbild vieler deutscher Klein- und Großstädte prägt, bereitet die Untersuchung der gegenwärtigen Produktionsbedingungen von Kunst und Künstler/innen vor. Nicht nur aus feldtheoretischer, sondern auch aus theaterpraktischer Perspektive lässt sich die aktuell spürbare und sichtbare Dynamik dieses – hinsichtlich seiner Kultur-, Theater- und Besetzungspolitik – in Bewegung geratenen Feldes allein durch die Analyse seiner historisch gewachsenen Struktur(en) erfassen. Wie zu zeigen sein wird, bildet das Feld des deutschen Stadttheaters dabei eine ganz eigene und genuin paradoxe Logik aus, die in ihrer Grundstruktur die Reproduktion ›klassischer‹ Figuren- und Spieler/innen-Typen beziehungsweise die Produktion von ›Neuen‹ bis heute reguliert. Die Rekonstruktion respektive wissenschaftliche Reflexion der Genese eines Feldes beruht im Bourdieu’schen Theoriekosmos auf dem Nachvollzug des Prozesses seiner Autonomisierung. Für ihn ist der Begriff der Autonomisierung untrennbar mit der Institutionalisierung verbunden,1 das heißt mit der Habitualisierung, Sedimentierung und Tradierung von allgemein anerkannten und erwartbaren (Verhaltens-)Regeln und Ordnungsmustern, die beispielsweise in Form von Verhaltensnormen (wie etwa dem Schweigen im Zuschauerraum während einer Vorstellung) oder regulierenden Artefakten (wie die Guckkastenbühne eine frontale Blickrichtung forciert oder der Treppenabsatz vor repräsentativen (Theater-)Bauten eine imaginäre Schwelle markiert) eine spezifische Theaterkultur nicht nur ermöglichen, sondern sie auch von anderen kulturellen (Theater-)Formen unterscheiden.2

1 | Siehe Bourdieu 2001 [1997], 28. 2 | Vgl. Berger/Luckmann 1969 [1966], 49-98. Gleichwohl Peter L. Berger und Thomas Luckmann die für die Institutionalisierung einer (Gesellschafts-)Ordnung notwendigen Voraussetzungen der Habitualisierung von Handlungen, der Sedimentbildung und Tradition ausschließlich auf das Handeln sozialer Akteur/innen beziehen, lassen sich die Begriffe meines Erachtens sinnvoll auf die Materialisierung von sozialen Institutionen in und durch Artefakte und Aktanten übertragen.

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Der Joker im Schauspiel

In unterschiedlichen »Aggregatzuständen des Kulturellen«3, in diskursiven und nicht-diskursiven Repräsentationen, situierten Praktiken, kognitiven Schemata sowie in der Einrichtung relativ stabiler Infrastrukturen konstituiert sich im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert das soziale Feld des deutschen Stadttheaters als eine öffentliche, lokal situierte, kulturelle ›Bildungseinrichtung‹. Gleichwohl sich das noch junge Stadttheater im 19. Jahrhundert der innerbetrieblichen Organisation von bereits erfahrenen Hof- und Ensembletheatern anzugleichen versucht, grenzt es sich doch dezidiert hinsichtlich seiner kulturellen und sozialen Funktion respektive Position von einer höfischen und aristokratischen Theaterkultur ab.4 So lässt sich die »Eroberung der Autonomie«, mit Bourdieu verstanden als die »kritische Phase der Entstehung des Feldes«,5 einerseits an einer Institutionalisierung der bürgerlich und nationalstaatlich gesinnten Theaterkultur, andererseits an einer Neustrukturierung des Theater-Feldes im Deutschen Reich ab 1871 nachzeichnen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit werden die Anfänge dieses Prozesses im (Theater des) Vormärz ab den 1830er- und 1840er-Jahren konstatiert,6 nämlich ab jenem Zeitpunkt, ab welchem sich sowohl die Idee der kulturellen Vermittlung herausbildet als auch wenig später der ›Ensemble-Geist‹ respektive -gedanke als nationalstaatliche Idee und theaterbetriebliche Organisationsform entsteht. Was an dieser Stelle vorerst als Arbeitshypothese zu werten ist, wird hier den ersten Teil zur Genese des Stadttheaters und in einer historischen Strecke ebenso den zweiten Teil zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem forschungsleitend prägen, gleichwohl der Forschungsprozess sui generis eine Reflexion und gegebenenfalls Korrektur dieser vorgängigen Annahmen impliziert. Vor dem theoretischen Hintergrund des sozialkonstruktivistischen Denkens Bourdieus und des durch Foucault repräsentierten poststrukturalistischen Paradigmas ist die Entstehung und Autonomisierung sozialer Felder nicht als chronologisch nachvollziehbare Geschichte oder gar »linearische Evolution« 7 zu verstehen. Bourdieu schwebt vielmehr eine »Strukturgeschichte«8 vor, deren methodisches Programm der Literaturwissenschaftler Joseph Jurt folgendermaßen erklärt: »Es gilt, die Struktur eines Feldes zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt zu beschreiben als Produkt vorgängiger Spannungen und die Dynamik dieser Struktur als Motor für spätere Transformationen.« 9

Damit schließt die Untersuchung von historisch und lokal spezifischen Verhältnissen die kritische Reflexion bereits bestehender Strukturen als Ausgangs- und Problemlage in die Analyse eines nur momentanen, kontingenten ›Zustandes‹ grundständig mit ein. Exemplarisch und überzeugend hat Bourdieu ein solches, ausgewählte Strukturmomente fokussierendes Vorgehen im Rahmen seiner Feld3 | Hirschauer 2014, 187 [Herv. i. O.]. 4 | Zu Funktion und Organisation der Hoftheater im 18. und 19. Jahrhundert siehe Daniel 1995. 5 | Vgl. Bourdieu 1999 [1992], 83. 6 | Vgl. auch Zielske 2001. 7 | Jurt 2007, 218. 8 | Jurt 2014, 371. 9 | Jurt 2014, 371.

Teil 1: Zur Genese des Stadttheaters

analyse Die Regeln der Kunst: Genese und Struktur des literarischen Feldes dargelegt. Das nachfolgende Kapitel 1.1 fasst die analytischen Schritte und historischen Einschnitte dieser Genese eines spezifischen Feldes der Kulturproduktion zusammen und macht ihre Ergebnisse für das Feld des Theaters fruchtbar. So stellt die daran anschließende Rekonstruktion der Genese des deutschen Stadttheatersystems zum einen eine Erweiterung, zum anderen eine kritische Reflexion der Bourdieu’schen »Wissenschaft von den kulturellen Werken«10 dar (Kapitel 1.2). Am Beispiel der diskontinuierlichen Entwicklung des Stadttheaters Bochum soll in Kapitel 1.3 der breit einsetzende Prozess einer (relativen) Autonomisierung des Stadttheater-Feldes an einem konkreten Fall überprüft und konkretisiert werden. Folglich dient das (Bourdieu’sche) Feld der Kunstproduktion Frankreichs im Rahmen meiner Argumentation zuvorderst als ein produktiver Vergleichs- und Kontrastfall, anhand dessen auch Differenzen und Spezifika der historisch und lokal spezifischen, künstlerischen Felder offengelegt werden.

1.1 D as (B ourdieu ’sche) F eld der K unstproduk tion Bourdieus wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Feld der Kunstproduktion beginnt bereits zu einem frühen Zeitpunkt seines Schaffens,11 noch bevor dessen Feldtheorie eine konzeptionelle Ausarbeitung erfährt. Analog zu seinen verschiedenen Forschungsphasen beziehen sich die Analysen in diesem weiten Feld zunächst auf die Kunstrezeption als Distinktionsmittel sozialer Klassen innerhalb eines sozialen Raumes.12 Erst im Rahmen seines Spätwerks untersucht Bourdieu die Kunstproduktion im Zusammenhang seiner Feldtheorie als eine arbeitsteilige Praxis zwischen produzierenden, rezipierenden und kommentierenden Akteur/innen und als »ein Kräftefeld«13 zwischen antagonistischen, symbolischen und ökonomischen Positionen: Nach ersten, exemplarischen Werk- beziehungsweise Fallanalysen im Kontext einzelner Künstler/innen und Stile14 rekonstruiert Bourdieu

10 | Bourdieu 1998 [1994], 53-90. 11 | Bereits im Jahr 1966 veröffentlicht Bourdieu einen ersten Aufsatz zu diesem Thema: »Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld« erscheint in der von Jean-Paul Sartre herausgegebenen Zeitschrift Les Temps Modernes und wird 1970 im Rahmen der Anthologie Zur Soziologie der symbolischen Formen einem größeren, internationalen Fachpublikum vorgestellt, vgl. Bourdieu 1970 [1966], 75-124. 12 | Siehe exemplarisch das Bourdieu’sche Standardwerk Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (Bourdieu 1982 [1979]) sowie die dem erst genannten Werk vorgängige Studie Die Liebe zur Kunst: Europäische Kunstmuseen und ihre Besucher (Bourdieu/Darbel 2006 [1966]). 13 | Bourdieu 1998 [1997], 20. 14 | Vgl. exemplarisch Bourdieus Studie »Flaubert. Einführung in die Sozioanalyse« (1987 [1975], 173-189), welche in überarbeiteter Form zum analytischen Ausgangspunkt der wesentlich später veröffentlichten Feldanalyse Die Regeln der Kunst wird, siehe Bourdieu 1999 [1992], 19-79. Die Idee der »Sociocultural Performance Analysis«, welche die Theaterwissenschaftlerin Maria Shevtsova in Anlehnung an Bourdieus Feld-Habitus-Theorie seit Ende der 1990er-Jahre (weiter-)entwickelt, scheint mir in ursprünglicher Weise diesem letztlich

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– auf diesen auf bauend – die Genese und Struktur des literarischen Feldes15, wie es sich zu bestimmten historischen Zeitpunkten darstellt, an welche er (noch im selben Buch) seine theoretische Konzeption allgemeiner Regeln der Kunst anschließt. Mit dem Ziel, eine systematische »Wissenschaft von den Kulturprodukten«16 zu begründen – ein Ziel, das er zwei Jahre später in seinem praxistheoretischen Standardwerk Praktische Vernunft mit der Devise »Für eine Wissenschaft von den kulturellen Werken«17 programmatisch vertritt –, lenkt Bourdieu den analytischen Blick auf die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Kunst und Künstler/innen in historisch und lokal spezifischen wie vergleichbaren ökonomischen, kulturellen und sozialen Zusammenhängen. Dabei verweist bereits Joseph Jurt im Bourdieu-Handbuch18 auf ein zentrales Problem bezüglich dessen Argumentations- und Theoriegrundlage, wenn er nicht unkritisch feststellt, dass Bourdieu mit seiner Theorie »auf einer Meta-Ebene eine wissenschaftliche Erklärungskompetenz des Phänomens Literatur«19 beanspruche. Zwar kann Bourdieus Beitrag, wie im Rahmen der Einleitung bereits ausgeführt, für eine ›Praxeologie des Theaters‹ nicht hoch genug geschätzt werden, ebenso wenig sollte jedoch der eingeschränkte Fokus auf das Kunst-Feld und das damit einhergehende Bias aus dem Blick verloren werden, das – entgegen der Intention einer (selbst-)reflexiven Soziologie20 – der literarischen Produktion einen nicht nur repräsentativen, sondern gar überkategorialen Stellenwert unter den Künsten einräumt. Jurt führt die besondere Stellung der Literatur im Werk Bourdieus einerseits auf dessen persönliches Interesse an ebendieser, andererseits auf den symbolischen Wert, der speziell der französischen Literatur »als repräsentative[m] Ausdruck der Nation«21 im kulturellen und akademischen Kontext Frankreichs beigemessen wird, zurück.22 Die Konzentration auf die primär literarische Praxis im 19. Jahrhundert bedarf hier keiner weiteren Erklärung, sie lässt sich im lokalen Kontext und im zeitlichen Untersuchungsrahmen durchaus begründen. Es lässt sich aber festhalten, dass Bourdieu Die Regeln der Kunst aus einem spezifisch-künstlerischen, spezifisch-nationalen, vor allem aber lokalen Bereich heraus generiert: Dabei fungiert die Pariser Literaturszene modellhaft als zu untersuchendes Kräftefeld, das in seiner Zone und im Zuge der dort stattfindenden ›Kämpfe‹ zugleich andere Subfelder wie dasjenige des Theaters mitkonstituiert.

doch ›werkimmanenten‹, induktiven Analyseansatz entlehnt zu sein, vgl. Shevtsova 2001 [1997] und 2002. 15 | Bourdieu 1999 [1992]. 16 | Bourdieu 1999 [1992], 281-445, siehe die vollständige Überschrift des zweiten Teiles seiner Kunstfeldanalyse: »Grundlagen einer Wissenschaft von den Kulturprodukten.« Der methodologische Anspruch des eben genannten Werkes liegt meiner Ansicht nach weniger in einer historischen, als vielmehr theoretischen Bestimmung künstlerischer Felder. 17 | Bourdieu 1998 [1994], 53-90. 18 | Fröhlich/Rehbein 2014. 19 | Jurt 2014, 370. 20 | Vgl. exemplarisch Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 62-77. 21 | Jurt 2014, 369. 22 | Vgl. auch Jurt 2015, 7-20.

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1.1.1 Erste Entstehungsphase: Autonomisierung des Feldes Durch welche sozialen, ökonomischen und ästhetischen (Produktions-)Bedingungen und strukturellen Veränderungen aber entsteht ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das relativ autonome Feld der kulturellen Produktion, dessen Credo (doxa) sich nach Bourdieu in der Formel des l’art pour l’art23 wiederspiegelt? Bourdieu zeichnet die Genese des literarischen Feldes anhand von zwei Entstehungsphasen nach, welche er vor dem Hintergrund der jeweils bereits existierenden Strukturen als einschneidende Wendepunkte identifiziert: erstens die Eroberung der Autonomie (die kritische Phase der Entstehung des Feldes) und zweitens die Entstehung einer dualistischen Struktur.24 Hierbei konzentriert sich der Untersuchungszeitraum auf das Zweite Kaiserreich (1852-1870), das seit der Februarrevolution im Jahr 1848 durch Charles Louis Napoléon Bonaparte, 1852 zum Kaiser ernannt, regiert wird. Nach der Julimonarchie des liberal gesinnten ›Bürgerkönigs‹ Louis-Philippe I. (1830 bis 1852) wächst unter Napoleon III. im Zuge der Industrialisierung das Wirtschaftskapital an, von dem nicht nur die ökonomisch und politisch Mächtigen, sondern auch die Pariser Industriellen profitieren. In ihren Kreisen mache sich die »Herrschaft des Geldes […] überall geltend«25, ostentativ sichtbar in den repräsentativen Ausstattungen der Herrschaftshäuser, der Equipagen oder in luxuriösen Garderoben. Diesen sich speziell für Künstler/innen augenfällig vollziehenden Wandel beschreibt Bourdieu als »eine strukturelle Unterordnung«26, die eine soziale Spaltung nicht nur des ökonomischen, sondern auch des kulturellen Sektors nach sich zieht: »Die Erfahrung, die die Schriftsteller und Künstler von den neuen Herrschaftsformen gewinnen konnten, denen sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterworfen sahen, und das Grauen, das ihnen zuweilen die Gestalt des ›Bürgers‹, des ›Bourgois‹ [sic!], einflößen mochte, wird nur verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, was das durch die industrielle Expansion des Zweiten Kaiserreichs geförderte Auftauchen von Industriellen und Kaufleuten mit riesigen Vermögen […] bedeutete, jenen bildungs- und kulturlosen Aufsteigern, die bereit waren, in der gesamten Gesellschaft den Mächten des Geldes und ihre allen geistigen Dingen zutiefst feindlich eingestellte Weltsicht zum Sieg zu verhelfen.« 27 23 | Nach Wolfgang Ullrich taucht die Wendung des l ’art pour l ’art erstmals im Rahmen eines Tagebucheintrages des französischen Schriftstellers Benjamin Constant (1767-1830) nach einem Treffen mit Friedrich Schiller auf. Darin heißt es: »L’Art pour l ’Art est sans but; tout but dénature l ’Art« – »Die Kunst um der Kunst willen ist ohne Zweck; jeder Zweck verfälscht die Kunst«, siehe Constant zitiert nach Ullrich 2005, 124. 24 | Die Bezeichnung dieser beiden historischen Phasen, die Bourdieu »anhand einer Serie von synchronen Schnitten wiederzugeben versucht« (Bourdieu 1999 [1992], 227), entspricht der jeweiligen Titulierung der Unterkapitel, siehe Bourdieu 1999 [1992], 83 und 187. Das dritte Unterkapitel – »Der Markt der symbolischen Güter« – beschreibt die aktuellen Verhältnisse Anfang der 1990er-Jahre, in denen Bourdieu seine Feldanalyse veröffentlicht. 25 | Bourdieu 1999 [1992], 85. 26 | Bourdieu 1999 [1992], 84-93. 27 | Bourdieu 1999 [1992], 84. Diese Entwicklung historisierend, merkt Bourdieu selbst an, dass sich gegenüber der Sozialfigur des ›Bourgeois‹ bereits in der Romantik eine Ablehnungs- und Abgrenzungshaltung findet, jedoch nehme unter Napoleon III. die »Empörung

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Trotz dieser als bildungs- und kulturlos empfundenen Disposition, welche die soziale Schicht des Wirtschaftsbürgertums in den Augen der ›strukturell Untergeordneten‹ kennzeichnet, wird diese die Kunst- und Kulturproduktion durch die Förderung zweier Institutionen nach außen hin dominieren. So dienen zum einen die literarischen Salons in den privaten Räumlichkeiten des Pariser Großbürgertums als »regelrechte Mittlerinstanzen zwischen den Feldern«28, da sich hier nicht nur eine öffentliche Anerkennung (oder Aberkennung) von ›erhabener‹ Kunst und angesehenen Künstler/innen, sondern auch die Aushandlung des symbolischen Werts einer (elitären) Kunst praktisch vollzieht.29 Zum anderen wird das sich parallel zum literarischen Feld professionalisierende Presse- und Zeitungswesen für sozial-integrative Zwecke der Zerstreuung und Information neuer Bürger/innen instrumentalisiert, indem seitens sogenannter »Schriftsteller-Journalisten«30 Fortsetzungsromane nach dem »Geschmack der an die Macht gekommenen Aufsteiger«31 als Massenware produziert und boulevardeske »Berichte über das Pariser Leben«32 publiziert werden. Neben den sozialen Wirtschaftsaufsteigern verändert sich die Sozialstruktur der Pariser Gesellschaft ab Mitte des 19. Jahrhunderts noch durch eine weitere Gruppierung: Denn der Prozess der Urbanisierung führt eine Vielzahl junger Menschen insbesondere der mittleren und unteren Klassen in das politische, ökonomische und kulturelle Zentrum Frankreichs, die – ausgestattet mit »kulturelle[m] Kapital in Form von höheren Bildungsabschlüssen«33 – ihr Glück auf dem urbanen, gewachsenen Markt der vorrangig literarischen Kunstproduktion suchen. Aus dem Zusammenspiel beziehungsweise Gegenspiel dieser zwei sich neu konstituierenden sozialen Gruppen (den ›Aufsteigern‹ und den ›Studierenden‹) und den simultan entstehenden (Arbeits-)Feldern einer einerseits ökonomischen, andererseits kulturellen Produktion, wird sich jene dualistische Struktur entwickeln, die nach dem Prinzip der Homonomie (des ökonomisch Mächtigen) und der Heteronomie (des kulturell/symbolisch Wertvollen) gemäß Bourdieu das künstlerische Feld gegen Ende des 19. Jahrhunderts kennzeichnen und die Kunstproduktion in der Folge regulieren wird. Zwischen elitärem Kunstanspruch einer ökonomischen und politischen Oberschicht und populärem Massendiskurs spannt sich also das Spektrum an künstlerischen Positionen auf, die sich um einen gemeinsamen Bezugspunkt zentrieren, und zwar »in der und über die Ablehnung bzw. Umkehrung des Gesetzes des materiellen Profits«34: »Die Beziehungen der Schriftsteller und Künstler zum Markt, dessen anonymer Sanktionsmechanismus tendenziell Disparitäten noch nie dagewesenen Ausmaßes zwischen ihnen und Auflehnung einen nie dagewesenen Charakter [an], der im Zusammenhang mit den Triumphen der Bourgeoisie und der außergewöhnlichen Entwicklung der künstlerisch-literarischen Bohème gesehen werden muß« (Bourdieu 1999 [1992], 84f. [Fußnote 1]). 28 | Bourdieu 1999 [1992], 88. 29 | Siehe Bourdieu 1999 [1992], 88-91. 30 | Bourdieu 1999 [1992], 92. 31 | Bourdieu 1999 [1992], 87. 32 | Bourdieu 1999 [1992], 92. 33 | Schumacher 2011, 176. 34 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 127.

Teil 1: Zur Genese des Stadttheaters hervorbringt, tragen sicherlich zur Ambivalenz ihrer Vorstellung vom ›breiten Publikum‹ bei, das Faszination und Verachtung zugleich auslöst, in dem für sie der gemeinen Sorgen der Geschäftemacherei unterworfene ›Bourgeois‹ und das der Verdummung durch Arbeit ausgelieferte ›Volk‹ miteinander verschmelzen. Diese doppelte Ambivalenz verleitet sie nun zu einem seinerseits zwiespältigen Bild ihrer Stellung im sozialen Raum und ihrer gesellschaftlichen Funktion – was auch erklärt, warum sie politisch so extrem schwankend sind und zudem die Tendenz aufweisen, wie an den häufigen Regimewechseln zwischen 1830 und 1880 zu belegen ist, Feilspänen gleich sich zu dem im jeweiligen Moment stärksten Pol des Feldes hinzubewegen.« 35

In diesem sozialen Raum der Pariser (Kunst-)Szene um 1880 tritt nun ein Kreis von sich als avantgardistisch verstehenden Literat/innen als »regelrechte Gesellschaft in der Gesellschaft in Erscheinung«36, die Parnassiens, die am Lautesten jene »für einen eingeschränkten Markt der Produzenten«37 bestimmte (Idee des) l’art pour l’art proklamieren. Unter kultur- und differenzierungstheoretischer Perspektive macht Bourdieu bezüglich des feldimmanenten Isomorphismus der ›Re/produktionsmaschine Kunst‹ auf ein wesentliches Funktionsprinzip des künstlerischen Unterfeldes aufmerksam: »Die Gesellschaft der Künstler ist […] nicht nur das Labor, in dem jene ganz besondere Lebensweise entwickelt wird, der künstlerische Lebensstil, eine fundamentale Dimension des künstlerischen Schaffensprozesses. Eine ihrer Hauptfunktionen, die dennoch immer wieder ignoriert wird, besteht vielmehr darin, daß sie selbst ihr eigener Markt ist.« 38

Damit entsteht ein eigener, sich von der ›industriellen‹ Kunst abgrenzender Markt »der symbolischen Güter«39, der im selben Zuge ein relativ autonomes Unterfeld der »reinen Produktion«40 konstituiert, – folgt man Bourdieu – als Reaktion auf die ›Zwitterposition‹ der Künstler/innen zwischen Bürgertum und Proletariat: »Die Logik der doppelten Ablehnung liegt der Erfindung der reinen Ästhetik zugrunde […].«41 Das mit ihr einhergehende Interesse an neuen Darstellungsformen (im Fall Flauberts etwa am psychologischen Roman, bei Manet an der modernen Malerei) verlangt zugleich eine neue Art der Kunst-Wahrnehmung, wobei das Kunstwerk selbst eine Beziehung zwischen Kunstproduzent/innen und -rezipient/innen herstellen soll. Demgemäß bringt Bourdieu am Ende seiner Feldanalyse auf den Punkt, worin die soziale und ästhetische – und mehr noch die sozial und ästhetisch differenzierende – Bedeutung einer solchen, die weitere Produktion prägenden ›reinen‹ Kunst besteht: »[D]ie ›reine‹ Wahrnehmung von Werken […] [steht] als soziale Institution am Endpunkt der gesamten Geschichte des kulturellen Produktionsfeldes, einer Geschichte der Produktion 35 | Bourdieu 1999 [1992], 98f. 36 | Bourdieu 1999 [1992], 95f. 37 | Bourdieu 1999 [1992], 198. 38 | Bourdieu 1999 [1992], 99. 39 | Bourdieu 1999 [1992], 227. 40 | Bourdieu 1999 [1992], 198. 41 | Bourdieu 1999 [1992], 174.

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Der Joker im Schauspiel des reinen Schriftstellers und des reinen Konsumenten, den dieses Feld produziert, indem es für ihn produziert.« 42

Wenn die soziale Institution und langfristige Investition zwischen Kunstproduzent/ innen und -rezipient/innen respektive -konsument/innen den Fluchtpunkt des Feldes der kulturellen Werke markiert, dann ist meines Erachtens damit exemplarisch der Begriff der Autonomie erklärt. Diese – verstanden als selbstreferentielle Zirkulation eines kollektiven, mit Hilfe von Vermittlungs- und Konsekrationsinstanzen tradierten Wissens – stellt die institutionelle Voraussetzung für die Entstehung und (An-)Erkennung eines Feldes dar. Folglich variiert der Grad der Autonomie eines Feldes zum einen mit der Spezifik des zirkulierenden und geteilten Wissens, zum anderen mit den Einschluss- und Ausschlussmechanismen der ›Re/produktionsmaschine Kunst‹: Je komplexer, verwobener beziehungsweise verschlossener der Gesamtapparat, desto größer seine Autonomie. Einflüsse von außen wirken sich dementsprechend weniger unmittelbar als vielmehr mittelbar auf ein existierendes Feld aus, denn diese bewirken »eine Brechung (wie ein Prisma)«43. So besitzt jedes Feld einen »›Brechungskoeffizienten‹, das heißt seinen Grad der Autonomie«44. Im konkreten Fall des literarischen Feldes, wie es Bourdieu skizziert, verfestigt sich der zuvor beschriebene Autonomisierungsprozess (vorübergehend) am Ende des 19. Jahrhunderts in einer sich abzeichnenden »dualistischen Struktur«45, welche ihm zufolge »bis in unsere Tage«46 in dieser, dergestalt bipolaren Weise wirksam bleiben wird.

1.1.2 Zweite Entstehungsphase: Ausbildung einer dualistischen Struktur Anhand einer zusammenfassenden Erklärung, mit welcher Bourdieu an anderer Stelle den das Kunst-Feld der 1880er-Jahre prägenden Antagonismus darlegt, werde ich im Folgenden in eine kritische Reflexion der Bourdieu’schen Rekonstruktion des künstlerischen Feldes übergehen: »Der Gegensatz zwischen Kunst und Geld, der das Feld der Macht strukturiert, reproduziert sich innerhalb des literarischen Felds in Gestalt des Gegensatzes zwischen der symbolisch herrschenden, aber ökonomisch beherrschten ›reinen‹ Kunst – Lyrik, exemplarische Verkörperung der ›reinen‹ Kunst, verkauft sich schlecht – und der kommerziellen Kunst in ihren beiden Formen, dem Boulevardtheater, das zu hohen Einkünften und bürgerlicher Konsekration (Académie) verhilft, und der kunstgewerblichen Kunst, Vaudeville, Fortsetzungsroman, Journalismus, Kabarett. Man hat also eine Struktur mit Überkreuzungen vor sich, die der Struktur des Felds der Macht homolog ist, in der ja bekanntlich ein Gegensatz besteht zwischen den Intellektuellen, die reich an kulturellem Kapital und (relativ) arm an ökonomischem Kapital sind, und den Unternehmen in Industrie und Handel, die reich an ökonomischem Kapital und (relativ) arm an kulturellem Kapital sind. Größtmögliche Unabhängigkeit von der Nachfrage 42 | Bourdieu 1999 [1992], 472 [Herv. i. O.]. 43 | Bourdieu 1998 [1994], 62. 44 | Bourdieu 1998 [1994], 62 [Herv. i. O.]. 45 | Bourdieu 1999 [1992], 187-226. 46 | Bourdieu 1999 [1992], 187.

Teil 1: Zur Genese des Stadttheaters des Marktes und Verherrlichung der Werte der Interessenfreiheit auf der einen Seite; direkt, durch den unmittelbaren Erfolg belohnte Abhängigkeit von der Nachfrage des Bürgertums beim Theater und des Kleinbürgertums bzw. der breiteren Volksschichten beim Vaudeville oder beim Fortsetzungsroman auf der anderen Seite. Schon hat man alle anerkannten Merkmale des Gegensatzes zwischen zwei Unterfeldern beisammen, dem Unterfeld der limitierten Produktion, das sich selbst Markt genug ist, und dem Unterfeld der Großproduktion.« 47

Wie im zitierten Abschnitt deutlich wird, bezieht sich der Begriff des Unterfeldes (nicht zu verwechseln mit dem des Subfeldes48) bei Bourdieu nicht auf die verschiedenen Formen der Kunst (etwa auf die literarische, musikalische, darstellende oder bildende Kunst), sondern auf ihre relative Zweckhaftigkeit und den Grad ihrer ökonomischen Verwertbarkeit. An dieser rationalen Trennung des künstlerischen Feldes in die zwei Sphären der reinen Kunst (mit limitierter Produktion) und der kommerziellen Kunst (mit dem Faktor der Großproduktion) wird auch die ab 1880 verstärkt einsetzende Ausdifferenzierung des Feldes in Gattungen und (Lebens-) Stile – beispielsweise den Naturalismus oder Symbolismus – nichts ändern. Im Gegenteil: Der übergeordnete, strukturelle Konflikt zwischen Kunst und Geld verlagere sich im Prozess der Spezialisierung vielmehr in die interaktionistischen Konkurrenzbeziehungen zwischen den Protagonist/innen der einzelnen Sphären. Auf diese Weise bildeten sich auf mikrosoziologischer Ebene und innerhalb der beiden Mikrokosmen – in Homologie zur makrosoziologischen, dualistischen Struktur – erneut antagonistische Positionen aus. Für das Unterfeld der reinen Produktion bedeutet dies um die Jahrhundertwende etwa eine Unterscheidung in ›Avantgarde‹ und ›arrivierte Avantgarde‹ beziehungsweise in ›orthodoxe‹ versus ›häretische‹ Positionen.49 Dass Bourdieu diese dualistische Struktur, die nach »[z]wei ökonomische[n] Logiken«50 funktioniert, sowohl zu einem allgemeinen Merkmal der Felder kul-

47 | Bourdieu 1998 [1994], 67. 48 | Der Begriff des Subfeldes findet bei Bourdieu (eher) im Hinblick auf die unterschiedlichen Kunstformen, die sich zu eigenen relativ autonomen Subfeldern entwickeln können, Anwendung, wie am Beispiel des Theaters gezeigt werden wird. Da Bourdieu sich jedoch selten konsequent an die eigenen Begriffsbestimmungen hält, schreibt er an anderer Stelle gleichwohl (statt vom Unterfeld) vom ›Subfeld der eingeschränkten Produktion‹ als Bestandteil des gesamten Feldes der kulturellen Produktion, vgl. etwa Bourdieu 1999 [1992], 203. 49 | Siehe Bourdieu 1999 [1992], 193-205. An anderer Stelle beschreibt er den Gegensatz innerhalb der Unterfelder auch als einen Generationenkonflikt: »Da diese [bislang dominierende] Position hoch mit dem Alter korreliert, nimmt der Gegensatz zwischen herrschend und beherrscht, orthodox und häretisch leicht die Form einer permanenten Revolution der Jungen gegen die Alten und des Neuen gegen das Alte an.« (Bourdieu 1998 [1994], 69.) Mit Blick auf die Entstehung des (Berufs-)Feldes der Regie greift Denis Hänzi in seinem 2015 veröffentlichten Aufsatz »Konsekration auf Kredit. Zum Wandel der Geltungsproduktion im künstlerischen Feld« genau diese Alterskorrelation auf: So beschreibt (und interpretiert) Hänzi den durch die sich zeitgleich institutionalisierende Theaterkritik öffentlich verhandelten Geltungsgewinn des Regie-Shootingstars Max Reinhardt gegenüber seinem Mentor Otto Brahm geradezu als »Vatermord«, siehe Hänzi 2015, 305-328, hier 311. 50 | Bourdieu 1999 [1992], 228-235.

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tureller Produktion51 als auch zu ihrem inneren und äußeren Referenzsystem erklärt, soll die nachfolgende Erläuterung noch einmal verdeutlichen, so heißt es den Markt der symbolischen Güter52 zusammenfassend: »Da sie hinsichtlich des Verhältnisses zur Nachfrage alle um denselben Gegensatz organisiert sind (den zwischen ›Kommerziellem‹ und ›Nicht-Kommerziellem‹), besteht zwischen den Feldern der Produktion und des Vertriebs der verschiedenen Arten kultureller Güter – Malerei, Theater, Literatur, Musik – eine sowohl strukturelle als auch funktionelle Homologie; zum Macht-Feld, aus dem sich der Kern ihrer Kundschaft rekrutiert, unterhalten sie zudem eine Beziehung der strukturellen Homologie.«53

Der Verweis auf das ›Machtfeld, aus dem sich der Kern ihrer Kundschaft rekrutiert‹, macht auf ein zweites, die Kunstproduktion kennzeichnendes Funktionsprinzip aufmerksam, welches im engeren Kontext der ›Re/produktionsmaschine Stadttheater‹ einen zentralen, institutionellen Faktor darstellen wird. So gehen mit der »antagonistischen Koexistenz zweier Produktions- und Zirkulationsweisen«54 zugleich »[z]wei Modi des Alterns«55 einher, wie Bourdieu anhand des französischen Verlags-, Galerien- und Bildungswesens aufzeigt. Im Unterschied zwischen »den Bestsellern ohne Dauer und den Klassikern, Bestsellern in Langzeitperspektive,«56 lässt sich die relative Erfolgsdauer und -garantie von marktfähigen (Kunst-) Werken und Produzent/innen einleuchtend abbilden. Die sich dahinter verbergenden Vermittlungs- und Konsekrationsinstanzen sowie deren Unterscheidungspraktiken beschreibt er im Hinblick auf die Kanonisierung von Kulturprodukten folgendermaßen: »Der symbolische und wirtschaftliche Erfolg der Produktion mit langem Zyklus hängt (zumindest in ihren Anfängen) vom Handeln einiger ›Entdecker‹ ab, […] daneben aber auch vom Bildungssystem, das als einzige Institution in der Lage ist, auf lange Sicht ein Publikum von Überzeugten zu schaffen.« 57

Beide Ko-Akteure, das heißt die ›Entdecker‹ in Gestalt von Kritiker/innen oder Direktor/innen und das Schul- und Ausbildungswesen, spielen insbesondere im sozialen Feld des Theaters eine entscheidende Bedeutung für die kurz- oder längerfristige Bewährung und Anerkennung von Kunst- und Künstler/innen auf einem Markt primär symbolischer Güter, wie sich im weiteren Verlauf der Untersuchung sowohl historisch als auch empirisch belegen lässt. Zwar nimmt die »Gattung«58 des Theaters im Rahmen der (Bourdieu’schen) Genese des künstlerischen beziehungsweise literarischen Feldes Frankreichs während der ersten Phase der Eroberung der Autonomie noch einen Nebenschauplatz 51 | Vgl. Bourdieu 1999 [1992], 340-445. 52 | Bourdieu 1999 [1992], 227-279. 53 | Bourdieu 1999 [1992], 259f. 54 | Bourdieu 1999 [1992], 228. 55 | Bourdieu 1999 [1992], 235-249. 56 | Bourdieu 1999 [1992], 237. 57 | Bourdieu 1999 [1992], 236f. 58 | Bourdieu 1999 [1992], 195.

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ein, da es primär als lukrativer Umschlagplatz für seichte Literatur und triviale Kunst (namentlich Boulevardtheater, Kabarett und Vaudeville) kontextualisiert und analysiert wird. Jedoch gewinnt es im Zuge der dualistischen Ausprägung des Feldes und Ausdifferenzierung der Gattungen59 sowie der Etablierung einer »autonome[n] Avantgarde«60 – die Bourdieu in Bezug auf das Theaterfeld mit der Eröffnung des Théâtre Libre durch André Antoine begründet sieht – historisch und analytisch eine neue, weil gattungsübergreifende Funktion, welche ebenfalls die Kämpfe innerhalb des Kunstfeldes dynamisiert. Dieses habe von nun an die Tendenz, »sich stärker dem jeweils homologen Sektor in den anderen Gattungen (der naturalistische Roman im Fall von Antoine oder die symbolistische Dichtung im Fall von Lugné-Poe) zu nähern als dem entgegengesetzten Pol desselben Subfeldes (dem Boulevardtheater). Mit anderen Worten: Der Gegensatz zwischen den Gattungen verliert seine strukturierende Kraft zugunsten des Gegensatzes zwischen den beiden Polen innerhalb eines Subfeldes: dem Pol der reinen Produktion […] auf der einen Seite; der Pol der den Erwartungen des breiten Publikums unterworfenen Massenproduktionen auf der anderen Seite.« 61

Aus einer solchen antagonistischen, primär ökonomischen Marktprinzipien folgenden Perspektive erscheint es – insbesondere mit Blick auf die sich über Ländergrenzen hinweg entwickelnde, transdisziplinäre Avantgarde-Bewegung und deren Einflüsse auf das gesamte Kunstfeld um 1900 – durchaus nachvollziehbar, die prinzipiell mit verschiedenen ›Produktionsmitteln‹ und Rezeptionsmodi arbeitenden Subfelder der Kunstproduktion in zwei Sphären, das heißt in ›reine‹ versus ›kommerzielle Kunst‹ samt einer ›unterfeld-internen‹ Differenzierung nach orthodoxen versus häretischen Positionen, zu teilen. Jedoch bedarf dieses Prinzip der doppelten Teilung aus einer kultur- und praxistheoretischen Sicht einer differenzierteren Untersuchung, die neben der Eigenlogik des in der vorliegenden Arbeit fokussierten Subfeldes der Theaterkunst auch nationalstaatliche und kulturpolitische Unterschiede in den Blick zu nehmen hat.

1.1.3 (Nationaler) sozialer Raum als Raum der Macht Ein kurzer Blick auf die Verfasstheit der beiden Nationalstaaten Frankreich und Deutschland – die jeweils »ganz eigene Wege der Modernisierung durchlaufen haben«62 – genügt, um das Problem des Vergleichs sichtbar zu machen. So bildet der Schauplatz Paris im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht nur das politische, son59 | Bourdieu 1999 [1992], 193-198. 60 | Bourdieu 1999 [1992], 195. 61 | Bourdieu 1998 [1994], 197f. An anderer Stelle macht Bourdieu »mit dem Aufkommen neuer Figuren, der Regisseure, vor allem Antoine und Lugné-Poe, durch deren bloßen Gegensatz bereits der ganze Raum des Möglichen da ist, mit dem die ganze spätere Geschichte des [Sub-]Felds Theater zu rechnen haben wird« (Bourdieu 1998 [1994], 68), genau diesen zukünftigen ›Raum des Möglichen‹ für weitere Forschungen auf. Denis Hänzi knüpft in seiner Dissertationsschrift Die Ordnung des Theaters. Eine Soziologie der Regie (2013) an diesem Punkt an und beschreibt vor diesem Hintergrund den Autonomisierungsprozess des deutschsprachigen Theaters als die Genese der Regie, vgl. Hänzi 2013, 69-154. 62 | Höpel 2007, 13.

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dern auch kulturell dominierende Zentrum eines unitarisch organisierten, französischen Nationalstaates, wohingegen sich die föderale Ordnung des Deutschen Kaiserreiches in einer Dezentralisierung des deutschen Städte- und damit einhergehend des Theatersystems niederschlägt. Allein die (kultur-)politische Zentralisierung versus Dezentralisierung zeigt Auswirkungen auf den täglichen Spielbetrieb eines insbesondere gesellschaftlich und symbolisch vollkommen unterschiedlich gewerteten und anerkannten (Sub-)Felds im Kontext der beiden Nationalstaaten.63 So spielt sich das französische Theaterleben um die Jahrhundertwende größtenteils in Paris und in vergleichsweise wenigen Theatern ab, wohingegen sich die deutsche Theaterlandschaft bereits zu diesem Zeitpunkt als ein großflächiges, über die (Reichs-)Städte und die Provinz verteiltes Netz darstellt. Unter diesen Umständen können und müssen die Pariser Theater – die sich seit dem napoleonischen Dekret von 1807 (das auch nach Ende des Erstens Kaiserreichs trotz seiner Entschärfung in der Praxis Bestand hat) nach Gattungen differenzieren – ein spezialisiertes, von staatlicher Seite festgelegtes En-Suite-Programm für ein zahlenmäßig großes Publikum anbieten,64 während die Vielzahl an Hof bühnen sowie die rapide anwachsende Zahl an Stadt- und Privattheatern im ausgehenden 19. Jahrhundert ein jeweils lokal spezifisches, zahlenmäßig begrenztes Publikum mit einem täglich wechselnden und gemischten Theaterprogramm – im Wettbewerb sowohl mit benachbarten Bühnen als auch Nachbarstädten – zu bedienen hat.65 In diesem Zusammenhang der unterschiedlichen Spielbetriebe ist auch die unterschiedliche Stellung des Ensembles und Ensembletheaters, das heißt das Bespielen eines Theaterhauses mit einem (relativ) festen Stamm an Schauspieler/innen, zu sehen, das in Frankreich – anders als in Deutschland – nicht zur Tradition geworden ist, was auch in der heutigen Situation bedeutet, dass »Frankreichs Theaterhäuser […] mit Ausnahme der Comédie Française und im Gegensatz zu den in sich autonomen deutschen Schauspielhäusern nicht über fest engagierte Schauspieler [verfügen]«66. Während sich also das deutsche (Stadt-)Theater, organisiert als Repertoire- und Ensembletheater, bis in die Gegenwart in den lokalen Kontexten von Städten und immer schon mehreren ›Hochburgen‹ abspielt, setzen im zentralisierten französischen System die Pariser National- versus Privat- und Boulevardtheater – heute eingeteilt in die drei ›Klassen‹: Nationaltheater, Centres Dramatiques Nationaux, Scènes Nationales 67 – nicht nur einen quantitativen, sondern vor allem qualitativen Maßstab, der »das Aufkommen eigenständiger Entwicklungen in den Provinzen«68 nahezu verhindert. Doch nicht nur auf Ebene der Organisation zeichnen sich eindeutige Differenzen ab. Bereits der bloße Verweis auf das differente Staatssystem lässt auch unterschiedliche Modelle der Städte- und Kulturpolitik erahnen. Thomas Höpel weist in seiner Habilitationsschrift Von der Kunst- zur Kulturpolitik. Städtische Kulturpolitik 63 | Auf die gesellschaftliche Funktion des deutschen (Stadt-)Theaters im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird in den nachfolgenden Unterkapiteln ausführlich eingegangen werden. 64 | Vgl. Brauneck 1999, 246-263. 65 | Vgl. Roselt 2015, 27f. 66 | Spreng 2016. 67 | Vgl. Costaz 1998, 23. 68 | Brauneck 1999, 246.

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in Deutschland und Frankreich 1918-1939 ebenso auf diese »deutlichen Unterschiede im französischen und deutschen Städtesystem«69 hin. Selbst wenn der seit der Reichsgründung zu einer europäischen Metropole avancierenden Hauptstadt Berlin nicht jener exzeptionelle Stellenwert unter den deutschen Städten eingeräumt werden kann wie im Fall von Frankreich der Metropole Paris als dem »Zentrum der französischen Eliten« 70, sei dennoch eine Fokussierung auf die Hauptstädte »aufgrund ihrer nationalen Ausnahmestellung für die generelle Situation der ›Provinzstädte‹ weniger aussagekräftig« 71. Aber um genaue diese, um die deutschen (Provinz-)Städte, soll es im Folgenden gehen, da diese die Idee eines deutschen Kulturstaates – die seit dem von Wilhelm von Humboldt 1808 veröffentlichten »Memorandum für die preußische Regierung zum Zwecke einer Reform des Landes- und Finanzverwaltung« 72 die kulturpolitischen Debatten bis in die Gegenwart prägt – im Verlauf des 19. Jahrhunderts in die Aufgaben der »enge[n] städtische[n] Kulturpolitik« 73 integrieren und damit das Theater als ein »Kulturpolitikfeld« 74 funktionalisieren. Der Begriff der Kulturpolitik meint im Rahmen meiner Arbeit in der Definition Höpels »im weitesten Sinne politikförmige Maßnahmen, welche die Produktion, Vermittlung, Nutzung und Rezeption von ›Kultur‹ sowie die ›Kultivierung‹ oder ›Zivilisierung‹ des Bürgers und der sozialen Beziehungen bestimmen und ermöglichen.« 75

Auf einen solchen kulturpolitischen Vorgang verweist auch Balme, wenn er in seinem 2010 publizierten Aufsatz »Stadt-Theater: Eine deutsche Heterotopie zwischen Provinz und Metropole« 76 den Prozess der Institutionalisierung respektive Kommunalisierung des deutschen Stadttheaters als »Realisierung der Kulturstadt« 77 – parallel zur Ideologisierung eines Kulturstaates – nachzeichnet und mit Blick auf den Zeitraum zwischen 1890 und 1933 die, wie ich behaupte, zweite Phase der Konstitution des deutschen Stadttheaters als relativ autonomes Feld fokussiert. Die erste Phase vollzieht sich – so meine These – im Prozess der Autonomisierung einer bürgerlich-städtischen Kultur, die seit den 1830er-Jahren die Idee des Stadttheaters als kulturelles und symbolisches Kapitel institutionalisiert und damit grundlegend wie nachhaltig das deutsche Theaterfeld neu strukturiert. Folglich hat eine Genese und Analyse der sozialen und kulturellen Produktionsbedingungen eines Feldes kultureller Produkte auch den nationalen Raum seiner Entstehung zu berücksichtigen. Diese für Die Regeln der Kunst entscheidende kulturpolitische Kontextualisierung findet sich – und das ist symptomatisch – nur eingeklammert an einer einzigen Stelle der historischen Rekonstruktion des 69 | Höpel 2007, 33. Hinsichtlich eines Vergleichs der europäischen Hauptstädte Berlin, London, Paris und Wien/Budapest siehe auch Brunn/Reulecke 1992. 70 | Charle 1992, 293-326. 71 | Höpel 2007, 26. 72 | Vgl. Balme 2010, 66. 73 | Höpel, 2007, 13 [Herv. i. O.]. 74 | Höpel 2007, 41. 75 | Höpel 2007, 14. 76 | Balme 2010, 61-76. 77 | Balme 2010, 67 [Herv. i. O.].

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Kunst-Feldes abgebildet, und zwar innerhalb einer schematischen Darstellung, die das durchlässige Verhältnis zwischen dem Feld der kulturellen Produktion, dem Macht-Feld, dem (nationalen) sozialen Raum sowie anderen sozialen Räumen (oder nationalen Gebilden) mittels gestrichelten oder stellenweise durchbrochenen Linien veranschaulichen soll. Abbildung 3: Das Kunstfeld im (nationalen) sozialen Raum

Aus: Bourdieu 1999 [1992], 203

Die Durchlässigkeit dieser Ebenen ist für die Konzeption des Feldes wesentlich: Einerseits bedeutet und bedingt sie den ›Raum des Möglichen‹ durch dessen je spezifische Stellung innerhalb des (ökonomisch orientierten) Feldes der Macht. Andererseits macht sie die wechselseitige Einflussnahme verschiedener sozialer Felder – eben auch über geografisch-räumliche Grenzen hinweg – möglich und theoretisch stichhaltig. Denn genau das bedeutet die relative Autonomie eines Feldes, welche zum einen von internen Kämpfen und Dynamiken, zum anderen von äußeren Bezugssystemen, das heißt von einem »ständigen Austausch mit der sozialen Welt« 78 abhängt, wodurch sich – auch auf theoretischer Basis – soziale Felder klar von der Luhmann’schen Konzeption sozialer Systeme im Sinne von ge-

78 | Schumacher 2011, 169.

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schlossenen und selbstreferentiellen Einheiten abgrenzen.79 Erst mit Blick auf die verschiedenen Autonomiegrade sozialer Felder zieht Bourdieu am Ende seiner ersten umfassenden Analyse im Rahmen einiger allgemeiner Reflexionen zu Begriff und Bedeutung des Feldes die nicht nur historisch-, sondern auch lokalspezifische Kontingenz von gleichen Feldern in differenten – nationalen, politischen oder kulturpolitischen – Kontexten in Betracht: »Mit den Epochen und nationalen Traditionen schwankt das Ausmaß an Autonomie eines Feldes (und damit der Zustand des hier wirksamen Kräfteverhältnisses) beträchtlich. Dieses Ausmaß ist durch das symbolische Kapital bestimmt, das durch das Handeln aufeinander folgender Generationen im Laufe der Zeit akkumuliert wurde […].« 80

Die oben skizzierten (kultur-)politischen Unterschiede zwischen beiden Nationalstaaten haben gezeigt, dass eine Spezialisierung der von Bourdieu formulierten Grundmerkmale, das heißt eine historisch und lokal spezifische Kontextualisierung der künstlerischen Felder im jeweiligen Raum der Macht, notwendig erscheint. Im Folgenden konzentriert sich die vorliegende Arbeit auf den Entstehungskontext und die Autonomisierung des deutschen (Stadt-)Theaters seit den 1830er-Jahren bis zur Weimarer Republik der 1920er-Jahre. Dabei versucht die angestrebte Rekonstruktion der Genese des deutschen Stadttheaters und seiner (Leit-)Begriffe dessen Logik als der »gesamte[n], in Institutionen und Mechanismen objektivierte[n] Geschichte«81 mit Blick auf den kultur- und sozialpolitischen Kontext und im zweiten Teil der Arbeit auf die Organisation von (Stadt-)Theater und Schauspieler/innen innerhalb des »theatralischen Zeitalters«82 des 19. Jahrhunderts auf die Spur zu kommen.

1.2 D as deutsche S tadt the ater : Z ur G enese eines sozialen F eldes Wie die vorangegangenen Ausführungen deutlich gemacht haben, attestiert Bourdieu den Feldern der Kunstproduktion prinzipiell eine dualistische, die gesellschaftlichen Verhältnisse im französischen Sozialraum abbildende Struktur zwischen zwei Polen, wie sie insbesondere ab 1880 die Re/produktion und Rezeption von Kunst und Künstler/innen prägt: zwischen den Polen einer ›reinen‹ Kunst und einer (un-)künstlerischen Massenproduktion mit dem jeweiligen Effekt eines ›Mehr‹ an symbolischem oder ökonomischem Kapital. Die Vertreter/innen einer reinen Ästhetik, des l’art pour l’art, arbeiteten sich hierbei zunächst an ihrem Gegenpol und am sozialen Typus des Parvenü – dem ›kulturlosen‹, wirtschaftlichen Aufsteiger – ab. In diesem Kontext zeichnet sich die sich seit 1890 entstehende Avantgarde nicht nur durch eine anti-bürgerliche Haltung aus, sondern kreiert darüber hinaus eine neue Position: die der Arrivierten, die innerhalb des Unter-

79 | Vgl. Schumacher 2011, 169. 80 | Bourdieu 1999 [1992], 349f. 81 | Bourdieu 1999 [1992], 367. 82 | Marx 2008, 44-50.

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feldes ›limitierter Kunstproduktion‹ eine Spaltung zwischen orthodoxen und arrivierten Künstler/innen-Positionen provoziert. Nur allzu leicht ließe sich die von Bourdieu herausgearbeitete Grundstruktur künstlerischer Felder in Form einer doppelten Teilung auf das deutsche Kunstund in exemplarischer Weise das deutsche Theaterfeld übertragen: Denn einerseits bildet die Zweiteilung von Kunst versus Kommerz respektive ›Kulturtheater oder Geschäftstheater‹83 die Situation um 1900 geradezu modellhaft ab. Wie andererseits nachzuzeichnen sein wird und wie auch Peter W. Marx 2013 konstatiert, handelt es sich bezüglich der Rede von Kunst versus Kommerz – den deutschen kulturpolitischen Kontext betreffend – de facto primär um eine rhetorische Figur des zeitgenössischen Diskurses, die »als genealogisches Muster und als ›Urszene‹ der weiteren Debatte«84 fungiert. Mit Blick auf die Theaterpraxis im Umfeld jener bildungsbürgerlichen Theaterproduzierenden und -rezipierenden, die mit der wiederholten Aktualisierung dieses dualistischen Prinzips zugleich eine symbolische Konsekration des Kunst- respektive Bildungstheaters vollziehen und stabilisieren, lässt sich vielmehr ein Spannungs- und Wechselverhältnis zwischen Diskurs und Praxis, zwischen »Idee und Empirie« 85 erkennen. Dass sich diese Ambivalenz für den Prozess der Autonomisierung eines öffentlichen und beinahe vollsubventionierten Stadttheatersystems langfristig als äußerst produktiv erweist, scheint zu einem großen Teil durch die Institutionalisierung der Trias ›Bildung – Bürger – Theater‹ vorbereitet worden zu sein, welche der Theaterkunst seit dem 19. Jahrhundert (ideell) eine genuin soziale und sozial-integrative Funktion attestiert. Folglich trifft die von Bourdieu empirisch und analytisch (nach-)vollzogene Trennung zwischen reiner und kommerzieller Kunst für das deutsche Theaterfeld weniger in einer antagonistischen als vielmehr ambivalenten Weise zu, welche besonders die bürgerlichen (Stadt-)Theater charakterisieren werden. Dabei richtet sich deren Programmatik nicht gegen die Position der ›Bourgeoisie‹; vielmehr arbeitet das bürgerliche Theater in entscheidender Weise an der Durchsetzung bürgerlicher Positionierungen, ihrer Werte und Tugenden mit. Ausgehend von diesem sowohl ambivalenten als auch produktiven Verhältnis zwischen Bürger- und Theaterkultur soll im Folgenden die Genese des deutschen Stadttheaters rekonstruiert werden. Aufgrund der in den letzten Jahren aufgearbeiteten, jedoch weiterhin teils widersprüchlichen Theaterforschung zur Bürger- und Theaterkultur des 19. Jahrhunderts werde ich zunächst deren Ergebnisse zusammenfassen und diskutieren. Eine noch jüngst konstatierte Forschungslücke zum bürgerlichen Theater des 19. Jahrhunderts scheint mit Blick auf Berlin aus einer kultur- und theaterwissenschaftlichen Perspektive zwar weitgehend geschlossen zu sein,86 jedoch wird ein 83 | Vgl. den Titel und Inhalt des 1915 veröffentlichten Pamphlets Geschäftstheater oder Kulturtheater? des Sozialdemokraten Ludwig Seeligs, in welchem er die bildungsbürgerliche Idee eines sozialintegrativen Kunsttheaters emphatisch propagiert, vgl. Seelig 1915. 84 | Marx 2013, 57. 85 | Balme 2010, 74. 86 | In einem 2007 veröffentlichten Aufsatz »Zur Proliferation des bürgerlichen Theaters im 19. Jahrhundert« konstatiert Peter W. Marx ein dementsprechendes Forschungsdefizit: So sei das 19. Jahrhundert »für die deutschsprachige Theatergeschichte immer noch – trotz einiger vielversprechender Ansätze in den letzten Jahren – eine terra incognita« (Marx 2007, 133). Diese Forschungslücke ist im Anschluss insbesondere mit dem Fokus auf Berlin – nicht

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Bereich im Rahmen dieser Forschung – bis auf wenige Ausnahmen 87 – bis in die 2010er-Jahre hinein hartnäckig ignoriert: die Stadttheater-Forschung. Erst in den letzten zwei bis drei Jahren ist diesbezüglich innerhalb der deutschen Theaterwissenschaft regelrecht eine Wende zu verzeichnen, innerhalb derer nun auch das Stadttheater – vor allem unter der Perspektive einer durch Christopher Balme repräsentierten institutional aesthetics – zu einem forschungsrelevanten sowie fachpolitisch brisanten Thema einer sich, wie es aktuell scheint, neu justierenden und legitimierenden Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum gemacht wird. Auch das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte, theaterwissenschaftliche Teilprojekt »Theater zwischen Reproduktion und Transgression körperbasierter Humandifferenzierungen«88, in dessen Rahmen die hier vorliegende Arbeit entstanden ist, widmet sich bereits seit 2013 ausgehend von der Frage nach sozialen wie ästhetischen Kategorisierungen und Differenzierungen von Schauspieler/innen im Kontext der ›Re/produktionsmaschine Stadttheater‹ diesem Thema und Themenkomplex. Trotz dieser ersten Vorstöße, die bis dato hauptsächlich im inneruniversitären Rahmen auf nationalen und internationalen Fachtagungen stattfinden – ein weiteres Indiz dafür, dass sich das Thema als Thema der Theaterwissenschaft selbst weiterhin noch im Prozess der Aushandlung befindet –, lässt sich mit Frank Möller, der dies bereits vor 20 Jahren geäußert hat, feststellen: »Eine moderne Untersuchung zu Stadttheatern fehlt; auch Einzeluntersuchungen, die die Theatergeschichte in die Geschichte der städtischen Gesellschaft einzubinden versuchen, sind eher selten.«89

zuletzt durch dessen eigene Habilitationsschrift Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900 – in weiten Teilen geschlossen worden, siehe Marx 2008. Zum Theater des Vormärz vgl. etwa Porrmann/Vaßen 2002 und Wagner 2013. Was die Theatergeschichtsforschung angeht, fällt zudem die Schwerpunktsetzung auf Berlin als kulturellem Zentrum des Deutschen Kaiserreichs im Kontext des sozialen und kulturellen Aufstiegs zur Metropole auf, vgl. Marx/Watzka 2009, Watzka 2012. Hier kann fast schon von einem ›Berlin-Bias‹ die Rede sein, da dieser spezifische Sozial-/Kultur-/Diskursraum in der theater- und kulturwissenschaftlichen Forschung häufig zu einem Synonym für die bürgerliche Theaterkultur – vor allem des ausgehenden 19. Jahrhunderts – wird. 87 | Eine Ausnahme bildet die theatergeschichtliche Forschung des 2014 verstorbenen Theaterwissenschaftlers Harald Zielske, dessen Schwerpunkt zwar im Bereich der Theaterbauten und Bühnenräume gelegen hat, der in kleineren Beiträgen jedoch ebenso die Herausbildung und Verfasstheit des deutschen Stadttheaters innerhalb der Theaterlandschaft des 19 Jahrhunderts beschrieben sowie in diesem Zusammenhang auch die Rolle des Deutschen Bühnenvereines thematisiert hat, vgl. Zielske 2001 und 1978. 88 | www.blogs.uni-mainz.de/undoingdifferences/projekt-theater-phase-2/ 89 | Möller 1994, 19 (Fußnote 3). Für die Städte Leipzig und Chemnitz hat Thomas Höpel aus kulturwissenschaftlicher und -politischer Perspektive eine vergleichende Untersuchung mit Fokus auf die Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1939 vorgelegt, die darüber hinaus das französische Theatersystem am Beispiel der beiden Städte Lyon und Saint-Etienne in den Blick nimmt, vgl. Höpel 2007. Siehe auch die Dissertationsschrift von Konrad Dussel Ein neues, ein heroisches Theater? Nationalsozialistische Theaterpolitik und ihre Auswirkungen in der Provinz, welche die Städte Coburg, Ingolstadt, Bielefeld, Dortmund und Karlsruhe in der Nachkriegszeit fokussiert, siehe Dussel 1988.

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Mit den nachfolgenden Ausführungen wage ich den Schritt in dieses Forschungsfeld, indem ich Stadt und Stadttheater mit ihren spezifischen Re/produktionsbedingungen als eigenständige Aktanten im Autonomisierungsprozess des deutschen Stadttheaters betrachte. Hierfür soll in einem ersten Schritt das zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestehende und sich im weiteren Verlauf autonomisierende Theaterfeld im Kontext der städtischen Theater- und Bürgerkultur in den Blick genommen werden. Denn nur in diesem spezifischen Kontext, das heißt in den spezifisch-demographischen, sozialen Räumen städtischer Gesellschaften lässt sich jene im Rahmen der vorliegenden Arbeit besonders interessierende Theater- und Bürgerkultur als ein primär »urbanes Phänomen«90 verorten. Die Wechselwirkung zwischen Stadtgesellschaft und -theater wird am konkreten Fall ›Bochum‹ – der im dritten Teil zugleich den ›Tatort‹ meiner ethnografischen Forschung darstellt – erörtert. Hierbei ist die Bochumer (Stadt-)Theatergeschichte im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert weniger aus einer künstlerischen, als vielmehr kulturpolitischen Perspektive hinsichtlich der Konstituierung einer für das Sprechtheater ausgewiesenen Bühne äußerst aufschlussreich, da an diesem Fallbeispiel der diskontinuierliche Prozess der (Be-)Gründung eines (neuen) Stadttheaters dessen ambivalente Position zwischen kulturpolitischem Diskurs und (Alltags-)Praxis, zwischen Tradierung einer anachronistischen (Nationalstaats-)Idee und Transformierung eines sozialdemokratischen (Theater-) Systems aufgezeigt werden kann (vgl. Kapitel 1.3).

1.2.1 Erste Entstehungsphase: Theater- und Bürgerkultur im Vormärz Bürgertum und Theater des 19. Jahrhunderts bilden im deutschen Kontext eine – wenn auch spannungsgeladene, so doch produktive – Einheit. Dies lässt sich trotz einer Vielzahl an zu Beginn des Jahrhunderts noch parallel existierenden Theaterformen, wie etwa dem höfisch-aristokratischen, dem Wander- oder Bürgertheater, trotz einer Reihe von unscharfen, speziell das bürgerliche Theater91 im ausgehenden 18. Jahrhundert charakterisierenden »Bewegungsbegriffen«92 (wie ›Musterbühne‹ oder ›Nationaltheater‹) und trotz der strukturellen Transformationen, die das deutsche Theater während des 19. Jahrhunderts erfährt, behaupten. So gilt es in der Theaterforschung gemeinhin als »wesentliche[s] Medium des sich konstituierenden Bürgertums«93 und als »Ort[…] stadtbürgerlicher Soziabilität«94. Dabei sind es vor allem die zeitgenössischen Quellen selbst, die sich nach dem Theater90 | Hein/Schulz 1996, 15. 91 | Der Begriff ›bürgerliches Theater‹ meint hier zunächst eine stehende, örtliche Bühne (und nicht etwa ein spezifisch-repräsentatives Theatergebäude oder eine spezifisch-inhaltliche Konzeption). Erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – seit Anerkennung der sozialen Gruppierung von Schauspieler/innen als ein zwar niedriger, jedoch eigenständiger Stand – werden neben den höfischen Theatern zunehmend auch privat finanzierte Bühnen, etwa in Wirtshaus- oder Rathaussälen, eingerichtet oder durch Aktiengesellschaften finanzierte Theaterneubauten realisiert. Im Folgenden wird der Begriff des bürgerlichen Theaters jeweils dann spezifiziert, wenn ein besonderer Typus von Theater gemeint ist. 92 | Koselleck 2002, 38. 93 | Hochholdinger-Reiterer 2014, 18. 94 | Höpel 2007, 94.

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forscher Harald Zielske »wie die Fortschreibung der Nationaltheateridee des späten 18. Jahrhunderts«95 lesen lassen und meist ein emphatisches Bild eines spezifischen Typus von Theater, nämlich desjenigen des bürgerlichen Bildungstheaters zeichnen. Zielske resümiert: »Theater wird darin als Bildungsinstrument, als Einrichtung zur sittlichen Erbauung des Bürgers beschrieben, die neben Schule und Kirche treten soll.«96 Wie Balme im eingangs bereits erwähnten Aufsatz zu dessen Institutionalisierung und Kommunalisierung darlegt, lassen sich die Anfänge dieser Instrumentalisierung des Theaters als Bildungsgut auf einen im Zuge der preußischen Reformen eingebrachten Vorschlag Wilhelm von Humboldts aus dem Jahr 1808 zurückführen, in dessen Folge – zumindest für die nächsten zwei Jahre – »die Königlichen Theater und ähnliche Anstalten, insoweit sie nicht von besonderen Direktionen ressortieren«97, dem Ministerium für Kultus und Unterricht unterstellt werden.98 Hinsichtlich des Prozesses der Autonomisierung des deutschen Theaters lässt sich Humboldts Memorandum geradezu als ein erster kulturpolitischer Vorstoß verstehen, wie er erst im Zuge der preußischen Theaterreform von 1848 erneut bemüht werden wird. Jedoch erscheinen mir der hier zitierte Paragraf nicht nur wegen der Aufwertung und symbolischen Anerkennung des Theaters – auf »gleiche[r] Stufe wie die Akademien der Wissenschaften und Akademien der bildenden Künste«99 – bemerkenswert, sondern darüber hinaus aufgrund der relativen Gleichstellung der königlich-preußischen Theater und »ähnliche[n] Anstalten«, worunter wohl jene bildungsbürgerlich motivierten Bühnen zu fassen sind, welche – im Gegensatz zu den höfisch-betriebenen Theatern – zwar bis ins 20. Jahrhundert hinein in den meisten Fällen privatwirtschaftlich geführt werden, jedoch dem preußischen Staat beziehungsweise den ab 1808 autonom verwalteten preußischen Städten (nichtsdestotrotz) als symbolisches Kapital dienen. Folglich erscheinen mir für die erste Phase der Autonomisierung des (Stadt-) Theaters drei zu skizzierende Aspekte wesentlich: erstens das ambivalente Verhältnis der bürgerlichen zu den höfisch-aristokratischen Theatern, zweitens die kulturpolitische Funktion des Bildungstheaters für die jeweilige Stadt respektive Stadtgesellschaft – die sich im Deutschen Kaiserreich (und letztlich durchgesetzt im Dritten Reich) zu einer kulturpolitischen Funktionalisierung des Theaters für einen deutschen National- und Kulturstaat transformieren wird – und drittens die Herausbildung eines eigenen Begriffes von Stadttheater, der sich im weiteren Sinne bereits im Theater des Vormärz konstituiert. Nach der gesellschaftlichen Neustrukturierung durch den Wiener Kongress von 1814/15 formiert sich auch das Theater in den insgesamt 41 (Stadt-)Staaten des Deutschen Bundes neu, die seit der Bundesakte von 1820 dem monarchischen Prinzip und damit der Staatsgewalt von souveränen Fürsten unterstellt werden.100 In der Zeit der Restauration und des Vormärz wirkt sich diese gesellschafts- und 95 | Zielske 2001, 57. 96 | Zielske 2001, 57. 97 | Wilhelm von Humboldt zitiert nach Balme 2010, 66. 98 | Nach Balme wird die Reform 1808 »auf Widerstand des Hoftheaterintendanten Iffland« gekippt, woraufhin erneut das preußische Polizeiwesen (in seiner Funktion als Zensurbehörde) für das Theater zuständig sei, siehe Balme 2010, 66. 99 | Balme 2010, 66. 100 | Vgl. Zielske 2001, 44.

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kulturpolitische Transformation zunächst unmittelbar auf die im Dienst der Fürsten stehenden Hoftheater aus, die zu einer erneuten »Welle von Hoftheaterneugründungen in den Residenzstädten«101 und zu einer Potenzierung ihrer sowohl kommunikativen als auch repräsentativen Funktion als »Medium der Kommunikation des jeweiligen Fürsten bzw. der jeweiligen Fürstin nach außen, gegenüber anderen Höfen und nach unten gegenüber der eigenen Bevölkerung«102 führt. Gleichwohl die höfischen Theater neben den ›städtischen‹ Privat- und Wandertheatern – nach Zielske die drei dominanten Theaterformen in der Übergangszeit des Vormärz103 – eine hinsichtlich ihrer Finanzierung durch das Fürstentum autarke Position einnehmen, werden sie seit Ende des 18. Jahrhunderts ebenso als prinzipiell öffentliche Einrichtungen geführt. In der Folge stellen die zahlenmäßig anwachsenden Hoftheater nicht nur ein anachronistisches Gegenmodell, sondern zugleich ein kapitalistisches Konkurrenzunternehmen für die bürgerlichen Theater und Städte dar, die im Dunstkreis der Residenzstädte und deren adeligen wie tendenziell elitär-bürgerlichen Gesellschaften zunehmend eine kulturell autonome Position zu behaupten suchen.104 Im Kontext dieses national zersplitterten Raumes, basierend auf einem monarchischen Vorherrschaftsprinzip, das bis in die kulturellen Praktiken und das Feld des Theaters hinein wirkt, lässt sich sowohl das erstarkte Interesse des städtischen Bürgertums an einem derart kostspieligen ›Medium‹ respektive waghalsigen Unternehmen wie dem Theater als auch an dessen ideologischer Konzeption im Typus des literarischen Bildungstheaters verstehen. Schließlich ist nicht zu übersehen, dass das höfische Theater trotz seiner prinzipiellen Öffnung für ein breites Publikum allein durch höhere Eintrittspreise sozial und kulturell ausgrenzend wirkt. Betrachtet man dagegen die im Vergleich zum Einkommen als niedrig anzusehenden Eintrittspreise in den bürgerlichen Theatern sowie zeitgenössische Berichte, lassen sich diese gegenüber den höfischen de facto als offene(re), »für die breite Bevölkerung«105 vorgesehene (Bildungs-)Einrichtungen verstehen. Dementsprechend findet sich in den sozialen Räumen der bürgerlich-städtischen Theater 101 | Zielske 2001, 74. Bis 1850 existieren insgesamt 19 Hoftheater, die – ähnlich der städtischen Theater – je nach Königreich, (Groß-)Herzog- oder Fürstentum, dessen finanziellen Möglichkeiten und kulturellen Interessen verschieden organisiert und unterschiedlich stark institutionalisiert sind, in den folgenden Residenzstädten: Berlin, Kassel, Darmstadt, Dresden, Hannover, Karlsruhe, Schwerin, Stuttgart, Weimar, München, Wien, Braunschweig, Coburg/Gotha, Dessau, Detmold, Oldenburg, Neustrelitz, Meiningen und Wiesbaden, siehe Zielske 2001, 46 (Fußnote 7). 102 | Daniel 1995, 27. 103 | Siehe Zielske 2001, 63. 104 | Auf das Jahr 1836 verzeichnet der Almanach für Freunde der Schauspielkunst immerhin 37 bürgerliche Bühnen, verstreut über die einzelnen Städte des Deutschen Bundes, vier Jahre später ist die Zahl bereits auf 75 angewachsen (siehe Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836 und 1840); nach der Gewerbefreiheit von 1869 im Norddeutschen und 1871 im gesamtdeutschen Bund wächst diese Zahl sprunghaft an und verändert die deutsche Theaterlandschaft nachhaltig. Folglich beginnt die zweite Entstehungsphase des Stadttheater-Feldes – die Phase seiner Institutionalisierung – mit diesem historischen Einschnitt, vgl. Unterkapitel 1.2.2. 105 | Möller 1996, 24.

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keine homogene, sondern eine heterogene Gruppe aus Kaufleuten und Künstler/ innen, Gesell/innen und Gelehrten ein.106 Im Hinblick darauf ist auch das Durchschnittsrepertoire der Theater im Vormärz zu beurteilen: So stehen – weniger konträr, als vielmehr komplementär zum Diskurs – »Unterhaltung, Vergnügen und Sensationen im Vordergrund«107 eines stark durchmischten Repertoires aus bürgerlichen Trauerspielen, literarisch geprägten Komödien, Possen oder Vaudevilles,108 während sich seit den 1830er-Jahren nach Bayerdörfer ebenso die »Verbindlichkeit eines Klassikerkanons«109 im Repertoire von bürgerlich-städtischen Bühnen, etwa in Düsseldorf unter der Direktion von Karl Leberecht Immermann (1834-1837), erkennen lasse.110 In diesem Sinne kann auf Ebene der Spielpläne von einem marktfähigen Kompromiss die Rede sein, so konstatiert Helmut Schanze: »Dem Bildungstheater ist das Unterhaltungstheater nur scheinbar entgegengesetzt. De facto gehören beide im 19. Jahrhundert zusammen, entsprechend den Wünschen und Bedürfnissen der das Theater tragenden Schicht. Damit wird das ›Bürgerliche Lustspiel‹ vor allem in den Jahren bis 1870 zum Gesellschaftstheater par excellence, und zwar nicht in der Funktion der Kritik, sondern der Rechtfertigung ›bürgerlicher‹, ja ›kleinbürgerlicher‹ Lebensweise.«111

Damit findet die Idee der Bildung und Sozialisation durch Theater in einem Spannungsverhältnis von Diskurs und Praxis Eingang in den elementaren Diskurs des Bürgertums. Als Diskursformation und dialektische »Denkfigur«112 von Kunst ver106 | Siehe Möller 1996, 26f. 107 | Möller 1996, 27. »Meistgespielter deutscher Theaterschriftsteller des Vormärz war August von Kotzebue. Weit vor den bedeutenden Klassikern beherrschten seine Stücke die Bühnen. […] Die Dominanz Kotzebues hielt den ganzen Vormärz über an. Seine Stücke verkörperten gerade wegen ihrer immer bemängelten Trivialität eine nicht an einen bestimmten Adressaten gerichtete Unterhaltung. […] Erhoben die Klassiker eher den gebildeten Bürger zu ihrem Vorbild, so wandte sich Kotzebue an alle Bürger.« (Möller 1996, 28.) 108 | Sogar für das Beispiel des Nationaltheater Mannheim und für den Zeitraum von 1788 bis 1818 gibt Möller in Anlehnung an Max Martersteigs Das deutsche Theater im 19. Jahrhundert folgende Zahlen an: 1728 Aufführungen von Stücken August von Kotzebues, dagegen nur 15 Aufführungen von Schillers Die Räuber, siebenmal Lessings Kabale und Liebe und je nur dreimal Schillers Die Verschwörung des Fiesco zu Genua sowie Don Carlos (Max Martersteig zitiert nach Möller 1996, 28). 109 | Bayerdörfer 1992, 46. Nach Bayerdörfer umfasst dieser Klassikerkanon »außer Lessing und den Weimaranern im wechselnden Maße Heinrich von Kleist und Grillparzer, dazu als zweite Hauptstütze Shakespeare« (Bayerdörfer 1992, 46). 110 | Gestützt wird die Institutionalisierung eines deutschen Kanons durch »Bestrebungen der Gymnasialreform« (Bayerdörfer 1992, 48), welche nach einem Traktat von Rudolf von Raumer im Jahr 1851 die Lektüre von ›Nationalliteratur‹ insbesondere in Form dramatischer Texte im Unterricht an Gymnasien vorsieht. 111 | Schanze 1973, 133. 112 | Marx 2007, 145. Wie Marx hier herausarbeitet, wird die frühe Idee des Bildungstheaters nach 1871 in eine rhetorische Figur inkorporiert, die »sich im Theaterdiskurs der sich modernisierenden Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts […] wiederholt, nämlich die Disziplinierung des Theaters durch die Literatur und den bürgerlichen Kunstdiskurs« (Marx 2007, 145).

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sus Kommerz lässt sich diese über das 19. Jahrhundert hinweg aufrechterhalten und je nach (kultur-)politischer Position aktualisieren respektive funktionalisieren, nachdem sie zunächst in der Phase des Vormärz an die Städte beziehungsweise die jeweilige Stadtgesellschaft delegiert wird, wie exemplarisch der folgende Aufruf in der Augsburger Abendzeitung vom 2. Oktober 1838 nahelegt: »Den Bildungsstand, welchen eine Stadt eingenommen hat, zeigt sie am besten in der Pflege ihrer öffentlichen Kunstanstalten, und wir wollen hoffen, man werde auch hier überzeugt seyn, das Theater sey als eine Schule der Bildung zu betrachten.« 113

Dieser Aussage nach zu urteilen, zirkuliert zwar bereits in den 1830er-Jahren ein Wissen um den kulturellen Wert und das symbolische Kapital eines städtischen Theaters, doch hat sich seine Funktion als »Schule der Bildung« noch (längst) nicht auf Ebene der Stadtverwaltung etabliert, geschweige denn in Form von Subventionen manifestiert. Nur ein einziges Theater wird im Vormärz de facto städtisch geführt, sodass »die Übernahme des Mannheimer Nationaltheaters in kommunale Trägerschaft im Jahre 1839 […] vorerst ein einsamer Ausnahmefall«114 bildet. Das bürgerlich-städtische Theater ist – und bleibt noch bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein – eine primär ›private‹ Sache des Bürgertums, obwohl sich schon im Vormärz seine Stellung innerhalb der Stadtgesellschaften und seine Bedeutung für die Stadt zu verändern beginnt. Das auffallendste Indiz hierfür bildet die Einführung eines neuen Begriffes, nämlich desjenigen des Stadttheaters, der nach Zielske zwar unmittelbar nach der Jahrhundertwende – »nach ›Nationaltheater‹ und ›Hoftheater‹«115 – kursiert, sich jedoch erst seit Mitte der 1830er-Jahre anhand einer gesicherten Quellenlage nachweisen lässt. Das hierfür vorliegende Quellenmaterial bildet dabei der seit 1836 von Ludwig Wolff herausgegebene Almanach für Freunde der Schauspielkunst, der in diesem Kontext erstmalig ein »Verzeichniss der deutschen Bühnen, ihrer Vorstände und Mitglieder, wie sie dem Herausgeber bekannt geworden sind«116, liefert, welches im ersten Jahrgang immerhin schon 59 Theater-Städte einzeln zu belegen vermag.117 Im Vergleich der ersten Jahrgänge fällt insbesondere hinsichtlich der Bezeichnungspraxis der durch die jeweiligen Direktor/innen ausgewiesenen Theater 113 | Augsburger Abendzeitung vom 2.10.1838 zitiert nach Möller 1996, 19. 114 | Zielske 2001, 69. 115 | Zielske 2001, 51: »Bis heute scheint nicht eindeutig geklärt zu sein, wann und wo der Begriff erstmals angewendet wurde und mit welcher genauen Bedeutung«, konstatiert Zielske und ergänzt in Anlehnung an die von Karl-August Lebrun (1792-1841) verfasste Geschichte des Hamburger Theaters, »daß das Hamburger Theater mit dem Januar 1809 auf den Ankündigungszetteln erstmals als ›Stadttheater‹ firmierte«, gleichwohl sich die Stadt nur für die Konzession und »beliebte Abgaben« verantwortlich gezeichnet habe. 116 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 194-252. Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit wird auf das Medium des Almanachs und die Position des Herausgebers innerhalb des Feldes ausführlich eingegangen, vgl. Kapitel 2.1. 117 | Neben 21 höfischen/königlichen/großherzoglichen Theatern werden 21 ›Stadttheater‹ explizit als solche ausgewiesen, wohingegen 16 weitere, privat finanzierte Unternehmungen keine expliziten Bezeichnungen erfahren und nur die Stadt Mainz ein ›Nationaltheater‹ – laut dem Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836 – präsentiert.

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auf, dass der Begriff des Stadttheaters in diesem Kontext zum einen inflationär und kreativ Anwendung findet, zum anderen eine quantitative Ausweitung erfährt. In seiner Schreibweise offen wird das bürgerlich-städtische Theater hier etwa als ›Stadttheater‹, ›städtisches Theater‹ oder – in der Mehrzahl – als ›Stadt-Theater‹ benannt.118 Zudem lässt sich vor dem Hintergrund der signifikanten zahlenmäßigen Zunahme von sich im Laufe der Jahrgänge als Stadttheater deklarierenden Bühnen vermuten, dass mit der Etablierung des Begriffes im Almanach auch im lokalen Kontext der Städte bereits im Vormärz eine Anerkennung und Festigung seiner symbolischen Bedeutung für Stadt und Stadtgesellschaften – abseits der Residenzstädte – stattgefunden hat. Auch Zielske kommt zu einem ähnlichen Schluss, wenn er feststellt, dass Ende der 1830er-Jahre »der Begriff offenbar gängige Bezeichnung geworden war für stehende örtliche Theaterbetriebe in Städten, die nicht Residenzort waren und demzufolge nicht über ein Hoftheater verfügten. Stadttheater scheint damit so etwas wie ein Gegenbegriff zum Begriff Hoftheater geworden zu sein, ohne daß damit dessen Gehalt schon klar umrissen gewesen wäre.« 119

Ebenfalls mit Zielske lässt sich daher fragen, »ob hinter dem sichtlich gebräuchlicher werdenden Begriff Stadttheater nicht doch schon eine neue Qualität in der Beziehung zwischen Stadt und Theater aufscheint, die ein klares Bewußtsein und zunehmend gar Selbstbewußtsein von der Besonderheit und den Erfordernissen städtischer Lebensweise auch gerade in Gegenüberstellung zur bürgerlichen Lebensweise in Residenzstädten zum Ausdruck bringt«.120

Wie verschiedentlich nachgewiesen, stellt im Theater des Vormärz (sowie während der Gründungswelle nach 1871) gerade nicht das den Diskurs anführende, jedoch in seinen finanziellen Möglichkeiten beschränkte Bildungsbürgertum die tragende Schicht im Autonomisierungsprozess des bürgerlich-städtischen Theaterwesens dar.121 Seit Ende des 18. Jahrhunderts sind vornehmlich Mitglieder des zahlungskräftigen Wirtschaftsbürgertums Bauherren und Eigentümer der meist mit Hilfe von Aktiengesellschaften122 gegründeten und durch diese verantworteten Bürgertheater, deren Spielstätte(n) sie als Gesellschafter/innen und Theaterunternehmer/innen gegen hohe Kosten und Auflagen an Prinzipal/innen oder Direktor/ innen verpachten und an deren Ausrichtung der Spielpläne sie nicht selten selbst

118 | Über die je konkrete Finanzierungs- und Betriebsform der im Almanach verzeichneten Stadttheater (in den eben genannten diversen Bezeichnungsformen) lassen sich rein mit der Quelle des Almanachs wenig Schlüsse ziehen, wenn nicht – wie beispielsweise im Fall Nürnberg – der »Eigenthümer des Privilegiums: Der Königl. Bayrische Staatsrath, Freiherr v. Hartmann« sowie der »Direktor u. Unternehmer: Hr. Carl Hahn« explizit ausgewiesen werden. 119 | Zielske 2001, 51f. 120 | Zielske 2001, 52. 121 | Vgl. Zielske 2001, 58. 122 | Zielske unterscheidet zwei Arten von Aktienvereinen: die Theaterbau-AG und die Theaterbetriebs-AG, vgl. Zielske 2001, 53-56.

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unter Berufung eines Theaterkomitees teilhaben.123 Hierbei scheint ihr Interesse am Auf bau und an der Entwicklung einer städtischen Theaterkultur zwar nicht gänzlich von der Idee des Bildungstheaters als »Stätte hoher Kunstentfaltung«124 abzuweichen, doch lässt sich ihre Motivation, wie Zielske darlegt, besonders im Zuge der Urbanisierung primär mit einer sozialen und identitätsstiftenden Funktion von Theater begründen: »Mit der Unterstützung der Einrichtung stehender städtischer Theater ging es in erster Linie darum, ein Instrument moderner geselliger Kommunikation zu schaffen und damit Selbstverständnis und Selbstbewußtsein des Bürgers und gerade auch des vermögenden Bürgers des neuen Jahrhunderts sich entfalten zu lassen.« 125

Auf diese Weise bildet sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts – in räumlicher Distanz und kultureller Abgrenzung zu den Residenzstädten – in großen, mittleren und kleineren deutschen Städten eine mal mehr, mal weniger stark institutionalisierte Bürgerkultur aus, in deren sozialem Kontext das Theatersehen und Ins-TheaterGehen einen zentralen Bestandteil eines ganzen »Set[s] kultureller Praktiken«126 einnimmt.127 Denn neben Besitz und Bildung – als ökonomische und kulturelle Ressourcen, mit denen sich das Bürgertum bereits im 18. Jahrhundert gegenüber der erbrechtlich bestimmten Adelsaristokratie positioniert – geht es hierbei mit Peter W. Marx insbesondere um die performative Herausbildung eines eigenen, kulturellen und, wie ich meine, insbesondere sozialen Konzepts von Bürgerlichkeit. Diese Neukonzeption samt ihres sozialisierten, imitierten und inkorporierten Habitus ist es, welche ›das Bürgertum‹ als eine soziale Gruppierung im 19. Jahrhundert – und im Zuge einer ›Neuen Bürgerlichkeit‹ aktuell wiederkehrend128 – konstituiert und von einer affektiven Kultur des Adels distanziert.129 Den Historikern Dieter Hein und Andreas Schulz zufolge meint Bürgerkultur in diesem praktischen (und ganz und gar nicht ›abstrakten‹130) Sinne 123 | Auf Basis eines Vergleichs zwischen den Mitgliederlisten dieser Komitees und der städtischen Theatervereine weist Möller nach, dass »der Kern der die Theater finanzierenden und kontrollierenden Kräfte aus dem Wirtschaftsbürgertum, aus Kaufleuten, Bankiers und vereinzelt Fabrikanten« (Möller 1996, 24) besteht. 124 | Zielske 2001, 58. 125 | Zielske 2001, 58. 126 | Marx 2007, 136. 127 | Wie einleitend erwähnt, kann die Wechselwirkung zwischen Bürger- und Theaterkultur als ein primär »urbanes Phänomen« (Möller 1996, 15) begriffen werden. Es wäre ein eigenes Forschungsprojekt wert, die nicht-städtischen, ländlichen Regionen hinsichtlich ihrer theatralen und theatralischen Selbstbildungspraktiken zu untersuchen, was im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden kann und soll. 128 | Vgl. exemplarisch Nolte 2006, 156-165 und 211-254. 129 | Siehe Marx 2007, 136. 130 | Ihre Definition von ›Bürgerkultur‹ ergänzen Hein und Schulz bemerkenswerterweise mit dem Zusatz »abstrakt gesprochen« (Hein/Schulz 1996, 13). Das lässt sich nur mit dem 1996 noch fehlenden, kulturwissenschaftlichen Ansatz der Praxeologie erklären, da sie ebendiesem mit ihrem analytischen Blick auf kulturelle Alltags- und Unterscheidungspraktiken vorausgreifen.

Teil 1: Zur Genese des Stadttheaters »die Teilhabe der sozialen Formation Bürgertum an einem von ihr selbst geschaffenen und durch sie gestalteten Prozeß. Die Gemeinschaft von Teilgruppen des Bürgertums wird wesentlich durch eine kulturelle Alltagspraxis gestiftet, die den sozialen Zusammenhalt insgesamt festigt. Daß im 19. Jahrhundert das Bürgertum Verhaltensnormen und -maßstäbe setzte, die – etwa im Bereich der Wohnkultur, in Kleidung und Umgangsformen – stände- und klassenüberschreitend akzeptiert wurden, ist unumstritten.« 131

Bereits der Verweis auf die »Teilgruppen des Bürgertums« zeigt die Heterogenität dieses Standes an. In ihrer Forschung zeichnen Hein und Schulz für das 19. Jahrhundert zwei widersprüchliche Entwicklungslinien nach, wie sie auch die urbane Theaterkultur widerspiegeln wird: Einerseits konstituiere sich eine Form von Bürgerkultur, die »als verbindende Kultur aller Bürger«132 fungiere und deren Gemeinsinn durch Teilnahme an Turn-, Gesangs- oder Schützenvereinen sowie an Konzert- und Theaterbesuchen gestiftet wird. In dieser Tradition bilden »[d]as Sozialleben und das Kulturleben des Bürgertums […] eine fest im Alltag, in der unmittelbaren Lebenswelt verwurzelte Einheit«133. Damit lässt sich schlussfolgern, dass in dieser Traditionslinie die Idee respektive das kulturpolitische Programm eines sozial-integrativen Bildungstheaters erwächst, welches dieses als Instrument der Kulturvermittlung und damit Theater primär als eine sozial-kulturelle Praxis begreift. Andererseits bilde sich parallel dazu eine relativ homogene ›bürgerliche Elite‹ heraus, die Kultur in Form von höherer Bildung, künstlerischen Artefakten und Kunstkonsum als kulturelles und ökonomisches Kapital zu Distinktions- und Repräsentationszwecken zu nutzen weiß: »In wachsendem Maße bestimmten jene […] bürgerlichen Eliten über Formen, Maßstäbe und Inhalte bürgerlicher Kultur«134, was – so resümieren Hein und Schulz in Anlehnung an Bourdieu – »letztlich dazu [dient], soziale Unterschiede zu legitimieren«135. Damit deutet sich neben einem tendenziell linken, sozialistisch geprägten Flügel innerhalb des deutschen Bürgertums bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine eher nach rechts orientierte Traditionslinie der Idealisierung und Ideologisierung eines Kultur- und Kunstbegriffes an, die jedoch erst im wilhelminischen Zeitalter zwischen 1890 und 1918 in Form eines »monumentale[n] Klassizismus«136 de facto an Macht gewinnen und (indirekt) die Idee des Kulturstaats verstärkt zu nationalstaatlich-repräsentativen und weniger zu sozial-integrativen Zwecken durchsetzen wird. Zwar spaltet sich das deutsche Bürgertum vor diesem Hintergrund ähnlich der französischen Gesellschaft in eine tendenziell dualistische Struktur, doch stellt das in weiten Teilen privatfinanzierte bürgerliche Theater 131 | Hein/Schulz 1996, 13. Der Begriff der Bürgerkultur nach Hein und Schulz deckt sich in Bezug auf die Betonung von kulturellen und symbolischen (Alltags-)Praktiken mit dem Konzept der Bürgerlichkeit nach Jürgen Kocka, vgl. Kocka 1987, 21-63. Der Begriff der Bürgerkultur beinhaltet unter der hier forcierten kultur- und differenzierungstheoretischen Perspektive damit stets auch eine durch soziale und kulturelle Praktiken vollzogene, sinnhafte Unterscheidungspraxis ihrer Akteur/innen. 132 | Hein/Schulz 1996, 16. 133 | Hein/Schulz 1996, 14. 134 | Hein/Schulz 1996, 14. 135 | Hein/Schulz 1996, 14. 136 | Bayerdörfer 1992, 61.

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in den lokalen Kontexten der Städte geradezu eine Schnittstellenfunktion in Bezug auf eine kollektive, vor allem urbane Identitätsbildung dar. So resümiert der Theaterwissenschaftler und Historiograf Rudolf Münz: »Der besondere Typ von Theater, der während des 18. Jahrhunderts ausgeprägt worden war, wird nun in diesem Sinne zum sozialen ›Übungsfeld‹, und zwar – besonders auch im Hinblick auf die ›Kostümierung‹ – sowohl auf der Bühne als auch im Parkett.« 137

Das bürgerlich-städtische Theater fungiert in diesem Sinne als eine »soziale Schule«138, die zunehmend Leitbilder in der Erscheinung von »sozialen Kategorien wie diejenige des Bürgers«139 auf der Bühne vermittelt und zur Nachahmung zur Verfügung stellt. Damit erweist sich ›Bürgersein‹ innerhalb der ostentativen Bürgerkultur des 19. Jahrhunderts als kulturelles Konzept und soziale respektive performative Identitätskategorie, das heißt als eine körper-sprachlich dargestellte, soziale und kulturelle Praxis, innerhalb derer sich Bürger- und Theaterkultur leibhaftig aufeinander beziehen.140 In diesem kollektiven Prozess einer vor-nationalen Identitätsstiftung nimmt das Stadttheater eine modellbildende und der Schauspieler/ die Schauspielerin wahrhaftig eine Vorbildfunktion für den (Staats-)Bürger/die (Staats-)Bürgerin ein. In der preußischen Theaterreformdebatte um 1848 wird diese allgemeine Vorbildfunktion von Theater im Umfeld von Akteur/innen an den ›königlichen Schauspielen‹ aufgegriffen und nationalstaatlich diskursiviert. Devrient, der auf eine Loslösung des höfischen Theaters aus den feudalen Strukturen bei gleichzeitiger Einrichtung des Nationalstaates hofft, formuliert in seiner Reformschrift Das Nationaltheater des Neuen Deutschland141 seine Idee einer sozialisierenden Theaterkunst für die ›Massen‹ wie folgt: »Alles, was die Menschheit bilden und veredeln soll […], muß vom Staate gestützt, vom bloßen Erwerbe unabhängig gemacht werden … ohne den Rückhalt kräftiger Geldunterstützung, welche den Bühnen Unabhängigkeit von der geldbringenden Menge sichert, ist ihre Führung nach reinen Grundsätzen unmöglich.« 142

Bemerkenswert in Devrients Worten ist nicht nur die visionär zu nennende, weil 100 Jahre später umgesetzte Vorstellung eines vom Staate respektive dessen Kommunen subventionierten deutschen Theaterwesens, wie es in Form einer »vollständige[n] Kommunalisierung der Stadttheater«143 seit der Weimarer Verfassung an137 | Münz 1992, 177. Wie Friedemann Kreuder anhand zeitgenössischer Quellen darlegt, wird diese Funktion von Theater als »Sozialisationsinstanz« (Kreuder 2010, 55) bereits im 18. Jahrhundert vorbereitet. 138 | Marx 2008, 29. 139 | Marx 2007, 136. 140 | Vgl. Marx 2007, 137. 141 | Devrient 1967 [1849]. 142 | Devrient 1849 zitiert nach Brauneck 1999, 17. 143 | Balme 2010, 75. In den Revolutionsjahren 1848/1849 findet Devrients kulturpolitisches Programm nicht den erwünschten Eingang in die preußische Gesetzgebung. Stattdessen führt die politische Kurskorrektur, die unmittelbar nach der Niederschlagung der revolu-

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gestrebt und unter den Nationalsozialisten durchgesetzt werden wird. Im Kontext der Autonomisierung des (Stadt-)Theater-Feldes ist vielmehr bezeichnend, dass die Positionen der Repräsentant/innen von höfischen versus bürgerlich-städtischen Theatern bereits Mitte des 19. Jahrhunderts fließend ineinander übergehen, und zwar nicht allein im Diskurs um das Bildungstheater, welches als Idee beiden Positionen gemein und nützlich ist, sondern ebenso hinsichtlich einer theaterpraktischen Gemengelage: So rückt schon 1835 Heinrich Laube, Vertreter der bürgerlich-liberalen Vormärz-Generation, in den höchsten Posten an der Wiener Burg auf, Franz Dingelstedt wird Intendant am Königlichen Theater in München und Eduard Devrient selbst übernimmt die Leitung am Hoftheater in Karlsruhe: »Mit diesen Repräsentanten der Vormärz-Generation hält auch deren Programm vom literarischen Bildungstheater Einzug in die höheren Etagen, und dieses kann im Modus des Postulats nun ausgedehnt werden auf alle kommunalen Bühnen […].« 14 4

Die Trennung zwischen höfischen und städtisch-bürgerlichen Theatern lässt sich repräsentativ und ökonomisch zwar weiterhin aufrechterhalten, jedoch zeichnet sich bereits im Theater des Vormärz ein reger Austausch unter den Akteur/innen – sowohl den Direktor/innen als auch Darsteller/innen – sowie deren Programmen ab.145 In der Folge verlaufen die diskursiven Differenzierungslinien weniger nach der konkreten Verortung von Einzelnen an einer spezifischen (entweder höfischen oder städtisch-privaten) Bühne als vielmehr nach der künstlerisch-geistigen Verortung von Akteur/innen und ihrem Programm.

1.2.2 Zweite Entstehungsphase: Paradoxe Verhältnisse nach 1871 Die Frage, inwiefern sich die gesellschaftliche Funktion und Position bürgerlichstädtischer Theater ab Einführung der Gewerbefreiheit 1869 im Norddeutschen Bund und 1871 für das gesamte Kaiserreich ändert, bildet den Schwerpunkt der weiteren Ausführungen. Balme fasst die gesellschaftlichen und spezifisch theaterhistorischen Entwicklungen in dieser Phase wie folgt zusammen: »Die Expansion der Städte – ein Ergebnis von Zuwanderung, Geburtenraten und Eingemeindung – hatte für den kulturellen Sektor zur Folge, dass der Bedarf an Unterhaltung, Zerstreuung und Erbauung ebenfalls wuchs. Im Bereich der Theater war die Situation derart, dass es vor 1871 nur eine geringe Zahl von ihnen gab. Der Betrieb eines Theaters war von einer Konzession abhängig, die die Behörden nur sehr restriktiv erteilten. Mit der Einführung der Gewerbefreiheit […] änderte sich die Situation rapide.« 146

tionären Aufstände erfolgt, auch im Theaterwesen zu einer Verschärfung der obrigkeitlichen Restriktionen. 144 | Bayerdörfer 1992, 45. 145 | Der zweite Teil vorliegender Arbeit wird an diesen Austausch unter den Akteur/innen im Vormärz anknüpfen und die Konstitution des Feldes auf Ebene der Akteur/innen und Praktiken betrachten. 146 | Balme 2010, 68.

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Marx bezeichnet diesen sich durch die Gewerbefreiheit vollziehenden historischen Einschnitt innerhalb der deutschen Theaterlandschaft als einen »Verwaltungsakt«147. Ab diesem Zeitpunkt sei »die Gründung beziehungsweise Eröffnung eines Theaters nicht mehr abhängig von einem fürstlichen Patent, sondern eine Frage der ökonomischen Machbarkeit«148 gewesen. Im Zuge des Urbanisierungs- und Modernisierungsprozesses setzt »[n]ach dem Motto ›Jeder Stadt ihr Stadttheater‹ […] nach 1871 eine wahre Gründungswelle ein«149. Verzeichnet der Wolff’sche Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1846 insgesamt 133 Theaterbetriebe im deutschen Staatenbund, steigt die Zahl noch vor 1871 auf rund 250 Bühnen an.150 Bis 1913/14 wird sich dieser Wert fast verdoppelt haben:151 Insgesamt 411 private, städtische und höfische Theater weist laut Balme Das kommunale Jahrbuch auf, unter ihnen existieren »196 Stadttheater – 118 davon in städtischem Besitz, 78 in Privateigentum. […] Allein in den Jahren zwischen 1900 und 1913 sind 38 Stadttheater entstanden. Allerdings waren nur die allerwenigsten Regiebetriebe, das heißt durch die Kommunen bezuschusste Einrichtungen im heutigen Sinne.« 152

Wie Thomas Höpel konkretisiert, sind unter den städtischen Theatern lediglich zehn, die im Jahr 1914 von der Kommune getragen und als Regiebetrieb beinahe vollständig vollsubventioniert werden, »erst nach 1919 vollzog sich diese Entwicklung in den deutschen Städten auf breiter Front«153. Jedoch sind bereits seit Ende des ausgehenden 19. Jahrhunderts Teilsubventionierungen der städtischen Theater durchaus üblich, so hat etwa das Pachtsystem des städtischen Theaters in Leipzig schon vor seiner Übernahme in Eigenregie im Jahr 1914 »einen mehr oder weniger verdeckten Zuschuss von 350.000 Mark im Jahr erfordert«154. Wie eine Auflistung über die städtischen Theaterzuschüsse zwischen 1899 und 1912 im Jahrbuch Die 147 | Marx 2013, 59. 148 | Marx 2013, 59. 149 | Balme 2010, 68. 150 | Auf das Jahr 1856 lassen sich im Deutschen Bühnenalmanach, dem Nachfolgeorgan des Wolff’schen Almanach für Freunde der Schauspielkunst, 150 Theaterbetriebe zählen, zehn Jahre später, im Jahr 1866, bereits über hundert weitere; die Zahl von 251 Theatern wächst bis 1870 nach meiner Rechnung auf 255 einzeln aufgelistete Theaterbetriebe an, vgl. die betreffenden Jahrgänge des Deutschen Bühnenalmanach. 151 | Dieser Proliferationsprozess gilt laut Balme zwischen 1890 und 1914 für den europäischen und transatlantischen Raum im Allgemeinen: »1889 zählte man 302 feste Theaterbauten in Deutschland, England, Frankreich, Österreich-Ungarn und den USA zusammen. 1926 gab es allein in Europa 2.499 feste Theater. Über 1.500 Theater wurden nach 1890 errichtet, die meisten davon vor dem Ersten Weltkrieg.« (Balme 2010, 64.) 152 | Balme 2010, 64. Im Zuge dieses exponentiellen Wachstums der deutschen Theater wird im Jahr 1913 beschlossen, dass Theaterneubauten in deutschen Städte erst ab einer Größenordnung von 50.000 Einwohner/innen zulässig sind: »Bei einer Bevölkerung unter 50.000 seien die Städte auf ›herumziehende Schauspieltruppen angewiesen […]‹« (Das Kommunale Jahrbuch 1913 zitiert nach Balme 2010, 68). 153 | Vgl. Höpel 2007, 134. 154 | Höpel 2007, 134.

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Deutsche Bühne von 1914 zeigt, steigen die Zuschüsse zwischen 1908 und 1912 exponentiell an, Stadttheater wie in Essen oder Breslau können gar eine Steigerung zwischen 230 % und 400 % verzeichnen.155 Betrachtet man die Organisation der städtischen Theaterbetriebe sowie die Theaterpraxis im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, lassen sich auf Ebene der alltäglichen Organisation der Betriebe – trotz erster Zuschüsse – dieselben Strukturen, Abhängigkeiten und damit Produktionsbedingungen erkennen, wie sie bereits die frühen Bürgertheater in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennzeichnen.156 Denn auch die Mehrzahl der Neubauten in der Gründerzeit werden vornehmlich von Aktiengesellschaften gestiftet: In diesem Sinne werden die Bühnen privat getragen und an Theaterdirektor/innen verpachtet, welche wiederum hinsichtlich der programmatischen wie finanziellen Auflagen durch einen »Knebelvertrag«157 an einen Aktien- und Theaterverein oder eine – meist indirekt städtisch kontrollierte – Theaterkommission gebunden bleiben. Eine eindeutig sichtbare Veränderung weisen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ausschließlich die Architektur der bürgerlich-städtischen Theater sowie die damit einhergehenden städtebaulichen Maßnahmen auf: Die repräsentativen Theaterbauten werden nun nicht mehr in den Vorstädten, sondern inmitten der Stadtzentren errichtet,158 wodurch die frühe Idee von Bildung und Erhebung durch Kunst respektive Theater nicht nur in das Stadtbild, das heißt in das Selbstund Fremdbild von Stadt und Stadtgesellschaft integriert, sondern wortwörtlich zementiert wird.159 Zudem vermehren sich im ausgehenden 19. Jahrhundert neben diesen als Bildungstheater deklarierten Bühnen jene kommerziellen Betriebe (beispielsweise Cabaret- oder Varieté-Bühnen),160 welche im zeitgenössischen Diskurs pejorativ als ›Geschäftstheater‹ verhandelt werden. Diese »Proliferation des bürgerlichen Theaters«161, die sich ab 1871 nicht nur auf die Gründung neuer Theaterbetriebe und Theaterbetriebsformen beschränkt, sondern sich auch in einer Ausdifferenzierung an Gattungen widerspiegelt,162 bildet im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die infrastrukturelle Voraussetzung für eine sich flächendeckend materialisierende und sedimentierende Institutionalisierung des deutschen (Stadt-) 155 | Vgl. Die Deutsche Bühne 1914, hier zitiert nach Lennartz 1996, 216. 156 | Vgl. auch die persistent der Tradition der Rollenfächer verhaftete Organisation von Schauspieler/innen im Betriebssystem des Ensembletheaters im 19. Jahrhundert unter Kapitel 2.1 der vorliegenden Arbeit. 157 | Balme 2010, 72. 158 | Balme 2010, 70. 159 | Repräsentative Theatergebäude aus der Gründerzeit weisen unter anderem die Städte Breslau und Köln (1872), Düsseldorf (1875), Magdeburg (1876), Halle (1886), Elberfeld (1888), Göttingen (1890) und Essen (1892) auf; nach 1900 werden beispielsweise in Freiburg (1910), München (1911 das Lustspielhaus, die heutigen Kammerspiele) oder Bochum (1915) weitere (Bildungs-)Theater für Städte und Gemeinden eröffnet. 160 | Bis 1913 sind dies 176 Privatbühnen, vgl. Balme 2010, 64. 161 | Marx 2007, 133-149. 162 | Die auf der Auswertung von Spielplänen basierende, empirische Untersuchung Drama im bürgerlichen Realismus (1850-1890) von Helmut Schanze zählt im Jahr 1890 über 45 verschiedene und neu hinzugekommene Gattungsbezeichnungen, siehe Schanze 1973, 118.

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Theatersystems, das sich bis heute als »ein dichtes Netz an Bühnen«163 mit künstlerisch divergierendem, in jedem Fall reichhaltigem Programm zwischen deutschen Groß-, Mittel- und Kleinstädten erstreckt. Jedoch gehen die Betrachtungen hierüber und die Einschätzung bezüglich einer theaterhistorischen Wende, als welche man diese nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ bezeichnen kann, schon im zeitgenössischen Diskurs stark auseinander. Wie Marx darlegt, wird eine diskursive Polarisierung von Kunst versus Kommerz dabei aber nicht nur im Rahmen eines zeitgenössischen Diskurses von Seiten vornehmlich sozialdemokratisch beeinflusster Vertreter/innen einer Bildungstheater- respektive Kulturstaatsidee ins Feld geführt, exemplarisch etwa durch Ludwig Seeligs 1919 verfasste, durch die 1871 gegründete Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger herausgegebene Schrift Geschäftstheater oder Kulturtheater?164. Diese Diskursfigur werde auch von einem Teil der frühen Theatergeschichtsschreibung übernommen und damit in ein normatives Muster überführt,165 welches eine »Disziplinierung des Theaters durch die Literatur und den bürgerlichen Kunstdiskurs«166 impliziert. Dass sich von diesen Entwicklungen sowohl die höfischen, seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend von »Repräsentanten der Vormärz-Generation«167 geleiteten Bühnen als auch die nicht-höfischen, städtischen Unternehmen schon früh – im ersten Fall in ihrer autarken Position in den Residenzstädten, im zweiten Fall in ihrer sich autonomisierenden Position im Gros der übrigen deutschen Städte – bedroht gefühlt haben müssen, lassen die Neugründung zweier, einerseits gegeneinander, im Zuge der ›Gefahr von außen‹ andererseits miteinander agierenden Interessensverbände vermuten: Bereits 1846 wird der Deutsche Bühnenverein als Interessensverband der (höfischen) Intendanten mit anfangs 47 Mitgliedsbühnen begründet,168 im Jahr 1871 folgt die gewerkschaftliche Organisierung von Schauspieler/innen in der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger. Sicherlich ist die Begründung dieser Organisationen nicht allein als Verteidigungsstrategie (von Nachfahren der National- und Bildungstheateridee) gegenüber dem »Kommerziellen als Gefahr der Kontamination«169 von außen, sondern primär als sozialpolitische Aufstellung eines Arbeitgeber/innen- gegenüber eines Arbeitnehmer/ innenverbandes zu sehen.170 Im breiteren gesellschaftlichen Kontext der sozialen Formierung von liberalen und sozialdemokratisch eingestellten Vereinen kann die politische Aufstellung der beiden Gewerkschaften im Feld des Stadttheaters aber durchaus als gemeinsame Verteidigungsstrategie des ›deutschen Erbes‹ und als ein in Kulturpolitik verwandeltes, sozialpolitisches Programm gedeutet werden. So wird im Jahr 1873 ebenso der Verein für Sozialpolitik im Kontext des ›Kathederso163 | Balme 2010, 63. 164 | Seelig 1919. 165 | Siehe Marx 2007, 133. 166 | Marx 2007, 145. 167 | Bayerdörfer 1992, 45. 168 | Zur ausführlichen Geschichte des Deutschen Bühnenvereines siehe Lennartz 1996. 169 | Marx 2013, 60. 170 | Unter Kapitel 2.1.3.4 werden deren ›Kämpfe‹ und Vertragshandlungen zwischen 1871 und 1919 hinsichtlich der Bestimmungen für das Rollenfach als Schnittstelle zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmer/innen beschrieben.

Teil 1: Zur Genese des Stadttheaters

zialismus‹, dessen Mitglieder sich vor allem aus Wirtschafts- und Beamtenkreisen rekrutieren, mit dem strategischen Ziel gegründet, »die Arbeiterschaft in die deutsche Gesellschaft und deren Sozialordnung einzugliedern«171. Damit werden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts (nach den preußischen Theaterreformen von 1808 und 1848) erneut diejenigen Stimmen laut, welche einen staatlichen Eingriff in das Feld des Theaters fordern – jedoch nicht länger in Form der (Spielplan-)Kontrolle und Zensur, die im 18. und 19. Jahrhundert allgemein üblich ist und unter Bismarck verschärft sowie durch das Sozialistengesetz (1878-1890) ausgeweitet wird, sondern in Gestalt der ›Kunst-Pflege‹ und konkreten Subvention: »Wir verlangen nicht, daß der Staat den unteren Klassen Geld zu verfehlten Experimenten gebe, aber wir verlangen, daß er ganz anders als bisher für ihre Erziehung und Bildung eintrete […]«172, lautet im Jahr 1973 beispielsweise eine Forderung des Ökonomen, Sozialwissenschaftlers und späteren Vorsitzenden des Vereins für Sozialpolitik Gustav von Schmollers. Angesichts dieser neuen Organisierung und Formierung von Akteur/innen lässt sich feststellen, dass sich das Feld des deutschen Stadttheaters – parallel zur architektonischen und infrastrukturellen Etablierung eines flächendeckenden Bühnen-Netzes – im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in seiner sozialen Manifestation etabliert. Damit betrifft die für das deutsche Theater allgemein konstatierte, große Veränderung nach 1871 nur zu einem Teil die Ausdifferenzierung des Systems auf Ebene der Gattungs- und Bühnenproliferation. Zu einem anderen und für die Konstitution des deutschen Stadttheaters als ein soziales, relativ autonomes Feld gewichtigeren Teil, vollzieht sich dessen Institutionalisierung auf Ebene der Kultur- und Sozialpolitik.173 In diesem Kontext ist auch die Vielzahl der Gründungen von Theatervereinen und Besucherorganisationen im ausgehenden 19. Jahrhundert zu sehen. Auf diese Weise lässt sich der Kreis zur Genese des deutschen Stadttheaters als ein spezifisch künstlerisches Feld zum Beginn meiner Ausführungen schließen: So stellt etwa Bayerdörfer zwischen den sich autonom formierenden Berliner Vereinsbühnen – die 1889 von Otto Brahm ins Leben gerufene ›Freie Bühne‹ und die 1890 von Bruno Wille gegründete ›Freie Volksbühne Berlin‹ – und der sich zuvor in Frankreich formierenden Avantgarde-Bewegung einen unmittelbaren Zusammenhang her. Der Einfluss der internationalen Avantgarde auf das deutsche Theaterfeld im Allgemeinen und die Vereinsbühnen im Besonderen steht hier außer Frage.174 Jedoch kontextualisiert Bayerdörfer die Avantgarde zugleich in der spezifisch deutschen Tradition: 171 | Ketelsen 1999, 49. 172 | Gustav Schmoller zitiert nach Ketelsen 1999, 49. 173 | Wie im zweiten Teil der Arbeit dargelegt werden wird, nimmt diese Organisierung des Feldes bereits in den 1830er- und 1840er-Jahren ihren Lauf, in diesem Zeitraum jedoch noch nicht auf der Basis von kulturpolitischen Akten, sondern von innerbetrieblichen Organisationspraktiken. 174 | Über das deutsche Theaterfeld hinaus verdeutlicht Balme den internationalen Einfluss der Avantgarde: Dabei stellt er in einem Vergleich zwischen den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland zunächst grundlegende Gemeinsamkeiten der »Bühne des 19. Jahrhunderts« als ein »Massenmedium« in Anbetracht von vier, für die untersuchten Nationen charakteristischen »Epochenmerkmale[n]« (›Urbanisierung und Liberalisierung‹, ›Gattungsproliferation‹, ›Spektakularität und Bühnentechnologie‹, ›vom Historismus zum Kunst-Thea-

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Der Joker im Schauspiel »Mit der Gründung des Théatre libre in Paris durch André Antoine und der davon ausgehenden Bewegung der ›Freien Bühnen‹, die de facto eine erste Welle von Sezessionsbühnen darstellen und in direkter Nähe zur Sezession der bildenden Künste anzusiedeln sind, erreicht das System des Bildungstheaters eine neue historische Stufe.«175

So sieht Bayerdörfer in der Gründung der ersten ›Vereinsbühnen‹ in Berlin seit 1889, die in ›geschlossener Gesellschaft‹ mit Hilfe von Mitgliedsbeiträgen ein vom preußischen Obrigkeitsstaat unabhängiges, literarisch-modernes Programm für ihre einerseits aus der Theaterszene, andererseits aus der Arbeiterschaft stammenden Mitglieder zu gestalten versuchen, eine erste Umsetzung des über das 19. Jahrhundert hinweg diskursiv vorbereiteten »Gedanke[ns] des von Sponsoren getragenen Theaters der rein künstlerischen Absichten«176. Daher verwundert es nicht, dass dieses erste ›freie‹ Modell innerhalb der sich Ende des Jahrhunderts nicht nur dynamisierenden Theater-, sondern auch modernisierenden Bürgerkultur nicht lange als »radikaloppositionell[e]«177 Position bestehen bleibt: »Bereits ab 1893 ist in Berlin der Kampf offensichtlich, der um die Rückvermittlung zwischen den Sezessionsbühnen und der offiziellen Theaterwelt der etablierten Bühnen entbrennt […]. 1894 kann Brahm dann selbst das Deutsche Theater in Berlin übernehmen, und der […] »Weber«-Skandal signalisiert, daß die ›Halböffentlichkeit‹ der Vereinsbühnen dabei ist, zur wirklichen Öffentlichkeit zu werden und damit die politischen Koordinaten des Theatersystems zu verschieben.«178

Wie Bayerdörfer jedoch selbst und in Anlehnung an Helmut Schanze bemerkt, handelt es sich bei dieser Verschiebung weniger um eine politische Erneuerung des Systems als vielmehr um die Verfestigung einer im Fundament der Institution zu verortenden, konfliktreichen und historischen Situation, welche die Moderne kennzeichnet: »Die in jenen Jahren vielfach auftretenden Konflikte mit der Zensur, die oberflächlich gesehen, dem ›anstößigen‹ Naturalismus gelten, sind de facto ›Zensurkonflikte des Mediums Theater, dessen besondere öffentliche Wirksamkeit damit ex negativo anerkannt wurde‹ – jene Konflikte, in deren Verlauf sich eine innerbürgerliche und ästhetische Opposition im Theatersystem der Zeit selbst einrichtet. Das Abdriften des alten Bildungstheaters in die Umarmung durch die wilhelminische Kulturpolitik wird durch die Sezession einer Minorität beantwortet, die erneut – und dauerhaft – zur Geltung bringt, daß der Nationalstaat […] keinen Anspruch auf konfliktlose Harmonie der Kultursphären hat […].« 179

ter‹) fest, siehe Balme 2006, 11-27. Vor diesem Hintergrund stelle die Theateravantgarde einen Bruch mit der (massen-)medialen Funktion des Theaters dar, den Balme am Beispiel und ausgehend von der französischen Theaterszene skizziert, vgl. Balme 2006, 26. 175 | Bayerdörfer 1992, 57. 176 | Bayerdörfer 1992, 58. 177 | Bayerdörfer 1992, 58. 178 | Bayerdörfer 1992, 59. 179 | Bayerdörfer 1992, 59f.

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Die Aktualität dieses Moderne-Diskurses im Hinblick auf die heutige (kultur-) politische Situation und die darin eingebetteten Debatten zur Aufrechterhaltung oder Veränderung der (dominanten) Position eines staatlich subventionierten deutschen Theatersystems zwischen künstlerischer wie struktureller Reproduktion und Transformation ist frappierend – was noch vor 1900 geschieht, nicht weniger. So findet hier die bereits angedeutete, strukturelle und künstlerische Inversion von paradoxen, einerseits links-, andererseits rechtsliberalen Kulturstaatsideen statt, und zwar in Form einer »Rück-Integration avantgardistischer Elemente in das traditionelle Bildungstheater […]; thematische Erweiterung und ästhetische Erneuerung halten Einzug um den Preis, daß die politisch brisanten Aspekte ausgeblendet bleiben.« 180

Die vielfältigen Verbindungslinien und Paradoxien, auf denen das deutsche Stadttheatersystem gründet, werden um die Jahrhundertwende sichtbar. Im Zuge der Novemberrevolution von 1918 werden sie (national-)staatlich instruiert. Denn was in der Zeit des Vormärz – im Rekurs auf die deutsche Klassik und Nationalstaatsidee des ausgehenden 18. Jahrhunderts – seine Anfänge nimmt, nämlich die Autonomisierung und Ideologisierung eines bildungsbürgerlich geprägten, kulturstaatlich motivierten Stadttheaters, nimmt mit Inkrafttreten der Weimarer Verfassung im Jahr 1919 jene strukturelle und staatlich subventionierte Gestalt an, wie sie bis heute das deutsche Stadttheatersystem kennzeichnet: So werden zu Beginn der Weimarer Republik erstens die bis dato höfischen Theater in (national-)staatlichen Besitz übergeben und als ›Staatstheater‹ den Kultusministerien überantwortet.181 Zweitens beginnt ein nachhaltiger Prozess der Kommunalisierung von bürgerlich-städtischen Theaterbetrieben. Bereits im Jahr 1919 ist die Zahl von 10 Regiebetrieben auf 24 Stadttheater im engeren Sinne angestiegen, bis 1928 existieren 58 fast vollsubventionierte Stadttheater, bis 1931/32 steigt die Zahl auf 66 städtisch getragene Bühnen an.182 Auch wenn der endgültige ›Sozialisierungsprozess‹ des deutschen Stadttheaters, das heißt die flächendeckende Kommunalisierung der bürgerlich-städtischen Betriebe, letztlich erst mit der nationalsozialistischen Kulturpolitik durchgesetzt wird,183 lassen sich die Prozesse um 1919 als Weichenstellung belegen: soziale Formierung, Verstaatlichung und Kommunalisierung bilden hierbei die sozialen und kulturpolitischen Stützpfeiler der erfolgreichen Konstitution des bis heute relativ autonomen deutschen Stadttheatersystems, das trotz seiner finanziellen und kulturpolitischen Abhängigkeiten von Ländern und Kommunen (relativ) autonom 180 | Bayerdörfer 1992, 60. 181 | Von den um 1850 bereits existierenden 19 höfischen Theatern werden heute noch 14 als Staatstheater betrieben Die ehemaligen Hoftheater in Detmold und Neustrelitz sind in Landestheater umgewidmet worden; die Theater in Coburg und Weimar werden heute städtisch subventioniert, firmieren jedoch im ersten Fall als ›Landestheater‹ und im zweiten gar noch als ›Deutsches Nationaltheater und Staatskapelle Weimar‹. Das traditionsreiche Gothaer (Hof-)Theater ist Ende des Zweiten Weltkrieges abgebrannt; Gotha besitzt seither kein von Kommune oder Land betriebenes Theater mehr. 182 | Vgl. Höpel 2007, 134. 183 | Vgl. Balme 2010, 75.

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in seinen personellen und künstlerischen Entscheidungen ist. Im Jahr 1923 beschreibt der Philologe und Kölner Theaterschaffende Paul Bourfeind in einem Aufsatz zur »Soziologie des Theaters«184 treffend dieses soziale Feld: »Das deutsche Theater ist in seiner Gesamtstruktur, so wie es sich uns heute darbietet, bestimmt durch die Organisationen der Gesamtheit aller an ihm Interessierten. Nicht der einzelne Bühnenautor, nicht der einzelne Schauspieler, Regisseur, Dramaturg oder Direktor, auch nicht das einzelne Theater bestimmt diesen inneren Aufbau, sondern die Organisationen in ihren Beziehungen zueinander geben dem deutschen Theater heute schon seine besondere Prägung und dürften bei einer weiteren Entwicklung der Verhältnisse, wie sie sich herausgebildet haben, noch in stärkerem Maße dieses verwickelte System der Beziehungen künstlerischer, wirtschaftlicher und sozialer Art beherrschen. Wenn auch die Zusammenarbeit oder der Kampf dieser Organisationen sich zunächst wirtschaftlich und sozial auswirkt, so wird […] doch auch das Künstlerische die jeweiligen Folgen dieser Beziehungen erfahren.« 185

Bourfeind wird insofern recht behalten, als dass sich die ›Kämpfe‹ im Laufe des 20. Jahrhunderts verlagern werden. Die dank hoher Subventionen erreichte relative Autonomie, wie sie das Feld spätestens seit Ende des Zweiten Weltkrieges aufweisen kann, reduziert die strukturellen Auseinandersetzungen und wird gleichzeitig die künstlerischen Positionen schärfen. Noch in den politischen Wehen und sozialdemokratischen Hoffnungen der Weimarer Republik, heißt es in einem im Deutschen Bühnen-Jahrbuch von 1920 verbreiteten Aufruf der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger mit dem Titel »Die Revolution und das Theater«186 seitens des Präsidiums verheißungsvoll: »Fort mit allem Staub und Schutt der Vergangenheit, fort mit kleinlichen engherzigen Anschauungen, fort mit der Überhebung, den Intriguen [sic!], mit der Kriecherei, den Blick nicht nur auf sich selbst, sondern immer auf das große Ganze gerichtet! Aufrecht mit freiem klaren Sinn und hellen offenen Augen wollen wir als Menschen den Menschen gegenüberstehen! In einem Freiheitsstaat aber ist das höchste Gesetz für jeden einzelnen: Unterordnung und Einordnung in das Ganze.« 187

Diese Metaphorik zwischen (Kunst-)Freiheit und Unterordnung im Hinblick auf die ›höhere Idee‹ der Kunst, die nicht weniger paradox erscheint als das (Diskurs-) System, in dem sie entsteht, prägt während der Weimarer Republik die Auffassung und Aufgabe der städtischen Theater-Kultur, wie sie nicht nur von den Theaterschaffenden (mal reproduktiv, mal transgressiv) ausgeführt, sondern seit 1919 den deutschen Städten übertragen ist. Am konkreten Beispiel der nachfolgend rekonstruierten Genese des Bochumer Stadttheaters lässt sich dieser Prozess der Kommunalisierung bis hin zu einer Infiltrierung der künstlerischen Position des Intendanten Saladin Schmitt geradezu beispielhaft nachvollziehen. Dabei liefert der Fall zugleich exemplarisch den Beleg für eine nicht nur paradoxe, sondern auch problematische Grundsituation. 184 | Bourfeind 1923, 175-188. 185 | Bourfeind 1923, 175. 186 | Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1920 zitiert nach Lennart 1996, 230. 187 | Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1920 zitiert nach Lennart 1996, 230.

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1.3 D as S tadt the ater B ochum : V om K neip the ater zur V orzeige anstalt der N ation Das Beispiel ›Bochum‹ scheint allein deshalb zum Zweck der Veranschaulichung der Paradoxie des deutschen Stadttheatersystems geeignet zu sein, da nicht allein mit dem Schauspielhaus, sondern insbesondere mit der Stadt ein (widersprüchliches) Bild imaginiert werden kann. Wer an Bochum denkt, denkt – vermutlich – den Ruhrpott mit, denkt an den VfL, an Grönemeyer, vielleicht an die Jahrhunderthalle oder das Bochumer Bermudadreieck, eher an Starlight Express und weniger an Sprechtheater. Wer das Schauspielhaus Bochum kennt, sieht vielleicht den langgezogenen Theaterbau an der Königsallee, ein rund gebautes Foyer und Kronleuchter vor sich, erinnert sich eventuell an seine über die Theaterszene hinaus bekannten Intendanten – etwa Claus Peymann, Peter Zadek oder Leander Haußmann – oder Schauspieler/innen wie Gert Voss, Kirsten Dene, Hannelore Hoger, Rainer Werner Fassbinder oder Ulrich Wildgruber, um nur wenige zu nennen, die leicht um weitere, aus Film und Fernsehen bekannte Akteur/innen auch aus dem Ensemble unter der Intendanz von Anselm Weber angereichert werden könnten. Im Folgenden soll es aber (zunächst) nicht um gegenwärtige Geschichte(n),188 sondern um die Genese des Bochumer Stadt- und Ensembletheaters als einen kulturpolitischen und künstlerisch relevanten Aktanten im sozialen und kulturellen urbanen Raum des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gehen. Wie der Bochumer Literaturwissenschaftlicher Uwe Ketelsen in seiner detaillierten, die kulturpolitischen Zusammenhänge reflektierenden Monografie über Die Geschichte des Bochumer Schauspielhauses konstatiert, sei im vorliegenden Fall »das Theater als eine bürgerliche Kulturinstitution in einer wesentlich nicht-bürgerlichen sozialen Umwelt gegründet worden«189 – ein soziales Faktum, mehr noch ein Narrativ, das in Fremd- und Selbstbeschreibungen von Stadt und Stadtgesellschaft wiederkehrt. So resümiert Ketelsen: »Die Floskel von der ›schwer arbeitenden Bevölkerung‹ an der Ruhr findet sich zumindest bis in die 60er Jahre hinein in allen Reden, die das hiesige Theater in seiner Besonderheit charakterisieren wollen.«190 Als lokaler ›Theaterforscher‹ scheint er selbst das Spezifikum dieser Bühne weniger im Standort als in der sich daraus ergebenden Konsequenz zu erkennen, nämlich in einer kulturpolitischen Funktionalisierung des städtischen Theaters, die in einem weiteren Schritt zu seiner Subventionierung und Kommunalisierung führt: »Da das Bochumer Theater seine Existenz aufgrund seines eher exotischen Standorts in erster Linie bewußten (kulturpolitischen) Entscheidungen und erst in zweiter Linie institutionellem Selbstlauf verdankt(e), ist ihm deutlich ein Kulturprogramm eingeschrieben. […] Mochte das (Bochumer) Stadttheater unter ästhetischen Gesichtspunkten auch ein Anachronismus sein, es erfüllte in den Augen deren, die es trugen, dennoch eine bedeutsame Funktion; überspitzt könnte man vielleicht sogar sagen, es erfüllte diese Funktion gerade, 188 | Im dritten Teil der vorliegenden Arbeit wird der ›Tatort Bochum‹ als gemeinsamer Arbeitsort des Theaterduos Vontobel/Schulz in den Jahren 2011 bis 2017 erneut aufgegriffen, jedoch nicht unter kulturpolitischer, sondern ausschließlich ›akteurszentrierter‹ Perspektive. 189 | Ketelsen 1999, 21. 190 | Ketelsen 1999, 22.

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Der Joker im Schauspiel weil es ästhetisch überholt war. Sein Aufstieg als eine Institution der öffentlichen Fürsorge war jedenfalls darauf gegründet. Die konzeptionellen Voraussetzungen für diesen Erfolg wurden in den Jahrzehnten um 1900 geschaffen.« 191

Zwar konstituiert sich im selben Zeitraum innerhalb der Bochumer Stadtgesellschaft – im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung – eine breite bürgerliche Schicht, die jedoch in weiten Teilen dem Industrie- sowie Klein- und weniger dem Bildungsbürgertum zuzuordnen ist.192 Umso erstaunlicher scheint es, dass die städtische Bühne in wenigen Jahren nach ihrer Eröffnung unter dem Namen ›Neues Stadttheater‹ 1919 regelrecht zu einer Vorzeigebühne der Weimarer und später der bundesdeutschen Republik avanciert. Im Hinblick darauf deckt der Theaterwissenschaftler Jörg Wiesel in seiner Dissertation Zwischen König und Konstitution. Der Körper der Monarchie vor dem Gesetz des Theaters193 am Beispiel des ›Bochumer Stils‹194 unter der ersten Intendanz Saladin Schmitts – und mit einem kritischen Blick auf »die Urszene des bundesdeutschen Regietheaters nach 1968«195 am Beispiel von Peymanns Torquato Tasso-Inszenierung in Bochum – die Nutzbarmachung von im ursprünglichen Sinne monarchischen und homogenisierenden Ideen auf, die er im Rekurs auf die Kunstphilosophie und Schauspieltheorie Heinrich Theodor Rötschers sowohl diskurs- als auch inszenierungsanalytisch rekonstruiert.196 Die eigentliche Besonderheit des Bochumer (Bildungs-)Theaters innerhalb des Feldes des deutschen Stadttheaters kann demzufolge tatsächlich weniger in der ›Exotik‹ seines Standortes inmitten des Ruhrgebietes und einer sich aus heimischen Industriearbeiter/innen und überwiegend hinzugezogenen Industriebürger/ innen zusammensetzenden Stadtgesellschaft, als vielmehr in seiner kulturpolitischen Inkorporierung und seiner Spezialisierung auf das Sprechtheater verortet werden, welches sich zugleich als ein dramatisches, das heißt ordnungs- und identitätsstiftendes Dispositiv tradiert. Daher zeichnen die nachfolgenden Unterkapitel die Genese des Stadttheaters Bochum in zwei genealogischen Linien nach: erstens in seiner alltagspraktischen und später kulturpolitischen, diskontinuierlichen Entwicklung hin zu einem städtisch getragenen Theater (1.3.1) und zweitens in der Re/ produktion eines dramatischen Dispositivs im Zusammenhang mit der Gründung einer Sprechtheaterbühne (1.3.2). Mit einer Anmerkung Ketelsens leite ich in die konkreten Ausführungen über:

191 | Ketelsen 1999, 10f. 192 | Jörg Wiesel differenziert das sich im 19. Jahrhundert politisch, sozial und kulturell etablierende, heterogene Bürgertum in Anlehnung an die Bürgertumsforschung Jürgen Kockas nach Bildungsbürgern, Industriebürgern und Kleinbürgern, siehe Wiesel 2001, 277. Diese Unterscheidung wird insbesondere in jenem als ›nicht-bürgerlich‹ klassifizierten Kontext des Ruhrgebietes – und speziell Bochums – eine tragende Rolle bei der Entwicklung und Einrichtung eines städtisch-subventionierten Theaters spielen, wie die weiteren Ausführungen darlegen werden. 193 | Wiesel 2001. 194 | Vgl. Ketelsen 1999, 119-128. 195 | Wiesel 2001, 256-262, siehe auch Wiesel 2001, 277-292. 196 | Siehe Wiesel 2001, 251-273.

Teil 1: Zur Genese des Stadttheaters »Das städtische Theater in Bochum gibt ein gutes Exempel für das ab, was in Deutschland etwa naserümpfend ein ›Stadttheater‹ genannt wird. Und ein ganz durchschnittliches ist es ja auch tatsächlich nicht. Seine Betreiber (und auch seine Liebhaber) haben es (fast) immer als etwas Besseres eingeschätzt; sie griffen nach dem Lorbeer des Höheren, und teilweise auch durchaus mit Erfolg. Insofern ist das städtische Theater in Bochum vielleicht eher ein Modell als ein Exempel.« 197

1.3.1 Zur Genese des (Neuen) Stadttheaters in Bochum Der Fall des Schauspielhauses Bochum mag in Bezug auf seine kulturpolitische wie künstlerische Entwicklung vor allem für diejenigen Industrie- und Arbeiterstädte modellhaft sein, die sich ihrer eigenen Geschichte nach nicht unmittelbar auf die Kunst- und Finanzförderung eines bildungsbürgerlich und wirtschaftlich starken Publikums stützen können.198 Vor diesem Hintergrund lässt sich das Institutionalisierungs- und Autonomisierungsbestreben der Bochumer Stadtgesellschaft im Kontext einer sich im ausgehenden 19. Jahrhundert etablierenden Theaterkultur durchaus im Sinne einer Vorbildfunktion verstehen – diese semantische Bedeutung legt zumindest Ketelsens Gegenüberstellung von Exempel versus Modell nahe. Zugleich demonstriert das (Neue) Stadttheater Bochum hinsichtlich seiner theaterpraktischen und städteräumlichen Umbrüche aber auch exemplarisch die Diskontinuitäten seiner Genese: von einem Kneiptheater hin zu einem (voll-) subventionierten Stadttheater mit eigenem Spielbetrieb und Ensemble. Anhand der Einrichtung dieser beiden Größen ist die Gründung des Bochumer Schauspielhauses – als Stadttheater im engeren Sinne – auf den 1. April 1919 datiert, an welchem »ein städtisches Schauspielensemble unter Vertrag genommen wurde beziehungsweise am 15. April unter der Leitung von Dr. Saladin Schmitt […] den Spielbetrieb aufnahm«199. Jedoch müssen Stadt und Theater respektive deren tragende Akteur/innen bis zu diesem Tag einen weiten und holprigen Weg gehen, der im Rekurs auf die wesentlichen Stationen der Theater- und Stadtgeschichte nach Ketelsen nachgezeichnet werden soll. Wie bis ins 19. Jahrhundert in der deutschen ›Provinz‹ üblich,200 finden Theateraufführungen vor der Gründung eines eigens hierfür eingerichteten Baus auch 197 | Ketelsen 1999, 9. 198 | Vgl. etwa auch die Genese des städtischen Theaterbetriebes in Chemnitz, vgl. Höpel 2007, 170-183. Ein kurzer Blick auf den ›Fall Wolfsburg‹ (der stadt- und theaterhistorisch ungleich jünger ist; Wolfsburg selbst ist erst 1938 gegründet worden, das Theater Wolfsburg 1973) zeigt, dass sich die Tropen des kulturpolitischen Diskurses bis in unsere Tage reproduzieren. So heißt es 2008 in einer Laudatio anlässlich des 35-jährigen Jubiläums des Wolfsburger Theaters, dass mit dessen Bau »nicht nur das Wolfsburger Theaterleben eine neue Dimension und unsere Stadt ein einmaliges Stück Architektur [gewann], sondern die Identität Wolfsburgs als Stadt erreichte eine seit Jahren gewünschte höhere Stufe«, siehe http://theater.wolfsburg.de/das-theater/geschichte/. 199 | Ketelsen 1999, 21. 200 | In Anbetracht der Einwohner/innenzahlen lässt sich Bochum bis ins ausgehende 19. Jahrhundert berechtigterweise der deutschen Provinz zuordnen: Im Jahr 1871 verzeichnet die Stadt 21.192 Einwohner/innen, davon sind nur 7.026 gebürtige Bochumer/innen, vgl. Ketelsen 1999, 34 (Fußnote 46); auch 1875 ist die Zahl gerade mal auf 25.174 Personen

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in Bochum primär in Wirtshaussälen mit einfacher Ausstattung, dafür meist mit Verköstigung zum geselligen Vergnügen statt. In den Jahrzehnten zwischen 1830 und 1884 werden in Bochum etwa im Kaltheuners Saal am Schwanenmarkt, im Wirtssaal Velten gen. Wulf, im Saal Limbrock in der Bongardstraße 14 und in Scharpenseels Bierhalle Vorstellungen diverser Wandertruppen gegeben.201 Diese Praxis nimmt mit der Gewerbefreiheit im Jahr 1869 zu, vor allem in den ländlichen Regionen wie etwa im Ruhrgebiet, wo eine Vielzahl von dergestalt bewirtschafteten Bühnen entsteht.202 Folgt man Ketelsen, bilden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht Bürger- und Theaterkultur, sondern Theater- und Kneipenkultur für den Fall ›Bochum‹ eine produktive Einheit, schließlich gäbe es »während der 70er/80er-Jahre unter den Kneipen (deren Zahl übrigens zwischen 1859 und 1870 von 46 auf 270 gestiegen war!) eine ganze Reihe, die mit Theater und anderen Vergnügen ihr Publikum anzulocken versuchten«203. Hinsichtlich der Genese des Bochumer Stadttheaters im engeren Sinne spielt die Gaststätte Limbrock des Wirts Bernhard Limbrock eine bemerkenswerte Rolle: Dieser ersucht im Jahr 1870 die Bezirksregierung in Arnsberg zum einen um eine Konzession, zum anderen erfolgreich um die Umbenennung seines Kneiptheaters in ›Stadttheater Bochum‹, das erste dieses Namens, das jedoch weit davon entfernt ist, der damit verbundenen Idee eines bürgerlichen Bildungstheaters oder gar einem repräsentativen Stadtbau zu entsprechen. Es muss wohl »einigermaßen desolat gewesen sein, jedenfalls führte […] der durchaus unternehmerisch gesonnene [Prinzipal] Fritz Rüthling gegenüber der Stadt bewegte Klage«204. Auf dieses Unternehmen, das zudem kaum Publikum zieht, lässt sich in der Folge kaum eine Schauspieltruppe länger als eine Saison ein. Zwischen 1870 und 1884 beherbergt das Stadttheater Bochum in der Gaststätte Limbrock dementsprechend zwölf verschiedene Direktionen, woraufhin ein Bochumer Chronist im Jahr 1901 feststellt: »Die Directoren, die einmal hier waren, kommen meist nicht wieder, da sie nicht auf ihre Kosten kommen.«205 Diese Benennung und Berufung einer primär dem leiblichen Genuss dienenden, eher proletarischen statt bildungsbürgerlichen Einrichtung zum ›Stadttheater‹ macht auf exemplarische Weise die Unschärfe eines Begriffes deutlich, wie er noch im ausgehenden 19. Jahrhundert zwischen den Städten, Stadtoberen, Theatern und Theaterproduzierenden zirkuliert. Was die Bezeichnung ›Stadttheater‹ in ihrer semantischen und praktischen Ausrichtung beinhaltet, bleibt in der Phase ihrer Institutionalisierung weitgehend unbestimmt. Wie bereits in Unterkapitel angestiegen. Ein deutlicher Anstieg lässt sich nach der Jahrhundertwende feststellen: Im Jahr 1905 ist Bochum zu einer 118.464-köpfigen Stadt angewachsen; in den Folgejahren nimmt die Zahl auch weiterhin stark zu. Das Deutsche Bühnen-Jahrbuch von 1920 gibt etwa im Beitrag zu »Bochum, I. Stadttheater« 180.000 Einwohner/innen an, siehe Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1920, 317. 201 | Siehe Ketelsen 1999, 13. 202 | Siehe Ketelsen 1999, 28f. Im Falle des Wirtshaustheaters holen die Gastwirt/innen zunächst eine Spielgenehmigung ein, bevor sie ihre Säle für eine oder mehrere Spielzeiten an Theaterprinzipal/innen und deren Truppen verpachten. 203 | Ketelsen 1999, 29. 204 | Ketelsen 1999, 29. 205 | Max Seippel zitiert nach Ketelsen 1999, 30.

Teil 1: Zur Genese des Stadttheaters

1.1.1 dargelegt, fungiert der Terminus dabei besonders im Zuge seiner kulturpolitischen Indienstnahme als ein offener und – mit Koselleck gesprochen – beweglicher Begriff.206 Es verwundert daher nicht, dass dem Limbrock’schen Stadttheater trotz einer Sanierung im Jahr 1881 drei Jahre später »der privilegierende Titel entzogen«207 wird. Ob diese Aberkennung tatsächlich den widrigen Umständen geschuldet gewesen ist, bleibt fraglich, denn noch im selben Jahr wird der Titel durch eine städtische Konzession an ein konkurrierendes Unternehmen weitergegeben: Am 3. September 1884 hebt das ›Stadttheater‹ in der Rottstraße 29 in einem etwa 1000 Zuschauer/innen fassenden Theatersaal seinen Vorhang, welcher inmitten eines Gebäudekomplexes zwischen den Räumlichkeiten der Gastwirtschaft Zum Deutschen Haus durch Bochumer Privatbürger (den Staatsanwalt zur Nedden und den Baumeister Sontag) finanziert worden ist.208 Auch das zweite Projekt dieser Art erhält in den ersten Jahren seines Bestehens noch keine Zuschüsse seitens der Stadt Bochum, doch schaltet sich diese als »Konzessionsbehörde«209 – anders als zuvor – in das Unternehmen ein: Einerseits stellt sie dem städtischen Theater in der Rottstraße das Sicherheitspersonal (einen Feuerwehrmann und zwei Polizisten) für die Dauer der Aufführungen zur Verfügung, andererseits übt sie mittels der Festlegung von Pachtbedingungen und anderen Auflagen (wie der Verpflichtung, ein breites Repertoire zu bieten sowie Bochumer Theatervereine mehrmals wöchentlich dort auftreten zu lassen) direkten Einfluss auf die Theaterdirektionen und deren jeweiliges Programm aus. Dass sich die Idee des Stadttheaters – verstanden als kulturelles und symbolisches Kapital einer bürgerlichen Stadtgesellschaft – in weiten Teilen des Ruhrgebietes bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert sowohl städtebaulich als auch kulturpolitisch institutionalisiert und materialisiert hat, zeigt ein Seitenblick auf die Nachbarstädte Düsseldorf und Essen: In der Residenzstadt Düsseldorf, wo zu Ehren ihres Kurfürsten Karl Theodor bereits 1747 das Gießhaus zu einem höfischen Theater umgebaut worden ist und die dank einer Schenkung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. im Jahr 1818 einen prachtvollen Theaterneubau am Marktplatz erhält, wird 1873 mit dem den italienischen Renaissancestil imitierenden Bau eines ›neuen Stadttheaters‹ im Hofgarten (wo heute die Deutsche Oper am Rhein zu finden ist) begonnen, welcher 1875 eröffnet wird. Ebenfalls in klassizistischem Stil wird in Essen 1892 das als Schenkungsakt des Industriellen Friedrich Grillo erbaute und nach seinem Tod in städtischen Besitz übergehende ›GrilloTheater‹ gegründet. Wie ein Stadttheater aussehen und was es Stadt und Bürger/ innen – finanziell, kulturell und symbolisch – wert sein kann, tragen die bildungsbürgerlich und/oder wirtschaftlich starken (Konkurrenz-)Städte Essen und Düsseldorf damit schon vor der Jahrhundertwende zur Schau. Wie Frank Möller in seiner Untersuchung zum Bürgertheater im 19. Jahrhundert analysiert,210 dienen gerade jene äußeren Marker, wie eine städtisch-räumliche Infrastruktur und eine architektonisch-repräsentative Bauweise der Gründerzeit, als Zeichen eines (bildungs-) kulturellen Wohlstands. Dementsprechend negativ fällt das Qualitätsurteil nach 206 | Vgl. Koselleck 2002, 38 und Kapitel 1.2 der vorliegenden Arbeit. 207 | Ketelsen 1999, 30. 208 | Siehe Ketelsen 1999, 34-36. 209 | Ketelsen 1999, 36. 210 | Siehe auch Kapitel 1.2.1.

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bildungsbürgerlichem Maßstab im Fall Bochum aus: Die ersten Bochumer Unternehmungen, ein Stadttheater in der Bongardstraße und später in der Rottstraße zu gründen, werden selbst noch in den Historiografien des ausgehenden 20. Jahrhunderts durchweg als rein kommerzielle Unterfangen beschrieben. So widmet sich Susanne Brachetti in einer 1996 veröffentlichten Publikation explizit dem »Geschäftstheater in Bochum während des ausgehenden 19. Jahrhunderts«211 und auch Ketelsen schlägt unter Rückgriff auf die dualistische Diskursfigur (des Bildungstheaters) zwischen Kunst und Kommerz vor, das Bochumer Theaterwesen jener Jahre »– kulturgeschichtlich gesehen – mehr in den Zusammenhang des Unterhaltungs- und Amüsierbetriebs in Industriegebieten zu rücken als in den von – wie auch immer zu verstehender – Kunst«212 . Betrachtet man den Beginn einer langsam einsetzenden Subventionierung des Stadttheaters in der Rottstraße ab der Spielzeit 1900/01, müssen sich die Bochumer Stadtoberen über dieses (bildungs-)kulturelle Defizit ihrer Stadt nach innen sowie außen – besonders in Konkurrenz zu den benachbarten Revierstädten – bewusst geworden sein: Denn in diesem Zuge diagnostiziert Ketelsen hinsichtlich der Bochumer Kulturpolitik um die Jahrhundertwende einen »Mentalitätswandel«213, dessen Ursprünge er in der sozialpolitischen (Gegen-)Bewegung im Kaiserreich verortet und dessen Effekte er wie Balme für die Kommunalisierung der Stadttheater nach 1919 verantwortlich zeichnet.214 Dieser Wandel schlägt sich in Bochum in ersten finanziellen Zuschüssen und einer sich verändernden kulturpolitischen Debatte bezüglich der Funktion und Position des Stadttheaters innerhalb des Bochumer Sozialraumes nieder. Dabei durchziehen zwei Argumentationslinien den Diskurs, wie er sowohl von Seiten der Stadtoberen als auch der Theaterschaffenden geführt wird. Das erste Argument funktionalisiert das Stadttheater für die Bochumer Stadtgesellschaft im Sinne eines (bildungs-)kulturellen Kapitals: In (s)einer sozialen Funktion habe es »die mittleren und die hier besonders stark vertretenen niederen Klassen«215 in eine wachsende Bürgergesellschaft zu integrieren, wie etwa Oberbürgermeister Hahn bei seinem Gesuch im Regierungspräsidium Arnsberg 1895 argumentiert. Die zweite Linie schlägt indirekt aus ebendieser Rechtfertigung Profit, indem sie ein solches »Volksbildungsinstitut«216 in seiner symbolischen Funktion für die Kommune erschließt: »[D]as Theater diene der städtischen Repräsentation«217, begründet in dieser Weise der Theaterunternehmer Carl Sethe 1897 mit der »kommunalen Imagepflege«218 seinen Antrag bei der Stadt auf Subventionen. Beide Argumentationslinien treffen sich in einem – für die Autonomisierung und Legitimierung des staatlich subventionierten Stadttheatersystems bis 211 | Brachetti 1996. 212 | Ketelsen 1999, 31. 213 | Ketelsen 1999, 42. 214 | Vgl. Balme 2010, 73-76. 215 | Oberbürgermeister Hahn zitiert nach Ketelsen 1999, 43. 216 | Voigt 1925, 406. Im selben Monatsheft führt Erik Reger diesen Gedanken in seinem Artikel »Bühnenkultur im Ruhrgebiet« wie folgt aus: »Es handelte sich darum, die unruhig gemischte Bevölkerung, deren Existenz für die Gesamtheit des Volkes immer mehr zur Lebensnotwendigkeit wurde, in diese Gemeinschaft einzugliedern« (Reger 1925, 463). 217 | Carl Sethe zitiert nach Ketelsen 1999, 43. 218 | Ketelsen 1999, 46.

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heute – entscheidenden Punkt: nämlich in einer materialisierten, zweckrationalen Kunstauffassung: Dementsprechend wird ›Theaterkunst‹ unter dieser (kultur-)politischen Perspektive – wie sie noch gegenwärtige Debatten prägt – einerseits in die Pflicht der Kulturvermittlung genommen, andererseits als symbolisches Kapital in kommunalen respektive staatlichen Besitz gestellt. Beide Argumente für ein städtisches Theater sind in der die Genese des Stadttheaters im 19. Jahrhundert vorantreibenden, gespaltenen Bürgerkultur verwurzelt: So dient die integrative Funktionalisierung eines kommunalen Bildungstheaters insbesondere den Interessen eines egalitär gesinnten Bürgertums, während die Konzeption eines repräsentativen und autonomen Kunsttheaters eher distinktiven Abgrenzungspraktiken einer elitären Bürgerlichkeit entspricht. In der wechselseitigen Verstärkung der Argumente führen sie in der Folge de facto zur Realisierung eines Bochumer Regiebetriebes, wie er sich jedoch erst nach Ende des Ersten Weltkrieges konstituieren wird. Zunächst beginnt der Prozess der Kommunalisierung eines Bochumer Stadttheaters ab 1900 in kleinen Schritten, angefangen bei einem Gaskosten-Nachlass für das Stadttheater in der Rottstraße und einem – im Vergleich zu anderen TeilTrägerschaften219 – minimalen Direktzuschuss über 1000 Mark, der für die Spielzeiten von 1903 bis 1908 auf 4500 Mark pro Spielzeit aufgestockt wird. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang aber vielmehr der Zahlungsstopp zwischen 1908 und 1911, genau in jenen Jahren, in denen ein weiteres (Groß-)Projekt, »das nicht nur für Bochum, sondern für das Umland einen Anziehungspunkt abgeben«220 soll, verwirklicht wird und in welches sich selbst die Städtische Sparkasse – die noch heute als Werbepartner des Schauspielhauses firmiert – »mit hohen Hypotheken«221 einkauft. Als »vornehmstes Variété Westfalens und des Rheinlandes«, wie es in einer Werbeanzeige von 1908 heißt,222 eröffnet am 10. Oktober 1908 an der Ecke Königsallee und Fürstenstraße223 unter dem Namen Apollo-Theater im Besitz einer gleichnamigen Aktiengesellschaft ein im Jugendstil erbauter, repräsentativer Neubau, der auch innenarchitektonisch mit Blick auf »Foyer, Parkett und Logen […] an vornehmer Eleganz nichts zu wünschen übrig«224 lasse, wie es im Führer durch Bochum und Umgegend aus dem Jahr 1908 heißt. Obwohl Oberbürgermeister Graff bei seiner Eröffnungsrede den Nutzen dieser Stätte nicht nur zur Unterhaltung nach »des Tages Arbeit«225, sondern auch zur Bildung und Erziehung betont, enthält sich die Stadt zunächst einer finanziellen Teilhabe an diesem Großprojekt. Folglich trägt die private Aktiengesellschaft die alleinige Verantwortung für den circa 1.500 Zuschauer/innen fassenden Theaterneubau am heutigen Standort des Schauspielhauses, die – in Anbetracht der hohen Gebäude- und Personalkosten wenig verwunderlich – bereits im März 1909 Konkurs anmelden muss.226

219 | Vgl. etwa die Auflistung einer Auswahl städtischer Theaterzuschüsse aus den Jahren 1899 bis 1912 in Lennartz 1996, 216. 220 | Ketelsen 1999, 58. 221 | Ketelsen 1999, 59. 222 | Verkehrsverein e.V. Bochum 1908, I. 223 | Die Fürstenstraße wird 1955 in die heutige Saladin-Schmitt-Straße umbenannt. 224 | Verkehrsverein e.V. Bochum 1908, 43. 225 | Fritz Graff zitiert nach Ketelsen 1999, 60. 226 | Siehe Ketelsen 1999, 61.

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Betrachtet man die im Kontext des Gründerbooms hochmoderne Fassade sowie die günstige Lage des Apollo-Theaters in direkter Nähe zum damaligen Hauptbahnhof und inmitten des neu angelegten, einer jungen Schicht Bochumer Industriebürger/innen bestimmten Stadtgebietes Ehrenfeld bietet es infrastrukturell optimale Bedingungen, um zu einem neuen Stadttheater zu avancieren – diese Überlegung scheint wohl auch die Stadtoberen umgetrieben zu haben. Aber erst als sich das private Unternehmen nicht nur organisatorisch, sondern nach Einrichtung einer städtisch geführten Theaterkommission unter der Leitung von Stadtrat Wilhelm Stumpf auch inhaltlich neu aufzustellen beginnt, wird am 17. September 1910 – zusätzlich zum Stadttheater in der Rottstraße – das sogenannte Neue Stadttheater eröffnet. Zwar bleibt der Bau indes in privatem Besitz des Bauunternehmers Clemens Erlemann,227 doch wird es in den folgenden Spielzeiten mit einer ungleich höheren Summe von anfangs 39.000 Mark bezuschusst 228 – eine für Bochum relativ hohe Summe, welche die Stadt für »kommunale Anlagen [zur Verfügung stellt], wenn Nützlichkeit und Wohlfahrtszweck klar vor Augen stehen«229, so heißt es 1908 im Allgemeinen in jenem bereits erwähnten Führer durch Bochum und Umgegend, der wohl nicht zufällig in der Buchdruckerei Wilhelm Stumpf gefertigt worden ist, ebenjenes Kulturdezernenten, der laut Ketelsen »fast ein halbes Jahrhundert die Bochumer Kulturpolitik administrierte«230. Zudem übernimmt seit der Spielzeit 1912/13 die Stadt selbst eine tragende Rolle als Pächterin: Sie kauft sich in das Theater-Geschäft ein, das sie unter hohen Auflagen vertraglich in die Hände des bereits engagierten, künstlerischen Leiters Heinrich Wilhelm Birrenkoven gibt.231 Jedoch muss der Gastspielbetrieb aufgrund von Verzögerungen am Umbau des Neuen Stadttheaters direkt auf andere, provisorische Spielstätten ausweichen, wobei weder der Spielbetrieb noch die Baumaßnahmen in gewünschtem Maße Fahrt aufnehmen, sodass sich zum einen das Ehepaar Erlemann als Besitzer, zum anderen die Kommunalverwaltung Bochums als Pächterin 1914 gezwungen sehen, das (Neue) Stadttheater vollständig gegen weitere 4.000 Mark in die Verantwortung und in den Besitz der Stadt zu übergeben.232 Nach einer weiteren Umbauphase von eineinhalb Jahren (und der Aufgabe des Stadttheaters in der Rottstraße im selben Jahr) eröffnet schließlich am 30. Dezember 1915 mit einem Schiller-Gastspiel des Düsseldorfer Schauspielhauses das Stadttheater Bochum im engeren verwaltungsrechtlichen Sinne: Es ist zu einem 227 | Siehe Ketelsen 1999, 57-64. 228 | In der Spielzeit 1913/14 beträgt die Subvention bereits 50.000 Mark; im Vergleich zu anderen (Nachbar-)Städten ist diese Summe zwar weiterhin als gering einzuschätzen, im Bochumer Kontext bedeutet sie jedoch einen deutlichen Sprung und Einschnitt zu den vorhergehenden Leistungen. Im Vergleich: Das Grillo-Theater in Essen erhält 1912 einen Zuschuss über 260.463 Mark, das Düsseldorfer Hoftheater 282. 254 Mark, vgl. Lennart 1996, 216. 229 | Verkehrsverein e.V. Bochum 1908, 29. 230 | Ketelsen 1999, 51. 231 | Die Auflagen betreffen etwa die Terminierung der Vorstellungen (täglich eine Vorstellung und sonntags gleich zwei), indirekt auch das Programm (dieses musste in der jeweils vorhergehenden Woche der Theaterkommission vorgelegt werden) sowie die Ausstattung, so sollte Birrenkoven einen Kostüm-und Requisitenfundus über 30.000 Mark anlegen, siehe Ketelsen 1999, 62. 232 | Siehe Ketelsen 1999, 62.

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symbolischen wie ökonomischen Kapital der Stadt geworden, das als solches in den Kriegsjahren zwischen 1915 und 1918 nun auch von Zuschauer/innen-Seite angenommen wird. So kann es in der Spielzeit 1916/17 eine Auslastung von 70  % verzeichnen.233 Indes wird der Gastspielbetrieb aus Schauspiel- sowie Opernvorstellungen zu weiten Teilen aus den Nachbarstädten Düsseldorf und Essen unterhalten. Abbildung 4: Stadttheater Bochum (1915)

Aus: Ketelsen 1999, 63

Um auch jenes soziale wie identitätsstiftende Kapital zu erwerben und anzuhäufen, welches das deutsche Stadttheatersystem als eine Re/produktionsmaschine nicht nur von Kunst, sondern auch von Künstler/innen im Positiven wie Negativen auszeichnet, fehlt dem Bochumer Theater nur noch ein letzter, entscheidender Schritt – und zwar die Einsetzung eines eigenen, längerfristig (wieder-)erkennbaren Ensembles und einer das Stadttheater Bochum lokal wie überregional repräsentierenden ›Führerfigur‹. Wie stark die Idee der Identitätsbildung von Stadt und Stadttheater dabei auch Jahre später noch an die Idee der Repräsentationspolitik des Zweiten Kaiserreichs gekoppelt ist, offenbart symptomatisch eine Perspektive auf das Bochumer Stadttheater, die hier seitens des Fachkritikers Albert Schulze Vellinghausen im Rahmen der Neueröffnung der Kammerspiele im Jahr 1966 – kulturpolitisch infiltriert – vertreten wird: So gibt es ihm zufolge »für diese Stadt Bochum eine vollkommen anonyme, gesichtslose Frühzeit, und es gibt die Gegenwart. Unsere Zeitrechnung, unsere Gegenwart [wird] hier datiert ›seit‹ Saladin Schmitt«234. Denn mit der Berufung des Oberspielleiters Schmitt, der seit 1915 ein Fronttheater und eigenes Ensemble in Brüssel sowie daraufhin von 1919 bis 1949 das Bochumer Schauspielhaus in seiner Funktion als Intendant leitet, wird zugleich – und in der Bochumer Theatergeschichte erstmalig – ein stehendes Ensemble fest etabliert. Zudem wird die zwar ökonomisch-pragmatisch motivierte, 233 | Siehe Ketelsen 1999, 73. 234 | Vellinghausen 1969 [1966], 102.

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jedoch das Theaterhaus zukünftig künstlerisch prägende Entscheidung für eine Sprechtheaterbühne getroffen.235 Das Schauspielhaus Bochum nimmt am 15. April 1919 mit einem 27-köpfigen Ensemble seinen regelmäßigen Spielbetrieb auf. In Bezug auf die rasche Einrichtung des Regiebetriebes konstatiert Ketelsen: »Ein solcher Blitzstart war nicht nur möglich, weil das Schauspielhaus einen eingespielten technischen Apparat besaß, sondern vor allem, weil das Ensemble nicht neu zusammengestellt werden mußte – es war nämlich im Kern die Brüsseler Truppe! Von den 15 Bochumer Schauspielern waren bereits acht am Theater der ›Bildungszentrale‹ in Brüssel beschäftigt gewesen, von den zwölf Schauspielerinnen immerhin vier. Dabei brachte Schmitt vor allem die Stützen mit: Viktor Ahlers als Charakterdarsteller, Willi Busch als Jugendlichen Helden, Terka Csillag als Charakterschauspielerin und Magda Reichardt als Naive. Viele blieben lange an der Ruhr, oft über Jahrzehnte.« 236

Damit bringt Schmitt nicht allein ein professionelles und in Teilen schon eingespieltes Schauspiel-Ensemble nach Bochum, sondern auch Konstanz sowie eine klare künstlerische Position. Mit diesem ›Besitz‹ – unter administrativer Verantwortung des Bochumer Magistrats, unter künstlerischer Leitung Saladin Schmitts und ausgestattet mit einem festen Ensemble sowie 26 weiteren Mitarbeiter/innen237 – tritt »die Stadt Bochum […] in die illustre Gesellschaft der vollgültigen Theaterorte ein«238. Ob der vorläufige End- und zugleich Ausgangspunkt der Bochumer Stadttheatergeschichte mit Einrichtung eines eigenen Ensembles im Jahr 1919 einen ›späten‹ Zeitpunkt innerhalb der gesamtdeutschen Theaterlandschaft darstellt, wie Ketelsen quasi teleologisch die lokale Theaterentwicklung beurteilt,239 lässt sich hier nur aus der Perspektive einer linearen Geschichtsschreibung fragen und beantworten. Vor dem Hintergrund der skizzierten, diskontinuierlichen Institutionalisierung des Bochumer Stadttheaters von einem Kneiptheater zu einer Bildungsanstalt, kennzeichnet das Jahr 1919 vielmehr einen historischen Bruch innerhalb der deutschen (Stadt-)Theatergeschichte: Denn mit der Weimarer Verfassung wird der sich im 19. Jahrhundert vollziehende kulturelle Wandel zu einem (kultur-)politischen Gesetz. Es beginnt, wo nicht in Ansätzen bereits vollzogen, die 235 | Nach Ketelsen ist die Konzentration auf das Schauspiel im engeren Sinne bei der Gründung des Schauspielhauses Bochum unter der Intendanz von Saladin Schmitt eine rein finanzielle Entscheidung, die in den Jahren zwischen 1920 bis 1934 zunächst durch eine »Theaterehe« mit Duisburg abgefedert wird. Beide Städte verpflichten sich im Rahmen des Vertrages auf einen gegenseitigen Gastspielbetrieb: Bochum zu 140 Schauspiel-Aufführungen in der nahen Revierstadt, Duisburg zu 120 Opern-Vorstellungen in Bochum, vgl. Ketelsen 1999, 91. 236 | Ketelsen 1999, 89. 237 | Vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1920, 317. Im Eintrag zu »Bochum, I. Stadttheater« heißt es: »Eigentümer: Die Stadt. Die Stadt zahlt dem Theater eine Subvention von 150 000 Mk. Dem Orchester ebenfalls 150 000 MK.« Dr. Saladin Schmitt wird als »Städtischer Theaterleiter« respektive »Oberspielleiter« aufgeführt. Die administrative Leitung des Stadttheaters findet sich konkret in der Fernsprech-Nummer wieder: So ist unter der Büronummer 3870 (Kultur-)Dezernent Wilhelm Stumpf zu erreichen. 238 | Ketelsen 1999, 73. 239 | Siehe Ketelsen 1999, 21.

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Kommunalisierung der bis zu diesem Zeitpunkt im Gros noch privatwirtschaftlich geführten, städtischen Theaterbetriebe sowie die Invertragnahme des künstlerischen Personals unter den Normalvertrag vom 12. Mai 1919 zwischen dem Deutschen Bühnen-Verein und der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehörigen.240 Mit diesem Wendepunkt hin zu einer relativen Autonomie des deutschen Stadttheater-Feldes präsentiert sich – so lässt sich der Fall Bochum eher feldanalytisch als zeitlich kontextualisieren und rekonstruieren – das Stadttheater Bochum als eine Vorzeigebühne geradezu beispielhaft im Kontext der Institutionalisierung eines ganzen Systems.

1.3.2 Zur Re/produktion eines Dispositivs zwischen Reich und Republik Die 1919 einsetzende Kommunalisierung des deutschen Stadttheaters im Allgemeinen und des Bochumer Schauspielhauses im Speziellen ist »alles andere als ein äußerlicher Vorgang, sie betrifft das Theater im Kern«241, resümiert Ketelsen: »Sie bedeutete nämlich die Entscheidung für einen spezifischen Typ des Theaters, die konzeptionelle und ästhetische Konsequenzen hatte.«242 Ähnlich der Argumentation Balmes243 verortet auch Ketelsen das Phänomen des deutschen Stadt- und Subventionstheaters an diesem Punkt in der sozialdemokratischen (Kultur-)Politik, wie sie im dargelegten Einzelfall im Wesentlichen durch Stadtrat Stumpf und dessen integrative »Kulturarbeit«244 in Bezug auf ein »bürgerliche[s] Belehrungsund Bildungstheater«245 forciert worden sei: »Nur in und mit dieser Form konnte die kommunale Kulturpolitik als Teil der Sozialpolitik ihren Zweck erfüllen.«246 Was jedoch Balme und Ketelsen beide nur in einem abseitigen Diskursraum thematisieren, ist die Kontextualisierung der Sozial-, Kultur- und Theaterpolitik im historischen Zwischenraum Zwischen König und Konstitution247, das heißt zwischen monarchistischen Ideen der Kaiserzeit und demokratischen Idealen der Weimarer Republik, wie Jörg Wiesel die Genese des deutschsprachigen Theaters – exemplarisch am Beispiel Bochums – kritisch historisiert. In Anlehnung an Wiesels Überlegungen widmet sich das den ersten Teil der vorliegenden Arbeit abschließende Unterkapitel ebendiesem (kultur-)politisch kritischen Teil der (Bochumer) Theatergeschichte, womit zugleich ein anderes Licht auf die Tradition des deutschen Bildungstheaters geworfen werden soll. Insofern kann die 30-jährige Ära des Intendanten Saladin Schmitt (1919-1949) am Schauspielhaus Bochum aus theater- und kulturhistorischer Perspektive als äußerst ambivalent beurteilt werden: Einerseits geht mit ihr eine Professionalisierung und künstlerische Entwicklung des Theaterhauses sowie die Etablierung

240 | Zur Einrichtung des Normalvertrages siehe Kapitel 2.1.3.4. 241 | Ketelsen 1991, 52. 242 | Ketelsen 1991, 52. 243 | Vgl. Balme 2010, 71-76 sowie Kapitel 1.2 der vorliegenden Arbeit. 244 | Ketelsen 1999, 51. 245 | Ketelsen 1991, 52. 246 | Ketelsen 1999, 53. 247 | Wiesel 2001.

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einer dem Stadttheater angegliederten Schauspielschule einher.248 Andererseits repräsentiert der Bochumer Stil unter Schmitt – konträr zur künstlerischen Position seines Nachfolgers Hans Schalla (1949-1972) – ein anachronistisches, »paternales Modell«249, das sich nach 1933 nur allzu leicht für nationalsozialistische Zwecke instrumentalisieren lässt. Schmitt vertritt hierbei nicht nur eine künstlerische Position, sondern ad personam ein stark in der Nationaltheateridee verwurzeltes kulturpolitisches Programm, das er sowohl als Intendant nach außen repräsentiert als auch als Oberspielleiter intern auf Ebene der Kunst- und Künstler/innen-Produktion praktiziert. Die Programmatik seines Schaffens lässt sich etwa in Reden, Vorträgen oder in von ihm verfassten (Zeitungs-)Berichten nachvollziehen, in denen die Nähe von einer ›reinen‹, dergestalt universalistischen Kunst zu völkischen Ideen aus heutiger Sicht unmissverständlich erkennbar wird. Unmittelbar nach den Kriegswirren scheint sich im Kontext dieser Auffassung in der Verstaatlichung respektive Kommunalisierung der städtischen Theaterbetriebe ab 1919 die Hoffnung auf eine nationale Identität in der Tradition einer kulturellen zu realisieren, welche – unter einer erneut stark auf Analogien rekurrierenden Perspektive – vermittels eines völkischen ›Kulturguts‹ gestiftet werden solle: »Dieses Kulturgut ist als Ausdruck geistiger Sehnsucht und geistigen Ringens eines Volkes anzusehen, ein Zusammenschluß von dessen geheimsten Gedanken und Wünschen, reichend bis in die mystischen Tiefen des Blutursprungs einerseits und bis in die schmerzhafteste Helligkeit logischer Erkenntnis andererseits, ein Schatz, den Generationen aufgehäuft, den jede Generation um ein Erkleckliches vermehrt, von dem andererseits auch jede Generation irgendwie zehren will, ja der ihr bewußt werden muß, wenn sie ihrer Bindung mit dem Volksganzen (mit dem, was vor ihr war und nach ihr sein wird) nicht verlustig gehen soll.« 250

Schmitt selbst sieht sich als ›Schöpfer‹ von Kunst und Kultur dieser Tradition – und der Etablierung eines nationalen Kanons – verpflichtet: Dementsprechend begreift er seine staatlich autorisierte Aufgabe als Intendant einerseits als »ein offizielles [Amt]«, welches (national-)staatlichen Interessen am Ehesten diene, wenn sich die Theaterleitung »als behördliche Vermittlerin der dramatischen Kulturgüter aller Völker und Zeiten« ansehe.251 Andererseits und unmittelbar damit einhergehend lässt sich die Tradierung und Vermittlung der »dramatischen Kulturgüter« (theater-)praktisch nur mit dem konsequenten Ziel der Klassikerpflege im Repertoire erreichen. Dabei bilden die Klassikerwochen, die das Bochumer Schauspielhaus seit 1927 bis zum Ende der Ära Schmitt – in weiten Teilen mit dem eigenen Ensemble und mittels der Besetzung nach Fach – realisiert, nur den jährlichen Höhepunkt 248 | Auch die Eröffnung der Schauspielschule im Jahr 1939 ist in diesem Zusammenhang kritisch zu betrachten; mit Willi Busch als künstlerischem Direktor an der Spitze und mit dem nationalistisch gesinnten Chefdramaturgen des Stadttheaters, Walter Thomas, als Verantwortlichem für die Theorie-Bildung ist zu Beginn des Zweiten Weltkrieges eine eher elitäre, nach Schmitts Konzept nur in den ersten Fächern ausbildende Schule errichtet worden, vgl. Ketelsen 1999, 99f. 249 | Ketelsen 1999, 103. 250 | Schmitt 1964 [1925], 183. 251 | Vgl. Schmitt zitiert nach Ketelsen 1999, 110.

Teil 1: Zur Genese des Stadttheaters

einer Spielplanpolitik. Denn auch im täglichen Betrieb liegt deren Konzentration (neben einem geringen Teil an ›Kleinen Theaterabenden‹ und einem anderen an ›Neuheiten‹252) auf der Erarbeitung eines in unterschiedlichen Zyklen präsentierten nationalen Kanons aus Shakespeare-, Goethe-, Hauptmann-, Schiller-, Kleist-, Hebbel- und Grabbe-Stücken – in Schmitts Theaterverständnis allesamt Vertreter einer »dramatischen Weltliteratur«253. Während die Klassikerwochen in den ersten Jahren ihres Bestehens insbesondere den Zweck einer Imagesteigerung von Stadt und Theater erfüllen,254 welche durch Einladungen des Bochumer Ensembles in traditionsreiche Städte wie beispielsweise Weimar auch überregional Interesse und Zuspruch finden, stehen diese – so lässt sich in Anbetracht der 1933 einsetzenden, wohl durch den neu ernannten Oberbürgermeister Otto Leopold Piclum angestoßenen »intensiven Bemühungen der Stadt, eine regierungs- und parteiamtliche Förderung zu erhalten,«255 urteilen – mehr und mehr im Dienst der nationalsozialistischen Ideologie. Nicht umsonst werden wohl seit 1936 die Klassikerwochen »unter der Schirmherrschaft von Reichsleiter Alfred Rosenberg«256 eröffnet. Welche politische Haltung Schmitt selbst in diesem Prozess der konkreten Um- und Hinwendung zur nationalsozialistischen Kulturpolitik einnimmt, wird dabei jedoch nicht recht ersichtlich; eher scheint er sich und sein Theater aber dieser insbesondere städtisch vorangetriebenen Infiltrierung entziehen zu wollen; Schmitts Briefe enthalten zumindest nicht den ›Deutschen Gruß‹.257 Dennoch können diese Vorgänge als ein Abdriften der ehemals sozial-integrativen Idee in eine nationalistische, schließlich nationalsozialistische Ideologie gewertet werden. Diese Entwicklungen erscheinen vor dem Hintergrund der sich bereits im Zuge der Moderne herauskristallisierenden, kontroversen Positionen innerhalb der urbanen Bürger- und Theaterkultur wenig verwunderlich, schließlich zeichnet sich darin bereits die zunehmende Instrumentalisierung der Kunst von Seiten eines rechts-liberalen Flügels zu nationalstaatlichen 252 | Vgl. Ketelsen 1999, 139-141. Auch Schmitt erkennt in der Breite des Spielplans eine notwendige Öffnung hin zum lokalen Publikum und eine Möglichkeit der Integration unterschiedlichster Publikumsinteressen – ein Kompromiss, den auch die Intendant/innen heutiger Stadttheater (bei stärkerer Konzentration auf zeitgenössische Dramatik unter umgekehrten Vorzeichen) einzugehen versuchen, vgl. die Interviewstudie mit Theaterschaffenden unter Kapitel 2.2.3. 253 | Schmitt zitiert nach Ketelsen 1999, 129. Die Klassikerwochen selbst sind, wie die gesamte Konzeption des Schmitt’schen Programms, in die Traditionslinie der Bildungstheater-Idee aus dem 19. Jahrhundert einzuordnen, die sich in Form der Festwoche etwa bereits im Rahmen von Franz Dingelstedts »Gesamtgastspiel« in München 1854 realisiert, vgl. Bayerdörfer 1992, 46. 254 | Von dem Theaterkritiker Erik Reger wird die Stadt aufgrund dieser kommunalen Instrumentalisierung des Theaters zu touristischen Zwecken während einer Zeit »wirtschaftlicher Erschütterungen und schwerer sozialer Kämpfe« (Erik Reger zitiert nach Ketelsen 1999, 131) scharf kritisiert; ein Hausverbot des Kritikers und ein Urteil des Reichsgerichts im Jahr 1928 sind die Folge: »Damit war gerichtlich festgestellt, daß es mit Schmitts hehrem Kunstidealismus eine besondere Bewandtnis hatte […].« (Ketelsen 1999, 132.) 255 | Ketelsen 1999, 133. 256 | Ketelsen 1999, 134. 257 | Vgl. Ketelsen 1999, 134.

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Zwecken ab. So lässt sich mit Ketelsen zunächst schlussfolgern: »Insgesamt führten die Nationalsozialisten die alte Politik fort, nur daß zu den alten Argumenten das neue vom ›kulturellen Erwachen der Nation‹ hinzukam.«258 Jörg Wiesel erkennt in der Theaterkonzeption Schmitts nicht nur eine Fortschreibung und später Infiltrierung durch nationalsozialistische Ideen. Vielmehr finde sich im Bochumer Stil unter dessen Intendanz »jenseits der Berliner Avantgarde […] die Figur des Königs repräsentiert«259, leibhaftig institutionalisiert in der Organisationsstruktur und Ensemblepraxis eines hinsichtlich seiner autochthonen Führerfigur monarchistisch gerahmten Stadttheaters.260 Denn ebendieser »Wunsch nach einer Re-Inthronisierung königlicher Repräsentanz«, der zu Beginn der Weimarer Republik von einem Teil der Gesellschaft als allgemeiner »Wunsch nach einem neuen Königreich« laut wird,261 bilde sich in der hierarchischen und paternalistischen Ordnung/Organisation der städtischen und in Teilen verstaatlichten Betriebe seit 1919 ab. Am Bochumer Beispiel unter der Leitung von Schmitt zeige sich exemplarisch die symbolische wie machtvolle Stellung des öffentlich getragenen Theaters an der Schnittstelle zwischen Stadt- respektive Staats- und Theaterpolitik. So sei in den sozialen Räumen des Stadttheaters in der Übergangsphase der Weimarer Republik »Autokratie und Demokratie […] zu vermitteln: auf der Bühne des Stadttheaters, die dieser Staatsform die Verfassung gibt. Das vollzieht sich bei dem Katholiken Schmitt […] als Feiern einer Gemeinde erwählter Subjekte. Medium dieser Feiern, die sich an einer ›Kommunion als Prinzip der Kreisbildung‹ orientiert, ist der Kanon deutscher Kultur als völkisches ›Kulturgut‹.« 262

Der Bochumer Stil jener Jahre – in der Tradition sowohl des George-Kreises als auch des Wagner’schen Gesamtkunstwerks – steht für ein festliches, geradezu sakrales Theater, das seine kulturelle wie mediale Funktion und Bestimmung primär in der harmonischen Integration der heterogenen theatralen Elemente sowie in der Vermittlung einer »harmonisierenden geistigen Identität«263 zwischen der (Theater-)Gemeinschaft und dem ›Geist‹ des dargestellten Stückes findet. Mit einem heutigen Begriff kann die Ästhetik des Bochumer Stils wohl als hochgradig stilisiert umschrieben werden. Diese entwickelt ihre Wirkkraft aus der Kombination von unter anderem antiken dramaturgischen und inszenatorischen Mitteln (wie dem Einsatz von Sprechchören, einem deklamatorischen Sprechstil, ausschließlich

258 | Ketelsen 1999, 102. 259 | Wiesel 2001, 29. 260 | Wiesels Argumentation mit Blick auf einen autochthonen, letztlich monarchistisch organisierten deutschen Stadttheaterbetrieb weist innerhalb seiner Untersuchung weit über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus hinaus, wie er an »eine[m] Teil des bundesdeutschen Regietheaters nach 1968, besonders an Claus Peymann« (Wiesel 2001, 29) und dessen künstlerischen wie rhetorischen Stellungnahmen aufzeigt. 261 | Vgl. Wiesel 2001, 29. 262 | Wiesel 2001, 264. 263 | Ketelsen 1999, 119.

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hochdeutscher – und nicht proletarischer264 – Sprache unter dem Vorzeichen der Werktreue, symbolischen Gesten, Masken, dekorativen und vor allem einheitlichen Kostüm- sowie tendenziell symmetrischen Bühnenbildern) im Zusammenspiel mit innovativen bühnentechnischen Effekten (etwa dem Einsatz einer Drehbühne und seit den 1930er-Jahren auch von Projektionen).265 Die Schmitt’sche Regie- und Theaterkonzeption sieht, so lässt sich mit Wiesel festhalten, eine »(Re-)Sakralisierung des Theaters«266 und insbesondere des gesprochenen Wortes vor. Letzteres wird gezielt in Leseproben eingeübt und in den Aufführungen zu Gehör gebracht. Wie Wiesel darlegt, ist das künstlerische Ziel hierbei eng mit einer national- und kulturstaatlichen Idee verknüpft: »Die ensemblegestützte Homogenisierung des Sprechens verpflichtet den einzelnen Schauspieler auf das Einhalten einer kollektiven und nationalen Prosodie, die bei Schmitt immer auch das Eigene (die deutsche Kultur) gegen das Fremde, den politischen Feind (des Sozialismus) abgrenzt.« 267

Dieser besondere Sinn für die Präsenz und Performativität von Stimme und Sprache findet bei Saladin Schmitt seinen Ursprung in einem spezifisch ästhetischen wie sozialen Kontext, nämlich im Kreis des Cousins Stefan Georges, welcher als einer der wenigen deutschen Vertreter/innen des l’art pour l’art gilt.268 Damit schließt sich in einer konkreten Hinsicht der Kreis zum Bourdieu’schen Ausgangspunkt dieses Kapitels: Durch den Einfluss Georges beziehungsweise durch die Repräsentation von dessen Kunstauffassung durch Saladin Schmitt hält nach Ende des Ersten Weltkrieges im Stadttheater Bochum die Position der ›reinen Ästhetik‹ Einzug in die Kunst- und Künstler/innen-Produktion. Mit Blick auf die konkrete Umsetzung dieser Position macht sich gemäß Wiesel aber noch ein weiterer entscheidender Einfluss geltend, und zwar die Kunst- und Schauspieltheorie Heinrich Theodor Rötschers (1803-1871), jenes Theatertheoretikers, der im Vormärz und während der Theaterreformbewegung um 1848 parallel zu Eduard Devrient seine Idee eines deutschen National- und Kulturstaates ausgehend von seiner Abhandlung »Die Kunst der dramatischen Darstellung«269 verbreitet. Im Jahr 1919, als Schmitt sein Amt antritt, erscheint Rötschers Abhandlung in einer Neuauflage, die von dem Literaturwissenschaftler Oscar Walzel herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen wird. Wiesel begründet dessen Motivation der Wiederherausgabe wie folgt: »Das Schreckbild, gegen das Walzel die Renovierung der ›Kunst der dramatischen Dichtung‹ in Stellung bringt, ist ein theatrales, künstlerisches, aber ebenso politisches Chaos, das der 264 | Wiesel stellt in diesem Zusammenhang für das Theater Schmitts (sowie Heinrich Theodor Rötschers!) geradezu ein »Verbot der Sichtbarkeit« – und Hörbarkeit – des »arbeitende[n] Körper[s], der den Alltag des Ruhrgebiets in den zwanziger Jahren zentral bestimmt«, fest, vgl. Wiesel 2001, 268f. 265 | Ketelsen 1999, 119-141. 266 | Wiesel 2001, 264. 267 | Wiesel 2001, 266. 268 | Vgl. Ullrich 2005, 137. 269 | Rötscher 1919 [1841].

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Der Joker im Schauspiel Herrschaft der Materie (der Masse) Raum und Stimme gibt. In Ermangelung einer adäquaten politischen Herrschaft (oder Führung) zu Beginn der Weimarer Republik sieht Walzel im Theater ein Modell, Herrschaft und Ordnung zu repräsentieren und der unübersichtlichen Beweglichkeit der Materie (und Masse) organisch formend, also gestaltend zu begegnen.« 270

Diese Gedanken und Überlegungen scheint Schmitt mit Walzel respektive Rötscher zu teilen. Die Pflege des Ensembles als eine harmonische und geschlossene Einheit nimmt hierbei einen besonderen Stellenwert ein. Über die künstlerische Praxis hinaus wird die Idee eines Kultur- respektive Ensembleganzen damit in die tägliche Ordnung und Organisation der Schauspieler/innen integriert. Das Ensemble – welches in Rötschers (und ebenfalls in Eduard Devrients) Theatermodell die Gemeinschaft des Staates repräsentiert 271 – fungiert unter dieser Perspektive nicht nur als Betriebssystem der Kunstproduktion und -vermittlung, sondern erfordere an erster Stelle eine Disziplinierung der einzelnen (Staats-)Subjekte zum Zweck der Aufrechterhaltung der sozialen Vorbildfunktion des deutschen Theaters, mit dem Ziel der Konstitution einer kulturellen und nationalen Identität. In dieser Weise argumentiert Schmitt: »[H]ieraus entspringt der zähe, tägliche Kampf, den jede Theaterleitung führen muß: die Vielköpfigkeit der auseinanderstrebenden Mitwirkenden irgendwie immer dem Gesamtziel unterzuordnen, immer über den Einzelnen hinweg das Ganze im Auge zu behalten und auf dieses Ganze zuzusteuern.« 272

Mit Wiesel lässt sich abschließend festhalten, dass Schmitt sich zum einen hinsichtlich der Führung seines Ensembles und seiner künstlerischen Ausrichtung, zum anderen in Bezug auf die programmatische Spielplanpolitik und die damit einhergehende Ausführung eines ›dramatischen Dispositivs‹ zwischen Repertoire-, Ensemble- und ›Festwochen‹-Betrieb geradezu »als rechtmäßiger Erbe des Staatstheatermodells von Rötscher«273 erweist. Dass die Position Schmitts innerhalb des sich während der Weimarer Republik einrichtenden Stadttheater-Feldes keine Ausnahme darstellt, sondern Teil eines Konsenses unter Theaterpraktiker/ innen und -wissenschaftler/innen, vor allem aber zentraler Bestandteil einer weit verbreiteten Praxis der internen Organisation von Schauspieler/innen in Ensembles ist, wird die nachfolgende empirische Untersuchung zeigen (vgl. Kapitel 2.1). Mit Wiesel möchte ich damit aber ebenso eine Brücke zur Gegenwart schlagen. Dessen Blick fällt bezüglich der Ensemblepolitik gewissermaßen auf die historische Schnittstelle zwischen dem monarchistischen Theatermodell der Zwanziger Jahre und heute, das heißt auf die gesellschaftliche sowie theaterhistorische Wende nach 1968: »In den links-liberalen Siebzigern und frühen Achtzigern der Bundesrepublik (und noch danach) hatten Schauspiel-Ensembles dann eine repräsentative Funktion. Neben Peymanns ›Bochumer Ensemble‹ sind natürlich Peter Steins Berliner Schaubühne, Dieter Dorns Münch270 | Wiesel 2001, 253. 271 | Vgl. Wiesel 2001, 265. 272 | Schmitt 1964 [1925], 184. 273 | Wiesel 2001, 265.

Teil 1: Zur Genese des Stadttheaters ner Kammerspiele und Jürgen Flimms Kölner, dann Hamburger Bühne (Thalia Theater) als Horte eines intensiv (auch von der Kritik) beschworenen deutschen Ensemblegeistes zu nennen. In der DDR rangierten hier das nun von Peymann beerbte Berliner Ensemble, das Deutsche Theater unter Thomas Langhoff und das Dresdner und Leipziger Schauspiel an ersten Stellen. Dass diese Bühnen nur hochkulturelle Aushängeschilder einer Fülle unzähliger deutscher Bühnen gewesen sind, die analog strukturiert waren, liegt auf der Hand.« 274

In Anbetracht einer strukturellen Krise und vor dem Hintergrund des Abdankens einiger der eben genannten Größen des deutschen Regietheaters zu Beginn der 2000er-Jahre kommt Wiesel hinsichtlich dieser kollektiven, repräsentativen Ensembles zu folgendem und meines Erachtens vorläufigem Schluss: »[I]hre Zeit ist jetzt definitiv vorbei. […] Schon in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre verlor das Regietheater – auch seine andere, nicht (lange) als Intendant fungierende Gruppe: George Tabori, Peter Zadek, Hans Neuenfels oder Werner Schroeter – die vermeintliche politische und ästhetische Brisanz und Spannung, die besonders die Siebziger und frühen Achtziger gekennzeichnet hatte.« 275

Mit der Internationalisierung des Feldes und durch neue Einflüsse aus der Performance-Kunst werde stattdessen heute »das Subjekt im Netz theatraler Signifikantensysteme performativ untersucht, wird es auf der Suche nach seiner Sprache mit den Sprachen des Theaters konfrontiert, die das Regietheater ›zugunsten‹ einer simulierten Politisierung und selbstreferentiellen Ästhetisierung massiv verdrängt hat.« 276

Inwiefern und ob sich diese künstlerischen Entwicklungen einer erneuten ReTheatralisierung – nun aber in Kombination mit der Individualisierung von Kunst und Künstler/innen – heute auch auf struktureller Ebene innerhalb der Stadttheaterbetriebe und mit Blick auf die Organisation von Schauspieler/innen in Ensembles abbilden, wird im Anschluss an die historische Rekonstruktion des EnsemblePrinzips zu fragen sein (vgl. Kapitel 2.2).

274 | Wiesel 2001, 279f. [Herv. d. Verf.] 275 | Wiesel 2001, 280. 276 | Wiesel 2001, 280f.

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Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem Nachdem der erste Teil der vorliegenden Arbeit zur Genese des deutschen Stadttheatersystems die äußeren, insbesondere kulturpolitischen und strukturellen Bedingungen seiner Institutionalisierung rekonstruiert hat, kann sich der zweite Teil auf die empirische Untersuchung der internen Organisation des deutschen Theaters als soziales Feld konzentrieren. In zwei Kapitel unterteilt, schlagen die folgenden Ausführungen eine Brücke zwischen historischer und empirischer Forschung, indem sie das Ensemble beziehungsweise das ›darstellende Personal‹, wie es im Jargon der Theaterpraxis bis ins 20. Jahrhundert hinein heißt, in den Fokus der Betrachtung rücken. Aus einer praxeologischen Perspektive wird dabei zunächst die Organisierung der Schauspieler/innen im Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts ausgehend vom Rollenfach als der »Zentralkategorie im internen Theaterbetrieb«1 des 18. und ebenso 19. Jahrhunderts beleuchtet (Kapitel 2.1). Wie zu zeigen sein wird, nimmt die Organisierung des Personals als einer statistischen und vermittelbaren Größe in den 1830er-Jahren seine Anfänge, in der Zeit des Vormärz also, in welcher sich das städtisch-bürgerliche Theater und der Begriff des Stadttheaters abseits der Residenzstädte und höfischen Theater konstituiert. Mit Blick auf die Re/produktion von Typen und die Subjektivation von Schauspieler/innen innerhalb des künstlerischen Personals liegt der Schwerpunkt nun aber auf den konkreten Betriebspraktiken, welche die Produktion von Kunst und die Organisation der Künstler/innen bedingen. Mit Darlegung der Logik und Funktion des Rollenfachsystems wird die historische Strecke abgeschlossen sein und die Forschungsarbeit den Sprung in die Gegenwart wagen. Dass dieser zeitliche Sprung aus praxeologischer Perspektive keinen inhaltlichen Bruch darstellt, sondern umso deutlicher latente Re/produktionsmechanismen aufzuzeigen vermag, wird eine empirische Studie zu Funktion und Bedeutung des Ensemble-Prinzips im Gegenwartstheater belegen (Kapitel 2.2). Ein Lexikoneintrag zum Rollenfach aus Henning Rischbieters 1983 herausgegebenem Theater-Lexikon hat hierbei nicht unwesentlich die Thesenbildung dieses zweiten Hauptteiles befördert. So heißt es darin: »Bereits im 19. Jahrhundert, endgültig im Regietheater des 20. Jahrhunderts erwies sich das Ordnungsprinzip Rollenfach als historisch überholt: die komplizierten, widersprüchlichen und psychologisch vielschichtigen ›Charaktere‹ der Figuren ließen sich nicht mehr in abgegrenzte Fächer zwängen, so daß die Kriterien für eine Stück-Besetzung mehr und mehr nach 1 | Maurer-Schmoock 1982, 157-159.

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Der Joker im Schauspiel der Individualität und den spezifischen künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten der Darsteller erfolgte. Dennoch wird das Rollenfach bei Engagementverträgen auch heute z.T. noch beibehalten, im Schauspieltheater z.B. für Anfänger (um Rollenansprüche festzulegen).« 2

Betrachtet man die bestehende Forschung zum Rollenfach, die bezeichnenderweise fast ausschließlich in literatur- und nicht genuin theaterwissenschaftlichen Kontexten entstanden ist,3 und hört man überdies die Meinungen zum Rollenfach von den Theaterschaffenden selbst, scheint über die in obigem Zitat aufgeworfene Einschätzung einer klaren Absage an die Rollenfächer im 20. Jahrhundert ein weitgehend geteilter Konsens zu herrschen. Dass sich jedoch noch im 21. Jahrhundert das Ordnungsprinzip Rollenfach im institutionalisierten Sprechtheater nicht als überholt erweist, wie Rischbieter 1983 selbstredend annimmt, sondern auf organisatorischer Ebene bis heute wirksam geblieben ist, wird als Vorannahme und Arbeitshypothese die zunächst historische und anschließend empirische Untersuchung leiten. Vor dem theaterhistorischen Hintergrund des Rollenfachsystems als »zentrale[m] Strukturprinzip der europäischen Theaterpraxis vom 17. bis zum 19. Jahrhundert«4 und vor der Folie der sich im 19. Jahrhundert etablierenden Stadttheater mit (mehr oder weniger) festem Personal motiviert daher im Folgenden die Frage nach dem ›Wie‹ und ›Wo‹ das weitere Vorgehen der Untersuchung: Wie werden die darstellenden Mitglieder der deutschen Bühnen erfasst, geordnet und organisiert? Wo, das heißt in welchen Medien, Diskursen, Strukturen und/oder Praktiken ist dabei das »Ordnungsprinzip Rollenfach«5 zu verorten? Und wo wandert das Rollenfach hin, nachdem die Theatertruppen des 17. und 18. Jahrhunderts an den höfischen und später zunehmend städtischen Theatern sesshaft geworden sind?

2.1 O rganisation der S chauspieler /innen im The aterbe trieb des 19. J ahrhunderts Die Bereitschaft zu Mobilität, Flexibilität und Kreativität – nicht zufällig drei neoliberalistische Schlagworte aus dem Anforderungskatalog an das kreative, »unternehmerische Selbst«6 des 21. Jahrhunderts7 – kennzeichnet nicht nur Leben und Lebensstil von Schauspieler/innen seit jeher, sondern ebenso den funktionierenden, weil permanent re/produzierenden Theaterbetrieb. Im Zuge der das 19. Jahrhun2 | Rischbieter 1983, 1082. Detken und Schonlau bestätigen, dass »sich sogar in Folge des Normalvertrags von 1919 noch in den 1970er-Jahren Schauspielverträge an den Rollenfächern orientieren« (Detken/Schonlau 2014, 15). 3 | Vgl. exemplarisch den 2014 erschienenen Sammelband Rollenfach und Drama von Anke Detken und Anja Schonlau oder die ältere, das Rollenfach bereits beinhaltende Publikation Soziale und theatralische Konventionen als Problem der Dramenübersetzung, die 1988 von Erika Fischer-Lichte et al. herausgegeben worden ist. 4 | Detken/Schonlau 2014, 7. 5 | Rischbieter 1983, 1082. 6 | Bröckling 2007, 12. 7 | Zum Zusammenhang zwischen Kreativitätsimperativ und bürgerlichem Kunst-Feld siehe Reckwitz 2012, 9-89.

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dert überdauernden Entstehungsphase des Feldes, materialisiert in der Gründung zahlreicher stehender, groß- sowie kleinstädtischer Bühnen, werden die früheren Schauspieler/innengesellschaften zwar zunehmend sesshaft – zumindest für die Dauer einer oder mehrerer Spielzeiten. Doch verhindert die lokale Bindung keineswegs die hohe Fluktuation unter den darstellenden Mitgliedern, auch unabhängig von Direktionswechseln oder Insolvenzanmeldungen von Theater-Aktienvereinen oder privaten Unternehmer/innen. Ein Auszug aus dem Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1828, herausgegeben von Friedrich Viedert, vermag am Beispiel des Theaters zu Riga einen ersten Eindruck von der Realität und Realisierung eines Theaterbetriebes vermitteln. So schreibt der Herausgeber im Rahmen einer chronologischen Theatergeschichtsschreibung für den Zeitraum von 1760 bis 18278 bezüglich der »Unternehmung: Demoiselle Emilie Herbst, vom 1. März 1814 bis 1. März 1817«9: »Die Gesellschaft war abermals verwaist, und sonderbar genug, man forderte eine junge achtzehnjährige Dame, Demoiselle Herbst auf, die Zügel der theatralischen Regierung zu ergreifen; doch gereicht es derselben zu großer Ehre, daß sie das Vertrauen vollkommen gerechtfertigt hat. Dem[oiselle] Herbst, mit den Schwierigkeiten wohl bekannt, welche eine Theaterführung mit sich bringt, […] weigerte sich lange, ehe sie die Kontrakte unterzeichnete. Sie forderte mehrmals Feddersen auf, die Direktion zu behalten […]; doch Feddersen blieb konsequent. […] Ihre erste Sorge war, einen tüchtigen Regisseur anzustellen; sie fand einen Mann, den bekannten Schriftsteller und Schauspieler Fleischer, welcher, mit gehörigen wissenschaftlichen und praktischen Kenntnissen ausgerüstet, ein solches Geschäft übernehmen konnte. Er wurde zugleich als Theaterdichter angestellt.«10

Das hier skizzierte Übernahmeverfahren von leitenden Funktionen und Aufgaben durch Schauspieler/innen oder Sänger/innen, wie im Fall der Berufung einer Bravoursängerin, als welche Demoiselle Herbst zunächst am Theater in Riga angestellt ist, bildet insbesondere im Kontext der bürgerlich-städtischen Bühnen keineswegs die Ausnahme, sondern eine gängige Praxis bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und noch weit darüber hinaus. Weder die Direktions- noch die Regietätigkeit werden bis zu diesem Zeitpunkt, folgt man der Geschichte der Regie im Theater nach Jens Roselt, als eine künstlerische Aufgabe geschweige denn als eigenständiges Berufsbild betrachtet: Sie werden vielmehr als »zusätzliche Funktionen hinter der Bühne 8 | Vgl. Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1828, 5-100. Viederts »Geschichte des Theaters zu Riga, vom Jahre 1760 bis 1827« kann als Dokument und Fallbeispiel einer städtischen Theatergeschichtsschreibung betrachtet werden, welche für den angegebenen Zeitraum in Form einer historisierenden Erzählung die Entwicklung des (Stadt-)Theaters in Riga chronologisch nach den verschiedenen ›Unternehmungen‹ nachzeichnet und zugleich in allgemeine theaterhistorische Prozesse und Diskurse, etwa die Nationaltheateridee, einordnet. Im Rahmen der Darstellung der einzelnen Direktionen werden einerseits die gegebenen Stücke (häufig mit Anzahl an Vorstellungen) aufgezählt, Stück respektive Inszenierung ggf. kommentiert, andererseits Notizen zu personellen Vorkommnissen gemacht, etwa zu plötzlichen Toden auf der Bühne, zu Vermählungen unter den Mitgliedern oder zu Weggang beziehungsweise Rückkehr (auch aus dem Ausland) einzelner Darsteller/innen. 9 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1828, 60. 10 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1828, 60f.

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[übernommen], die in erster Linie organisatorischer und administrativer Art«11 gewesen sind. Bühnenerfahrung und mehr noch Erfahrungen an einer Bühne, das heißt Kenntnisse über die täglichen sowie außeralltäglichen Abläufe am Theater, gelten hierfür als das zentrale praktische Wissen nebst Tüchtigkeit und Ernst, das zur Übernahme eines Gesamtbetriebes befähigt. Die eingangs erwähnte Notwendigkeit von Flexibilität betrifft demnach nicht allein soziale und geografische Wechsel, sondern ebenso eine funktionale Mobilität unter den Mitgliedern einer Schauspieler/innengesellschaft. Auch unter heutigen Bedingungen im Feld des (Stadt-)Theaters erscheint ein Wechsel des Aufgabenbereichs, zumindest zwischen Schauspiel und Regie, prinzipiell möglich.12 Doch werden im Gegenwartstheater Regie- und schauspielerische Tätigkeiten nur noch in den seltensten Fällen parallel beziehungsweise als zusätzliche Funktionen ausgeführt,13 wie es die Theaterpraxis im 19. Jahrhundert nicht nur zuzulassen, sondern gar zu forcieren scheint. Im Kontext jener sich selbstverwaltenden und -organisierenden Theaterbetriebe gehört dabei besonders die Aufgabe, »die Gesellschaft zu komplettiren«14, zum Tagesgeschäft der Direktion. Glaubt man der Darstellung Viederts, lassen sich Darsteller/innen oder auch Regisseur/ innen hierbei vollkommen routiniert nach-, neu- und umbesetzen: 11 | Roselt 2015, 15. Wie Roselt in der Einführung seines Überblickswerkes Regie im Theater. Geschichte – Theorie – Praxis darlegt, taucht der Begriff des Regisseurs (übernommen aus der französischen Verwaltungssprache) Ende des 18. Jahrhunderts erstmalig im deutschsprachigen Theater auf und erhält erst um 1840 – in Verbindung mit der ›Kunst der Inszenierung‹ – seine künstlerische Bedeutung, wie sie heute mit Begriff und Beruf der Regie in Verbindung gebracht wird. Die Bezeichnungen der Direktion und Intendanz sind theatergeschichtlich nach unterschiedlichen Traditionen von Theater zu unterscheiden; der Begriff der Intendanz oder Intendantur findet im 19. Jahrhundert ausschließlich im Kontext des Hoftheaters Verwendung (vgl. auch die einzelnen Bände des Almanach für Freunde der Schauspielkunst), wo er – ebenfalls der französischen Verwaltungssprache entstammend – die Bekleidung eines (Verwaltungs-)Amtes »zwischen dem Hofmarschall und dem HofjagdAmt« (Balme 2016) meint. Der Begriff des Theaterdirektors steht demgegenüber synonym zu den Prinzipalen der Theatertruppen, die vom 17. bis ins 19. Jahrhundert hinein »Schauspieler, Regisseure, Autoren, Übersetzer und Verwaltungschefs in Personalunion« (Roselt 2015, 28) darstellen. 12 | Bis heute stellen relativ fließende Wechsel von der Schauspielerei zur Regie (sei es nach lang jähriger Berufserfahrung wie im Fall Herbert Fritschs oder nach aufeinanderfolgenden Ausbildungen von Schauspiel und Regie wie bei Roger Vontobel) keine Ausnahme dar, wohingegen Berufungen von Schauspieler/innen zur Intendanz kaum vorstellbar erscheinen; dies liegt einerseits an der gesteigerten Komplexität und Größe der einzelnen Theaterbetriebe, andererseits an den veränderten Anforderungen sowohl an den Regie- als auch Intendanz-Beruf im Spannungsfeld von Kunst, Produktionsleitung/Management und einem Hauch von Extravaganz, vgl. Roselt 2015, 9-73. 13 | Wenn beide Berufe im täglichen Spielbetrieb quasi zeitgleich ausgeübt werden, erscheint diese Art der Doppelbelastung eher als ein Privileg der jeweiligen Künstler/innen an einem Theaterhaus zu gelten, wie etwa im Fall von Ulrich Matthes am Deutschen Theater in Berlin oder Katharina Thalbach in den 1980er-Jahren an den Staatlichen Schauspielbühnen Berlin. 14 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1828, 62.

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem »Mit dem Anfange des neuen Theaterjahres hatte die Direktion den Verlust, dass der bisherige Regisseur der Bühne, Fleischer, einem Rufe nach St. Petersburg folgte; Büchner trat an dessen Stelle. […] Die im Fache der ersten Liebhaberinnen beliebte Schauspielerin, Dem[oiselle] Schönhut, verließ ebenfalls, mit ihrem Vater, die hiesige Bühne. Als Neuengagirte traten auf: Meißner, Mad[ame] Herbst, geb. Unzelmann, Pauly, Schmidt, Paßkomska, Herrmann und Frau, Mad[ame] Müller und Franziska Schmidt, für Kinderrollen. – Gastrollen gaben: Mad[ame] Meißner, Lell, Dem[oiselle] Müller, und Dem[oiselle] Scheider nebst ihrem Bruder. Auch Louis Ohmann besuchte Riga wieder; er wurde vom Publikum wie ein alter Bekannter herzlich empfangen und gab sechs Gastrollen.«15

Das Kommen, Gehen oder selbst Zurückkehren in Gastrollen, das Tauschen und Austauschen, Berufen und Abberufen von Künstler/innen unter den stehenden, sowohl privatwirtschaftlich als auch höfisch geführten Theatern in den (Residenz-) Städten des Deutschen Bundes kann im Zuge des sich institutionalisierenden und anwachsenden Feldes als Routine und als Konsequenz gelesen werden. Routiniert regeln – wenn auch nicht reibungslos, wie die weiteren Unterkapitel aufzeigen – lässt sich diese das Feld des Theaters bis heute prägende Fluktuation dabei nur durch ein Reglement unter den Beteiligten, durch die Einteilung des darstellenden Personals nach bestimmten Kriterien und Prinzipien, welche sich im Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts an dem zur Tradition und Konvention gewordenen Rollenfachsystem orientieren. Erst dieses von Schauspieler/innen, Regisseur/innen, Direktor/innen und wenig später auch von Theatervermittler/innen re/produzierte Ordnungsprinzip ermöglicht auf organisatorischer Ebene überhaupt das Funktionieren eines rapide anwachsenden Feldes, dessen personelle und strukturelle Dynamik Viedert bereits 1828 konstatiert. Seine »Geschichte des Theaters zu Riga«16, die weit über die Darstellung eines Einzelfalles hinausweist, schließt er geradezu zukunftsweisend mit den Worten: »daß es nicht ganz verdienstlos ist, diese Notizen zu einer Zeit gesammelt zu haben, wo einige Veteranen noch leben, die sich der Ereignisse der alten Zeit erinnern; bei dem immer mehr überhand nehmenden Wechsel der Bühne würden sonst alle Nachrichten verloren gehen.«17 15 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1828, 63f. Inmitten der Vorkommnisse und personellen Wechsel jener Jahre bleibt in Viederts Darstellung der »Geschichte des Theaters zu Riga« nur wenig Platz für den tiefgreifenden politischen Wandel, den die Niederlage Napoleons 1814 und in der Folge der Wiener Kongress 1815 herbeiführen. So steht inmitten der Theaterereignisse als Kurznotiz in Gedankenstrichen etwa geschrieben: »Am 5. April war im Theater großer Jubel – die Nachricht von der Einnahme von Paris, durch die verbündeten Mächte, kam eben an.« (Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1828, 62) – wonach sich eine Mitteilung über ein Gastspiel der Gesellschaft und eine Krankmeldung der Direktrice anschließen. 16 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1828, 5. 17 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1828, 100. Im Anschluss an die Geschichte des Rigaer Theaters folgen in Viederts Almanach von 1828 noch zwei Stückabdruck aus eigener Hand (!) (Mozart als Bräutigam, oder: Die Erdbeeren, Dramatisches Idill in Einem Akt und in Alexandrinern sowie Der Gastspieler, oder: Das geräumter Orchester, Lustspiel in Einem Aufzuge), bevor dieser Almanach mit »Aufsätze[n] und Gedichte[n] vermischten Inhalts; welche von verschiedenen Schriftstellern dem Herausgeber gefälligst

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Mit den Neugründungen von Theatern wächst infolgedessen auch die Zahl der Beschäftigten: Für das Jahr 1840 verzeichnet der Almanach für Freunde der Schauspielkunst bereits 16.000 Personen, die an den im Almanach aufgelisteten 75 stehenden Theatern tätig sind.18 Eine Ordnung der Bühnen und Bühnenmitglieder wird nötig. Die systematische Erfassung des (darstellenden) Personals stellt in der Folge ein Organisationsproblem für den sich vergrößernden und erweiternden Praktikenkomplex des Theatermachens und eine neue Aufgabe für weitere (Ko-) Akteur/innen dar.

2.1.1 Der Theateralmanach als Quellen- und Datenmaterial Im Theater des Vormärz lassen sich mit Harald Zielske zwei neue Komplexe identifizieren, welche im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts zur Konstituierung des Feldes in seinen wesentlichen Zügen beitragen werden: die Theaterpublizistik und die Engagementsvermittlung. »Seit Beginn der dreißiger Jahre hatte sich das Agenturwesen für die Theaterbetriebe begründet und hier vor allem die Mobilität in der Ensemblebildung des zeitgenössischen Berufstheaters in geschäftsmäßige Bahnen gelenkt. Verbunden war damit der Aufbau einer informativen Theaterpublizistik, wie sie etwa die immerhin vier Jahrzehnte lang (1832-1873) in Leipzig erscheinende Allgemeine (später: Deutsche allgemeine) Theaterchronik dargestellt hat. […] Ebenfalls in den dreißiger Jahren entstand ein regelmäßig und mit zunehmender Genauigkeit und Vollständigkeit erscheinendes Organ zur Statistik des deutschen Theaterwesens. Der […] Souffleur der Königlichen Schauspiele in Berlin, Ludwig Wolff, begründete 1836 seinen Almanach für Freunde der Schauspielkunst, seit 1852 [Korrektur der Vf.: 1854] mit dem Titel Deutscher Bühnenalmanach fortgesetzt und unmittelbarer Vorläufer des heute noch erscheinenden Deutschen Bühnen-Jahrbuchs.«19

Die Liste an Theaterchroniken, -almanachen beziehungsweise -journalen zur zeitgenössischen Dramenproduktion sowie Personalsituation, welche verstärkt Anfang und Mitte des 19. Jahrhunderts die lokalen und überregionalen Theaterereignisse dokumentieren und häufig auch kommentieren, ließe sich noch lange fortsetzen. Schon das Allgemeine Theater-Lexikon von 1839 bemerkt in Bezug auf die traditionsreiche Publikationspraxis rund um das deutsche Theaterwesen: »Keine Kunst, keine Wissenschaft hat so viel ausschließlich für sie bestimmte Almanache aufzuweisen, als das Theater. Seit der Mitte des vorherigen Jahrhunderts ist fast kein Jahr ohne einen oder mehrere Almanache für Schauspieler und Schauspielfreunde vergangen,

überlassen worden sind« (darunter ein »ABC für Schauspieler« des Regisseurs und Schauspielers Fleischer), endet, vgl. Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1828, 181-216. 18 | Vgl. Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1840, 253-468, vgl. auch Brauneck 1999, 16. Bis in die Gegenwart hat sich diese Zahl an Mitarbeitenden mehr als verdoppelt: Etwa 39.000 Beschäftigte seien an den öffentlichen Theatern im Jahr 2005 zu verzeichnen gewesen, vgl. Bolwin 2005, 20. 19 | Zielske 2001, 64.

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem besonders in Deutschland, wo jedes nur irgend bedeutende Theater einen Almanach gehabt hat.« 20

Betrachtet man die Zahlen, die der Archivar und Theaterhistoriograf Paul S. Ulrich in seiner Sammlung im Don Juan Archiv in Wien zusammengetragen hat und bis dato auswertet, dann übertreiben die Sekundärquellen nicht: Allein 270 »Universalmanache«21 und 6300 lokale Theaterjournale aus 250 verschiedenen Orten im deutschsprachigen Raum hat Ulrich für den Zeitraum zwischen 1772 und 1918 identifiziert,22 deren Gesamtsumme – berücksichtigt man die schwierige Forschungslage insbesondere der lokalen Schriften – noch weitaus höher zu sein scheint.23 Ähnlich der obigen Beschreibung definiert auch Ulrich jene Textsorte wie folgt: »Theateralmanache (dabei sind hier auch Werke gemeint, in deren Titel bzw. Untertitel Worte wie Taschenbuch, Kalender, Jahrbuch, Repertorium o. ä. vorkommen) sind Veröffentlichungen, die über ein bestimmtes Spieljahr berichten und als alljährliches Periodikum konzipiert sind. Sie bringen Informationen über die Spielsaison und wenden sich an die Mitglieder und Freunde des Theaters. Sie verzeichnen alle wichtigen Vorkommnisse des Theaters, bringen Mitteilungen über das Repertoire und verzeichnen das jeweils engagierte Bühnenpersonal. Die statistischen Angaben stehen neben Kurzbiographien und theaterkundlichen Aufsätzen. Kupferillustrationen (häufig in Form von Schauspielerbildnissen, Rollen- und Szenenbildern) finden sich in fast allen Almanachen.« 24

So erschlagend diese Masse an Theateralmanachen und potentiellen Forschungsquellen auf den ersten Blick erscheint, so ernüchternd ist die Tatsache, dass »die Mehrzahl nur einmal erschien[en]«25 ist und dass laut Ulrich »die weitaus größere Anzahl […] rein lokalen Charakter«26 habe. Hieraus ergeben sich zwei forschungs20 | Blum/Herloßsohn/Marggraf 1839, 53. 21 | Ulrich unterscheidet zwischen lokalen Theaterjournalen und Universalalmanachen, wobei in der zeitgenössischen Theaterpraxis (und ebenso in der Theaterhistoriografie) die beiden Begriffe ›Journal‹ und ›Almanach‹ synonym verwendet werden, vgl. Ulrich 2012, 9 und 13 (Fußnote 37); Viederts Almanach für Freude der Schauspielkunst auf das Jahr 1828 mit seinem Fokus auf Riga ist demnach ein klassisch lokales Journal, wohingegen Wolff’s Almanach für Freude der Schauspielkunst auf das Jahr 1836 aufgrund seines Gesamtverzeichnisses über Repertoire und Personal einen Universalalmanach darstellt. 22 | Vgl. Ulrich 2012, 20 und die Webseite der Sammlung: www.donjuanarchiv.at/de/vorlaesse-leihgaben/sammlung-paul-s-ulrich.html. Das von Ulrich in seiner Forschung festgelegte ›Ende‹ dieser Sorte der Theaterpublizistik auf das Jahr 1918 begründet er mit einem zunehmenden Bedeutungsverlust sowohl von Theaterzetteln als auch -almanachen nach dem Ersten Weltkrieg; besonders erstere seien bereits ab Ende des 19. Jahrhunderts durch Programmhefte und Plakate abgelöst worden, vgl. Ulrich 2012, 3. 23 | Zu den Schwierigkeiten des Erfassens dieses Datenmaterials und den daraus resultierenden Problemen für eine theaterhistoriografische Forschung siehe den bereits zitierten quellenkritischen Aufsatz von Ulrich 2012, 3-26. 24 | Ulrich 1994, 132. 25 | Ulrich 1996, 130. 26 | Ulrich 1996, 132.

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praktische Schlüsse: Erstens eignen sich nur die wenigsten Theaterjournale zur Untersuchung von Tendenzen und längerfristigen Entwicklungen im Bereich der statistischen Erfassung von Spielplänen, Aufführungen, Bühnenmitgliedern und Ereignissen; zweitens bietet nur eine geringe Zahl an Almanachen einen Überblick des überregionalen Theatergeschehens und damit den Versuch einer Registrierung und Organisierung der Gesamtheit an deutschen Theatern und Schauspieler/innen, wie er hier von besonderem Interesse ist. Vor diesem Hintergrund sticht eine dieser jährlichen Dokumentationen – trotz häufiger Namen- und Herausgeberwechsel – in mehrfacher Hinsicht hervor, und zwar Ludwig Wolffs Almanach für Freunde der Schauspielkunst, der 1854 in Deutscher Bühnenalmanach umbenannt wird und neben welchem sich im Jahr 1889 ein alternatives, das Format in Teilen kopierendes ›Handbuch‹ gründet: die jährlich erscheinende Publikation Neuer Theater-Almanach, die 1915 schließlich in Deutsches Bühnen-Jahrbuch. Theatergeschichtliches Jahr- und Adressenbuch, gegründet 1889, herausgegeben von der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehörigen nicht nur umbenannt, sondern funktional auch umcodiert wird. Folglich liegt dessen Alleinstellungsmerkmal erstens in seiner Langlebigkeit, das heißt in seinem Re/produktionsfaktor, der über die Dauer von nun knapp 200 Jahren zwangsläufig interne und externe Veränderungen durchläuft; zweitens bildet dessen Stellung als Universalalmanach innerhalb des deutschsprachigen Theaters des 19., 20. und 21. Jahrhunderts mit seinem Gesamtverzeichnis über die Bühnen und deren Mitglieder einen ausschlaggebenden Grund, diesen Almanach im Folgenden hervorgehoben als (historiografisches) Quellen- und Datenmaterial für eine praxeologische Untersuchung der Organisation der Theaterbetriebe und ihres Personals zu nutzen. Mit diesem Ansatz, der im Weiteren zwar durch die bisherige Forschung zum Rollenfach und zur allgemeinen Theatergeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kontextualisiert und erweitert wird, trägt meine Forschung in umgekehrter Weise zu einer Neuperspektivierung und Vertiefung des bisherigen Wissens zur Betriebspraxis und Organisation von Schauspieler/innen infolge der immensen Zuwachsraten der Produktionshäuser und Produktionsmittel bei. Denn nach wie vor bildet nicht nur das Rollenfach aus Perspektive der Theaterpraxis (und nicht aus Sicht der Literatur- und Dramentheorie), sondern ebenso die ernsthafte Auseinandersetzung mit den ›Theaterjournalen‹ in der historiografischen Forschung ein Defizit: »Obwohl sie wertvolle Quellen sind, wurden sie bis jetzt nicht ausreichend in die Theaterforschung einbezogen. Ohne eine vertiefte Beschäftigung mit dem Inhalt dieser Quellen werden unsere Kenntnisse über den Theaterbetrieb lückenhaft bleiben.« 27

Paul S. Ulrich erläutert hierzu einleitend: »Die Bedeutung von Theaterzetteln und Theateralmanachen für die Forschung wird erst deutlich, wenn man sich mit der Praxis auseinandersetzt, für die sie hergestellt wurden.«28 In diesem Sinne soll das (Wechsel-)Verhältnis von Theateralmanach und Theaterpraxis im folgenden Unter-

27 | Ulrich 2012, 20. 28 | Ulrich 2012, 3.

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kapitel zunächst am Beispiel des Wolff’schen Almanachs nachvollzogen werden.29 Doch schon der einführend zitierte, lokale Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1828 erweist sich nun noch einmal neu als eine wegweisende Quelle. Als Bestandteil dieser im ausgehenden 18. Jahrhundert expandierenden und im Vormärz explodierenden Sorte an Theaterschriften befindet auch er sich einerseits an der Schnittstelle zwischen Theaterdiskurs und Theaterpraxis, andererseits erweist er sich doch als Namensgeber und hier als Vergleichsfolie des nachfolgend von Ludwig Wolff herausgegebenen Almanach. Dieser ›erste‹ Almanach mag zwar formal noch nicht dem auf ihn folgenden Bänden entsprechen und auch inhaltlich nur einen kleinen Ausschnitt der deutschen Theaterlandschaft abbilden, doch vermittelt er etwas von jenem Charakter, durch welchen sich die Theaterpublizistik auch in den darauffolgenden Jahren auszeichnen wird. So ähnelt die gesamte Schrift, zumal verstärkt durch den lokalen Bezugsrahmen der Stadt Riga, mehr einem Gemeindeblatt als einem Fachjournal. Dass sie mit einem Nekrolog auf ein verstorbenes Bühnenmitglied beginnt, ist hierfür nur ein erstes Indiz; das große Interesse an den verschiedensten Personen, an Vorkommnissen auf und hinter der Bühne (etwa in Bezug auf Vermählungen unter den Mitgliedern der Gesellschaft) bestätigt diesen Eindruck, selbst wenn auf Nekrologe und Alltagsgeschehnisse der Abdruck literarischer Werke (sowohl von zeitgenössischen Stücken als auch Aufsätzen oder Gedichten) folgt.30 Die Freunde der Schauspielkunst, vorgestellt als Religionsgemeinschaft, trifft assoziativ wohl den Kern der sozialen Körperschaft, welche sich im Fall der Theater-Szene – weit über einen lokal-begrenzten und geografischen Kontext hinaus – sowohl im kollektiven Glauben (an die Sittlichkeit und Bildung durch das Theater) als auch in der Praxis einer »sozialen Zirkulation«31 ihrer Mitglieder (wieder-)findet.

29 | Gleichwohl Theaterzettel für die Erforschung einzelner Rollen- und Stückbesetzungen eine ebenso aufschlussreiche Quelle darstellen mögen, werden sie hier nicht weiter untersucht, da sich der Almanach für Freunde der Schauspielkunst in Bezug auf die allgemeine Organisation von Schauspieler/innen in den Betrieben als zuverlässige und ausreichende Quelle erwiesen hat, vgl. auch die Einschätzung von Matthias J. Pernerstorfer: »Was das nicht-künstlerische Personal bzw. Zu- und Abgänge des künstlerischen Personals betrifft, bieten Theateralmanache und -journale mehr Informationen als Theaterzettel, und da sie nicht als Ankündigungen im Vorhinein, sondern zur Dokumentation wie zu Werbezwecken im Nachhinein gedruckt worden sind, ist ihre Zuverlässigkeit im Allgemeinen höher einzuschätzen.« (Pernerstorfer 2012, XI.) 30 | Vgl. Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1828. Bezüglich der meist anonym abgedruckten Gedichte, welche nicht nur Viederts Almanach, sondern die meisten Theaterjournale schmücken, schreibt Ulrich: »Diese Gedichte sind selten Originale. Sie erscheinen oft unter dem Namen des Souffleurs und sind meist nur leicht geänderte Fassungen von Texten, die immer wieder verwendet wurden.« (Ulrich 2012, 9 (Fußnote 23).) 31 | Greenblatt 1990 [1988], 14. Greenblatt bezieht im literaturwissenschaftlichen Theorierahmen des New Historicism den Begriff der sozialen Energie oder sozialen Zirkulation ursprünglich auf die »objektiven Bedingungen« (Greenblatt 1990 [1988], 14) von literarischen Texten und deren diskursive Vernetzung; mit Bourdieus Praxeologie und Feldtheorie lassen sich einerseits die Akteur/innen selbst als ›Material‹ sozialer Zirkulation denken, andererseits lassen sich damit die Zirkulationsbedingungen kritisch hinterfragen.

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Wie diese soziale Praxis der Einsetzung, Zusammensetzung und Neubesetzung von Schauspieler/innen im überregionalen Kontext vonstatten geht, ist das Thema des vorliegenden, historiografisch verfahrenden Kapitals zur Organisation der Schauspieler/innen im Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts. Ziel ist es, unterschiedliche Praktiken zur Erfassung und Ordnung des darstellenden Personals aufzuzeigen und damit zugleich die Weiterentwicklung des Rollenfachsystems aus dem 18. Jahrhundert in drei miteinander eng verknüpften (und daher nicht chronologisch zu betrachtenden) Schritten nachzuzeichnen: in der Erfassung des Personals als einer statistischen und vermittelbaren Größe, in der Organisation von Schauspieler/innen als Teile »eines Ganzen«32 und in der Inkorporierung des Rollenfachs als Habitus.

2.1.2 Das Personal als statistische und vermittelbare Größe Vor dem Hintergrund der zunehmenden Zirkulation und Fluktuation des darstellenden Personals im Theater des Vormärz kann die vielerorts durchgeführte Dokumentation sowohl der aufgeführten Stücke als auch der darstellenden Mitglieder in Form von Almanachen, Annalen oder Journalen primär als ein Mittel der Information und Kommunikation unter den Mitgliedern betrachtet werden. Wie sich aber am Beispiel des Almanachs für Freunde der Schauspielkunst und seinen Re/produktionen zeigen lässt, besitzen die Jahrbücher speziell dieses Organs weit mehr als eine informative Funktion. Wie ist diese Schrift in seinen Jahrgängen ab 1836 und unter Herausgeberschaft Ludwig Wolffs, dem »Soufleur des königl[ichen] Theaters«33 in Berlin, nun also konkret aufgebaut? Und welche Funktion nimmt es im Kontext von Theaterpraxis und Theaterpublizistik ein? Zunächst sei angemerkt, dass die Autor- beziehungsweise Herausgeberschaft seitens eines Souffleurs im Fall der Theateralmanache nicht verwundert, im Gegenteil: Theaterjournale werden »in der Regel von SouffleurInnen auf eigene Kosten hergestellt und als Zusatzverdienst verkauft […]«34. Seinem Dienst- und Erfahrungsort entsprechend liegt der Schwerpunkt der Wolff’schen Bände, betrachtet man allein die Reihen- und Rangfolge der einzelnen Inhalte, auf dem höfischen Theaterwesen in den preußischen Residenzstädten Berlin, Potsdam und Charlottenburg. Nach einem knappen Vorwort des Herausgebers leitet zunächst ein »Verzeichniss sämmtlicher Mitglieder der Königlichen Schauspiele«35 jeden der 17 veröffentlichten Jahrgänge dieses Almanachs ein. Namentlich und meist mit Angabe der privaten Anschrift aufgeführt werden – unter dem General-Intendanten – Mitglieder des General-Intendantenbüros, Rechtsvertreter, Ärzte, Angestellte im Bereich »Regie und Inspektion«36 und im Kassen- beziehungsweise Billet-Verkaufswesen. Innerhalb des Verzeichnisses folgen hierauf – bezogen ausschließlich auf die kö32 | Doerry 1926, 105. 33 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, Titelblatt. 34 | www.donjuanarchiv.at/vorlaesse-leihgaben/sammlung-paul-s-ulrich.html 35 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 5-17. 36 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 6f. In der Verbindung von »Regie und Inspektion« zeigt sich noch einmal die rein organisatorische (und nicht künstlerische) Funktion der Regie, wie sie diese bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts einnimmt.

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niglich-preußischen Schauspiele – »[d]arstellende Mitglieder nach alphabetischer Ordnung«37. Geordnet werden diese jedoch nicht allein alphabetisch, vielmehr werden sie im höfischen Register konsequent nach heutigen ›Sparten‹ und nach Geschlechtszugehörigkeit getrennt: Auf Nachname und Anschrift von insgesamt 20 »Herren« folgen im Bereich Schauspiel 17 »Schauspielerinnen« sowie drei »Kinder-Rollen«-Spielerinnen. Auf die stattliche Zahl von 40 Schauspieler/innen folgen im Weiteren 18 Sänger/Sängerinnen (von denen sieben Herren auch im Schauspiel mitwirken, acht »Vorsteher der Theater-Bildungsschulen« (etwa eine »Lehrerin des Deklamations-Instituts«, Gesangs- sowie Tanzlehrer/innen), das Chor- sowie Orchester-Personal, 19 Solotänzer/innen, »Figuranten und Pantomimisten«, Mitglieder der am Königlichen Theater ansässigen Gewerke (Dekoration, Beleuchtung, Requisite, Garderobe),38 »Kastellane«, das heißt Verwaltungsbeamte des königlichen Hofes und zuletzt – mit Nennung von Sparte und gegebenenfalls neuem Spielort – abgegangene, gestorbene und neu engagierte Mitglieder. Einen weiteren und bereits im Vorwort angekündigten Teilbereich seines Almanachs widmet Wolff anschließend dem »Bühnen-Repertoire«39 des im angegebenen Zeitraum aufgeführten und – in einem extra Verzeichnis folgend – neu aufgeführten Programmes: aufgelistet nach Monaten, differenziert nach den Gattungen Schauspiel, Trauerspiel, Lustspiel, Oper, Gesang, Posse und Vaudeville sowie unter Angabe der monatlichen Aufführungszahl.40 Ein »Verzeichniss der vom 1. Dezember 1835 bis 30. November 1836 gespielten Gastrollen und Debüts«41 mit Nennung der jeweiligen Gastrolle sowie des Herkunftsortes (etwa »vom Hoftheater zu Braunschweig«) schließt diese erste, gewissermaßen statistische Erhebung an den preußischen Bühnen ab. Hiernach geht der Almanach vorläufig in einen breiten, feuilletonistischen Teil über. Dieser ähnelt zwar in Bezug auf die Zusammenstellung unterschiedlichster Druckerzeugnisse (von jährlich abgedruckten Reden zur »Feier des Allerhöchsten Geburtsfestes Sr. Majestät des Königs« über Nachrufe von Bühnenmitgliedern oder Porträts anderer Schauspieler/innen bis hin zu einer Vielzahl an Stückabdrucken) jener vormaligen, insbesondere mitteilenden Ausgabe Friedrich Viederts, doch lässt sich mit Verweis auf Iffland, Schröder und Devrient eine eindeutig konzeptionelle Ausrichtung und Wirkungsabsicht erkennen: etwa in dem von Wilhelm August Iffland schon im Jahr 1801 verfassten, die Natur des Menschen und der Kunst mahnenden Nachruf auf den Schauspieler Johann Friedrich Ferdinand Fleck42 oder in der Programmschrift des Königlichen Hofschauspielers und Theatertheoretikers Eduard Devrient »Ueber die Nothwendigkeit der Errichtung 37 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 8-17; hier auch die nachfolgend ausgewiesenen, im Wortlaut zitierten Bezeichnungen. 38 | Während bereits einige der Handwerksberufe wie beispielsweise die Dekorationsmalerei am Hof angesiedelt sind, ist auch an den höfischen Theatern insbesondere der Arbeitsbereich der Kostümanfertigung weitgehend noch ausgelagert, vgl. die Auflistung der »[n]icht in Gehalt stehende[n] Ouvrierts und Lieferanten« im Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 17. 39 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 4. 40 | Vgl. Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 18-46. 41 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 47-50. 42 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 83f.

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eines Vereines dramatischer Künstler für dramatische Kunst«43 samt der am 17. Dezember 1834 verabschiedeten Vereinsverfassung folgen.44 Der Aufsatz Devrients und die Vereinstätigkeit in den darauffolgenden Jahren wären eine eigene Untersuchung wert. Im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit kann das Programm des Vereins dramatischer Künstler jedoch nur schlaglichtartig beleuchtet werden, während der Fokus auf der formalen oder besser funktionalen Bedeutung dieses Schriftstücks innerhalb des Organs der Freunde für Schauspielkunst liegt. Der anfängliche, assoziative Vergleich zwischen einem durch den Almanach adressierten Freundeskreis für dramatische Kunst und einer Religionsgemeinschaft braucht hier nicht extra wachgerufen zu werden; allein das konzeptionell und buchstäblich über der Programmschrift stehende Schiller’sche Motto: »Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, Bewahret sie!‹«45 erteilt dem Verein – repräsentativ für die gesamte Gemeinschaft der Schauspielkunst – eine quasireligiöse Anweisung, welche insbesondere den auserwählten Kreis der Vereinsmitglieder mit der Aufgabe der intensiven Verhandlung, der zirkulären Verbreitung und schließlich Verteidigung der sittlich-dramatischen Ideen nach innen sowie außen betraut. So muss von den Schauspieler/innen ein »starker innerer Antrieb für ihren Beruf gefordert werden«46, sodass, »wie auch die äußeren Umstände der Bühne sein mögen, doch die innere Würde der heiligen Kunst der Menschendarstellung nicht untergehe«47. Devrients Programmschrift setzt sich rhetorisch klug aus zwei Teilen zusammen: Zunächst verfasst er eine kritische Darstellung der zeitgenössischen »Verhältnisse der deutschen Bühne«48, welche durch die prinzipiell positive Öffnung, ›Einbürgerung‹ und Vergrößerung der höfischen Theater jedoch »einen so weit ausgedehnten, geräuschvollen Geschäftskreis erhalten [habe], daß es [ihr] unmöglich wurde, ein künstlerisches Band sorgfältiger Vereinigung für die allseitige Thätigkeit zu bleiben«49. Auf diese Kritik an der aktuellen Theaterpraxis, die statt »verdoppelten Eifer und reinere, freiere Begeisterung für ihre erhabene Bestimmung […] nur zu häufig Eigennutz und Selbstsucht erregt«50, folgt eine gegen den Selbstzweck des Virtuosentums gerichtete Ode an die höhere, »für allgemeine Bildung

43 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 126-139. 44 | Die Anlehnung des Vereins an die im 18. Jahrhundert gegründete Schauspielakademie der Schönemann’schen Gesellschaft ist hier unübersehbar; ihre ›Verfassung‹ vertritt bereits eine ähnliche Programmatik und ein vergleichbares Ausbildungsprogramm, vgl. Hochholdinger-Reiterer 2014, 118-144. 45 | Schiller zitiert nach Devrient im Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 126. 46 | Devrient zitiert nach Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 130. 47 | Devrient zitiert nach Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 131. 48 | Devrient zitiert nach Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 127. 49 | Devrient zitiert nach Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 128. 50 | Devrient zitiert nach Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 128.

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und Versittlichung«51 einstehende Kunst – an die dramatische Kunst, deren Rückeroberung in einer Zeit sowohl politisch als auch kulturpolitisch instabil gewordener Verhältnisse und deren Manifestation im Raum des Möglichen und im Raum der Macht Sinn und Zweck der dauerhaften Einrichtung des Vereins dramatischer Künstler darstellen: »Noch immer ist die dramatische Kunst nicht vollständig emanzipirt, noch immer weigert man ihr den Platz unter den akademischen Künsten. Es ist Zeit, daß wir unserem Streben eine unbezweifelte Werthschätzung verschaffen, wie sie den anderen Künsten zu Theil wird. Es ist Zeit, daß wir unsrem Stand, nicht nur seinen Individuen Achtung erwerben und uns des erhabenen Schutzes würdig zeigen, dessen wir uns zu erfreuen haben. – Wie aber können wir das besser, als daß wir durch ein gemeinsames, selbstverläugnendes Ringen nach der Wahrheit in unserer Kunst, eine ernst und zuverlässige Lebensrichtung bethätigen, und in einem rastlos strebenden Vereine, die Achtung und Liebe für die Kunst selbst an den Tag legen, die wir von Anderen für sie begehren.« 52

Wie die hiernach abgedruckten Vereinsstatuten belegen, dient die wöchentliche, auf »Dienstags Nachmittags um 3 Uhr«53 für zwei Stunden angesetzte Zusammenkunft einerseits der theaterpraktischen Fortbildung der Vereinsmitglieder in Form von rhetorischen Übungen, Vorsprechen von Rollen und Gedichten, »offene[r], mündliche[r], freundschaftliche[r] Berurtheilung«54 derselben sowie »Analysen von Charakteren«55. Andererseits findet im Kreis des Vereins eine theatertheoretische Erziehung und Schulung mittels einer gemeinsamen Textlektüre und Diskussion von Dramen oder dramentheoretischen Aufsätzen sowie eine praktische Verarbeitung und Weitergabe des kollektiven Wissens durch die Verschriftlichung und Veröffentlichung eigenständiger Beiträge zur zeitgenössischen Theaterpraxis oder »[ü]ber Wahrheit in der dramatischen Kunst«56 statt. Der gleichnamige und dem Verein gleichermaßen ideell übergeordnete Vortrag, der von Eduard Devrient im »Berliner Schauspieler-Vereine im Jahr 1835«57 gehalten worden ist, wird vier Jahre später im vierten Band des Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf 51 | Devrient zitiert nach Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 129. 52 | Devrient zitiert nach Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 132. 53 | Devrient zitiert nach Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 137. 54 | Verfassung des Vereins dramatischer Künstler für dramatische Kunst zitiert nach Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 134. 55 | Verfassung des Vereins dramatischer Künstler für dramatische Kunst zitiert nach Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 134. 56 | Devrient zitiert nach Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 138. Protokolliert werden innerhalb dieser ersten Nachrichten des zum Zeitpunkt der Publikation zwei Jahre tätigen Vereins bereits 25 Aufsätze, 43 rhetorische Übungen, 61 Rollenvorsprechen sowie die intensive Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Werken und Schriften (vgl. Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 137-139). 57 | »Über Wahrheit in der dramatischen Kunst«, Beitrag von Devrient, in: Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1839, 108-136.

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das Jahr 1839 abgedruckt und im Vorwort des Herausgebers bereits als »schönes und rühmliches Zeugnis für die richtigen, auf gründlichem Studium beruhenden Kunstansichten«58 angekündigt. Über die genaue Anzahl und die personelle Zusammensetzung des Vereins zum Zeitpunkt der Veröffentlichung jener ersten Nachrichten im Almanach auf das Jahr 1836 werden keine konkreten Angaben gemacht, außer dass sich der Verein ursprünglich aus dem Kreis »einige[r] Schauspieler der berliner Hof bühne«59 rekrutiert. Den Aufnahmemodalitäten nach zu urteilen, wie sie unter Paragraf IV. festgehalten werden,60 lässt sich aber vermuten, dass der Verein eher selbst-referentiell auf einen kleinen, auserlesenen Kreis beschränkt und dem Umfeld der Berliner Bühnenmitglieder vorbehalten bleibt. Die prominente Veröffentlichung der Vereinsgründung, seiner Tätigkeiten und seiner Ideen inmitten des neu publizierten, erfolgsversprechenden Organs der Freunde der Schauspielkunst öffnet den Fragehorizont in Richtung des Mehrwerts und Nutzens, den beide Parteien – also sowohl die Künstler/innen des Vereins als auch der Herausgeber und Souffleur Wolff – durch den Abdruck der Vereinsnachrichten haben. Die Motivation des Vereins lässt sich allein dadurch erklären, dass die unzähligen, Theaterjournale jener Zeit, die im Umfeld gar der kleinsten Bühnen in der Verantwortung von Souffleuren entstanden sind, in der Regel nicht nur zur reinen Dokumentation, sondern zugleich auch zu Werbezwecken seitens kunstnaher Vereinigungen oder theateraffiner Gewerbe genutzt worden sind.61 Selbst wenn der Verein wohl nicht die Absicht gehabt haben kann, durch seine öffentliche Präsentation neue Mitglieder zu generieren, so wirbt er doch für seine Idee und für die Sittlichkeit seiner Mitglieder – auch König Friedrich Wilhelm III. und dem General-Intendanten Graf Wilhelm von Redern gegenüber, denen als Vorstehern der königlichen Schauspiele in Berlin die jährliche Übersicht über das Repertoire und Personal für gewöhnlich vorgelegt werden musste. Der Verein präsentiert sich damit einem lokalen und, wie anzunehmen ist, auch überregionalen Theaterpublikum, setzt sich für seine Interessen die ›schöne‹ dramatische Kunst

58 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1839, iv. 59 | Devrient zitiert nach Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 133. 60 | Hier heißt es unter drittens: »Mitglied kann jeder ausübende dramatische Künstler werden, wenn derselbe – der Stimmen hat. – Vorschläge zur Aufnahme können nur von Mitgliedern gemacht werden. Die Diskussion über die Aufnahme ist, mündlich, laut, öffentlich und motivirt.« (Verfassung des Vereins dramatischer Künstler für dramatische Kunst zitiert nach Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 136.) 61 | Vgl. Pernerstorfer 2012, XI. In geschäftlichem Sinne findet sich etwa am Ende eines jeden Jahrgangs des Wolff’schen Almanachs die Rubrik »Zu beachtende Anzeigen für Schauspieler und Bühnenvorstände«, innerhalb derer Annoncen (in den 1840er-Jahren zunehmend auch von Engagementsvermittler/innen und Bühnenverleger/innen), Empfehlungen oder auch Tipps besonders im Bereich der Schneiderei, Requisite oder Dekoration zu finden sind, vgl. bspw. Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 255-262; auch noch in der heutigen Variante des Deutschen Bühnen-Jahrbuchs wird hierfür extra ein »Anzeigenteil«, differenziert nach einzelnen Bereichen wie ›Bühnenbedarf/Theatertechnik‹ oder ›Bühnenvermittlungen/Agenturen/Konzertdirektionen‹, eingeräumt, vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 2016, Anzeigenteil, 18-43.

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betreffend ein, verbreitet diese über das Organ des Almanachs und ruft gegebenenfalls auch zur Nachahmung andernorts auf. Dass die Erneuerung bis hin zur Inkorporierung jener vom Verein dramatischer Künstler für dramatische Kunst angestrebten, in der deutschen Klassik des 18. Jahrhunderts diskursiv produzierten (Nationaltheater-)Ideen und (Bildungs-) Ideale mittels der Veröffentlichung im Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836 auch über den lokalen Kontext hinaus Verbreitung finden, lässt sich in Anbetracht des zunehmenden Auflagenerfolges62 sowie mit Blick auf den Mehrzweck der Publikation seitens des Herausgebers mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen. So begründet Wolff seine (Neu-)Herausgabe des Almanachs bereits im Vorwort mit der »freundliche[n] Aufnahme«63, welches schon das durch ihn zwischen 1830 und 1836 publizierte Bühnen-Repertoir64 der königlichen Schauspiele in Berlin gefunden habe. Wie auch Ulrich bemerkt, kann folglich »der erste Teil [des neuen Almanachs ab 1836] als Fortsetzung des lokalen Almanachs betrachtet werden«65. Im Format der Neuherausgabe wird letzterer jedoch – feldstrategisch äußerst produktiv, so möchte ich betonen – in einen Universalalmanach mit Ziel eines alle deutschen Bühnen erfassenden Gesamtverzeichnisses umgewandelt und damit auch einem überregionalen Publikum beziehungsweise einer breiten Leserschaft zugänglich gemacht. Wolffs eigene, als kollektives Wissen formulierte und reproduzierte Perspektive auf die Schauspielkunst deutet er ebenfalls bereits im Vorwort an: »Die Schauspielkunst, unter welchem Ausdrucke wir im weitesten Sinne das Gesammte der theatralischen Darstellung verstehen, giebt gegenwärtig den eigentlichen Mittelpunkt unserer Kunstbildung ab, insofern sie nämlich nicht nur ein Gegenstand des allgemeinen Antheils ist und ihre Wirkung in alle Stände gleich stark eingreift, sondern auch alle besonderen Künste, mit denen sie einen gemeinsamen Bund geschlossen hat, in ihr thätig erscheinen und ihre zweite Heimath finden.« 66

Schauspielkunst als vereinigende Kunst aller Künste, die Schaubühne als gemeinschaftsstiftende, moralische Anstalt aller Stände – dieses nationalstaatlich gesinn62 | Im Vorwort des sechsten Jahrgangs auf das Jahr 1841 heißt es, »daß die ganze nicht unbedeutende Auflage vom vorigen Jahre bis auf wenige Exemplare vergriffen ist« (Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1841, 3f.). Eine konkrete Auflagenzahl von über 2600 Exemplaren wird erst innerhalb des 34. Jahrgangs auf das Jahr 1869 im Nachfolgeorgan Deutscher Bühnen-Almanach genannt, vgl. Deutscher Bühnenalmanach 1870 (34. Jg.), iii. Im Vorwort des 1889 begründeten Genossenschaftsorgans Neuer Theater-Almanach. Theatergeschichtliches Jahr- und Adressen-Buch ist ebenfalls von einer ähnlichen Ausgangs-Auflagenzahl die Rede, die dank der wachsenden Zahl an eingetragenen BühnenAngehörigen »in wenigen Jahren von 2200 bis zu 5500 Exemplaren« angestiegen sei, vgl. Neuer Theater-Almanach 1895, iii. 63 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 3. 64 | Vgl. Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 3. Nach Ulrich lautet der vollständige Titel dieser von Wolff herausgegebenen Schrift Repertorium und Personalbestand der Königlichen Schauspiele zu Berlin, siehe Ulrich 2012, 14 (Fußnote 39). 65 | Ulrich 2012, 14 (Fußnote 39). 66 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 3.

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te und bürgerlich geprägte Ideal der deutschen Bühne motiviert intrinsisch die Wolff’sche Unternehmung eines universalen, integrierenden Almanachs, der weit über die Funktion der Informationsvermittlung und jährlichen Dokumentation hinaus als ein effektives Instrument der Verbreitung und Verteidigung sowie der handfesten Manifestation des dramatischen Dispositivs betrachtet werden kann. Diese Funktion des Almanachs, Mittler des Diskurses und zugleich Mittel der Praxis zu sein, soll nachfolgend in ihren komplexen Zusammenhängen weiter dargelegt werden – auch wenn das durch den Herausgeber erklärte Hauptziel, »eine vergleichende Uebersicht der verschiedenen Bühnen-Repertoire zu liefern«67, im ersten Jahrgang des Almanachs noch nicht in aller Gänze erreicht werden kann, »theils weil die Verzeichnisse zu spät eingesandt worden, theils weil in mehreren die nothwendigen Bemerkungen hinsichtlich der Zahl der Wiederholungen der besonderen Darstellungen übergangen waren; doch verspricht der Herausgeber im nächsten Jahrgange, wenn er das Glück haben sollte, Interesse für seine Arbeit zu erregen, die Repertoire sämmtlicher deutschen Bühnen zu liefern, damit den Theaterfreunden eine genaue Uebersicht über das Wirken jeder einzelnen Bühne werde, und sie so Gelegenheit finden Vergleiche anstellen zu können. Der diesjährige Almanach bringt außer mehreren dramaturgischen Abhandlungen und anderen Aufsätzen die Personal-Verzeichnisse der mehrsten deutschen Bühnen, und liefert so einen Nachweis welcher nicht ganz unzweckmäßig erscheinen dürfte.« 68

»Nicht ganz unzweckmäßig« ist dieses »Verzeichniss der deutschen Bühnen, ihrer Vorstände und Mitglieder, wie sie dem Herausgeber bekannt geworden sind«69 und welches für das Jahr 1836 immerhin bereits 59 Theater-Städte mit Personalverzeichnis auszuweisen vermag,70 auch im Forschungskontext der vorliegenden Arbeit nicht, welche die Re/produktion und Subjektivation von Künstler/innen innerhalb des (Stadt-)Theaterfeldes historisch und für das Gegenwartstheater empirisch untersucht. Das von Ludwig Wolff erstmals längerfristig und erfolgreich angelegte Gesamtverzeichnis der deutschen Bühnen,71 deren personelle ›Mitteilungen‹ 72 heute im Deutschen Bühnen-Jahrbuch unter der Rubrik »Die deutschen Theater.

67 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 4. 68 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 4. 69 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 194-252. 70 | Neben 21 höfischen/königlichen/großherzoglichen Theatern werden 21 ›Stadttheater‹ explizit als solche ausgewiesen, wohingegen 16 weitere, privat finanzierte Unternehmungen keine expliziten Bezeichnungen erfahren und nur die Stadt Mainz ein ›Nationaltheater‹ – laut dem Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836 – präsentiert. 71 | Der Almanach für Freunde der Schauspielkunst hat einen berühmten, jedoch noch nicht jenes Verzeichnis nach Städten/Bühnen aufweisenden Vorgänger, und zwar den Theater-Kalender, der zwischen 1775 und 1800 von Heinrich August Ottokar Reichard in Gotha herausgegeben worden ist, vgl. Ulrich 1996, 137. 72 | Während Wolff im ersten Jahrgang das Verzeichnis mit dem Zusatz »wie sie dem Herausgeber bekannt geworden sind« belegt, ändert er diesen Wortlaut bereits im Folgejahr in »wie sie dem Herausgeber mitgetheilt worden sind« ab. Der Begriff der Mitteilung gibt hierbei Auskunft über das Verfahren der ›Datenerhebung‹, welches formal in den Händen der Theaterdirektionen lag.

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Verzeichnis der Vorstände und Mitglieder« 73 konsequent fortgeführt werden, liefert in diesem Zusammenhang einerseits Hinweise auf den Begriff des Stadttheaters selbst, wie er bereits in den ersten Jahrgängen des Almanachs inflationär und kreativ Anwendung findet und Begriff und Bedeutung des Stadttheaters auf diese Weise etabliert (vgl. Kapitel 1.2.1). Andererseits gibt das Verzeichnis Auskunft über die Nennung und buchstäblich die Kennung von Darsteller/innen, wie sie hier im Besonderen von Interesse ist. Die eingangs formulierten Fragen, Auf bau und Ausrichtung des Wolff’schen Almanachs betreffend, sollen hier noch einmal speziell in Bezug auf diesen zweiten, allgemeinen respektive universalen Teil Anwendung finden: Wie ist also das Verzeichniss der deutschen Bühnen, ihrer Vorstände und Mitglieder innerhalb des Almanachs aufgebaut? Was bildet er ab, welche Veränderungen sind innerhalb der ersten Jahrgänge sichtbar? Und welche Funktion nimmt es im Spannungsfeld von Theaterpraxis und Theaterpublizistik ein? Der grundsätzliche Auf bau des Gesamtverzeichnisses der deutschen Bühnen folgt (bis heute) einer alphabetischen Ordnung der Städtenamen.74 Wie eben angedeutet, befinden sich die Theaterdirektionen dabei selbst in der schriftlichen und fristgerechten Mitteilungspflicht, wodurch sich formale Abweichungen in der Bezeichnungspraxis der einzelnen Hof-, Stadt- und Wandertheater sowie in der Kennzeichnung ihrer Mitglieder erklären.75 Aus diesem Grund lassen sich zwar keine gesicherten Aussagen treffen, sehr wohl aber Tendenzen erkennen und äußern. Nach Erstnennung des Direktors/der Direktorin (welche meist zugleich als Unternehmer/innen angeführt werden) respektive der Intendanz im Fall von Hoftheatern sowie nach namentlicher Auflistung der (wenn vorhanden) Kapellmeister, des Musik- und Chordirektoriums, der Regie, Inspizienz, Soufflage, des Kassenpersonals und anderen in je unterschiedlichem Umfang folgt sodann die Aufzählung der darstellenden Mitglieder. In Anlehnung an das Erstverzeichnis der königlich-preußischen Schauspiele werden die einzelnen Verzeichnisse der darstellenden Mitglieder in der Regel nach Herren, Damen und ggf. Kinderrollen, im Kontext größerer Gesellschaften zudem nach abgegangenen und neu engagierten Mitgliedern aufgelistet, deren Herkunfts- beziehungsweise neue Arbeitsorte teils als Zusatzinformation mitgeteilt, teils nicht extra angeführt werden. Im direkten Vergleich mit dem preußischen Register ist weniger die unterschiedliche Größenordnung des Personals überraschend, als vielmehr die fehlende Unterteilung nach künstlerischen Sparten, wie sie in Form der Trennung nach Sprech-, Musik- und Tanztheater auch unter sich gegenwärtig wandelnden Verhältnissen (noch) die Regel ist. Zwei Ausnahmen hiervon bilden Münchens »Königliches Hof-Theater« 76 und die auf das Jahr 1837 dahingegen geänderte Eintragung 73 | Vgl. bspw. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 2016, 25-505. 74 | Eine Übersicht über die einzelnen Theater innerhalb eines extra angefertigten Inhaltsverzeichnisses findet sich seit Übergabe des zu diesem Zeitpunkt bereits institutionalisierten Almanachs in die Hände des Souffleurs Alois Heinrichs mit dem elften Jahrgang des dementsprechend in Wolff’s Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1846 umbenannten Werkes. 75 | Heute werden die jährlichen ›Mitteilungen‹ über ein Internetportal übermittelt, welche pro Spielzeit gegebenenfalls modifiziert werden können. 76 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 234.

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des »Stadt-Theater[s]« 77 Frankfurt a.M., welchem »Oberdirektor: Hr. Bankier Leerse« 78 vorsteht. Beide Theater sind personell und davon ausgehend finanziell gut ausgestattet, sodass eine Spartentrennung – organisatorisch und finanziell – überhaupt möglich erscheint. Der Fall Frankfurt macht zudem auf die ansonsten gängige Anstellungs- und Besetzungspraxis aufmerksam, denn »[v]om Opernpersonale wirken im Schauspiele mit: Dlle. Hoffmann. Die Herren: Wiegand, Lehr, Linder, Haßel und Meisinger« 79. Üblicherweise werden – dem gemischten Repertoire und der Aufführungspraxis in den Theaterbetrieben des frühen 19. Jahrhunderts entsprechend, in denen meist innerhalb einer Abendvorstellung ein buntes Programm geboten wird – die darstellenden Mitglieder innerhalb der Gesellschaften »amphibisch«80, das heißt sowohl für ein oder mehrere literarische Rollenfächer als auch für ein Stimmfach – in seltenen Fällen auch für bestimmte Tanzpartien – engagiert, wie sich durch die Mitteilungen im Almanach nachweisen lässt. So unterschiedlich die Benennungen der einzelnen Bühnen ausfallen, so verschieden und wechselhaft erweist sich auf den ersten Blick die konkrete Kennzeichnung der einzelnen Mitglieder. Es werden zwar innerhalb der Auflistung der darstellenden Mitglieder, den Personenregistern von Periodika standardgemäß, nur die Nachnamen verzeichnet und (ebenfalls einer allgemeinen Norm entsprechend) eine Differenzierung nach Geschlechtszugehörigkeit respektive eine forcierte Identifizierung des weiblichen Personals nach Familienstand durch Verwendung ausschließlich von weiblichen Anredeformen beziehungsweise ihrer jeweiligen Abkürzungen (Mad. versus Dlle.) vorgenommen – Männer hingegen existieren in der Regel ›ohne Geschlecht‹.81 Die darüber hinausgehende Kennung der Darsteller/innen scheint zunächst jedoch keiner erkennbaren Regel zu folgen, sondern ausschließlich von den individuellen Mitteilungen der Direktionen abhängig zu sein: In einigen Fällen werden die Darsteller/innen innerhalb des Verzeichnisses der jeweiligen Bühne nach Rollen- und/oder Stimmfächern spezifiziert und quasi marktkonform kategorisiert; teils werden diese aber auch – wie im Erstverzeichnis der königlich-preußischen Bühne Standard – einer rein nominellen Identifizierung beziehungsweise Personifizierung seitens eines lokalen, wissenden Publikums überlassen. Darüber hinaus lassen sich im Vergleich aufeinanderfolgender Jahrgänge Schwankungen und Modifikationen der jeweiligen Kennzeichnungspraxis einzelner Theaterorte feststellen, die häufig in direktem Zusammenhang mit Direktionswechseln (und damit Wechseln der Autorschaft über die Mitteilungen) zu sehen sind. Mit letzteren ändert sich auf theaterpraktischer Ebene folglich nicht nur die Zusammensetzung meist des gesamten Personals, sondern auch die diskursive Praxis der Informationsvergabe innerhalb des Almanachs.82 Bei näherer Untersuchung und im Vergleich mehrerer aufeinanderfolgender Jahrgänge bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist zwar weiterhin kein eindeutiges 77 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1837, 344. 78 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1837, 344. 79 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1837, 345. 80 | Doerry 1926, 32. 81 | Vgl. auch Bender/Bushuven/Huesmann 2005, xix. 82 | Vgl. etwa die Eintragungen des Stadttheaters Altona im Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 195 und im Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1837, 315.

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Regelwerk für alle Bühnen hinter der Bezeichnungs- und Kennzeichnungspraxis ihrer darstellenden Mitglieder erkennbar, jedoch zweifelsohne eine aufscheinende Tendenz: So wird trotz aller Modifikationen über die ersten Jahre des Bestehens des Wolff’schen Almanachs hinweg nicht allein an der formalen Kennzeichnung der Darsteller/innen durch die Rollenfächer prinzipiell festgehalten; vielmehr werden die je spezifischen Fachangaben in Umfang und Genauigkeit ausgebaut.83 Der Almanach für Freunde der Schauspielkunst beinhaltet in Form der Verzeichnisse demnach nicht nur eine erste quantitative und – in Anbetracht seiner Weiterentwicklung – langfristige Statistik über die Zahl(en) der Bühnen und des nicht-/ künstlerischen Personals. Er generiert darüber hinaus eine qualitative Erhebung, indem er selbst zum Erhebungsinstrument der Ko-Akteur/innen und der einzelnen Theaterbetriebe gemacht wird, welche die darstellenden Mitglieder mittels Namen und Anredeformen nach Geschlecht (und Familienstand) differenzieren und mittels der Fachangaben kategorisieren, nach ersten und zweiten Fächern klassifizieren und auf diese Weise innerhalb des Ensembles beziehungsweise Personals organisieren. Besonders »[w]egen seiner zuverlässigen Angaben galt dieser Almanach als offizielles Handbuch des deutschen Theaters«84, wie Ulrich dessen Position innerhalb der deutschsprachigen Theaterpublizistik im Vormärz einschätzt und darüber hinaus konstatiert: »Das Ansehen und die Bedeutung dieses Werkes beschränkt sich nicht nur auf das deutsche Theater, auch in Frankreich wurde der Almanach zum Vorbild ähnlicher Veröffentlichungen«85, die versuchten, ein Gesamtverzeichnis der französischen Bühnen und Mitglieder anzulegen, doch seien diese nach kurzer Zeit an dieser Aufgabe gescheitert. Der eben konstatierte, formale Ausbau der Angaben lässt sich nun einerseits auf die Verbreitung des Organs innerhalb der ›Fachgesellschaft‹ zurückführen, andererseits auf die Institutionalisierung eines mit dem Schriftstück in engster Verbindung stehenden, neuen Praktikenkomplexes, nämlich dem Agenturwesen im Bereich der Engagementsvermittlung. Auf diesen Zusammenhang zwischen der infrastrukturellen Einrichtung des Agenturwesens und der Theaterpublizistik hat Harald Zielske zwar hingewiesen,86 jedoch benennt er innerhalb seines Aufsatzes zum »Hoftheater und Stadttheater im Vormärz«87 an keiner Stelle das Kind auch beim Namen. Ludwig Wolffs Rolle innerhalb des Berliner Theatergeschehens der 1830er- und 1840er-Jahre bleibt nämlich nicht auf seine Tätigkeit als Souffleur und Herausgeber des ersten, ein breites Publikum integrierenden und adressierenden Almanach für Freunde der Schauspielkunst beschränkt. Vielmehr besteht sie zudem in der

83 | Vgl. exemplarisch die unterschiedlich ausfallenden Eintragungen der verschiedenen Gesellschaften in Aachen: vgl. Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 194f, Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1837, 312-314 sowie Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1839, 243-245. 84 | Ulrich 1996, 138. 85 | Ulrich 1996, 138 (Fußnote 25). 86 | Vgl. das Zitat Zielskes auf Seite 130 der vorliegenden Arbeit. 87 | Zielske 2001, 43-69.

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Der Joker im Schauspiel »Einrichtung der Theateragentur […] seit der Mitte der [18]30er Jahre, wo der Souffleur Wolff vom königlichen Schauspielhaus in Berlin zuerst aus dem Vertrieb von Bühnenwerken und der Engagementsvermittlung ein Gewerbe machte.« 88

Damit kann Wolff als Pionier des Vermittlungswesens gelten,89 dessen Hauptakteur er in den Folgejahren dank der erfolgreichen Etablierung seines Almanachs innerhalb der deutschen Theaterszene wird. Dass dabei im Besonderen die Einrichtung des Gesamtverzeichnisses der deutschen Bühnen, ihrer Vorstände und Mitglieder »nicht ganz unzweckmäßig erscheinen dürfte«90, wie der Herausgeber im ersten Vorwort auf das Jahr 1836 das Unternehmen noch bescheiden äußert, lässt sich erst im Hinblick auf diese Entwicklung in seiner konkreten Bedeutung verstehen. Absolut zweckmäßig und im Kontext eines grundständig auf Fächern basierenden Verteilungs- und Organisationssystems praktisch sind die detaillierten und veröffentlichten Rollenfachangaben der einzelnen Darsteller/innen im Almanach folglich für die Kommunikation zwischen Theaterdirektor/innen und Engagementsvermittler/innen, denen seit den 1830er-Jahren eine wachsende Bedeutung als professionelle Ko-Akteur/innen und Kenner/innen des Theaterwesens zukommt. So schreibt Ulrich nicht nur über den Wolff’schen Almanach der Freunde für Schauspielkunst, sondern auch über die in dessen Nachfolge zur Praxis gewordenen Veröffentlichungen von Vermittler/innen: »Typisch für die von ihnen herausgegebenen Almanache ist die Berücksichtigung möglichst vieler in- und ausländischer deutschsprachiger Bühnen. Diese Almanache stellen eine Art von Werbung dar und dokumentieren die Bedeutung der jeweiligen Agentur. Durch die Bekanntgabe der Bühnentätigkeit von Schauspielern bzw. der Existenz von Bühnenwerken ließ sich eine Vermittlung sach- und zielgerechter vornehmen.« 91

Wie ich eben – in der begründeten Ausführlichkeit – hinsichtlich des Auf baus, der Inhalte und der eingeschriebenen Bezeichnungspraktiken am Beispiel des Wolff’schen Almanach exemplarisch dargelegt habe, geht dessen Funktion weit darüber hinaus, ausschließlich Werbeträger und Informationsmittel für die Agentur(en) respektive deutschen Bühnen(angehörigen) zu sein. Die im Zuge der Verknüpfung von Theaterpublizistik und Vermittlungswesen neu entstehenden Theateralmanache seit den 1830er-Jahren übernehmen sowohl eine die Schauspieler/ innen nach Bühnen und Rollenfächern kategorisierende und gleichwohl – wie anschließend noch zu zeigen sein wird – klassifizierende Funktion als auch eine 88 | Doerry 1926, 102. 89 | Eine Verbindung zwischen dem Aufgabengebiet von Souffleur/innen und Vermittler/innen ist im zeitgenössischen Berufsbild der Souffleur/innen zu sehen, die »sehr unterschiedliche Tätigkeiten zu verrichten [hatten]. Sie wurden oft eingesetzt, um Kopien der gespielten Stücke anzufertigen beziehungsweise die Rollen abzuschreiben« – sozusagen nah an der ›Quelle‹ »wurde auch ein unerlaubter Handel mit Theaterstücken getrieben, der später sogar eine Haupteinnahmequelle für die von Souffleuren gegründeten Theateragenturen wurde, die zu dieser Zeit einen Handel mit Bühnenmanuskripten betrieben.« (Ulrich 2012, 14 [Fußnote 41]). 90 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 4. 91 | Ulrich 1996, 133f.

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fortschreibende und erstmals einschreibende Praxis der Subjektivation mit daraus folgenden Subjektivierungseffekten. So lassen sich die Bezeichnungen und Kennzeichnungen von Schauspieler/innen durch Fachangaben auch als »diskursiv produzierte und vermittelte normative Vorgaben zu Subjektformierungen/Subjektpositionierungen«92 begreifen. Schauspieler/innen werden im 19. Jahrhundert dementsprechend erst in der Re/präsentation eines oder mehrerer Fächer als intelligible Subjekte respektive Akteur/innen wahrgenommen und ›im Feld‹ anerkannt. In seiner medialen Funktion wird der Almanach dabei selbst zu einem wesentlichen Motor und Aktant eines sich dynamisierenden und autonomisierenden, sozial und ästhetisch orientierten Feldes, indem er als Dokumentations-, Distributionsund zugleich Kontrollorgan sowohl den Theaterproduzent/innen als auch den nach Fächern differenzierten Akteur/innen eine öffentliche Plattform bietet. Im selben Zuge mit dem Medium erscheint auch die Figur des Agenten als ein neuer Ko-Akteur neben den darstellenden Akteur/innen und Theaterproduzent/ innen auf der Bühne des deutschen Theaters und konstituiert dieses in der kritischen Phase seiner Entstehung als ein sich vernetzendes und Kapital distribuierendes Feld in entscheidender Weise mit. Funktional betrachtet nehmen die Vermittler/ innen dabei eine Schnittstellenfunktion zwischen Produzent/innen und Akteur/ innen ein. Aufgrund ihrer speziellen Bedeutung im Kontext der Subjektivation von Schauspieler/innen werden sie im Weiteren jedoch in Anlehnung an Doerry auf Produktionsseite verortet: »Der Agent, dessen Streben nicht in der Entwicklung der Kunst seine Ziele findet, sondern der lediglich die geschäftliche Seite des Theaters im Auge hat und sich daher der einmal bestehenden, rein aus der handwerklichen Praxis hervorgegangenen Einrichtungen des Theaterbetriebes bedient, ist so eine wesentliche Stütze für das Rollenfach geworden […].« 93

Ungeachtet der von Doerry vorgenommenen, einseitigen Betrachtung des Theateragenturwesens als ein kommerzielles Geschäft ist dem Autor doch in einem wesentlichen Punkt zuzustimmen und zwar in der Re/produktion der vordefinierten Organisationsstruktur durch Anwendung des Rollenfaches als eine kategorisierende und katalogisierende Praxis. Auf exemplarische Weise nehmen die selbst im Feld tätigen Theateragent/innen damit die Rolle von Ko-Akteurinnen ein, die sich nach Bourdieu »mit den Gesetzen befassen, gemäß derer die Strukturen die Tendenz haben sich dadurch zu reproduzieren, dass sie Vermittler produzieren, die mit dem Dispositionssystem versehen sind, das in der Lage ist, den Strukturen angepasste Praktiken zu erzeugen, und damit dazu beiträgt, die Strukturen zu reproduzieren«. 94

Dass die Verbindung von Theaterpraxis, -vermittlung und -publizistik auch in der Weiterentwicklung des Schauspiels und der Ausdifferenzierung der Theaterwesens Erfolge verspricht, belegt exemplarisch die kontinuierliche Weitergabe des Almanach für Freunde der Schauspielkunst in die Hände von Theateragenten 92 | Bührmann/Schneider 2008, 69. 93 | Doerry 1926, 102. 94 | Bourdieu 1973, 92.

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und Kollegen: Alois Heinrich (1812-1861), der 1846 Wolffs Almanach für Freunde der Schauspielkunst übernimmt und diesen mit dem 18. Jahrgang 1854 in Deutscher Bühnen-Almanach umbenennt, ist wie Wolff nicht nur Souffleur an den königlichpreußischen Schauspielen, sondern seit 1843 ebenfalls Theateragent in Berlin; nach Heinrichs Tod setzt 1862 der Verleger und Theateragent Theodor Entsch die Bände fort. Diese Genealogie wird erst im Jahr 1889 gestört und 1894 abgebrochen, als sich ein Konkurrenzunternehmen mit dem Titel Neuer Theater-Almanach unter der Verantwortung der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger durchgesetzt haben wird.95 Das Unterkapitel Rollenfach als Un/recht wird diesen Prozess erneut aufgreifen und im Kontext des »Kampf[es] um das Fach«96 seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beleuchten. Zuvor jedoch sollen neben der statistischen Erfassung und ›objektiven‹ Kategorisierung von Schauspieler/innen durch die Bezeichnungspraxis des Almanachs jene ihr zugrundeliegenden, subjektivierenden Strukturkategorien und Organisationspraktiken dargelegt werden.

2.1.3 Subjektivation und Subjektivierung durch das Rollenfach In Anbetracht der Forschungslage zum Rollenfach als »zentrale[m] Strukturprinzip der europäischen Theaterpraxis vom 17. bis zum 19. Jahrhundert«97 soll es im Folgenden weniger um eine Typologie der verschiedenen Fächer,98 als vielmehr um die Frage nach der durch das Rollenfach erzeugten und aufrechterhaltenen Subjektivation von Schauspieler/innen nach ganz bestimmten Dispositionen gehen. Doch wonach werden diese eigentlich bemessen? Wo und wie sind die Rollenfächer zu verorten, in welchen Materialien, Praktiken und Strukturen? Und welche Ko-/Akteur/innen profitieren davon? Wie zu zeigen sein wird, setzt mit der beginnenden Neustrukturierung des deutschen Theaterwesens seit den 1830er-Jahren auch eine Fokusverschiebung und schrittweise Reduktion der Fächer ein, sodass die theatrale Konvention des Rollenfachsystems insgesamt als historisch kontingent beurteilt werden kann. Es ist diese Kontingenz des Systems, die zu seiner latenten Persistenz noch in heutigen Praktiken beiträgt, so meine vorangestellte These, welche auch die anschließenden Kapitel forschungsleitend begleiten wird. Dass das Rollenfachsystem die deutsche Theaterpraxis seit Mitte des 18. Jahrhunderts bis weit ins 19. Jahrhundert hinein organisiert und die standardisierte »Praxis der Schauspielkunst«99 der vielerorts noch wandernden und erst langsam sesshaft werdenden Schauspieler/innentruppen überhaupt praktikabel macht, steht theaterhistorisch außer Frage. Es gilt als eine »historisch gewachsene Konvention«100, welche auf der Basis sowohl literarischer als auch performativer Typen101 95 | Vgl. Ulrich 1996, 138f. 96 | Doerry 1926, 118-129, hier 118. 97 | Detken/Schonlau 2014, 7. 98 | Zur Typologie der Rollenfächer im 18. Jahrhundert vgl. Diebold 1913; zur quantitativen und qualitativen Reduktion der Fächer und ihrer Bedeutung im Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts siehe Doerry 1926. 99 | Maurer-Schmoock 1982, 157-201. 100 | Detken/Schonlau 2014, 14. 101 | Auf Basis der Reichard’schen Zeugnisse, speziell seines Theater-Kalender, datiert Diebold die Übernahme des französischen, literarisierten Fachsystems – das wiederum den

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einerseits die Dramen-, andererseits die Theaterproduktion inklusive der daran angepassten Besetzungs-, Darstellungs- und Wahrnehmungspraktiken102 regelt und reguliert. Durch die im ausgehenden 18. Jahrhundert vollzogene Literarisierung des deutschen Theaters wird die theatrale Konvention des Rollenfachs primär in und durch die zeitgenössische Dramenproduktion, das heißt durch die Re/produktion spezifisch-dramatischer Figurentypen und -konstellationen tradiert.103 Dementsprechend bieten Anke Detken und Anja Schonlau eine strukturelle Erklärung für die Persistenz des Systems auf Textebene an; das Rollenfach sei nämlich »die Theaterkonvention, welche die Akteure strukturell mit den Figuren des Dramentextes verbindet«104 . Doch steht nicht nur das einzelne Fach mit seinem Spektrum an Rollen und dementsprechend Rolleneigenschaften routinemäßig fest, sondern mit ihm auch der ›angestammte‹ Platz des Schauspielers/der Schauspielerin innerhalb der Truppenhierarchie. Die Literaturwissenschaftlerin Sybille Maurer-Schmoock bezeichnet diese Hierarchisierung und Privilegierung (der ersten gegenüber den zweiten Rollen und der tragischen gegenüber den komischen Fächern) dementsprechend als »Klassifizierungsprinzipien«105 – dem Rollenfachsystem ist folglich per se eine italienischen, performativen Figuren der Commedia dell’arte entlehnt ist – in das deutsche Theaterwesen auf die 1750er-Jahre, siehe Diebold 1913, 53 (Fußnote). 102 | Abgesehen von dem Fehlen der zeitlichen und finanziellen Möglichkeiten lässt das Rollenfachprinzip den heute unabdingbar geglaubten Probenprozess lange Zeit obsolet erscheinen; erste Vorstöße gibt es zwar bereits im 18. Jahrhundert, etwa durch die Prinzipalin Friederike Caroline Neuber, genannt »die Neuberin«, oder in der durch Conrad Ekhof 1753 gegründeten Schönemann’schen Schauspielakademie (vgl. Maurer-Schmoock 1982, 173183), doch erst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert etabliert sich – parallel zur Einführung der Regie als einer künstlerischen Position – die Probenpraxis als eigenständige Phase der Kunstproduktion, vgl. Matzke 2012. 103 | Dies erklärt, warum sich infolge der »Aufnahme der französischen Gesellschafts- und Sittenstücke« (Doerry 1926, 25) in die Spielpläne der 1830er-Jahre temporär die interne Hierarchie der Rollenfächer wandelt und die Salondame und der Bonvivant als übergeordnete (zuvor zweite und nun erste!) Fächer/Kategorien gesellschaftsfähig werden. Doerry weist der Dramatik zwar ein transformatorisches Potential in Bezug auf das Fachsystem zu; dies kann er insbesondere an der Einführung neuer, moderner Frauenrollen durch Ibsen (zum Beispiel Nora oder Hedda Gabler) und der damit einhergehenden Anerkennung des »Fach[s] des weiblichen Charakterspielers« (Doerry 1926, 90) belegen, doch muss er schließlich selbst einräumen, dass diese Entwicklung oder besser Ergänzung bereits bestehender Fächer nicht zu einer umfassenden ›Neubildung‹ des gesamten Systems geführt habe, siehe Doerry 1926, 92f. Andere Einflüsse scheinen an der Tradition der Rollenfächer festgehalten zu haben und diese trotz Einführung der Regie und des Regietheaters bis heute – latent – zu re/produzieren. 104 | Detken/Schonlau 2014, 17. 105 | Vgl. auch Maurer-Schmoock 1982, 160. Kritik an der hierarchischen Truppenstruktur und dem damit verbundenen, einzelne Schauspieler/innen privilegierenden Virtuosenspiel wird zwar seit Mitte des 18. Jahrhunderts geäußert, etwa durch Ekhof, Dalberg oder Goethe (vgl. Maurer-Schmoock 1982, 179-183), die Idee des Ensemblespiels, verstanden als künstlerische Gesamtleistung und harmonisierendes Zusammenspiel aller Akteur/innen (und Aktanten), setzt jedoch erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein.

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normative Organisations- und Ordnungsstruktur eingeschrieben, welche in der Theaterpraxis zu einer sozialen sowie symbolischen Differenzierung der Schauspieler/innen führt.106 Auch theater- und insbesondere dramentheoretisch steht außer Frage, dass dem Rollenfach als Analysekategorie eine wesentliche Bedeutung zukommt beziehungsweise beigemessen werden sollte, wie auch Anke Detken und Anja Schonlau im Anschluss an das 2012 durchgeführte DFG-Symposium Rollenfach und Drama – Europäische Theaterkonvention im Text an der Georg-August-Universität in Göttingen konstatieren.107 Betrachtet man die Zahl an jüngst erschienenen Aufsätzen zu diesem Thema, die unter anderem im Zuge des Symposiums entstanden sind, scheint geradezu eine Renaissance der Forschung zum Rollenfach eingesetzt zu haben. Die am Institut für Germanistik der Universität Graz herausgegebene, interdisziplinäre Open-Access-Zeitschrift LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie etwa widmet 2013 und 2014 zwei Ausgaben dem Thema »Person – Figur – Rolle – Typ (I und II)«108 und rückt in mehreren Beiträgen das Rollenfach respektive (soziale) Typen in das Zentrum einer dramenanalytischen oder kultursoziologischen Betrachtung. Paradigmatisch lautet die Forderung dabei, die »Kategorie des Rollenfachs bei der Analyse von Theaterstücken und Dramentexten zu berücksichtigen«109, wobei sich das Paradigma dieses Ansatzes im ungebrochenen Rekurrieren auf literaturwissenschaftliche beziehungsweise dramentheoretische (Vergleichs-)Modelle offenbart. Nur ein Beitrag von Marion Linhardt verlässt diesen Rahmen explizit: Am Beispiel der Entwicklung des Faches der Soubrette und munteren Liebhaberin verortet sie das Rollenfach »zwischen theatraler Konvention und sozialen Rollenmustern«110 – ein Ansatz, wie er im weiteren Verlauf in ähnlicher Weise verfolgt werden wird. Eine an der Theaterpraxis ansetzende Auseinandersetzung mit dem Rollenfach in Bezug auf die Differenzierung geschweige denn Subjektivierung von Schauspieler/innen aus theaterwissenschaftlicher Perspektive findet also weiterhin so gut wie nie statt. Dies ist außerordentlich erstaunlich, weil bereits Maurer-Schmoock in ihrer 1982 veröffentlichten, praxisnahen Geschichtsschreibung Deutsches Theater im 18. Jahrhundert zusammenfasst: »Aufbau und Organisation einer Schauspielergesellschaft erfolgte nach den notwendig zu besetzenden Rollenfächern. Neben der Einteilung in komisches und tragisches Fach wird unterschieden nach Alter, Stand, ersten Rollen und Chargenspielern.«111

106 | Zur Gagenverteilung sowie zu den Engagementsmodalitäten nach Fächern vgl. Maurer-Schmoock 1982, 160f. 107 | Vgl. Detken/Schonlau 2014, 15. 108 | Die einzelnen Beiträge der Ausgaben Nummer 9 und Nummer 11 sind unter folgenden Webseiten abrufbar: http://lithes.uni-graz.at/lithes/13_09.html und http://lithes.unigraz.at/lithes/14_11.html. 109 | Detken 2014, 36. 110 | Linhardt 2013, 33. 111 | Maurer-Schmoock, 1982, 159f. Wie bereits im vorangegangenen Unterkapitel skizziert, entsprechen den Rollenfächern meist Stimmfächer in der Oper, vgl. Schulz 1956 zitiert nach Maurer-Schmoock 1982, 160 (Fußnote 5).

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem

Und auch Erika Fischer-Lichte rekurriert auf die dem Fachsystem inhärente Unterscheidungspraxis, wenn sie die Rollenfächer zwischen Literatur und Theater als »Differenzierungen […] von größter Bedeutung [wertet], weil sich aus ihnen bestimmte Verhaltens- und Interaktionsmuster ableiten lassen«112; über die dramentheoretische Perspektive und soziale Figurenbeziehungen weist Fischer-Lichtes Beitrag hier jedoch nicht hinaus. Von diesem Forschungsdefizit ausgenommen ist bezeichnenderweise ein spezifischer Rollentypus, welcher jedoch nicht im engeren Sinne ein rollenübergreifendes, dramatisches Fach darstellt, und zwar die Hosenrolle, über welche schon Diebold 1913 am Ende seiner vorwiegend typologischen Untersuchung Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts schreibt: »Noch bleibt uns eine Art von Rollen zu besprechen, deren Fach sich weniger nach einer zärtlichen, naiven, heroischen oder charakterisierenden Talentart bildet, als nach den schöngeformten Beinen der Schauspielerin: die ›Beinkleiderrollen‹, die man auch schamhafter als ›verkleidete Mannsrollen‹, ›Verkleidungsrollen‹ anführte. […] [D]as spanische und französische Theater des 17. Jahrhunderts kannte schon die Verkleidungsrollen; auf der deutschen Bühne wurden sie erst eigentlich im 18. Jahrhundert allgemein. […] Welchem Spezialfache die ›verkleideten Mannsrollen‹ zuzuzählen sind, läßt sich noch weniger als bei allen anderen Rollen bestimmen; spielte doch Madame Reinecke 1771 sogar neben ›allen Gattungen von Müttern‹ auch ›Beinkleiderrollen‹.«113

Die Unbestimmtheit der Hosenrolle(n) innerhalb des Fächerkanons und der Theaterpraxis mag ein Indiz für die jüngst wieder aufgeflammte, intensive Beschäftigung mit diesem sogenannten Spezialfach sein. Vor dem Hintergrund einer sich aktuell abzeichnenden Vervielfältigung und Veruneindeutigung von geschlechtlichen Codes und Genderperformanzen in der Alltagskultur scheint die auffallende Hinwendung zur Erforschung der Hosenrolle in ihren historischen bis hin zu zeitgenössischen »Spielarten«114 einen anderen Beweggrund zu haben: So wird der Hosenrolle meist ein soziales und ästhetisches Transgressionspotential der jeweils historisch und lokal spezifischen Geschlechterordnung mit den Mitteln der Verkleidung, Verfremdung und/oder Veruneindeutigung von (kontingenten) Geschlechterrollen auf dem Theater attestiert.115 An dieser Stelle soll es (noch) nicht weiter um den Spezial- und je nach Perspektive Störfall, sondern um die Alltagsroutine gehen, das heißt um die Anwendung 112 | Fischer-Lichte 1990, 43. 113 | Diebold 1913, 136f. Als Beispiel einer ersten Hosenrollen-Spielerin führt Diebold »die Neuberin« auf, welche sich 1725 in der Aufführung Die Gespräche im Reich der Todten 1725 »zum Entzücken Gottscheds als ›viermal‹ als Student ›verkleidetes Frauenzimmer‹ [produzierte], […] wobei ihr ›nichts als eine männlich gröbere Stimme gefehlet‹.« (Gottsched 1725 zitierend, Diebold 1913, 137.) 114 | De Ponte 2013, 15. 115 | Zur Hosenrolle aus theaterhistorischer, transhistorischer und gattungsübergreifender Perspektive vgl. Charton 2012, De Ponte 2013, Becker-Cantarino 2014, Müller 2014; aus theater- und gendertheoretischer Perspektive auf aktuelle Phänomene vgl. Schrödl 2014; aufführungsanalytische Beiträge hinsichtlich Hosenrollen-Darstellungen siehe Finter 1996, Koban 2014 und 2016.

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des Rollenfachs im Betriebssystem des sich konstituierenden Theaterfeldes. Sie findet hier in unterschiedlichen, sich überlagernden Praktiken statt, welchen zwei getrennt zu betrachtende Ausführungsorte entsprechen: »Stellte das Rollenfach auf der einen Seite ein praktikables Prinzip der Organisation, der Engagementsmodalitäten und der Rollenverteilung dar, so bezeichnete es auf der anderen Seite den konkreten künstlerischen Wirkungsradius des jeweiligen Darstellers aufgrund dessen Temperaments und Naturells.«116

Ähnlich wie Maurer-Schmoock in der hier zitierten Definition unterscheidet auch Doerry mit Blick auf das Rollenfach des 19. Jahrhunderts »eine künstlerische und eine wirtschaftliche Seite«117. Diese analytische Trennung vorübergehend aufgreifend, vollzieht sich die Anwendung des Rollenfachs folglich zwischen Körper der Kunst und Körperschaft der Organisation. Der Zwischenraum zwischen sozialen, sinnlichen Körpern und strukturierter, ordnender Organisation wird dabei erfolgreich vom zirkulierenden Wissen im und um das Fachsystem ausgefüllt. Das Rollenfach fungiert in diesem Sinne nicht zuletzt als eine Wissens- und Diskurskategorie des Feldes und ermöglicht so erst dessen routinisierte Anwendung durch Theaterproduzent/innen, dessen habitualisierte Ausübung durch Schauspieler/ innen sowie deren Anerkennung im Maßstab der Fächer durch ebenfalls im Feld sozialisierte und wissende Rezipient/innen: »Agenten, Kritiker, Schauspieldichter, Direktoren, Regisseure, Inspizienten, Vorhangzieher – keiner kann sich mit dem andern kurz und klar verständigen ohne die Skala der Bezeichnungen von der ›komischen Alten‹ bis zur ›Naiven‹, vom ›Heldenvater‹ bis zum ›III. Liebhaber‹ […].«118

2.1.3.1 Das Rollenfach als Organisationsprinzip In seiner Funktion als betriebswirtschaftliches Organisationsprinzip reguliert das praktische Wissen um das Rollenfach im täglichen Betrieb insbesondere die Vermittlung, Neuanstellung und Zusammenstellung des künstlerischen Personals, indem es in seiner Doppelfunktion als Regelwerk des Repertoires und Orientierungsmatrix der Direktion sowohl in die Text- als auch in die Truppenstruktur eingelassen ist. Schließlich müsse, wie Doerry hinsichtlich der Personalverwaltung im 19. Jahrhundert ganz selbstverständlich und unkritisch erklärt, »[e]in Direktor, der Schauspieler engagiert, […] irgendeinen Anhalt dafür haben, welche besonderen Fähigkeiten der zu erwerbende Darsteller besitzt, er muß wissen, wie er ihn verwenden kann und ob er eine Stelle im Ensemble ausfüllt. Das Personal eines Theaters ist eben nicht lediglich eine Versammlung von schauspielerischen Talenten, sondern ein in sich geschlossenes Ganzes, das nach bestimmten Gesetzen aufgebaut ist.«119

116 | Maurer-Schmoock 1982, 157-159. 117 | Doerry 1926, 2. 118 | Doerry 1926, 101. 119 | Doerry 1926, 102f.

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem

Wie im ersten Teil (Kapitel 1.3.2) dargelegt, ist die Metapher des Ganzen im Zusammenhang mit der Idee des Ensembles hierbei nicht als ein neutraler Begriff zu werten. So rekurriert das Bild des in sich geschlossenen Ganzen auf das semantische Spektrum eines »organologisch strukturierten Theaterwesens«120, welches nach den Theater- und gleichsam Staatslehren Eduard Devrients (sowie nach der Theater- und Schauspieltheorie Heinrich Theodor Rötschers) das Ensemble und die Ensemblebildung mit einer nationalstaatlich gesinnten, »vollkommene[n] Vergesellschaftung aller, mit Erhaltung der Eigenheit des einzelnen«121, assoziiert. Während Devrient im Sinne einer Sozialisierung und Kulturalisierung des Volkes noch stärker rezeptionsästhetisch argumentiert, verlagert Rötscher den Diskurs in die Schauspiel- und Organisationspraxis des Theaters. Die harmonische Organisation des künstlerischen Personals sei geradezu die Hauptaufgabe der Theaterdirektion, eine regelgeleitete Darstellung solle »die Einheit der deutschen Nation«122 wiederspiegeln, wie Jörg Wiesel in seiner kritischen Relektüre des Theaterdiskurses im Vormärz und während der Revolutionsjahre dessen ideologischen Impetus treffend erfasst. Nach welchen »bestimmten Gesetzen«123 ist ein Ensemble im 19. Jahrhundert nun aber aufgebaut? Ausgehend von der detaillierten, historiografisch auf Theaterzetteln, -almanachen und Briefen basierenden Untersuchung Doerrys können dessen Ergebnisse hier zusammengefasst dargelegt und für die weitere Analyse genutzt werden. Im Vergleich der historischen Entwicklung der Rollenfächer vom 18. zum 19. Jahrhundert konstatiert Doerry hierbei eine »Wende um 1830«124, die sich primär auf eine Transformation in der formalen Ausrichtung der Rollenfächer bezieht. Charakteristisch für das Fachsystem des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts sei die eindeutige Orientierung an einem französischen Fächerkanon,125 wohingegen sich seit den 1830er-Jahren eine Konzentration der Fächer auf »[a]cht große Hauptgruppen«126 feststellen ließe. Diese lösen sich im genannten Zeitraum dramentheoretisch betrachtet auch von der französischen Tragödie (tragédie classique) und orientieren sich ihrerseits an der Ordnungsstruktur des bürgerlichen Trauerspiels ›klassisch-deutscher Prägung‹. Um diesen nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ bedeutenden Unterschied in der sich wandelnden Codierung der Fächer adäquat beurteilen zu können, sei hier in wenigen Sätzen auf ihre Ausprägung in der Tradition des französischen Kanons verwiesen. Dieser ist nämlich insbesondere in Bezug auf die soziale Charakterisierung der literarischen Typen äußerst divers und – neben einer Grundeinteilung in komische und tragische sowie männliche und weibliche Rollen – nach Funktionsbereichen und sozialen Kategorien, wie etwa Klasse, Nationalität oder Ethnizität, unterschieden.127 Dementsprechend bilden sich noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts jene Typenfächer der Chevaliers, Officiers, Libertins, Deutschfranzosen, Juden, Väter, der Agnesen, 120 | Wiesel 2001, 41. 121 | Devrient 1967 [1849], 405f. 122 | Wiesel 2001, 38. 123 | Doerry 1926, 102f. 124 | Doerry 1926, 23. 125 | Siehe Doerry 1926. 126 | Doerry 1926, 38. 127 | Vgl. auch Diebold 1913, 93-138.

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naiven Liebhaberinnen oder Soubretten in der Bezeichnungs- und Besetzungspraxis im Kontext von festen Ensembles an höfischen und an den ersten bürgerlichen Theatern sowie im Rahmen der fluktuierenden Schauspieler/innengesellschaften ab, sodass Doerry in Bezug auf die Verzahnung von literarischem Kanon und theaterpraktischer Organisation konstatiert: »Das deutsche Theater des beginnenden 19. Jahrhunderts arbeitete also mit einem wesentlich französisch orientierten Ensemble. […] Solange die Autoren Rollen lieferten, die diesem französischen Fächerfundus entsprachen, solange brauchte es keine Schwierigkeiten zu geben.«128

Da Autor/innen im 19. Jahrhundert meist zugleich als schauspielende Akteur/innen innerhalb von Gesellschaften tätig sind und somit über die praktischen Bedingungen »de[s] Theaterapparat[s] aus bester Erfahrung«129 Bescheid wissen respektive dieses praktische Wissen reziprok in ihre Schreibarbeit einbringen, lässt sich die Re/produktion des klassisch-französischen Fächerkanons bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ›systemimmanent‹ erklären. Wie Doerry anschaulich darlegt, ist diese Tradierung dabei tief in die Strukturen der deutschen Klassik(er) des 18. Jahrhunderts eingelagert, in deren dramatis personae die französische Konfiguration zwar häufig in das deutsche Personal übertragen, nichtsdestoweniger aber in den vermeintlich objektiven Kategorisierungen zwischen den Figuren eingeschrieben erscheint.130 »[T]ypische deutsche Gestalten entsprachen den französischen Rollenfächern«131, resümiert Doerry. Als Standardfächer mussten sie folglich von den durchschnittlich 20 Mitgliedern einer Schauspieltruppe im 18. Jahrhundert für den jeweiligen Tagesbedarf abgedeckt werden (können).132 Während sich die Gesellschaften des 18. Jahrhunderts noch eindeutig nach dem französischen und sozial ausdifferenzierten Fächerkanon strukturieren, organisieren sich die im 19. Jahrhundert zunehmend sesshaft werdenden Ensembles nach einem neuen und vereinfachten Prinzip mittels eines auf die Geschlechterund Altersdifferenz reduzierten Schemas: zugespitzt auf die »Liebhaber, Helden und Väter und ihre Entsprechungen im weiblichen Personal«133, die Doerry in diesem Zusammenhang als »die Urelemente des Dramatischen«134 bestimmt. Gewiss ist die Geschlechterdifferenz als Strukturkategorie seit jeher und lange vor Erfin128 | Doerry 1926, 12. 129 | Doerry 1926, 13. 130 | Am Beispiel von Lessings Minna von Barnhelm kann nach Doerry etwa die Protagonistin Minna als eine weibliche Liebhaberin gelten, Franziska als zum Fach der Soubretten gehörig und Tellheim zur Kategorie der Officiers, Libertins und Anstandsrollen, siehe auch Doerry 1926, 16. Als »Rollen, deren Fachzuständigkeit streitig waren« (Doerry 1926, 17), zählt er etwa Wallenstein, Maria Stuart oder Johanna d’Arc oder die Shakespeare’schen Rollen Macbeth, Othello und Hamlet auf – die ›Unbestimmtheit‹ und fachliche Ungebundenheit dieser Rollen mag ein Grund dafür sein, warum gerade jene Rollen in der Theatergeschichte und der zeitgenössischen Theaterästhetik für Cross-Gender-Besetzungen prädestiniert erscheinen. 131 | Doerry 1926, 14. 132 | Vgl. Diebold 1913, 58. 133 | Doerry 1926, 36. 134 | Doerry 1926, 36.

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dung von theatralen Rollenfächern und bürgerlich-kulturalisierten Geschlechtsrollen – analog zur jeweiligen normativen, kulturellen Unterscheidungspraxis in einem historisch je spezifischen sozialen Raum – in die Theaterpraxis überführt worden.135 Im Kontext des bürgerlichen Theaters und »theatralischen Zeitalters«136, wie Marx das bürgerliche 19. Jahrhundert aus kulturwissenschaftlicher Perspektive bestimmt, ist die Geschlechterdifferenzierung aber nicht mehr nur eine soziale Praxis unter vielen. Sie wird vielmehr als kulturelles Programm der Legitimierung eines bürgerlichen Werte-Kanons praktiziert und diskursiv wie performativ institutionalisiert.137 Kulturvermittlung soll in diesem kulturellen Kontext, dessen Praktiken und Institutionen das Kulturelle der deutschen Kultur und ihres Sozialraumes bis heute wesentlich prägen, zugleich Wertevermittlung bedeuten. Wie Beate Hochholdinger-Reiterer in Bezug auf die »Schauspielkunst als Erfindung der Aufklärung«138 umfassend dargelegt hat, fungiert hierbei insbesondere das (National-)Theater mit seinen sozial und ästhetisch disziplinierenden Programmen als Laborschule mit dementsprechender Wirkung, welche sich insbesondere in einer Normierung geschlechtsdifferenziert codierter Habitus – im Kunst- sowie Alltagstheater – offenbart.139 Die Institutionalisierung der Geschlechterdifferenz als soziale Tatsache des 18. und im umfassenden Sinne des 19. Jahrhunderts mag nicht allein den ausschlaggebenden Grund für die Umstrukturierung des Fachsystems um 1830 darstellen, doch lassen sich damit Verweisungszusammenhänge und Parallelen zu den weiteren, von Doerry angeführten Entwicklungen herstellen. Dieser begründet die signifikante Reduktion des breiten Fächerkanons auf acht Typengruppen – denen sich neben den Held/innen, Liebhaber/innen und Vätern respektive Müttern zudem »je ein besonderer Vertreter des Gegenspiels, bei den Männern meist als Charakterspieler oder Intrigant, bei den Frauen ehemals als Soubrette bezeichnet«140, hinzugesellt – zunächst mit künstlerischen Beweggründen: zum einen mit der Entwicklung der Schauspielkunst »von Idealismus zum Realismus«141, zum anderen mit der »Entdeckung der Regie«142 als eigenständiger Position, welche in ihrem Zusammenspiel die Individualisierung sowohl von Figuren als auch von Schauspieler/innen zum neuen Ziel der Kunst erklären – mit Bayerdörfer lässt sich im selben Zeitraum und Zusammenhang zudem die Etablierung einer weiteren künstlerischen Position konstatieren, nämlich jene der Dramaturgie, welche hinsichtlich eines ausgewogenen, das heißt eines zugleich marktfähigen Repertoires

135 | Vor der Folie eines normativen Ordnungssystems existieren seit jeher folglich auch symbolisch-normüberschreitende oder transgressive Figuren, so etwa die mythische und geschlechtsambig konnotierte Figur des Sehers Teiresias. 136 | Marx 2008, 44-50. 137 | Vgl. auch die Einleitung der vorliegenden Arbeit, insbesondere die theoretische Hinführung zu den Dispositiven des theatralen und sozialen Raumes seit der Aufklärung. 138 | Hochholdinger-Reiterer 2014. 139 | Siehe Hochholdinger-Reiterer 2014, 58-68. 140 | Doerry 1926, 38f. 141 | Doerry 1926, 23. 142 | Doerry 1926, 53-70.

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zwischen der Pflege nationaler Klassiker und der Abwechslung durch zeitgenössische Konversationsstücke vermittelt.143 Mit dieser Transformation der künstlerischen Praxis geht unmittelbar ein Wandlungsprozess auf Ebene der Organisation einher, welcher für die strukturelle Durchsetzung des literarischen (Sprech-)Theaters im 19. Jahrhundert und für die Typenreduktion respektive Klassiker(re)produktion bis in die Gegenwart weitreichende Folgen zeitigt. So führe insbesondere die eben angedeutete »Installierung der poetisch-literarischen Instanz im Theater […] tendenziell zur Auflösung der Mehrspartentheater, die an den Rand des allenfalls Tolerierbaren gedrängt«144 würden. Während Bühnenkünstler/innen zuvor »amphibisch«145 und über Gattungsgrenzen hinweg – festgelegt auf ein Fächerspektrum – eingesetzt worden sind, werden sie erst infolge dieser Umstrukturierung und im Zuge der Theaterreformdebatte um 1848 als sich professionalisierende Subjekte eines Ensembleganzen anerkannt.146 Wie Doerry anhand von Nachweisen der Schauspieler/innen-Etats unterschiedlicher Theaterhäuser belegt, schwanken die Ensemblegrößen zwischen den stehenden Theatern im 19. Jahrhundert abhängig von der Größe der Städte und den Finanzierungsformen der Theater stärker als noch im Kontext der Gesellschaften des 18. Jahrhunderts, für welche sich »eine gewisse Normalziffer für den Umfang eines Personals«147 auf 20 Personen konstatieren lässt. So übersteigt beispielsweise mit »hübsch 42 Mitglieder[n] – 25 Herren und 17 Damen –«148 die Personalstärke des Königsberger Stadttheaters in Preußen in der Spielzeit 1837/38 die bisherige ›Normalziffer‹ weit. Im konkreten Vergleich mit dem Hoftheater der Residenzstadt Düsseldorf unter der Intendanz von Karl Leberecht Immermann ergibt sich schließlich das Bild, dass sich »mithin die Durchschnittsstärke der Bühnen, die diesen beiden Theatern gleichzustellen sind – und das dürfte wohl dem Stande des Durchschnitts-Stadttheaters entsprechen –, mit etwa 30 Mitgliedern, einige darüber oder darunter, annehmen [lässt].«149

Im Fall des Düsseldorfer Personals beispielsweise zählen hierunter 18 Herren und 12 Frauen. Das relationale Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Schauspieler/innen ist dabei signifikant: So ergibt sich nicht nur im direkten Vergleich zwischen den Königsberger und Düsseldorfer Ensemblekonfigurationen, sondern in einem größeren Vergleich das selbstverständliche und an keiner Stelle kommentierte Verhältnis von 60 % Herren und 40 % Frauen. Dies ist überaus bemer143 | Siehe Bayerdörfer 1992, 47. 144 | Bayerdörfer 1992, 47. 145 | Doerry 1926, 32. 146 | Die Theaterreform um 1848 betrifft auch das Ausbildungswesen und die Forderung nach »Einrichtung einer staatlichen Schauspielschule« (Ernst 2014, 117), die in den während der Revolutionsjahre entstandenen Reformschriften unter folgenden Aspekten zukunftsweisend formuliert wird: »dreijährige Ausbildungszeit, Aufnahmetest, Studium der Geschichte, Literatur, Kunstgeschichte, des Gesangs, Kurse in Körperschulung, in Rollenstudium, Reiten, Fechten und Gymnastik.« (Ernst 2014, 120.) 147 | Doerry 1926, 36. 148 | Doerry 1926, 38. 149 | Doerry 1926, 38.

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kenswert, weil uns exakt diese Zahlen und Verhältnisse erneut in der Empirie der Ensemblezusammenstellungen im zeitgenössischen Stadttheater knapp 200 Jahre später begegnen werden (vgl. die Interviewstudie unter Kapitel 2.2.3). Doerry, der die strukturelle Entwicklung des deutschen Theaters im Verlauf des 19. Jahrhunderts an späterer Stelle seiner Untersuchung resümiert, kommt – völlig unabhängig von der in die Ensemblestruktur eingeschriebenen Geschlechterdifferenz – zu einem anderen, seine Position als Theatertheoretiker zu erkennen gebenden Schluss: »Ein rundes Jahrhundert – drei Generationen – hat es somit seit der öffentlichen Anerkennung des Theaters als Kulturfaktors gedauert, bis sich das deutsche Theater von den ihm anhaftenden fremden Wesenselementen seiner Jugend befreit und zu einer selbständigen Daseins- und Schaffensform im Sinne eines Nationaltheaters heranentwickelt hat.«150

In der quantitativen und auf künstlerischer Ebene auch qualitativen Reduktion der Fächer erkennt Doerry eine Loslösung der deutschen Theaterpraxis von der französischen Schauspielkunst und Kultur. Selbst der Idee eines National- respektive Kulturtheaters verhaftet, assoziiert der Verfasser der 1926 publizierten Schrift damit weiterreichend die Organisation des Theater- mit jener des Staatssystems. So lässt sich unter dieser Perspektive schlussfolgern, dass in den 1920er-Jahren nicht nur die Weimarer Verfassung, sondern mit ihr auch das kommunalisierte deutsche Theatersystem eine relative Autonomie gegenüber französischen Einflüssen erreicht.

2.1.3.2 Das Rollenfach als künstlerisches Prinzip? Die analytische Trennung zwischen Organisations- und künstlerischem Prinzip an dieser Stelle erneut aufgreifend, bezieht sich die Matrix der Personalstruktur, wie sie unter anderem durch das Rollenfach vorgegeben ist, jedoch nicht nur auf eine scheinbar objektive Zusammenstellung des ›Ganzen‹, sondern im selben Zuge auf eine objektive Zuordnung der Einzelnen hinsichtlich ihrer ›Talente‹ und ›Temperamente‹, wie es in den gängigen Begriffsbestimmungen etwa nach Maurer-Schmoock und Doerry heißt. Letztgenannter fasst die Bedeutung des Rollenfachs in seiner Funktion als künstlerisches (Unterscheidungs-)Prinzip zusammen und bringt sie auf den Punkt: Es sei »eine auf der verschiedenen Zusammensetzung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten beruhende Einteilung der schauspielerischen Talente«151. Der Begriff der Einteilung erscheint mir in diesem Zusammenhang zentral, da er unmittelbar auf die kategorisierende, differenzierende und subjektivierende Dimension der Rollenfächer verweist. Durch deren Anwendung auf und implizite Anweisung an die Schauspieler/innen werden diese innerhalb der Gruppenstruktur des Gesamtpersonals nicht nur in tradierte Typenfächer eingeteilt (etwa in Helden, Liebhaber/innen, naive oder proletarische Typen), vielmehr werden sie ›typgerecht‹ nach sozialen und ästhetischen Kategorien wie Geschlecht, Alter, Stand und Gestalt unterschieden und im schauspiel- sowie rezeptionsästhetischen Kontext des veris-

150 | Doerry 1926, 96. 151 | Doerry 1926, 2.

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tischen Stils152 als ›natürliche Körper‹ identifiziert.153 Die Verbindung von Natur und Körper – letzterer gilt innerhalb der dualistischen Semantik der Aufklärung (komplementär zu einer als natürlich vorgestellten Leibgebundenheit) als Zeichen der Kultur – ist vor dem Hintergrund des bürgerlichen Innerlichkeits- und Wahrhaftigkeitsdiskurses kein Widerspruch. Im Gegenteil: Wie im ersten Teil bereits gezeigt werden konnte, fungiert gerade im »theatralischen Zeitalter«154 des 19. Jahrhunderts der doppelte Körper des Schauspielers/der Schauspielerin als kulturelles Modell für das bürgerliche Subjekt. Dieses »übt sich in einer Innenorientierung, die entlang eines Codes der Moralität und zugleich eines Codes der Souveränität erfolgt«155, wie Reckwitz in seiner Subjektanalyse der Moderne darlegt. Aus kultur- und theaterwissenschaftlicher Perspektive erläutert Münz den damit einhergehenden performativen (und paradoxen) Verkörperungsprozess, der das bürgerliche Subjekt im 19. Jahrhundert kennzeichnet: »Wenn der Wert des Menschen nicht am Äußeren festgemacht wird, sondern an inneren Werten, dann sind seine Vorzüge nur erkennbar, indem die Innenseite nach außen gekehrt wird. Denk- und Fühlweisen müssen zu Verhaltens- oder gar Handlungsweisen werden, müssen sich im Habitus ausdrücken. Dabei müssen aber auch die Verhaltensmuster als symbolische Ausdrucksformen, als Versinnlichung der sozialen Normen erkannt und aufgenommen werden, was voraussetzt, daß adäquate Wahrnehmungsmuster ausgebildet werden.«156

Auf den Begriff des Habitus im Zusammenhang mit dem Rollenfach wird im anschließenden Unterkapitel gezielt eingegangen. An dieser Stelle soll zunächst die diskursive und performative Inkorporierung der genuin bürgerlichen Codes in den ›Kunst-Körper‹ der Schauspieler/innen beispielhaft aufgezeigt und die subjektivierenden Effekte ausgehend vom Kategorisierungssystem der Rollenfächer verdeutlicht werden. Hinsichtlich der bürgerlichen Idee der Verinnerlichung bei gleichzeitiger Verkörperung – repräsentiert durch die Körper professioneller Darsteller/ innen (und Rezipient/innen) – ziehe ich erneut den Wolff’schen Almanach heran, da die darin versammelten Nachrufe und/oder Porträts bekannter Schauspieler/innen genügend Untersuchungs- und Beweismaterial für deren Subjektivation in der und durch die Fremddarstellung und -wahrnehmung liefern.157 So heißt es etwa in Bezug auf Johann Friedrich Ferdinand Fleck (1757-1801), erfahren und berühmt geworden im Fach der ersten Helden:

152 | Vgl. Baumbach 2012, 265-274. 153 | Auch Doerry deutet auf eine in die Rollen- und Figurengestaltung eingeschriebene Idealisierung und Normativierung der Körper des 18. und 19. Jahrhunderts hin, ohne jedoch den subjektivierenden Effekt auf Schauspieler/innen einzubeziehen, vgl. Doerry 1926, 16. 154 | Marx 2008, 44. 155 | Reckwitz 2007, 107. 156 | Münz 1992, 177. 157 | Theaterzettel würden eine ebenso ergiebige Quelle darstellen, siehe exemplarisch das Gesuch eines Theaterzettels von 1783: »Es wird auch ein schön, Hübsch und junges Frauenzimmer gesucht, welches zu dem Theater dienlich wäre, dabei ein junger Schappo.« (Weisstein 1902 zitiert nach Maurer-Schmoock 1982, 160.)

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem »Männlich schöne Gestalt, edle Haltung, bedeutender Schritt, ein Feuer werfendes Auge, verkündeten auf den ersten Anblick den großen Künstler! – […] Er war der Vertraute der Natur, und wandelte in ihrem Geleite seine Künstlerbahn mit steter und stiller Gewalt. Der Ton der Gutmüthigkeit, womit er so innig rührte, war nicht das Werk der Kunst, er kam aus seiner redlichen Seele.«158

Im Vergleich hierzu wird die im Fach der sentimentalen Liebhaberinnen geschulte Schauspielerin Wilhelmine Berger, geb. Pichler (1805-1837) wie folgt beschrieben und post mortem gerühmt: »Sie gehörte zu der kleinen Zahl von Schauspielerinnen, welche, mit seltenen Gaben von der Natur ausgerüstet, in ihrem Spiele Natürlichkeit und Kunst aufs Schönste zu vereinigen wissen. Ihre äußere Erscheinung war sehr angenehm und ganz geeignet, schon beim ersten Auftreten für die Künstlerin ein gutes Vorurtheil zu erwecken; im Leben zeigte sie sich als eine Frau von Herz und Bildung.«159

Natur und Körper der Schauspieler/innen gehen im Diskursraum bürgerlicher Vorstellungen des Erhabenen und Schönen eine ambivalente, in jedem Fall aber produktive Beziehung ein, die nach Carsten Zelle seit Mitte des 18. Jahrhunderts auf einer »doppelten Ästhetik«160 im Sinne einer »grundlegenden, gegenläufigen Spannung«161 zwischen ästhetischen Kategorien wie etwa Schönheit und Erhabenheit oder Anmut und Würde beruht. In Erweiterung des philosophischen Ansatzes Zelles zeigt Wilhelm Trapp in seiner literaturwissenschaftlichen und diskursanalytischen Arbeit Der schöne Mann. Zur Ästhetik eines unmöglichen Körpers 162 darüber hinaus erhellend die »strukturelle Verknüpfung von Geschlecht und Ästhetik«163 auf. Damit lässt sich diese nicht nur zeitgleich mit, sondern auch vorgängig zur Erfindung des »Zwei-Geschlecht-Modells«164 um 1750 – ausgehend von Edmund Burkes Aufsatz »A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful« von 1757 – nachweisen.165 Nach Trapp leistet folglich »zum neuen Bild von Geschlecht im sozialen wie medizinisch-naturwissenschaftlichen Bereich die Ästhetik ihrerseits einen wesentlichen Beitrag«166, indem sie zwei nachhaltige, analog zur binären Ordnung oppositionelle Modelle erschafft: die Vorstellung einer schönen, körperlich fixierten Weiblichkeit und einer erhabenen, gleichsam körperlosen Männlichkeit.167 Umso frappierender erscheint vor diesem Hintergrund die Existenz des männlichen Schauspieler-Körpers, der insbesondere in Beschreibungen von Helden-Figuren und Helden-Spielern sowohl auf eine ›innere‹ als auch ›äußere‹ Erscheinung 158 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1836, 83f. 159 | Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1837, 82. 160 | Zelle 1995, 3-10. 161 | Zelle 1995, 10. 162 | Trapp 2003. 163 | Trapp 2003, 82. 164 | Laqueur 1992 [1990], 172-219. 165 | Siehe Trapp 2003, 77-96. 166 | Trapp 2003, 78. 167 | Vgl. Trapp 2003, 80.

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des Schönen verweist. Wie die nachfolgenden Ausführungen – besonders im Kontrast zum Charakterspieler – deutlich machen, kann der männliche Schauspieler in diesem Sinne gar als reale »ästhetische Möglichkeit«168 des Phantasmas des ›schönen Mannes‹ gedeutet werden, der nach Trapp im Diskursraum zwischen Ästhetik und Geschlecht seit dem 18. Jahrhundert verleugnet und ausgeschlossen wird. Meine empirische Untersuchung wird im Weiteren zwar nicht den ›schönen Mann‹ fokussieren, jedoch Trapps Ergebnisse sozusagen auf die Oppositionsfigur beziehen, indem sie insbesondere im dritten Teil der vorliegenden Arbeit ›den weiblichen Joker‹ als antagonistische Figur anvisiert. Wie bereits angedeutet, wird die ästhetische Kategorie des Schönen und Erhabenen im theatralen Raum des Möglichen im 18. Jahrhundert zugleich mit der Idee einer ›inneren Schönheit‹ verknüpft, welche sich sowohl in der ›Natürlichkeit‹ des Spiels als auch in der ›Wahrhaftigkeit‹ des sozialen Habitus zeigt. Dabei wird gerade die äußere Erscheinung als Zeichen jener inneren Schönheit und Würde gelesen, die Anmut des Körpers wird folglich zur Projektionsfläche bürgerlicher Ideale umfunktioniert. In diesem Sinne ist wohl auch die Erklärung des Theaterproduzenten und -wissenschaftlers Carl Hagemann zu verstehen, der mit Blick auf die Besetzung von Schauspieler/innen 1910 konstatiert: »Ganz von selbst werden […] die Rollen meistens auch auf die nötige innere Verwandtschaft treffen, für die der einzelne Schauspieler schon äußerlich, schon seinen Mitteln nach disponiert erscheint.«169

Je sichtbarer die körperlichen, mimischen, gestischen und proxemischen Zeichen weiblicher Schönheit und männlicher Erhabenheit auf der Bühne erscheinen, je hörbarer die harmonischen Töne der Deklamation das Publikum berühren, desto wahrhaftiger und ausgeprägter wird der authentische Charakter der (darstellenden) Person vorgestellt und desto prädestinierter bieten sich Schauspieler/innen – gegebenenfalls – für die Repräsentation erster Held/innen oder/und Liebhaber/ innen an; andernfalls stehen zweite oder komische Fächer zur Disposition. Diesen Schluss lässt schon die frühe Definition des Rollenfachs (für den Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts) nach Bernhard Diebold zu, der dieses zum einen nach der Ähnlichkeit von literarischen Typen bestimmt.170 Zum anderen beziehe sich ihm zufolge diese dem Begriff des Rollenfachs inhärente Ähnlichkeit aber auch »auf die darstellerischen Kunstmittel, die der künstlerischen Individualität des Schauspielers gehören – rhetorische und mimische Technik, Empfindungs- und Nachahmungstalent, schöne oder charakteristische Körperbeschaffenheit – und bildet so ›tragische‹ oder ›komische‹ Rollenfächer oder diejenigen der ›Charakterrollen‹, der ›Anstandsrollen‹, der ›Karikaturen‹.«171

Die semantische Verbindung zwischen schön-tragisch und charakteristisch-komisch liegt auch hier auf der Hand: ›Schöne Körperbeschaffenheit‹ befähigt zu 168 | Trapp 2003, 78. 169 | Carl Hagemann zitiert nach Doerry 1926, 103. 170 | Vgl. Diebold 1913, 9f. 171 | Diebold 1913, 10.

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tragischen, meist ersten und tendenziell lukrativeren Fächern; eine ›charakteristische‹, aufgrund eines körperlichen Merkmals, um nicht zu sagen Makels, aus dem Cluster der Schönheitsideale herausfallende Erscheinung ›passt‹ (in der geschulten Wahrnehmung des dramatischen Dispositivs) zum Stereotyp der komischen Rollen sowie zu den ursprünglich zur Komödie gehörenden Charakterrollen.172 Letztere zeigen bereits im 18. Jahrhundert gegenüber der die dramatische wie darstellende Kunst betreffenden Formsprache der französischen Tragödie (tragédie classique) eine charakteristische, das heißt individualistisch und mehrdimensional angelegte Rollenausprägung.173 Es verwundert daher nicht, dass sich gerade die Charakterrollen »als die Hauptkeimzellen der Schauspielkunst des 19. Jahrhunderts«174 erweisen und seit den 1840er-Jahren ein autonomes, den Helden und jungen Liebhabern antagonistisch gegenübergestelltes Fach darstellen. Doerry rückt diesen Wandel des Faches in einen interessanten politischen sowie ›ensemblepolitischen‹ Zusammenhang: »Es ist das Verlangen nach lebenswahrer Darstellung komplizierter Charaktere, das in den 40er Jahren mit dem Jungen Deutschland laut wird, und in dieser Zeit erfolgt die Läuterung des Begriffs der Charakterrolle als einer Rolle, die sich von den andern durch mannigfaltig verknüpfte psychologische Beziehungen unterscheidet. In engem Zusammenhang damit steht die zahlenmäßige Stellung der Charakterspieler im Personal. Während wir im ersten Drittel des Jahrhunderts eine ganze Reihe Darsteller von Charakterrollen in den verschiedensten Verbindungen […] in einem Ensemble vorfinden, besitzen etwa von der Mitte der 40er Jahre an die meisten Bühnen nur einen Charakterspieler. Diese Einzahl erklärt sich aus der Aufgabe des Charakterdarstellers als Führer des Gegenspiels, die vornehmlich ihm zufällt, weil es irgendwie, eben durch tiefere psychologische Motivierung, plausibel gemacht werden muß, daß dem von vornherein sympathischen ›Helden‹ entgegengearbeitet werden kann, und daß dies nicht aus purer Lust am Bösen geschieht.«175

Mit dem Verweis auf die (literarische) Bewegung des Jungen Deutschland der 1830er- und 1840er-Jahre spricht Doerry der Charakterrolle respektive dem Charakterspieler eine geradezu revolutionäre Bedeutung auf dem Weg vom Idealismus zum Individualismus des realistischen Kunstverständnisses und einen exklusiven (Sonder-)Status im Kontext der normativen Ordnung der Rollenfächer und des Personals zu. Der Charakterdarsteller, wie er seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch dis172 | Zur unmittelbaren Verbindung zwischen genuin ästhetischen Kategorien und den beiden Gruppen der komischen und tragischen Rollen im 18. Jahrhundert siehe Diebold 1913, 21: »Die hohe Wichtigkeit des schönen körperlichen Materials bestimmen [sic!] nun häufig einen Schauspieler zum ›tragischen‹ und zum ›Liebhaberfach‹, wenn auch sein Talent zur ›Komödie‹ wiese oder gar nicht vorhanden ist. Denn die reproduzierende Darstellungskunst der Tragödie verlangt mehr das technische Können der Rhetorik und des pathetischen Gebärdenspiels als schöpferisches Gestaltungsvermögen, und Jugend und Schönheit bringen dem Liebhaber oft Erfolge, die von dem älter werdenden Schauspieler nicht mehr als künstlerische Verdienste anerkannt werden müssen.« 173 | Vgl. Diebold 1913, 13-24; aus dramentheoretischer Perspektive vgl. auch Pfisterer 2001, 243-246. 174 | Doerry 1926, 46. 175 | Doerry 1926, 48f.

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kursiv aufgeladen und in Devrients Reformschrift nationalstaatlich umgewertet wird,176 soll sich nicht nur durch seine körperlichen, sondern mehr noch durch seine ›geistigen Fähigkeiten‹ vom Heldenspieler unterscheiden und abheben. Ein Schauspieler des Charakterfachs gilt »als ›denkender Künstler‹«177, wohingegen Darsteller des Helden- oder Liebhaberfaches nach primär ästhetischen Kategorien wie körperliche Präsenz und ›schöne Körperbeschaffenheit‹ ins Personal aufgenommen und in ihrer Leistung als Sympathieträger und Identifikationsfiguren entsprechend beurteilt werden. Mit dem Helden- und Charakterspieler stehen sich folglich nicht nur im fiktiven Kontext von Drama und Aufführung Protagonist und Antagonist, sondern auch innerhalb der Gruppe der männlichen Fächer ebenso symbolisch-dualistische Prinzipien mit subjektivierendem Effekt gegenüber: Dem Heldischen und Liebhaberischen haftet zwar Edelmut und Leicht- beziehungsweise Liebessinn an, doch fehlt es an Tiefe respektive Intellekt – diese Differenzierung macht die strukturelle und ästhetische Einteilung von Schauspieler/innen und ihren Körpern nach Typen und bündelt damit zugleich soziale Macht in Form von körperkategorialen, das heißt am kulturell und ästhetisch codierten Körper(diskurs) haftenden Normen und Normierungen. An dieser Macht der Normen, die nicht allein in die Organisationsstruktur der Theaterbetriebe und in die Ästhetik des Schauspiels und der Schauspieler/innen-Körper eingelagert ist, sondern zudem im sozialen Raum bürgerlicher Diskurs- und Wahrnehmungsordnungen gestiftet wird, ändert auch der soziale Wandel hin zu bürgerlichem Individualismus und die künstlerische Entwicklung in Richtung einer »Besetzung nach Individualität«178 sowie zu einem Schreib- und Schauspielstil des Realismus wenig. So konstatiert Doerry für das ausgehende 19. Jahrhundert: »Der Vorstellung des Regisseurs, die ihm seine Phantasie von den Gestalten des Stücks gemacht hat, steht die rauhe Wirklichkeit in Gestalt eines nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ beschränkten und irgendwie festbestimmten Personals gegenüber. So wandlungsfähig auch ein Schauspieler sein, wie sehr er auch sein Selbst zu verbergen imstande sein mag, er kann doch nur bis zu einem gewissen Grade aus seiner Individualität heraus und in eine andere hinein. Auch hier gilt der Spruch: ›Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach.‹ Die Körperlichkeit des Darstellers weist ihn stets in eine bestimmte Richtung, aus der er der dichterischen Gestalt eine Körperlichkeit geben kann, sie gibt ihm die Fähigkeiten und setzt ihm gleicherzeit die Grenzen seiner Begabung.«179

176 | Vgl. Devrient 1967 [1849], 405f.: »Sie [die Schauspielkunst] fordert gänzliche Hingebung an den Gesamtvorteil der Totalwirkungen, fordert Selbstverleugnung in einer Tätigkeit, welche Ehrgeiz und Eitelkeit am gewaltigsten aufregt, fordert, daß der einzelne die Befriedigung des allgemeinen finde, die Schauspielkunst fordert also republikanische Tugend in höchster Potenz.« 177 | Doerry 1926, 111; vgl. auch Wiesel 2001, 162. 178 | Doerry 1926, 65. 179 | Doerry 1926, 63f.

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Die Mahnung vor der Versuchung des Verrats, die Jesus gegenüber seinen Jüngern am Abend vor seiner Gefangennahme äußert,180 lässt sich auch im obigen Kontext zweiseitig verstehen: einerseits als Metapher für die Leibgebundenheit (sowohl der Darstellenden als auch Wahrnehmenden), andererseits als Mahnung an die neue (künstlerische) Position der Regie, ebendiese zur Konvention und Kognition gewordene Tradition zu berücksichtigen. Wie das Unterkapitel zum Rollenfach als Un/ recht zeigen wird, wird dieser bis heute anhaltende und jüngst wieder aufgeflammte Konflikt zwischen Tradition und Transformation des deutschen Stadttheatersystems, zwischen orthodoxer und häretischer Positionierung im theaterpraktisch und theatertheoretisch abgesteckten Raum des Möglichen auch den »Kampf um das Fach«181 im ausgehenden 19. Jahrhundert bestimmen. Doch wie sieht es mit der Entstehung eines weiblichen Charakterfaches und einer internen Differenzierung nach Liebhaberinnen- und Charakterrollen aus? Während das Charakterfach zu Beginn seines Erscheinens als autonomes Fach im Theater des Vormärz den männlichen Bühnenmitgliedern vorbehalten bleibt, begründet im ausgehenden 19. Jahrhundert der Dramatiker Henrik Ibsen mit der Erschaffung neuer weiblicher Protagonistinnen (wie Nora und Hedda Gabler) das gegenüber den klassischen Frauen(stereo)typen nicht nur autonome, sondern mehr noch emanzipatorische »Fach des weiblichen Charakterspielers«182 . Nicht zufällig zählt Susanne de Ponte in ihrer theaterhistorischen und gattungsübergreifenden (Archiv-)Arbeit Ein Bild von einem Mann – gespielt von einer Frau. Die wechselvolle Geschichte der Hosenrolle auf dem Theater die Ibsen’schen Frauenfiguren an der Schwelle zum 20. Jahrhundert zu den sogenannten falschen Hosenrollen,183 die nach de Ponte an einem männlich beziehungsweise unweiblich konnotierten Eigenschafts- und Verhaltensmuster sichtbar werden, welches exemplarisch Kleists Penthesilea oder in der zeitgenössischen Rezeption auch Schillers Johanna d’Arc aufweisen würden.184 Subtiler als die Amazone und die »waffenklirrende Kettensprengerin«185 eignen sich die Charakterdarstellerinnen im ausgehenden 19. Jahrhundert weniger die Waffe des Männlichen als vielmehr einen Habitus des Emanzipatorischen an, der sich reziprok im sozialen Typus der ›neuen Frau‹ in den Goldenen Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts ausbildet.186 Während sich mit dem männlichen Charakterfach innerhalb des Ordnungsund Klassifikationssystems des Rollenfachs strukturell und ästhetisch ein mindestens gleichrangiger Gegenspieler zum ersten Helden herausbildet, scheint es den weiblichen Charakterrollen und -spielerinnen im wahrsten Sinne des Wortes an Charakter zu fehlen. So sieht Doerry – hier wohl noch ganz Kind seiner Zeit 180 | Vgl. Matthäus-Evangelium 26, 41. Während aus christlich-religiöser Perspektive der Mensch seine Leibgebundenheit (respektive die Versuchung des Fleisches) durch seinen Glauben und das Gebet überwinden kann, ist dies dem Schauspielenden nach Doerry nicht möglich. 181 | Doerry 1926, 118. 182 | Doerry 1926, 90. 183 | Vgl. de Ponte 2013, 177. 184 | Vgl. de Ponte 2013, 180-184. Zur Unterscheidung von echten, verkleideten und falschen Hosenrollen siehe de Ponte 2013, 15f. 185 | Zeitung für die elegante Welt, März 1802, zitiert nach Doerry 1926, 115. 186 | Vgl. de Ponte 2013, 174-177.

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– in der durch die besetzte Schauspielerin umcodierten Darstellung und Wahrnehmung vormaliger Figurenrezeptionen wie etwa im Fall von Schillers Johanna d’Arc doch nur mehr eine »Verkörperung des Ewig-Weiblichen in des Wortes voller Bedeutung«187 – welche ohne ein weiteres Wort seitens des Autors wohl keiner weiteren Erklärung bedarf. Diese wird lediglich an anderer Stelle impliziert: Denn so, wie »ja eigentlich die meisten weiblichen Rollen irgend eine Beziehung zum Liebhaberischen«188 hätten, wie Doerry voraussetzt, scheinen selbst ›neue‹ Charaktere an den weiblichen Körper(diskurs) rückgebunden zu sein. Das Weibliche als das Liebhaberische, Sittlich-Schöne und Jugendliche bleibt – kulturell codierter – Körper und nicht Geist. Auf diese Weise erklärt sich etwa auch, warum in der und durch die naturalisierte Verbindung von weiblichem Körper mit jugendlicher Ausstrahlung der Wechsel ins Altersfach für angestammte Schauspielerinnen des Liebhaberinnen-Faches – bis heute – besonders schwierig erscheint. Im Blick und Bild der Anderen schränkt der sozial und ästhetisch wahrgenommene Körper den »Wirkungskreis«189 oder, wie Maurer-Schmoock in ihrer Definition des Rollenfachs schreibt, »den konkreten künstlerischen Wirkungsradius des jeweiligen Darstellers [der jeweiligen Darstellerin] aufgrund dessen [deren] Temperaments und Naturells«190 – nicht nur im theatralen, sondern vor allem realen Rahmen der beruflichen Existenz von Schauspieler/innen – folgenreich ein. Die stark variierenden Gagen innerhalb des Personals einer Bühne mögen hierfür nur eine erste, reale Konsequenz bedeuten,191 starke Einschränkungen und Zuweisungen bei der Rollenvergabe bis hin zu einem (praktisch legitimierten) Ausschluss von nicht den habitualisierten und normativen Erwartungen entsprechenden, das heißt von nicht ins (Vorstellungs-)Bild passenden Schauspieler/innen machen sowohl die sozialen als auch symbolischen Grenzen des Feldes deutlich, indem sie die Organisation der (Haupt-)Akteur/innen reglementieren und normieren. Dass dieses Reglement gerade für die Einzelperson nicht nur negative, sondern auch äußerst positive Effekte erzielen kann, ist die Kehrseite der Medaille, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert im Kampf um das Rollenfach respektive »Rollenmonopol«192 Bahn brechen wird, wie das Unterkapitel »Rollenfach als Un/recht« zeigen wird.

187 | Doerry 1926, 115. 188 | Doerry 1926, 11. 189 | Doerry 1926, 103. 190 | Maurer-Schmoock 1982, 157-159. 191 | Auch Ende des 19. Jahrhunderts ist die Gehaltsdifferenz etwa zwischen ursprünglich tragischen und komischen Rollen sowie zwischen ›Jungen‹ und ›Alten‹ beträchtlich: 1899 sieht beispielsweise der Schauspieletat am Nationaltheater Mannheim für Heldinnen und Liebhaberinnen 1500 fl. [Rheinische Gulden] vor, für die edlen Mütter und komischen Alten nur 1200 fl.; die historisch jüngeren Fächer wie der Bonvivant und die Salondame erhalten in dieser Auflistung das niedrigste Gehalt: 1000 fl. gegenüber der Höchstgage von 1800 fl. für erste Helden und junge Helden/Liebhaber, siehe Doerry 1926, 37 (Fußnote 59). 192 | Doerry 1926, 2 und 113.

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem

2.1.3.3 Das Rollenfach als Habitus In der historischen Phase des bürgerlichen, auf der Wiedererkennung von sozialen und ästhetischen Typen basierenden Identifikations- und Projektionstheaters bildet das Rollenfach die Voraussetzung der theatralen Kommunikation und Interaktion zwischen Theaterproduzent/innen, Akteur/innen und Rezipient/innen. Gleichzeitig stellt sich dieses Ordnungs- und zugleich künstlerische Kategorisierungsprinzip im 19. Jahrhundert als hochkomplexes und praxeologisch schwierig zu erfassendes Phänomen heraus. Denn in seiner die theatrale Kommunikationssituation regelnden Funktion stellt das Rollenfach selbst eine soziale Institution dar, die sich – über die mediale Situation hinaus – mittels der quantitativen und qualitativen Erfassung des deutschen Bühnenpersonals im Almanach der Freunde für Schauspielkunst und der damit in direkter Verbindung stehenden Einrichtung eines großflächigen Vermittlungsnetzwerks im deutschen Staatenbund in diskursive und nicht-diskursive, ästhetische und nicht-ästhetische Praktiken, in Organisationsstrukturen und feldspezifische, bürgerliche Inter- und kulturelle Elementardiskurse einlagert. Betrachtet man folglich den Zeitraum zwischen 1830 bis zur Mitte der 1870er-Jahre feldanalytisch als »kritische Phase der Entstehung des Feldes«193, dann zeichnet sich diese durch das Auftreten neuer Ko-Produzent/ innen (namentlich ›den Theateragenten‹ und ›den Regisseur‹194), durch die Ausbildung eines mehrphasigen Praktikenkomplexes (zwischen Engagementsvermittlung, Anstellung nach Typ und zunehmender Besetzung nach Individualität) und die damit einhergehende Institutionalisierung einer nach Gattungen, Fächern und Spieler/innen-Typen differenzierenden Organisationsstruktur aus. In diesem Prozess der »Eroberung der Autonomie«195 bündelt das Rollenfach als soziale Institution das praktische (Feld-)Wissen aller Teilnehmenden. Wie im vorausgehenden Unterkapitel dargelegt werden konnte, geht das Rollenfach als Prinzip der Organisation dabei organisch in eine Kategorisierung von Körpern über. Im Zuge der von Doerry erklärten »Wende um 1830«196 findet zwar eine quantitative Reduktion der Rollenfächer auf die »Urelemente des Dramatischen«197 statt, jedoch weder ein quantitativer noch qualitativer Bedeutungsverlust, im Gegenteil: Durch Einrichtung der Theateragentur und Verbreitung des Universalalmanachs zirkuliert vielmehr die theatrale Konvention im Feld; sie lagert sich im Medium des Almanachs ab und langfristig sowohl in die Organisationsstruktur als auch in den Habitus der Akteur/innen ein. Das Rollenfachsystem, durch welches sich eine individuelle Ausbildung von Schauspieler/innen im heutigen Sinne theaterpraktisch lange Zeit erübrigt hat, weil es als Gesamtkomplex ein Orientierungsmittel für die Qualifikation von Schauspieler/innen, die Weiterentwicklung der im jeweiligen Fach geforderten Fähigkeiten und die objektiv anmutende Wahrnehmung und Leistungsbemessung darstellt, lässt sich demnach für alle Beteiligten als ein (Betriebs-)System ›objektiver Kategorisierungen‹ verstehen. In dieser Funktion bildet das Rollenfachsys193 | Bourdieu 1999 [1992], 83. 194 | Nach Hänzi ist insbesondere der Regie-Position eine männlich konnotierte Diskursfigur eingeschrieben, siehe Hänzi 69-76. 195 | Bourdieu 1999 [1992], 83. 196 | Doerry 1926, 23. 197 | Doerry 1926, 36.

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tem selbst jenes »generative Prinzip«198, welches den Kampf »um das Monopol auf Durchsetzung legitimer Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien«199 bis heute dynamisiert. Mit Bourdieu, der die Begriffe des sozialen Raumes, des Raumes des Möglichen und des sozialen Feldes miteinander verschränkt und stets in Beziehung zueinander denkt,200 lässt sich der Mikrokosmos des sich seit den 1830er-Jahren autonomisierenden und institutionalisierenden Feldes des deutschen Stadttheaters als ein soziales Feld mit eigenen Regeln und einer relativ eigenständigen Gesellschaft reformulieren. So stellen sich Gesellschaften gemäß Bourdieu prinzipiell »als soziale Räume dar, das heißt als Strukturen von Unterschieden, die man nur dann wirklich verstehen kann, wenn man das generative Prinzip konstruiert, auf dem diese Unterschiede in der Objektivität beruhen. Ein Prinzip, das nicht anderes ist als die Distributionsstruktur der Machtformen oder Kapitalsorten, die in dem betrachteten sozialen Universum wirksam sind – und also nach Ort und Zeit variieren.« 201

Wie dieses Prinzip des Rollenfachs als Betriebssystem funktioniert, ist bereits hinreichend erläutert worden. Mit welcher Art von Machtformen oder Kapitalsorten und mit welchen Produktionsmitteln hierin gehandelt wird, soll im Folgenden für das 19. Jahrhundert noch einmal feldanalytisch perspektiviert werden. Dabei ist Bourdieus Feld-Begriff nicht ohne die Habitusformen der Akteur/innen zu denken, die qua Sozialisation im Feld jene objektiven Kategorisierungen inkorporieren und zugleich jenes »System von Grenzen«202, als welches Bourdieu selbst den Habitus definiert, re/produzieren.203 Die sozialen Konditionierungen in der alltäglichen Theaterpraxis, die »von den materiellen Lebensbedingungen, von den stummen Befehlen und von der (um mit Sartre zu sprechen) ›trägen Gewalt‹ der ökonomischen und sozialen Strukturen und der ihrer Reproduktion dienenden Mechanismen auferlegt werden«204 und die im theatralen Raum des Möglichen gleichwohl ästhetische Konditionierungen darstellen, »erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungie-

198 | Bourdieu 1998 [1994], 49. 199 | Bourdieu 1999 [1992], 253. 200 | Nur so lässt sich eine seiner Beschreibungen des sozialen Feldes erklären, es sei nämlich das, »was ich den Raum des Möglichen nenne, den sozialen Raum (den künstlerischen, literarischen oder wissenschaftlichen Mikrokosmos)« (Bourdieu 1998 [1994], 63). 201 | Bourdieu 1998 [1994], 49. 202 | Bourdieu 1997, 33. 203 | Diese wechselseitige Bedingtheit von Feld und Habitus beschreibt Werner Stangl als: »Umsetzung objektiver gesellschaftlicher Verhältnisse in subjektive, individuelle, klassenbestimmte Praxis […]. Unbewusst und trotzdem genau angepasst an das soziale Feld ist diese Praxis deshalb, weil der Habitus geschichtlich erst in Reaktion auf ein immer schon vorhandenes soziales Feld entsteht, sodass der Habitus daher stets das Produkt eines geschichtlichen Prozesses darstellt.« (Stangl 2017) 204 | Bourdieu 2001 [1997], 181.

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem ren, d.h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepaßt sein können […].« 205

Eine nicht nur theoretische und analytische, sondern ganz praktische Übertragung der Rollenfächer auf Habitusformen, des Rollenfachsystems auf die Systeme des Habitus, verstanden als durch das Fach strukturierte und strukturierende Struktur der verschiedenen Dispositionen von Schauspieler/innen, liegt meines Erachtens auf der Hand. Bewusst löse ich damit den Bourdieu’schen Begriff aus seiner klassentheoretischen Bestimmung und sozialwissenschaftlichen Rezeption und wende ihn auf den Bezugskontext und die (Existenz-)Bedingungen eines spezifischen sozialen Feldes an. Dabei ist meine Feldanalyse jedoch keineswegs streng soziologisch und berufsbiografisch motiviert, sondern holt die Akteur/innen aus einer kultur- und differenzierungstheoretischen Perspektive quasi dort ab, wo sie stehen – und zwar innerhalb des objektiven Kategorisierungssystems des Rollenfachs (und zeitgenössischen Ensemble-Prinzips). Deswegen soll es auch im Folgenden nicht etwa um berufsbiografische Hintergründe von Schauspieler/innen206 und eine nur mehr zu bestätigende, dominant-bildungsbürgerliche Disposition unter den Theaterschaffenden gehen. Vielmehr interessiert hier ausgehend von einer Konzeption des Rollenfachs als Habitus mit Blick auf die spezifischen Produktionsund Subjektivationsbedingungen von Darsteller/innen die Frage nach dem Zusammenhang von Person und Struktur sowie nach den Praktiken, welche »Subjekt und Struktur [koppeln]«207. Wie theoretisch indiziert und zudem in den vorangegangenen Unterkapiteln theaterhistoriografisch fundiert, wird mit Beginn der Entstehung eines relativ autonomen Feldes diese Kopplung von Subjekt und Organisationsstruktur im Fall von Schauspieler/innen durch ein ganzes Praktikenbündel nachhaltig gestiftet: durch die quantitative und qualitative Erfassung des darstellenden Personals (zunächst) im Wolff’schen Almanach für Freunde der Schauspielkunst, durch eine sich damit diskursiv und performativ vollziehende Praxis der Kategorisierung und Klassifizierung im Betriebssystem ›Rollenfach‹ sowie durch daran angepasste Praktiken der Vermittlung, Besetzung und Besprechung, etwa in zeitgleich entstehenden Vereinen darstellender Kunst, in Theaterkritiken und -journalen. Wie dargelegt, bedeutet das Rollenfach für den Einzelnen/die Einzelne »eine auf der verschiedenen Zusammensetzung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten beruhende Einteilung der schauspielerischen Talente«208. Zwar setzt die ›objektive‹ Kategorisierung durch das Fach an Körper und Geist von Schauspieler/ innen an, wie jedoch in Auseinandersetzung mit dem Anti-Typen des Charakter205 | Bourdieu 1998 [1994], 99. 206 | Mit Blick auf die Disposition(en) der Regie im Gegenwartstheater schlägt Denis Hänzi diesen Weg anhand von (berufs-)biografischen Interviews mit zeitgenössischen Regisseur/ innen ein, vgl. Hänzi 2013, 337-410. 207 | Faulstich 2013, 197. In einer ähnlichen Weise hat auch Beate Hochholdinger-Reiterer das Bourdieu’sche Habitus-Konzept mit Blick auf die Wechselwirkung zwischen schauspielendem Subjekt und sozialem, geschlechtlich codiertem Habitus fruchtbar gemacht, wobei sie jedoch stärker die darstellerischen Habitusformen und rezeptionsästhetischen Effekte fokussiert, vgl. Hochholdinger-Reiterer 2014, 58-68. 208 | Doerry 1926, 2.

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spielers nachgewiesen, ist und bleibt der sozial wie ästhetisch wahrgenommene Körper von Schauspieler/innen (besonders im Zuge des Realismus und Naturalismus) eine »kulturelle Entität«209 und als selbstreferentieller Zeichenträger das – im wahrsten Sinne des Wortes – fachliche Maß schauspielerischer Performanz. Dieser Befund lässt sich nun auch habitustheoretisch erklären, denn: »Die strengsten sozialen Befehle richten sich nicht an den Intellekt, sondern an den Körper, der dabei als ›Gedächtnisstütze‹ behandelt wird.«210 Wenn das Rollenfach als soziale Institution in dieser Weise als eine soziale Anweisung an die Körper von Akteur/innen gedacht wird, dann lässt sich abschließend fragen, durch welche Kategorisierungen des Körpers Schauspieler/innen angewiesen werden. Für das 19. Jahrhundert lassen sich aufgrund ihrer Sichtbarkeit, Notwendigkeit und Öffentlichkeit im organisatorischen und künstlerischen Tausch-Betrieb der sich vermehrenden und untereinander vernetzenden Theater des deutschen Staatenbundes Geschlecht, Alter, Präsenz und Schönheit als grundlegend signifikante, körperbasierte Kategorien der innerbetrieblichen Organisationsstruktur des deutschen Stadttheaters in seiner Entstehungsphase identifizieren. Damit ist in Bezug auf das ›Spielmaterial‹ der Akteur/innen theoretisch und empirisch erwiesen, dass Schauspieler/innen (sowie aus wirtschaftlicher Perspektive auch Theaterproduzent/innen) mit Körperkapital handeln, dass der Körper als materielle Ressource behandelt, eingesetzt und öffentlich wahrgenommen und nach kulturellen, sozialen, ästhetischen und symbolischen Maßstäben gemessen wird. Innerhalb dieses (nach Geschlecht, Alter, Präsenz und Schönheit) differenzierenden und (nach ersten, zweiten und Charakterrollen) klassifizierenden Organisations- und Kategorisierungssystems des Rollenfachs heißt dies: Der doppelte Körper von Schauspieler/ innen dient im Feld des sich autonomisierenden Stadttheaters nicht nur als ökonomisches, sondern zugleich kulturelles, soziales, ästhetisches und symbolisches Kapital – im Besitz der Darsteller/innen selbst und in der Verfügung der Theaterproduzent/innen. Inwiefern speziell diese Kategorien in Zusammenhang mit dem Rollenfachsystem noch die heutigen Betriebe beeinflussen, ist forschungsleitendes Thema des zweiten Kapitels. Zunächst aber soll der ›Kampf um das Fach‹ im ausgehenden 19. Jahrhundert nachgezeichnet werden.

2.1.3.4 Das Rollenfach als Un/recht Das vorliegende, die Frage nach der Organisation von Schauspieler/innen im Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts abschließende Unterkapitel erhebt nicht den Anspruch, die sogenannte Fachfrage und die darin miteinander konkurrierenden Positionen in aller historischer Genauigkeit zu ermitteln. Vielmehr werden mit Blick auf den Zeitraum zwischen 1871 und 1919 im Folgenden schlaglichtartig einzelne Stationen des »offizielle[n] Kampf[es] um das Fach«211 nachgezeichnet und anhand der zeitgleich publizierten Jahrgänge der einschlägigen Almanache – Deutscher Bühnenalmanach (1854-1894), Neuer Theater-Almanach (1890-1914), Deutsches Bühnen-Jahrbuch. Theatergeschichtliches Jahr- und Adressen-Buch begründet 1889 (seit 1915 bis heute) – kommentiert respektive gegengelesen.

209 | Hirschauer 2010, 221. 210 | Bourdieu 2001 [1997], 181. 211 | Doerry 1926, 102.

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem

Das Jahr 1871 dient hierbei aus mehreren Gründen als zeitlicher Ausgangspunkt für die zweite Entstehungsphase des sich ausdifferenzierenden StadttheaterFeldes. Wie im ersten Teil der vorliegenden Arbeit dargelegt, bildet es sowohl für die Geschichte des deutschen Kaiserreiches als auch für die Genese des deutschen Stadttheatersystems einen historischen Einschnitt: So ist nach dem gewonnenen Deutsch-Französischen Krieg (1870/1871) und den Reparationszahlungen von Seiten Frankreichs einerseits eine wirtschaftliche, mit Einführung der auch für den Norddeutschen Bund geltenden Gewerbefreiheit im Jahr 1871 andererseits eine rechtliche Grundlage geschaffen, die zur Gründung zahlreicher Theater führt.212 Zudem gewinnt das Feld im Juli 1871 eine weitere Mitspielerin im Kampf um die Interessen und Positionen innerhalb des sich bislang vor allem zwischen einzelnen Akteur/innen, Vermittler/innen, Theaterproduzierenden und -rezipierenden abspielenden Feldes: Auf Initiative des Schauspielers Ludwig Barnay wird die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) auf dem Allgemeinen deutschen Bühnen-Congress vom 17. bis 19. Juli 1871 in Weimar ins Leben gerufen, nachdem bekannt geworden ist, dass der bereits 1846 gegründete Deutsche Bühnenverein die Einführung eines Reichstheatergesetzes gegen das »Kontraktbruchsunwesen«213 plant.214 Ähnlich dem Bühnenverein vergrößert sich auch die Schauspieler/ innen-Genossenschaft schnell und verbreitet großflächig ihre Ideen und Dienste mittels eines eigenständigen Verbandsorgans: Zwischen 1873 und 1889 erscheint der Almanach der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger unter der Herausgeberschaft des Schauspielers Ernst Gettke, der im darauffolgenden Jahr in die Verantwortung der Genossenschaft unter dem Titel Neuer Theater-Almanach übergeht. Diese wendet sich im Vorwort ihrer zweiten Ausgabe von 1891 mit folgender Erklärung an ihren Leser/innenkreis: »Es sei uns noch erlaubt, einen kurzen Blick zu werfen auf das so erfreuliche Wachsen und Gedeihen unserer humanitären Anstalten. Unaufhaltsam breitet sich ihr segensreiches Wirken aus, Hilfe und Unterstützung spendend nach allen Seiten; und was wir im vorigen Jahre nur als Hoffnung für die Zukunft ausgesprochen, es hat bereits begonnen sich zu erfüllen: Allseitiger Anschluß der deutschen Schauspielerwelt an die Genossenschaft und an ihre Anstalten! Die Mitgliederzahl der Genossenschaft, der Pensionsanstalt, der Sterbekasse, der Wittwen- und Waisenkasse hat sich mehr denn je vergrößert und diese Thatsache bekräftigt unsere feste Zuversicht auf das unerschütterliche Bestehen unserer Anstalten!« 215

Die GDBA als ein gemeinschaftlicher Geschäftsbetrieb primär des darstellenden Personals wird folglich nicht nur als Repräsentantin kulturpolitischer Ideen und Forderungen begründet, sondern im Wesentlichen auch als soziale Fürsorgeanstalt, deren unterschiedliche Aufgaben und Aktivitäten im Verbandsorgan Neuer Theater-Almanach festgehalten werden. Unabhängig von dieser spezifischen konzeptionellen Ausrichtung des Mediums an den Interessen der Arbeitnehmer/innen ähnelt es in Inhalt und Form stark dem (noch) parallel publizierten, aus dem Wolff’schen Almanach hervorgegangenen Deutschen Bühnen-Almanach. Auch das 212 | Vgl. Kapitel 1.2.2. 213 | Lennartz 1996, 10. 214 | Vgl. Doerry 1926, 122. 215 | Neuer Theater-Almanach 1891, Vorwort.

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neu erscheinende Jahrbuch der Genossenschaft beginnt im Format jenes traditionsreichen Organs ein Verzeichnis über die deutschen Bühnen und ihre Mitglieder anzulegen, was kurze Zeit später zur Auflösung des Deutschen Bühnen-Almanachs unter der Herausgeberschaft des Theateragenten Entsch führen wird: »Im übrigen hatte sich der Genossenschaftsalmanach so weit verbessert, daß er nicht mehr nur ein Verbands-Organ war, sondern sich zum Organ des gesamten deutschen Theaterlebens entwickelte«216, beschreibt Paul S. Ullrich diese Entwicklung, die sich ab der fünften Ausgabe auch in einer Ergänzung des Jahrbuchtitels (Theatergeschichtliches Jahr- und Adressen-Buch (begründet 1889)) wiederspiegeln wird. Wie die Umcodierungung des Mediums deutlich macht, soll der Neue TheaterAlmanach, seit 1893 also definiert als jährliches Adressbuch, primär dem Zweck einer sozialen und kulturellen Vernetzung aller Bühnenmitglieder dienen. Man könnte vermuten, dass sich mit Einführung der neuen Ausgaben ab 1893 keine Rollenfächer mehr, sondern ausschließlich Namens- und Adressdaten innerhalb der Verzeichnisse finden lassen. Ein Vergleich der ersten Jahrgänge des neuen Almanachs zeigt jedoch, dass die quantitative und qualitative Reduktion des Rollenfachs aus dem Schriftstück sowie auch der Praxis nur langsam vonstattengeht und – wie die Debatte um die Fachfrage deutlich machen wird – keineswegs im Interesse der GDBA liegt. Erst um 1910 lassen sich innerhalb des Genossenschaftsorgans definitiv keine Rollenfächer mehr finden, sondern ausschließlich Adresszusätze oder der Hinweis »im Th. zu erfr.« (»im Theater zu erfragen«). In den Jahrgängen zwischen 1889 und 1910 fällt demgegenüber ein freier und willkürlicher Umgang mit der Kennzeichnung der Schauspieler/innen an einzelnen Bühnen auf: Mal entscheiden sich die Verantwortlichen eines Stadttheaters ausschließlich für die Veröffentlichung von Anschriften, mal wird die Identifizierung von Schauspieler/ innen durch Fachangaben beibehalten. Daneben finden sich auch ›vermittelnde‹ Lösungen einiger Stadttheater, welche die Identität ihrer Mitglieder sowohl mit Hilfe von Anschriften als auch von Fachangaben in typografisch abgekürzten Formen möglichst umfassend darzulegen versuchen. Diese individuelle Handhabung in der Mitteilungspraxis entspricht vermutlich der je spezifischen Position der Direktion in Bezug auf die Fachfrage. Wie sehr diese den Spezialdiskurs innerhalb des Feldes des deutschen Stadttheaters zwischen 1871 und 1919 bestimmt, vermag das euphorische Vorwort des Neuen Theater-Almanachs in seinem zweiten Jahrgang exemplarisch zu veranschaulichen: »Auch das kommende Jahr gestattet uns einen frohen Ausblick: die wahrscheinliche, gemeinsame Prüfung der ›Kontraktfragen‹ und des ›Schiedsgerichts‹ zwischen Bühnenverein und Genossenschaft. Mögen diese Berathungen ein Resultat erbringen, gleich befriedigend für die beiden großen Theatervereine, gleich erfreulich für Bühnenleiter und Bühnenmitglieder – zum Heile aller deutschen Bühnen-Angehörigen.« 217

Die hier angekündigte Prüfung in Sachen ›Kontraktfragen‹ für das Jahr 1891 ist bei Weitem nicht die erste seit Bestehen der beiden Interessenverbände und wird dies-

216 | Ulrich 1996, 139. 217 | Neuer Theater-Almanach 1891, Vorwort.

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bezüglich keine Neuerungen bringen.218 Die Darstellung im Vorwort des neuen Almanachs markiert jedoch klar die formale Trennungslinie zwischen zwei Parteien: den Bühnenmitgliedern der Genossenschaft und den Theaterleiter/innen im Deutschen Bühnenverein. Während letzterer begründet worden ist, »um das ärgerliche, ausufernde Kontraktbruchsunwesen [von Seiten der Schauspieler/innen] zu bekämpfen«219, formiert sich hierzu diametral die gemeinschaftliche Organisation der künstlerisch, vor allem darstellerisch Mitarbeitenden zum Schutz der Bühnenangehörigen vor der ›Willkür‹ seitens der Theaterdirektor/innen und Regisseur/ innen. Gefordert werden in der Folge klare Bestimmungen bei (Nicht-)Einhaltung der Verträge und die Einrichtung eines einheitlichen Kontraktformulars. Obwohl Vertragsbrüche auch in früheren Zeiten schon angemahnt worden sind, hat das in die Engagementsverhältnisse und die Besetzungspraxis eingelagerte Fachsystem die Konflikte doch für gewöhnlich geregelt. Das Fehlverhalten mancher Schauspieler/innen stellt das bürgerlich-städtische Theater im Zuge seiner zunehmenden sozialen Funktionalisierung nun aber vor ein neues Problem: »[J]etzt, da das Theater sich eine soziale Bedeutung zu erringen begann, wurde der Mangel eines staatlichen Gesetzesschutzes schmerzlich fühlbar.«220 Der bislang noch schwachen Institutionalisierung 221 des Feldes könne hierbei nur mit Hilfe eines staatlichen Kontrollsystems respektive einer starken Führungspersönlichkeit beigekommen werden, schlussfolgert Doerry. Als regelrechte Verletzung des Staatssystems ist demzufolge ein Kontraktbruch oder anderes unrechtmäßiges Verhalten, wie etwa die übermäßige Beanspruchung eines Faches seitens von Schauspieler/innen, aufgefasst worden. Doerry nimmt bezüglich der zuletzt genannten Regelverletzung im Zusammenhang mit dem prekären rechtlichen Status des Rollenfachs Stellung zu dem dieser Diskussion zugrundeliegenden Problem: »Das Fachsystem war ein durchaus allgemein anerkanntes, zumindest allgemein ausgeübtes künstlerisches Prinzip. Dieser Brauch […] führte dann in der Regel dazu, daß man aus ihm ein Recht abzuleiten suchte, wonach bestimmte Rollen als zu einem Fach gehörig dem Darsteller dieses Faches ohne weiteres vorbehalten waren. Man suchte dieses Recht abzuleiten und durchzusetzen – aber es ist niemals Recht gewesen, immer nur Gewohnheit, und das so genannte ›feste Fach‹ ist […] stets ausdrücklich abgelehnt worden.« 222

218 | Da es 1890 aufgrund von »polemische[n] Artikel[n] aus dem Umfeld der Genossenschaft im Zusammenhang mit den Kontraktbestimmungen und dem Kontraktbruchverfahren« (Lennartz 1996, 109) zu Unstimmigkeiten bis hin zu einem Zahlungsstopp des Bühnenvereins an die Pensionskasse gekommen ist, bestimmt diese finanzielle Beschneidung (und nicht die eigentliche Kontraktfrage) die Verhandlungen im Jahr 1891, vgl. Lennartz 1996, 109. 219 | Lennartz 1996, 10. 220 | Doerry 1926, 119. 221 | Laut Bourdieu zeigt diese sich insbesondere »am vollständigen Fehlen jeder Instanz, die bei Auseinandersetzungen um Priorität oder Autorität und allgemeiner bei Kämpfen um die Verteidigung oder Eroberung dominierender Positionen schlichtend eingreifen und rechtlichen oder institutionellen Schutz gewähren könnte« (Bourdieu 1999 [1992], 366 [Fußnote 22]). 222 | Doerry 1926, 4.

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Der Begriff des festen Faches meint in diesem Zusammenhang weniger die alltagspraktische Einteilung und objektive Kategorisierung von Schauspieler/innen nach bestimmten Typenfächern, als er vielmehr auf die subjektive Inanspruchnahme und Akkumulation von »sogenannten ›dankbaren‹ Rollen«223 im Sinne des Aufbaus eines »Rollenmonopol[s]«224 verweist. Der Begriff des Rollenmonopols wird hierbei nicht nur in der Theaterpraxis durchweg pejorativ gebraucht, sondern auch in der theaterwissenschaftlichen Rezeption in dieser wertenden Weise übernommen. So urteilt Doerry gar, dass »dessen Schädlichkeit für die Kunst der Menschendarstellung keines Beweises mehr bedarf«225. Überblickt man seine 1926 publizierte Schrift Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts, fällt spätestens mit der negativen Festschreibung dieses Begriffes (bei gleichzeitiger Idealisierung der ›Kunst der Menschendarstellung‹) auf, dass sich der Verfasser hieran abzuarbeiten, ja sich in seiner Autorschaft geradezu davon abzugrenzen versucht. Einen Nutzen aus der das Ordnungsprinzip ›Rollenfach‹ für die eigenen Zwecke funktionalisierenden Praxis der Monopolisierung erster Fächer würden folglich zum einen die »›Prominenten‹« unter der »Masse der Durchschnittsschauspieler«226 ziehen. Zum anderen gäbe es »genug Beispiele […], wo ein allmächtiger Direktor oder Regisseur, oder öfter noch die Frau Direktorin, alle in dieser Hinsicht fetten Bissen für sich wegschnappte«227, wie Doerry diese Regelwidrigkeit nicht weniger bissig im Rahmen seiner Einleitung kommentiert, die im selben Zuge zum argumentativen Ausgangspunkt seiner Stellungnahme wird. Es sei nämlich »ebenso klar, daß hier nur ein einziges Mittel vor der völligen Anarchie bewahrt: indem man die einmal vorhandene ausgesprochenste Eignung und ausgebildetste Fähigkeit unter künstlerischer Motivierung zum ›Fach‹ machte – um eine wirtschaftliche Grundlage für ein gedeihliches Arbeiten überhaupt zu ermöglichen.« 228

Doerrys Unmut – der auf semantischer Ebene die bereits aus dem 19. Jahrhundert bekannte Ideologisierung des Kunst- und Ensembletheaters als soziales und kulturelles Modell der integrierenden Vermittlung eines Ganzen gegenüber der Selbstdarstellungspraxis im Virtuosentum bedient und auf diese Weise die diskursive Grenzziehung zwischen bürgerlichem Ordnungswillen und ehemals aristokratisch geprägter Willkürherrschaft beziehungsweise standes- und regelloser Anarchie reproduziert – richtet sich demnach gegen zweierlei Entwicklungen des (bürgerlichen Stadt-)Theaterfeldes im ausgehenden 19. Jahrhundert: einerseits gegen das Rollenmonopol und die damit verbundene künstlerische (und wirtschaftliche) Macht einzelner Schauspieler/innen innerhalb des Ensembles,229 andererseits gegen eine absolute (monarchische) Vorherrschaft von Intendant/innen im Feld der Macht einer streng hierarchisch tradierten und legitimierten Organisations-

223 | Doerry 1926, 3. 224 | Doerry 1926, 2. 225 | Doerry 1926, 113. 226 | Doerry 1926, 106. 227 | Doerry 1926, 3. 228 | Doerry 1926, 3. 229 | Vgl. Doerry 1926, 119.

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struktur.230 Letztere überträgt sich im Prozess der Umstrukturierung von Prinzipalschaften (im Kontext eher familiär organisierter Schauspielgesellschaften) auf Führerschaften (von kulturellen und gleichwohl ökonomischen Betrieben mit angestelltem Personal) quasi unkommentiert und routinisiert in und durch die Alltagspraktiken im Repertoire- und Ensemblebetrieb. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Rollen- und Machtmonopol erscheint die reflektierte und doch in die Verhältnisse involvierte Position Doerrys höchst interessant, weil sie auf eine paradoxe Weise am Rollenfach als Organisationsprinzip festhält, nicht aber an seiner künstlerischen, geschweige denn rechtlichen Manifestierung. Dennoch sei es notwendig, um »ein gedeihliches [künstlerisches] Arbeiten überhaupt zu ermöglichen«231. Unter dieser Perspektive bedarf auch das künstlerische Schaffen, wie jede andere soziale Praxis, einer geregelten sozialen Ordnung. Der hieraus erwachsende Konflikt ist auf Ebene der Organisation wie der Interaktion folglich überaus komplex: Sowohl von Seiten der Direktionen als auch der Darsteller/innen kann das Fach als eine »Kampf- und Verteidigungsposition«232 und je nach Situation und Position der Beteiligten als zu bekämpfende oder zu verteidigende Konvention verstanden werden. Während es auf organisatorischer Ebene – im Sinne einer sozialen Institution – der produktiven »Gestaltung und Verwaltung eines Ganzen«233 dient, fungiert es auf Ebene der sozialen Interaktion zwischen Theaterproduzierenden und Akteur/innen als (großes oder auch geringes) Kapital und Machtmittel der Schauspieler/innen. Diese vermögen mittels ihres Faches ihre »Stellung innerhalb dieses Ganzen und gegen dieses Ganze zu wahren«234 – und zwar nicht nur in Konkurrenz zu anderen Akteur/innen, sondern auch schützend gegenüber den vielfach als willkürlich empfundenen Besetzungsentscheidungen autoritär handelnder Direktor/innen oder Regisseur/innen. Das Rollenfach wird folglich vom Gros der Darsteller/innen im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht als Ungerechtigkeit oder Einschränkung der künstlerischen und finanziellen Möglichkeiten betrachtet, sondern als ihre existentielle Voraussetzung, vergleichbar erneut mit dem subjektivierenden Effekt des sozialen Habitus, der diesen als identitätsstiftendenden Marker sozialer Zugehörigkeit und sozialer Ansprüche performativ konstituiert. Dass diese im Rollenfach respektive Habitus inkorporierte Macht seitens der im Bühnenverein eingetragenen Theaterdirektor/ 230 | Doerry argumentiert in Bezug auf die souveräne Position von Theaterdirektor/innen zunächst rational: »Verantwortung bedingt Macht, und so mußte der Direktor darauf bedacht sein, möglichst viel Macht in sich zu vereinigen, oder, was dieselbe Wirkung ausmacht, dem Schauspieler möglichst viel Macht zu entziehen. […] Ein Mittel dazu liegt erstlich in der Gagenzahlung bzw. dem Abzug von Strafgeldern.« (Doerry 1926, 119.) Wie er hiernach anführt, sei »der Schauspieler […] noch an einer anderen Stelle verwundbar« (Doerry 1926, 119), nämlich an dem ihm zugesprochenen Rollenfach; diesbezüglich kommentiert Doerry anschließend kritischer: »Diese Verschanzung niederzureißen war daher seit je das Streben der Direktionen. Mit dem Fach, das sie selber pflegten und nicht entbehren konnten, hatten sie im Rollenmonopol einen Geist zitiert, den loszuwerden ihnen wohl schwer fallen sollte.« (Doerry 1926, 120) 231 | Doerry 1926, 3. 232 | Doerry 1926, 105. 233 | Doerry 1926, 105. 234 | Doerry 1926, 105.

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innen wiederum begrenzt und eingedämmt werden will, erscheint innerhalb jenes sich abzeichnenden Raumes sozialer Machtverhältnisse eine logische Konsequenz zu sein. Vor diesem Hintergrund lässt sich begreifen, mit welchem existentiellen und zugleich kontroversen Interesse der »Kampf um das Fach um der sozialen Macht willen«235 zwischen der GDBA als Repräsentationsorgan einer sich professionalisierenden Gruppe von Schauspieler/innen und dem Deutschen Bühnenverein als Interessenvertretung der Arbeitgeber/innen seit Anfang der 1870er-Jahren geführt worden ist. Die schwankenden Ergebnisse der Aushandlungsprozesse bis 1919 sollen nachfolgend überblicksartig zusammengefasst werden, um die auch in anderen (Diskurs-)Formationen fortgeführte Ambivalenz in der Fachfrage zu verdeutlichen. Das Verhandlungsziel eines einheitlichen Vertrages für Arbeitgeber/innen und Arbeitnehmer/innen wird infolge der Gründung der Schauspieler/innen-Genossenschaft zwar schnell erreicht, doch offenbart sich bereits in seiner ersten Fassung aus dem Jahr 1873 die offensichtliche Unstimmigkeit beider Vertretungen in der Fachfrage, aus welcher die Bühnenleitungen mit Durchsetzung ihrer Interessen klar als Sieger hervorgehen: So solle bei Engagement eines Darstellers/einer Darstellerin vertraglich immer die jeweilige Kunstgattung festgehalten werden, also der Tätigkeitsbereich in den Sparten Schauspiel, Ballett oder Oper; das Rollenfach jedoch könne lediglich optional Anwendung finden.236 Verschärft wird diese Klausel durch einen Beschluss aus dem Jahre 1876, in welchem der Bühnenverein gegen Proteste von Schauspieler/innen gar eine obligatorische Aufhebung der Fächer aus den für seine Mitgliedsbühnen geltenden Verträge erwirkt. Der Deutsche Bühnenalmanach reagiert prompt auf diesen Einschnitt: So versucht der Herausgeber des Almanachs seinen Adressat/innenkreis – das heißt jene im allgemeinen Verzeichnis eingetragenen Bühnen und Bühnenmitglieder – im Vorwort davon zu überzeugen, dass es in Zukunft »gewiß für den Gebrauch recht praktisch [wäre], wenn überall, namentlich aber bei Stadttheatern und kleineren Bühnen, daran festgehalten würde, bei den aktiven Mitgliedern die Fachbezeichnung aufrechtzuerhalten; es scheint dieses jetzt um so wichtiger, als in den Contrakten dieselbe nach Bestimmung des Bühnen-Vereins fortfällt und somit der BühnenAlmanach den einzigen Anhalt nach dieser Richtung hin bietet«. 237

Gegenläufig zu den Vertragsdokumenten solle in der öffentlichen Dokumentation der darstellenden Mitglieder quasi zu gemeinnützigen Zwecken am Rollenfach festgehalten werden. Als Betreiber einer Theateragentur hat Theodor Entsch, damaliger Herausgeber des Universalalmanachs, an der Aufrechterhaltung des Fachsystems selbst das größte Interesse, stellt es doch einen großen Teil der eigenen 235 | Doerry 1926, 118. 236 | Doerry 1926, 124. Unter Herzog Georg II., der seit 1866 am Hoftheater in Meiningen nach Auflösung des Opernensembles eine reine Schauspieler/innen-Gesellschaft – auch selbst regieführend – leitet, soll das Fachsystem erstmalig und noch vor den Verhandlungen der 1870er-Jahre aufgehoben worden sein (vgl. Doerry 1926, 124); ›die Meininger‹ gelten darüber hinaus als Schöpfer eines neuen Regie- und Inszenierungsstils sowie in dessen Zuge als Vorreiter des Ensemblespiels, vgl. Fischer-Lichte 1993, 221-235. 237 | Deutscher Bühnenalmanach 1878, Vorwort.

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beruflichen Existenz im Vermittlungswesen und in der Theaterpublizistik dar. Zudem geht Entsch zweifellos davon aus, dass das Fach als Organisations- und Orientierungsmittel auch weiterhin in der Vermittlungs- und Besetzungspraxis eingesetzt werden wird. Dem formal unveränderten Verzeichnis der deutschen Bühnen und Mitglieder in den Folgejahrgängen bis 1910 nach zu urteilen, hegen daran auch die Theaterpraktiker/innen keinerlei Zweifel. Infolge der Unterlassung des gesetzlich festgeschriebenen Faches seit 1876 scheint sich in jedem Fall die Befürchtung der Schauspieler/innen-Genossenschaft zu bestätigen, nämlich dass determinierende, mithin schikanierende Entscheidungen eines ›Theater-Souveräns‹ vermehrt Einzug in die Alltagspraxis halten, etwa »mit billig bezahlten Kräften erste Rollen zu besetzen oder alle großen und dankbaren Rollen selbst zu spielen oder ihren Günstlingen – nicht zuletzt im weiblichen Teil des Personals – zuzuwenden oder unbequeme Mitglieder durch unzureichende Beschäftigung zu schikanieren oder loszuwerden. Da sich das in solchen Fragen zuständige Schiedsgericht ausschließlich oder später zum überwiegenden Teil aus Mitgliedern des Bühnenvereins zusammensetzte, so war es für den Schauspieler [die Schauspielerin] schwer, wo nicht unmöglich, mit Sicherheit ein völlig objektives Urteil und eine gerechte Anerkennung seiner Ansprüche zu erlangen, denn die Bühnenleiter stützten sich natürlich gegenseitig und hielten ihre Macht über den Schauspieler wohlweislich fest in Händen.« 238

Die hier aufgelisteten ›Ungerechtigkeiten‹ innerhalb des hierarchisch strukturierten Systems deutscher Stadttheater muten gegenwärtig, in Zeiten einer erneuten Schauspieler/innen-Initiative mit offizieller Gründung des Ensemble-Netzwerks in Bonn auf der »erste[n] bundesweite[n] Ensemble-Versammlung«239 im Mai 2016, überaus aktuell an: Die Klagen und Forderungen seitens des künstlerischen Personals betreffen heute über ›willkürliche‹ Besetzungsentscheidungen hinaus die Intransparenz von un/gleichen Gehaltszahlungen sowie die prekäre Arbeitssituation aufgrund der meist befristeten Vertragsverhältnisse und un/geregelten Arbeitszeiten (ohne Angabe der Wochenarbeitszeit) im Normalvertrag. Als ein Relikt der Vertragsverhandlungen von 1919 fundiert er, wenn auch in leicht abgeänderter Form, bis heute die rechtliche »Regelung der Anstellungsbedingungen der an Schauspiel-, Opern- und Operettenbühnen tätigen Schauspieler, Schauspielerinnen, Sänger und Sängerinnen«.240 In einem Brief an das Präsidium der GDBA erklärt Reichsarbeitsminister Alexander Schlicke die Vertragsabschlüsse mit Eintragung in das Tarifregister am 8. Oktober 19 d19 für verbindlich. Die im Deutschen Bühnen-Jahrbuch von 1920 formulierte, hoffnungsvolle Annahme, dass die von beiden Interessenverbänden verabschiedeten Tarif- und Normalverträge nun endgültig »die Willkür der alten Bühnendiktatur [beseitigen] würden«241, lässt sich damit jedoch, wie der kurze Ausblick auf die Gegenwart zeigt, noch lange nicht bestätigen. Nichtsdestotrotz führen die vom 27. bis 29. Januar 1919 wiederaufgenommenen Verhandlungen zu langfristigen Gesetzesregelungen sowie einem paritäti-

238 | Doerry 1926, 126. 239 | www.ensemble-netzwerk.de/versammlung/vergangenheit.html 240 | Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1920, 57. 241 | Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1920, 56.

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schen Stellennachweis. Im einleitenden Artikel zum »Bühnentarifabkommen«242, in welchem sich auch ein Abdruck beider Kontraktformulare findet, werden als Gegenstand der Verhandlungen erneut »insbesondere die Vorbereitung neuer Normalverträge, Einrichtung von Schiedsgerichten und Schiedsausschüssen auf paritätischer Grundlage und Regelung des Konzessionswesens«243 genannt. Zudem habe sich ein zweiter Ausschuss »mit der Regelung des künstlerischen Unterrichtswesens für den gesamten Theaterbetrieb und der Einführung eines Berufsnachweises für die Eignung zum Schauspielerberuf und der Fernhaltung ungeeigneter Elemente vom Theaterbetrieb [befasst]«. 244

Mit Einführung des Normalvertrages konstituiert und professionalisiert sich zunehmend das gemeinsame Feld bei gleichzeitiger Kontrolle seiner Grenzen durch »Fernhaltung ungeeigneter Elemente vom Theaterbetrieb«. Hinsichtlich der Ordnung durch das Rollenfach ist innerhalb des Tarifvertrages eine überraschende Kehrtwende zu verzeichnen: So bezeichnet Paragraf 1 des Normalvertrages vom 12. Mai 1919 – ganz entgegen der Aufhebung der Fächer aus den Kontrakten seit 1876 – eine obligatorische Einteilung und Zuordnung von Schauspieler/innen sowohl nach Kunstgattungen als auch nach sogenannten Kunstfächern oder optional nach einem dem Vertrag angehefteten »genaue[n] Rollenverzeichnis«245. Diese erneute Transformation der juristischen Fachfrage erscheint doch mehr als überraschend und lässt sich meines Erachtens primär als Effekt einer geschwächten Macht von (Staatstheater-)Intendant/innen nach der Verstaatlichung ihrer (höfischen) Theater in der Weimarer Verfassung verstehen. Da sich die vertragliche Grundlage jedoch bereits zuvor nicht unmittelbar auf die Organisationsstruktur der Betriebe, geschweige denn auf die künstlerische Praxis ausgewirkt hat, ist auch durch die explizite Aufnahme des Faches in die Kontrakte von keiner wesentlichen Änderung auszugehen. Unabhängig von der rechtlichen Einschreibung respektive nicht-dokumentierten Einschreibung in den Universalalmanach der Genossenschaft – der seit 1915 unter dem heutigen Titel Deutsches Bühnen-Jahrbuch firmiert – bildet es, wie Doerry nur in einer Fußnote anmerkt, »stets die Grundlage für den Stellenvermittlungs- und Angestelltenverkehr«246. Für die Persistenz dieses Systems lassen sich mehrere Gründe anführen, welche die tiefenstrukturelle Verwurzelung der Rollenfächer im deutschen Ensembleund Repertoiretheater erklären. Dennoch möchte Doerry am Ende seiner Untersuchung zum Rollenfach im Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts bestätigt wissen: »Die Fachbezeichnungen, die heute [in den 1920er Jahren] nur noch wirtschaftliche Bedeutung besitzen, haben sich an der künstlerischen Entwicklung nicht beteiligt und sind daher in ihrem Begriffsumfang veraltet. Zwar werden hin und wieder Bezeichnungen wie ›Charakter-

242 | Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1920, 55-66. 243 | Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1920, 55. 244 | Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1920, 55. 245 | Normalvertrag vom 12. Mai 1919 zitiert nach Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1920, 61. 246 | Doerry 1926, 102 (Fußnote 147).

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem liebhaber‹ oder ›jugendliche Charakterspielerin‹ angetroffen, aber allgemeine Verwendung wie die alten Namen ›Liebhaber‹, ›Held‹ usw. finden sie nicht.« 247

Betrachten wir an dieser Stelle abschließend die Genese des Rollenfachs in seiner historischen, diskontinuierlichen Entwicklung, dann lässt sich diese mit der Soziologin Bettina Heintz als ein Prozess der »De-Institutionalisierung«248 der Rollenfächer im deutschen (Stadt-)Theater beschreiben: von einer theater- und schauspielpraktischen Konvention im deutschen Theaterwesen des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zur diskursiven Verfestigung der Fachbezeichnungen als objektives Kategorisierungssystem von Schauspieler/innen in den Universalalmanachen seit den 1830er-Jahren bei gleichzeitiger Institutionalisierung der Fächer in die Engagementsvermittlung und Organisationsstruktur der festen Personale. Über rechtliche Aushandlungsprozesse gelangt es in den Normalvertrag von 1919, in welchem es schon fünf Jahre später durch eine Vertragsänderung in den Jahren 1923/24 eine semantische Umwendung unter Paragraf 6 des Normalvertrags hin zu einer »angemessenen Beschäftigung«249 erfährt. In dieser Weise scheint es heute noch im Feld als praktisches Wissen von Theaterproduzent/innen tradiert und re/produziert zu werden – so die Vermutung, die es im Rahmen des folgenden Kapitels empirisch zu überprüfen gilt.

2.2 F unk tion und B edeutung des E nsemble -P rinzips im G egenwartsthe ater Mit Beginn dieses Kapitels wage ich den Sprung in die Gegenwart. De facto ist dies zwar ein zeitlicher Sprung – jedoch weder ein formaler noch inhaltlicher Bruch, wie schnell deutlich werden wird. Da sich die Interferenzen zwischen Historie und Gegenwart aus der Praxis heraus beziehungsweise analytisch ›am Material‹250 anschaulich zeigen lassen, soll an dieser Stelle keine Reflexion des Gegenwartstheaters im Kontext der deutschen Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts folgen, wie sie am Ende des ersten Teiles mit Blick auf die Theater- und Ensemblepolitik nach 1968 knapp skizziert worden ist.251 Vielmehr bleibe ich beim konkreten Untersu247 | Doerry 1926, 114. 248 | Heintz 2008, 234. 249 | Normalvertrag 1923/24 zitiert nach Doerry 1926, 132. Nach Lennartz stellt die »modifizierte[…] Fassung von 1923/24 die Basis für das bis heute geltende Bühnenrecht« (Lennartz 1996, 48) dar. 250 | Der Ausdruck spiegelt einerseits die Grundhaltung ethnografischen Forschens wider, andererseits und zugleich meint er methodisch ein Analyse- und Auswertungsverfahren qualitativer Interviews, vgl. Kapitel 2.2.2. 251 | Siehe Kapitel 1.3.2, Seite 122f. Zu einer umfassenden Darstellung der künstlerischen Entwicklungen des deutschen Theaters vor dem Hintergrund der (kultur-)politischen Geschehnisse vgl. Brauneck 2003, 226-537 und Brauneck 2007, 191-459. Eine zugleich praxeologische und differenzierungstheoretische Perspektive nehmen in diesem Zusammenhang nur zwei theaterwissenschaftliche Arbeiten ein: zum Ostdeutsche[n] Theater nach dem Systemumbruch siehe Jennicke 2009, zur Schauspielausbildung mit Blick auf Heiße Westund kalte Ost-Schauspieler? Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in

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chungsbereich und der Frage nach dem Ensemble-Prinzip im gegenwärtigen Betrieb. Im hierbei zu untersuchenden Feld des deutschen Stadttheaters wird weiterhin zunächst bewusst auf eine Trennung der öffentlichen Theater nach unterschiedlichen Finanzierungsformen respektive »Wirkungskreise[n]«252 verzichtet. In Anbetracht der gegenwärtigen, als Strukturdebatten ausgefochtenen Kämpfe scheint der Begriff des Stadttheaters aktuell sogar mehr denn je aufgrund seiner unscharfen Trennung in Staats-, Stadt- und Landestheater als Synekdoche der subventionierten Ensembletheater – positiv wie negativ – Verwendung zu finden und als Aktant im Althusser’schen Sinne geradezu ›angerufen‹ zu werden. Je nach Position und Positionierung der öffentlich dazu Stellung Nehmenden gilt es, wie die unterschiedlichen Standpunkte nahelegen, dessen organisatorisches sowie künstlerisches Prinzip zu verteidigen, zu reformieren, strukturell zu transformieren oder existentiell zu negieren.253 Wie Amelie Deuflhard, Intendantin des Hamburger Produktionshauses Kampnagel, im Rahmen einer schriftlichen Reaktion auf Christopher Balmes historisierenden und das deutsche System kritisierenden Artikel »Charismatische Herrschaft in der Kunst. Unter Übermenschen«254 vom 31. August 2016 wenige Tage später in der Süddeutschen Zeitung erklärt, gehe es »bei dieser seit einem Jahr schwelenden Debatte […] ums Ganze, es geht um das System, es geht um das deutsche Stadttheater, das Antje Vollmer schon vor etwa zehn Jahren in den ›Katalog der ewigen Dinge‹ aufnehmen wollte. Es geht um die Frage, wie man diese Häuser mit ihrem Personal nutzen kann, ob man sie öffnen, verändern und internationalisieren soll.

Deutschland nach 1945 siehe Klöck 2008. Siehe auch die mit Bourdieus Habitus-Begriff operierende Untersuchung von Tanja Bogusz: Institution und Utopie. Transformationen an der Berliner Volksbühne, Bogusz 2007. 252 | Die deutschen Staats-, Stadt- und Landestheater werden nach Thomas Schmidt zwar »streng nach ihrem Wirkungskreis« (Schmidt 2017, 32), das heißt nach der jeweiligen öffentlichen Trägerschaft, eingeteilt, jedoch ist davon die jeweilige Rechts- und/oder Betriebsform relativ unabhängig. Auch hinsichtlich der Finanzierung ist häufig nicht nur ein Geldgeber, zum Beispiel Kommune oder Land, für das Theaterunternehmen verantwortlich, besonders nicht im Fall von Staats- und Landestheatern: Erstere werden in der Regel – neben der Hauptlast, welche das Land trägt – von einer oder mehreren Kommune(n) mitfinanziert; letztere werden als Zweckverbände zwischen Städten und Gemeinden betrieben. Zudem unterstützen immer häufiger (wieder) ›private‹ Unternehmen, wie etwa Banken, ortsansässige ›Freundeskreise‹ der Theater oder besonders theateraffine und gut situierte Bürger/innen (sogenannte Paten wie etwa am Theater und Orchester Heidelberg) ›ihr‹ Stadttheater durch Sponsoring und Spenden. 253 | Vgl. etwa das auf nachtkritik.de veröffentlichte und archivierte Dossier zur Debatte um die Zukunft des Stadttheaters, siehe www.nachtkritik.de/index.php?view=article&id=9735:dossier-zur-stadttheaterdebatte&option=com_content&Itemid=84. Vgl. auch den von Wolfgang Schneider bereits 2013 im Bielefelder transcript Verlag herausgegebenen Sammelband Theater entwickeln und planen. Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste, hier exemplarisch Schmidt 2013, 191-213. 254 | Balme 2016.

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem Es geht um das Herz des Stadttheaters, um den Erhalt des Ensembles, das im Kern dieses Systems steht […].« 255

Deuflhards Stellungnahme ist nicht die einzige innerhalb dieses Diskurses, welche die Metapher des Ensembles als »Kern des Theaters«256 oder als »das Herz des Stadttheaters«257 – wenn auch in ihrem Fall wertneutral geäußert – ins Feld führt. Nicht zufällig hat in dieser Rhetorik jüngst die durch den Deutschen Bühnenverein herausgegebene Fachzeitschrift Die Deutsche Bühne mit der Veröffentlichung des Themenhefts You’ll never walk alone. Ensembletheater am Theater und Orchester Heidelberg eindeutig Position bezogen. Dabei ist dieses Heft weniger aufgrund seiner klaren Positionierung zugunsten des Ensembletheaters258 als vielmehr wegen der darin erkennbaren Funktionalisierung des Ensemblebegriffs für das Selbstverständnis vieler deutscher Stadttheater in zwei Aspekten aufschlussreich: Erstens wird im Diskurs des Stadttheaters als Ensembletheater eine soziale Idee mit der spezifisch nicht-ökonomischen, symbolischen Idee von künstlerischer Leistung verknüpft. Denn im Ensemble-Prinzip ist ›gute‹ Zusammenarbeit und künstlerisches Schaffen nicht nur möglich, es ist vielmehr die Voraussetzung oder – wie Detlef Brandenburg meint – der »Brutkasten einer gedeihlichen ästhetischen Entwicklung«259. Vor diesem Hintergrund ist Hans Doerry zuzustimmen, der schon 1926 mit Blick auf den zeitgenössischen Diskurs über jenen spezifischen Begriff von Ensemble schreibt, es liege »ein tieferer Sinn in diesem Wort«260. In der aktuellen Renaissance des Begriffes wird demgemäß mit dem ›festen‹ Ensemble nicht auf ein Organisationsprinzip verwiesen, das in der Lage sein muss, im schnell wechselnden Repertoirebetrieb sowohl einen bestimmten Kanon an Stücken als auch eine bestimmte Gruppe an Abonnenten zu bedienen.261 In der von Doerry angesprochenen »Tiefe des Wortes« meint das Ensemble respektive EnsemblePrinzip vielmehr bis in die Gegenwart hinein ein »gegenseitiges Versprechen«262,

255 | Deuflhard 2016. 256 | Weber 2014, 31. 257 | Deuflhard 2016. Vgl. auch das bereits 2011 bei Theater der Zeit erschienene Arbeitsbuch Heart of the City: Recherchen zum Stadttheater der Zukunft, siehe Goebbels/Mackert/ Mundel 2011. Selbst Matthias Lilienthal, Intendant der Münchner Kammerspiele, verteidigt sein Theater, das nach einer Spielzeit unter seiner Intendanz momentan in einem feuilletonistischen ›Kreuzfeuer‹ steht, im Rekurs auf diese Diskursfigur: »Wir arbeiten hier an einem Repertoirebetrieb mit starken Abonnementstrukturen und mit dem Ensemble als Zentrum des Theaters.« (Matthias Lilienthal im Gespräch mit nachtkritik.de am 12.11.2016, vgl. http://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=13220:muenchn er-kammerspiele-in-der-krise-interview-mit-intendant-matthias-lilienthal&catid=101:deba tte&Itemid=84) 258 | Vgl. die Einleitung »Wachstum braucht ein gutes Klima«, Brandenburg 2015a, 8-11. 259 | Brandenburg 2015a, 11. 260 | Doerry 1926, 104. 261 | Vgl. Heinrichs 2006, 215. 262 | Holger Schultze im Interview mit Detlef Brandenburg, zitiert nach Brandenburg 2015b, 27.

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»gemeinsame Verabredungen«263, eine »Vereinbarung zwischen Spielern und Theaterleitung [zur Zusammenarbeit] über einen längeren Zeitraum hinweg«264, kurz: eine »Verbindlichkeit«265. Diese nimmt einerseits die Theaterproduzent/innen in die Pflicht der ›Ensemblepflege‹266, andererseits bindet sie die Schauspieler/ innen (und je nach Auslegung auch alle weiteren künstlerisch Mitarbeitenden) mittels eines primär sozialen – und nur sekundär formalen – Vertrages an das jeweilige Haus und die Qualität des Kollektivs. Abbildung 5: »Wir sehen uns.« Ensembletheater am Schauspielhaus Bochum

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Zweitens und eng mit diesem Prinzip verbunden wird dem Ensemble im (künstlerischen) Betrieb eine Schnittstellenfunktion zwischen Bühne und Publikum, zwischen Stadt und Theater beigemessen: Die Idee der Identifikation legitimiert und fundiert den Erhalt des Ensembles. Sie benötigt reale Identifikationsfiguren, die eine identitäre, im etymologischen Sinne wesenhaft gleiche 267 Beziehung zwischen Bürger/innen der Stadt und Akteur/innen des Theaters schaffen. Dabei soll das Ensemble und der/die Einzelne als Teil des Kollektivs dem jeweiligen Theater öffentlich wirksam ein Gesicht verleihen, das nicht selten in Form von großformatigen Porträtfotografien die Theaterfassade(n) und in manchen Fällen wie des Berliner Maxim Gorki Theater, Schauspiel Frankfurt oder Schauspiel Bochum (Abb. 5 und 6) das Stadtbild (mit-)prägt. 263 | Dieter Dorn im Gespräch mit der FAZ vom 31.10.2015, zitiert nach Hintermeier/Kaube 2015. 264 | Holger Schultze im Interview mit Detlef Brandenburg, zitiert nach Brandenburg 2015b, 27. 265 | Innerhalb der nachfolgend präsentierten Interviewstudie bringt eine ›Informantin‹ mit ebendiesem Begriff von Verbindlichkeit das Ensemble-Prinzip meines Erachtens auf den Punkt, vgl. auch die konkreten Umsetzungsmodalitäten des Prinzips unter 2.2.3. 266 | Vgl. exemplarisch Brandenburg 2015b, 24-29. 267 | Abgeleitet aus dem spätlateinischen Wort identit ā s, das im 18. Jahrhundert völlige Übereinstimmung, Gleichheit oder Wesenseinheit bedeutet.

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem

Abbildung 6: »Du Blume auf deiner Königsallee.« Friederike Becht im Stadtbild Bochums

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Doch auch unabhängig von derartigen Marketingstrategien zielt das Stadttheater als Ensembletheater auf »Identifizierbarkeit«268 sowie Profilbildung innerhalb des Feldes: Das Ensemble müsse dementsprechend ein »erkennbares Profil«269, das heißt nicht nur eine soziale, sondern insbesondere künstlerische »Identität«270 re/ präsentieren, welche die Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit des jeweiligen Hauses, nämlich »das, was ein Theater ausmacht und es von allen anderen Theatern unterscheidet«271, widerspiegeln würde. So formuliert es Holger Schulze, Intendant des Theater und Orchester Heidelberg, im Vorwort des bereits zitierten Themenhefts zum Ensembletheater.272 Hasko Weber, Leiter des städtisch betriebenen Deutschen Nationaltheaters in Weimar und seit Juni 2016 Vorsitzender der Intendantengruppe des Deutschen Bühnenvereins, fasst den Komplex Ensemble – Prinzip – Pflege – Leistung, wie folgt, zusammen:

268 | Weber 2014, 32. 269 | Holtzhauer 2016. 270 | Schultze 2015, 5. 271 | Schultze 2015, 5. 272 | Auf das augenscheinliche Paradox zwischen der Idee von Unverwechselbarkeit und der Realität eines jüngst erst einsetzenden Prozesses, der soziale Diversität unter den Schauspieler/innen an deutschen Theatern überhaupt erst wahrnehmbar, denkbar und damit intelligibel macht, wird an dieser Stelle nicht vertiefend eingegangen. Im Rahmen meiner Studie zur Ensemblezusammenstellung (vgl. Kapitel 2.2.3) werden Ursachen und Faktoren dieses sozialen und kulturellen Problems aus einer praxeologischen und differenzierungstheoretischen Perspektive dargelegt; vgl. auch die ethnografische, aus der Perspektive des Neo-Institutionalismus argumentierende Forschung von Hanna Voss, welche die De/institutionalisierung von Ethnizität in der Institution des deutschen Sprechtheaters fokussiert, siehe etwa Voss 2016.

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Der Joker im Schauspiel »Über diesen Komplex – Ensemble oder nicht, künstlerischer Inhalt, Ästhetik, Wiedererkennbarkeit im Sinne einer Langfristigkeit – gilt es in Bezug auf das Stadttheater ernsthaft nachzudenken. […] Am Ende steht für mich der Hauptbegriff: Identifikation. Woran sind wir erkennbar? Wodurch werden wir signifikant? Wie kann uns der Zuschauer, wie kann uns vielleicht auch das Feuilleton identifizieren? Meine Überzeugung ist, dass das vor allem über Personen läuft.« 273

Mit dieser Überzeugung steht Hasko Weber im Feld des Stadttheaters nicht alleine da, wie meine Erhebung von Stimmen aus der Praxis in den beiden anschließenden Unterkapiteln belegen wird. Hier finden die von Weber aufgeworfenen Fragen mittels der unterschiedlichen Stellungnahmen von Theaterproduzent/innen teils explizit, teils implizit Antworten. Dies könnte verwundern, da meine Befragungen zur Praxis der Ensemblezusammenstellung vordergründig ein anderes Problem betreffen, nämlich die Frage nach dem praktischen Vollzug der Selektion und Kombination von Schauspieler/innen mit dem Ziel der Ensemblebildung. Jedoch folgen die Interviews einer prinzipiell offenen Befragungsmethode, sodass der wiederholte Rekurs auf ähnliche Sinnmuster vielmehr auf eine (kollektive) Rationalisierungsstrategie unter Praktiker/innen hindeutet. Die Motivationsgrundlage für das Ensemble(-Prinzip) scheint zwar das Ziel der Identifikation mit und Identifizierbarkeit von Personen als Repräsentant/innen ›des Ganzen‹, der Gesamtleistung und der künstlerischen sowie sozialen Idee eines Theaterhauses zu sein – womit bereits Jörg Wiesels Annahme widerlegt ist, dass die Zeit der repräsentativen Funktion von Ensembles aus den 1970er- und 1980er-Jahren seit der Jahrtausendwende »definitiv« vorbei sei.274 Was in den Debatten und Stellungnahmen jedoch selten thematisiert wird, ist die konkrete Frage nach den spezifischen Identitäten und Qualitäten der für ein Ensemble ausgewählten Personen. Für das 18. und insbesondere 19. Jahrhundert wissen wir bereits, welchen Identitätskategorien und Qualitätskriterien Schauspieler/innen unterliegen. Doch unter welchen Produktionsbedingungen und nach welchen Prinzipien werden diese im beginnenden 21. Jahrhundert in das Stadttheater als Ensembletheater integriert? Welche Funktion nehmen Schauspieler/innen innerhalb der Ensembles und ihrer Strukturen ein? Und welche Rolle spielt dabei heute noch ›das Fach‹?

2.2.1 E xploratives (Nach-)Fragen: Wie werden Ensembles zusammengestellt? Mit einem kurzen Einblick in den aktuellen Forschungsstand zu konkreten Anforderungen an Schauspieler/innen und deren Körper im Kontext der Schauspielausbildung und mit Blick auf das Ensemble-Prinzip im deutschen Stadttheater, möchte ich – den Auswertungsergebnissen meiner Untersuchung vorgeschaltet – bereits tendenzielle Auswahlkategorien und ein Spektrum intelligibler Subjekte benennen, aber auch das Forschungsdesiderat in ebendiesem Bereich deutlich machen. Es ist bezeichnend und symptomatisch, dass die einzigen zwei mir bekannten Quellen zu diesem Thema im Kontext der Disability Studies erschienen sind, die sich als interdisziplinäre Forschungsrichtung und Studienfach an deutschspra273 | Weber 2014, 31. 274 | Vgl. Wiesel 2001, 280 sowie Seite 123 der vorliegenden Arbeit.

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem

chigen Universitäten seit Anfang der 2000er-Jahre im Feld der Wissenschaft etabliert haben.275 Symptomatisch ist diese Verortung des Empirischen im Diskurs der Disability Studies deshalb, weil sie die Differenz zur Norm zu markieren und Letztere überhaupt erst als Maßstab sozialer und kultureller Subjektivation sichtbar zu machen vermag. Auch ohne eine quantitative Untersuchung lässt sich konstatieren, dass im Feld des Stadttheaters – das hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Anerkennung seinerseits als soziale Norm innerhalb des deutschen Theatersystems begriffen werden kann – die hegemoniale Subjektposition durch ein Übermaß an nicht-behinderten Körpern sowohl auf der Bühne als auch im Zuschauerraum repräsentiert wird. Der »›neutrale‹ Körper«276, der nach Carrie Sandahl ein hohes Maß an mentaler und physischer Kontrolle im Spannungsverhältnis von »control, efficiency, balance, and symmetry«277 aufzuweisen habe, bildet dabei das Ideal eines möglichst formbaren und anpassungsfähigen Schauspieler/innen-Körpers, wie er insbesondere im Rahmen der Schauspielausbildung zur Bühnenreife trainiert und in dieser Leistung des ›Neutralen‹ optimiert werden soll. Was Sandahl dem US-amerikanischen Ausbildungssystem diagnostiziert, lässt sich unter jenem normativen Aspekt auch auf deutsche Schulen übertragen, selbst wenn bislang keine einzige Studie zur Disziplinierung des Körpers an deutschen Schauspielschulen vorliegt. Allein mittels äußerer Faktoren lässt sich der Übertrag begründen: Denn nicht nur am Gros der Ausbildungskonzepte, welche die derzeit 21 staatlichen Schulen im deutschsprachigen Raum zwar in unterschiedlicher und doch ähnlicher Weise programmatisch vertreten, lässt sich die beständige Nähe zu einer körperlichen Neutralität durch Unversehrtheit anhand der indirekten Verbindung zu den Schauspieltheorien Stanislawskis und seiner Nachfolger/innen erkennen,278 sondern auch im Alleinstellungsmerkmal, welche wiederum eine der zahlreichen privaten Schulen, und zwar die Akademie für darstellende Kunst in Ulm, aufgrund der Zulassung einer körperlich eingeschränkten Person pro Ausbildungsjahrgang in diesem Feld innehat. Die Ausgangsfrage des Kapitels – Wie werden Ensembles in der Praxis zusammengestellt? – betrifft jedoch nicht im eigentlichen Sinne den Ausnahmefall, sondern zuvorderst die Norm. Die Norm als Norm ›auszubuchstabieren‹, das heißt die Selektion ausgewählter Körper und Subjekte in Differenz zu anderen und im Kon275 | In Bezug auf das sich in den letzten Jahren erneut wandelnde Anforderungsprofil an Schauspieler/innen in einem breiter und internationaler werdenden Berufsfeld zwischen Theater, Fernsehen, Radio etc., zwischen Spielen, Sprechen und Sein, zwischen Darstellen, Performen und Mit-Kreieren liegen eine Reihe an Sammelbänden sowie ›Ratgebern‹ aus theaterwissenschaftlichen und -praktischen Zusammenhängen vor, vgl. hierzu exemplarisch Kurzenberger/Müller/Rey 2011, Drescher 2014. Einerseits verbleiben diese Beiträge aber – trotz realistischer Einschätzungen hinsichtlich der Anforderungen im Arbeitsalltag – in einer prinzipiell idealisierenden Haltung dem Beruf gegenüber, dabei geht es meist um Soft Skills – und nicht um die Hard Skills und Facts, um die es hier gehen wird; andererseits und damit einhergehend wird in der Diskussion um die (Neu-)Ausrichtung der Schauspielausbildung zwar der Arbeitsmarkt im Allgemeinen thematisiert, jedoch nicht das Stadttheater-Ensemble im Speziellen imaginiert und definiert. 276 | Sandahl 2005, 259. 277 | Sandahl 2005, 262. 278 | Vgl. Stegemann 2010a, 97-157.

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text einer Gruppe zu bestimmen, ist das erkenntnisleitende Interesse der nachfolgenden Untersuchung. Auch hierfür, für das Vornehmen ›objektiver‹ Kategorisierungen im deutschen Gegenwartstheater, liegt mir nur ein empirische Nachfragen anregender Ansatz vor, welcher ebenfalls im breiten Kontext der »Reflexionen über die Darstellung von und mit Behinderung«279 entstanden ist und wie Sandahls Studie das Ausbildungssystem fokussiert. Anders aber als Sandahl argumentiert Philipp Schulte nicht nur schauspiel-, sondern in Ansätzen auch praxistheoretisch, indem er die alltagspraktischen Interferenzen zwischen Theater- und Ausbildungsbetrieb thematisiert und zur Grundlage seiner Kritik an normativen Repräsentationslogiken und seines anschließenden »Statement[s] zur Darstellung alternativer Körperbilder«280 erklärt. Weil Schultes Hinführung (erfahrungs-)reich an praktischem Wissen an der Schnittstelle zwischen Ausbildung und Beruf ist,281 soll hier ein längeres Zitat der Offenlegung von möglichen Logiken der Re/produktion von Kunst und Künstler/innen in der Reziprozität der einzelnen Phasen des Produktionsprozesses dienen: »Denn auch viele deutschsprachige Schauspielschulen – und folglich viele Theater – arbeiten bewusst oder unbewusst mit derartigen Körperidealen. Es soll hier zwar nicht ein Wiederaufleben der alten Rollenfächer wie der Teufel an die Wand gemalt werden; doch was zunächst mit den ästhetischen Vorstellungen des Naturalismus vor über 100 Jahren, und dann mit dem Ausbrechen des deutschsprachigen Regietheaters zugunsten einer auf größere Individualität achtenden Darstellungsweise für überwunden geglaubt wurde, lebt unweigerlich und teilweise unbemerkt fort. Und zwar zumindest solange, wie die Spielpläne nicht ohne Dramenliteratur aus jener früheren Epoche auskommen. Solange man sich mit dem Image des klassischen jungen Dramenhelden à la Shakespeare und Kleist, und sei es noch so kritisch, auseinandersetzt […]. Solange Ophelia, Gretchen und Co. das Image des jungen, hübschen, unschuldigen, sensiblen Mädchens (und sei es immer öfter noch so frech und dreckig inszeniert) nicht loswerden, werden junge, hübsche – den Rest kann man spielen – Frauen bevorzugt von den Schulen aufgenommen: Denn der Markt wird sie schon brauchen. […] Sicher, ein oder zwei kräftigere, kleinere, dunkelhäutige, irgendwie andere (dennoch immer junge) Körper findet man auch in den meisten Schauspielschulklassen. Auch Narren und Freaks bietet die Dramenliteratur ja zuhauf, was als Legitimation für die Wahl solcher Schüler ins Feld geführt wird. Doch diese bilden nur die hegemoniale Ausnahme in einer Systematik, die durch und durch einer kaum verheimlichten Norm verpflichtet ist. Fragt man an solchen Schulen kritisch nach dieser Aufnahmepolitik, verweisen sie oft auf die Bedürfnislage an den Theatern, der Markt verlange eben nach diesen jungen Schönen; fragt man an den Theatern,

279 | Schipper 2012, 9, in der Einleitung des gleichnamigen Sammelbandes zur Tagung Ästhetik versus Authentizität. Reflexionen über die Darstellung von und mit Behinderung, die am 24. und 25. Mai 2011 in Zürich stattgefunden hat. 280 | Schulte 2012, 130. 281 | Neben seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen ist Schulte freier Autor und Dramaturg sowie seit 2007 Referent der Hessischen Theaterakademie in Frankfurt a.M., einem Zusammenschluss aller an der Theaterausbildung in Hessen beteiligten Hochschulen als auch Hessischen Staats- und Stadttheatern sowie einzelnen Theatern aus Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz.

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem schieben die es nicht selten auf die Schulen: Sie könnten nur mit denen arbeiten, die ausgebildet werden.« 282

Die Direktheit und Unverblümtheit, mit der Schulte die normative Aufnahmepolitik der Ausbildungs- und Theaterinstitutionen beschreibt, ist für theaterwissenschaftliche Beiträge eine Seltenheit. Nur vereinzelt wird in der Theaterforschung das zwar ihm zufolge kollektiv als »Missstand«283 wahrgenommene, jedoch erst seit kurzer Zeit offen diskutierte Problem, »nämlich dass gängige Normen der Repräsentation Faktoren wie Hellhäutigkeit, Sportlichkeit, körperliche Unversehrtheit, Heteronormativität begünstigen«284, auch offen erhoben, das heißt in der Theaterpraxis empirisch ermittelt, hinterfragt und im Kontext von strukturellen (Vor-)Bedingungen, Traditionen und Konventionen reflektiert. Ob und in welcher Weise die von Schulte benannten und im Feld selbst erklärten Zusammenhänge zwischen ›Angebot‹ und ›Nachfrage‹, zwischen den zur Verfügung stehenden Produktionsmitteln (heißt ausgebildeten Schauspieler/innen) und dem organisierten Markt des deutschen Theaters – dessen Funktionieren für ihn auf den Prinzipien des dramatischen Dispositivs basieren – in der Praxis auch dessen Organisation als Ensembletheater regulieren, ist nicht nur eine der zentralen Fragen, sondern implizit auch eine Vorannahme meiner Feldforschung, aus welcher sich mit Blick auf die Praxis der Ensemblezusammenstellung im deutschen Stadttheater spezifische weitere Fragen ergeben: Welche Funktion(en) nehmen Schauspieler/innen in einem Ensemble an deutschen Stadt- und Repertoiretheatern ein? Welche Kompetenzen spielen für die Auswahl, Anstellung und Besetzung von Schauspieler/innen eine Rolle? Welche Art von Kapital stellen deren Körper als Material der Produktion von Kunst und Künstler/innen dar? Welche Positionen sind in einem Ensemble nötig und welche Sonderpositionen sind – unter welchen Bedingungen – möglich? Philipp Schulte hat diese Fragen mit Blick auf Schauspielschulen in einem ersten empirisch motivierten Ansatz angerissen. Umso erstaunlicher erscheint es, dass dem empirischen Aspekt im Rahmen seines Aufsatzes methodisch nicht weiter nachgegangen wird, im Gegenteil: Argumentationslogisch findet eher eine Inversion des erkannten Problemhorizonts statt, wenn Schulte ein Umlenken und Umdenken primär auf Ebene der künstlerischen Praxis vorschlägt, »indem man selbst einfach anders verfährt«285. Diese Art anderen Verfahrens dürfe gerade nicht bei einer strukturellen Transformation der Aufnahme- und Ensemblepolitik beginnen,286 sondern müsse aus der Darstellungspraxis selbst heraus entstehen – mit folgender, von Schulte angenommener Wirkung auf die Zuschauenden: 282 | Schulte 2012, 130f. 283 | Schulte 2012, 133. 284 | Schulte 2012, 133. 285 | Schulte 2012, 134. 286 | Schultes Erklärung betrifft – in Anlehnung an die von Reckwitz’ in Bezug auf das heutige Kunstverständnis konstatierte, zu einer »ästhetische[n] Normalisierung […] zweiter Ordnung« (Reckwitz 2012, 46) gewordene Erwartung an Neues – eine Normalisierung sozusagen dritter Ordnung: »[…] [E]twas ändert sich, sobald es nicht mehr um die Offenlegung von Strukturen, sondern um den Versuch der Normverschiebung auf einer anderen, vielleicht probehalber als operativ zu bezeichnenden Ebene geht: um das Bemühen, konkreten, allge-

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Der Joker im Schauspiel »Auf diese Weise erreicht man ganz automatisch, dass gegebene Repräsentationsstrukturen befragt werden. Durch das bloße Suchen nach und Anwenden von alternativen künstlerischen Praktiken wird ein Interesse an anderen Darstellungsformen geweckt.« 287

Schulte entgeht (oder übergeht) dabei, dass er mit seinem Vorschlag selbst eine normative Erwartungshaltung und Erwartungserwartung formuliert, nämlich an ein gleich oder ähnlich wahrnehmendes, reflektiertes und kritisches Betrachter/ innen-Subjekt, das von der interaktiven Praxis des Theatermachens und Theatersehens eine dementsprechend kritische und häretische Positionierung erwartet. Mir geht es hier in keiner Weise um eine Kritik an Schultes Stellungnahme, sondern um die Feststellung einer Kehrtwende der Argumentation, die mir im Kontext der zeitgenössischen Theaterwissenschaft exemplarisch erscheint. Diese versucht zwar vermehrt in vielen Gegenstandsbereichen – aufgrund von Transformationen derselben – neue Wege zu bahnen, ohne jedoch damit auch den methodischen Schritt konsequent zu gehen. So liegen zwar den obigen, von Schulte gleichsam als ›soziale Tatsachen‹288 formulierten Annahmen durchaus Interviews zugrunde, unter anderem Gespräche mit Theaterschaffenden aus China, aus deren Dialog Schultes vergleichende Überlegungen zur »Aufnahmepolitik der [deutschsprachigen] Schauspielschulen«289 entstanden seien. Da er jedoch mit keinem Wort das konkrete Verfahren der Erhebung und Auswertung seines Materials verrät, ist davon auszugehen, dass aus obigem Einblick vor allem ein gutes Stück Eigenerfahrung im Feld sowie eine Vielzahl an Gesprächen mit Ko-Akteur/innen, spricht.290 In Anbetracht dieses allgemeinen Methodendefizits in der Theaterwissenschaft, das im Bereich einer noch in den Kinderschuhen steckenden »Praxeologie des Theaters«291 und Erforschung seiner institutionellen Bedingungen zu konstatieren ist, erscheint mir die Erweiterung aktueller Analyseansätze um qualitative Methoden aus der Sozialforschung umso notwendiger und dringlicher. Da die konkrete Frage nach der Ensemblezusammenstellung im deutschen Stadttheater kaum je in (teil-)öffentlichen Situationen zu beobachten sein wird, weil sie in für Personalgespräche üblichen nicht-öffentlichen (Gesprächs-)Situationen – zu welchen selbst die nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten zugänglichen Vorsprechen mein als abseitig wahrgenommenen Körperbildern ihre Rolle als sensationell hervorgehobene Besonderheit zu nehmen und so ganz praktisch die Grenzen dessen, was als normal gilt, brüchig werden zu lassen. Plötzlich haben wir es mit umgekehrten Vorzeichen zu tun: etwas vormals Auffälliges soll normalisiert werden, als etwas Natürliches (was, akzeptiert man diesen Begriff, ja auch eigentlich schon immer hätte sein können) wahrgenommen werden.« (Schulte 2012, 133f.) 287 | Schulte 2012, 134. 288 | Eine soziale Tatsache ist nach Durkheim »jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt« (Durkheim 1984 [1895], 114 [Herv. i. O.]). 289 | Schulte 2012, 130. 290 | Vgl. Fußnote 281, Seite 182 der vorliegenden Arbeit. 291 | Otto 2014, 141. Vgl. den in die einleitenden »Forschungsfragen« eingearbeiteten Forschungsstand.

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem

an den einzelnen Theatern zu zählen sind 292 – verhandelt und entschieden wird, habe ich mich an dieser Stelle meiner Feldforschung für qualitative Interviews als Erhebungsmethode entschieden.293 Die Leitprinzipien qualitativer Interviews beziehungsweise die für das Design der Arbeit gewählte Mischform aus explorativer wie teilstandardisierter Gesprächsführung werden in Verbindung mit der spezifischen, materialgeleiteten Auswertungsstrategie im Anschluss erläutert. Die beiden wichtigen und ersten Schritte bei der konkreten Datengewinnung – der Feldzugang sowie das Aufspüren von geeigneten Gesprächspartner/innen – werden daraufhin in die konkrete Auswertung »[a]m Material«294 und in die Darstellung der Ergebnisse überleiten.

2.2.2 Von Auswertungskategorien und Codes zur Kategorisierung von Schauspieler/innen Die qualitative Forschung im Bereich der Sozialwissenschaften bietet eine enorme Bandbreite an Literatur zu unterschiedlichsten methodischen Ansätzen, die meist unmittelbar mit methodologischen Positionen innerhalb der jeweiligen Fachtradition verknüpft sind. Doch selbst wenn eine eindeutige Position bezogen wird, liegt weder die konkrete empirische Untersuchungs- noch die dafür geeignete Auswertungsmethode klar auf der Hand. Bezogen auf den Forschungsprozess steht einzig und allein dessen Offenheit fest. So operiert die Bourdieu’sche Feldanalyse explizit mit »offenen Begriffen«, welche erst »die systematische empirische Anwendung«295 feldspezifisch zu deuten und zu definieren vermag, wie auch die Ethnografie nach Georg Breidenstein, Stefan Hirschauer, Herbert Kalthoff und Boris Nieswand explizit »keine Methode«, sondern »eine Forschungsstrategie«296 darstellt, die »auf Kreativität und Einfallsreichtum«297 seitens der Forschenden basiert. Und doch gibt es im Rahmen dieses als offen proklamierten Forschungsansatzes grundlegende Anhaltspunkte, an denen sich auf Basis der Ausgangsfrage(n) der Studie erkenntnis- und in Teilen auch theoriegeleitet orientiert werden kann. Meine ethnografi292 | Die jährlich stattfindenden ›zentralen Vorsprechen‹, zu denen alle staatlichen und deutschsprachigen Schauspielschulen eingeladen werden und die unabhängig von den Abschlussvorsprechen der einzelnen Schulen von der ZAV-Künstlervermittlung organisiert und im November eines jeden Jahres am Deutschen Theater in Berlin, an den Münchner Kammerspielen und am Rheinischen Landestheater Neuss ausgerichtet werden, sind zwar aufgrund einer prinzipiellen Zuschau-Möglichkeit als teilöffentliche Situationen zu werten und zu untersuchen. Da im Rahmen dieser Vorsprechen jedoch vor allem über die Einzel- oder Gruppenleistung von Schauspieler/innen vor dem Hintergrund von Schulen gesprochen wird – sofern sich das in informellen Pausengesprächen zwischen Vertreter/innen verschiedenster Theaterhäuser überhaupt beobachten und in Erfahrung bringen lässt –, sind sie in meiner Studie nach ersten Erfahrungen mit diesem ›Format‹ nicht weiter berücksichtigt worden. 293 | Im dritten Teil der vorliegenden Arbeit wird die Darstellung der ethnografischen Feldforschung und -analyse am konkreten Fall des Theaterduos Vontobel/Schulz im Kontext des Schauspielhauses Bochum mittels unterschiedlicher Methoden fortgesetzt. 294 | Schmidt 1997, 544. 295 | Bourdieu 1996 [1992], 125 [Herv. i. O.]. 296 | Breidenstein et al. 2013, 8 [Herv. i. O.]. 297 | Breidenstein et al. 2013, 9.

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sche Feld- und Subjektanalyse folgt demnach weniger dem Prinzip einer weitestgehend theoretischen Offenheit – wie es exemplarisch die Grounded Theory einfordert – als vielmehr der Strategie der »technische[n] Offenheit«298 und des »Austausch[s] zwischen Material und Vorannahmen«299. Dies gilt für den gesamten Prozess meiner Feldforschung, an dieser Stelle jedoch im Besonderen für die darin eingebettete Interviewstudie zur Organisation von Schauspieler/innen im Betriebssystem des Ensembles. Hier impliziert die Frage, wie Ensembles zusammengestellt werden, eine vorgängige Auseinandersetzung mit dem Feld: mit feldspezifischem Wissen, mit theoretischen Vorüberlegungen und an das Feld herangetragenen Kategorien, die bereits die Erhebungsphase in Form von einerseits offenen, andererseits richtungsweisenden Fragestellungen prägen. Zugleich expliziert sie in der konkreten Interviewsituation (und häufig schon in der meist per EMail gestellten Anfrage) das spezifische Frageinteresse, insbesondere dann, wenn sie als »offene Erzählanforderung«300 eingesetzt wird. In dieser expliziten Weise ist sie als Leitfrage der von mir durchgeführten Leitfadeninterviews mit Theaterproduzent/innen zu verstehen. Die Interviews folgen dabei nicht streng einem Komplex von Einzelfragen, sondern haben sich in Anlehnung an die Empfehlungen Christel Hopfs lediglich »an einem Interview-Leitfaden [orientiert], der jedoch viele Spielräume in den Frageformulierungen, Nachfragestrategien und in der Abfolge der Fragen eröffnet«301 hat. Der von mir konzipierte Leitfaden hat in diesem Sinne vielmehr Themenkomplexe als konkrete Fragen verhandelt, so etwa zur beruflichen Position und Funktion der Befragten, zur Qualität des bestehenden Ensembles, zu den Qualitäten/der Präsenz von Schauspieler/innen, zum Verfahren bei Vakanzen, zur Durchführung von Auswahl- und Anstellungsverfahren, zur am jeweiligen Haus üblichen Besetzungspraxis/Rollenvergabe bei einzelnen Produktionen, zur Konzeption des Spielplans sowie ›hausabhängig‹ zum Einsatz einzelner Schauspieler/innen. Ebenfalls mit Hopf lassen sich in Bezug auf die spezifische Befragungstechnik dieser explorativ geführten Leitfadeninterviews folgende Ziele benennen: »Durch die Möglichkeit, Situationsdeutungen oder Handlungsmotive in offener Form zu erfragen, Alltagstheorien und Selbstinterpretationen differenziert und offen zu erheben, und durch die Möglichkeit der diskursiven Verständigung der Interpretationen sind mit offenen und teilstandardisierten Interviews wichtige Chancen einer empirischen Umsetzung [von praxeologischen Forschungsansätzen gegeben].« 302

In den von mir durchgeführten, offenen Interviews wird dementsprechend nach den (Alltags-)Praktiken, nach den Motiven und Handlungsrationalisierungen von Theatermacher/innen in Bezug auf die Zusammenstellung von Ensembles und gleichwohl von Produktionsensembles und Stücken im Spielplan gefragt. Der themenorientierten Befragungstechnik entspricht in der Phase der Datenanalyse eine themenbasierte Auswertungstechnik, die sich durch die »Kategorienbildung am 298 | Schmidt 1997, 547. 299 | Schmidt 1997, 553. 300 | Schmidt 1997, 548. 301 | Hopf 2000, 351. 302 | Hopf 2000, 350.

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Material«303 auszeichnet. Diese findet – vorerst in Form von Reflexionen und Feldnotizen – reziprok zur Durchführung der Interviews statt und vermag sowohl den losen Leitfaden als auch den analytischen Blick aufgrund der Entdeckung neuer Zusammenhänge im Laufe des Forschungsprozesses zu verändern, indem die Vorannahmen »›am Material‹ angereichert und korrigiert«304 werden.305 Diese »Auswertungsstrategie des ›Austausches‹ zwischen erhobenem Material und theoretischen Vorüberlegungen«306 hat sich mit der Sozialforscherin Christiane Schmidt besonders »im Rahmen von Forschungsansätzen bewährt […], die einen offenen Charakter des theoretischen Vorverständnisses postulieren, jedoch nicht auf explizite Vorannahmen und den Bezug auf Theorietraditionen verzichten«307. Ihr Ansatz trifft sich in vielen Aspekten mit den Analysestrategien, die Breidenstein et al. in ihrem Handbuch zur Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung vorschlagen. Diese werde ich im Folgenden kombiniert vorstellen, da sie dergestalt im Rahmen der anschließenden Material- und Ergebnisdarstellung Anwendung finden. Die Phase der Datenanalyse beginnt in der Regel mit einem sorgfältigen Sichten, Lesen und Sortieren des gesammelten Materials, das im Fall meiner Interviewstudie die Transkriptionen von zehn formell geführten und im Schnitt eineinhalbstündigen Interviews mit Repräsentant/innen aus den Bereichen der Intendanz, Dramaturgie sowie ZAV-Künstlervermittlung, der dazugehörigen Notizen zur Gesprächssituation sowie eine Vielzahl informell geführter und nachträglich protokollierter Gespräche mit teils mir persönlich bekannten, teils spontan befragten Dramaturg/innen oder anderweitig an der Besetzungs- und Ensemblepraxis Beteiligten umfasst. Dieser erste Schritt lässt sich mit Schmidt wie folgt zusammenfassen: »Ziel des intensiven Lesens ist, die Formulierungen, die die Befragten verwenden, zu verstehen und unter ›Überschriften‹ zusammenzufassen. Das eigene theoretische Vorverständnis und die eigenen Fragestellungen lenken dabei bewußt die Aufmerksamkeit, so daß im Text zu ihnen passende Passagen und auch Textstellen, die den Erwartungen nicht entsprechen, entdeckt werden können. Es handelt sich um einen Austauschprozeß insofern, als weder die Formulierungen der Befragten noch die aus theoretischen Vorüberlegungen abgeleiteten Begriffe schon fertige Auswertungskategorien sind, die nur übernommen werden müssen. Die aus theoretischen Vorüberlegungen abgeleiteten Begriffe müssen dem Material angepaßt und ergänzt, vielleicht auch ersetzt werden.« 308

303 | Schmidt 1997, 547. 304 | Schmidt 1997, 552. 305 | Schmidt erläutert den wechselseitigen Austausch wie folgt: »Auswertung wird nicht auf eine ›Auswertungsphase‹ begrenzt, in der die transkribierten Interviews analysiert werden, sondern als schon während der Erhebung beginnender fortlaufender Prozeß beschrieben. Dieser Prozeß wird als Austausch zwischen erhobenem Material in Form von Interviewtranskripten und Feldnotizen auf der einen Seite und dem theoretischen Vorverständnis auf der anderen Seite verstanden.« (Schmidt 1997, 545) 306 | Schmidt 1997, 545. 307 | Schmidt 2000, 447. 308 | Schmidt 1997, 549.

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Auch Breidenstein et al. betonen den (selbst-)reflexiven sowie distanzgewinnenden Prozess der Forschenden zu ihrem im Feld gewonnenen Material, den sie in Anlehnung an Robert Emerson et al. als einen »Wechsel vom writing mode in den reading mode«309 begreifen. Dabei geht die feldforschende Tätigkeit des Beobachtens, Beschreibens und Transkribierens in die Auswertungs- und Analysephase über. Auch sie schlagen hierfür ein Verfahren vor, das prinzipiell auf Kategorienbildung basiert, speziell das der Grounded Theory nach Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss entlehnte Codieren.310 Codes verstehen und verwenden sie in ebendieser Tradition als »Kategorien, Schlagworte oder Themen, die Ausschnitten von Daten zugeordnet werden«311. Anhand den von Breidenstein et al. zusammengefassten »Merkmale[n] und Funktionen des Codierens«312 lässt sich ein Eindruck von dem ihrerseits präferierten Codier-Verfahren gewinnen: Hierbei ermöglichen erste Benennungen von Kategorien oder Themen zugleich Vergleiche zwischen Beobachtungen und Ereignissen. Von Beginn an stellt das Codieren auf diese Weise ein Sortierverfahren dar, das den gesammelten Textkorpus aufspaltet, in Bezug »zu umfassenderen Sinneinheiten«313 neu arrangiert (Themenhierarchie) und die gesammelten Daten in ihren jeweiligen Zusammenhängen relationiert. Innerhalb des gesamten Verfahrens entwickelt sich so »durch die Relationierung der Codes eine analytische Metastruktur, die sich über die Daten legt und sich als eigenständige Sinnstruktur bearbeiten lässt. Dies verschafft einen Distanzierungsgewinn, durch den sich anders über den Zusammenhang von Daten und Themen nachdenken lässt als anhand von Beschreibungen. Es lassen sich leichter abstrakte Gedanken und Hypothesen entwickeln, die wiederum in folgenden Analyseschritten anhand des Datenmaterials bestätigt oder entkräftet werden können.« 314

Bereits der erste Schritt des Codierens – das intensive erstmalige Lesen aller Notizen respektive Interviews – gleiche dabei einem »verdichteten Nacherleben von Felderfahrungen«, welches »unzählige Vergleichsmöglichkeiten, aber auch Differenzen zwischen einzelnen Protokollen auf[drängt]«315. Der anschließend wiederholten Lektüre des gesamten Textkorpus falle daraufhin die zentrale Funktion zu, »mit der Beobachterperspektive zu brechen und die chronologische Ordnung, die sich in dem Material findet, zu zerstören. An ihre Stelle tritt eine analytische Ordnung und damit eine systematische Erschließung des Materials. Hiermit ist ein erstes wichtiges Ziel des Codierens benannt: Die chronologisch strukturierten Protokolle, die in aller Regel nach dem zeitlichen Ablauf von beobachteten Ereignissen organisiert sind, werden thematisch geordnet.« 316

309 | Breidenstein et al. 2013, 125 [Herv. i. O.]. 310 | Vgl. Glaser/Strauss 1967. 311 | Breidenstein et al. 2013, 124. 312 | Breidenstein et al. 2013, 137f. 313 | Breidenstein et al. 2013, 137. 314 | Breidenstein et al. 2013, 137. 315 | Breidenstein et al. 2013, 125. 316 | Breidenstein et al. 2013, 126.

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem

Dieser analytische Schritt der Reorganisation und systematischen Durchdringung des Materials ist auch für meine Forschung wesentlich. Stärker jedoch als Schmidt fordern Breidenstein et al. dabei von Beginn an einen hohen Grad an Abstraktionsfähigkeiten regelrecht ein: Es müssten konstruierte, also »abstrahierende Kategorien für konkrete Schilderungen«317 gefunden werden, so lautet die Devise bei Breidenstein et al. In Bezug auf die von mir erhobenen Aussagen der Theaterpraktiker/innen und hinsichtlich der Bourdieu’schen Feldbegriffe – mit denen hier aufgrund ihrer Produktivität und Anpassungsfähigkeit an die spezifischen Regularitäten und Kapitalformen im Feld des Stadttheaters auch weiterhin bewusst gearbeitet werden soll (welche jedoch nicht in die Interviews, etwa in Form von Fragestellungen oder einzelnen Begrifflichkeiten, hineingetragen worden sind) – weist die anschließende Auswertung einerseits einen klaren analytischen und in diesem Sinne abstrahierenden Zugriff auf das Material auf. Andererseits benötigt mein ›transhistorisches‹ Forschungsdesign geradezu forschungsleitend die »›natürlichen‹ Kodes«318, das heißt die von den Verantwortlichen benutzten, in der Theaterpraxis gebrauchten Kategorien wie spezifische Begriffe, Metaphern oder Themen, um nicht nur einen Vergleich zwischen den Interviews, sondern auch zwischen den zeitlichen, hier fokussierten (Hoch-)Phasen des deutschen Stadttheaters zu ermöglichen. Schließlich geht es bei dieser Studie – neben der Frage nach der Subjektivation von Schauspieler/innen – nicht zuletzt auch um die Frage nach Tradierungen und Re/produktionen auf Ebene der Institutionen. Praktiken und Institutionen mögen zwar den Hauptgegenstand der ethnografischen Forschungsstrategie bilden, doch vermag diese ohne Zuhilfenahme anderer Methoden kaum die Historizität von Phänomenen in den Blick zu nehmen und diese in den Griff zu bekommen. Folglich lautet meine Devise zugunsten einer stringenten Argumentation in jedem Fall mit Schmidt und Breidenstein et al. ›am Material‹ entlang zu codieren und vor dem Hintergrund eines »Austausch[s] zwischen Material und Vorannahmen«319 zu analysieren, ohne dabei den theoretischen und historischen Rahmen aus den Augen zu verlieren. Trotz meiner leichten Abweichung von der ethnografischen Auswertungsstrategie, wie sie Breidenstein et al. vorschlagen, möchte ich deren zusammenfassende Erklärung des Codier-Verfahrens nutzen, um in das konkrete Vorgehen meiner Interviewstudie überzuleiten: »Codieren ist die Kategorisierungstätigkeit eines Lesers, der aus einem zufällig und chronologisch angewachsenen Datenkorpus allmählich mittels Schlagwörtern und Begriffshierarchien eine thematisch-analytische Ordnung entwickelt und mit ihrer Hilfe eben diesen Korpus umstrukturiert.« 320

Während die konkrete Auswertungstätigkeit des Codierens in dieser Weise für meine Forschung übernommen wird, möchte ich doch die Zufälligkeit der teils sukzessiv, teils simultan verlaufenden Erhebung im Prozess der Feldforschung in 317 | Breidenstein et al. 2013, 137. 318 | Schmidt 1997, 553. 319 | Schmidt 1997, 553. 320 | Breidenstein et al. 2013, 138.

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Frage stellen. Denn selbst wenn man sich den Gegebenheiten und Gepflogenheiten als Beobachtende und Teilnehmende im Feld hingibt, so gewinnt man doch mehr und mehr einen Einblick in das zirkulierende Wissen, die Logik sowie die Hierarchie des Feldes. Sicherlich ereignet sich dabei vieles ›zufällig‹: In unzähligen Situationen an den verschiedensten deutschen Theaterhäusern, vor und nach Aufführungen – am besten nach Premieren – lernt man spontan neue Akteur/ innen und Ko-Akteur/innen kennen und kommt ins Gespräch; zufällig finden im Zeitraum der Feld- und Probenforschung neben den besuchten Proben auch noch ›offene Proben‹ anderer Regisseur/innen statt, an denen sich spontan teilnehmen lässt und die den Weg zu einer weiteren Phase intensiver Beobachtung und fachlichen Austauschs bahnen; und sicherlich ist auch die Möglichkeit, Vorsprechen von Absolvent/innen mitzuerleben, aufgrund der Notwendigkeit einer persönlichen Anfrage nicht wirklich planbar, sondern meist von einer späten und kurzfristigen Zusage der Verantwortlichen abhängig. Zufällig ist diese Situation dann, wenn man zu diesem Termin bereits in der Stadt vor Ort ist – aus diesem Grund ist etwa die Teilnahme am ›Intendantenvorsprechen‹ an der Folkwang Universität der Künste im Oktober 2014 realisierbar gewesen –, oder wenn man dort ›alte Gesichter‹ wiedertrifft und neuen begegnet. Wichtig sind solche unerwarteten Erfahrungen etwa deshalb, weil sie neue Praktiken und Verbindungen aufzudecken vermögen. So hat unter anderem das Miterleben des Intendantenvorsprechens dazu geführt, die Gespräche zur Ensemblezusammenstellung gezielt auch auf den Kreis von staatlichen Vermittler/innen der ZAV auszuweiten. Diese übernehmen insbesondere im Übergang von Schauspielschule und Berufsleben – idealiter vorgestellt als Wechsel von einem Klassenverbund zu einer Ensemblegemeinschaft – einerseits soziale und fachliche Aufgaben der Betreuung und beruflichen Begleitung von jungen Schauspieler/innen. Andererseits regeln sie im Sinne einer funktionalen Aufgabe im Organisationssystem des deutschen Theaters ausgehend von einer Praxis der sozialen und ästhetischen Kategorisierung die Aufnahme der Absolvent/innen staatlicher Schauspielschulen in die Kartei der Bundesagentur für Arbeit. Aufgrund ihrer (Selbst-) Erfahrungen mit dem ›Arbeitsmarkt Theater‹ und ihrem praktischen Wissen um die Bedürfnisse und Bedingungen deutscher Theater besonders in Fragen von Neuzugängen und Gastengagements – das heißt letztlich hinsichtlich der angewandten Praktiken der Ensemblezusammenstellung – sind in der Folge zwei Interviews mit der ZAV-Künstlervermittlung entstanden: eines mit Vermittler/innen aus dem Bereich Schauspiel/Bühne sowie ein fallvergleichendes im Bereich Tanz, welche mit den übrigen Gesprächen abgeglichen und als Ergänzung oder Relativierung der Stimmen aus der Theaterpraxis in die Analyse eingearbeitet worden sind. So zufällig sich manche Optionen und Kontakte ergeben haben, so gezielt sind sie schließlich doch in die vorliegende Interviewstudie eingeflossen. Die meisten Gesprächspartner/innen sind dabei bewusst ausgewählt worden, insbesondere in späteren Erhebungsphasen, in denen gezielt Fallvergleiche sowie Abgleiche von Aussagen durch zusätzliche Stimmen desselben Theaterortes angestellt worden sind. Um die Validität der Studie angesichts der Heterogenität von Theaterbetrieben und Theaterkonzepten im deutschen Stadttheater zu gewährleisten, sind dabei vor allem drei Faktoren beachtet worden: die Bezeichnung und Funktion der Bühne, die Größe des Theaterhauses respektive des Ensembles sowie die Funktion der Befragten innerhalb der Betriebe. Diese drei Aspekte begründen die Auswahl und

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gleichsam Zusammenstellung der Gesprächspartner/innen. So sind erstens Mitarbeiter/innen sowohl von kleinen Häusern mit gerade mal drei festen Schauspieler/innen (meist Landesbühnen) als auch welche von großen Schauspielhäusern (häufig Staatstheatern) mit über 23 Ensemblemitgliedern,321 zweitens Vertreter/innen der drei maßgeblichen, institutionellen Theaterformen – das heißt von Staats-, Stadt- und Landestheatern – und drittens aus unterschiedlichen Funktionsbereichen innerhalb der Organisation (aus der Intendanz, Dramaturgie, Regie und ZAVKünstlervermittlung) befragt worden. Folglich fungieren die insgesamt 15 Interviewten sowie alle weiteren spontan Befragten innerhalb der Studie als Repräsentant/innen sowohl von Berufsgruppen und Funktionen innerhalb der Organisation als auch von Theaterhäusern diverser Größe mit unterschiedlicher künstlerischer Ausrichtung. Die Verschiedenheit respektive Spezifizität eines jeden Falles ist hierbei bereits bei der Durchführung der Interviews stark berücksichtigt worden: Alle Gespräche haben etwa am jeweiligen Arbeitsort oder in dessen unmittelbarer Nähe stattgefunden. Zudem ist bei der Vorbereitung der Fragen stets die aktuelle berufliche Situation der Befragten und/ oder die aktuelle Situation des Theaters einbezogen beziehungsweise als offener Einstieg in das Interview herangezogen worden, sodass der konzipierte Leitfaden jeweils situationsabhängig und kontextspezifisch angepasst und noch während der prinzipiell explorativ geführten Gespräche erweitert worden ist. Inwiefern die Heterogenität der Personen und Institutionen bei der Auswertung eine Rolle gespielt hat, soll die anschließende Darstellung der Stimmen und ihrer Analyse zeigen. Große Teile dieses Datenmaterials sind in unterschiedlichen Phasen des Forschungsprozesses dankenswerter Weise im Verbund mit der interdisziplinären, stark sozialwissenschaftlich angeleiteten Forschergruppe Un/doing Differences diskutiert worden, sodass meine Analyse nicht nur von meiner eigenen Sicht, sondern auch von den relativierenden und korrigierenden Perspektiven meiner Kolleg/innen geprägt ist.

2.2.3 Das Codieren der Stimmen: Was die Theaterproduzierenden (nicht) sagen Die Darstellung und Auswertung der Aussagen zur Ensemblezusammenstellung aus den Interviews mit Theaterproduzierenden mag auf den ersten Blick einer chronologischen und linearen Analyse der theaterpraktischen Verhältnisse gleichen. Hierbei werden folgende Phasen und Themen der Produktion von Kunst und Künstler/innen in einzelnen Unterkapiteln gesondert beschrieben: Nach einem ersten einleitenden Abschnitt zu den Interferenzen zwischen äußerem und innerem Betriebssystem werden konkrete Rekrutierungsverfahren von (neuen) Schauspieler/innen aufgezeigt und besprochen; hiernach folgt eine kritische Analyse zur

321 | In Handbüchern zum Theatermanagement wird die Größe eines Theaterbetriebs mit der Größe des Ensembles gleichgesetzt beziehungsweise an dieser bemessen; Henning Röper etwa differenziert nach kleinen Häusern mit 6 bis 9 Schauspieler/innen (ihnen müsste die Kategorie der ›kleinsten‹ Bühnen mit einer geringeren Ensemblegröße vorangestellt werden), mittleren Häusern mit 10 bis 20 Ensemblemitgliedern und großen Häusern mit einem 23- bis 50-köpfigen Ensemble, vgl. Röper 2001, 14.

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Einteilung von Schauspieler/innen nach Typen, aus welcher eine Funktionalisierung von Schauspieler/innen innerhalb von Ensemblekonfigurationen hervorgeht. Jedoch zeichnen sich die hier systematisiert dargelegten Schritte durch fließende Übergänge und unmittelbare Zusammenhänge zwischen äußeren und inneren Faktoren aus, wie bereits die Kurzbeschreibung des weiteren Vorgehens andeutet. Die sukzessive Darstellung nach einzelnen Phasen der Kunst- und Künstler/innenProduktion darf daher weder als chronologisches Nacherzählen noch als lineares Abbilden von realen Vorsprech-, Auswahl- und Entscheidungssituationen missverstanden werden. Da weder im explorativ geführten Leitfadeninterview diese Phasen in sukzessiven Schritten erfragt worden sind, noch die Befragten chronologische Erzählungen hervorgebracht haben, ist die hier vorliegende Darstellung als analytische Ordnung des Interviewmaterials und als Ergebnis des Auswertungsprozesses zu verstehen. So hat im Rahmen der einzelnen Gespräche insbesondere die offene Eingangsfrage, wie Ensembles zusammengestellt werden, zu völlig unterschiedlichen Perspektivierungen und Prioritätensetzungen seitens der Befragten geführt. In Anbetracht dieser Multiperspektivität der Aussagen ist die Re-Strukturierung der losen Erzählungen als ein bewusster analytischer Vorgang umso notwendiger geworden. Von der Komplexität der Praxis abstrahiert, orientiert sich die Darstellung im Folgenden zum einen an theoretisch nachvollziehbaren, aufeinanderfolgenden Phasen der Produktion von Kunst und Künstler/innen und zum anderen an den »›natürlichen‹ Kodes«322 der Theaterproduzent/innen – mit dem Ziel einer praxeologischen und differenzierungstheoretischen (Subjekt-)Analyse des Stadttheaters als Ensembletheater und eines transhistorischen Vergleichs der ›objektiven Kategorisierungen‹ im Feld.

2.2.3.1 Interferenzen von äußerem und innerem System: Die illusio des Stadttheaters Ein im Kontext der Befragung – aus einer theaterwissenschaftlichen und damit stark ästhetisch vorgeprägten Perspektive – überraschender Befund schafft den Einstieg in die Frage nach den Praktiken der Ensemblezusammenstellung: Den Aussagen der Befragten nach zu urteilen, bestimmen nicht etwa künstlerische und/oder schauspieltechnische Kriterien wie Körper- und Stimmpräsenz den Blick auf das Ensemble als das ›Herz des Theaters‹, als welches es symbolisch aufgeladen im Diskurs um das Ensemble-Prinzip zirkuliert. Vielmehr bedingen äußere Faktoren und mitunter pragmatische Entscheidungen aus Sicht der Theaterproduzierenden die interne Struktur der jeweiligen Gruppe, als welche das (Schauspiel-) Ensemble – hier beschränkt auf das darstellende Personal und nicht alle künstlerisch Mitarbeitenden an einem Theaterhaus – aus einer soziologischen Perspektive zu fassen ist. Dabei überrascht es wiederum nicht, dass insbesondere diejenigen Informant/innen, die Leitungspositionen besetzen (wie etwa Intendant/innen oder Chefdramaturg/innen) innerhalb der Gespräche verstärkt und kollektiv vor allem auf zwei Faktoren verweisen, aus denen sich erste Differenzierungen innerhalb des Stadttheater-Feldes ableiten lassen: erstens auf die Finanzlage und zweitens auf die Stadt respektive Stadtgesellschaft, die als äußere Bedingungen der Ensemble- und Repertoiregestaltung erscheinen.

322 | Schmidt 1997, 553.

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Als Subventionstheater sind die deutschen Stadt-, Staats- und Landestheater auf die Finanzierung von Kommunen oder/und Ländern angewiesen. Darüber hinaus kann konstatiert werden, dass Staatstheater unter ökonomischen Gesichtspunkten klar im Vorteil sind. Aufgrund höherer Subventionen durch die Länder (und zusätzlich oft durch Kommunen) können sie sich in der Regel und im Vergleich zu anderen Städten derselben Größenordnung auch größere Ensembles mit bis zu 50 fest angestellten Mitgliedern leisten. Die Größe des Ensembles hat einerseits Einfluss auf die je spezifische Zusammensetzung der Gruppe, andererseits auf die Organisation der einzelnen Produktionen. Hierbei sehen sich kleinere Häuser mit dementsprechend kleinem Ensemble mit derselben – nicht nur ökonomischen, sondern auch künstlerischen – Einschränkung konfrontiert, wie die von Hans Doerry untersuchten Theaterbetriebe des 19. Jahrhunderts: Je kleiner das Ensemble und Budget, desto jünger und unerfahrener meist die Schauspieler/innen (»Wir haben nur Anfängergagen, nur Mindestlöhne zu verteilen.«323), welche man im Spielplan zugleich »breiter einsetzen können«324 muss. Wie aus der Dramaturgie einer kleinen Landesbühne mit vier festen Schauspieler/innen berichtet, bedeutet das, dass »es sozusagen eher hinderlich wäre, wenn wir jetzt jemanden hätten, der total einen Typ verkörpert, den man dann aber nicht so flexibel überall einsetzen kann«325. Für mittlere und größere Stadttheater mit bis zu 30 Ensemblemitgliedern gilt diese Altersbeschränkung zwar nicht in gleichem Maße – sofern ein junges und jugendliches Ensemble nicht programmatisch zum »Konzept«326 eines Theaters erklärt wird –, doch können auch diese sich selten »Luxuspositionen […] vor allem auch im älteren Bereich«327 oder »Spezialbegabungen«328, wie etwa Schauspieler/innen, die »völlig schräg«329 sind, leisten. Wie die Interviewaussagen deutlich machen, obliegt das strukturelle und organisatorische Privileg eines unterschiedlichste ›Typen‹330 voll ausschöpfenden Ensembles sowohl den finanziell besser ausgestatteten Staatstheatern als auch (und meist parallel) den in den deutschen Groß- respektive traditionellen Kulturstädten Berlin, Hamburg und München verwurzelten »Spezialistentheatern«331, welche im Gegensatz zur Durchschnittsnorm der meisten Stadttheater jeweils aus einer spezifischen Tradition und Erwartungshaltung heraus »für eine ganz bestimmte Form von Publikum [produzieren]«332 . Hierbei implizieren die meisten Erklärungen zur je spezifischen Ensemble- und Programmgestaltung im Bereich des Stadttheaters im engeren Sinne eine Abgrenzungsstrategie. Diese richtet sich in der Re323 | Interview vom 03.07.2014. Die Aussagen aus den Interviews werden auch im Folgenden nach dem Datum der Durchführung des Gesprächs nachgewiesen, um auf diese Weise die Anonymität der befragten Personen zu garantieren. 324 | Interview vom 17.10.2014. 325 | Interview vom 03.07.2014. 326 | Interview vom 20.05.2014. 327 | Interview vom 22.05.2015. 328 | Interview vom 17.10.2014. 329 | Interview vom 17.10.2014. 330 | Der hier verwendete Begriff des Typs wird innerhalb der Ausführungen zur Strukturierung des Ensembles spezifiziert. 331 | Interview vom 12.01.2015. 332 | Interview vom 12.01.2015.

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gel nicht nur gegen die ›Luxussituation‹ der Staatstheater, sondern zugleich gegen eine Organisationsstruktur, die ihre autonome oder absolute Position gegenüber Schauspieler/innen in der Tradition der monarchischen, der Willkürherrschaft bezichtigten Staatstheaterintendanten (aus-)nutzt, erkennbar etwa an kurzfristigen (Allein-)Entscheidungen in Bezug auf die Besetzung einzelner Produktionen: »Die haben mehr Geld, deswegen können die das machen. Bei uns ist es so, dass der ökonomische Druck einfach mehr von mir verlangt, das [d.h. die längerfristige Rollenbesetzung von Schauspieler/innen in ein oder gleich mehreren Produktionen; Anm. d. Verf.] soweit wie möglich vorauszuplanen.« 333

Diese Art der Rationalisierung von Handlungen und Begründung von Entscheidungen in Differenz beziehungsweise Distinktion zu den Handlungsoptionen von bestimmten Staats- und/oder Spezialistentheatern spiegelt sich darüber hinaus in den (Selbst-)Beschreibungen von Vertreter/innen der Stadttheater. Diese beschreiben ihr systematisches Vorgehen bei der Zusammenstellung von (Produktions-) Ensembles als »in einem gewissen Sinne ganz altmodisch«334, »relativ klassisch«335 oder »eher traditionell«336 und bezeichnen sich in ihrer leitenden Funktion analog als »Traditionalisten«337 oder auch »Produzenten«338. Eine solche Strategie der Abgrenzung und Positionierung durch Repräsentant/innen des Stadttheaters geht dabei unmittelbar mit einer weiteren Erklärung einher, und zwar mit der Formulierung eines »Anspruchs«339, der die Position, Funktion und letztlich Legitimierung des Stadttheaters innerhalb der (Stadt-)Gesellschaft als eine kulturelle und sozial integrierende Institution behauptet: »Also wir sind ja ein von der Stadtgesellschaft engagiertes Theater. Wir versuchen Theater für die Stadt zu machen.«340 Zugleich bedeutet dies, dass es für das lokale Stadttheater »auch darauf an[kommt], welchen Auftrag du von einer Stadt bekommst. Wir sind ja nicht … Man tut ja immer so, nur weil wir ein subventioniertes Theater sind, als wären wir irgendwie … – als hätten wir da keine Verpflichtung irgendwem gegenüber. Das stimmt ja nicht.« 341

Die Heuristik vom Stadttheater als einem relativ autonomen Feld offenbart hier, in der äußeren Begrenzung der Autonomie, in aller Deutlichkeit ihre Berechtigung. Die das Feld in Grenzen haltenden, »externe[n] Einflüsse«342 werden hierbei nur zu einem Teil durch die Stadt respektive die Kommune als Geld- und Auftraggeber erfasst. Diese Beeinflussung wirkt sich einerseits unmittelbar auf die jeweilige Finanzlage der Betriebe aus, so sei in den letzten Jahren »der ökonomische Druck […] 333 | Interview vom 12.01.2015. 334 | Interview vom 20.05.2014. 335 | Interview vom 12.01.2015. 336 | Interview vom 17.10.2014. 337 | Interview vom 12.01.2015. 338 | Interview vom 12.01.2015. 339 | Interview vom 17.10.2014. 340 | Interview vom 22.09.2014. 341 | Interview vom 22.09.2014. 342 | Bourdieu 1999 [1992], 367.

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unglaublich angewachsen«343, der sich in finanziellen und personellen Einsparungen bis hin zu Verkleinerungen der Ensembles äußert – ohne jedoch den Abendspielplan anzupassen und Premieren oder/und Vorstellungen zu reduzieren.344 Andererseits hat der städtische respektive staatliche ›Auftrag‹ mittelbar Einfluss auf die Inhalte des Theaters, wodurch so das deutsche Stadttheater seit dem 19. Jahrhundert in einem es als genuin bürgerliche Institution bestimmenden Volksbildungsgedanken fortlebt, der sich im Schlagwort des »Bildungsauftrags«345 äußert und in der Re/produktion eines literarischen Kanons in der Praxis umgesetzt wird. Zu einem anderen, gewichtigen Teil spiegelt sich – wie sowohl die Interviews als auch Spielpläne nahelegen – die Einflussnahme auf die Stadttheater und ihr Programm unmittelbar im Zuspruch durch die Zuschauer/innen wider, das heißt konkret in den Auslastungszahlen, die pro Vorstellung, Monat und Spielzeit genauestens erhoben und zu Vergleichszwecken unter den Theatern – auch in der Interviewsituation – eingesetzt werden.346 Eine tägliche Frage im Betrieb lautet daher: »Wie viele Leute interessieren sich letztendlich für das, was man hier tut? Je weniger Leute sich dafür interessieren, desto mehr hat man den Eindruck, man macht nichts für … Man verpasst die Stadt.« 347

Die hier aufscheinende Leerstelle in Bezug auf den ›Adressaten‹, wie sie dieser Auszug aus einem Interview deutlich macht, scheint auf ein akutes Problem der zeitgenössischen Stadttheater zu verweisen: Für wen oder was, »man [nichts] macht«348, wird hier nicht recht ersichtlich. Im oben zitierten Kontext könnten ›die Bürger/innen‹ oder ›die Kunst‹, ›die Stadtgesellschaft‹ oder ›der städtische Auftrag‹ gemeint sein – wonach sich die Leerstelle als ein Signifikat verschiedenster, auch widersprüchlicher Ansprüche und Anforderungen an das Stadttheater und Theatermachen verstehen ließe. Damit einher geht die Frage nach ›dem Publikum‹: Diese scheint letztlich die Leerstelle im obigen Zitat zu begründen, weil sie heute (mehr denn je) kaum mehr eindeutig oder einseitig beantwortet werden kann. So kommt eine unlängst veröffentlichte Untersuchung zum »Publikum öffentlicher Theater«349 aus Perspektive der empirischen Publikumsforschung zu dem Schluss: »Anders als das Bildungsbürgertum als Kerngruppe der Theaterbesucher und Stamm des Abonnementpublikums müssen heutige Besucher vielfach immer wieder aufs Neue gewonnen werden.«350 Wie die Autor/innen mit Blick auf gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse zu bedenken geben, erodiere 343 | Interview vom 12.01.2015. 344 | Dies ist einer der Hauptkritik- und Forderungspunkte des sich im Mai 2016 formierenden Ensemble-Netzwerks, gegründet als Organisation von und für Schauspieler/innen zur politischen Repräsentation ihrer Interessen. 345 | Interview vom 22.09.2014. 346 | Die Interviews bestätigen damit das folgende, von Patrick S. Föhl und Damaris Nübel geäußerte Urteil: »Wie privatwirtschaftliche Unternehmen stehen auch Theaterbetriebe in einem zunehmend kompetitiven Wettbewerbsumfeld […].« (Föhl/Nübel 2015, 211) 347 | Interview vom 22.09.2014. 348 | Interview vom 22.09.2014. 349 | Föhl/Nübel 2015, 207-253. 350 | Föhl/Nübel 2015, 211.

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zeitgleich zudem jenes »ehemals fest etablierte und sich reproduzierende klassische Bildungsbürgertum, aus dem sich vor allem die Theaterbesucher rekrutiert haben«, da dieses sich parallel zu einer allgemein zu verzeichnenden Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen »in einem Prozess der Diversifikation« befinde.351 Von einem homogenen Publikum kann heute also nicht mehr die Rede sein. Die Sorge des ›Verpassens‹ und ›Nicht-Erreichens‹ des Publikums, wie sie in der obigen Stellungnahme offen geäußert wird, bezieht folglich eine heterogene Publikumsstruktur auch in konzeptionelle Überlegungen mit ein. Der weniger ökonomischen, sondern mehr kulturpolitischen und symbolischen Gefahr der Interesselosigkeit, der Missbilligung bis hin zum Wegbleiben von Theaterbesucher/innen scheint besonders in den letzten fünf bis zehn Jahren tatkräftig entgegengewirkt zu werden,352 was sich primär in einem »Sich-Öffnen«353 auf Ebene der Programmgestaltung und nur sekundär in einer Umstrukturierung und Öffnung der Ensembles, beispielsweise für nicht-europäische ›Typen‹, abbildet. Im Anspruch also, »ein Programm zu entwickeln, was unglaublich breit ist und was unglaublich versuchen muss, Menschen aller Couleur – also Altersklassen, sozialer Herkunft, Verwurzelung in den verschiedensten Formen von Kultur – mitzunehmen oder einzuladen«354, äußert sich die Idee von Stadttheater heute. Damit lässt sich über die geführten Gespräche hinaus ein programmatischer Wandel im Bereich der Stadttheater als Repertoiretheater erkennen: In Form einer sozialen, kulturellen sowie medialen Öffnung und in der Suche eines Dialogs und Austauschs zwischen Stadttheater und heterogenen Stadtgesellschaften mit ihren Bildungs- und Kultureinrichtungen wie Universitäten oder Vereinen offenbart sich – so lässt sich die aktuelle Situation deuten – die illusio des Feldes. Welchen Einfluss die Verschränkung von programmatischen Ansprüchen (Bildungsauftrag inklusive Öffnung) und pragmatischen Bedingungen (Repertoiresystem) auf die Praktiken der Ensemblezusammenstellung nehmen, soll als Problemhorizont in der Auswertung zur Strukturierung des Ensembles erörtert werden.

2.2.3.2 Rekrutierung von Schauspieler/innen: Ästhetisches und soziales Kapital Überblicksartig werden an dieser Stelle zunächst das Verfahren des Castings von neuen Schauspieler/innen sowie die Vorbedingungen dieser Art der Selektion erläutert. Aufgrund der Diversität der individuellen Vorgehensweisen im Feld können hier keine eindeutigen Aussagen getroffen werden, vielmehr soll es um ein Aufzeigen der vielschichtigen Selektionsprozesse gehen.

351 | Vgl. Föhl/Nübel 2015, 211. 352 | Seit den 1990er-Jahren verzeichnet die Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins sinkende Besuchszahlen im Kontext der öffentlichen Theater, so zeigt etwa »[d]er Vergleich der Besuchszahlen zwischen der Spielzeit 1995/1996 und 2005/2006 […], dass der Publikumszuspruch in diesen zehn Jahren von 23 022 233 auf 20 739 261, also um 11,01 %, zurückgegangen ist (vgl. Deutscher Bühnenverein 1997 und 2007). In der Spielzeit 2011/12 sind die Besuchszahlen weiter auf 19 746 383 gesunken (vgl. Deutscher Bühnenverein 2012).« (Föhl/Nübel 2015, 212) 353 | Interview vom 12.01.2015. 354 | Interview vom 12.01.2015.

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In Bezug auf die Rekrutierungsverfahren lässt sich zunächst eine Unterscheidung zwischen der Vakanz von einzelnen Stellen (im Sinne einer »Nachbesetzung«355 oder eines zeitlich befristeten Gast-Engagements) und der Neustrukturierung eines ganzen Ensembles vornehmen. Ersteres gehört sozusagen zum Tagesgeschäft, während letzteres an den Wechsel einer Intendanz gebunden ist. Die Möglichkeiten neue Schauspieler/innen zu gewinnen, sind hierbei in beiden Fällen vielseitig. Beispielsweise gibt es für die gezielte Suche nach Absolvent/innen von Schauspielschulen die bereits an anderer Stelle erwähnten, von der ZAV-Künstlervermittlung organisierten zentralen Vorsprechen – von der Arbeitsgemeinschaft Ständige Konferenz Schauspielausbildung (SKS) auch »Zentrale (Absolventen-) Vorspiele«356 genannt –, zu denen seit 1990 einmal jährlich alle staatlichen Schulen sowie Theaterhäuser eingeladen werden. Neben diesen im Zeitrahmen von einer Woche und jeweils an drei unterschiedlichen Orten stattfindenden zentralen Vorsprechen gibt es in der Regel sogenannte Intendantenvorsprechen, die ebenfalls für interessierte Vertreter/innen und Vermittler/innen aus dem Feld sowie für anderes (Fach-)Publikum in den lokalen Räumlichkeiten der einzelnen Ausbildungsstätten abgehalten werden. Von Interesse sind diese autonomen Vorsprechen insbesondere deshalb, da Theaterleitungen nicht selten bereits im Vorfeld der Suche einzelne und je nach Schule unterschiedliche Ausbildungskonzepte mit entsprechender Erwartung – etwa an die Ausbildung technischer Qualitäten im Sprechen, im physischen Training oder in der Improvisation – an deren Abgänger/innen präferieren. Hinsichtlich einer diesbezüglichen ›Trefferquote‹ äußert eine befragte Person aus einer Theaterleitung, man könne zwar »keine Regel aufstellen, aber die Schulen haben schon sehr unterschiedliche Charaktere«, das würde man »auch an den Schülern [sehen]«357. Bezieht sich die gezielte Suche nicht auf Absolvent/innen, sondern auf Schauspieler/innen mit Berufserfahrung, laden die Theater persönlich meist bereits selektierte Kandidat/innen zu einem »Kennenlernvorsprechen«358 an ihrem Haus ein, welchem – je nach Schauspieldirektion – neben der Leitung weitere Dramaturg/innen und gegebenenfalls Hausregisseur/innen beisitzen und anschließend über die (Nicht-)Aufnahme der vorausgewählten Vorsprechenden in das Ensemble entscheiden. Hierbei wird die Vorauswahl über die Sichtung von Bewerbungen, eine gezielte Anfrage bei der ZAV-Künstlervermittlung – die stärker von kleineren und mittelgroßen Häusern aufgrund ihrer eingeschränkt finanziellen und personellen Situation in Anspruch genommen wird –, vor allem aber über das »Sehen«359 und »Anschauen«360 von Schauspieler/innen im Rahmen von Vorstellungsbesuchen getroffen. Anschließend wird die subjektive Wahrnehmung häufig durch das Einholen von Meinungen der Fachkolleg/innen ›abgesichert‹, denn »[n]atürlich schaut man auch darauf, was die schon gemacht haben und wo die gespielt haben. Die Theaterwelt ist relativ klein, sodass man dann auch irgendwo irgendwen kennt, der 355 | Interview vom 20.05.2014. 356 | www.theatertreffen.com/zentralevorspiele.html 357 | Interview vom 22.05.2015. 358 | Interview vom 22.09.2014. 359 | Interview vom 20.05.2014. 360 | Interview vom 22.09.2014.

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Der Joker im Schauspiel dann vielleicht auch schon mal mit dem gearbeitet hat. Dann ruft man natürlich an und fragt nach.« 361

Die Reisen zu anderen Theatern, um Schauspieler/innen kennenzulernen, die Vorstellungsbesuche sowie Vorsprechen dienen aber nicht nur der Deckung eines Bedarfs, sondern ebenso der Entdeckung eines »Talentes«362 – ein Vorgang, der oft unmittelbar an die Position von Regisseur/innen im Feld und an das mit diesen verbundene ästhetische respektive symbolische Kapital geknüpft wird. So findet bei der Sichtung und Selektion von Schauspieler/innen geradezu eine Dopplung ›objektiver Kategorisierungen‹ statt, das heißt eine nicht nur ästhetische, sondern auch soziale Wahrnehmung und Einordnung von Schauspieler/innen im Verbund mit Regisseur/innen, deren Position wiederum das Kapital von Schauspieler/innen zu verdoppeln oder zu potenzieren vermag: »Das Objektivste in Anführungszeichen ist, dass man irgendwie guckt: Gibt es Regisseure, die man selber interessant findet, die zum Beispiel mit denen schon gearbeitet haben, wo man irgendwie weiß, da gibt es etwas … Das Objektivierbare ist so schwierig, weil es bei der Kunst ja letztendlich immer auch um Gefallen geht. Das heißt, wenn ich sehe, dass jemand mit Regisseuren zusammengearbeitet hat, die ich gut finde, dann interessiert mich auch der Schauspieler oder die Schauspielerin sicher erstmal mehr, als wenn ich sehe, das ist jemand, der oder die mit Regisseuren oder Regisseurinnen zusammengearbeitet hat, die mir nicht so gefallen.« 363

Bourdieu nennt diese praktische Konsequenz einen »Multiplikatoreffekt auf das tatsächlich verfügbare Kapital«364, dessen Wirkung im Feld des Theaters jedoch überhaupt erst in Gang gesetzt werden kann, wenn die Akteur/innen bereits einen Zugriff auf das existierende (Beziehungs-)Netz haben und damit als Subjekte des Feldes anerkannt sind. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Schauspieler/innen im Rahmen des Stadttheaters in besonderer Weise auf die Akkumulation von Sozialkapital angewiesen sind, welches mit Bourdieu wie folgt verstanden werden kann, nämlich als »Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind.« 365

Verfügen die darstellenden Akteur/innen über entsprechende Ressourcen in Form von spezifischen Arbeitsbeziehungen und damit verbunden von bestimmten Spielund Rollenerfahrungen, stellen sie nicht mehr nur ›Produktionsmittel‹ der täglichen Kunstproduktion dar, sondern besitzen selbst das notwendige Kapital, um innerhalb der »Austauschbeziehungen«366 zwischen Produzent/innen und Prota361 | Interview vom 22.09.2014. 362 | Interview vom 22.09.2014. 363 | Interview vom 22.09.2014. 364 | Bourdieu 1983, 192. 365 | Bourdieu 1983, 191. 366 | Bourdieu 1983, 191.

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem

gonist/innen handeln zu können. Auf den ersten Blick mag diese Handlungsoption nur für die »drei, vier oder fünf Prozent von Spitzenleuten«367 zutreffen. Und sicherlich steht diese für einen großen Teil von angestellten Schauspieler/innen nur eingeschränkt oder erst gar nicht zur Verfügung, wenn sie nicht als Akteur/ innen im Sinne von Subjekten anerkannt werden und keinen Zugang zum Feld erhalten. Jedoch hängen der Wert des Kapitals und der Handlungs- sowie Spielraum von Darsteller/innen unter Umständen auch von anderen Faktoren ab, die ihre Nachfrage bedingen. So wird etwa in mehreren Interviews berichtet und belegt, dass insbesondere die Rekrutierung von älteren Schauspieler/innen häufig ein Problem darstellt, nicht etwa allein weil diese ›teuer‹ sind, sondern weil beispielsweise »die Mittvierziger«368 aus privaten Gründen nicht erneut die Stadt wechseln wollen oder »aus anderen Gründen nicht mehr spielen«369. Während sich die bisherigen Ausführungen vor allem auf den Fall von einzelnen Vakanzen beziehen, wird es im Folgenden insbesondere um die Besetzung und Zusammensetzung des gesamten Ensembles gehen. Wie deutlich geworden ist, handelt es sich bei heutigen Ensembles von Staats-, Stadt- und Landestheatern nicht mehr um feste Gruppengebilde, wie sie in den 1970er- und 1980er-Jahren idealiter vorgestellt und durch Regisseure wie Dieter Dorn, Peter Stein oder Claus Peymann geprägt worden sind.370 Die aktuelle Situation ähnelt eher der Mobilität von Schauspieler/innen, wie sie aus Zeiten des Wandertruppentheaters und in dessen Folge auch im Kontext der sesshaft werdenden Schauspieler/innengesellschaften im 19. Jahrhundert bekannt ist.371 Dementsprechend sind die heutigen Ensembles eher lose und fluktuierende Gruppierungen, die sich spätestens im Zuge von Intendant/innenwechseln – meist zu großen Teilen – neu formieren. Damit geht es bei einem derartigen Neuanfang »wirklich um die Frage: Was will ich da? Was brauch ich da?«372 im Kontext der lokalen Gegebenheiten: »Also welche Stadt hat sich irgendwann mal welche Institution gebaut? Wie sehen die aus? Welche Strukturen bringen die mit sich? Gibt es ein Haus, gibt es mehrere Häuser? Gibt es eine große freie Szene, gibt es sie nicht?«373 Für die Formierung eines neuen Ensembles bedeutet das in der Regel, dass etwa die Hälfte des letzten Ensembles an den neuen Ort mitgenommen, dass einige wenige bereits ansässige Schauspieler/ innen aus künstlerischen und/oder verwaltungsrechtlichen Gründen behalten374 und – je nach Bedarf – Absolvent/innen oder Akteur/innen anderer Häuser rekru367 | Interview vom 22.05.2015. 368 | Interview vom 03.07.2014. 369 | Interview vom 17.10.2014. 370 | Vgl. etwa das Gespräch mit Dieter Dorn in der FAZ vom 31.10.2015 (Hintermeier/Kaube, www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/ein-gespraech-mit-dieter-dorn-intendant-ist-was-ganz-furchtbares-13885126.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2). 371 | Vgl. hierzu ausführlicher Kapitel 2.1. 372 | Interview vom 12.01.2015. 373 | Interview vom 22.09.2014. 374 | Ab 15 Dienstjahren sind Schauspieler/innen an einem Theaterhaus unkündbar, dies stellt die einzige Sicherheit innerhalb eines ansonsten befristeten, durch den Normalvertrag Solo geregelten Vertragsverhältnisses dar. Die Rede vom festen Ensemble und EnsemblePrinzip erweist sich vor diesem Hintergrund nur mehr als symbolisch-diskurse Aussageformation.

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tiert werden. Das jeweilige Verhältnis zwischen ›neu‹ und ›alt‹ sei dabei »immer eine Mischkalkulation«375. Welche Rolle hierbei etwa das Verhältnis zwischen ›alt‹ und ›jung‹, ›weiblich‹ und ›männlich‹ spielt, ist Thema des weiteren Analyseprozesses.

2.2.3.3 Strukturierung eines Ensembles: Einteilung nach Typen Wie in der obigen Darstellung zu den Interferenzen zwischen äußerem und innerem System herausgearbeitet, offenbart sich in der Verschränkung von programmatischen Ansprüchen (Bildungsauftrag inklusive Öffnung) und pragmatischen Bedingungen (Repertoiresystem) der Referenzpunkt für die Strukturierung des Ensembles im zeitgenössischen Sprechtheater. Die Öffnung, die primär auf Ebene der Spielplangestaltung angestrebt wird, bildet sich dabei – trotz ersten personalstrukturellen Vorstößen am Maxim Gorki Theater in Berlin unter der Leitung von Shermin Langhoff und Jens Hillje – nicht unmittelbar zugleich auf Ebene der Schauspielensembles ab, etwa in Gestalt einer sozialen und kulturellen Diversität unter den Ensemblemitgliedern. So wird zwar ein Ensemble gewünscht, »was reich ist an Farben«376, doch ist diese Metapher im semantischen Kontext weniger sozial, als vielmehr formal konnotiert: Man habe schließlich »in einer Stadt auch einiges abzudecken an Palette«, weshalb man Schauspieler/innen »natürlich auch ein bisschen breiter einsetzen können«377 müsse. Wie ähnliche Aussagen im Verlauf der Gespräche bestätigen, bezieht sich die Rede von breiter einsetzbaren Schauspieler/innen im engeren Sinne auf einen breiten, sozusagen bunten Spielplan und nur indirekt auf ein »vielgestaltiges Ensemble«, für das man eine »möglichst große körperliche Vielfalt haben will, also mal blöd gesagt: Große, Kleine, Dicke und Dünne«.378 Hierbei scheint sich der Anspruch einer Öffnung nach außen mittelbar beziehungsweise ›gebrochen‹ auf die Heterogenität des Ensembles lediglich in Gestalt einer ästhetischen Diversität auszuwirken, dessen Strukturierung – wie anschließend noch zu zeigen sein wird – auf der Basis eines praktischen (Erfahrungs-)Wissens doch relativ klaren und kollektiv geteilten Regeln folgt. Vor dem Hintergrund der Bourdieu’schen Feldtheorie ist diese angenommene »Brechung«379 insofern bemerkenswert, als dass sie ein Indiz für den »Grad der Autonomie«380 des sozialen Feldes liefert. Denn je höher der »Brechungskoeffizient«381 ist, desto autonomer und in seiner homonomen Position dominanter ist das Feld, dessen Struktur es damit aufrechtzuerhalten versucht. Folglich lässt sich auf Ebene der Ensemblegestaltung eine hartnäckige Verteidigung der (Ordnungs-)Struktur und ein Aufrechterhalten des gesamten Betriebssystems annehmen – eine »Vermeidungsstrategie«382 gegenüber der Dynamik des Feldes und zugleich eine zu verteidigende

375 | Interview vom 17.10.2014. 376 | Interview vom 17.10.2014. 377 | Interview vom 17.10.2014. 378 | Vgl. Interview vom 20.05.2014. 379 | Bourdieu 1998 [1994], 62. 380 | Bourdieu 1998 [1994], 62. 381 | Bourdieu 1998 [1994], 62. 382 | Reckwitz 2004, 50.

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem

»Legitimationsstrategie«383 der orthodoxen Position, welche es im Folgenden empirisch zu überprüfen gilt. Zur Klärung der Frage, wie Ensembles zusammengestellt werden, wird hier noch einmal auf den »›natürlichen‹ Kode«384 der ›Breite des Ensembles‹ verwiesen, der bislang eher qualitativ als quantitativ vorgestellt worden ist. In ihrer semantischen Offenheit lässt diese Begrifflichkeit zwar unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten zu, auffallend ist jedoch, dass ihre Verwendung im Feld stets ein kollektiv geteiltes Wissen hinsichtlich der Qualität sowohl von einzelnen Schauspieler/innen als auch der Gruppe des Ensembles impliziert. Doch nach welchen Kriterien bemisst sich die Qualität eines durchschnittlichen, das heißt funktionsfähigen Ensembles im Stadttheaterbetrieb? Sie zeige sich »strukturell« in der »Breite dessen, was das Ensemble leisten kann«.385 Nach Aussage einer anderen, auf die inhaltliche Qualität der Theaterproduktion Bezug nehmenden Person bedeutet dies wiederum, dass es »natürlich […] eine Qualität [ist], wenn man ein Stück wie Kabale und Liebe oder ein Shakespearestück wie Sommernachtstraum aus dem eigenen Ensemble besetzen kann, sozusagen gut besetzen kann. Also wenn man auch ältere Kollegen hat – jüngere hat man meist sowieso.« 386

Jedoch ist die für eine ›gute Qualität‹ notwendige Ausschöpfung der möglichen Breitengrade mit Verweis auf ein gewisses Altersspektrum innerhalb des Ensembles und auf die oben bereits angesprochene »körperliche Vielfalt«387 noch nicht erreicht. Diesen Schluss lässt die folgende Aussage zu, die weitere Variablen der Ensemblezusammenstellung ins Feld führt: »Also es gibt einmal die ganz, ganz äußeren Bedingungen für ein gutes Ensemble, würde ich sagen, wo man eben einfach – je nachdem wie ein Spielplan ist – zusehen sollte, dass es breit aufgestellt ist, in dem Sinne, dass man irgendwie weiß, man kann bestimmte erforderliche Typen besetzen – auch wenn es diese Charakterfächer ja heutzutage nicht mehr so gibt. Also dass man weiß, man hat irgendwie den potenten jungen Mann und am besten gleich drei davon, die dann irgendwie den Don Carlos und den Marquis Posa spielen können, und es ist auch noch einer da, der in der Parallelproduktion grad einen Romeo spielen kann.« 388

Der auffallende Rückverweis auf einen Kanon an Stücken und literarischen Figuren, der sich durch alle Interviews zieht, kann nun eindeutig als eine »Bedingungskonstellation«389 der Re/produktion von »bestimmte[n] erforderliche[n] Typen«390 festgehalten werden, die einer näheren Betrachtung bedarf. Wie hierbei nicht nur eine weitere, sondern durchgehend alle Stimmen aus dem Feld in ähnlicher Weise 383 | Hochholdinger-Reiterer 2014, 20. 384 | Schmidt 1997, 553. 385 | Vgl. Interview vom 22.05.2015. 386 | Interview vom 17.10.2014. 387 | Vgl. Interview vom 20.05.2014. 388 | Interview vom 03.07.2014. 389 | Heintz 2008, 231. 390 | Interview vom 03.07.2014.

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zu verstehen geben, lässt sich ausgehend von der spezifischen Bedingungskonstellation des deutschen Stadttheaters, nämlich Repertoire- und Ensembletheater zu sein, für die Zusammenstellung eines Durchschnittsensembles zum einen ein quantitatives Verhältnis, zum anderen eine qualitative Größe bestimmen. Die nachfolgende Aussage erklärt dies auf exemplarische Weise anhand des im Stadttheater gängigen Spielplanprinzips, kanonische Stücke, das heißt »die alten Texte der Antike oder auch ein Schiller oder was auch immer«391, mit zeitgenössischen, auch »nicht mehr dramatischen Theatertexten«392 im Repertoire zu verschränken: »Wenn du beides versuchst zu bedienen, daraus zieht sich dann der Schlüssel, nach welchem man versucht, ein Ensemble zusammenzustellen, was Alter und Geschlecht anbelangt. Da gibt es so einen Pi-mal-Daumen-Schlüssel. Je nach Größe von dem Haus sagt man: ›Wenn du zweimal Kabale und Liebe durchbesetzen kannst, dann hast du erstmal ein Stammensemble, was die meisten Sachen spielen kann‹ – um erstmal den Grundstock zu haben.« 393

Aus dieser im deutschen Sprechtheater üblichen Passung von Kanon, Ensemble und deutscher Theaterkultur ergeben sich normative Vorgaben, die erst sekundär zu einer ästhetischen und primär zu einer sozialen Differenzierung der Schauspieler/innen durch eine in Teilen höchst normative Praxis der Ensemblezusammenstellung führen. Bezogen auf das Betriebssystem des deutschen Stadttheaters heißt das zugleich, dass es als soziale Institution in der Verschränkung eines (mit Bildungsauftrag inklusive Öffnung) programmatischen und (im Sinne des Repertoiresystems) pragmatischen Handlungsproblems für die Theaterproduzierenden eine soziale und ästhetische Differenzen re/produzierende Agency bündelt: Insbesondere die hier als Identitätskategorien gebrauchten Differenzierungen nach Alter und Geschlecht – in Verbindung mit bestimmten Attraktivitätstypen – werden folglich vermittels der Re/produktion von literarischen Typen des Kanons in der und durch die Ensemblestruktur fortgeschrieben, während etwa nicht-europäische Typen sowohl im Kanon als auch Durchschnittsensemble zurückbleiben. Vor der Folie des bürgerlichen Trauerspiels, das in den Interviews bezeichnenderweise wiederholt von Schillers Kabale und Liebe repräsentiert wird, lässt sich vor allem das Geschlechterverhältnis innerhalb der zeitgenössischen Ensembles bestimmen: Denn wie zuvor ausgeführt worden ist, stellt die Altersdifferenz unter Schauspieler/innen zwar ein zentrales Kriterium für die Qualität des Ensembles, zugleich aber ein Finanzierungs- und Rekrutierungsproblem dar. Dies scheint auch der Grund zu sein, warum hierüber innerhalb der Interviews nur in Ausnahmen konkrete Auskünfte gegeben werden können. Eindeutiger fällt dagegen das Ergebnis hinsichtlich der Geschlechtsdifferenzierung nach männlichen und weiblichen Schauspieler/innen aus. Dieses wird – wenn auch in unterschiedlichen Begriffen, Zahlen oder Metaphern dargestellt – relativ stabil als ein Verhältnis von

391 | Interview vom 22.09.2014. 392 | Vgl. Poschmann 55-58. 393 | Interview vom 22.09.2014. Explizit, aber auch einseitiger lautet die Erklärung im Vermittlungsjargon: »Weil eben der Kanon noch da ist, müssen die Ensembles immer noch diesen Gesetzen des Kanons gehorchen.« (Interview vom 18.02.2015)

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem

60 % Herren zu 40 % Damen beschrieben, ein zahlenmäßiges Verhältnis,394 wie es in Anbetracht der Re/produktion des Kanons wohl nicht zufällig bereits das »Normalpersonal«395 der bürgerlichen Theater des Vormärz charakterisiert hat.396 Damit zeichnet sich auch für das zeitgenössische Stadttheater eine primär körperkategoriale Ensemblestruktur ab, die sich zunächst an den Strukturkategorien Geschlecht und Alter bemessen lässt. Wie die Strukturierung des Ensembles darüber hinaus im Sinne einer relationalen Aufstellung von Spieler/innen in der Theaterpraxis erfolgt, wird im Rahmen des anschließenden Unterkapitels exemplarisch erläutert. Im Folgenden soll zunächst der für die Zuordnung von Schauspieler/innen zu sozialen und ästhetischen Kategorien gebrauchte Begriff des Typs ›am Material‹ dargestellt werden. Die bereits zitierte Rede von den innerhalb eines Ensembles »bestimmte[n] erforderliche[n] Typen«397 legt nahe, dass der Begriff des Typs noch heute im Sinne des Rollenfachs und in seiner theaterpraktischen Funktion als Habitus von Schauspieler/innen begriffen und benutzt wird398 – ein Habitus, den die Akteur/innen ins Feld ›mitbringen‹ und hier, mit Beginn der Schauspielausbildung, für entsprechende Rollen respektive Rollenfächer nicht nur trainieren, sondern sich im Laufe ihrer Berufserfahrung auch selbst anzueignen lernen.399 Im Vergleich der 394 | Die vergleichbaren Aussagen aus den Interviews erscheinen mir in Bezug auf die ›objektiven‹ Bedingungen der Ensemblezusammenstellung im Stadttheater weitaus aussagekräftiger zu sein, als etwa die »Statistische Übersicht über die künstlerischen Mitglieder«, welche pro Spielzeit und für die Bundesrepublik in den einzelnen Jahrgängen des Deutschen Bühnen-Jahrbuchs veröffentlich wird: Ohne Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Theatern und ohne Differenzierung von Festanstellungen oder Gastengagements ermittelt sie also die Zahl aller, in einem kurz- oder langfristigen Vertragsverhältnis stehenden Schauspieler versus Schauspielerinnen, sodass das errechnete Verhältnis hier nur als eine Tendenz zu verstehen ist. Diese weist in eine ähnliche Richtung, so sei hier nur auf einen Durchschnittswert aus den Spielzeiten 2011 bis 2013 mit jeweils 3608 (56 %) männlichen und 2832 (44 %) weiblichen Schauspieler/innen verwiesen, welcher sich in einem ähnlichen Verhältnis davor und danach relativ stabil hält. Fast dasselbe Bild ergibt der Almanach für Freunde der Schauspielkunst auf das Jahr 1846, der neben 2042 männlichen (59,4 %) 1396 weibliche (40,6 %) Darsteller/innen zählt, zitiert nach Brauneck 1999, 45. 395 | Doerry 1926, 42. 396 | Vgl. auch die von Doerry ermittelten Vergleichszahlen aus der Spielzeit 1836/37, welche exakt dasselbe Verhältnis von 60 % Herren zu 40 % Damen ergeben, siehe Kapitel 2.1.3 der vorliegenden Arbeit. 397 | Interview vom 03.07.2014. 398 | Vgl. Kapitel 2.1.4. 399 | In einem Artikel von Alexander Jürgs wird die Schauspielerin Constanze Becker zitiert, die genau diesen Prozess zwischen Abhängigkeit und Aneignung positiv umwendet; auf die Frage, ob sie ärgern würde, dass sie – wie schon in ihrer Ausbildung an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« – immer noch ausschließlich für »ältere, reifere Frauen besetzt« werde, antwortet Becker: »Nein, damit habe ich mich arrangiert, weil ich gemerkt habe, dass diese Rollen die spannenderen Figuren sind. Die sind ja nicht einfach nur alt, sondern haben auch ein großes Potential an Erlebtem, an zu Zeigendem. Und natürlich ist das auch eine Typfrage: Ich war immer schon groß und dunkel. Damit ist man eben nicht prädestiniert für das Gretchen. Ich kenne Kolleginnen, die spielen bis Mitte 30 die jungen

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Gespräche fällt dabei auf, dass die Theaterproduzierenden zu Erklärungszwecken in Bezug auf den Einsatz von Schauspieler/innen in den (Produktions-)Ensembles auf identische Standardtypen und klassisch-dramatische Rollenfächer rekurrieren. Hierbei verweisen sie einerseits allgemein auf die Fächergruppe der bürgerlichen ›Väter‹ und auf »die Mütter«400, andererseits und spezifischer auf die »mädchenhafte Luise«401 (alternativ: »eine Julia«402, also »die Mädchen«403), auf die »damenhafte Lady Milford«404 (Schauspielerinnen »zwischen junger Frau und, ich sage mal, werdender Mutter […], das hängt immer vom Typ ab«405), auf »Typ Ferdinand«406 – das heißt das Fach der »jungen Helden«407 – sowie auf den exemplarischen Antitypen innerhalb der dramatischen Figurenkonstellation, wie den intriganten, »bisschen scheppen Wurm«408. In Anbetracht dieser Auflistung von Typen und Typmerkmalen gewinnt die Erscheinung und damit zugleich der ästhetisch wahrgenommene und beurteilte Schauspieler/innen-Körper an zentraler Bedeutung für deren Besetzung, gleichsam stellvertretend für die Qualität von einzelnen Schauspieler/innen. Genauer nachfragt, worüber sich denn eine Schauspielerin zum Beispiel für ›eine Julia‹ qualifizieren würde, antwortet eine interviewte Person: »Naja, aus einer Mischung aus Aussehen und dem, dass man ihr zutrauen können muss, eine große Rolle zu spielen. Es gibt ja auch Schauspieler, die für kleine Auftritte toll sind, aber die es manchmal nicht schaffen, so einen ganzen Bogen … Also, so denkt man zum Beispiel schon auch: in Protagonisten und eher Nebenfiguren. […] Oder wie geht jemand mit Sprache um? Traut man dem zu, in einem Stück, zum Beispiel Schiller, zu sprechen. Ich meine jetzt nicht, schön zu sprechen, sondern eher allein diese komplizierten Sätze zu denken und plastisch zu machen. Also das kommt alles mit rein. Natürlich kommt auch ein Außen mit rein. Da ist es dann auch eine Mischung aus Gewohnheit, Konventionen, sicherlich auch irgendwo Vorurteilen – aber wir leben ja alle von unseren subjektiven Vorstellungen. Es ist sicherlich nicht immer wie beim Film, dass du dann so typcastingmäßig denkst. Aber trotzdem würde man wahrscheinlich immer noch eher eine Julia suchen, bei der du das Gefühl hast, die Leute identifizieren sich damit. […] Also ich glaube – ja, ich weiß auch nicht –, dass man schon möchte, dass jemand sozusagen Identifikation erzeugen kann oder irgendwie anrührend ist oder authentisch. Alles Worte, die du natürlich befragen kannst – aber so.« 409

Naiven und kommen da gar nicht mehr heraus. Dieses Problem habe ich nicht: Fiese, männermordende Alkoholabhängige wird es immer geben. Da habe ich noch ein paar Jahre und ein paar Rollen vor mir.« (Becker zitiert nach Jürgs 2013, www.schirn.de/magazin/kontext/ constanze_becker/) 400 | Interview vom 22.05.2015. 401 | Interview vom 18.02.2015. 402 | Interview vom 17.10.2014. 403 | Interview vom 22.05.2015. Oder anders gefragt: »Wer ist die junge Geliebte, wer kann Luise in Kabale und Liebe spielen?« (Interview vom 17.10.2014) 404 | Interview vom 18.02.2015. 405 | Interview vom 22.05.2015. 406 | Interview vom 18.02.2015. 407 | Interview vom 12.01.2015. 408 | Interview vom 18.02.2015. 409 | Interview vom 17.10.2014.

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In dieser differenzierteren Beschreibung wird der Blick sowohl auf die sichtbaren, ästhetisch wahrgenommenen Körper als auch auf die technischen Kompetenzen – wie das ausgebildete Sprechen – gelenkt. Dabei kennzeichnet die hier zu konstatierende Unsicherheit im Reflektionsprozess im Allgemeinen die Aussagen der Befragten stets dann, wenn genuin ästhetische Wahrnehmungspraktiken in Worte gefasst und in objektivierende Erklärungen übersetzt werden wollen – ein Vorgang, der wohl nicht ohne Grund an Grenzen (auch der empirischen Forschung) stößt, zeichnen sich diese Prozesse doch durch sinnliches, zwar sozial geprägtes und habitualisiertes, aber nichtsdestoweniger individuelles Erfahren und Erleben aus. Was sich aber empirisch durch die Einschätzungen der theaterproduzierenden und gleichwohl rezipierenden Befragten nachvollziehen lässt, ist die soziale Tatsache einer Einteilung nach Typen, die – unabhängig davon, dass sich die normativen Maßstäbe, bezogen beispielsweise auf Attraktivitätsnormen oder Normen des Schauspielens, im historischen Prozess verändert haben – nach ähnlichen Prinzipien funktioniert, wie die »Einteilung der schauspielerischen Talente«410 im bürgerlichen 19. Jahrhundert. Denn wie die Zuteilung von Schauspieler/in und Rollenfach nach Hans Doerry »auf der verschiedenen Zusammensetzung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten«411 basiert, beruht noch heute die Typisierung und Positionierung von Schauspieler/innen im Standardensemble des Stadttheaters auf einem Zusammenspiel von körperbasierten Identitätskategorien und individuellen Eigenschaften, die sich häufig in einer bestimmten Spiel-Technik widerspiegeln. Dementsprechend lassen sich ebendiese zwei miteinander verschränkten Ausprägungen von Typen festhalten: erstens diejenige nach körperbasierten Identitätskategorien (zum Beispiel die Mädchen, Mütter oder Typ Ferdinand412) und zweitens die Ausprägung nach individuellen und damit verbundenen technischen Eigenschaften. In Bezug auf letztere wird im Feld nach »Kopftypen«413 versus »Bauchtypen«414 beziehungsweise nach ›intellektuellen‹ versus ›energetisch-körperlichen‹415, aber auch »ehrlichen, direkten Spielern«416 sowie nach »Komikern«417 versus Charakterspieler/innen unterschieden. Ausgehend von diesen Ausprägungen und den Beschreibungen der Befragten lassen sich systematisch gewendet drei Variablen für die Performanz von Typen bestimmen: erstens das körperliche Darstellungsmaterial von Schauspieler/innen, zweitens ihr Spiel und drittens die durch Material und/oder Spiel ausgelöste Zuschauer/innenfantasie. In dieser akteurszentrierten Performanz von Schauspieler/ innen werden sie von Theaterproduzierenden (und -rezipierenden) subjektiv wahrgenommen und in ihrem Typ objektiv, weil relational kategorisiert. Alle drei Variablen mögen für den Einzelnen/die Einzelne positive wie negative Effekte auf ihre 410 | Doerry 1926, 2. 411 | Doerry 1926, 2. 412 | Schauspielerinnen scheinen hierbei einem stärkeren Kategorisierungsgrad nach körperbasierten Indizes unterworfen zu sein; in gröberen Kategorien (Heldenspieler oder älterer Schauspieler) scheinen dagegen die männlichen Kollegen erfasst zu werden. 413 | Interview vom 21.04.2015. 414 | Interview vom 21.04.2015. 415 | Vgl. Interview vom 03.07.2014. 416 | Interview vom 12.01.2015. 417 | Interview vom 13.07.2016.

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Marktfähigkeit im Ensemble- und Repertoiretheater zeitigen, wobei die gängigen Verweise auf die Luises, Julias und die Helden der deutschen Klassik den Blick einseitig auf Akteur/innen mit hohem ökonomischem Körperkapital lenken, die in einer (äußerlichen oder spielerischen) Weise eindeutig attraktiv für den Markt des Theaters erscheinen. Jedoch führt die Typisierung von Schauspieler/innen innerhalb einer normativen Ensemblestruktur zwangsläufig zu Beschränkungen und Einschränkungen sowohl auf Seiten der Akteur/innen als auch Produzierenden. So lässt sich neben den besonders attraktiven Typen im Feld ebenso eine Skala von degradierten Akteur/innen in Verbindung mit ›undankbaren‹ Rollen erkennen, wie die nachfolgende Anekdote auf exemplarische Weise deutlich macht: »Ich kann mich an eine Freundin erinnern, die nicht mal dick war, sondern einfach nur ein rundes Gesicht hatte. Die wurde dann immer als Dienstmädchen besetzt und ausgestopft. Sie hat total darunter gelitten, weil sie natürlich auch gerne irgendwann mal Luise oder sowas geworden wäre.« 418

Das körperliche Spielmaterial von Schauspieler/innen, hier reduziert auf die Gesichtsform, bildet das subjektivierende Merkmal für eine stereotype Zuweisung von Chargenrollen und eine Zurichtung des ›schauspielerischen Talents‹419 im zeitgenössischen Sprechtheater. Der spezifische Typ wird hierbei ausschließlich mit einem körperlichen ›Makel‹ begründet, ein Makel, der als solcher nur vor der Folie des Ideals der ›Luise‹ sichtbar wird. Ausgehend von ihrem je spezifischen Typus werden Schauspieler/innen innerhalb der latent hierarchischen Struktur des Ensembles jedoch nicht nur in Verbindung mit Rollenbesetzungen ab- oder aufgewertet, sondern ebenso in Kontrast respektive Relation zu ihren Mitspieler/innen in ein (Produktions-)Ensemble aufgenommen oder zurückgewiesen, wenn etwa pragmatische Gründe gegen eine Aufnahme sprechen. Von einem solchen Fall berichtet eine Person in leitender Funktion, die auf der Suche nach Ersatz einen für toll befundenen Schauspieler eines anderen Hauses zu einem Vorsprechen eingeladen habe: »Der musste sich dann hier vorstellen, also dem Intendanten und meinen Kollegen, und die sagten dann: ›Na ja, der ist ja ganz gut, aber der ist vom Typ her zu ähnlich wie der Schauspieler, den wir schon haben.‹ Das war mir überhaupt nicht bewusst gewesen, weil ich einfach so begeistert von dem war.« 420

Die Abwägung zwischen den beiden, in Bezug auf das »Alter [und die] Spielweise«421 ähnlichen Typen (Variable 1 und 2) führt in diesem Fall zu einer Ablehnung des ›gleichen Typs‹ aufgrund der folgenden Überlegung: »In einem größeren Ensemble würde ich sie jetzt trotzdem beide nehmen. Das ist natürlich auch so: Je kleiner das Ensemble, desto pingeliger wird man da auch. […] Hier denkt man aber: Naja, warum sollen wir zwei so ähnliche Typen haben, die dann immer, wenn man … (La418 | Interview vom 03.07.2014. 419 | Doerry 1926, 2. 420 | Interview vom 20.05.2014. 421 | Interview vom 20.05.2014.

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem chend) Wenn man – keine Ahnung – Romeo und Julia spielen will, gibt’s dann die Konkurrenz, also wer ist jetzt Romeo von den beiden oder so.« 422

Während hier aus pragmatischen und strukturellen Gründen (ein jeweils abzudeckendes Rollenspektrum im Rahmen eines kleinen Ensembles) die Typisierung eines Schauspielers zugleich dessen Handlungsraum von vornherein beschränkt, erklärt eine einem großen Ensemble vorstehende Person das Relationsverhältnis unter den Schauspieler/innen als Effekt einer durch soziale und ästhetische Körper ausgelösten Fantasie (Variable 3): »Es geht bei Engagements, aber auch bei Besetzungen immer darum, Perspektiven denken zu können. Also es geht immer darum: Was habe ich? Und was habe ich noch nicht? Und was kann ich … Also welche Fantasie macht ein Schauspieler bei mir frei? Und was seh’ ich da für Potenzial.« 423

Die Unterscheidung zwischen Engagement (im Sinne der Aufnahme in eine vorstrukturierte Ensemblekonfiguration) und Besetzung (im Kontext der szenischen Figuren-»Konstellationen«424) ist hier insofern von Belang, als dass sich die Motivation zur Selektion und Kombination von Schauspieler/innen in diesen beiden Phasen des Produktionsprozesses stark voneinander zu unterscheiden vermag. Die Performanz eines bestimmten Typs gemäß der durch Material oder/und Spiel ausgelösten respektive erwarteten Zuschauerfantasie spielt zwar bereits im Kontext der Ensemblezusammenstellung eine wesentliche Rolle, ähnlich etwa wie »ein gewisses Vertrauen in die Qualität selbstverständlich [ist]; man würde ja niemanden engagieren, den man nicht gut findet, das ist ja ganz klar«425. Erst mit Blick auf konkrete Produktionen, bei denen »es […] ja immer um die Idee hinter der Besetzung«426 gehen würde, scheint jedoch die genuin ästhetische Wirkung der Auslösung von Fantasie durch die Wahrnehmung einer spezifischen Gestalt zum Tragen zu kommen.427 In der hier dargelegten Phase der Ensemblekonfiguration dominieren hingegen andere Lösungsprinzipien die Szene. Das mit dieser Praxis verbundene Leitprinzip fasst die nachfolgende Erklärung noch einmal repräsentativ für die befragte Gruppe von Theaterproduzierenden zusammen:

422 | Interview vom 20.05.2014. 423 | Interview vom 22.05.2015. 424 | Interview vom 21.04.2015. Der Begriff der Konstellation wird im Interview explizit auf die Zusammenstellung von Produktionsensembles angewandt; zur Unterscheidung der beiden Praktikenkomplexe (erstens Ensemble-, zweitens Produktionsensemblezusammenstellung) halte ich ihn für äußerst produktiv, weil damit abstrahiert die relativ feste Struktur einer Ensemblekonfiguration von der eher dynamischen Gruppenkonstellation einer spezifischen Produktion abgegrenzt werden kann. 425 | Interview vom 20.05.2014. 426 | Interview vom 22.05.2015. 427 | Auf die unterschiedlichen Voraussetzungen von Ensemblekonfiguration versus spezifischer Konstellation in Produktionsensembles Bezug nehmend, kann zusammengefasst gesagt werden: »Also das Ensemble muss gut durchmischt sein. Was die Einzelnen in ihren Produktionen dann machen, ist ja wurscht.« (Interview vom 18.02.2015)

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Der Joker im Schauspiel »Also ich nehme mir sozusagen die Literatur oder das, was an Vorlage da ist – und das ist dann ein Erfahrungswert, wie Schauspieler oder Schauspielerinnen da verwendet werden. Ich versuche dem mit so einem Verteilsystem zu entsprechen.« 428

Folglich ist es ein dramatisches Dispositiv, welches über alle Stimmen hinweg den Raum des Möglichen im Feld des Stadttheaters – ausgehend vom Betriebssystem des Ensembles – in seine Schranken weist. Wie im einleitenden Teil dieser Arbeit dargelegt, ist dieses Dispositiv seit Beginn seiner Einrichtung im 18. Jahrhundert unmittelbar mit der Institutionalisierung eines bürgerlichen Geschlechterdispositivs verschränkt, welches bis heute den sozialen, sowohl theatral als auch alltäglich gerahmten Raum auf der Basis einer (kulturell kontingenten) Unterscheidungspraxis zwischen ›Frauen‹ und ›Männern‹, ›Damen‹ und ›Herren‹, ›weiblichen/unmännlichen‹ oder ›männlichen/unweiblichen‹ Eigenschaftsclustern, Tätigkeiten, Objekten und Artefakten a priori strukturiert. Dies bedeutet aber nicht, dass die Geschlechterdifferenz innerhalb eines solchen dramatischen Dispositivs nicht auch phasenweise ›vergessen‹ werden könnte,429 denn wie in der alltäglich gerahmten sozialen Interaktion »müssen wir [stattdessen] davon ausgehen, dass das Elementargeschehen der Geschlechtskonstruktion aus Episoden besteht, in denen das Geschlecht in sozialen Situationen auftaucht und verschwindet«430. Insbesondere im Spannungs- und Wechselverhältnis von sozialen Institutionen und Interaktionen offenbart sich hierbei »eine situative Pragmatik, ein[…] Gebrauch der Geschlechterunterscheidung im Kontext von institutionellen Zwängen, biographischen Konjunkturen, lokalen Gelegenheitsstrukturen und situationsspezifischen Gegebenheiten, in denen die Geschlechterdifferenz den Teilnehmern Sinn macht oder nicht.« 431

Mit diesen Erkenntnissen aus der Geschlechter- und Wissenssoziologie lässt sich nicht nur annehmen, sondern durch die durchgeführte ethnografische Forschung im Feld des Stadttheaters bestätigen, dass der mehrphasige und ästhetisch kontingente Prozess der Produktion von Kunst und Künstler/innen einen hohen Relativierungsgrad aufweist, der die Strukturkategorie Geschlecht theaterpraktisch in einem Kontinuum zwischen Stabilisierung und Ambiguierung einer bürgerlichen Geschlechterordnung verortet. Im abschließenden Teil der Arbeit werden solche durch die Relativierung von Geschlecht in Richtung einer Geschlechtsneutralisierung potentiell freigesetzten Handlungs- und Spielräume anhand der Theaterarbeit(en) des Theaterduos Vontobel/Schulz exemplarisch und episodisch nachgezeichnet. Jedoch verweist die in der Gliederung der Arbeit vorgenommene, analytische Unterscheidung auf das unumgehbare Paradox, dass Strukturen einer-

428 | Interview vom 22.05.2015. 429 | Zum »Vergessen des Geschlechts« siehe Hirschauer 2001. 430 | Hirschauer 2004, 23. 431 | Hirschauer 2004, 32. Anders formuliert: »Die für ein praxeologisches Verständnis von Geschlechtsdifferenzierung und -neutralisierung entscheidende Frage ist daher, ob die Teilnehmer die initiale Geschlechterunterscheidung im Verlauf von Begegnungen auch aktualisieren oder nicht.« (Hirschauer 2004, 24 [Herv. i. O.])

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem

seits häufig »unabhängig von der Relevanz des sozialen Sinns«432 fortbestehen und andererseits auf einen interaktiven Vollzug zum Zweck einer tatsächlichen Aktualisierung angewiesen sind. Im folgenden Unterkapitel soll es aus diesem Grund um die konkreten Verfahrensweisen der Funktionalisierung von Schauspieler/innen innerhalb der Ensemblekonfigurationen – also um die »Anschlussstellen von Praxis und Struktur«433 – gehen.

2.2.3.4 Funktionalisierung der Schauspieler/innen: Mannschaftsaufstellung Überdenkt man vor diesem Hintergrund die Aussagen und Handlungsrationalisierungen der Theaterproduzierenden, lässt sich die Verschränkung von programmatischem und pragmatischem Anspruch nicht mehr nur als Problemhorizont, sondern als handfestes Problem der Theaterpraxis des deutschen Sprechtheaters verstehen. Ich benutze hier bewusst den Begriff des Verstehens, weil es mir ausgehend von der ethnografischen Stoßrichtung meiner Arbeit zunächst um ein Einsehen und Erkennen der Bedingungen und Bedingungskonstellationen geht. Denn erst auf der Basis dieses Netzes – mit Bourdieu verstanden als »eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen«434 – ist nun eine Kritik an den erstmalig empirisch be- und hinterfragten (Ensemble-)Strukturen und den damit verbundenen Rationalisierungs- respektive Legitimierungsstrategien seitens der Theaterproduzierenden und -rezipierenden möglich. So hat die ethnografische Erforschung erst »den Raum der Kritik der sozialen Verhältnisse [eröffnet], denn es kann nun gezeigt werden, wie die objektiv vorliegenden sozialen Mechanismen und Bedingungen dazu führen, eben jenen praktisch inkorporierten ›Glauben ans Spiel‹ zu erzeugen, der am Grunde der performativen Magie liegt«. 435

Wie deutlich geworden ist, handelt es sich bei der Rede von ›Typen‹ nicht nur um eine objektivierende Bestimmung von leiblich-darstellenden und literarisch-fiktiven Typen, sondern auch um den Vorgang einer sozialen und ästhetischen (An-) Passung von Struktur und Subjekt. Hierbei ist die Metapher des ›Ensembles als Mannschaft‹ respektive Mannschaftsaufstellung zur Darstellung ihrer strukturellen Verknüpfung nicht zufällig gewählt. Denn wie die verantwortlichen Theaterpraktiker/innen selbst darlegen, gleichen Ensembles einer »Mannschaft«436 beziehungsweise einem »Team, in dem es verschiedene Aufgaben zu bewältigen gibt«437, und in dem jeder einzelne Spieler/jede einzelne Spielerin für einen bestimmten Zeitraum438 eine feste Position in Relation zur anderen einnimmt, »wie eine Fuß432 | Hirschauer 2004, 30. 433 | Hirschauer 2004, 30. 434 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 127. 435 | Volbers 2014, 58 [Herv. i. O]. 436 | Interview vom 22.09.2014, 12.01.2015 und 22.05.2015. 437 | Interview vom 22.09.2014. 438 | Neben Vertragslaufzeiten sind hier biografische Laufzeiten gemeint: Für Frauen stärker als für Männer gilt die Kopplung von (Spiel-)Alter und Rollenfach. Aus zweierlei Gründen sind Fachwechsel für Schauspielerinnen problematisch(er). Erstens weil sich das Stellenan-

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Der Joker im Schauspiel

ballmannschaft, die Sie sich hinstellen und sagen: Wer tut was miteinander?«439 Im Zuge der Analyse der Aussagen erscheint die Unterscheidung zwischen Team und Mannschaft zentral: Bezüglich ersterem geht es von Seiten der Verantwortlichen um eine soziale Binnendynamik innerhalb des Ensembles, das immer auch nach psychosozialen Faktoren wie »Harmonie«440 und ›Sympathie‹ zusammengestellt wird. Demgegenüber wird mit dem Begriff der Mannschaft stärker eine sowohl relationale als auch kategoriale Aufstellung aller Spieler/innen nach kanongemäßen Regeln erfasst: Interviewte Person: Also Sie können sich das so vorstellen: Es ist im Grunde wie eine Mannschaftsaufstellung, also wie eine Fußballmannschaftsaufstellung. Also Sie haben – gehen Sie, gehen Sie jetzt von der Zahl 10 aus, dann sind das quasi – zu –, also – Männer, – Frauen. Interviewerin: Gesetzt? Interviewte Person: Ja, weil – warum auch immer – die Weltliteratur ungerechterweise, leider Gottes, mehr Männerrollen zur Verfügung stellt als Frauenrollen. So. Jetzt haben Sie zehn Frauen und Sie haben 20 Männer. Und jetzt gehen Sie von oben nach unten durch. Das heißt, Sie haben … Sie wissen, dass Sie im Alter zwischen 25 … Zwischen 22 und 30 verlangt die Literatur in der Regel von Ihnen mehr Frauenrollen als im hohen Alter. Das heißt, Sie brauchen drei Frauen von 30, bis knapp 30. Ab 30 verengt sich die Auswahl der Rollen, also das Angebot der Rollen bei Frauen. Das ist wie ein Trichter. So. Dann brauchen Sie zwischen 30 und 40 zwei bis drei, dann brauchen Sie zwischen 40 und 50 eigentlich zwei. Und ab 50 aufwärts brauchen Sie eine und dann bräuchten Sie eigentlich noch eine ab 60 – die haben wir nicht. Und dann sind Sie ganz schnell bei diesen zehn Leuten. 441

Der hier in einem ersten Schritt schematisch dargelegte, nach Geschlecht und Alter strukturierte Auf bau wird in einem zweiten Schritt im Rahmen dieser Stellungnahme personalisiert: Jeder einzelnen Spielerin wird ihre Position innerhalb der geschlechtlich gemischten und altersmäßig gestuften Mannschaftsaufstellung zugewiesen. Ähnlich wird mit den männlichen Mitspielern verfahren, jedoch unter umgekehrtem Vorzeichen: »Da gibt es ein paar junge Helden und dann wird das aber eigentlich immer breiter«442, das Fachangebot also größer. Repräsentativ für die erläuterten Praktiken der befragten Theaterproduzent/innen lässt sich aus diesem Schema eine eindeutig strukturierte, normative, nach Geschlechts-, Ausstrahlungs- und Altersgraden differenzierte Matrix ableiten. Folglich erweist sich das Ensembletheater speziell in dieser sich selbst generierenden Phase der Produkgebot mit zunehmendem (Spiel-)Alter verengt und zweitens besonders der ›mädchenhafte‹ Typ am Körper haftenbleibt: »Ich kenne eine Schauspielerin, die hat bis 32 oder so die Mädchen gespielt. Hervorragend. Und da war … Irgendwann war Schluss mit Mädchenrollen. Und dann wurde es schwierig. Dann hat sie keinen Job mehr gekriegt. […] Sie [die mädchenhaften Typen] bringen natürlich schon etwas mit, was sie nicht verwandeln können.« (Interview vom 18.02.2015) 439 | Interview vom 12.01.2015. 440 | Interview vom 12.01.2015. 441 | Interview vom 12.01.2015. 442 | Interview vom 12.01.2015.

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem

tion von Kunst und Künstler/innen nicht als ein Ort der Repräsentation sozialer Wirklichkeit, sondern der Reproduktion sozialer Normierungen. Damit fungiert der Körper von Schauspieler/innen in der Vorbereitungsphase der Ensemble- beziehungsweise Mannschaftsaufstellung (und vermutlich bereits beim Einstieg in das Feld als Schauspielerschüler/in) nicht nur als ökonomisches Produktionsmittel, sondern aufgrund seiner Sichtbarkeit und Öffentlichkeit als genuin ästhetisches Kapital. Als nach Geschlechts- und Ausstrahlungsgraden differenzierte Körper nehmen sie im Kontext des Ensembles jeweils eine der zuvor aufgelisteten Positionen ein – im Sinne einer Funktion, die der jeweilige Akteur/ die jeweilige Akteurin besitzt und besetzt. Jedoch bilden nicht allein Geschlecht und Ausstrahlung die zentralen Regulationsmechanismen innerhalb dieser normativen Matrix, sondern schließen als relationale Kategorien weitere Normen ein oder nicht ins Schema respektive ins Bild passende Schauspieler/innen aus. So kann dies etwa bedeuten, »dass man sich so ärgert, wenn man jemanden total gut findet und der schon wieder nur 1,75m ist. Und man drei echt große Frauen im Ensemble hat und immer denkt – was ja auch klischiert ist aber egal – dass man den jetzt nicht als Romeo neben einer Julia besetzen kann, die eben auch 1,75m ist oder sowas. Das ist lächerlich, aber es ist irgendwie was, woran man denkt. Und gerade, wenn man wirklich so eine Tendenz dazu hat, wie es sie hier manchmal gab, immer lauter Jungs zu haben, die eher zierlich sind, freut man sich und ist glücklich, wenn man von diesen etwas stattlichen Männern auch noch den einen oder anderen kriegt.« 443

Die Rede ist hier nur sekundär von heterosexuellen Standards, sondern erneut von Geschlechtsnormierungen, die in Form von alltäglichen Paarbildungsnormen wie Größenunterschied (und meist erkennbarem Altersunterschied) als zwei ungleiche Geschlechtskörper zueinander vorgestellt und innerhalb des Ensembles relational konfiguriert werden. Durch die Interviews ist die Geschlechterdifferenz als eine Strukturkategorie innerhalb einer binär und komplementär organisierten Ensemblestruktur empirisch nachweisbar. In dieser Weise ist ›Geschlecht‹ hier zugleich als grundständig relationale Kategorie zu sehen, die von anderen und in Differenz zu anderen, sozial und ästhetisch differenzierten Körpern wahrgenommen und funktional eingesetzt wird. Was sich durch die vergleichende Untersuchung der Interviews, vor allem durch die Wiederholungen und Modulationen ähnlicher Sinnmuster – wie etwa die Metapher der Mannschaft beziehungsweise Mannschaftsaufstellung – im Gesamten darstellen lässt, ist die (Re-)Artikulation eines Spezialdiskurses. Erst dieser ermöglicht es den Theaterproduzent/innen, über die Körper und Köpfe der Schauspieler/innen hinweg zu kommunizieren und sich sowohl über subjektive Wahrnehmungen als auch quasi objektive, weil diskursivierte Qualitätskategorien zu verständigen. Dabei kommt den als Persönlichkeitsmerkmalen und Identitätskategorien beurteilten Geschlechts-, Ausstrahlungs- und damit verknüpften Altersgraden zwischen mädchenhaft auf der einen und proletenhaft auf der anderen Seite innerhalb der künstlerischen und wirtschaftlichen, von Angebot und Nachfrage abhängigen Praxis der Ensemblezusammenstellung eine

443 | Interview vom 03.07.2014.

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Der Joker im Schauspiel

doch überraschend zentrale Bedeutung zu: nämlich in ihrer funktionalen Dimension, individualisierende Marker und komplettierende Matrix zu sein. Im Zuge der Auswertung »am Material«444 der Interviews kann das Durchschnitts- oder »Stammensemble«445 – nicht zu verwechseln mit den Produktionsensembles, in denen stärker individualisierende Aspekte zum Tragen kommen – als eine kategoriale und relationale Konfiguration nach den Regeln des Kanons und der Konformität definiert werden. Dabei wird die Konformität, das heißt die Übereinstimmung mit der Norm, durch eine spezifische Konformitätserwartung erzeugt: durch »ein gemeinsames, von Schauspielern und Zuschauern geteiltes Wissen«446, wie es Erika Fischer-Lichte in Bezug auf das Rollenfach als »theatralische Konvention«447 sinnfällig herausgearbeitet hat. Denn in Anbetracht dieser Strukturierung und Funktionalisierung von Schauspieler/innen nach bestimmten Typen kann davon, dass sich »endgültig im Regietheater des 20. Jahrhunderts […] das Ordnungsprinzip Rollenfach als historisch überholt«448 erweise, wie ich bereits zu Beginn des zweiten Teiles das Theater-Lexikon von Henning Rischbieter zitiert habe, wohl nicht die Rede sein. Vielmehr ist Hans Doerrys funktionale Bestimmung des Rollenfachs aufzugreifen, welche besagt, dass ›das Fach‹ »eine künstlerische und eine wirtschaftliche Seite«449 habe. In der Verknüpfung dieser beiden Seiten liegt nicht nur latent, sondern persistent bis heute die Bedeutung des Rollenfachs im deutschen Stadttheatersystem begründet, indem eine Verlagerung respektive Einlagerung des Fachsystems in die Ensemblestruktur und das praktische Wissen der Produzierenden sowie Rezipierenden stattgefunden hat. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Ensemblestruktur – beeinflusst durch theatrale450 sowie soziale Konventionen wie die Passung von Kanon, Ensemble und deutscher Theaterkultur – einerseits einer Konformitätserwartung unterliegt, andererseits auch das für alle sozialen Konventionen und Zeichensysteme geltende Merkmal der Arbitrarität aufweist. Unter dieser Bedingung sind »Alternativen […] prinzipiell möglich«451. Folglich ist die – hier abstrahiert dargelegte – Ensemblestruktur für alternative Handlungsoptionen offen und für Transformationen der Norm anfällig. In der Praxis wissen Theatermacher/innen genau diese Möglichkeit zu nutzen, wenn auch nicht auf Ebene der Norm, so doch zumeist auf Ebene der Rede452 – etwa durch die normative Struktur unterbrechende Positio444 | Schmidt 1997, 544. 445 | Interview vom 22.09.2014. 446 | Fischer-Lichte 1990, 36. 447 | Fischer-Lichte 1990, 35. Vgl. insbesondere die Übertragung des sozialwissenschaftlichen Konventionsbegriffes auf die theatralische Konvention des Rollenfachs auf Ebene der Norm des theatralischen Codes, siehe Fischer-Lichte 1990, 36 und 43-46. 448 | Rischbieter 1983, 1082. 449 | Doerry 1926, 2. 450 | Der Begriff des Theatralischen ist von Fischer-Lichte aufgrund seiner umgangssprachlichen Bedeutung im Sinne affektierten Verhaltens im Laufe ihrer theatersemiotischen und später die Ästhetik des Performativen begründenden Forschung in den Begriff der Theatralität umgewandelt worden. 451 | Fischer-Lichte 1990, 36. 452 | Vgl. Fischer-Lichte 1983, 21-23. Aus theatersemiotischer Perspektive nimmt FischerLichte hier eine Differenzierung des theatralischen Codes in drei Ebenen vor: in die Ebene

Teil 2: Zum Ensemble-Prinzip als Betriebssystem

nierungen im künstlerischen Raum des Möglichen, wie im weiteren Verlauf am Beispiel der Schauspielerin Jana Schulz deutlich werden wird.

des Systems (hier verstanden als Ebene der Theoriebildung), der Norm (zur Rekonstruktion des historischen Eingebundenseins der theatralen Praktiken) und der Rede zum Zweck der Analyse eines konkreten Aufführungs- respektive Inszenierungstextes.

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Teil 3: Der Joker im Schauspiel Im dritten, die vorliegende Arbeit abschließenden Teil werden die historischen und empirischen Ergebnisse zum deutschen Stadt- und Ensembletheater als einer sozial und ästhetisch differenzierenden Re/produktionsmaschine auf ihre produktions- und rezeptionspraktischen Konsequenzen hin überprüft. Wie schon im ersten Hauptteil der Untersuchung stellt das Schauspielhaus Bochum den lokalen Untersuchungskontext dar. Stärker als zuvor rückt die nachfolgende Analyse jedoch die Theaterarbeiten zweier Akteur/innen als (von mir) ausgewählte Protagonist/innen sowohl der lokalen als auch der überregionalen Theaterszene in den Mittelpunkt der Betrachtung: Das »Theaterduo Vontobel/Schulz«1 – nach 13 gemeinsamen Produktionen verwundert es nicht, dass das Feuilleton die enge Arbeitsbeziehung zwischen Regisseur Roger Vontobel und Schauspielerin Jana Schulz geradezu als eine symbiotische ins Feld führt – bildet dabei den Ausgangs- und Referenzpunkt einer sowohl ethnografisch als auch theaterwissenschaftlich verfahrenden (Feld-) Forschung. Mit Blick auf die subjektivierenden und zugleich subversiven Effekte im Fall ›Schulz‹ widmet sich der dritte Teil hierbei den Besetzungs-, Proben-, Darstellungs-, Wahrnehmungs- und Beschreibungspraktiken der in diesen Prozessen Beteiligten, das heißt einem ganzen Praktikenkomplex, der in seiner Gesamtheit und insbesondere seiner Verschränktheit das Theatermachen als eine soziale und ästhetische Praxis konstituiert. Wie stark (die Publikumserfolge von) Schauspieler/innen auch im öffentlichen Diskurs einerseits jenem theaterpraktischen Wissen um notwendige ›Typen‹ im Ensemble, andererseits jenen alltagspraktischen »kognitiven Bezugnahmen«2 auf (soziale und ästhetische) Kategorien unterliegen, sollen exemplarisch und den Analyserahmen absteckend zwei Rezensionsausschnitte zeigen. Gemeinsamer Gegenstand der Theaterkritiken ist die am 09. November 2014 erfolgte Premiere von Roger Vontobels Inszenierung Einsame Menschen am Schauspielhaus Bochum, in welcher Jana Schulz die Hauptmann’sche Figur der Käthe Vockerat neben ihren Kolleg/innen Paul Herwig (Johannes Vockerat), Katharina Linder (Frau Vockerat), Michael Schütz und nach Umbesetzung Werner Strenger (Vockerat), Felix Rech (Braun), Therese Dörr (Anna Mahr), Thomas Möwes und Matthias Herrmann (Bühnensänger und -musiker) darstellt. Beiden Premierenkritiken gemein ist eine starke Ausrichtung auf den inhaltlichen Gehalt sowohl des 1890 verfassten Theaterstückes von Gerhart Hauptmann als auch seiner zeitgenössischen Umsetzung 1 | Exemplarisch Thelen 2013 und Trilling 2014. 2 | Goffman (1994) [1982], 63.

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Der Joker im Schauspiel

in Vontobels Inszenierung, obgleich bereits die Artikelüberschriften unterschiedliche Schwerpunkte setzen. So fokussiert Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung die »Liebesgefahr für ein Ehepaar«3, wohingegen Anke Dürr von der Spiegel Online-Redaktion mit ihrer Sicht auf das »Familiendrama im Theater«4 die durch das Neugeborene entstandene Dreierbeziehung – anstelle der Zweier- respektive Paarbeziehung – forciert. Trotz oder gerade aufgrund dieser Kontextualisierungen des Stückes ist die daran anschließende Zentrierung auf »Jana Schulz als Käthe«5 bemerkenswert. Krumbholz, der des Weiteren konsequent die Dreiecksbeziehung zwischen den Figuren Käthe, Johannes Vockerat und Anna Mahr thematisiert, schreibt am 14.11.2014 (eventuell auch als Reaktion auf die nachfolgend noch zu zitierende Theaterkritik seiner Kollegin): »Dem Bochumer Hausregisseur Roger Vontobel genügen zwei durchdachte Schachzüge, um die Partie – geradezu triumphal – für sich zu entscheiden. Erstens entwickelt er das ganze Drama aus der anfänglichen Tauffeier heraus. […] Zweitens, und dieser Coup ist fast noch verblüffender: Die Vontobel-Protagonistin Jana Schulz spielt nicht etwa die dankbare Rolle der Anna Mahr, sondern die schwierige der dauerleidenden Käthe. Und mehr als in ihren vielen Paraderollen beweist Jana Schulz ausgerechnet hier, in der scheinbar so penetranten Engführung eines Heimchens am Herd, was für eine große Schauspielerin sie ist. Denn so wenig das Textmaterial für diese unterwürfige Figur hergibt, so viel muss die Darstellerin investieren, um eben diesen Menschen gegen den Anschein der Überflüssigkeit ins Recht zu setzen. Mit unaufdringlichen Mitteln, kleinen Gesten, nervösen Blicken gelingt Jana Schulz dies großartig.« 6

Neben dieser positiv gestimmten Einschätzung der ›Vontobel-Protagonistin‹, das heißt der Leistung von Schauspielerin und zugleich Regie, liest sich die wenige Tage zuvor am 10.11.2014 online veröffentlichte Rezension von Anke Dürr geradezu als ein Verriss jener schauspielerischen und inszenatorischen Arbeit, welchem (zumindest) alle weiteren Akteur/innen entgehen: »Jana Schulz als Käthe ist, das muss man leider so sagen, eine Fehlbesetzung. Dass ihre Körpersprache, angefangen bei der Sitzhaltung, so gar nicht zu dem Etuikleid passt, in das man sie gesteckt hat, ist nur eine Ungenauigkeit. Aber sie vermittelt auch kaum etwas von dem Leiden der depressiven, überängstlichen Mutter, eher vom Fremdeln mit der Rolle. Schulz hat sich für Vontobel schon oft in körperlich extrem herausfordernde Rollen gestürzt. Umso un3 | Krumbholz 2014. 4 | Dürr 2014. 5 | Dürr 2014. 6 | Krumbholz 2014. Neben der Besetzung von Jana Schulz hebt Krumbholz ebenfalls das »Bühnen-Setting« positiv hervor: »Die fünf Figuren des inneren Zirkels (Vater und Mutter Vockerat, Johannes, die Schwiegertochter und Freund Braun) sitzen auf Stühlen dem [Musiker-] Duo gegenüber, dann beginnt die Drehbühne sanft zu rotieren und hört damit nicht mehr auf. Die Zuschauer haben in zwei Blöcken auf beiden Seiten der Spielfläche ihre Plätze (das Bühnen-Setting hat Vontobel selbst entworfen, die Kostüme stammen von Tina Kloempken). So entsteht eine Laborsituation, die aber nichts Akademisches hat, die im Gegenteil durch winzige Verfremdungstricks bereichert wird – etwa wenn der Sänger das Geschrei des Babys imitiert, das unvermittelt in ein fröhliches Liedchen übergeht.«

Teil 3: Der Joker im Schauspiel verständlicher ist es, warum er sie hier so allein lässt. Dem Regisseur scheint zur Figur nichts einzufallen, außer sie ständig mit steinerner Miene und eingezogenem Kopf ins Abseits zu stellen.« 7

Die Besetzung der Käthe Vockerat mit Jana Schulz überrascht die beiden Fachkritiker/innen8 – im Negativen, wie Dürr vermittelt, in deren Perspektive die Schauspielerin nicht recht (wie schon nicht in das Etuikleid) zur Figur der Käthe zu ›passen‹ scheint; im Positiven der Ansicht Krumbholz’ nach, der durch Schulz’ ›unaufdringliches Spiel‹ – gerade im Kontrast zu ihren ›Paraderollen‹, die Dürr in obigem Zitat als ›körperlich extrem herausfordernde Rollen‹ spezifiziert – eine nicht nur überzeugende, sondern die Hauptmann’sche Frauen-Figur gar aufwertende Darstellung sieht. Beide professionellen, durch ihre Berufs- und Seherfahrung mit einem theaterpraktischen (Mehr-)Wissen ausgestatteten Zuschauer/innen rekurrieren in ihren Beschreibungen und Bewertungen – und das ist ein auffallendes Indiz – nicht auf die Rezeptionsgeschichte von Stück und Figur, sondern auf die Rollengeschichte respektive das Rollenprofil der Schauspielerin. »Haunted«9, das heißt von »Vorwissen und früheren Erfahrungen«10 eines kulturellen und kollektiven Gedächtnisses heimgesucht, werden demnach nicht nur kanonisierte, literarische Figuren, sondern gemeinsam mit ihnen und durch sie hindurch ebenso jene Bühnen- und insbesondere Charakterdarsteller/innen wie Jana Schulz, die nicht nur in einem lokalen, sondern auch spezifisch (theater-)kulturellen Kontext verortet sind. Für eine kulturwissenschaftlich orientierte, theaterhistoriografische Forschung hat Peter W. Marx bereits in überzeugender Weise die konstitutive Verbindung von ästhetischem Produkt und kulturellem Kontext im »Erscheinen der Figur auf der Bühne«11 des 19. Jahrhunderts nachgewiesen, indem er die Theatertheorie Marvin Carlsons, die Theorie der visual culture von Nicholas Mirzoeff und die Ethnologie des kulturell Imaginären von Arjun Appadurai für die Analyse von literarischen Figuren in Verbindung mit ihrem Erscheinen als Bühnenfiguren zur Anwendung gebracht hat.12 Die Bühnenfigur – mit Marx verstanden als »eine ›Mischung‹ aus literarischer Figur (sprachlichem Text) und Darsteller (Visualität, stimmliche Qua7 | Dürr 2014. Im Gegensatz zu Krumbholz nimmt Dürr im Anschluss an die oben zitierte Textpassage konsequent negativ auf das räumliche Arrangement Bezug: »Vontobel scheint sich ohnehin mehr für sein Konzept als für die Beziehung zwischen den Figuren interessiert zu haben. Das Publikum sitzt bei ihm zu beiden Seiten der Scheibe, auf die er die Schauspieler verbannt hat. Das soll Nähe und Unmittelbarkeit herstellen und natürlich zeigen, dass das Leute aus unserer bürgerlichen Mitte sind, die da um ihre Kleinfamilie kämpfen (und um sich selbst kreisen). Weil sich die Scheibe dreht, damit keine Zuschauerseite nur die Rücken sieht, scheinen die Schauspieler allerdings nie so recht zu wissen, in welche Richtung sie jetzt überhaupt spielen sollen.« 8 | Ähnlich kontrovers, jedoch stets die Schauspielerin zentrierend, beschreiben die übrigen neun, in lokalen sowie überregionalen Tageszeitungen, Fachzeitschriften und Online-Magazinen erschienenen Kritiken die Inszenierung des ›Theaterduos Vontobel/Schulz‹. 9 | Carlson 2003, 15. 10 | Marx 2008, 54. 11 | Marx 2008, 55. 12 | Siehe insbesondere die Analysen zu »Tell, Nathan und Shylock«, Marx 2008, 51-202.

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Der Joker im Schauspiel

lität, Bewegungen etc.)«13 – nimmt hierbei eine genuin »kulturelle Position«14 ein, weil sie »als Subjekt kultureller Zirkulation«15 kulturelles Wissen sowie kulturell Imaginäres bündelt: »Die kanonische Figur und die Bühnenfigur stehen nicht allein in einem Wechsel-, sondern stets auch in einem latenten Spannungsverhältnis. Die Bühnenfigur inkorporiert die Spannung zwischen den Erwartungen und Vorstellungen, wie sie im kollektiven Imaginären vorgebildet sind, und dem konkreten ästhetischen Akt der besonderen Theaterinszenierung.«16

Innerhalb seines heuristischen Analysemodells beziehungsweise Analysedreiecks aus literarischer Figur, Persona17 des Schauspielers/der Schauspielerin und Imaginärem18 vergleicht Marx nun die vor einem Publikum öffentlich dargestellte und in ihrer Sichtbarkeit wahrnehmbare Bühnenfigur mit einem »visuellen Subjekt«19, welches Mirzoeff folgendermaßen definiert: »By the visual subject, I mean a person who is both constituted as an agent of sight […] and as the effect of a series of categories of visual subjectivity.« 20

Das visuelle respektive sichtbare Subjekt in der Definition Mirzoeffs meint demgemäß einen ›sozialen Akteur‹, welcher einerseits selbst Zeichen re/produziert und rezipiert, sich andererseits als Effekt von visuell wahrnehmbaren Kategorisierungen respektive Unterscheidungen (»effect of a series of categories of visual subjectivity«) überhaupt erst konstituiert. Das visuelle/sichtbare Subjekt nach Mirzoeff und der kulturtheoretische, dem Poststrukturalismus nahestehende Subjektbegriff, wie ich ihn im Theorieteil meiner Arbeit in Anlehnung an Foucault, Butler und Reckwitz dargelegt habe, gründen demnach auf derselben (etymologischen) Verfasstheit des subiectum, nämlich selbstkonstituierend und zugleich prädeterminiert zu sein: Selbstkonstituierend ist das (visuelle) Subjekt, weil es Körper und Identitäten durch performative, sprachliche sowie nicht-sprachliche Akte im Sinne einer zitatförmigen, »stilisierte[n] Wiederholung«21 re/produziert, das heißt im doppeldeutigen, Butler’schen Sinne einerseits affirmiert, andererseits potentiell subvertiert; prädeterminiert ist es, weil es als genuin soziales und sichtbares Subjekt in einem historisch und lokal spezifischen, kulturellen Kontext durch mediale,

13 | Marx 2008, 53. 14 | Marx 2008, 56. 15 | Marx 2008, 56. 16 | Marx 2008, 53. 17 | Carlson 2003, 52-95. 18 | Mit Arjun Appadurai versteht Marx das Imaginäre »als Bestandteil kultureller und sozialer Realität, weil sich im Rahmen bzw. unter Rückgriff auf diesen Bilderfundus Denken und Handeln vollzieht« (Marx 2008, 32). 19 | Mirzoeff zitiert nach Marx 2008, 55. 20 | Mirzoeff zitiert nach Marx 2008, 55. 21 | Butler 1991 [1990], 206 [Herv. i.O.].

Teil 3: Der Joker im Schauspiel

textuelle und visuelle Diskurse22 und Normalitätsdispositive23, durch soziale Institutionen und gesellschaftliche Strukturen24 immer schon in bestimmten sozialen und ästhetischen Kategorien wahrgenommen, das heißt als etwas (in Differenz zu etwas anderem) gesehen und identifiziert wird. Mit dem Begriff des visuellen Subjekts führt der Kunsttheoretiker Mirzoeff hierbei klar vor Augen (weit klarer noch als die genannten Kulturtheoretiker/innen und Kultursoziolog/innen25), dass und inwiefern Subjekte sichtbar sind: »For visual culture, visibility is not so simple. Its object of study is precisely the entities that come into being at the points of intersection of visibility with social power.« 26

In ihrer Sichtbarkeit werden Subjekte nicht nur in Interaktionen und sozialen Institutionen sinn- und ordnungsstiftend integriert, sondern zwangsläufig in mediale, visuelle und ästhetische Diskurse involviert. Dabei unterliegen sie nicht nur sozialen Identitätskategorien wie gender, race oder ethnicity, sondern auch ästhetischen Kategorisierungen des Weiblichen, des Männlichen, des Androgynen sowie des Normalen, Abweichenden, Schönen oder/und Hässlichen.27 Das Theater (theatron) als Ort des Schauens stellt sich insbesondere in einem kulturellen Kontext, der mit Reckwitz als »›ästhetischer Kapitalismus‹ der Gegenwart«28 betrachtet werden kann, als ein paradigmatischer (Untersuchungs-)Raum für eine kulturwissenschaftliche Analyse sichtbarer sozialer Subjekte und ihrer Normierungen respektive Differenzierungen dar. Die an diesem Ort und innerhalb des Feldes exemplarisch vollzogenen und eingeübten ästhetischen Praktiken der Darstellung und Wahrnehmung sind hierbei selbst Ausdruck der visual culture und Teil einer ästhetisierten Kultur. Im Rahmen seiner theaterhistoriografischen Forschung hat Peter W. Marx auf genau diese Involviertheit des Theaters in einen historisch und lokal spezifischen,

22 | Vgl. Reckwitz 2011, 54. 23 | Vgl. das Kapitel »(Normalitäts-)Dispositive und (Human-)Differenzierung« im Theorieteil der vorliegenden Arbeit. 24 | Als Strukturkategorie fungiert die Geschlechterdifferenz etwa noch immer als Katalysator einer bürgerlich geprägten Geschlechterordnung, die gesellschaftliche Bereiche wie Familie und/oder Erwerbsarbeit nach Geschlecht differenzieren und strukturieren, vgl. exemplarisch Aulenbacher 2008, 139-166. 25 | Reckwitz postuliert in jedem Fall eine »Soziologie des Ästhetischen« und befasst sich stark mit medialen und visuellen Diskursen, jedoch geht es ihm mehr um historische Zeiträume, Diskursformationen und Subjektformen als um Personen, vgl. Reckwitz 2008c, 259280; und auch Hirschauers (Gender-)Theorie sieht von Personen ab, um Situationen und Kontexte zu fokussieren, sodass die »kulturell garantierte Sichtbarkeit« (Hirschauer 2004, 23; Herv. i. O.) der Geschlechtszugehörigkeit als eine Darstellungs- und Wahrnehmungsroutine im praktischen Wissen analytisch untergeht und machtanalytisch erst gar nicht mehr in den Blick gerät. 26 | Mirzoeff zitiert nach Marx 2008, 33. 27 | Vgl. den von Paula-Irene Villa herausgegebenen Sammelband schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst, vgl. Villa 2008. 28 | Reckwitz 2012, 11.

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Der Joker im Schauspiel

kulturellen Kontext und auf die Aufführung als kulturellen Akt aufmerksam gemacht, jedoch ausschließlich in Bezug auf die Bühnenfigur: »Das Sehen der Figur ist ein Akt kultureller Wahrnehmung, ein Produkt des theatralen Arbeitsprozesses, an dem Darsteller, Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner etc. ihren Anteil haben. Wichtig ist es in diesem Kontext festzuhalten, dass diese Eigenschaft nicht an eine spezifische Ästhetik oder Programmatik gebunden, sondern in der kulturellen Position von Theater begründet ist, denn das Sehen eignet der Figur auch dann, wenn sie sich gegenüber der Gegenwart der Zuschauer zu verweigern sucht.« 29

Betrachtet man nun aber die einleitend zitierten Ausschnitte aus den Theaterkritiken und deren Verweisstruktur – sowohl in Bezug auf kulturelle Geschlechtsrollenbilder (wie etwa das »der depressiven, überängstlichen Mutter«30) als auch hinsichtlich früherer (subjektiver) Aufführungserfahrungen mit jener von ihren »Paraderollen«31 quasi ›heimgesuchten‹ Schauspielerin, dann werden nicht nur Bühnenfiguren, sondern unmittelbarer noch als diese die sozial, kulturell und ästhetisch sichtbaren Körper von Schauspieler/innen als visuelle Subjekte im Sinne Mirzoeffs wahrgenommen. Folglich lässt sich Marx’ historiografischer Analyseansatz auf eine zeitgenössische (Subjekt-)Analyse von Schauspieler/innen im Spannungsfeld zwischen realer Person, fiktiver Figur und (theater-)kulturellem Wissen beziehungsweise Imaginärem übertragen.32 Dabei sollen Schauspieler/innen im Folgenden besonders in der Doppeldeutigkeit des Subjekt-Begriffes betrachtet und untersucht werden, das heißt einerseits als von anderen wahrgenommene, soziale und sichtbare Subjekte, andererseits als selbsttätige kulturelle ›Agenten‹ – eine Perspektive, wie sie grundständig von Friedemann Kreuder mit seiner Sicht auf »Schauspieler_innen als Ethnograph_innen«33 vorbereitet und im Fokus von »Un/ doing Differences – Theaterwissenschaft als Differenzforschung«34 in die deutschsprachige Theaterwissenschaft eingeführt worden ist. Im konkreten Fall der Schauspielerin Jana Schulz scheint nun in ihrem berufsbiografischen Lauf geradezu eine Verschmelzung (Blending) zwischen der Schauspielerin und ihren Figuren stattgefunden zu haben. Der Prozess des Blending wird im Rahmen meiner Arbeit sowohl als ein Rezeptions- als auch ein Produktionsphänomen beschrieben, wie es eher aus der Filmbranche in Fällen von sogenannten Charakterdarsteller/innen bekannt ist. Beispiele hierfür sind Tilda Swinton oder Hilary Swank oder auch der irische Schauspieler Peter O’Toole, mit dem Jana Schulz im Rahmen einer Zuschauerbefragung wohl nicht zufällig – betrachtet 29 | Marx 2008, 55. 30 | Dürr 2014. 31 | Krumbholz 2014. 32 | Ebenfalls theaterhistoriografisch, aber mit Fokus auf Die ›Persona‹ der Virtuosin Eleonora Duse im Kulturwandel Berlins in den 1890er-Jahren hat Stefanie Watzka einen solchen Weg vorbereitet, vgl. Watzka 2012. Ihr bin ich an dieser Stelle zu größtem Dank verpflichtet, da sie mich als Kollegin und Freundin nicht nur in den Anfängen des Forschungsvorhabens begleitet, sondern auch zur Auseinandersetzung mit dem Theaterduo Vontobel/Schulz inspiriert hat. 33 | Kreuder 2016, 539-550. 34 | Kreuder 2014b, 63-70.

Teil 3: Der Joker im Schauspiel

man die von ihr bislang dargestellten, einerseits gebrochenen, andererseits starken Held/innen – verglichen worden ist.35 Wie die kurzen Passagen aus den Theaterkritiken zeigen, wird durch das Verschmelzen und Überblenden der Schauspielerin mit ihren Figuren nicht nur eine schwer kündbare Beziehungsgeschichte36 (parallel auch zu Regisseur Vontobel), sondern auch ein Erwartungshorizont hinsichtlich der Figurendarstellung aufgebaut. Der Frage nach den produktionsspezifischen (Vor-)Bedingungen und dem rezeptionsästhetischen Effekt dieses Blending von fiktiven Figuren und realer Person wird in den nachfolgenden Analysen der einzelnen Phasen des Theatermachens eine besondere Gewichtung beigemessen, und zwar aufgrund folgender Annahme: Im Fall ›Schulz‹ (wie vermutlich in ähnlicher Weise auch im Fall der oben genannten Filmschauspieler/innen) geht das allmähliche Verschmelzen von Schauspielerin und Figur(en) unmittelbar mit einem Genderblending – sowohl im Spannungsfeld zwischen Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung als auch zwischen theatraler und alltäglicher (Gender-)Performance – einher.37 Genderblending wird hierbei in Anlehnung an Aaron H. Devor als Vermischung/Verwischung/ Veruneindeutigung eines naturalisierten, geschlechtsdifferenziert inkorporierten Rollenskriptes verstanden.38 Die Verknüpfung von (längerfristigem) Blending und (rahmen- sowie rollenabhängigem) Genderblending im Fall ›Schulz‹ potenziert dabei rezeptionsästhetisch die besondere Ausstrahlung der Schauspielerin (und umgekehrt den Blend-Effekt) und rekurriert produktionsästhetisch auf jenem im Stadt- und Ensembletheater re/produzierten Spannungsverhältnis zwischen »Besetzung nach Individualität«39 und dem »Prinzip der Fachbesetzung«40 – so die These dieses dritten und die Arbeit abrundenden Teiles, welcher es im Folgenden 35 | Die genannte Zuschauerbefragung wird in Unterkapitel 3.1.5.2 kontextualisiert und anhand des gewonnenen Datenmaterials ausgewertet werden. 36 | Für diese Analogie aus dem Kontext der (soziologischen) Paarforschung danke ich Stefan Hirschauer. 37 | Diese Annahme kann sich auf einige wenige Artikel stützen. So ist die Schauspielerin und Privatperson Jana Schulz in den letzten Jahren immer wieder in diese Richtung, also im Sinne eines Genderblending porträtiert worden, jedoch ausschließlich im Rahmen von kurzen Porträts oder Interviews in Theaterfachzeitschriften, Online-Magazinen oder Spielzeitheften, nicht jedoch im Kontext einer umfassenden Untersuchung (siehe Behrendt 2008, 60-64, Rusche/Schreiber 2009, Wilink 2015, 50-52). Eine Ausnahme bildet ein kurzer Verweis auf Jana Schulz innerhalb einer theaterhistorischen Zusammenschau zur »Geschichte der Hosenrolle auf dem Theater« (siehe de Ponte 2013, 208) sowie drei, von mir bereits zu Einzelaspekten dieses Themas veröffentlichte Aufsätze (siehe Koban 2014, 2015 und 2016). 38 | In seiner soziologischen, auf explorativen Interviews basierenden Studie beschreibt Devor die Geschlechtsdarstellung von sogenannten gender blenders oder gender blending people, als welche sie eher von anderen wahrgenommen werden, als dass sie sich in dieser Weise selbst kategorisieren, wie folgt: »Their gender role patterns incorporate elements which come from both the standard masculine gender role and the standard feminine gender role. They mix these characteristics in such a way that people who do not know them personally often, but not always, mistakenly attribute them with membership in a gender with which the gender blenders themselves do not identify […]« (Devor 1989, viii). 39 | Doerry 1926, 65. 40 | Doerry 1926, 65.

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mit Beachtung der diversen, an diesem Prozess beteiligten (Ko-)Akteur/innen und Praktiken (den verschiedenen Phasen im Produktionsablauf des Theatermachens folgend) nachzugehen gilt. Der Fall ›Schulz‹ stellt im Rahmen dieser Arbeit folglich einen exemplarischen Fall dar, an welchem das Zusammenspiel von Besetzungs-, Proben-, Darstellungs-, Wahrnehmungs- und Beschreibungspraktiken mit Blick auf Schauspieler/innen als sichtbare soziale Subjekte sowie als kulturelle Agenten untersucht werden kann. Als quasi hauptverantwortlicher Ko-Akteur wird hierbei der am Bochumer Schauspielhaus langjährig tätige Hausregisseur Roger Vontobel betrachtet, welcher gemeinsam mit Jana Schulz – nicht nur von einer lokalen, sondern auch überregionalen Presse – gemeinhin in Bochum situiert wird. Da beide Künstler/ innen indessen dort wohnhaft sind und für eine (oder mehrere) Produktion(en) pro Spielzeit am Schauspielhaus Bochum unter der Intendanz von Anselm Weber (Spielzeit 2010/2011 bis 2016/2017) arbeiten, lässt sich diese lokale und künstlerische Anbindung durchaus nachvollziehen. Zugleich gehen Vontobel und Schulz seit ihrer parallelen Ausbildungszeit an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater (heute: Theaterakademie Hamburg)41 und seit den Erstengagements und Zusammenarbeiten am dortigen Schauspielhaus42 ihre eigenen Wege. So bewegt sich der 1977 geborene, in Zürich und Johannesburg aufgewachsene Regisseur seit 15 Jahren freischaffend zwischen den ›Theaterhochburgen‹ in Hamburg, München, Frankfurt, Dresden, Düsseldorf, Berlin, Köln, Bochum oder auch im europäischen Ausland (2012 in Paris, 2015 in Kopenhagen) hin und her,43 nachdem er unter anderem als Schauspielschüler bereits in seinen Ausbildungsjahren das nordamerikanische Theatersystem44 und die internationale freie Szene45 kennengelernt hat. Auch Jana Schulz ist nach ihrem Festengagement am Schauspielhaus Hamburg als freie Schauspielerin (über die Agentur Gottschalk & Behrens) ›anzuwerben‹46 und an verschiedenen Theaterhäusern, in unterschiedlichen Regie-Handschriften und zudem in anderen Sparten zu sehen – etwa an den Münchner Kammerspie41 | Schulz absolviert hier zwischen 1999 und 2003 ihre Schauspielausbildung, Vontobel studiert in der Hamburger Hochschule von 2001 bis 2005 Schauspielregie; in diesem Kontext entsteht ihr erstes gemeinsames Projekt [fi’lo:tas], auf das in Unterkapitel 3.1.4 Bezug genommen wird. 42 | In den Jahren zwischen 2002 und 2010 hat Jana Schulz am Schauspielhaus Hamburg in insgesamt 23 Inszenierungen mitgespielt, in sieben davon (also fast in einem Drittel) hat Roger Vontobel Regie geführt. 43 | In der Spielzeit 2015/2016 hat Vontobel an der Staatsoper Hamburg mit Guillaume Tell von Gioacchino Rossini zudem seine erste Oper inszeniert. 44 | Noch vor seiner Regieausbildung studiert Vontobel zwischen 1998 und 2001 Schauspiel an der American Academy of Dramatic Arts in New York und Pasadena. 45 | Während des Regiestudiums an der Theaterakademie Hamburg gründet Vontobel 2002 die freie Gruppe VONTOBELhamburg, deren erste Arbeit [fi’lo:tas] – ein Monolog mit Jana Schulz in der Hauptrolle – in den darauffolgenden Jahren zu renommierten Festivals des freien Theaters, wie zum Festival Impulse in Nordrhein-Westfalen und dem Edinburgher Fringe-Festival, eingeladen wird. 46 | Wie die meisten privaten Künstler/innen-Agenturen vermitteln auch »Gottschalk & Behrens« Film- und Fernsehrollen; neben kleineren Fernsehrollen hat Schulz 2013 zudem in dem Film Art Girls von Robert Bramkamp neben Inga Busch und Peter Lohmeyer mitgewirkt.

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len, wo sie zwischen 2011 und 2015 in der Macbeth-Inszenierung von Karin Henkel die männliche Titelrolle verkörperte,47 oder in Zusammenarbeit mit der Theaterund Opernregisseurin Anna Bergmann, die sie 2015 als Alter Ego der weiblichen Hauptrolle Mimi in der Oper La Bohème im Staatstheater Karlsruhe besetzte. Und auch am Schauspielhaus Bochum ist sie jüngst nicht mehr allein im Duett mit Vontobel anzutreffen, sondern auch in ganz neuen Konstellationen: In der Spielzeit 2014/2015 spielte sie unter der Regie von Lisa Nielebock in einer Bühnenadaption des Romans Hiob die Figur des Menuchim und stellte in der darauffolgenden Spielzeit in Jan Klatas Produktion Verbrechen und Strafe die Hauptrolle des Raskolnikow dar. Diese Auswahl der von Schulz in den letzten Spielzeiten dargestellten Figuren zeigt auf einen Blick bereits eines, nämlich ihre Figurenvielfalt über Sparten- und Geschlechtergrenzen hinweg. Um die theaterpraktischen, schauspielerischen sowie persönlichen (Vor-)Bedingungen ihrer einerseits als vielfältig wahrgenommenen, andererseits genderspezifisch rezipierten Selbst- und Fremddarstellung soll es in den folgenden Kapiteln gehen. So hat sich trotz aller Unabhängigkeit beider Theaterschaffenden im öffentlichen Diskurs des deutschen Stadttheaters in den letzten Jahren neben dem Image hinsichtlich der Persona der Schauspielerin ein weiteres Image bezüglich des Theaterduos etabliert, welches auf den jeweils anderen Part rekurriert.48 Die nachfolgende Feld-/Subjekt-Analyse macht sich den Spezialdiskurs und das in ihm zirkulierende, (theater-)kulturelle sowie elementare Wissen zunutze und untersucht sowohl rezeptionsästhetisch als auch produktionspraktisch jenes (Gender-)Blending, welches Jana Schulz als eine ›Charakterdarstellerin‹ des deutschen (Stadt-)Theaters in besonderer Weise subjektiviert. Der Fokus des ersten Kapitels zum »Tatort Bochum« (Kapitel 3.1) liegt hierbei auf der Empirie, derjenige des zweiten zur symbolischen Position des Jokers im Ensemble (Kapitel 3.2) auf einer Reflexion der Sonderposition. Nichtsdestoweniger werden auch innerhalb der empirischen Feldforschung, welche nah an die Akteur/innen, Theaterproduzierenden, -rezipierenden und deren Praktiken ›heranzoomt‹, im Sinne des ethnografischen Stils des Entdeckens und der oszillierenden Wissensgenerierung mehrere (theoriebasierte) Reflektionsebenen eingezogen.49 Da die einzelnen Unterkapitel dabei den verschiedenen Phasen des Theatermachens folgen (von der (Besetzungs-)Idee über Proben bis hin zur Aufführung und Rezeption) und dementsprechend auf unterschiedlichen empirischen Untersuchungsmaterialien basieren, zeichnet sich jede dieser Einzelstudien auf je eigene Art durch einen oszillierenden, zwischen Beobachtungen/Beschreibungen und Analysen/Reflektionen wechselnden Forschungsprozess aus. Aufgrund der institutionellen Verschränktheit des Praktikenkomplexes, welcher Theater als eine soziale und ästhetische Praxis konstituiert, beziehen sich hierbei nicht nur die einzelnen Unterkapitel stark aufeinander: Auch 47 | Mit Karin Henkel verbindet sie ebenfalls eine lang jährige, in Hamburg begonnene Zusammenarbeit: 2007 spielt Schulz in Henkels Inszenierung der Komödie der Verführung die Rolle der Aurelie, noch im selben Jahr unter ihrer Regie den Major von Tellheim und 2009 die Rolle der Elisabeth in Henkels Inszenierung von Glaube Liebe Hoffnung. 48 | Die enge Zusammenarbeit nicht nur mit Jana Schulz, sondern auch mit den beiden Schauspielern Paul Herwig und Werner Wölbern betonend, vgl. Bos 2015. 49 | Vgl. Breidenstein et al. 2013, 109-176; vgl. auch das Forschungsdesign im einführenden Teil der vorliegenden Arbeit.

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innerhalb der einzelnen Phasen respektive Unterkapitel werden vor allem deren Interferenzen untersucht. Insofern folgt meine Analyse nicht streng, sondern eher frei und relational den Produktions- und Rezeptionsprozessen im Feld des Stadttheaters. Da sowohl das ethnografische Arbeiten als auch die empirische Feldforschung bis auf wenige Ausnahmen noch weitestgehend unerprobt im akademischen Feld der Theaterwissenschaft sind,50 macht die hier präsentierte Studie zur Theaterarbeit des Duos Vontobel/Schulz ein Angebot in zwei Richtungen: Zum einen versucht sie ethnografisches und empirisches Arbeiten für eine kultur- und differenzierungstheoretisch interessierte Theaterwissenschaft fruchtbar zu machen, indem sie neue Zugänge zu Aufführungen und deren Analyse ermöglicht. Zum anderen sollen (umgekehrt) aber auch theatrale und insbesondere ästhetische Praktiken für eine kultur- und körpertheoretisch interessierte Sozialwissenschaft erschlossen werden.51 Wie oben angedeutet, wird das zweite Kapitel »Der Joker – eine symbolische Position?« die empirischen Ergebnisse abschließend theater- und kulturtheoretisch rahmen.

3.1 Tatort B ochum Das vollständige Kapitel 3.1 zum Tatort Bochum, an welchem unter der Intendanz von Anselm Weber neben einer Vielzahl künstlerisch, technisch oder anderweitig Mitarbeitenden52 das Theaterduo Vontobel/Schulz eine wichtige Rolle spielt, ist als empirische Theater- und Feldforschung konzipiert. Methodisch gründet mein Vorgehen hierbei im Wesentlichen auf einem ethnografischen Forschungsstil der Beobachtung und Befragung von darstellenden Akteur/innen, Theaterproduzent/ 50 | Eine Ausnahme bildet die ethnografische Untersuchung von Stefanie Husel zur »Aufführungspraxis der britischen Kompanie ›Forced Entertainment‹«, die auch innerhalb des Forschungsstandes der Einleitung bereits Erwähnung gefunden hat, siehe Husel 2014 sowie Husel 2016. 51 | Zu nennen ist in diesem Zusammenhang der 2017 im transcript Verlag erschienene Sammelband Performance und Praxis. Praxeologische Erkundungen in Tanz, Theater, Sport und Alltag von Gabriele Klein und Hanna Katharina Göbel (siehe Klein/Göbel 2017). 52 | Betrachtet man die textuell und visuell prall gefüllten, in jedem Fall stark inhaltlich ausgefüllten Spielzeithefte, die unter der künstlerischen Leitung Anselm Webers und seines Teams seit der Spielzeit 2010/2011 entstanden sind, fällt eines ganz besonders auf: Eine große Anzahl an Menschen kommt hierin zu Wort und wird sowohl in Fotografien, mehr aber noch in Interviews, Artikeln, Protokollen und Kurzreportagen sichtbar gemacht. (Haus-)Autor/innen wie Dirk Laucke, Reto Finger und Laura Naumann, internationale Regisseur/innen wie Paul Koeck, Cilla Back, Lisa Nielebock und Jan Klata stellen ihre Text- beziehungsweise Regie-Arbeit(en) vor, wie auch andere Expert/innen mittels Interviews oder Kurzreportagen in jene für die jeweilige Spielzeit wichtigen Themen einführen. Im letzten Spielzeitheft 2016/2017 unter der Intendanz von Anselm Weber liegt der Schwerpunkt auf ›einem Tag am Schauspielhaus Bochum‹, der die Leser- beziehungsweise Zuschauerschaft protokollarisch und fotografisch durch die einzelnen Abteilungen des Theaterbetriebes führt. Theatermachen als ein arbeitsteiliger Prozess wird in all diesen Spielzeitheften durch dieses (Print-) Medium transparent und bewusst gemacht.

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innen und -rezipient/innen sowie deren Praktiken im Feld (bei gleichzeitiger Befremdung des eigenen theaterpraktischen und -wissenschaftlichen (Vor-)Wissens), in dessen Rahmen neben dieser Art von ›Primärquellen‹ auch ›Sekundärmaterialien‹ wie beispielsweise Theaterkritiken herangezogen werden.53 Der Untersuchungszeitraum der unmittelbaren Forschungstätigkeit im Feld – bestehend aus mehreren intensiven Forschungseinheiten – kann mit Beginn der Kontaktaufnahme bei der Bochumer Premiere von [ fi’lo:tas] am 4. Januar 2014 und der Auswertungs- und Verschriftlichungsphase erster Ergebnisse nach der Premiere von Rose Bernd im Oktober 2015 auf insgesamt 22 Monate festgelegt werden. Der direkten Auseinandersetzung mit den (Ko-)Akteur/innen und ihren Arbeiten geht selbstverständlich eine längere Vorbereitungsphase voraus, innerhalb welcher bereits erste Veröffentlichungen zur Regiearbeit Vontobels sowie zur Schauspiel- und Stimmkunst von Jana Schulz entstanden sind.54 Auch nach den lokalen Forschungseinheiten am Schauspielhaus Bochum bricht die intensive Auseinandersetzung – unter anderem aufgrund der persönlichen Beziehungen, welche bei einem derartigen Projekt (ungeachtet der wissenschaftlichen Position und zwischenzeitlichen Distanznahme) entstehen – naturgemäß nicht ab, sondern findet in Form von Aufführungsbesuchen und Rezensionsbeobachtungen weiterhin statt. Nichtsdestotrotz bezieht sich die nachfolgende Feld-/Subjekt-Analyse von unterschiedlichen Phasen samt Interferenzen im Produktionsablauf des Theatermachens in erster Linie auf den oben genannten Zeitraum, in welchem die (Ko-) Akteur/innen teilnehmend beobachtet worden sind.55 Zu nennen sind hier insbesondere die regelmäßigen Probenbesuche bei der Produktion Einsame Menschen (Premiere am 9.11.2014) und bei den Endproben von Rose Bernd (Premiere am 4.10.2015), beide unter der Regie von Roger Vontobel.56 53 | Zur Methodologie der Ethnografie siehe Breidenstein et al. 2013, 13-44 und Amann/ Hirschauer 1997, 7-52. 54 | Meine 2008 publizierte Magisterarbeit Gerettet? Spiegelungen des prekären SinnSubjekts im jungen deutschen Regietheater widmet sich den stilistisch zwar unterschiedlichen, hinsichtlich ihrer – im inszenatorisch Narrativen – sinnsuchenden Motivation zugleich vergleichbaren Regiepositionen Jette Steckels, Julia Hölschers und Roger Vontobels, welche zudem allesamt Regie-Absolvent/innen der heutigen Theaterakademie Hamburg sind, vgl. Waniek (jetzt: Koban) 2008, 65-116. Die Darstellung des Macbeth durch Jana Schulz in Karin Henkels Macbeth-Inszenierung an den Münchner Kammerspielen ist im Oktober 2012 Thema meines Vortrages »›I am what I look and sound like‹ – Zur Performativität von Stimme als Marker geschlechtlicher In/differenz« beim 11. Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft in Bayreuth gewesen, der unter selbigem Titel 2015 veröffentlicht worden ist, vgl. Koban 2015, 469-479. 55 | Zur ethnografischen Forschungspraxis des »Teilnehmens und Beobachtens« auf der Basis unmittelbarer (Eigen-)Erfahrungen im Feld und dichten Beschreibungen siehe Breidenstein et al. 2013, 71-80. 56 | Im Rahmen der Produktion Hiob am Schauspielhaus Bochum in der Regie von Lisa Nielebock (Premiere am 6. September 2015), in welcher Jana Schulz die Figur des Kindes Menuchim spielte, haben ebenfalls sporadische Probenbesuche und Gespräche mit der Regisseurin stattgefunden; die in diesem Kontext beobachteten, sozialen, inszenatorischen und schauspielerischen Praktiken gehen als Vergleichsfall implizit in die nachfolgende Darstellung und Auswertung der Theaterarbeit(en) von Vontobel und Schulz ein. Als ›Vergleichs-

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Neben den Gesprächen, die das Tagesgeschehen begleiten, und Interviews mit Vertreter/innen der Dramaturgie und Intendanz sind während dieser Aufenthalte am Schauspielhaus Bochum gezielt auch fokussierte und narrative Interviews57 mit Regisseur Vontobel und Schauspielerin Schulz geführt worden, welche auszugsweise das zu analysierende Material in den ersten beiden Unterkapiteln hinsichtlich ihrer Positionierung im Feld und der sich hieraus entwickelnden Besetzungspraxis bilden (vgl. Kapitel 3.1.1 und 3.1.2). Nach einem Einblick in die Proben- und Blendprozesse im Kontext der Produktion Einsame Menschen (vgl. Kapitel 3.1.3) folgt eine Inszenierungsanalyse der Regiekonzeption von [ fi’lo:tas], welche die Zusammenhänge von Konzept und Körper am Beispiel sichtbar macht (vgl. Kapitel 3.1.4) und die Konstruktion eines spezifischen Images der Persona Schulz vorbereitet. Dieses wird anhand von Stellungnahmen der (über-)regionalen Theaterkritik und von Stimmen aus dem lokalen Publikum zu ergründen versucht (vgl. Kapitel 3.1.5). Wie an dieser Kurzdarstellung der ethnografischen Feldforschung deutlich wird, basiert meine Feld-/Subjekt-Analyse auf unterschiedlichsten Materialien und einem heterogenen Datensatz. Erst zu Beginn der einzelnen Unterkapitel, die sich an den Phasen des Produktionsablaufes orientieren, jedoch vor allem deren Interferenzen fokussieren, wird die je spezifische Erhebungs- und Auswertungsmethode knapp erläutert werden.

3.1.1 Stellungnahmen I: Jana Schulz und Roger Vontobel Die Untersuchung der Re/produktion von Kunst und Künstler/innen soll mit einer Vorstellung der beiden Akteur/innen bezüglich ihrer je eigenen Aufgaben, Arbeitsweisen und Ansichten im Feld des (Stadt-)Theaters beginnen, wobei sich bereits ein erstes methodologisches Problem ergibt: Denn durch die Art der Vorstellung werden Jana Schulz und Roger Vontobel zugleich in einem besonderen Licht in Szene gesetzt. Dieser Akt der Fremddarstellung rahmt dabei ihre Selbstpositionierungen fall‹ ist auch die Schauspielerin Bettina Hoppe (in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Oliver Reese) zu sehen, mit welcher ein längeres, für die Ausarbeitung der ›Position des Jokers‹ höchst aufschlussreiches Interview am 21.11.2014 geführt worden ist. Bettina Hoppe sowie Lisa Nielebock möchte ich an dieser Stelle für ihre Offenheit und die produktiven Gespräche danken. 57 | Nach der Soziologin Christel Hopf unterscheiden sich diese beiden Alternativen der qualitativen Sozialforschung – wie auch andere Varianten im Bereich der qualitativen Interviews – eher graduell voneinander: Im Rahmen von fokussierten Interviews findet, wie die Bezeichnung besagt, eine »Fokussierung auf einen vorab bestimmten Gesprächsgegenstand bzw. Gesprächsanreiz« (Hopf 2000, 353) statt, häufig verbunden mit einem Forschungsinteresse an den Rationalisierungen der Interviewten; narrative Interviews verfolgen eher die »Idee der Stegreiferzählung durch eine ›erzählgenerierende Frage‹« (Hopf 2000, 355), verbunden mit einem Interesse an (Handlungs-)Abläufen, (Selbst-)Reflexionen oder auch Erinnerungen. Hopf resümiert diesbezüglich in einem Überblick, »dass die unterschiedlichen Varianten qualitativer Interviews in der Praxis der empirischen Sozialforschung vielfach kombiniert verwendet […] und bisweilen auch gar nicht explizit benannt werden« (Hopf 2000, 353) können. Jeweils bedingt durch meine Eingangs- und Nachfragen, aber auch durch die jeweilige Dynamik der Interviewsituation wechseln sich in all den von mir durchgeführten Interviews fokussierte und narrative Anteile ab, jedoch in unterschiedlichen Verhältnissen.

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und Stellungnahmen und stellt unweigerlich die Weichen für alle weiteren Analyseschritte. Um einer solchen Positionierung von außen – zumindest in Teilen – zu entgehen, lasse ich Jana Schulz und Roger Vontobel in einem ersten Schritt für sich selbst sprechen. Die Form, die hierfür gewählt wird, ist ein redigiertes Interview, das aus zwei Einzelgesprächen besteht. Beide Gespräche sind im Sinne von explorativen, das heißt offenen und in Teilen auch fokussierten Interviews58 mit je einem Gesprächspartner/einer Gesprächspartnerin im Zusammenhang der Wiederaufnahme von [ fi’lo:tas] und der Probenarbeit zu Einsame Menschen entstanden.59 Der Verweis auf beide Produktionen bildet folglich in der realen Situation der Interviews den ursprünglichen Gesprächsanlass und in der Wiedergabe der Stellungnahmen in Form eines redigierten Interviews den gemeinsamen Bezugsrahmen beider Positionen. Das abgedruckte Gespräch folgt in weiten Teilen dem chronologischen Ablauf in den Interviewsituationen, welcher sich an ähnlichen Fragen – verschieden perspektiviert durch die beiden Arbeitsbereiche Regie und Schauspiel – orientiert. Aufgrund des gemeinsamen Ausgangs- und Referenzpunktes entsprechen die meisten, schriftlich fixierten Fragen auch den mündlichen Fragestellungen; nur selten sind zum besseren Verständnis überleitende Erklärungen oder Anschlussfragen eingefügt worden.60 Mit dieser für wissenschaftliche Arbeiten eher unüblichen Methodik versuche ich vier unterschiedlich gelagerten Aufgaben und Ansprüchen gerecht zu werden:61 • Erstens soll das abgedruckte Interview sowohl denjenigen mit Feldwissen ausgestatteten als auch jenen diesbezüglich ›un-wissenden‹ Leser/innen die für das weitere Verständnis notwendigen Informationen zur Verfügung stellen, die

58 | Zur Methodik und Motivation von explorativen Interviews in der Sozialforschung siehe auch Hopf 1978, 97-115. 59 | Am 29. Oktober 2014 hat Jana Schulz während ihrer Mittagspause zwischen zwei Proben ein knapp zweistündiges Gespräch mit mir geführt, Roger Vontobel wenige Tage danach, am 6. November 2014. Beide Interviews können und sollen hier nur in Ausschnitten wiedergegeben werden. 60 | Einfache Anführungsstriche innerhalb des redigierten Interviews verweisen auf ein indirektes (Nach-)Sprechen einer eigenen Aussage oder einer anderen Stimme, womit häufig andere Sprecher/innenpositionen in den (Nach-)Erzählungen eingenommen werden. 61 | Im Bereich der (angewandten) Theaterwissenschaft und, so lässt sich feststellen, im Zuge einer Re-Zentralisierung des Schauspielens als einer grundständig anthropologischen und sozialen (Theater-)Praxis sowie der Schauspieler/innen als kulturellen Akteur/innen erscheinen seit den 2010er-Jahren erste Sammelbände und Monografien, die auf Interviews und/oder anderem empirischem Material wie etwa Probenprotokollen basieren (vgl. Roselt/ Weiler 2011, Kurzenberger/Müller/Rey 2011, Hinz/Roselt 2011, Güssow 2013). Neben diesen theaterwissenschaftlichen und schauspiel(er)theoretischen Beiträgen porträtiert der Soziologe und Theaterkenner Klaus Dermutz sowohl namhafte Schauspieler/innen als auch Regisseur/innen in seinen dezidiert interviewbasierten Büchern (vgl. exemplarisch Dermutz 2009); siehe in diesem Zusammenhang auch die 2014 von der Berliner Akademie der Künste herausgegebene DVD-Edition Spielweisen. Gespräche mit Schauspielern, welche neun Videogespräche mit Schauspieler/innen wie etwa Wiebke Puls, Sandra Hüller oder Ulrich Matthes versammelt.

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einerseits personenspezifische Charakteristika, andererseits theaterpraktische Vorgänge ›auf und hinter der Bühne‹ betreffen. • Zweitens ergibt sich durch die Form des offenen Interviews die »Möglichkeit, Situationsdeutungen oder Handlungsmotive« sowie die »subjektive[…] Perspektive der Beobachteten«62 zu erheben. • Drittens drängt sich damit zugleich die Notwendigkeit auf, genau jene offen erfassten Selbst- und Fremddarstellungen – als welche prinzipiell jede Stellungnahme begriffen werden kann – in der gegenseitigen Bezugnahme von Roger Vontobel und Jana Schulz zu reflektieren und zu analysieren. • Viertens bedeuten der Abdruck der Stellungnahmen und die daran anschließenden Reflexionen eine Öffnung und Relativierung der emischen Perspektive, die das praktische Wissen der Feldteilnehmenden und so auch die Deutungen aus der eigenen ethnografischen Erfahrung prägt. Die Interpretation einzelner Aussagen des Gesprächs findet nicht nur in den direkt daran anschließenden »(Selbst-)Reflexionen« (vgl. Kapitel 3.1.1.2), sondern in Bezug auf die Besetzung von Schauspieler/innen überdies im darauffolgenden Unterkapitel 3.1.2 »Idee und Imagination: Menschen als Medien« statt.

3.1.1.1 Jana Schulz und Roger Vontobel über Rollen, Skripte und die eigene Berufung I: Aktuell arbeitet ihr beide an einer Inszenierung von Gerhart Hauptmanns Drama Einsame Menschen, die schon in wenigen Tagen Premiere feiern wird. Du, Roger, führst Regie, Jana spielt die Rolle der Käthe Vockerat. Die Figur Käthe hat kürzlich ihr erstes Kind zur Welt gebracht und entwickelt in der Dramenhandlung wohl so etwas wie eine postpartale Depression – die sich im Rahmen eurer Inszenierung endgültig Bahn bricht, als Johannes Vockerat, frisch gebackener Ehemann und Vater, sich nicht nur in seiner wissenschaftlichen Schreibarbeit, sondern auch noch in der Bekanntschaft mit der Studentin Anna Mahr verliert. Bei den Proben kann ich immer wieder beobachten, wie sehr ihr Schauspieler/innen mit den Figuren, deren Problemen und Entscheidungen ringt. Jana, was magst du an Käthe? Und was magst du nicht an ihr? Jana Schulz: Oh Gott, ich glaube, da ist mehr, was ich nicht mag. Käthe. (nach einigem Nachdenken) Ja, dieser Mensch Käthe ist überhaupt nicht einfach für mich. Ich vergesse immer, wie die anderen Stücke sind, die anderen Figuren für mich sind. Ich glaube, tendenziell ist keine Figur einfach für mich. Aber bei Käthe ist es – glaube ich – so, dass sie mir in einigen Punkten total ähnlich ist, was das Selbstwertempfinden angeht, das Selbstwertgefühl. Vielleicht ist es deswegen für mich manchmal (längere Pause) so schwer, das auch auseinander zu halten – gerade am Anfang, wenn man selber noch unsicher ist, wenn man sucht und man hat ja noch nichts, was ja auch normal ist irgendwie. Kann ja auch nicht sein. Dieses Gefühl, was diese Figur hat, das hat sich dann total auf mich übertragen, auch in der Gruppenkonstellation. Dass ich mich dann auch schon so empfunden habe, wie die Käthe sich immer empfindet. Ausgeschlossen. Aber ich habe auch ganz oft gemerkt, dass das der eigene Kopf ist, also die eigene subjektive Wahrnehmung. Das kann am nächsten Tag dann ganz anders sein. (längere Pause) 62 | Hopf 2000, 350.

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I: Worüber läuft dieses Suchen? Ist das nur etwas in deinem Kopf? Jana Schulz: Das ist ganz schwer zu sagen. Es ist über ein Gefühl. Ich würde immer sagen über ein Gefühl. Gar nicht über Kopf, überhaupt nicht. (längere Pause) Ich bin jetzt auch nicht so der Vielredner bei den Sitzungen, also wenn man am Tisch ist und wo man so über die Figur redet oder so. Oder wo man sich dann so einen Lebenslauf baut oder so. Das passiert bei mir alles innerlich. Das geht dann über die Gefühle. Also ich brauche jetzt nicht wissen, dass die Figur da und da geboren wurde. Ich muss mir keine Biografie bauen, damit die Figur lebt. Sondern meine Figur muss … Die Gefühle müssen stimmen, die Seele. Irgendwie muss ich da eine Connection dazu haben. (längere Pause) Und das Suchen passiert immer sehr im Prozess. Also wirklich wenn man auf der Bühne ist. Und ich glaube, sehr viel passiert bei mir auch unbewusst. Oder intuitiv. Oder so. (längere Pause) Und sehr viel über den Text. Also wenn ich den Text spreche und merke, was er mit mir macht und was er bei anderen auslöst. (längere Pause) Eigentlich denke ich immer, wenn du wirklich – hach, da möchte ich immer so hinkommen – wenn du den Text so sprichst, dass er dich selber berührt, dass er nur Text ist, dann ist er die Figur. Dann ist das schon die Seele. So wie das bei uns auch ist: Wenn wir reden, dann redet ja auch ein Teil von unserer Seele. Das ist immer, was ich so suchen möchte. Also was ich immer suche, ist eine Verbindung auch zu mir selber. Wenn ich die Verbindung zu mir selber habe, dann weiß ich, dass diese Figur auch ein Mensch wird und eine Seele bekommt. I: Roger, wie gehst du als Regisseur an die Proben und die Inszenierung ran? Roger Vontobel: Ich weiß, wo ich hinwill, aber ich weiß überhaupt nicht, wie ich da hingelange. Das ist eigentlich immer so ein bisschen der Vorgang. Also ich hab … Ich weiß nicht, wie’s aussehen wird. Ich weiß, welche Komponenten ich verwenden möchte und worauf ich mich konzentrieren möchte – das kann sich aber auch ändern. Also, ich würde mal sagen, das ist schon ein sehr offener Prozess in den Proben, zu sehen, was da entsteht und was man miteinander so findet. Es ist auch stückabhängig, aber ich bin auf jeden Fall nicht jemand, der mit ’nem gefassten, ausformulierten Endkonzept quasi schon dahinkommt, überhaupt nicht. Das würde mich auch nicht interessieren. I: Mein Eindruck ist, dass ihr im Probenprozess lange Zeit und sehr viel redet. Wie wichtig ist für dich dieses Reden? Was bedeutet das? Roger Vontobel: Ja, das bedeutet extrem viel. Ich finde, man kann nur das spielen, was man auch weiß. Also so funktioniere ich. Ich muss die Sachen verstehen. Ich will die Sachen verstehen und ich finde auch, dass die Schauspieler die verstehen müssen, um sie sozusagen umsetzen zu können. Insofern finde ich, dass man sich eben erstmal geistig klar werden muss, und dann, dann kann man malen. Gerade auch in so einem Stück wie dem hier, das ja einfach psychologisch relativ komplex ist; wo man die eigene Haltung immer wieder hinterfragen muss. Wo man das persönliche Wollen reinbringt. Das Reden ist Suchen. Das Reden ist auch prozessorientiert, da entstehen die Sachen – sich also im Reden bewusst werden, was das eigentlich bedeutet, was man da eigentlich macht. Und dann entsteht auch ’ne Idee dazu oder ’ne Umsetzungsidee. Das Besprechen am Tisch ist also keine Planarbeit, die man dann sozusagen punktgenau umsetzt. Es ist genau das Gegenteil davon. Aber es ist ein Anreichern von etwas. Man füllt sich an. Um dann genauso unwissend zu probieren. Aber man hat sozusagen … Man ist angefüllt von etwas und das bricht sich meistens nicht direkt, aber zu einem späteren Zeitpunkt Bahn. Im

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besten Falle ermöglicht es meines Erachtens ’ne ganz andere Tiefengestaltung der Figuren. Nicht direkt, weil das nicht umsetzbar ist, das ist gar nicht möglich. Das muss man dann auch wieder erfahren. Das muss man dann auch wieder auf der Probe erspüren und erfahren. Trotzdem liegt das für mich ganz nah beieinander. Ich sag immer: Das ist wie so ’ne Komprimierung, danach ist’s dann ’ne Komprimierung von acht Wochen. Aber wenn diese acht Wochen nicht angefüllt wären mit verschiedensten Sachen … Es ist eben nicht so, dass die Ränder wie beim MP3Verfahren einfach wegfallen oder so. Sondern es ist wirklich komprimiert und dadurch sehr, sehr dicht. So empfinde ich die Arbeit. Auch dieses Reden. Ich glaube immer, dass die Beschäftigung mit etwas, die ehrliche Beschäftigung mit etwas, immer Früchte tragen wird. So. Und für mich hat es auch einen ganz großen Stellenwert im sozialen Gefüge einer Gruppe. Man ist gemeinsam an einem Denkprozess dran, genauso wie man an einem kreativen Prozess danach beteiligt ist, wenn man probt. I.: Das Gemeinsame, also der soziale Prozess scheint dir generell sehr wichtig zu sein. Mit einigen der Kolleg/innen arbeitest du seit vielen Jahren zusammen, etwa mit Jana oder auch Paul Herwig, den du für die Rolle des Johannes Vockerat als Gast vom Schauspielhaus Hamburg angefragt hast. Warum mussten es gerade diese beiden Schauspieler/innen für Johannes und Käthe sein? Roger Vontobel: Zum einen, weil … Also jenseits dessen, dass es natürlich immer ein Wunsch von mir ist, es mit denen, meistens mit diesen Menschen zu machen, weil ich die Stücke und die Figuren einfach über die Leute denke, mit denen ich das machen will. Wenn ich die Chance dazu habe, dann umso besser. So. Also Paul war für mich ganz klar, weil er unglaublich viel von Johannes hat. Und ich glaube, dass es auch immer darum geht, wenn man sich so gut und schon so lange kennt, dass man dann diese Figuren noch viel stärker sozusagen über den Schauspieler begreifen kann, ihn als Menschen: Themen, die er mit sich trägt, Sachen, mit denen er möglicherweise auch zu kämpfen hat oder so. Natürlich ist Paul ein komplett anderer Typ als der Johannes. Trotzdem gibt’s, glaube ich, sozusagen den Willen, alles vereinen zu wollen; der ist beiden nicht unähnlich. Die Probleme, die daraus entstehen, sind natürlich ganz anders abgefedert, aber das sind so Ansatzpunkte, die dann plötzlich anfangen zu wirken. Man denkt so, das will ich von dem sehen. Weil ich finde, dass Paul jemand ist, der genau Menschen zeichnen kann, Seelenfiguren. Er ist ein unglaublich genauer Spieler, kein ausschweifender – wie soll man sagen – nicht so ’n vor Ideen strotzender Vollfreak, überhaupt nicht, sondern ein wahnsinnig genauer Arbeiter, der immer weiter, immer tiefer sozusagen in diese Figuren eindringen will, Satz für Satz. Was mir sehr nahe ist, so, als Arbeitsweise auch. Und das ist, finde ich, einfach für diese Figur das A und O. Dass man dieser Figur auch sozusagen Sympathie abringt, ähm, Verständnis abringt; das Ringen ehrlich gestaltet. (Pause) Und bei Jana ist es auch klar. Also nebst dem, das ist ja logisch, dass ich immer alles über die Schulz denke erstmal. So. Aber da finde ich eben auch, dass diese Figur Jana braucht; dass diese Figur modern und heutig und auch stark wird; dass man sozusagen den Kampf mitbekommt, den sie ausficht und den sie auch gewinnt, den sie am Ende eben gewinnt. Sie überlebt, sie findet zu einer … Sie findet zu sich selbst. (längere Pause) Am Ende dieses Stücks. Durch all diese Widrigkeiten erlangt sie sozusagen ihr Selbstbewusstsein wieder. Nicht im Sinne dessen, dass man dann selbstbewusst ist, sondern sich seiner selbst bewusst geworden ist, was man ist und was man nicht ist. Das finde ich einfach wahnsinnig

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schön und sehr befreiend. Diesen Weg von Jana zu sehen, finde ich erstmal sehr spannend. Weil jetzt natürlich die Schulz auch nicht gerade die neue Mutter ist, die neue junge Mutter. Da ist die Reibung das Interessante, die Reibung dieser festgebundenen Figur, in sich selbst gefangenen Figur mit Jana – die auf eine gewisse Art genau das Gegenteil davon ist. I: Was zeichnet die Schauspielerin Jana Schulz aus? Roger Vontobel: Ich glaube, der Kampf, die Extremität von Situationen auszuloten, das ist einfach das Steckenpferd von Jana, finde ich, weswegen ich sie auch immer wieder … Weswegen wir auch immer wieder zusammenarbeiten. Weil mich das auch interessiert, dass man die Situation wirklich ins Extreme auslotet. Und das tut sie einfach. Die Ehrlichkeit, mit der man dann einander begegnen kann, das ist halt schon etwas sehr Spezielles, was ich einfach bei wenigen Schauspielern, für mich jetzt sozusagen, erleben kann. I: Warum arbeitest du, Jana, immer noch gerne mit Roger zusammen? Jana Schulz: Weil ich immer noch das Gefühl habe, dass es für mich immer noch eine Herausforderung ist, mit ihm jede Figur zu suchen. Vielleicht hat es etwas damit zu tun (längere Pause), dass er mich so lässt, dass er mich so suchen lässt. (längere Pause) Manchmal frage ich ihn, ob er nicht manchmal schon müde ist, mit mir zu arbeiten oder so. Und dann sagt er immer so: ›Nein, überhaupt nicht! Ich will noch das mit dir machen und das und das.‹ (längere Pause) Dass man sich so lange kennt, das hat natürlich auch Vor- und Nachteile. Es kann auch sein, dass man – dadurch dass du den anderen gut kennst – dass du gerne auf die Sachen zurückgreifst, was er gut kann. So. Das ist also eine Einfachheit. Aber es kann auch genauso gut sein, dass dieses Vertrauen da ist. Zu wissen, dass der Andere auch gewisse Dinge alleine macht. Oder dass er sein Potential einbringt. (längere Pause) Was Käthe zum Beispiel angeht, finde ich, dass diese Figur schon sehr anders ist als die Figuren, die wir vorher immer hatten. Sonst bin ich ja eigentlich schon … Meine Figuren haben immer sehr etwas, ja, etwas Terroristisches oder sind oft immer sehr … Ja, ich will jetzt sagen ›stark‹, aber die Käthe ist ja auch auf eine andere Art und Weise stark, dass sie das so durchsteht. Aber sie ist … (längere Pause) Ja, dieser Mensch, diese Figur hat irgendwie eine Dimension, die anders ist als die anderen Figuren. Und das spricht auch, finde ich, für unsere Zusammenarbeit. Dass man sich auch an etwas Neues traut. Und eben nicht nur an das, wovon man weiß, dass man das gut kann, sondern dass man auch Neues wagt. Weil man sich auch verändert. (längere Pause) Kann ja auch sein, dass man dann auf die Nase fällt oder so. Aber ich finde, genau das ist das Spannende: sich nicht abzusichern, sondern genau diese Erfahrungen zu machen, auch wenn sie vielleicht wehtun im ersten Moment. Weil das irgendwie auch das Leben ist. Genau das auszuprobieren, was überhaupt möglich ist, oder zu merken, dass da vielleicht eine Grenze ist; dass da etwas ist, was man vielleicht nicht kann. I: Lebst du mit deinen Bühnenfiguren eine ›Stärke‹ aus, die du im Leben manchmal suchst? Als ›terroristisch‹ hast du ja deine Bühnenfiguren beschrieben, dich selbst vorhin aber doch gar nicht. Jana Schulz: Privat meinst du? (längere Pause) Ja, anders. (schmunzelnd) Ich glaube, ich bin auch hart. Ich bin immer hart, terroristisch gegenüber mir selbst, aber nicht gegenüber anderen Menschen. Ja, da mag ich das ausleben. (längere Pause) Die Bühne ist für mich ein Raum, wo ich komischerweise andere Ängste habe als im Leben. Also das ist halt … Für mich ist die Bühne ein geschützter Raum. Und

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dadurch, dass er geschützt ist, kann ich an Grenzen gehen – emotional an ganz vielen Sachen. Und im Leben draußen, da ist es halt überhaupt nicht so. Da will ich mich eigentlich immer irgendwo kontrollieren, weil ich Angst habe, mich auf jemanden einzulassen oder auf Begegnungen. Da habe ich keine Sicherheit. Aber in diesem geschützten … Das ist ganz komisch, aber – naja, vielleicht auch nicht – aber in diesem geschützten Raum kann ich plötzlich ganz frei sein. Da kann ich auch über persönliche Grenzen gehen, mehr als außerhalb davon. I.: Wie würdest du deine männlichen Bühnenfiguren in diesem Zusammenhang einordnen, etwa Philotas, Major von Tellheim oder Macbeth? Sind sie für dich besonders wichtig? Jana Schulz: Nein, das Käthchen [von Heilbronn], was ich mit Roger gemacht habe, war auch sehr besonders. Die habe ich bis zum Schluss nicht begriffen, aber genau darin lag vielleicht auch die Faszination. (längere Pause) Die Penthesilea war auch sehr besonders. Also es gab auch Frauenrollen, die sehr … Oder was Roger mit Was ihr wollt gemacht hat, die Idee mit dieser multiplen Persönlichkeit … Aber es ist schon so … Also was diese Männerrollen schon haben (längere Pause): Ich fühle mich komischerweise bei den Männerrollen immer so, dass ich … Weniger künstlich. Ich fühle mich … Ja, das ist komischerweise vertraut. Und dieses Gefühl habe ich nicht, wenn ich eine Frau spielen muss. Das ist jetzt komischerweise bei der Käthe nicht so, aber vielleicht war das noch bei Hedda so oder bei anderen Frauenfiguren. Wenn ich eine Frau spielen muss, habe ich viel mehr das Gefühl, ich muss was spielen, komischerweise. Und dann wird es künstlich. Und dann glaube ich mir nicht mehr. Und das mag ich dann nicht. (längere Pause). An mir. Wenn ich … Ja, ich kann es immer nur so beschreiben: Ich kann nicht, eigentlich kann ich nicht spielen. Ich kann nicht etwas spielen. Das kann ich nicht. (schmunzelnd) Und das ist natürlich schlecht. Ich muss das sein. Ich muss da eine Verbindung haben zu mir. Und bei den Frauen ist es vielleicht wirklich … Weil es auch gerade ein Punkt ist, an dem ich mich noch suche oder so – oder finde gerade. Vielleicht verändert sich das auch gerade, aber … Ganz lange hat das so einen Widerstand in mir immer ausgelöst, also das Frausein oder was das ist. Das Weiche oder wie ich glaube, dass ich sein müsste als Frau. Oder wie das Bild ist draußen oder wie ich glaube, dass das Bild draußen ist. Und dem gerecht werden – das läuft ja manchmal auch subtil ab –, das war mit so viel Widerstand in mir verbunden. Und deswegen ist das dann auch auf der Bühne mit so vielen Widerständen … Komischerweise bei Käthe überhaupt jetzt gar nicht. Roger Vontobel: Ich find’s sehr spannend, wohin die Entwicklung geht. Plötzlich spielt sie jetzt eben Hedda Gabler und Käthe und was man da sonst noch alles so sieht als nächstes. Und das sind auch Frauenfiguren, von denen … Ich find’s sehr spannend, Sachen jetzt wieder mit ihr zu denken, wo’s um was Anderes geht. I.: Worum ging es dir bei [ fi’lo:tas]? Inwiefern musste es dafür Jana sein? Roger Vontobel: Das musste Jana sein, weil … Das Konzept von [ fi’lo:tas] war ja: Was ist jemand, der nicht mehr weiß, dass ein Stuhl ein Stuhl ist? Und dahingehend hat mich Jana eigentlich aufmerksam gemacht. Jana ist auch so (kurze Pause) unklar, also im Sinne von ›wer sie jetzt ist‹. Ist sie jetzt Mann, ist sie Frau? Das war ja früher noch viel extremer, finde ich. Am Anfang, also da, wo wir uns kennengelernt haben, war das wirklich krass. Die war ein Jüngling. Also ganz extrem. Was ja immer noch ein bisschen so ist. Aber eigentlich hat es erstmal nur mit einem gemeinsamen Dramaturgiedozenten, Ulrich Bitz, zu tun, der gesagt hat: ›Das müsst

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ihr machen.‹ Und dann haben wir uns kennengelernt. So ist es bei mir eben immer gewesen. Dann entstehen die Ideen. Die Ideen sind nicht: Das muss ’ne Frau sein, die ganz androgyn ist, und die spielt dann das und das machen wir da und den Text machen wir so. Das weiß ich nicht. Ich weiß, was mich interessiert. Das weiß ich. (kurze Pause) Was ich wissen möchte. (Pause) Und alles andere muss man dann gemeinsam erarbeiten. So. I: In [ fi’lo:tas] fragt sich die Figur zu Beginn der Aufführung: ›Wer bin ich?‹ Inwiefern denkst du dich selbst an dieser Stelle mit? Jana Schulz: Ich würde sagen, im Stück (längere Pause), wenn ich es spiele, denke ich nicht über mich nach. Aber es ist schon so, dass dieses ganze Stück durch mich lebt und durch die Arbeit mit Roger. Da ist ganz viel Jana drin. Das Tolle war jetzt eigentlich, als wir es wiederaufgenommen haben – der Wahnsinn –, dass alles, worum es da geht, dass uns das immer begleitet hat, also all das von der Fragestellung und auch persönlich von jedem von uns: Wer bin ich? Und diese unterschiedlichen Stimmen in einem: der Zweifelnde und der, der auf dem Stuhl sitzt, der Angst hat; und der andere, der aber sagt: ›Nein, du musst hart sein! Und das ist toll! Du musst kämpfen! Du musst kämpfen!‹ Das nochmal wiederaufzunehmen, das war wie so ein … etwas Geschlossenes. Es hat damit zu tun, dass wir uns auch persönlich damit beschäftigen. I: Was bedeutet euch das Theatermachen? Roger Vontobel: Mmhm. (Pause) Wahnsinnig viel. Das ist das Tolle, glaub ich, am Theater. Also dass es unglaublich vieles vereint. Fragen, Fragen über Fragen. Fragen über das Menschsein, Fragen über unser Umfeld, Fragen über unsere Art und Weise zu leben, über uns selbst. Dass man immer wieder gezwungen ist oder sein darf, wie auch immer man es sehen will, das beantworten zu müssen beziehungsweise es zu fragen, sich mit den Fragen zu beschäftigen. Sich einzubringen in diese Fragestellungen, immer wieder von Neuem, jeden Tag, jedes Stück. Immer wieder sich diesem Prozess hinzugeben oder so. Und das eben in einem Umfeld zu machen, wo am Ende auch die Leute an etwas teilhaben können, was in dem Moment passiert, was sich so vor ihnen abspielt und wo sie die Beschäftigung sozusagen leibhaftig miterleben können. Wo sie Denkprozesse quasi sehen können, fühlen können, spüren können. Wo Beschäftigung sich materialisiert. Das finde ich im besten Fall dann das, was mich am Theater interessiert. Oder warum ich Theater mache. Das will ich sehen. Und ansonsten ist Theater natürlich einfach auch ein Ort, ein einzigartiger Ort, weil er sich gegen alles Andere wahnsinnig anachronistisch verhält. Das mag ich daran. Das finde ich irgendwie auch wahnsinnig wichtig in unserer heutigen Zeit, die so schnellebig ist und so schnell nach vorne geht; was ja auch alles wahnsinnig spannend und aufregend ist, finde ich, ich bin jetzt kein dystopischer Typ, sag ich jetzt mal. Aber ich merke immer mehr, wie toll es ist, dass es etwas gibt, was sozusagen etwas Altes bewahrt. Wo man es nicht auf einen Sockel emporhebt und es nicht mehr anfasst, sondern es ständig mit seinen eigenen Händen anfasst und es ständig dreht und wendet und von da und von da anguckt und wieder mit sich selber vergleicht. Dieser Tanz mit den Büsten, das finde ich einfach großartig. Dass man die nicht einfach nur anguckt, sondern sich mit ihnen unterhält. Ja. Jana Schulz: (längere Pause) Für mich persönlich war das Theater immer überlebenswichtig, weil ich genau die Emotionen rauslassen konnte, die ich im Leben unterdrückt habe – also vor allen Dingen halt das Tragische. Also Schmerz.

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Schmerz vor allen Dingen. Das war wie so ein Ventil. Da konnte ich das halt rauslassen, die Wucht und die Kraft des Schmerzes. Und die Wut. Schmerz und Wut, alles, was ich im Leben versuche, mit mir selber auszumachen. Das war irgendwie schon sehr früh … Dass ich da irgendwie (längere Pause), dass ich diesen Ort irgendwie sah als einen Ort für mich. Wo ich (längere Pause) sein kann, wo ich im Leben nicht sein kann.

3.1.1.2 (Selbst-)Reflexionen Reflexion und Selbstreflexivität – beide Begriffe prägen das Reden, Denken und Handeln von Roger Vontobel und Jana Schulz, wie sich nicht nur aus deren Aussagen, sondern vielmehr aus den darin formulierten Gedankengängen und Rationalisierungen des eigenen Tuns, etwa in der Probensituation, ableiten lässt. Die Selbstbezüglichkeit, die sich vielfach in ihren Stellungnahmen äußert, darf hier nicht missverstanden werden. Weder bei Vontobel noch bei Schulz nimmt der Rückbezug auf eigene Fragen, auf das Befragen der eigenen (Lebens-)Situation eine narzisstische Wende zur Selbstoptimierung, im Gegenteil: Jana Schulz sucht die Grenze zwischen dem, »was überhaupt möglich ist […] und was man vielleicht nicht kann«63, und Roger Vontobel die »ehrliche Beschäftigung mit etwas«, mit (inneren) Konflikten und (Lebens-)Situationen. Die Fähigkeit zur (Selbst-)Reflexion meint hier eine soziale Kompetenz sowie eine Handlungskompetenz, die sich sowohl in der täglichen Arbeit als auch in den künstlerischen Arbeiten des Theaterduos Bahn bricht. Dass soziale und sachliche Fähigkeiten im arbeitsteiligen Feld des Theaters kaum voneinander zu trennen sind, ist zwar keine Frage, jedoch im gleichwohl hierarchisch strukturierten und vertraglich befristeten Stadttheatersystem keine Selbstverständlichkeit. Umso bemerkenswerter erscheint die langjährige Arbeitsbeziehung, die nicht nur Vontobel und Schulz miteinander teilen, sondern welche beide schon seit der Hamburger Zeit auch mit der Bühnenbildnerin Claudia Rohner, der Kostümbildnerin Ellen Hoffmann, dem Schauspieler Paul Herwig und nicht zuletzt dem Intendanten Anselm Weber verbindet. Die Konstanz der Arbeitsbeziehung und das Kennen des Anderen schaffen »Vertrauen«, »Freiheit und […] Schutz«64. Auf dieser Basis ist es im »kreativen Prozess« des Konzipierens, Inszenierens und Probierens möglich, »dass man die Situation wirklich ins Extreme auslotet«, wie Roger Vontobel in Bezug auf die Zusammenarbeit mit Jana Schulz äußert, und »dass man auch Neues wagt«, wie diese im Zusammenhang mit ihrer Besetzung in der Rolle der Käthe betont. Das »Prinzip von Suche«65 ist dabei (gemeinsames) Programm: Während sich Regisseur Vontobel (trotz seiner Schauspielausbildung) eher auf eine intellektuelle Suche begibt, einem »Tanz mit den Büsten« gleich, hat Schauspielerin Jana Schulz diesen Leitsatz geradezu inkorporiert – als eine sachliche Anweisung an sich als professionelle Darstellerin mit dem Anspruch der figurativen Menschwerdung 63 | Sofern nicht andere, unter 3.1.1.1 nicht abgedruckte Aussagen oder Stellungnahmen Anderer hinzugezogen werden, werde ich innerhalb dieses Unterkapitels die einzelnen Zitatstellen aus dem redigierten Interview nicht extra ausweisen. 64 | Roger Vontobel an einer anderen, nicht abgedruckten Stelle im Interview vom 06.11.2016. 65 | Thelen 2013.

Teil 3: Der Joker im Schauspiel

(dass jede Figur »auch ein Mensch wird und eine Seele bekommt«) und als eine identitäre Anweisung66 an sich als Person, – sich selbst, insbesondere ihrem Körper gegenüber – »hart« zu sein. Vielleicht trifft auf Jana Schulz jener bekannte Ausspruch George Taboris zu, der von dem Theaterkritiker Peter Michalzik umgewendet worden ist. Schauspieler seien professionelle Menschen, das habe Tabori gesagt, woraus Michalzik folgert: Menschen seien unprofessionelle Schauspieler.67 In dreifacher Weise scheint dies der Selbstbeschreibung von Jana Schulz zu entsprechen: Als Mensch kann sie nicht »etwas spielen«; in der Alltagsperformance von ›Frausein‹ fällt es ihr schwer authentisch (und nicht ›künstlich‹) zu sein; und das Bild oder die Rolle der begehrenswerten Frau kann und will sie sich gar nicht erst auf bürden – auch weil sie »es nicht aushalten [kann], nur nach dem Äußeren betrachtet zu werden«. Unter einer solchen Perspektive scheint sich auch zu erklären, warum die Darstellung der frisch gebackenen Ehefrau und Mutter Käthe eben nicht jene »Widerstände« hervorgerufen hat, welche die Darstellung des ›Fraulichen‹68 sowohl auf der Bühne als auch im Privatleben »ganz lange«69 in ihr ausgelöst habe. Denn auch die Figur Käthe Vockerat spielt nichts vor, bei Hauptmann sieht man sie regelrecht leiden; und das Begehren beziehungsweise Begehrt-Werden wird im Rahmen der Dramenhandlung dem (bürgerlichen) Ideal der Mutter-Liebe nicht nur untergeordnet, sondern von der Zugehörigkeit und Zuständigkeit des Mutterseins (und nicht mehr Frau-, geschweige denn Menschseins) geradezu absorbiert. Die Figur der Käthe sei ihr »in einigen Punkten […] total ähnlich«, erklärt so die Schauspielerin im Gespräch ihre Antipathie der Figur gegenüber. Irgendeine »Connection«, das heißt eine emotionale Verbindung zu ihren Figuren, sucht Jana Schulz eben immer in ihrer Arbeit als professionelle Darstellerin. Während sich Schulz in die Situation(en) der Käthe (wie prinzipiell in alle ihre Figuren) ›mit Leib und Seele‹ hineinbegibt und zugleich deren Text(e) durch sich hindurchsprechen lässt (»wenn du den Text so sprichst […], dass er dich selber berührt, dass er nur Text ist, dann ist er die Figur«), sieht Vontobel in deren Verkörperung der Käthe ein Kontrastverhältnis zwischen Ego (realer Person) und Alter (fiktive Figur), nämlich eine »Reibung dieser festgebundenen Figur, in sich selbst gefangenen Figur mit Jana – die auf eine gewisse Art genau das Gegenteil davon ist«. Die »Widerstände«, die Jana Schulz in ihrem Selbstverhältnis zum »körperlichen Frau-Sein« 70 empfindet, 66 | Der Begriff der identitären Anweisung findet sich in ähnlicher Weise auch in Judith Butlers Gendertheorie wieder: Eventuell deuten »normative Anweisungen, die festlegen, was als intelligibles Geschlecht gelten kann« (Butler 1991 [1990], 217), auf jenen individuellen Konflikt hin, welcher Jana Schulz um- und antreibt. 67 | Michalzik 2011. 68 | Auch diese Kategorisierung verwendet Jana Schulz häufiger im Zusammenhang mit dem Geschlechtsmuster des Weiblichen. 69 | Jana Schulz an einer anderen, nicht unter 3.1.1.1 zitierten Stelle im Interview vom 29.10.2014. 70 | Siehe auch das nachfolgende Zitat, das einer E-Mail-Korrespondenz nach der Wiederaufnahme von [fi’lo:tas] am 4. Januar 2014 entstammt; auf Nachfrage, ob sie sich noch erinnern würde, ob ihr ›Frau-Sein‹ bei den Proben eine Rolle gespielt habe, antwortet Jana Schulz: »Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht mehr, ob Roger und ich am Anfang darüber gesprochen haben, darüber, dass ich als Frau ’nen Mann spiele. Ich glaube nicht. Für mich war es nie

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scheint der Regisseur mit ihrer Besetzung für die »in sich selbst gefangene Figur« Käthe produktiv machen zu wollen. Zeigt sich in der Art des Schauspielens und des Inszenierens hierbei ein künstlerischer Widerspruch? Diese Frage soll an dieser Stelle zugunsten eines tieferen Einblicks in die Besetzungspraxis des Regisseurs noch etwas aufgeschoben werden (siehe hierzu Kapitel 3.1.3). In welcher Relation und Funktion Roger Vontobel die fiktiven Figuren und realen Schauspieler/innen sieht, ist dementsprechend das Thema des anschließenden Unterkapitels. Am Beispiel der Produktion Einsame Menschen und im Rekurs auf andere (Vergleichs-)Fälle wird hierbei die Implementierung der (Besetzungs-)Idee in den künstlerischen Kontext der Inszenierung und in den kulturellen Kontext der Imagination reflektiert.

3.1.2 Idee und Imagination: Menschen als Medien Als Ausgangs- und Referenzpunkt des Kapitels soll – in Anlehnung an die Anfänge der künstlerischen Zusammenarbeit des Theaterduos Vontobel/Schulz – die Studieninszenierung [ fi’lo:tas] fungieren. Im Interview antwortet Roger Vontobel auf meine Frage, warum es gerade Jana Schulz für dieses Projekt und diese Figur sein musste, nur vermeintlich ausweichend, wenn er zunächst den Grundgedanken seines Konzeptes formuliert: »Was ist jemand, der nicht mehr weiß, dass ein Stuhl ein Stuhl ist?« Denn diese Grundidee erscheint unmittelbar mit der Schauspielerin verknüpft, schließlich habe sie ihn »dahingehend […] eigentlich aufmerksam gemacht« 71. Wie der direkte Vergleich mit der Besetzungsmotivation im Fall Einsame Menschen deutlich macht, ist diese Verknüpfung von (Inszenierungs-)Idee und Individualbesetzung – denn als solche ist diese zu charakterisieren – in den Arbeiten Roger Vontobels keineswegs eine Seltenheit. Vielmehr ist sie ein zentraler Bestandteil seiner Vorstellung von Theater respektive Theatermachen, die sich sowohl in einer starken Personenbindung als auch (und damit einhergehend) in einer intensiven, psychologisch-realistischen Auseinandersetzung mit den dramatis personae der je’ne Diskussion, ob ich eine Figur spielen kann, die ein anderes Geschlecht hat. Vielleicht hat das auch damit zu tun oder bestimmt, dass ich mich selbst immer zwischen den Geschlechtern empfunden habe. Als Mensch sozusagen und nicht als Geschlecht. Und das überträgt sich dann auch an meine Herangehensweise bei Theaterfiguren. Ich versuch’ mich daran, Menschen zu spielen. Für mich ist es irrelevant, welches Geschlecht. Schon bei meinen Vorsprechrollen an der Schauspielschule habe ich meine Figuren wild durcheinander gewürfelt. Obwohl ich schon sagen muss, dass weibliche Menschen, so ›richtige‹ Frauen, also Frauen in Stöckeln, körperbetonten Kleidern, für mich eine andere Herausforderung darstellen. Wenn ich solche spiele, komm‹ ich mir immer mehr vor, als ob ich spiele, fühle mich künstlich. Bei männlichen Rollen denk‹ ich nicht drüber nach, da passiert es wie von allein, dass die Figur in meinen Körper geht. Da ist die Herausforderung das Emotionale dieser Figur. Was sie für einen Weg geht. Bei den Frauenrollen bin ich mir meinem Körper mehr bewusst. Vielleicht weil ich da noch einige Widerstände in mir verspüre was das, mein Frau-Sein, mein körperliches Frau-Sein angeht. Das nehm’ ich mir nicht so ab, fühl mich nicht so begehrenswert und das überträgt sich dann als Widerstand, Fremdheitsgefühl, wenn ich eine Frau spiele.« 71 | Vgl. das redigierte Interview mit Roger Vontobel und Jana Schulz unter Kapitel 3.1.1.1.

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weiligen Theatertexte äußert. So denke er »die Stücke und die Figuren einfach über die Leute« 72 – eine Aussage, welche das künstlerische Grundprinzip seiner Inszenierungs- und Besetzungspraxis transportiert.

3.1.2.1 Über Menschen Die von ihm für die Produktion Einsame Menschen gedachten und ›gewünschten‹ 73 Darsteller/innen beschreibt Vontobel in diesem Zusammenhang primär in Bezug auf deren schauspielerische oder/und persönliche Eigenschaften wie »die Extremität von Situationen auszuloten« als »Steckenpferd« von Jana Schulz oder die Eigenschaft von Paul Herwig »genau Menschen [zu] zeichnen«, der in diesem Zuge als ein »unglaublich genauer Spieler« und als »ein wahnsinnig genauer Arbeiter« charakterisiert wird.74 Sekundär oder eher selten bestimmt Vontobel die Akteur/ innen im Hinblick auf deren performativen und sichtbaren Habitus, wie dieser etwa in der Kategorisierung der »Schulz« als »Jüngling« vor allem in der Zeit des Studiums durchscheint. Seine Beschreibungen zeichnen in der Regel ein ganzheitliches Bild der Menschen. Jene (körper-)kategorialen Einzelaspekte von Schauspieler/innen, welche im zweiten Teil systematisch dargelegt worden sind, da ihnen in der Praxis der Ensemblezusammenstellung – verstanden als Aufstellung von Typen – ein besonderes Gewicht beigemessen wird, verschmelzen in seiner (Fremd-) Charakterisierung zu einem Gesamtbild einer professionellen Schauspieler/innenPersönlichkeit und lassen folglich keine einseitige Typisierung zu. Da in den Arbeiten Roger Vontobels die Komplexität von Mensch und Figur eine zentrale Rolle spielt, erscheint eine etwaige Reduktion beziehungsweise Abstraktion von Personen im Rahmen der hier vorgenommenen Fallanalyse auch analytisch nicht weiter sinnvoll. Es zeigt sich vielmehr, dass die Frage nach der konkreten Besetzung – zumindest für ein ›identitäres‹ Theater, wie es Roger Vontobel praktiziert – nur mehr personenzentriert und kontextualisiert zu bearbeiten ist. Neben Vontobel ließen sich noch andere Regisseur/innen im Gegenwartstheater nennen, welche durch die Verschränkung von Inszenierungs- und Besetzungskonzept eine prinzipiell identitäre, das heißt psychologisch-realistische oder gar hyperrealistische Figurenzeichnung forcieren, beispielsweise Stephan Kimmig, Hausregisseur am Deutschen Theater Berlin, Martin Kušej oder Oliver Reese, ersterer regieführender Intendant am Bayerischen Staatsschauspiel München, letzterer bis Sommer 2017 das Schauspiel Frankfurt, seit der Spielzeit 2017/2018 das Berliner Ensemble leitend, sowie die beiden, an den renommiertesten Theaterhäusern im 72 | Vgl. das redigierte Interview mit Roger Vontobel und Jana Schulz unter Kapitel 3.1.1.1. 73 | Der ›Besetzungswunsch‹, den Vontobel im Interview äußert, ist dabei jeweils auf vier oder fünf Schauspieler/innen bezogen, mit welchen der Regisseur an den jeweiligen Theaterhäusern wiederholt zusammenzuarbeiten versucht. Diese haben im künstlerischen Produktionsprozess bei Vontobel oberste Priorität, so erklärt er an einer anderen, nicht abgedruckten Stelle im Interview: »Die werden da einfach immer irgendwo ’nen Platz drin haben. Und das hat auch immer damit zu tun, was man sich dann da aussucht oder was für Stücke man machen will, weil man eben den und den und den da hat. Deswegen sucht man dann eher in die Richtung.« 74 | Vgl. das redigierte Interview mit Roger Vontobel und Jana Schulz unter Kapitel 3.1.1.1.

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deutschsprachigen Raum tätigen Regisseure Michael Thalheimer und Dušan David Pařízek. Eine Parallele zu Roger Vontobel ist in diesen Fällen jedoch nicht allein auf Ebene des künstlerischen, im weitesten Sinne ›identitären‹ 75 Inszenierungsund Besetzungskonzeptes zu sehen, realisiert sich dieses im Fall der eben genannten Regisseure doch immer zugleich in einem spezifisch institutionellen Kontext einer lokalen sowie personellen Bindung. Vor dem Hintergrund dieser Vergleichsfälle zeigt sich also ein auffallendes Indiz, nämlich die soziale Tatsache, dass sich hier über mehrere Zusammenarbeiten hinweg ähnlich enge Regie/Schauspiel-Beziehungen herausgebildet haben wie im exemplarischen Fall des Theaterduos Vontobel/Schulz: Martin Kušej/Bibiana Beglau, Oliver Reese/Bettina Hoppe, Michael Thalheimer/Constanze Becker, Dušan David Pařízek/Stefanie Reinsperger – auch in diesen Konstellationen lässt sich eine starke Individualisierung bis hin zu einer ›Besonderung‹ der Schauspieler/innen nicht nur behaupten, sondern beispielhaft bestätigen.76 So beschreibt etwa auch Martin Kušej die professionelle und persönliche (Arbeits-)Weise seiner »Lieblingsschauspielerin« Bibiana Beglau einerseits im Begriff einer »ungeheuren Präzision […], mit der Bibiana arbeitet« 77, andererseits und darüber hinausgehend in einer »außergewöhnliche[n] Körperlichkeit, in der so viel von ihrer Klugheit und Sensibilität steckt und aus der ihre Unruhe ständig herauszubrechen, sich herauszuwinden scheint« 78. Zugleich aber werfen diese Konstellationen den Blick auf das ›ungleiche‹ Geschlechterverhältnis der Berufsrollen, das nach Denis Hänzi genealogisch in die Erfindung des Regieberufes eingeschrieben ist: »Ihre Stärke und ihr Beharrungsvermögen scheint die dominant männliche Struktur dieses Felds aus einer historisch gewachsenen und kulturell verfestigten Normalitätsvorstellung zu beziehen, die dem modernen Regieberuf seit seiner Herausbildung im 19. Jahrhundert

75 | Diese Art identitären Theaters, für welche diese Regisseure stehen können, schließt aber keineswegs Möglichkeiten der Verfremdung des Bühnengeschehens oder der Verunsicherung von eingespielten Wahrnehmungsweisen aus; verfremdende, stilisierende, reflektierende Techniken werden in den Arbeiten der Genannten auf inszenatorischer Ebene vielfältig genutzt, vgl. für den konkreten Fall ›Vontobel‹ Kapitel 3.1.3 und 3.1.4. 76 | Zudem zeichnet sich eine Parallele zwischen diesen Schauspielerinnen in Bezug auf deren geschlechtsindifferente Rollenprofile ab, das heißt durch deren Besetzungen in und Darstellungen von insbesondere echten, verkleideten und sogenannt falschen Hosenrollen; zur Differenzierung dieser drei Hosenrollen-Typen siehe de Ponte 2013, 15f. Ein Vergleich zwischen oben genannten Schauspielerinnen wird in Bezug auf deren Rollenprofile und die Position des Jokers in Unterkapitel 3.2 angestrebt. 77 | Kušej 2014, 23. 78 | Kušej 2014, 22. In dem hier zitierten Porträt, das Kušej für die Fachzeitschrift Die Deutsche Bühne verfasst hat, beschreibt er Schauspieler/innen zudem in einer ähnlichen Weise wie Vontobel als eigentliche Trägermedien des künstlerischen Prozesses: »Am Anfang war nichts als ein kleiner Zettel. Darauf stand geschrieben: Faust Wölbern Beglau. Das war’s – mehr hatte ich nicht. Keine tolle Idee, keine Konzeption, keine Vision – eher Respekt und ordentlich Bammel. […] Lieblingsschauspieler sind so: Sie verhelfen einem zu guten Ideen und dann in der konkreten Arbeit zu einem kreativen und immer aufregenden Prozess des Suchens und Gestaltens.« (Kušej 2014, 22)

Teil 3: Der Joker im Schauspiel eingeschrieben und bis in unsere Tage wirkmächtig ist: dass es sich beim wahrhaft genialen Regisseur nur um einen wahrhaft genialen Mann handeln könne.« 79

In seiner Untersuchung Die Ordnung des Theaters. Eine Soziologie der Regie setzt sich Hänzi kritisch mit dieser Diskursfigur und inkorporierten Tradition auseinander, welche in ähnlicher Weise für die männlich codierte Intendanten-Position gilt. Diese äußert sich jedoch weniger in Genialität als vielmehr in (monarchistischer) Autorität. Ich möchte an dieser Stelle nur am Rande Stellung beziehen zu den konstatierten und bis heute in weiten Teilen tradierten ungleichen Geschlechterverhältnissen innerhalb einzelner Berufsgruppen und zwischen diesen.80 Was die Arbeits- und persönliche Beziehung zwischen Roger Vontobel und Jana Schulz sowie das Miteinander im sozialen und theatralen Raum betrifft, möchte ich hier aber in jedem Fall ausdrücklich von einem paternalistischen Verhältnis zwischen Regisseur und Schauspielerin absehen, zu wechselseitig produktiv und inspirativ ist deren Art zu arbeiten, wie insbesondere Kapitel 3.1.3 veranschaulichen wird.

3.1.2.2 Über Medien Zurück aber zur Inszenierungs- und Besetzungspraxis Roger Vontobels, der »die Stücke und die Figuren einfach über die Leute denk[t]« 81. Die hierbei implizit vollzogene Semantisierung von Schauspieler/innen erscheint in der hervorgerufenen Bedeutung auch theater- und schauspiel(er)theoretisch bemerkenswert: Diese fungieren, so lässt sich seine Aussage deuten, als Medien, mittels derer die fiktiven Figuren eine reale und meist weit über die Rollenanlage im Stück hinausgehende Menschwerdung – Vontobel spricht in diesem Zusammenhang von der »Tiefengestaltung der Figuren«82 – erfahren. So brauche die Figur der Käthe die Schauspielerin Jana Schulz, »dass diese Figur modern und heutig und auch stark wird«83. In einem etymologischen Sinne gebraucht der Regisseur hier den Medien-Begriff für Schauspieler/innen als ›die-in-der-Mitte-Befindlichen‹, als Mittler84 zwischen 79 | Hänzi 2013, 43 [Herv. i. O.]. Dem männlichen Regie- respektive Genie-Subjekt im theater- und kulturhistorischen Diskurs steht seit jeher auch das negativ gezeichnete Bild der weiblichen Schauspielerin zwischen Verwandlung, Verführung und Prostitution gegenüber, vgl. etwa Hänzi 2013, 149-154 und Hinz 2014. Ich werde die Schauspielerin Jana Schulz zwar nicht innerhalb dieses historischen Diskurses verorten, doch zeigt sich an ihrem Beispiel exemplarisch die Kraft der Wandelbarkeit und ein Begehren der Gegenwartskultur nach Anderem, vgl. Kapitel 3.1.5 und 3.2. 80 | Mit Blick auf die Subjektivation von Schauspieler/innen und vor dem Hintergrund meiner empirischen Untersuchung zum Betriebssystem des Ensembles sehe ich das Hauptproblem der Fortschreibung von (Geschlechter-)Ungleichheiten insbesondere in der Re/ produktion von ›Typen‹ und damit einhergehenden Konformitätserwartungen begründet. Die Repräsentation von männlicher Macht durch charismatische Führungspersönlichkeiten ist dabei nur das auffälligste Indiz der ›Re/produktionsmaschine Stadttheater‹, deren Verteidigungsstrategien sich auf anderen Ebenen vollziehen. 81 | Roger Vontobel im redigierten Interview unter Kapitel 3.1.1.1. 82 | Roger Vontobel im redigierten Interview unter Kapitel 3.1.1.1. 83 | Roger Vontobel im redigierten Interview unter Kapitel 3.1.1.1. 84 | Die Medialität von Schauspieler/innen und der Medien-Begriff, wie ihn Vontobel gebraucht, hat eine andere Qualität als der Begriff des Mediums respektive des Boten, wie in

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Rolle und Figur, zwischen Bühnen- und Zuschauer/innen-Raum und »zwischen verschiedenen Zeitschichten«85, den »Zeiten des Autors, des Materials, der Schauspieler, der Zuschauer«86. Mit Friedemann Kreuder lässt sich der darstellende und wahrgenommene Körper von Schauspieler/innen in diesem Sinne gar als ein (Bachtin’sches) »Chronotop« 87 verstehen. Wie ein Chronotop bündelt der Schauspieler/innen-Körper dabei mehrere, meist anachronistische Zeit-Räume: »Die Zeit verdichtet sich hierbei, zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Subjekts, der Geschichte hineingezogen.«88 In die jeweilige Geschichte des Schauspiels beziehungsweise des Schauspielers/der Schauspielerin werden jedoch nicht allein die verschiedenen dramatischen Zeitschichten (»Text, Theater, Autor« 89 betreffend) hineingezogen. Auch die jeweiligen sozialen Zeit-Räume von Text, Theater und beteiligten Akteur/innen, die sich exemplarisch hinsichtlich der historisch und lokal kontingenten Geschlechterdiskurse und -dispositive widerspiegeln,90 gehen in die Körper von Schauspieler/ innen – als Medien der Darstellung sowie der Wahrnehmung91 – über. Dies suggerieren zumindest die Besetzungsmotivationen Roger Vontobels, wie auch die Imaginationen seitens eines Fachpublikums, wie sie beispielhaft bereits zu Beginn dieses Teiles in Bezug auf die Käthe-Darstellung belegt worden sind. »Dass diese Figur modern und heutig und auch stark«92 gedacht und wahrgenommen werden kann, was im Verhältnis zum dramatischen und gesellschaftlichen Kontext der Hauptmann’schen Dramenhandlung einer Emanzipation von der darin fest- und fortgeschriebenen, sozialen Rolle der ›(bürgerlichen) Mutter‹ gleichkommt,93 liegt die Philosophin Sybille Krämer in ihrer Monografie Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität entwickelt; Medien wie Viren oder Geld, deren Eigenschaften Krämer erörtert, sind keine ›souveränen Agenten‹, sondern im Gegenteil heteronom und Bestandteil eines Verhältnisses, das »der Reziprozität entbehrt«, vgl. Krämer 2008, 10 [Herv. i. O.]. 85 | Lehmann 2009, 23. 86 | Lehmann 2009, 23. 87 | Kreuder 2002, 104. 88 | Michail Bachtin zitiert nach Kreuder 2002, 104. 89 | Lehmann 2009, 23. 90 | Vgl. das Kapitel »Geschlechterdispositiv(e) im sozialen Raum« im Rahmen meiner Einleitung. 91 | Vgl. auch die Operationalisierung der sozialen Körper als Kommunikationsmedien beziehungsweise als »Wissen kommunizierende Körper« in der ›Soziologie des Wissens und des Körpers‹ von Stefan Hirschauer, vgl. Hirschauer 2008, 88-92. 92 | Roger Vontobel im redigierten Interview unter Kapitel 3.1.1.1. 93 | Gerhart Hauptmanns Stück Einsame Menschen baut auf einer traditionell-bürgerlich Geschlechterordnung mit klar verteilten Aufgaben für (Ehe-)Frauen als Mütter und für Männer als Macher auf. Als Ausgangs- und Konfliktsituation ist die Geschlechterdifferenz hier fest in die Personenbezeichnungen, Ansprachen und (selbst-)charakterisierenden Sprechakte der 1890 verfassten Dramenhandlung integriert: Die Markierung und Zuordnung von Figuren ausschließlich weiblichen Geschlechts findet sich in der Namensgebung ›Vockerat‹ (für das Familienoberhaupt) versus ›Frau Vockerat‹ wieder; letztere wird von der antagonistischen und emanzipierten Frauenfigur ›Anna Mahr‹ im Stück zusätzlich rollenspezifisch als »Mama Vockerat« tituliert. ›Frau Käthe‹, verniedlichend auch »Käthchen« oder »Käthemie-

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vor diesem Hintergrund folglich nicht nur an der sprachlichen und performativen Vermittlung des 1890 verfassten (Rollen-)Textes, sondern auch und vor allem an der Ver-Körperung »dieser festgebundenen Figur, in sich selbst gefangenen Figur mit Jana«94, womit der Regisseur ein Kontrastverhältnis beschreibt. Sie sei nämlich »auf eine gewisse Art genau das Gegenteil davon«95. In persona, das heißt mit Blick auf Habitus und Rollengeschichte, verkörpert Jana Schulz »nicht gerade die neue Mutter […], die neue junge Mutter«96, als welche Vontobel jedoch die Hauptmann’sche Frauenfigur Käthe neu lesen und gegen den literarischen Typen dargestellt sehen möchte. Interessanterweise erkennt er für diese Idee des Gegenlesens der Rolle nun (s)eine Lösung in der ›Gegenbesetzung‹ des literarischen, weiblichnaiven Typus: Die in ihrem Frausein Gefangene wird durch eine ihr Frausein Abschüttelnde respektive mit ihrem Frausein Hadernde dargestellt – die Zu- beziehungsweise Abweisung eines weiblichen Geschlechtsrollenbildes scheint hierbei die Projektions- und Reibungsfläche zu bilden, auf deren Folie sich eine ästhetische Differenz zwischen realer Person und fiktiver Figur umso deutlicher abzuzeichnen vermag. Der innere Konflikt der Figur wird auf diese Weise auf die Persona der Schauspielerin übertragen, durch deren Ver-Mittlung respektive Ver-Körperung der »Kampf«97 gegen die kulturelle Anweisung und soziale Zuweisung ›Mutter‹ respektive ›Geschlecht‹ zu sein ausgefochten und innerhalb der Inszenierungsdramaturgie gewonnen wird. So endet das Stück in der Vontobel’schen Inszenierung nicht im Bild des Verlassenseins und endgültigen Zusammenbruchs der Käthe,98 sondern in einer Bewegung des Auf bruchs. Aufgeräumt und im Begriff zu gehen erlischt über Käthe mitsamt Kind nach dem dramatischen Selbstmord der männlichen Hauptfigur Johannes das Bühnenlicht. Betrachtet man diese (sowohl für die Figur als auch für die Schauspielerin) atypische Besetzung unter der Perspektive einer bewussten In-Szene-Setzung des Spiels mit der ästhetischen Differenz erklärt sich in dieser Optik auch die kontroverse Beurteilung der Käthe-Besetzung in der Wahrnehmung der beiden eingangs

zel« genannt und zu Beginn des Dramas als »liebes, gutes Kind« und »ganze Mutter« eingeführt, diffamiert sich gegenüber ihrem Ehemann ›Johannes‹ – der Logik einer bürgerlichen Geschlechter- und Familienlogik entsprechend – selbst mit den Worten: »Dir kann ich nichts sein, denn deine Arbeit versteh ich nicht. Und der Junge … na ja! Dem gibt man seine Milch, man hält’n sauber … aber das kann ein Kindermädchen auch machen, und später … später kann ich’m doch nichts mehr bieten (wieder stärker weinend). Da wär er – bei Fräulein Anna viel besser aufgehoben« (Einsame Menschen, Zweiter Akt, vgl. Hauptmann 1906 [1890], 63f.). 94 | Roger Vontobel im redigierten Interview unter Kapitel 3.1.1.1. 95 | Roger Vontobel im redigierten Interview unter Kapitel 3.1.1.1. 96 | Roger Vontobel im redigierten Interview unter Kapitel 3.1.1.1. 97 | Roger Vontobel im redigierten Interview unter Kapitel 3.1.1.1. 98 | Bei Hauptmann schließt der fünfte Akt mit folgender Regieanweisung das Drama: »[Käthe] [w]ill davon hasten über die Veranda, bemerkt den Zettel, steht kerzengerade, geht steif und bebend darauf zu, nimmt ihn auf, starrt einige Augenblicke wie gelähmt darauf hin und bricht zusammen. Draußen noch immer das Rufen« (Hauptmann 1906 [1890], 136).

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zitierten Kritiken: einerseits als »Coup«99, andererseits als »Fehlbesetzung«100. Während im Blick des einen nicht nur die Regieidee, sondern vor allem die schauspielerische Darstellung »mit unaufdringlichen Mitteln, kleinen Gesten, nervösen Blicken gelingt[,] […] diesen Menschen [die unterwürfige Figur Käthe] gegen den Anschein der Überflüssigkeit ins Recht zu setzen«101, verfehlt Vontobel aus Sicht der anderen sein Ziel; für letztere schimmert die Schulz, die »sich für Vontobel schon oft in körperlich extrem herausfordernde Rollen gestürzt [hat]«102 so stark durch die von ihr gespielte Käthe, dass man jene (und das ›eigentliche‹ Können der Schauspielerin) nicht wiedererkennt. Beide Rezensent/innen nehmen im Wissen um die bisherigen Arbeiten des Theaterduos Vontobel/Schulz dabei Bezug auf das allmähliche Blending, das zwischen der Schauspielerin und ihren Figuren offensichtlich bereits stattgefunden hat. Wie die Kritiken darlegen, gewinnt die Schauspielerin in diesem sich übereinander schichtenden Erfahrungs- sowie Diskursraum vorangegangener Figurendarstellungen und Selbst- beziehungsweise Fremdwahrnehmungen der Persona Schulz zwar ein relativ klares, innerhalb des Feldes wiedererkennbares Profil, zugleich aber scheint sie in der engen Verbindung mit ihren »Paraderollen«103 ein kaum mehr von ihr zu trennendes oder gar abzuweisendes Image entwickelt zu haben. Inwiefern ein solcher Effekt des Blending zwischen realer Person und fiktiven Figuren bereits produktionspraktisch auf Ebene des Schauspiels und der Regie angelegt ist, versucht im Folgenden der Blick hinter die Kulissen und auf die Proben zu ergründen. Denn wie die Stellungnahmen von Vontobel und Schulz darlegen und auch die Stimmen der Kritiker/innen nahelegen, stellt die Interferenz zwischen Arbeits-, Spiel- und Inszenierungsweise im Kontext der Vontobel’schen Arbeiten eine wesentliche Voraussetzung für die Möglichkeit eines Blend-Effektes im Fall von Theaterschauspieler/innen dar.

3.1.3 Probieren und Inszenieren: Einsame Menschen auf der (Dreh-)Bühne Ein Zitat aus dem 2011 von Jens Roselt und Christel Weiler herausgegebenen Sammelband Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten soll aus theaterwissenschaftlicher Perspektive einen ersten Einblick in die Arbeit, das heißt in die alltägliche Praxis von Schauspieler/innen geben. Im Vorwort der Herausgeber/innen heißt es hierzu:

99 | Krumbholz 2014. Der Begriff des Coups ist im Kontext des Theaters aufschlussreich: Christopher Balme etwa zählt in Anlehnung an die Forschung zum Melodrama von Kati Röttger den ›Theatercoup‹ (neben dem Tableaux) zu einem Effekt der ›Bilddramaturgie‹, dem genuin ein visueller Augenblick eigen sei (siehe Balme 2006, 20), so schreibt bereits August von Kotzebue (1761-1819): »Ein Theatercoup ist ein interessanter und überraschender Moment eines Schauspiels, der nicht bloß vernommen, sondern auch gesehen wird, der aber ohne Zwang aus der Handlung hervorgeht« (August von Kotzebue zitiert nach Röttger 2001, 116). 100 | Dürr 2014. 101 | Krumbholz 2014. 102 | Dürr 2014. 103 | Krumbholz 2014.

Teil 3: Der Joker im Schauspiel »Schauspielerische Arbeit ist ein Vorgang besonderer Art. Sie bringt nichts hervor, was von der Person des Schauspielers oder der Schauspielerin abzulösen ist, sie ist immer untrennbar mit dieser verbunden. So gesehen handelt es sich um einen kontinuierlichen Selbstbildungsprozess, um einen Vorgang der permanenten Selbst- und Neuerschaffung sowie um eine fortgesetzte Transformation. Schauspieler nutzen ihren Körper, ihre persönlichen Erinnerungen, Gefühle und Erfahrungen, um Fiktionen und Phantasmen einen Körper und eine Stimme zu geben. Darüber hinaus stellen sie sich immer wieder den Projektionen von Regisseuren und Zuschauern gleichermaßen zur Verfügung.«104

Eine solcherart akteurszentrierte Theorie über Schauspieler/innen betrachtet diese – im Vergleich etwa zu Marx’ kulturwissenschaftlicher Theaterhistoriografie, wie ich sie zu Beginn des dritten Teiles eingeführt habe – noch einmal unter einem anderen Gesichtspunkt. Das heuristische Dreieck aus literarischer Figur, Persona und Imaginärem105 wird hier sozusagen gekippt und auf dem Kopf der Persona stehend neu justiert. Dabei lässt sich die Persona im Spannungsfeld zwischen SelbstSein (Ego), Ein-anderer-Sein (Alter) und Für-andere-Sein (Projektion) theaterpraktisch verorten.106 Noch einen Schritt weiter geht die prozessorientierte Perspektive Roselts und Weilers, weil sie die Schauspieler/innen selbst fokussiert: Unter dem Aspekt der »Selbst-Bildung«107 rückt hierbei das permanente Werden – des Selbst, des Anderen und im Blick des Anderen – in den Mittelpunkt der Betrachtung. Möchte man versuchen, diesem Prozess zwischen Selbst-Bildung und FremdBildung auf die Spur zu kommen, bietet sich die Theaterprobe als ein paradigmatischer Untersuchungskontext an: Hier lassen sich Schauspieler/innen bei ihrer täglichen Arbeit beobachten, bei der Arbeit an sich selbst und an der Rolle,108 beim Zusammenspiel mit anderen und im Blick von anderen, repräsentiert durch die Regie-Position. Umso erstaunlicher ist es, dass der oben zitierte Band dem Probenprozess als einer analytischen Einheit keine weitere Aufmerksamkeit schenkt. Zwar werden hierin Schauspieler/innen in Ansätzen zu ihrer Arbeit und zur Probe befragt, doch bleibt das Gros der theaterwissenschaftlichen Beiträge in (sicherer) analytischer Distanz zu den Praktiken, Routinen sowie ›Risiken‹ von Schauspieler/ innen während des (fast) täglichen Probenprozesses.109 Dieser weiterhin als Forschungsdefizit der Theaterwissenschaft zu konstatierende Untersuchungskontext und -gegenstand soll – zur weiteren Erschließung 104 | Roselt/Weiler 2011, 13. 105 | Vgl. Marx 2008, 55. 106 | Vgl. Kreuder 2008, 233-235. 107 | Roselt/Weiler 2011, 13. 108 | Vgl. Stanislawski 1955, 1996a [1961] und 1996b [1961]. 109 | Ein anderer, ebenfalls 2011 herausgegebener Sammelband von Melanie Hinz und Jens Roselt widmet sich als erster dieser Art dem Thema Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater aus einer empirischen Perspektive, doch fokussiert er fast ausschließlich unterschiedliche (Regie-)Praktiken des Probierens und verliert dabei den Prozess der Selbst-Bildung von Schauspieler/innen aus dem Blick (vgl. Hinz/Roselt 2011); zwei Ausnahmen bilden die Beiträge von Sabine Krüger (vgl. Krüger 2011, 262-285) und Annemarie Matzke (vgl. Matzke 2011, 132-149). Letztere hat zudem eine umfassende Untersuchung zur Probe als Arbeit am Theater aus einer diskursgeschichtlichen Perspektive vorgelegt, vgl. Matzke 2012.

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des theaterwissenschaftlichen und theaterpraktischen Feldes – die analytische Einheit innerhalb des vorliegenden Unterkapitels bilden. Hierbei wird die meiner Arbeit zugrundeliegende praxeologische Perspektive zum einen den Probenalltag und dessen Praktiken am Fallbeispiel der Produktion Einsame Menschen beleuchten. Zum anderen fragt mein theaterpraktisches und -wissenschaftliches Interesse nach dem Zusammenspiel von Akteur/innen, Ko-Akteur/innen und Aktanten hinsichtlich des Selbst- und Fremdbildungsprozesses von Schauspieler/innen. Denn in diesem Spannungsverhältnis von Selbst- und Fremdbildung, von Akteur/innen und Aktanten, von Schauspiel- und Inszenierungspraktiken wird jener Blend-Effekt vermutet, der für den Fall ›Schulz‹ offengelegt werden soll. Ob und inwiefern sich der Rezeptionseffekt des Blending zwischen realer Person und fiktiven Figuren empirisch während des Produktionsprozesses – hier bezogen auf die Phase des Probierens und Inszenierens – nachweisen lässt, soll das anschließende Probenprotokoll auf ethnografische Weise zu entdecken versuchen.

3.1.3.1 Dieser Wahnsinn hat Methode: Praktikenkomplex Probe Das Protokoll basiert auf handschriftlichen Notizen, die ich am Schauspielhaus Bochum während des Probenzeitraumes zwischen dem 22. September und 9. November 2014 angefertigt habe. Die teilnehmende Beobachtung hat dabei nicht täglich stattgefunden, aber konstant über den Probenprozess hinweg, sodass unterschiedliche Probenphasen untersucht und die Entwicklung der Figuren mitverfolgt werden konnten. Das hier verschriftlichte Protokoll ist auch als Darstellung eines chronologisch nachvollziehbaren Ablaufes samt seinen Praktiken zu verstehen; mehr aber noch stellt es einen kommentierenden (und dementsprechend auch subjektiv eingefärbten) Probenbericht dar – eine Beschreibung und Reflexion von ausgewählten Szenen und Sequenzen, welche im Nachgang noch einmal genauer hinsichtlich der relationalen Selbst- und Fremdbildung der Schauspieler/innen unter der Regie von Roger Vontobel analysiert werden sollen.

3.1.3.2 Die räumliche Situation: Proben-Alltag Die Probebühne ›Malersaal 1‹ im fünften und obersten Stockwerk des Schauspielhauses, die vom 22. September bis 9. November 2014 für die Produktion Einsame Menschen reserviert ist, wirkt überraschend leer und in Anbetracht der wenigen, vorwiegend schwarzen Einrichtungsgegenstände düster, als ich sie am 9. Oktober gemeinsam mit dem Regieassistenten zum ersten Mal betrete. Eine durch bühnenbildnerische Elemente klar abgegrenzte Spielfläche ist auf den ersten Blick kaum zu erkennen: Im hinteren Bereich des Malersaales befinden sich an der Längsseite mehrere Bühnenpodeste, auf denen eine Stuhlreihe – einer Zuschauerreihe gleich – angeordnet ist; an beiden Seiten der Probebühne sind auf einem niedrigen Treppenabsatz mit Hilfe von schwarzen Stellwänden Auf- und Abgänge angedeutet; vor dem rechten Absatz steht ein Klavier, über den linken Stellwänden hängt ein Schriftzug mit dem Namen Philipp, bestehend aus schwarz-grauen Holzlettern mit kindgerechten Clownsgesichtern darauf, wie man sie von Kinderzimmertüren kennt;110 in der Mitte des Probenraumes reihen sich fünf schwarze Stühle neben110 | Zu diesem Zeitpunkt verweist der Schriftzug mit dem Namen des neugeborenen Philipps noch auf ein real-räumliches Arrangement hin, welches das Kinder- oder auch das Elternschlafzimmer hinter dem linken Abgang vermuten lässt. Da aber weder das von Roger

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einander, die, wie man erst im Probeneinsatz feststellt, auf einer etwa drei Meter großen Drehbühne angeordnet sind; im vorderen ›Team‹-Bereich sind neben einer etwa 10 Meter langen Tisch-Tafel samt Stühlen, auf der einzelne Texthefte, CDs, Wasserflaschen und ein Schnuller zu sehen sind, weitere proben- beziehungsweise alltagspraktische Dinge vorzufinden, wie ein Licht- und Tonpult, ein Requisitenschrank, ein Bühnenbildmodell sowie eine kleine Küchenzeile mit alltäglichen Requisiten (Spülbecken, Kaffeemaschine und Nahrungsmitteln) darauf.

3.1.3.3 Die soziale Situation: soziale Differenzierung? Probenbeginn an diesem Vormittag des 9. Oktober 2014 ist für 11 Uhr angesetzt. Gegen Viertel vor 11 betritt der Regisseur Roger Vontobel grüßend und gut gelaunt, an jenem Morgen jedoch humpelnd den Malersaal. Er setzt sich mittig an die lange Tafel, legt seinen während der Probe am Vortag verstauchten Fuß auf den Tisch, schaut noch einmal konzentriert in sein Textbuch, bevor sich kurze Zeit später die Souffleuse und erste Schauspieler/innen in grau-braunen Probenkostümen111 zu ihm an den linken äußeren Tischbereich setzen und Regie-/Bühnenbild-/KostümAssistent/innen sowie die zwei an der Produktion beteiligten Musiker auf der anderen Tischseite Platz nehmen. Den Begrüßungsritualen und der guten Stimmung nach zu urteilen,112 pflegen der Regisseur und die Beteiligten einen kollegialen und in Teilen äußerst privaten Umgang.113 Die Privatheit verwundert im Kontext der Vontobel selbst gestaltete Bühnenbild noch der Schriftzug innerhalb der Inszenierung als aufeinander bezogene Signifikanten eingesetzt werden (sollen), wird letzterer noch in derselben Probenwoche abgehängt; in metaphorischer Verwendung wird er letztlich über den Köpfen der Familienmitglieder schweben, aber nur zu Beginn der Aufführung kurzzeitig – und signifikant – sichtbar sein. 111 | Aus diesem Farbspektrum (Kostüme: Tina Kloempken) sticht das sonnengelbe, kurze und taillierte Kleid jener Schauspielerin heraus, die für die Figur der Anna Mahr besetzt worden ist (Therese Dörr), und von ihren Kolleg/innen sogleich lachend mit dem Beinamen »Wespe« angesprochen wird. Die Allegorie ist nicht nur farbästhetisch, sondern auch inhaltlich treffend: Im zweiten Akt des Hauptmann’schen Dramas, als sich Fräulein Anna Mahr bereits im Kreis der Familie Vockerat eingenistet hat, wird »Mama Vockerat«, wie Anna Mahr sie zu Beginn dieses Aktes liebevoll, aber auch vereinnahmend nennt, von einer Wespe heimgesucht. »Infame Tiere«, kommentiert Frau Vockerat nach Bändigung der Gefahr die Szene, zumindest in Hauptmanns Version. Im Textbuch der Inszenierung ist das Geschehen rund um die Wespe gestrichen und, so lässt sich schlussfolgern, bildlich in die Bühnenfigur Anna Mahr, entsprechend ihrer dramentheoretischen Funktion einer – den Hausfrieden störenden – ›Botin aus der Fremde‹ (vgl. Marx 1998, 63), integriert worden. 112 | Auffallend sind hierbei manche, fast täglich wiederholte Begrüßungsrituale, wie etwa eine Abwandlung des Arbeitergrußes zwischen dem älteren Schauspieler »Schützi« und dem jüngeren Regisseur »Vonti-Bär«. Das Spiel mit Anrede- und/oder Verniedlichungsformen prägt dabei wesentlich den auffallend nonchalanten Umgang; in einem solchen, vertrauten Rahmen ist auch die Anredeform »Schulz« oder »die Schulz« (und nur selten »Jana«), wie Vontobel sie meist anspricht oder über sie redet, zu werten. 113 | Die personenspezifischen Begrüßungsrituale und Anreden differenzieren den Regisseur und sein Produktionsensemble hierbei auch weniger nach Geschlecht, sondern nach dem Grad der im Berufskontext gelebten Freundschaft. Was den hier skizzierten Fall angeht, zeichnet sich das soziale Feld des Theaters zumindest im Arbeitsalltag durch informelle si-

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Theaterarbeit prinzipiell nicht, zeichnet sich doch gerade die hierarchisch gegliederte Organisation der meisten Theaterhäuser auf Ebene der Ensemble-Interaktionen durch einen hohen Grad an Informalisierung aus. Im Fall des Vontobel’schen Teams aber, zu welchem nicht nur ein kleiner Kreis an Dramaturg/innen, Bühnen-, Kostümbildner/innen und Musiker/innen, sondern auch – jeweils gebunden an die unterschiedlichen Arbeitsorte in Hamburg, Dresden114 und Bochum – eine Gruppe an Schauspieler/innen gehört, beruhen die informellen Beziehungen zudem auf einer langjährigen, einerseits sozial, andererseits beruflich stabilisierten Bindung zwischen dem Regisseur und seinen Vertrauten. Als ›vertraut‹ und ›mit unterschiedlichen Aufgaben betraut‹ – in dieser Form und mit diesen Worten lässt sich vielleicht am Treffendsten das Team und die Mannschaft der Spieler/innen um Kapitän Vontobel beschreiben.115 An jenem Probenvormittag (und gleichwohl an den darauffolgenden) schleicht die Schauspielerin Jana Schulz – auf Wollsocken – als letzte in den Probenraum, eingekleidet in ein graues, knielanges und hochgeschlossenes Probenkleid und eingehüllt in eine graue Strickjacke. Sie grüßt die Beteiligten eher mit Blickkontakten als mit Worten und setzt sich auf einen etwas vom Tisch weggerückten, frei gebliebenen Stuhl, direkt gegenüber von Roger Vontobel. Innerhalb von wenigen Minuten hat sich am Tisch – nicht auf informeller Ebene, aber doch formal – unausgesprochen und völlig routinisiert eine Platz- und in gewissem Sinne Rangordnung hergestellt, differenziert nach beruflicher Funktion sowie Position im sozialen sowie szenischen Gefüge; so lässt die auch an anderen Tagen eingenommene, relativ feste Sitzordnung vermuten. Vontobel, Schulz sowie der Schauspieler Paul Herwig, der als Gast für die Rolle des Johannes Vockerat engagiert worden ist und welchen beide seit der Hamburger Zeit kennen, bilden dabei, so scheint es, die zentrale Konstellation,116 um welche sich linker Hand die weiteren vier Schauspieler/ innen (für die Figuren Vockerat, Frau Vockerat, Braun und Anna Mahr) und rechter Hand eine Vielzahl an Assistent/innen anordnen.

tuierte Praktiken aus, die in Bezug auf das Geschlechterverhältnis den individualisierten Paarpraktiken ähneln. Theater als öffentliche Sphäre und Arbeitsort wird in diesem Sinne vom privaten, nicht-öffentlichen Kontext ›Familie/Freunde‹ durchdrungen (vgl. Burkart/Koppetsch 2001), wodurch die Probensituation im extremen Gegensatz zum hohen Institutionalisierungsgrad der Geschlechterdifferenz innerhalb der Sinnschicht des Hauptmann’schen Theatertextes steht. 114 | Zur Spielzeit 2016/2017 hat ein großer Teil des künstlerischen Teams um Intendant Winfried Schulz vom Staatsschauspiel Dresden ans Düsseldorfer Schauspielhaus gewechselt, so auch Vontobel, der nun dort als Hausregisseur engagiert ist. 115 | Eine Aussage im redigierten Interview unter Kapitel 3.1.1.1 lässt neben meiner eigenen Beobachtung diese Deutung zu, so spricht er in Bezug auf seine je spezifische und ortsabhängige (Wunsch-)Besetzung von den jeweils »vier bis fünf Leuten, die […] da einfach immer einen Platz haben [werden]«. 116 | Sozusagen als Trio werden sie auch nach außen hin dargestellt, so lautet im Rahmen der Premierenkritik eine Bildunterschrift in den Ruhr Nachrichten vom 11.11.2014 etwa: »Sie gehören zu Roger Vontobels Theaterfamilie: Paul Herwig als Johannes Vockerat, Jana Schulz als dessen Frau Käthe« (von Wangenheim 2014).

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3.1.3.4 Probensituation I: Leseprobe »Dritter Akt für alle Beteiligten« steht an diesem Morgen auf dem Probenplan. Auch in der dritten Woche beginnt die Probe wie selbstverständlich noch am Tisch.117 Die Schauspieler/innen lesen anfangs noch einzelne Wörter oder ganze Sätze aus ihren Textbüchern ab. Zunächst scheint die Leseprobe vor allem dem praktischen Einüben der ›fremden‹ Texte und dem Ausprobieren unterschiedlicher Sprech- und Figurenhaltungen zu dienen. In dieser gemeinsamen Annäherungsphase an Figuren und Situationen suchen die Sprechenden dabei auf je eigene Weise und in verschiedenen Intensitätsgraden nach ›stimmigen‹ Tönen: Während die einen dabei ihre Sprechstimmen mit Blicken und Bewegungen unterstützen und mit Hilfe des gesamten Körpers fast schon szenisch agieren und auf Mitspieler/ innen in ähnlicher Weise reagieren, nähern sich andere primär mit den Modulationen der Sprache und Stimme und einer vergleichbar zurückgenommenen Gestik an die Dialoge sowie an die Sprech- und Denkweise der Figuren an. Durch eine auch beim Lesen meist zurückhaltende Stimmlichkeit und Körperlichkeit lässt sich im Fall von Jana Schulz während dieser Leseprobe kaum zwischen alltäglicher und ausgebildeter Sprechstimme, zwischen Privatperson und Bühnenfigur unterscheiden. Ihr vorsichtiges und eher leises Reden passt zu der von Hauptmann inspirierten Figur der angeschlagenen Käthe – doch wirkt es nicht weniger stimmig in Bezug auf die vorbeihuschende, flüchtig-leise grüßende Schauspielerin selbst. Roger Vontobel unterbricht die erste Leserunde. Eine situative Frage beschäftigt ihn: Ob und inwiefern Anna Mahr nun wirklich durch Johannes und Käthe Vockerat »unterstützt«118 werde. Eine rege, größtenteils ernsthafte, bisweilen auch ironisierende Diskussion bricht los, ob es sich dabei tatsächlich um finanzielle Unterstützung handele. Auf damit verbundene Fragen werden im Gespräch teils konkrete Antworten gesucht (beispielsweise einigt sich die Truppe lustig debattierend bezüglich des an Anna Mahr ausgezahlten Geldbetrages auf eine Summe von 117 | ›Selbstverständlich‹ ist ein solches Vorgehen, das heißt die Konzentration auf das Lesen, Sprechen und Diskutieren des Textes im Vergleich mit anderen Probenprozessen nicht, bei welchen etwa szenische Proben oder auch Improvisationen gegenüber einer solche Form der Textarbeit dominieren oder diese gar ersetzen; da die Herangehens- und Vorgehensweisen je nach Regie, Produktionsensemble und Theaterform beziehungsweise Theatertext stark divergieren, lassen sich hier keine pauschalen Aussagen treffen. Vor dem Hintergrund meiner persönlichen Theatererfahrung und Beobachtung lässt sich die intensive Textlektüre zu diesem Zeitpunkt der Proben in jedem Fall als ›auffallend‹ bezeichnen. 118 | Der Dialog, auf den hier Bezug genommen wird, findet zwischen Frau Käthe und dem Haus- und Studienfreund Braun während des ersten Aufzuges des dritten Aktes statt. Dieser beginnt mit dem Eintreten Brauns in das Landhaus der jungen Vockerats, wo Käthe – laut dem Hauptmann’schen Nebentext »in Rechnungen vertieft« – den Besuch des Hausfreundes nutzt, um mit ihm über Möglichkeiten des Gelderwerbs zu sprechen. Dazu kommt es jedoch nicht, da Braun viel eher den Grund für »so eine [Schnaps-]Idee« zu erfahren versucht (siehe Hauptmann 1906 [1890], 71): Braun: Ist etwa Hannes wieder mal in seiner grenzenlosen Güte missbraucht worden? Frau Käthe: Nein, keinesfalls. Braun: Soll etwa Fräulein Anna unterstützt werden? Frau Käthe: Nein, nein, nein! Was denken Sie? Wie kommen Sie auf so was! Ich sage nichts ​ mehr. Kein Wort, Herr Braun!

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500 Euro); teils werden Fragen aber auch offen gelassen, sodass eine Beantwortung den betreffenden Figurendarsteller/innen vorbehalten bleibt. So scheint es zum einen Themen zu geben, die innerhalb der Diskussion zum Allgemeingut erklärt und gemeinsam verhandelt werden, zum anderen figurenspezifische Fragen und Motivationen, die im ›Privatbesitz‹ der jeweiligen Darsteller/innen bleiben. Für mich zeichnet sich diese erste (Lese-)Probe insbesondere durch einen offenen und respektvollen Umgang zwischen den Beteiligten aus. Offen wirkt er nicht nur im sozialen Austausch, sondern auch in der Handhabung der Probensituation. So muss ein offizieller Beginn der Probe nicht als solcher markiert werden, sondern wird in einem fließenden Übergang von Alltags- und Arbeitssituation durch alle Beteiligten routinisiert und unkompliziert gestaltet. Auch das respektvolle Miteinander betrifft sowohl die quasi private als auch die professionelle Situation, in welcher zum einen Platz für persönliche Erzählungen und Bezüge, für Zweifel und Kritik an Figuren- oder/und eigenen Werthaltungen ist, zum anderen ein Freiraum des Eigenen bleibt, der die unterschiedlichen, individuellen und/oder beruflichen Arbeitsweisen berücksichtigt.

3.1.3.5 Probensituation II: Szenenprobe Wenige Stunden später sitzt in der Abendprobe dieselbe Konstellation in gleicher Sitzordnung am Tisch. Erneut wird der dritte Akt bis zum vorläufigen Höhepunkt der Dramenhandlung gelesen und kommentiert. Nach einer kurzen Pause soll diese Sequenz das erste Mal szenisch geprobt werden. Manche der Schauspieler/ innen verlassen noch einmal den Malersaal. Die beiden Musiker, ein Cellist/Pianist und ein Baritonsänger, spielen und singen sich in der Nähe des Klaviers auf der rechten Bühnenseite ein. Jana Schulz bereitet sich, auf dem hinteren Bühnenpodest sitzend und leise ihren Text vor sich hin sprechend, auf die erste Szene zwischen den Figuren Käthe und Braun vor. Als sich nach etwa zehn Minuten alle Beteiligten erneut im vorderen ›Regie‹-Bereich der Probebühne sammeln und sich nur noch der Regisseur, die zwei Musiker sowie die beiden Protagonist/innen der Anfangsszene im eigentlichen Bühnenraum aufhalten, kann die szenische Probe beginnen. Erneut bedarf es keiner Worte hinsichtlich eines konkreten Beginns, auch Anweisungen für die beiden Spieler/innen, beispielweise im Hinblick auf gewünschte Positionen im Raum oder eine konkrete Situation, die mit den Texten gespielt werden soll, werden nicht ausgesprochen. Lediglich den Übergang vom zweiten zum dritten Akt versucht Vontobel – noch in der Mitte des Raumes stehend – zu koordinieren, indem er die Musiker bittet, den Refrain des Volksliedes Heidschi Bumbeidschi anzustimmen. Im Zurückgehen auf seinen angestammten, mittigen Platz an der Längsseite der Tischtafel gibt er seinem Assistenten flüchtig ein Handzeichen, woraufhin dieser am Schaltpult die Drehbühne aktiviert, sodass sich die etwa drei Meter große Kreisfläche samt den fünf schwarzen Stühlen langsam zu drehen beginnt. Der Schauspieler, der die Rolle des Braun spielt, hält sich noch außerhalb der Szene am linken seitlichen Rand auf, während sich Jana Schulz unter Cello-Klängen und dem leisen Lied des Baritonsängers im Kreis der Drehbühne und im szenischen Kontext zu orientieren versucht. Unter dem knielangen grauen Kleid trägt die Bühnenfigur Käthe keine Strumpfhose, nur beige Wollsocken – im Malersaal 1 ist es trotz der Probenscheinwerfer kühl, sodass ich mich nicht wundere, dass sich die Schauspielerin stehend und sitzend in die graue Strickjacke wie in eine Decke

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einzuwickeln versucht. Arme und Decke um sich geschlungen, nimmt sie, die fünf Stühle mit einem verlorenen Blick abtastend, auf einem der rechten Stühle Platz. Sie korrigiert ihre Sitzhaltung, dreht sich mit dem Oberkörper etwas zur Seite, legt ein Bein unter das andere und setzt sich darauf. In diesen ersten Minuten der szenischen Probe erscheint es unmöglich, die Schauspielerin von ihrer Rolle zu unterscheiden: Die zu beobachtenden Aktionen spiegeln gleichzeitig die reale, fröstelnde und suchend-ausprobierende Situation der Schauspielerin wider, wie sie ebenso überzeugend die dramatische Situation der allein zurückgelassenen Käthe abbilden, die am Ende des zweiten Aktes ihre ungenügende Rolle als rücksichtsvolle Ehefrau und Mutter im Vergleich zur intellektuell und emanzipiert auftretenden Anna Mahr erkennen muss und im fortgehenden Johannes eine, wie es bei Hauptmann heißt, »schöne Erscheinung in nichts zerfließen sieht«119. Mit den Worten »Guten Morgen. Ein schauderhaftes Nebelwetter«120 tritt der Braun-Darsteller aus dem linken ›Off-Bereich‹ heraus und mit wenigen Schritten Richtung Käthe in die Szene hinein. Diese reagiert nicht nur mit einer bestätigenden und einladenden Antwort (»Es wird gar nicht Tag heut. Kommen Sie hierher.«), sondern zugleich mit einer körperlichen Reaktion: Die Darstellerin steht auf, bleibt jedoch, die Strickjacke fester um sich schnürend, an ihrem Platz stehen. Im Verlauf dieser ersten Erprobung der verkörperten Situation zwischen den Figuren Käthe und Braun stellt sich der Umgang mit dem eigenen Körper, der hier zum Medium der Anverwandlung wird, als eine Herausforderung dar. Die beiden Schauspieler/ innen wechseln auffallend häufig ihre Positionen: Sie setzen sich nebeneinander, schlagen die Beine übereinander, ändern erneut ihre Körperhaltung, Jana Schulz alias Käthe klemmt die Hände zwischen oder unter die Beine. Auch Berührungen wie eine Umarmung oder Wangenküsse werden mal flüchtig, mal innig ausprobiert und auf ihre jeweiligen Konsequenzen im Spiel und in der Figurenbeziehung hin untersucht. Dass diese szenischen Handlungen nicht beiläufig und automatisiert ablaufen, sondern von den Darsteller/innen enorme Aufmerksamkeit abverlangen, offenbart eine plötzliche und unerwartete Reaktion der Schauspielerin, die mitten in einem Satz Käthes das eigene Tun lautstark und kopfschüttelnd mit den Worten »Ich kann den Text nicht!« kommentiert. Die Souffleuse sagt die betreffenden Worte laut vor, welche Jana Schulz ohne aufzuschauen aufgreift und damit die Szene zwischen sich und ihrem Spielpartner fortsetzt. Roger Vontobel greift in diese aus der Figur ›aussteigenden‹, rahmenbrechenden Momente, die sich im Laufe der Probe noch ein bis zwei weitere Male ereignen, weder mit einer unterstützenden, verbalen oder nonverbalen Geste ein, noch unterbricht er die Probensituation für eine kurze Auszeit, im Gegenteil: Kommentarlos finden beide Schauspieler/ innen selbst in die szenische Situation zurück. Das in dieser ersten Sequenz des dritten Aktes zu beobachtende, mit Sprache, Stimme und Körper zu bewerkstelligende ›Hineinverkörpern‹ in die Figuren bereitet auch den anderen, erst später auftretenden Darsteller/innen einige Probleme. Bei allen äußern sich diese zum einen in schnellen und häufigen Positionswechseln und dem Versuch, den Körper und seine Möglichkeiten auf diese Weise spielerisch in den Griff zu bekommen; zum anderen verdeutlichen die hörbaren Textprobleme, das heißt ein Versprechen, Verhaspeln, Verzögern oder auch Verges119 | Hauptmann 1906 [1890], 67. 120 | Hauptmann 1906 [1890], 68.

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sen von Wort- und Satzfragmenten, die sichtbare Überforderung durch die Koordination des ganzheitlichen Kommunikations- und Gestaltungsmediums ›Körper‹. Während Jana Schulz diese Schwierigkeiten – verärgert und selbstkritisch – zur Sprache bringt, überspielen andere solcherart rahmenbrechende Momente mit jeweils eigenen Methoden. So bricht etwa einer der Kollegen nach dem Einstieg in seine Szene nach zwei Sätzen einfach ab: Er fasst sich mit der Hand an den Kopf, verlässt mit zwei Schritten die drehende Spielfläche und schaut grinsend zum Regietisch und zu seiner Mitspielerin. Diese geht ohne Worte sogleich an ihre Ausgangsposition zurück und die Szene beginnt wortlos mit dem Auftritt des Kollegen von Neuem. Unabhängig von den je spezifischen sprachlichen oder/und nicht-sprachlichen Reaktionen lässt sich eine überraschende Beobachtung anstellen, die eine Differenzierung nach dem Fokus der Probe und den jeweils fokussierten (Proben-)Praktiken notwendig macht. Das Lautlesen am Tisch (mit dem Fokus auf das Memorieren, Artikulieren, Begreifen und untereinander Kommunizieren) – das gleichsam als ein Ersprechen der Figur verstanden werden kann – unterscheidet sich hierbei konstitutiv von jenem Akt des Hineinverkörperns, das heißt dem Positionieren des eigenen Körpers im Raum beziehungsweise dem Sich-Verhalten innerhalb einer szenischen und sozialen Interaktion, welcher einerseits die Sensomotorik eines affektiven Körpers, andererseits die Sichtbarkeit eines theatralen, das heißt ausgestellten Körpers fokussiert. Im Vergleich zum Lautlesen, Textverstehen und Artikulieren von Figuren scheint der den Körper von Schauspieler/innen herausfordernde und stellenweise überfordernde Akt des Hineinverkörperns ungleich schwieriger zu sein. Das zu beobachtende »Fremdeln«121 im Umgang mit dem eigenen Körper samt Stimme und Sprache als Darstellungsmaterial ist im schauspielerischen Vorgang als Fremdeln mit dem Figurenkörper zu beschreiben, dessen Körperlichkeit im eigenen Körper noch nicht gefunden zu sein scheint.122 Die Suche nach dem Figurenkörper im eigenen Körper zeichnet sich hierbei als entscheidendes Handlungsproblem der Schauspieler/innen in dieser Probe und während der gesamten Probenphase des ›Hineinverkörperns‹ (die bis zur Premiere und sogar noch bis in die Aufführungen hinein andauern kann) ab – ein Problem und eine Aufgabe, die je nach Schauspieler/in und je nach Bühnenfigur anders verarbeitet und anders gelöst wird. Vontobel lässt den Schauspieler/innen im Zuge dieser ersten szenischen Erprobung viel Zeit für das Einfinden in den eigenen und zugleich fremden Figurenkörper, für das Sich-Verhalten gegenüber sich selbst und anderen als Person und als Figur. Er unterbricht nie von sich aus eine laufende Szene, deren Beginn, Unterbrechungen und Neuanfänge die Protagonist/innen in weiten Teilen untereinander regeln. Und doch steuert und motiviert er das Geschehen auf zweifache Weise: erstens unmittelbar, wenn er über überraschende Einfälle und gelungene szenische Interaktionen, aber auch bei als peinlich empfundenen Situationen unter den Kolleg/innen mit ihnen lacht; zweitens mittelbar, indem er musikalische 121 | In Anlehnung an die eingangs zitierte Theaterkritik von Dürr 2014. 122 | In dieser Weise lässt sich vielleicht auch das reale ›Fremdeln‹ mit der Geschlechtsdarstellung eines ›Frauseins‹ verstehen, wie es Jana Schulz im Interview unter 3.1.1 andeutet: »Wenn ich eine Frau spielen muss, habe ich viel mehr das Gefühl, ich muss was spielen.« Auch im Alltag nimmt sie sich diese ›Rolle‹ »nicht so ab«, wie sie erzählt.

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Einsätze gezielt als ein emotional-inspirierendes oder irritierendes, genuin affektives und zugleich strukturierendes Mittel einsetzt. So geben die musikalischen Einsätze des Cellos, welche vorab selten besprochen sind und auf ein Zeichen des Regisseurs hin meist improvisiert und frei gestaltet werden, einerseits den in die (Proben-)Situation neu eintretenden Schauspieler/innen Zeit für ihren Auftritt, andererseits erzeugen sie auf einer sinnlich-affektiven (Meta-)Ebene eine ganz eigene Atmosphäre und gegebenenfalls Bedeutung. Somit erweist sich der Musiker (wie auch in anderen Arbeiten Vontobels) als ein zentraler Ko-Akteur der Szene und der Inszenierung: Die Cello- oder Klavier-Töne – wahrnehmbar als Melodien, häufiger jedoch als harmonische oder schräge und schrille Klänge – unterstützen, verstärken oder stören hierbei die in den dramatischen (oder auch realen) Situationen angelegten Emotionen. Als eine wirkende Entität beeinflusst die Musik positiv wie negativ die Zustände der sich ausprobierenden Schauspieler/innen und der interagierenden Bühnenfiguren und nicht zuletzt die Atmosphäre der Aufführung und die Emotionen der Zuschauer/innen.

3.1.3.6 Perspektive der Regie: »Caspar David Friedrich auf Speed« Nach der etwa einstündigen Szenenprobe steht Vontobel positiv gestimmt und lachend hinter dem Regietisch auf und humpelt in Richtung der Spielfläche. Im Gehen beginnt er ausgehend von der zuletzt dargestellten Situation, also dem niederschmetternden Selbsterkennen der Figur Käthes (das von Jana Schulz eher monologisch zu sich selbst, als im Dialog mit der eintretenden Schwiegermutter dargestellt worden ist), zu beschreiben, wie er Käthe und die anderen Figuren auf diesem Höhepunkt der Dramenhandlung wahrnimmt. Aus dieser Schilderung seines Eindrucks entwickelt sich seinerseits eine engagierte Interpretation und fast schon Performance der ›anprobierten‹ Interaktionen, die zu einem etwa 20-minütigen Schlussmonolog jener Probe wird. »Diesen ganzen Teil stellen wir mal unter die Prämisse ›Wahnsinn‹«, resümiert er nach wenigen Sätzen, in denen er zuvor den akuten Zustand der von Schulz dargestellten Käthe mit den Worten »Die ist freakig, die Haut so dünn wie Pergament.« erläutert hat. Jana Schulz sitzt immer noch in sich gekehrt und gebückt zu Boden schauend auf einem der Stühle; es ist dieselbe Haltung, die sie in der zuletzt verkörperten Szene eingenommen hat. Das Gedankenkarussell scheint sich weiter zu drehen, nicht nur die Körperlichkeit der Bühnenfigur, auch jene der Schauspielerin selbst wirkt in diesem Moment dünnhäutig. Die Drehbühne ist mittlerweile zum Stillstand gekommen, Roger Vontobel bewegt sich trotz seines steifen Fußgelenks leichtfüßig auf ihr, während er gestikulierend zu den umstehenden Schauspieler/innen spricht. Innerhalb seines Schlusswortes zur Probe äußert er das Bild des Pergamentpapiers wiederholt, um die angespannten Zustände aller Figuren während dieser Sequenz zu beschreiben, die diese auf wenigen Seiten im Textbuch und innerhalb weniger Minuten auf der sich schneller rotierenden, mit Zupf- und Klopftönen klanglich ausgefüllten Bühne an menschliche Abgründe treibe. Im Reden beziehungsweise lauten Denken steigert sich der Regisseur selbst in einen fast wahnhaften Zustand hinein, indem er – virtuos zwischen den Figuren switchend – die Darstellungen der Schauspieler/innen stilisiert mittels stimmlicher, mimischer und gestischer Zeichen imitiert und performativ einen fiktiven Dialog zwischen den Figuren kreiert. Zwischendurch hält er inne und versucht die ambivalenten Gefühlswelten in Worte zu fassen: »Die sind alle wahnsinnig, weil

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die so am Arsch sind. Die sind alle verkrüppelt, Verkrüppelung, seelisch so verkümmert und verkrüppelt.« Er reflektiert und korrigiert: »Wahnsinn ist natürlich das falsche Wort; vielleicht überspannt, weil die Situationen so überspannt sind.« Die Figuren treibe »immer dieses Nicht-Gelebte, das, was nicht da ist«, an, das mache sie derart fragil und die Situationen hochexplosiv. »Caspar David Friedrich auf Speed«, so lautet Vontobels Assoziation zu dieser Sequenz auf dem Höhepunkt der Hauptmann’schen Dramenhandlung und seiner eigenen Inszenierung, welche er nicht nur visuell, sondern insbesondere akustisch in Szene zu setzen weiß. Was der Maler und Zeichner Caspar David Friedrich mit nur wenigen Farbnuancen, aber mittels einer Überlagerung einzelner Farbschichten und einem Kontrast zwischen Flächen und Pinselstrichen erreicht, nämlich die Erschaffung glasklarer Zustände eines Motivs vor dem gleichsam transparenten Hintergrund einer in die Tiefenschichten des Bildes hineinzoomenden Atmosphäre, erzeugt diese Sequenz in der Vontobel’schen Inszenierung(sästhetik) mit Hilfe der Hochspannung von bühnen- und tontechnischen Mitteln und – nicht zu vergessen und zu unterschätzen – vermittels einer nur mehr verstärkten Überspannung von Stimmen und Körpern jener Schauspieler/innen, die im Theater Vontobels als Mittler zwischen Sich-selbst- und Ein-Anderer-Sein fungieren. Ein Bild aus Um-sich-Kreisenden, Sich-Bedrohenden und Im-Entfliehen-Begriffenen entsteht. Vontobel selbst malt diese Zustände. Er arrangiert das Geschehen auf der Bühne, (über-)fordert und inspiriert damit Spieler/innen wie Zuschauer/innen. Während des Schlussmonologs zur Probe bleiben die Schauspieler/innen im Umfeld des Regisseurs stehen oder sitzen und treten mit diesem nur über Blickwechsel und paralinguistische Reaktionen wie leises Lachen oder bestätigendes Murmeln in Kontakt. Die Probe ist ohne eine konkrete Ansage beendet, als Vontobel langsam Richtung Regietisch humpelt und nun gemeinsam mit einem Teil der Kolleg/innen das Gespräch leiser fortsetzt. Nach kurzer Rücksprache mit dem Regieassistenten über die Probenzeit und den ›Probenstoff‹ für den nächsten Tag verlassen die noch Diskutierenden gemeinsam den Malersaal.

3.1.3.7 Perspektive der Schauspieler/innen: »Wer sind wir dann?« Im weiteren Probenprozess bis in die Aufführungsserie hinein wird der dramaturgische Spannungsbogen von Anspannung, Überspannung und Entladung von (negativer) Energie nicht nur einzelne Sequenzen, sondern die gesamte Ästhetik der Inszenierung ab dem dritten Akt prägen. Die Einführung eines Metronoms als akustisch wahrnehmbares und sinnlich erfahrbares Medium von Zeit und Zeitdruck sowie die ebenfalls vorwärtsdrängende, den Orientierungs- und Raumsinn beeinflussende Drehbühne verstärken dabei die Sogkraft der Emotionen – die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Schauspieler/innen gleichermaßen betreffend wie diejenige der Zuschauer/innen. Die (Wirkungs-)Ästhetik dieser Regiearbeit setzt unter anderem auf die absorbierende Kraft der eingesetzten Theatermittel, die den Darsteller/innen zugleich höchste Konzentration und absolute Sensibilität abverlangen. Im Sprechen von Texten, Verkörpern von Subtexten und wechselseitigem Interagieren bei gleichzeitig multisensorischer Reizstimulation durch die sich permanent drehende Bühne, vermischen sich die realen und dramatischen (Proben-)Situationen, was innerhalb des Probenprozesses zu identifikatorisch-affektiven, aber auch zu widerständigen Reaktionen seitens der Schauspieler/innen führt. So lassen sich Szenenunterbrechungen und ein abrup-

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tes ›Aussteigen‹ aus der Rolle unter anderem auf eine sensorische Überforderung zurückführen, wie eine hier nur exemplarisch zu skizzierende Probe einer anderen Szene zeigt: Während dieser lautet die Anweisung Vontobels an den Musiker »ganz minimalistisch«, der daraufhin nur einzelne Töne oder Akkorde – intuitiv das szenische Geschehen zwischen zwei Darsteller/innen begleitend – auf dem Klavier zu spielen beginnt. Schon kurze Zeit später unterbricht eine der beiden Beteiligten ihren Satz und wendet sich dem Regisseur mit folgenden Worten zu: »Die Musik macht so was Sumpfiges. Auch in meinem Kopf. (Pause) Wahrscheinlich sollte man dagegen angehen. (zum Musiker gewandt) Nichts gegen deine Musik, aber sie ist halt sumpfig.« Noch im Sprechen geht sie zurück an ihre Ausgangsposition auf der Drehbühne und führt die Szene kommentarlos fort. Nach wenigen Minuten stoppt ihr Spielpartner den neuen Versuch: »Ich muss auch sagen, mich macht die Musik völlig fertig. Mich löscht die total aus.« Vontobel reagiert nun vorläufig mit einem Rückzug auf das von ihm provozierte Problem (»Okay, dann machen wir mal Pause mit der Musik.«) und lässt die Schauspieler/innen für eine erste Annäherung an die Interaktion vornehmlich auf sich selbst konzentrieren. Im weiteren Verlauf dieser Probe greift er anstelle des musikalischen Mittels jedoch auf die Drehbühne als sinnerzeugendes Element zurück und überfordert die Spieler/ innen von Neuem. Schneller zu drehen, bittet er die für den Mechanismus der Drehbühne verantwortliche Person. Beide Schauspieler/innen sind nun derart mit der Ausführung ihrer Bewegungen beschäftigt, dass ihre Texte in weiten Teilen souffliert werden müssen, bis beide aus dieser Situation durch Blickwechsel und Stillstand ihrer Aktionen aussteigen. Vontobel steigt in diesen Moment direkt ein: »Was ich ganz schön finde: Es ergibt sich jetzt die Bedrohung. Im Endeffekt geht’s am Ende der Szene darum, dass zwei Leute die Kontrolle verlieren.« Kontrollverlust ist bei Vontobel Teil des Spiels. Doch zugleich verlangt er neben dieser hingebenden Art einer absoluten Hineinverkörperung in die Situationen auch mentale Abstraktionsfähigkeiten, etwa allein schon durch den reduzierten, jedoch von zwei Seiten einsehbaren und beobachtbaren Bühnenraum. Vermehrt eingefordert – und die Ebene der szenischen Darstellung verkomplizierend – wird diese mentale Kompetenz der Schauspieler/innen durch die Einführung eines neuen beziehungsweise erweiternden Spielprinzips im letzten Drittel der Probenphase: Anstatt dialogisch abgeschlossene Szenen in realistischer Manier zu verlassen, sollen die Darsteller/innen nun an gewissen Stellen im Bühnengeschehen präsent bleiben – sichtbar für die Zuschauer/innen, jedoch zu einem gewissen Grade ›unsichtbar‹ für die Schauspieler/innen der laufenden Szene. Je nach Situation und Ansage Vontobels setzen sich diese Art ›Ko-Spieler/innen‹ entweder zentral auf die Stühle der Drehbühne oder randständig auf den für zwei Personen ausreichenden Klavierstuhl, von wo sie das laufende Geschehen teilweise beobachten und mimisch kommentieren oder auch ignorieren, indem sie auf den Boden blickend ›bei sich‹ zu bleiben scheinen – bei sich im Körper einer imaginierten Bühnenfigur oder/und bei sich im Körper eines pausierenden Spielers/einer pausierenden Spielerin. Als ›rollenindifferent‹ beschreibt einer der Darsteller seinen ambigen Zustand während einer der ersten Probenversuche mit dieser Art von Parallelsituationen: »Wenn ich da sitze, wer sind wir dann? Anna [Mahr] und Paul? (Er lacht.)

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Äh, Therese und Paul. Oder vielleicht bin ich auch Rolle.«123 Vontobel lacht mit, doch bleibt in diesem Moment eine Antwort schuldig. Einen Szenendurchlauf später greift er auf das Thema des Kollegen mit folgendem Erklärungsversuch zurück: »Ihr müsst da keine Situation aufrechterhalten, wenn ihr rüber gucken wollt. Ihr hört das. Ihr seid gedanklich dabei.« Bis in die Endproben hinein stellen diese undefinierten Spielräume im Moment der Ko-Aktion, die die Inszenierung Vontobels in seiner emotionalen Wirkkraft wesentlich prägen werden, für einige Darsteller/innen ein Problem dar, mit dem sie sich explizit an die Regie wenden: »Dürfen wir hier dann reden? Oder spielen wir Warten? Wer sind wir hier?« – »Wenn du was zu sagen hast.« Vontobel lacht. Er lässt die Frage bezüglich der konkreten Rollen- und Funktionsbestimmung offen, auch dann, wenn er den Schauspieler/innen seine Gründe für die Erschaffung dieser un/sichtbaren Parallelsituationen darzulegen versucht: »Mich interessiert der Realismus überhaupt nicht. Mich interessiert der gedankliche Realismus. Man hat immer zwei Kriegsschauplätze, nie nur einen. Da funktioniert das, da, wo’s um eure Gedanken und Haltungen geht – auch jenseits der Texte.« Was Schauspieler/innen- und Figurenkörper in dieser Situation teilen, ist die räumliche oder/ und funktionale Distanz und gleichzeitige Nähe zum eigentlichen Geschehen, zu dem Vontobel sie in eine ambivalente Beziehung setzt. Eine neue, szenisch kreierte Figurenkonstellation entsteht, deren Präsenz nicht nur für die Zuschauer/innen, sondern ebenso für die Protagonist/innen der jeweiligen Szenen bedeutend wird. So demonstriert es die Weiterentwicklung des dritten Aktes, die im Kontext der letzten Probenphase dargestellt werden soll.

3.1.3.8 Probensituation III: Bühnenprobe Wie sehr die professionell ausgebildeten und erfahrenen Darsteller/innen durch die produktionsspezifischen Theatermittel – im Fall von Einsame Menschen besonders durch die sich fast permanent drehende Bühne, die klangliche Untermalung und die Verstärkung der Stimmen durch Mikroports – gefordert und im Rahmen der Bühnenproben unter neuen Bedingungen herausgefordert werden, veranschaulicht in besonderem Maße eine Durchlaufprobe des dritten Aktes, die fünf Tage vor der Premiere auf der großen Bühne des Bochumer Schauspielhauses stattfindet. Mit spielplanbedingten Unterbrechungen haben sich Schauspieler/ innen und Regieteam bereits zwei Wochen an die originale Bühnensituation gewöhnen können, die mit Beginn der technischen Einrichtung der Bühne durch alle Gewerke bis zur ersten öffentlichen Aufführung am 9. November 2014 fortlaufend 123 | Auffallend ist über den gesamten Probenprozess hinweg, dass die Schauspieler/innen wie auch der Regisseur nicht nur im Spiel ›auf‹ der Bühne, sondern auch ›hinter‹ der Bühne auf den Prozess dieses Blending von Schauspieler/innen- und Figurenkörper rekurrieren beziehungsweise kaum mehr zwischen sich und ihrer zu verkörpernden Figur zu unterscheiden wissen. In den Pausen- oder Zwischengesprächen, die selten den produktionsspezifischen Kontext verlassen, höre ich einerseits differenzierende Selbstvergewisserungen (»Ich finde das so interessant, wie Hauptmann das macht, am Ende, welche Symbole, welche Bilder er da einführt. Ich, also ich ganz persönlich, meine […].«), andererseits aber auch rollenindifferente Fremdbeschreibungen, wie sie etwa der Regisseur selbst in Bezug auf die ambivalente Rolle eines Schauspielers formuliert: »Mit dir ist es ganz schwierig zu diskutieren. Ich weiß nie, wann du in diese Figur einsteigst.«

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noch licht-, ton-, bühnen- sowie schauspieltechnisch verändert und komplettiert wird. Obwohl alle Beteiligten den Bühnenraum sowie die hinzukommenden Kolleg/innen der technischen Abteilungen seit mehreren Spielzeiten und Zusammenarbeiten kennen, ist den meisten von ihnen beim Einfinden auf der Bühne während der ersten Bühnenproben ein anderes, im Gegensatz zum lockeren Umgang auf der Probebühne, leicht angespanntes Verhalten anzumerken: Vontobel, der für seine Inszenierung erstmals selbst das Bühnenbild entworfen hat, begutachtet den ersten Auf bau und gibt dem Bühnenpersonal freundlich, aber bestimmt erste Anweisungen, die künstlerische Vorrichtungen, aber auch sicherheitstechnische Vorkehrungen betreffen; zwei Schauspieler/innen, die ansonsten eher zurückhaltend auftreten, positionieren sich an der Rampe und führen einem fiktiven Publikum respektive den Umstehenden bizarre Bewegungen vor, während ein anderer, sonst redseliger Kollege mit versteinerter Miene die Original-Bühne betritt. Anstelle der wenigen Podeste auf der Probebühne ist in der hinteren Hälfte der Bühne eine Zuschauertribüne aufgebaut, auf der bereits die ersten von insgesamt etwa 150 Stühlen aufgereiht werden. Zwischen Tribüne und Zuschauerraum, in welchen im Rahmen der Aufführungen nicht nur die Schauspieler/innen, sondern etwa die Hälfte des Publikums blicken wird, befindet sich die stark eingeengte Spielfläche mit ihrer ca. fünf Meter großen Drehbühne, die den (Bild-)Mittelpunkt eines rechteckigen, schlauchförmigen Bühnenausschnittes bildet. Dieser Bühnenauf bau stellt nicht nur für die Darsteller/innen, die ihr Spiel – parallel zur Rotation der Drehbühne – hinsichtlich zweier Publikumsseiten auszurichten haben, sondern ebenfalls für die Licht- und Tontechniker/innen eine Herausforderung dar. Besonders letztere werden im Zuge der Endproben zu wichtigen Ko-Akteur/innen der Aufführung, da die Schauspieler/innen sowohl aus akustischen als auch wirkungsästhetischen Gründen durch Mikroports verstärkt werden. Über die durch die Drehbühne hervorgerufene Notwendigkeit dieses tontechnischen Hilfsmittels hinaus strebt Vontobel mittels der Mikroports eine gleichsam hyperrealistische Wirkung an. Denn die dem Publikum auf diese Weise buchstäblich näher gebrachten Stimmen sollen eine Intimität zwischen Schauspieler/innen und Zuschauer/ innen erzeugen und zusätzlich zur speziellen, die Perspektive des Publikums umwendenden Bühnensituation die Grenze der etablierten und institutionalisierten Guckkastenbühne (als ein genuin bürgerlicher Schau-Kasten zur (Selbst-)Repräsentation) überschreiten.124 Fünf Tage vor der Premiere geht es Vontobel um die Feinjustierung einzelner Szenen innerhalb des dramaturgischen Spannungsverlaufes der Inszenierung: Lichtstimmungen, Tonqualitäten, Drehgeschwindigkeiten, Kleidungsstile, äußere wie innere (Körper-)Bewegungen – alle Elemente werden aufeinander abgestimmt. Besondere Aufmerksamkeit liegt auf dem Höhepunkt der Dramenhandlung, an welchem sich der Zusammenbruch Käthes sprachlich als auch körperlich vermittelt ankündigt. »Ich muss fort – fort von hier – fort aus diesem Haus – fort von euch allen. – Das ist zu viel, zu viel!«, lässt Hauptmann die Figur der Käthe gegen Ende des dritten Aktes geradezu um sich kreisend sagen. Der Regisseur bittet die beiden, 124 | In der Inszenierung wird diese räumliche und funktionale Differenz nicht nur tontechnisch, sondern auch mittels szenischer Aktionen wie Abgänge über die Tribüne und den Zuschauerraum überschritten sowie in Spielinteraktionen mit dem Publikum wie etwa durch ein gemeinsames Singen eines Liedes aufgebrochen.

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in die kurze Sequenz unmittelbar involvierten Darstellerinnen die Sätze flüsternd zu sprechen; die Tontechnik wird angewiesen, die Mikroports dementsprechend einzustellen. Dem Spielprinzip der Ko-Aktion folgend verlässt der Johannes-Darsteller in der vorhergehenden Szene nicht die Bühne, im Gegenteil: Im Übergang zwischen den Szenen setzen sich die Johannes- und Anna-Darsteller/innen zu beiden Seiten von den Figuren Käthe und Frau Vockerat auf die Stühle der Drehbühne. Sitzend und in sich gekauert beginnt die Schauspielerin der Käthe-Figur ihre Sätze leise zu sprechen. Ihre auf dem Schoß liegenden Hände krallen sich ineinander, sie schaut vor sich auf den Boden und presst die einzelnen Wörter förmlich heraus. »Ich muss fort«, rauscht es durch die Lautsprecher. Sie wiederholt die Worte, bevor ein langgezogener »Aaa«-Laut, einem Schmerzensschrei gleich, zu hören ist. Die Souffleuse versucht zu helfen und gibt die nächsten Sätze vor. Jana Schulz bleibt in dieser verkrampft körperlichen Haltung ihrer Figur sitzen und erwidert zerknirscht, eher zu sich selbst als zur unterstützenden Kollegin: »Ich suche in mir.« Sie versucht die geforderten Sätze wiederzugeben und presst die Worte, der Ansage des Regisseurs folgend, flüsternd aus sich heraus. Dieser reagiert auf die plötzliche Schwierigkeit mit dieser bereits mehrfach geprobten Szene professionell und erläutert – am Regietisch im Zuschauerraum aufstehend – seine vorige, die Schauspielerin sichtlich verunsichernde Regieanweisung mit den Worten: »Jana, du kannst am Ende einmal laut werden. Was ich von den Mikroports will, ist, dass man weiß, dass es jederzeit platzen kann.« Jana Schulz hebt den Blick und formuliert mit klarer fester Stimme ihr Problem: »Das ist für mich gerade ganz schwierig, da hin zu kommen, in diesen Zustand.« Roger Vontobel lässt ein verstehendes »Mmh« hören und begibt sich nachdenklich nach vorn an die Bühnenrampe. Nach einer kurzen Denkpause verhilft er der Schauspielerin situativ: »In dem Moment, in dem du allein in deinem Zimmer sein willst, da setzen sich alle hin – klick – daraus kommt es.« Er will schon wieder zurück zu seinem Platz gehen, doch dreht er sich noch einmal zu ihr um: »Ah, Schulz, nimm’ es auch ein bisschen aus Matthias [dem Cellisten], aus den Tönen.« Vontobel hat wieder hinter dem Regiepult Platz genommen; die Szene beginnt von Neuem, indem sich die Spielpartner/innen, begleitet von einzelnen, lauter und höher werdenden Zupf-Tönen des Cellos, auf die Stühle setzen. Die Käthe-Darstellerin gibt die Silben und Wörter angestrengt von sich, spukt diese gleichsam heraus, während sich ihre Hände unaufhaltsam bewegen und sich auch der Oberkörper vehement vor und zurück zu drängen beginnt. Die Schauspielerin bricht aus der vorgeschlagenen Situation erneut aus und ruft verärgert, mit den Händen auf ihre Oberschenkel schlagend: »Das geht nicht, das geht nicht!« Und doch setzt sie von selbst die Szene fort. Roger Vontobel lässt sie machen, er unterbricht sie nicht und konzentriert sich auch im Folgenden weiter auf die anschließenden Szenen, die zum dramatischen Höhepunkt und dem ZuBoden-Fallen der Käthe führen, wo sie bis zum Ende des dritten Aktes gekrümmt und reglos liegen bleiben wird.125

125 | Hans-Christoph Zimmermann schreibt im Kontext seiner Online-Kritik auf der Webseite der Fachzeitschrift Die Deutsche Bühne vom 10.11.2014 über diese Szene: »Überhaupt ist diese Dulderin, diese Unterwürfige, gespielt von Jana Schulz, das geheime Zentrum des Abends. Die tastende Körpersprache und der Auftritt in Wollsocken sprechen von einer verstörenden Selbstverleugnung, die in den depressiven Zusammenbruch führt. Wie ein verges-

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3.1.3.9 Premiere: die theatrale Situation Dieser sich auf der Bühne vor den Augen der Zuschauer/innen vollziehende Zusammenbruch der Käthe bleibt auch während der Premiere (und bei den folgenden Aufführungen, die ich miterleben und beobachten konnte) ein gleichsam rahmenbrechendes Moment – jedoch nicht mehr auf Seiten der Schauspielerin, die nun (allzu) glaubhaft die Bühnenfigur verkörpert, wie die Reaktionen seitens des Publikums nicht weniger ›authentisch‹ vermitteln. Den Rahmenbruch erfahren und begehen in diesem Moment sie, die Zuschauer/innen, für welche die angespannte, dramatische Situation gleichsam über den theatralen Rahmen hinaus Wirklichkeit zu werden scheint. Auch in der öffentlichen (und nicht mehr allein teil-öffentlichen) Situation der Aufführung haben Musik, Bühnen- und Tontechnik als Mitbeziehungsweise ›Gegenspieler‹ der Schauspieler/innen einen wesentlichen Anteil am Geschehen auf der Bühne und im Publikum. Die dramatische Situation, in welcher sich die Figuren der Bühnenhandlung befinden und welche parallel vom inneren Konflikt des Johannes (sich nicht zwischen den beiden Frauen respektive den mit ihnen assoziierten Lebensstilen entscheiden zu können und zu wollen), und von dem damit verbundenen, selbst-erkennenden Schmerz der Käthe erzählt, wird hierbei offensiv und beinahe obsessiv von einem Loop aus gezupften, in den Tonhöhen und Lautstärken variierenden Cello-Tönen, von schrägen Quietsch- und dumpfen Klopftönen, von einer immer schneller und dynamischer kreisenden Drehbühne sowie von Mikroports, welche die unterschiedlich leisen, lauten und hysterischen Stimmen während dieser Sequenz überspannter als zuvor in den Raum übertragen, untermalt und einer Zerreißprobe gleich erzeugt. Wie auch die Schauspieler/innen während der Proben unterschiedliche Arten zeigen, mit Irritationen, Unsicherheiten oder Überforderungen umzugehen, lassen auch die Zuschauer/innen hierbei verschiedene, äußerlich sichtbare oder anderweitig wahrnehmbare Positionswechsel erkennen, die sich jedoch allesamt in einer veränderten Körperposition spiegeln. Gespiegelt erscheinen sie im wahrsten Sinne des Wortes, schließlich sitzen sich die Zuschauer/innen auf beiden Seiten der schmalen Spielfläche gegenüber, bedingt durch die Bühnenscheinwerfer meist ebenso den Blicken der anderen ausgesetzt wie die Darsteller/innen auf der (Dreh-) Bühne dazwischen. So lässt sich auf dem dramatischen Höhepunkt der Handlung ein affektiver Sog beobachten, der nicht nur die Darsteller/innen, sondern mehr noch die Zuschauer/innen in das Geschehen leibhaftig hineinzieht: Die Körper in den Zuschauer/innenreihen beugen sich nach vorn, die Arme bleiben teils auf dem Schoß liegen, häufiger aber umfasst eine Hand erschrocken das Kinn, den Mund oder das Gesicht, teils wirkt der ganze Körper zusammengekauert, teils zurückgelehnt, dabei jedoch mit vor dem Körper verschränkten Armen geschützt. Die Zuschauer/innen »gehen« in dieser (Bühnen-)Situation buchstäblich »mit«126 und werden Teil eines kollektiven »Berührt-Werdens«127, das die Inszenierung in diesem Moment forciert. Die Bedingung dieser Art des Berührt-Werdens gründet senes Menschenbündel liegt sie auf den Stühlen, um am Ende als Mutter mit umgeschnalltem Tragesack einfach und ruhig die Stühle zusammen zu räumen« (Zimmermann 2014). 126 | Alkemeyer 2011, 68; vgl. die körpersoziologische Forschung von Thomas Alkemeyer im Feld des Sports: »Bewegen und Mitbewegen. Zeigen und Sich-Zeigen-Lassen als soziale Körperpraxis«, Alkemeyer 2011, 44-72. 127 | Alkemeyer 2011, 69.

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dabei sowohl auf einer affektiven, rein sinnlichen Stimulierung des emotionalen Gedächtnisses als auch, so mutet es an, auf einem (identifizierten) Wiedererkennen »im Gezeigten«128. Die körperliche und emotionale Anspannung unter den Zuschauer/innen löst sich – wenn überhaupt – erst wieder, als das gleißende Licht sich verdunkelt und die dynamische Stimmung durch das Langsamer- und Leiser-Werden der Musik, der Drehbühne und der Akteur/innen im Übergang zum vierten Akt insgesamt ruhiger wird.

3.1.3.10 Und jetzt? – Ein Stück Schauspiel- und Regietheorie Die Ausgangsfrage dieses Kapitels, ob und inwiefern der Rezeptionseffekt des Blending zwischen realer Person und fiktiven Figuren bereits im Probenprozess angelegt und empirisch nachweisbar ist, kann nun zusammenfassend und abstrahiert von den detailliert beschriebenen Szenen und Situationen erörtert werden. Mit Verweis auf psychologisch-realistische Verfahren des Schauspielens könnte die Frage (vor-)schnell mit einem klaren Ja und einer einfachen Erklärung beantwortet werden. Schließlich stellen das psychophysische »Erleben«129 und »Verkörpern«130 der dramatischen Rolle und der dramatischen Situationen das Grundprinzip der Stanislawski’schen Schauspieltheorie und insbesondere das Problem und Ziel der Schauspielerin Jana Schulz dar. Dass diese im emotionalen und körperlichen Vollzug von (Sprech-)Handlungen eine »Connection«131 zu ihren Figuren sucht, äußert sie nicht nur im Interview, sondern auch implizit wie explizit während des Probenprozesses, wie die ausdauernde, aber auch anstrengende und verärgernde Suche nach einem in sich ›stimmigen‹ Figurenkörper zeigt. Dabei geht es gerade nicht um das Herstellen eines abgeschlossenen, immer gleich reproduzierbaren Produktes ›Käthe‹, sondern um ein (Wieder-)Erleben von permanent neuen dramatischen und interaktiven Situationen im theatralen Raum der Proben und der daran anschließenden Aufführungen. Dies erklärt etwa jenen offen verhandelten Konflikt während und mit der bereits geprobten Szene, in welchen die Schauspielerin noch kurz vor der Premiere gerät. Denn offensichtlich ist es bedingt durch eine Veränderung der Gesamtsituation – durch die Atmosphäre der Endproben im Originalauf bau, durch Aktanten wie Mikroports, Musik und Drehbühne, durch die (pure) Präsenz von Ko-Akteur/innen, die un/mittelbar an der Szene beteiligt sind – momentweise »ganz schwierig, da hin zu kommen, in diesen

128 | Alkemeyer 2011, 69. 129 | Vgl. Stanislawski 1996a [1961]. Das Verhältnis von Schauspieler und dramatischer Rolle sowie von Erleben und Verkörpern beschreibt Stanislawski im ersten Teil seines Tagebuch eines Schülers wie folgt: »Sie sehen, unsere Hauptaufgabe ist nicht nur, das Leben der Rolle in ihrer äußeren Erscheinung wiederzugeben, sondern vor allem auch das innere Leben des dargestellten Menschen und des ganzen Stückes auf der Bühne erstehen zu lassen, wobei die eigenen menschlichen Gefühle dem Leben der Rollengestalt angepaßt und diesem fremden Leben alle organischen Elemente der eigenen Seele gegeben werden müssen.« (Stanislawski 1996a [1961], 27.) 130 | Vgl. Stanislawski 1996b [1961]. 131 | Jana Schulz im redigierten Interview unter 3.1.1.1.

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Zustand«132 der Figur, der aber in dieser spezifisch »vorgeschlagenen Situation«133 seitens der Schauspielerin erlebt werden will, sogar erlebt werden ›muss‹, denn da möchte Jana Schulz ›hinkommen‹: »[…] [D]ann weiß ich, dass diese Figur auch ein Mensch wird und eine Seele bekommt.«134 Dass ihr das am Ende gerade in jener Situation, welche sich während der Proben als besonders schwierig erweist, gelingt, dass sie also performativ mit der Figur zu verschmelzen beginnt, zeigt die unmittelbare Publikumsreaktion im Rahmen der Aufführungen. Schauspieltheoretisch ließe sich demnach eine Voraussetzung für das Verschmelzen zwischen Person und Bühnenfigur im sogenannten Stanislawski-System und einer damit verbundenen psychologisch- oder besser psychophysischrealistischen Spielweise finden. In der Verbindung zu Regisseur Roger Vontobel liegt der Fall aber komplexer und paradoxer vor, wie die (Proben-)Arbeit Einsame Menschen im Gesamten vermittelt: Denn Vontobel hält während der Proben erstens eine ganze Reihe an ›Einfühlungsverhinderungsmechanismen‹ für die Schauspieler/innen bereit und arbeitet zweitens simultan an einer ganz eigenen, sinnlichen Welt der Inszenierung. Die erste, hier vorzunehmende Differenzierung betrifft die Art und Weise sowie die Konsequenz des schauspielerischen Einfühlungsmechanismus. Das Ziel von Stanislawskis Schauspieltheorie und -didaktik, also im Akt der Darstellung gleichsam in der Rolle aufzugehen, wird durch die vorgeschlagenen Realsituationen und durch die abstrakte Inszenierungsästhetik reformuliert oder sogar konterkariert. Neben dem Einsatz theatraler Mittel, wie den musikalischen und ton-/technischen (Stör-)Elementen, sind als Einfühlungsverhinderungsmechanismen beispielsweise jene Regieanweisungen Vontobels zu verstehen, welche die reale Person und deren Situation (in der Probe oder auch in einem anderen Kontext) betreffen, wie auch die sichtbare und spürbare Präsenz der Mitspieler/innen durch die Einführung des ko-aktiven Spielprinzips. All dies sind inszenierungs- und schauspielästhetische Strategien, welche zwar das Erleben der vorgeschlagenen Situationen auf der (Probe-)Bühne intensivieren, jedoch immer zugleich – bewusst oder unbewusst – die eigene Person beziehungsweise das »persönliche Wollen«, wie Vontobel im Interview selbst sagt, mitreflektieren. Sein Konzept und seine Methode bezwecken folglich nicht ein Aufgehen im Sinne eines Auflösens in der Rolle, sondern ein Hineinholen der Schauspieler/innen in die Zustände, Texte und Körper der Figuren – und zwar so, dass deren ›Spur‹ sichtbar bleibt. Das ›Medium Schauspieler/in‹ trägt in der Vontobel’schen Regiekonzeption somit nicht nur einen Fremdtext, sondern immer auch Eigentext weiter; die dargestellte Bühnenfigur ist nicht der Körper eines Anderen, sondern der Andere im eigenen Körper. Kein Wunder also, dass die Suche nach diesem Anderen im Eigenen moment- oder phasenweise auch zu einem Fremdeln mit einer – in dieser 132 | Jana Schulz im redigierten Interview unter 3.1.1.1. 133 | Stanislawski 2005 [1961], 246. ›Vorgeschlagene Situationen‹, das sind nach Stanislawski respektive Torzow an dieser Stelle in Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst: »[…] die Fabel des Stücks, die Tatsachen, Ereignisse, das Zeitalter, in dem es spielt, Ort und Zeit der Handlung, die Lebensumstände, die Auffassung des Schauspielers und des Regisseurs vom Stück, die Ergänzungen, die sie hinzugefügt haben, das Arrangement, die Form der Inszenierung, die Dekorationen und Kostüme, die Requisiten, Beleuchtung, Geräuscheffekte und alle übrigen Umstände, die den Schauspielern gegeben sind.« 134 | Jana Schulz im redigierten Interview unter 3.1.1.1.

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Weise – fremd gewordenen Körperlichkeit des eigenen Körpers führen und der Akt der schauspielerischen Ver-Körperung in den Augen von Zuschauer/innen sogar misslingen kann, wie etwa eine der eingangs zitierten Theaterkritiken zu verstehen gibt.135 In diesem durch die Regie forcierten, ambivalenten Spannungsverhältnis zwischen Ego (realer Person) und Alter (fiktiver Figur) gewinnt der – hier der Psychologie entlehnte – Begriff des Alter Ego eine neue Bedeutung für die Schauspieltheorie: Denn erstens wird die je spezifische Bühnenfigur durch einen intensiven (Proben-) Prozess aus intellektueller »Beschäftigung«136, ersten Phasen der Hineinverkörperung, sensomotorischer Überforderung und Re/produktion – also Wiedererleben und Neuerleben der vorgeschlagenen Situationen – gleichsam als ein ›zweites Ich‹ der Schauspieler/innen entwickelt, als eine Entität ihrer Persönlichkeit, Körperlichkeit und Stimmlichkeit. Zweitens resultiert daraus der Eindruck, die verkörperte Figur (als Alter Ego) figuriere und involviere im Proben- und Aufführungsprozess die Schauspieler/innen und nicht umgekehrt. Auf den Sprechtext bezogen hat Jana Schulz genau diesen Vorgang im Schauspielen beschrieben: Jana Schulz: Wenn ich den Text spreche und merke, was er mit mir macht und was er bei anderen auslöst. […] Wenn du den Text so sprichst, dass er dich selber berührt, dass er nur Text ist, dann ist er die Figur. Dann ist das schon die Seele.137

Im puren Er-Sprechen des Textes gewinne die Figur ›schon die Seele‹, da der Text im Sprechakt etwas Eigenes und eine Dimension des Eigenen konstituiert, so ließe sich hinzufügen. Dass in der Vontobel’schen Theaterkonzeption nicht nur Sprechakte, sondern auch nicht-sprachliche Akte – wie gestisch, mimisch oder proxemisch vollzogene Aktionen oder körperliche Interaktionen – derartige Figurations- und Transformationsprozesse auszulösen vermögen, zeigen darüber hinaus die vielfältigen Reaktionen und Irritationen seitens der Schauspieler/innen bis hin zur subjektiv empfundenen Exklusion und Isolation von Jana Schulz alias Käthe während einer Phase der Proben. Diese beobachtbaren Zustände der Schauspieler/innen in einem Moment der ›Krise‹138 bilden hierbei die von außen kurzzeitig sichtbaren Reflektionsmomente der Schauspieler/innen während der ›Trans-Figuration‹, also dem Prozess des Blending, des Verschmelzens zwischen den Situationen. Aus einer akteurszentrierten, schauspielertheoretischen Perspektive handelt es sich beim Blending folglich weniger um ein Verschmelzen von realer Person und fiktiver Figur, als vielmehr um ein Überblenden von dramatischen, vorgeschlagenen und realen Situationen, welche in der Verschränkung die Proben- und Inszenierungspraxis des (Vontobel’schen) Theaters konstituieren. 135 | Vgl. Dürr 2014. 136 | Roger Vontobel im redigierten Interview unter 3.1.1.1. 137 | Jana Schulz im redigierten Interview unter 3.1.1.1. In ähnlicher Weise hat auch Arthur Rimbaud diesen Vorgang für sein Schreiben formuliert: »On me pense«, »Man denkt mich« (Arthur Rimbaud zitiert nach Lehmann 2009, 22). 138 | Vgl. in diesem Zusammenhang auch meine Re-Lektüre der Krisenerfahrung, wie sie Fischer-Lichte in ihrer Theatertheorie in Bezug auf eine spezifisch-ästhetische Erfahrung seitens der Wahrnehmenden anwendet (vgl. Kapitel 3.1.4, hier speziell das Unterkapitel »Was machen – rein theoretisch – die Zuschauer/innen?«).

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Vor diesem Hintergrund schließen sich auch die in gewissem Sinne als widersprüchlich zu bezeichnenden Ästhetiken zwischen Schauspiel und Regie nicht aus, im Gegenteil: Die unterschiedliche Aufgaben- und Zielsetzung beider Arbeitsbereiche begründet vielmehr das dialektische und produktive Arbeitsverhältnis zwischen den Schauspieler/innen und Regisseur Vontobel sowie die schauspieltheoretische Spannung zwischen Ego und Alter im Alter Ego der Bühnenfigur. Seine Art zu arbeiten lässt sich abschließend – und dabei die zweite Differenz zur Stanislawski’schen Verschmelzung durch Einfühlung aufweisend – ausgehend von diesem Spannungsverhältnis darlegen: So kann die »Reibung«139, die Vontobel in der Besetzung und Darstellung der Figur Käthe durch Jana Schulz sieht, geradezu als ein Grundprinzip des ›Vontobel-Systems‹ begriffen werden. Denn sie ist innerhalb seiner Theaterarbeit(en) Teil jener »F(r)iktionen«140, die sich – parallel zur ästhetischen Differenz zwischen realer Person und fiktiver Figur – auch im Verhältnis zwischen Spielstil und Regiestil, zwischen Erzählebenen und Erzählzeiten vollziehen. Eine tendenziell realistische Spielweise wird hierbei mit nicht-realistischen, teils surrealistischen, teils abstrakten Inszenierungsmitteln konfrontiert, beispielsweise dann, wenn der Bühnensänger auftritt und das neugeborene Baby mittels einer Sing- und Krächzstimme imitiert, oder wenn abstrakte Töne des Cellisten und Pianisten affektiv Stimmungen erzeugen, die jene des Bühnengeschehens potenzieren oder irritieren. Die Allegorie zu (den Bilderwelten von) Caspar David Friedrich – »auf Speed« – trifft in dieser Weise nicht nur auf die konkrete Spielsituation jenes dritten und von mir zu unterschiedlichen Phasen beschriebenen Aktes zu, in welcher sich die Konflikte überhitzen, die Stimmen ausschlagen und das Geschehen (auf der Drehbühne) rotiert, sondern ebensosehr auf die Inszenierungsweise Roger Vontobels, der – ausgehend von ›realistischen‹ Situationen, Konflikten und Personen – assoziative und affektive Sinn- und Bildwelten kreiert. Es sind diese bildstarken und affektiven Wahrnehmungs- und Spiel-Räume der Inszenierung(en) Vontobels,141 in welchen die Bühnenfiguren und mit ihnen die Schauspieler/innen – wie in einem Gemälde Caspar David Friedrichs – umso klarer und konturierter hervorstechen. Schimmern dann noch (in den Augen der Betrachtenden) die übereinander und ineinander gelagerten Phasen des Probenprozesses, vorhergehende und vergleichbare Theatererfahrungen oder frühere Bühnenfiguren durch die Szenen und Spieler/ innen hindurch, verwundert es nicht, warum und dass sich letztere in besonderer Weise den Zuschauer/innen einprägen. In diesem Sinne sind die Schauspieler/innen des Vontobel-Systems – und generell jene Charakterdarsteller/innen, welche im Feld des deutschen Stadt139 | Roger Vontobel im redigierten Interview unter 3.1.1.1. 140 | Waniek (jetzt: Koban) 2008, 93; am Beispiel der Inszenierung des Theatertextes pool (no water) des britischen Autors Mark Ravenhill, die 2007 in der Regie von Roger Vontobel am Schauspiel Frankfurt Premiere gefeiert hat, habe ich hier bereits die ambivalente Inszenierungsweise Roger Vontobels zwischen Fiktions- und Friktionserzeugung analysiert, vgl. Waniek 2008, 93-102. 141 | Diese Wahrnehmungs- und Spielräume werden natürlich grundständig von den jeweiligen Bühnenbildern mitgeprägt, in den letzten Jahren meist gestaltet von Claudia Rohner oder Magda Willi; in der Produktion Einsame Menschen zeichnet sich erstmals Vontobel selbst verantwortlich für die Bühne.

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theaters sowohl mit (einem bestimmten Typus an) Bühnenfiguren als auch mit prägenden Regisseur/innen assoziiert werden – nicht nur temporär, also befristet auf die Aufführung(sserie) einer Produktion, an eine Figur gebunden. Diese verbleibt vielmehr (insbesondere im Kontext eines lokalen, städtischen Publikums) länger- beziehungsweise langfristig in ihrem Schatten und wird zum einen in der subjektiven Wahrnehmung einzelner Zuschauer/innen in einem anderen Produktionskontext erneut wachgerufen oder/und zum anderen durch Pressemitteilungen, Fachkritiken und andere öffentliche Diskursplattformen aktualisiert und reproduziert. Für den Fall ›Schulz‹ soll diesem Zusammenhang im Folgenden weiter nachgegangen werden.

3.1.4 Darstellung und Wahrnehmung(seffekt): Genderblending am Beispiel [fi’lo:tas] 142 Eine Inszenierungs- und Aufführungsanalyse der ersten gemeinsamen Produktion [fi’lo:tas] und deren Rezeption im Kontext ihrer Wiederaufnahme an den Bochumer Kammerspielen soll die in der Probenforschung ermittelten Ergebnisse nun noch einmal mit einem genauen Blick auf den Zusammenhang von Konzeption einer Inszenierung und Konstruktion eines Images überprüfen. Dabei gehe ich von der Annahme aus, dass das feldintern zirkulierende Image des Theaterduos Vontobel/ Schulz und die Subjektivation/Subjektivierung143 der Schauspielerin im Feld des Stadt- und Ensembletheaters im Wesentlichen bereits im Diskurs-Raum dieser Produktion sowohl rezeptionsästhetisch als auch produktionsästhetisch gestiftet wird. Wie Roger Vontobel innerhalb des Interviews (unter Kapitel 3.1.1) erzählt und wie auf unterschiedlichen Plattformen – von einem Wikipedia-Eintrag144 bis zur Webseite des Goethe-Institutes 50 Regisseure im deutschsprachigen Theater 145 – nachzulesen ist, entsteht [ fi’lo:tas] bereits als Studienprojekt des Regieschülers ›Vontobel‹ und der Schauspielschülerin ›Schulz‹146 an der Hamburger Hochschule für 142 | Aufführungsanalytische Anteile dieses Unterkapitels sind – mit dem Fokus auf die Rezeption dieser Inszenierung – im Tagungsband Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit des 12. Kongresses der Gesellschaft für Theaterwissenschaft in Bochum bereits abgedruckt worden, vgl. Koban 2016, 575-584. 143 | Auch wenn diese Unterscheidung von Andrea Bührmann und Werner Schneider bereits innerhalb des Einleitungsteiles erläutert worden ist, möchte ich hier noch einmal auf die meist im Doppel verwendeten, jedoch unterschiedlich perspektivierten Termini Subjektivation/Subjektivierung verweisen. So meint der Begriff der Subjektivation nach Bührmann und Schneider »diskursiv produzierte und vermittelte normative Vorgaben zu Subjektformierungen/Subjektpositionierungen«, wohingegen »Subjektivierungsweisen als formierende und darstellende Praktiken des ›Selbst-Verständnisses‹ und ›Selbst-Verhältnisses‹ von Subjekten« verstanden werden, vgl. Bührmann/Schneider 2008, 69. 144 | https://de.wikipedia.org/wiki/Roger_Vontobel. 145 | www.goethe.de/kue/the/reg/reg/sz/von/deindex.htm. 146 | Im Gespräch erzählen beide, dass sie sich »eigentlich immer schon« mit ihren Nachnamen anreden würden, der Regisseur fügt hinzu: »Sie war immer nur Schulz und ich war immer nur Vontobel. Ich glaube, es hat damit angefangen: [fi’lo:tas] ist ja auch so eine Geschichte beim Militär und da ist ja eigentlich auch eher der Nachname üblich. Aber eigentlich weiß ich es wirklich nicht mehr (lacht).«

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Musik und Theater im Jahr 2002. Kurz zuvor, Ende November 2001, ist ein USamerikanischer Staatsbürger namens John Walker Lindh in Afghanistan gefasst und wegen des Dienstes an der Waffe auf Seiten der Taliban zu 20 Jahren Haft verurteilt worden. Die Geschichte des »amerikanische[n] Taliban[s]«147 kreist damals durch die Medien und gibt den Anstoß für die Neubearbeitung des Lessing’schen Stückes über jenen (ebenfalls) nach Ruhm und Ehre strebenden, in Kriegsgefangenschaft geratenen Königssohn Philotas. Infolgedessen entsteht das Theaterprojekt [ fi’lo:tas] »nach Gotthold Ephraim Lessing«148 in Form einer dramaturgischen Verschränkung beider Geschichten. Im Zuge der Ausweitung fundamentalistischer Netzwerke und ihrer Kampfzone(n) erscheint es bezüglich seiner Thematik so aktuell und nah wie nie zuvor. »Was muss passieren, damit ein junger Mensch so radikal wird?«149 – diese Frage leitet etwa am 18. Juli 2016 auf tagesschau.de einen Artikel zum ›Attentäter von Nizza‹ ein, der am französischen Nationalfeiertag 84 Menschen (religiös und politisch infiltriert) tötet. Zehn Tage später, am 24. Juli 2016, zündet ein 27-Jähriger in Ansbach eine Splitterbombe ›im Namen Allahs‹, mit der er sich selbst das Leben nimmt und 15 Personen schwer verletzt. Roger Vontobel und Jana Schulz wenden die Frage nach den Bedingungen einer solchen Tat im Kontext der damaligen Ereignisse, die mit den Terroranschlägen am 11. September 2001 ihren (Neu-)Anfang nehmen, bewusst introspektiv und in Bezug auf die wechselnde (Glaubens-)Zugehörigkeit und Radikalisierung des sogenannten amerikanischen Talibans subjektiv: »Was ist jemand, der nicht mehr weiß, dass ein Stuhl ein Stuhl ist?«150 Mit diesen Worten fasst Vontobel im Interview die Ausgangsidee für die anschließende Projektentwicklung zusammen. Im Rahmen der Inszenierung wird diese nicht nur als ein abstrakter Gedanke, sondern als konkretes Bühnenobjekt und (Handlungs-)Problem der Bühnenfigur sichtbar werden. Um einen Eindruck von der Inszenierung und deren Ausgangssituation gewinnen zu können, leitet zunächst eine knappe Aufführungsbeschreibung der Anfangssequenz in die anschließende Analyse ein.

3.1.4.1 »Wer bin ich?« 151 – die Ausgangssituation Bereits beim Einlass in den Saal herrscht eine düstere und beklemmende Atmosphäre, die durch einen abgedunkelten Zuschauer/innen- und Bühnenraum sowie gedämpft vernehmbare, angespannte E-Gitarren-Klänge hervorgerufen wird. Das Bühnenbild, das auf eine kleine, quadratische Spiel- beziehungsweise Sandfläche reduziert und nach hinten durch eine Projektionsleinwand abgeschlossen ist,152 147 | www.spiegel.de/politik/ausland/john-walker-lindh-us-taliban-wollte-fliehen-undblieb-aus-angst-a-187595.html. 148 | Siehe die Stückankündigung auf der Homepage des Schauspielhauses: www.schau​ spielhausbochum.de/spielplan/filotas/. 149 | Schmickler 2016. 150 | Roger Vontobel im redigierten Interview unter Kapitel 3.1.1.1. 151 | Zitat aus der Bühnenfassung. Als Gedächtnisstütze zu meinen Erinnerungen und Notizen, die ich während mehrmaliger Aufführungsbesuche angefertigt habe, liegt mir ein Mitschnitt der Bochumer Wiederaufnahme vor, dem die konkreten Textzitate entlehnt sind. 152 | Obwohl das den Boden bestäubende Material nicht Sand, sondern Mehl ist, wirkt es im Setting des Bühnenraumes und der -handlung wie eine sandige, staubige Fläche, weshalb ich hier weiter von einer Sandfläche sprechen werde.

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verstärkt diesen Eindruck in der direkten Verbindung von szenischem und dramatischem Raum: Ein klappriger Leinenstuhl, gehalten von wenigen Metallstangen, bildet als einziges Requisit nicht nur das szenisch-räumliche Zentrum inmitten der sandigen Spielfläche, sondern das aufgrund der Nahaufnahme nur durch die Materialien des beigefarbenen Leinenstoffes und der silberglänzenden Metallgestänge wiedererkennbare, projizierte Bildmotiv – welches zudem in der langsamen, aber permanenten (Kamera-)Bewegung mal einer Sandlandschaft, mal einem einzelnen Gitterstab gleicht. Auch letztere Assoziation wird durch das Setting erzeugt, da die Stäbe des Stuhles, angeleuchtet durch eine Lichtquelle (die einzige neben der Projektion während dieser Anfangssequenz), einen Schatten aus sich überkreuzenden Linien – einem Gitterfenster vergleichbar – auf den Bühnenboden werfen. Abbildung 7: [ fi’lo:tas] – gefangen und gebeugt

© Diana Küster, 2014

Der Raumeindruck einer Gefängniszelle verstärkt sich beim Anblick einer am rechten Rand der Szene barfüßig in Hockhaltung sitzenden Gestalt (Abb. 7). Bekleidet mit einem schwarzen Army-Pullover und einer gleichfarbigen weiten Hose zeichnet die zusammengekauerte Figur, die hin und wieder einen flüchtigen Blick in Richtung Stuhl wirft, relativ klare und kontrolliert ausgeführte Linien und Muster mit einzelnen Fingern oder den Handballen in den Sand. Nach einigen Minuten dieser ersten, auf wenige Finger-, Hand- und Blickbewegungen konzentrierten Szene durchbricht ein lauter, störanfälliger Funk das Schweigen auf der Bühne. Durch den Redeinhalt einer nur in Satzfetzen verständlichen (Männer-)Stimme, die als autoritatives Organ die Situation durchbricht und gleichsam ein richterliches Protokoll verliest, lässt sich die isolierte Figur als Kriegsgefangener Lindh imaginieren. Chronologisch wird hierzu im akustischen Protokoll dessen Lebensweg als junger Islamkonvertit skizziert;153 parallel dargestellt und konstruiert wird 153 | Mit Hilfe dieses akustischen Protokolls erfahren die Zuschauer/innen etwa, dass John Walker Lindh 1981 in Washington D.C. geboren, katholisch getauft und mit Bruder und Schwester in Kalifornien, einer für Meinungsfreiheit und Toleranz bekannten Gegend, aufgewachsen ist. Dort habe er die High-School abgeschlossen und sei mit 16 Jahren zum Islam konvertiert; sich nun Suleyman al-Faris nennend, gehe er 1998 mit dem Einverständnis

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die Rolle beziehungsweise das Bild eines barfüßig-betenden, seinem festen Stand beraubten (Gottes-)Kriegers, dessen (psychische) Zustände als mimische und gestische Bewegungen erfahrbar werden: Denn während sich Finger, Hände und Augen zu Beginn noch kontrolliert und konzentriert bewegen, verlieren sie unter der Stimmgewalt des Gesagten und Gehörten zunehmend ihren sicheren Halt. Noch bevor jedoch Lindhs Festnahme als Taliban-Kämpfer in Afghanistan zur Sprache kommt, jene reale Situation, in welcher sich John Walker Lindh zum Zeitpunkt der Uraufführung befindet und welche im Rahmen der Inszenierung auf die dramatische (Ausgangs-)Situation der Bühnenfigur projiziert wird, konzentriert sich der Fokus erneut auf die Szene: Der Funk bricht ab und E-Gitarren-Klänge durchströmen eindringlicher als zuvor den gesamten, theatralen Raum. Hektisch, fast schon panisch scheinen die Hände im Sand – Linien von links nach rechts, von rechts nach links, oben-unten, unten-oben zeichnend – nach gewohnten Zeichen oder einem bekannten Muster zu suchen. Magnetisch scheint dabei der das räumliche und symbolische Zentrum markierende und hell ausgeleuchtete Stuhl die verzweifelten Blicke des Protagonisten auf sich zu ziehen. Doch auch dieses auratisch-machtvolle Objekt – als Objekt des Begehrens und zugleich Folterinstrument imaginiert – kann in diesem diffusen Such- und Erinnerungsprozess (noch) nicht als Hilfsmittel dienen. Erst im weiteren Verlauf der Aufführung wird John Walker Lindh alias Philotas ihn zu einer selbstmörderischen Waffe umfunktionieren. Am Ende dieser Anfangssequenz erscheinen dessen Bewegungen und Blicke desorientiert und ziellos. Sie werden im Einklang mit den Gitarrenklängen langsamer und phlegmatischer, bis der gesamte Körper zu Boden fällt – nur um daraufhin sofort erneut hochzuschrecken und mit den Worten »Was? Wer bin ich?« die plötzlich eintretende Stille – mit einer überraschend hellklingenden Stimme – zu durchbrechen. Die Frage wird in diesem Moment explizit an das Publikum gerichtet, wo sie als Ausgangsfrage der Inszenierung in Erinnerung und bis zum Ende der Aufführung im Ungewissen (ver-)bleibt. Wie im weiteren Verlauf aber schnell klar wird, handelt es sich bei dieser Frage um nichts weniger als um ein existentielles Problem: Vormalige (und vermeintliche) Gewissheiten erscheinen buchstäblich zwischen den Fingern zerronnen; Erinnerungs- und Reproduktionsversuche von banalen, aber tief eingeprägten Gewohnheiten, wie ein manisch erinnertes und dargestelltes Zahnputz-Ritual aus der Kindheit, von prägenden (Schul-)Situationen oder inkorporierten Anweisungen (»Allah will das, was du tust, sei nicht weich.« oder »Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.«) greifen nicht mehr. In Form von schnell wechselnden und widersprüchlichen (Erinnerungs-)Szenarien, in denen die Solodarstellerin Jana Schulz ihrer Figur eine mal sanfte und leise, mal rasend-laute Stimmlichkeit, Glaubensbekenntnisse in mehreren Sprachen und Klangfarben, in sich gekehrte und dann wieder feuerspeiende Blicke, eine teils verschüchterte und zarte, in Teilen aber auch emporgereckte und den Raum einnehmende Körperlichkeit gibt, kreiert die Aufführung eine dynamische und gleichsam manische Atmosphäre, die zum Ende mit einem (befreiten?) Lächeln des Protagonisten und einem einzigen Zündfunken erlischt. seiner Eltern zum Koranstudium in den Jemen, kehre nach etwa zehn Monaten nach Hause zurück, wo er im Februar 2000 erneut nach Jemen und von dort nach Pakistan aufbreche – so die Informationen über ›Funk‹, welche den biografischen Angaben zur realen Person John Walker Lindh entsprechen.

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3.1.4.2 [fi’lo:tas] – eine Frage der Zugehörigkeit Über dem Versuch des Protagonisten, mit Hilfe der Reproduktion von – allgemein wiedererkennbaren – Handlungsritualen aus Kindheit und Schulzeit und der Reartikulation von (Glaubens-)Sätzen aus dem klassischen Bildungskanon wie dem Werk Lessings, dem patriotischen Bildungssystem der USA oder der dschihadistischen Schule des Korans ein gesichertes Wissen über den Sinn des (Da-)Seins wiederzugewinnen, steht der ambivalente Wunsch nach Zuordenbarkeit und zugleich Außerordentlichkeit. In der Inszenierung äußert sich dieser Wunsch zum einen in der Frage nach der eigenen Identität (»Wer bin ich?«), die hier eben nicht mehr im Rekurs auf Handlungsroutinen wie Sprechen, Schreiben, dem Vollzug von Ritualen oder der Verrichtung von Alltäglichem zur Deckung gebracht werden kann. Zum anderen offenbart sich dieses tiefere Bedürfnis nicht nur in einer ambivalenten Wunsch-, sondern auch Zielvorstellung, nämlich ein Jemand zu werden, das heißt jemand Außergewöhnliches zu sein: »Was ich werden will?«, lautet demgemäß die zweite existentielle Frage, die sich der Protagonist kurze Zeit später stellt. Lachend und mit einer hellen, kindlichen Stimme erinnert er sich: »Ein Mann. Ein Mann, der gut ist. […] Ein guter Mann – wie Supermann!« Durch die dramaturgische Verschränkung zweier Geschichten und gleich mehrerer religiöser, nationaler und politischer Kontexte entwickelt sich der innere Konflikt der Figur vor einem breitgefächerten Sinnhorizont, innerhalb dessen der Protagonist zwischen Religionen, Nationen – und nicht zuletzt zwischen Geschlechtern – oszilliert und sich mehr und mehr in einer In-Differenz verliert: Die Bühnenfigur lässt sich weder durch äußere Attribute (schwarzer US-Army-Pullover über schwarzem Taliban-Kaftan, blonde Strähnen im schmutzig-grauen Gesicht, teils männlich-codiertes Rollenmuster mit teils weiblich-codiertem Stimmmuster) festlegen, noch kann sie den inneren Konflikt zwischen den jeweils sozialisierten Werten (etwa »gut«/»ein guter Mann« zu sein), einem sicher geglaubten Wissen und sinnhaften/ambivalenten Wünschen (»gefürchtet, bewundert und geliebt zu werden«) im weiteren Verlauf der Aufführung für sich klären – sofern man das selbstmörderische Ende nicht als Lösung, sondern nur mehr als letzte Hoffnung ansieht. Vielmehr veruneindeutigen sich auch im szenischen Spiel die klaren Grenzen, wenn sich unterschiedliche (National-)Sprachen, Glaubenssätze und -gesten vermischen oder Hymnen und Gebete klanglich verschmelzen. In-different, das heißt un-unterscheidbar werden in diesem Sinne christliche und islamische, arabische und westliche Zeichensysteme, die bereits in der Biografie John Walker Lindhs alias Suleyman al-Faris kulminieren und sich in der dramaturgischen Verschränkung auf mehrfache Weise potenzieren: diskursiv (auf Ebene der textuellen Bearbeitung) und performativ (auf Ebene des darstellenden Körpers), so lässt sich theaterwissenschaftlich argumentieren. Denn die Besetzung und Darstellung der männlich codierten und kanonisierten Figur Philotas mit der Schauspielerin Jana Schulz führt nicht nur eine neue und über die Textdramaturgie hinausgehende Erzählebene ein.

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3.1.4.3 Was macht die Schauspielerin (nicht)? Erstens vollbringt Jana Schulz hier – wie auch in ihren auf [ fi’lo:tas] folgenden Männerrollen, etwa Major von Tellheim, Macbeth oder Raskolnikow154 – schauspielerisch die Leistung, ›Geschlecht‹, das heißt eine männlich konnotierte (Gender-) Performance, erst gar nicht ›zu tun‹: Sie spielt keine Stimmlichkeit oder Körperlichkeit in die eine oder andere Richtung vor, eher spielen die Worte, Bewegungen und Affekte mit ihr. Schniefen und das Abwischen der Nase mit dem Handballen in den ersten Minuten der Aufführung, wenn die (in ihren Erinnerungen) gefangene Figur verzweifelt im Sand nach Zeichen sucht, oder Speicheln, dass im rasenden Gebet bei jeder Silbe Spuke schäumt und in den Mundwinkeln klebenbleibt – all das sind ›Unsauberkeiten‹, die sowohl der situativen und realistischen Darstellung der Figur geschuldet sind, als auch der unmittelbaren Aktion und Emotion entstammen, mit der sich Jana Schulz in die Figur und deren Situation hinein begibt und »fast schon hingibt […], wie wenige das tun«155, wie eine Dramaturgin des Bochumer Schauspielhauses ihre spezifische, schauspielerische Qualität beschreibt. Für die Darstellung des [ fi’lo:tas] bedeutet das eine Unmittelbarkeit und »Unbedingtheit«156, die sich dramaturgisch – in Kombination mit der weichen, sozusagen ›unmännlichen‹ Stimmlichkeit und der altersmäßig jungen Ausstrahlung von Jana Schulz – als genuin jugendliches Sinnmuster erzählt. Kein Wunder also, dass die Theaterkritiken vor allen Dingen von einem »jungen Menschen«157 in Hinblick auf die wahrgenommene Gestalt in der Aufführung schreiben, und die »jugendliche Radikalität«158 als hierin verhandeltes Thema bekräftigen.159 Zweitens besitzt (die Möglichkeit der Besetzung durch) Jana Schulz – teils durch Zutun, teils durch Nicht-eigenes-Tun – das Gespür, die Cross-Gender-Besetzung nur dann spielerisch und für einen kurzen Moment auszustellen, wenn Text, Rolle und Schauspiel(erin) in einer gegenseitigen Bezugnahme aufeinander die Geschlechtszugehörigkeit der Figur in Frage stellen, wie der Wunsch, »ein Held, […] ein (guter) Mann« zu werden, gleichwohl ironisch impliziert.160 Dieser solcherart verfremdende Effekt wird beispielsweise in der konkreten Aufführungssituation darstellerisch mittels eines paralinguistischen und mimischen Kommentars 154 | Bemerkenswerterweise wird Jana Schulz auch und mittlerweile insbesondere von anderen Regisseur/innen cross-besetzt, wie in den genannten Beispielen durch Karin Henkel oder Jan Klata. 155 | Interview vom 17.10.2014. 156 | Interview vom 17.10.2014. 157 | Keim 2014. 158 | Pfeifer 2014. 159 | In diesem Zusammenhang lässt sich anmerken und annehmen, dass Jana Schulz aus ähnlichen, dramaturgischen Gründen auch in anderen Inszenierungen besetzt wird, etwa in der Rolle des Macbeth, welcher durch Jana Schulz ebenfalls eine jugendliche, im Kontext der Henkel’schen Inszenierung fast eher noch kindliche Figurendimensionierung erfährt, vgl. auch Koban 2014. 160 | Eine spielerische Andeutung oder Ausstellung eines männlich konnotierten Bewegungs- oder Stimmmusters kann in ihren Rollendarstellungen auch dann stattfinden, wenn Text und Figur die schauspielerische ›Travestie‹ gar begründen, wie es stellenweise in ihrer Darstellung der verkleideten und echten Hosenrolle Viola/Cesario/Sebastian in Vontobels Was ihr wollt-Inszenierung der Fall ist.

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erzeugt. Auf der Erzählebene wird dadurch, so lässt sich deuten, die geschlechtsspezifische Konnotation des antiken Motivs ›männlichen Heldentums‹ überhaupt erst ins Spiel und in der Rezeption zur Erscheinung gebracht – ohne dies in der Aufführung aber weiter ausführen zu müssen, wie Lessing es noch in der dramatischen Vorlage tut: »[…] [W]as könnte ich, was wollte ich werden? Ein Held. – Wer ist ein Held? – O mein abwesender vortrefflicher Vater, itzt sei ganz in meiner Seele gegenwärtig! – Hast du mich nicht gelehrt, ein Held sei ein Mann, der höhere Güter kenne, als das Leben? Ein Mann, der sein Leben dem Wohle des Staats geweihet; sich, den einzeln, dem Wohle vieler? Ein Held sei ein Mann […].«161

Dank der (ironisierenden) Verfremdung dieser Aussage im Zuge der Aneignung der Sprecherposition durch Jana Schulz genügt der Versinnbildlichung eines genuin männlichen Heldenmotivs die Reduktion auf die Wortkombination ›Held = Mann‹; zugleich wird im selben Sprechakt aber genau diese Querverbindung durchkreuzt und auf eine von der gegenderten Semantik abstrahierte, sozusagen überkategoriale Perspektivebene übertragen. Weniger als ein männliches, als vielmehr menschliches Problem lässt sich demnach die Frage nach der Sinnstiftung des eigenen Daseins und Lebens verstehen, dahingehend geöffnet erst durch die Ver-Sprachlichung des Motivs durch die cross-besetzte Figur. Paradox mag diese Beobachtung und Lesart einer im selben (Sprech-)Akt stimulierten Thematisierung eines ›männlichen‹ Skriptes und einer De-Thematisierung respektive Neutralisierung einer spezifisch geschlechtskategorialen Semantik erscheinen. Sie offenbart aber ein soziales und ästhetisches (Rezeptions-)Phänomen, das sich sowohl empirisch in den Theaterkritiken abbildet, als auch theoretisch im soziologischen Begriff des Undoing (Gender)162 erklärt. Innerhalb der verschriftlichten Erfahrungs- und Informationsberichte der Rezensent/innen spiegelt sich so etwa die Verallgemeinerung der Thematik in einer fast durchweg gebrauchten, geschlechtsneutralisierten Kategorisierung der Bühnenfigur als »Mensch«163 wieder, welche sich teils als Abstraktion, die »weit über eine Figur hinausweist«164, teils aber auch als bewusste Negation einer eindeutigen Geschlechtskategorisierung –

161 | Lessing 2013 [1759], 11 (vierter Auftritt). 162 | Zum Undoing Gender als interaktive »Möglichkeiten der Unterbrechung eines Konstruktionsprozesses« (Hirschauer 2001, 209), und zwar desjenigen des in Geschlechtsdiskursen, -darstellungen und -zuweisungen alltäglich reproduzierten Doing Gender, vgl. Hirschauer 1994 und Hirschauer 2001. 163 | Exemplarisch hier die Kurzbeschreibung von Hanne Höppner, die nicht als professionelle Kritikerin, sondern als ›WAZ-Theaterscout‹ und lang jährige Bochumer Zuschauerin hin und wieder Statements für den Bochumer Kultur- und Unterhaltungsteil der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) verfasst; in ihrer Kurzkritik zur Wiederaufnahme von [fi’lo:tas] beschreibt sie aus ihrer Sicht jene paradoxe Wahrnehmung der Bühnenfigur zu Beginn der Aufführung: »Daneben [neben einem Stuhl] hockt ein Mensch und kratzt Zeichen in den Sand. Ein Wesen, androgyn und bizarr, gleichzeitig ›Gollum‹ und schöner, junger Mann, der mit heller, klarer Stimme spricht.« (Höppner 2014) 164 | Baur 2016.

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von Bühnenfigur und Persona – lesen lässt. In letzterem Sinne beginnt etwa die Kritik von Rolf Pfeiffer mit den Worten: »Ein Mensch hockt bewegungslos auf der Bühne, schreibt dann mit den Händen hektisch Zeichen in den Sand, verwischt sie wieder, erstarrt. […] Der Mensch ist die Schauspielerin Jana Schulz […].«165

Auf deren Darstellung und zugleich Persona bezogen endet dann auch die Rezension individualisierend und (geschlechtlich) indifferenzierend: »Sie […] formt den Titelhelden mit androgyner Kreatürlichkeit berührend aus, verkörpert seine existentiellen Dimensionen überzeugend. Ihr galt in Bochum der größte Applaus.«166

Wie aus der Beschreibung des Kritikers sowie meiner eigenen Beobachtung hervorgeht, zeichnet sich die geschlechtsindifferente Verallgemeinerung des inneren, auf der Bühne verhandelten Konfliktes paradoxerweise in Auseinandersetzung mit dem und davon ausgehend in Abgrenzung zu dem bereits bestehenden Sinnhorizont ab. Dieser wird in der Aufführungssituation durch die sprachliche und paralinguistische Thematisierung eines genuin männlichen (Helden-)Motivs wachgerufen, während in den Kritiken die Geschlechtszugehörigkeit des »Titelhelden«167 meist parallel zur ›allgemeinmenschlichen‹ Beschreibung der Bühnenfigur und -handlung als ›Randthema‹ fortgeschrieben wird. Im dramaturgischen Rahmen einer solchen (Normalitäts-)Erwartung kann nun sowohl das vormals beschriebene ›Nicht-Tun‹ einer ausgestellten, männlich codierten Genderperformanz seitens der Schauspielerin als auch die signifikante Verallgemeinerungsgeste in den Theaterkritiken als ein Undoing Masculinity umgewertet und neu gedeutet werden: Es handelt sich hierbei nämlich um »eine negatorische Aktivität«168, einen produktions- sowie rezeptionspraktischen Versuch eines vorübergehenden »Stillstellen[s] der Unterscheidung«, welche jedoch im Rekurs auf den (männlichen) Bezugsrahmen in ihrem Sinnhorizont verbleibt – weshalb sie auch jederzeit sprachlich oder/ und gestisch aktualisiert oder allein kognitiv erinnert werden kann. Die Oszillation zwischen Aktualisierung und Neutralisierung/Indifferenzsetzung einer dergestalt festgeschriebenen (geschlechtsspezifischen) Problematik aber überhaupt als einen künstlerischen Möglichkeitsraum und Spielraum des theatralen Kommunikationsprozesses zu entdecken und ›auszuloten‹169, scheint dabei unmissverständlich – betrachtet man die Aussagen der Regie, Dramaturgie oder Theaterkritik – dem Engagement der Schauspielerin Jana Schulz geschuldet zu sein. Dieser Spur folgend, wird hier eine dritte und letzte (Meta-)Ebene des inszenatorischen sowie dramaturgischen Konzeptes von [ fi’lo:tas] in einem (Gender-)Blen165 | Pfeiffer 2016. 166 | Pfeiffer 2016. 167 | Pfeiffer 2016. 168 | Dieser und der nachfolgende Ausdruck sind Teil der theoretischen ›Memos‹ der DFGForschergruppe 1939 »Un/doing Differences«. 169 | Vgl. auch die durch Roger Vontobel vorgenommene Charakterisierung der Spiel- und Arbeitsweise von Jana Schulz, nämlich Situationen ins Extreme auszuloten, siehe Kapitel 3.1.1.1.

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ding von fiktiver Figur und realer Person erkennbar. Rezeptionsästhetisch lässt sich ein solches Blending im Rahmen der Aufführung während der an das Publikum adressierten Eingangsfrage vermuten: Die Frage nach der eigenen Identität (»Wer bin ich?«) kann sich in diesem Sinne sowohl auf die dramatische Situation des Protagonisten als auch auf das ›visuelle/sichtbare Subjekt‹170 in persona der Schauspielerin beziehen. Dass ›die Schulz‹ insbesondere in diesem Moment der Aufführung in ihrer Eigenleiblichkeit und – mit Verweis auf den Medienbegriff (vgl. Kapitel 3.1.2) – in ihrer ›Eigenlogik‹ in Erscheinung tritt, liegt sicherlich zu einem Teil an der szenischen Fokussierung: Mit dem Sturz zu Boden bricht die Musik abrupt ab; das Bühnenlicht wird heller und die hochgeschreckte Figur kann ihre ersten Worte in die Stille hinein sprechen. Mindestens so aussagekräftig wie die Worte aber und gleichwohl wirkungsvoller als die äußeren Inszenierungsmittel erscheint in diesem Moment die – im dramatischen und szenischen Sinnhorizont – überraschende Stimmqualität und die in diesem Zuge hörbar und sichtbar gemachte Präsenz der Schauspielerin.171 Eine äußerst hellklingende, fast leise Stimmlichkeit trifft da auf eine selbstbewusst schnoddrige Körperlichkeit, scheue Blicke schauen unter zerzaustem Haar hervor. Es ist diese spezifische Ausstrahlung des Ambivalenten/ Uneindeutigen/Androgynen, welche hier mit Blick auf das Selbst- und Fremdbild der Schauspielerin akut ins (kollektive) Gedächtnis des Publikums gerufen wird und welche als Bestandteil eines Spezialdiskurses zwischenzeitlich auch überregional zirkuliert.172

3.1.4.4 Was macht der Regisseur (nicht)? Produktionsästhetisch lässt sich die Frage nach der Eigenlogik des Mediums ›Schulz‹ im Kontext von [ fi’lo:tas] folglich auch im Hinblick auf eine potentielle Imagebildung der Schauspielerin befragen. Dabei ist bereits der Entstehungsprozess von Idee, Imagination und Inszenierung überaus bemerkenswert: So räumt Roger Vontobel auf die Frage nach der Besetzung mit Jana Schulz ein, dass sie ihn »dahingehend […] eigentlich aufmerksam gemacht«173 habe, womit er den Grundgedanken einer sozialen Des-Orientierung der Bühnenfigur meint (»Was ist jemand, der nicht mehr weiß, dass ein Stuhl ein Stuhl ist?«). Hört man seiner weiteren Beschreibung zu, scheint es fast so, als würde er in der Schauspielschülerin, die er damals gerade erst kennengelernt hat, auf einer performativen Ebene eine leibhaftige Konkretisierung seiner Idee zu erkennen glauben: Roger Vontobel: Jana ist auch so (kurze Pause) unklar, also im Sinne von wer sie jetzt ist. Ist sie jetzt Mann, ist sie Frau? Das war ja früher noch viel extremer, finde ich. Am Anfang, also

170 | Vgl. Mirzoeff zitiert nach Marx 2008, 55. 171 | Zur (Wahrnehmungsordnung der) Präsenz und Materialität von Körpern und Stimmen vgl. exemplarisch Fischer-Lichte 2004a. Eine produktionsästhetische, systematische Untersuchung über Die Präsenz des Schauspielers hat zudem Veit Güssow vorgelegt, vgl. Güsow 2013. 172 | Siehe die Analysen der (über-)regionalen Theaterkritiken und lokalen Zuschauer/ innen-Stimmen unter Kapitel 3.1.5. 173 | Roger Vontobel im redigierten Interview unter Kapitel 3.1.1.1.

Teil 3: Der Joker im Schauspiel da, wo wir uns kennengelernt haben, war das wirklich krass. Die war ein Jüngling. Also ganz extrem. Was ja immer noch ein bisschen so ist.174

Auf dramaturgischer Ebene lässt sich demnach von einer Überlagerung fiktiver und realer Situationen ausgehen, die reale Geschlechtsambiguität von Jana Schulz scheint hierbei in der Doppel- beziehungsweise Mehrfachidentität des Protagonisten in [ fi’lo:tas] aufzugehen. Mehr noch als eine mediale Funktion nimmt die Schauspielerin hier folglich eine dramaturgische Position im Inszenierungsgefüge ein: Über, das heißt vermittels der Medialität und Performativität ihres ganz eigenen, geschlechtsindifferenten Körper- und Stimmbildes erzählt sich so auf einer dritten (Meta-)Ebene ein verstärktes Hin-und-Her-Gleiten, also ein Oszillieren zwischen den Zugehörigkeiten: zwischen den Religionen und Nationen, zwischen deren Orthodoxien und Ideologien in der dramatischen Situation und »zwischen den Geschlechtern«175 – verstanden als soziale Anweisungen – in der realen Person. An dieser Stelle lässt sich die Eingangsfrage des vorhergehenden Abschnittes »Was macht die Schauspielerin (nicht)?« noch einmal auf die Position der Regie fokussieren: Denn was macht der Regisseur hier (nicht)? Zieht man hier zugleich andere Zusammenarbeiten oder den Probenprozess unter 3.1.3 zu Vergleichszwecken heran, lässt sich feststellen und festhalten, dass Roger Vontobel auf inszenatorischer Ebene eine inhaltliche und quasi psychologische Auseinandersetzung sowohl mit den literarischen Figuren und deren Konflikten als auch mit den diese vermittelnden Schauspieler/innen sucht. Wollte man die Arbeit(en) Vontobels mit einem ›Regie-Stil‹ belegen, dann ließe sich vielleicht von einer ›dramaturgischen Regiekonzeption‹ sprechen. Auch Vontobel selbst erläutert sein Vorgehen in einem Gespräch mit Sarah Reimann vom 27.06.2008 in Bezug auf seine Inszenierung Das goldene Vließ am Schauspiel Essen in einem solchen dramaturgischen Sinne ›vom Text aus‹: »Zuerst muss man den Text mit sich herumtragen. Ich arbeite sehr gerne mit Veränderungen von Erzählstrukturen im Text selber. Man fängt an einem anderen Punkt als die Geschichte an, geht dann zurück und erzählt die ganze Geschichte noch einmal und hat dadurch eine andere Perspektive. Diese ist wie eine Einflugschneise, die es einem erlaubt, dahin zu gehen, wo man sonst nicht hätte hingehen können.«176

Seine Erklärung lässt sich hier als ein Prinzip seines Arbeitens und als Basis einer dramaturgischen Regiekonzeption verstehen, welche mit dem vorhandenen Textmaterial umgeht, um zusammen mit hierin gesehenen Schauspieler/innen und gemeinsam mit Dramaturg/innen, Bühnen-, Kostümbildner/innen, Musiker/innen u.a. über Text und Zeichen hinauszugehen und neue Sinn- und sinnliche Räume zu schaffen. So entsteht im konkreten Aufführungsbeispiel [ fi’lo:tas] im vielschichtigen Vermischen von kategorialen Gegensätzen und Verflüssigen der ästhetischen Differenz zwischen Repräsentation und Präsenz177 jene un-gewisse und un-klare 174 | Roger Vontobel im redigierten Interview unter Kapitel 3.1.1.1. 175 | Jana Schulz in einem online publizierten Interview 2009, vgl. www.umagazine.de/ artikel.php?ID=328399. 176 | Vontobel zitiert nach Reimann 2009, 220. 177 | Vgl. auch Fischer-Lichte 2004a und Fischer-Lichte 2004b.

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Atmosphäre, welche die Aufführung von Beginn an transportiert. Sie lässt sich als ein Schwebezustand charakterisieren, als ein Un/doing Differences178, als eine »Ununterschiedenheit und In-Differenz zwischen der Relevanz und Irrelevanz sozialer Unterscheidungen«179, welche im theatralen Rahmen der Aufführung nicht nur zwischen sozialen, sondern auch ästhetischen Kategorien oszilliert.

3.1.4.5 Was machen (rein theoretisch) die Zuschauer/innen? Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte beschreibt in einer vordergründig ähnlichen, jedoch verschieden argumentierenden Weise dieses Verflüssigen der ästhetischen Differenz »zwischen der Wahrnehmung des phänomenalen Leibes des Darstellers und ihrer Fokussierung auf eine Figur«180 in Anlehnung an das Phänomen der ›Kippfigur‹ aus der Wahrnehmungspsychologie181 als »perzeptive Multistabilität«182 . Primär rezeptionsästhetisch theoretisiert und fokussiert sie mit diesem Konzept also das Kippmoment zwischen den zwei genuin theatralen Wahrnehmungsordnungen: derjenigen der phänomenologisch orientierten Präsenz (von Körpern, Räumen, Atmosphären, Dingen oder Klängen) und jener semiotisch lesbaren Repräsentation (des Figurenkörpers oder dramatischen Sinn-Raumes). Letztlich poststrukturalistisch argumentierend versteht sie den »Vorgang des Umspringens«183 hierbei ausschließlich als ein Irritationsmoment oder gar »Bruch«184 mit der routinisierten Wahrnehmung. Im Rahmen des Theaters als einem, mit Reckwitz verstanden, genuin ästhetischen Apparat lassen sich – so meine Erläuterung hierzu – derartige Wahrnehmungsroutinen in der Aufführung dementsprechend als ästhetische, Sinne und 178 | Zum kulturtheoretischen und wissenssoziologischen Konzept des Un/doing Differences vgl. Hirschauer 2014, 170-191. 179 | Hirschauer 2014, 170. 180 | Fischer-Lichte 2006, 130. 181 | Fischer-Lichte zieht zur Erklärung zwar konkret die (Figur-Grund-)Wahrnehmung im Fall von Kippfiguren an den bekannten Beispielen der Hase-Ente-Illusion und ›Rubin’schen Vase‹ heran (vgl. Fischer-Lichte 2008, 87) und rekurriert damit explizit auf die Wahrnehmungspsychologie (vgl. Fischer-Lichte 2006, 129), jedoch weist sie hierfür – meiner Recherche nach – keine Quelle aus. Ich nehme an, dass ihre Beobachtung der perzeptiven Multistabilität im Fall der Doppelgestalt des Schauspieler/innen-Körpers der Forschung zu »Figur und Inversion« von Gabriele Brandstetter entlehnt ist (vgl. Brandstetter 2000 und Brandstetter/ Peters 2002). Brandstetter wiederum rekurriert unter anderem auf die Gestalttheorie, wie sie ausgehend von Christian von Ehrenfels’ Aufsatz »Über Gestaltqualitäten« [1890] entwickelt worden ist, vgl. von Ehrenfels 1960 [1890]. Am Beispiel der Tongestalt verdeutlicht Ehrenfels, dass die ›Gestalt‹ »etwas anderes ist als die Summe der einzelnen Töne, auf welchen sie sich aufbaut« (von Ehrenfels 1960 [1890], 19). Aufgrund der »Übersummativität« (Brandl-Risi et al. 2000, 14) der Gestalt lässt sich der Begriff in vielfältiger Weise auch auf die (Bühnen-)Figur und die Doppelgestalt des Schauspieler/innen-Körpers übertragen; wie meine (Subjekt-)Analyse der Darstellungen von Jana Schulz zeigt, trifft der Begriff der Gestalt aufgrund ihrer spezifischen ›Eigenlogik‹ auf die Bühnenfiguren dieser Schauspielerin im Besonderen zu. 182 | Fischer-Lichte 2006, 130. 183 | Fischer-Lichte 2006, 133. 184 | Fischer-Lichte 2006, 133.

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Affekte stimulierende (Wahrnehmungs-)Praktiken definieren.185 Der Begriffsdifferenzierung nach Reckwitz folgend,186 lassen sich hierbei ›ästhetisch imprägnierte‹ Alltags- von ›ästhetisch orientierten‹ Kunstpraktiken unterscheiden, welche im theatralen Rahmen aufgrund seiner zwei Wahrnehmungsordnungen (zwischen Präsenz und Repräsentation) parallel wirksam sind. Ein Bruch mit Gewohntem oder eine Irritation des Gewöhnlichen kann sich folglich einerseits auf alltägliche Normalitätserwartungen beziehen, wie sie etwa in der sozialen und ästhetisch imprägnierten Alltagspraxis im Hinblick auf eindeutig zuordenbare Geschlechtsdarstellungen und -wahrnehmungen produziert und in der ästhetisch orientierten und sozialen Praxis des Theater(machen)s reproduziert oder aber subvertiert werden können. Andererseits existiert eine spezifische ›Normalitätserwartung‹ durch das und an das künstlerische Feld (des Theaters) selbst, wie sie sich seit den 1970er-Jahren nicht nur nach außen, das heißt in andere gesellschaftliche Felder hinein,187 sondern ebensosehr nach innen – forciert durch Das Theater seit den 60er Jahren188 – in einer »ästhetische[n] Normalisierung […] zweiter Ordnung«189, das heißt in einer Erwartungserwartung an Neues, Innovatives und/oder ›Anderes‹/›Abweichendes‹190 manifestiert.191 Aus einer solchen rezeptionsästhetisch-poststrukturalistischen Perspektive lässt sich zweifelsohne auch die Inszenierung [ fi’lo:tas] und die Darstellung des männlichen Protagonisten durch die Schauspielerin Jana Schulz betrachten. Eingebettet in das die Feld-und Subjektanalyse zusammenfassende Kapitel 3.2 wird die künstlerische Position des Theaterduos Vontobel/Schulz dementsprechend in diesem Zusammenhang zwischen ästhetischer Normalisierung, Positionierung und Prämierung diskutiert. Theoretisch lässt sich mit dem Konzept der perzeptiven Multistabilität nun auch jenes bereits beschriebene, selbstbezügliche und wirklichkeitskonstituierende Moment der Frage nach der eigenen Identität (»Wer bin ich?«) genau als ein solches, Fischer-Lichte’sches Kippmoment auf Seiten der Wahrnehmenden erfassen. Paradox ist diese ästhetische Erfahrung innerhalb der Aufführung [ fi’lo:tas] aber nicht nur, weil hier »die Wahrnehmung des Zuschauers […] zwischen der Fokussierung auf den phänomenalen Leib des Darstellers und derjenigen auf die Figur [umspringt]«192 beziehungsweise umgekehrt, weil die Wahrnehmung hier (vermutlich) zur Eigenleiblichkeit und Eigenstimmlichkeit ›der Schulz‹ oszilliert; paradox und überraschend ist – in Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis – noch mehr, dass in diesem Fall kein Bruch entsteht. Im 185 | Vgl. Reckwitz 2012, 25 und 47f. 186 | Vgl. Reckwitz 2012, 29. 187 | Zur Genese und Ausbreitung des »Dispositivs der Kreativität« (Reckwitz 2012, 19) im »›ästhetischen Kapitalismus‹ der Gegenwart« (Reckwitz 2012, 11) vgl. die umfassend angelegte Studie von Andreas Reckwitz Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung (Reckwitz 2012). 188 | Vgl. hierzu den gleichnamigen, einschlägigen Sammelband von Fischer-Lichte/Kreuder/Pflug 1998. 189 | Reckwitz 2012, 46 [Herv. i. O.]. 190 | Vgl. Reckwitz 2012, 45-47. 191 | Zum ›Kreativitätsimperativ‹ (Reckwitz) im Feld des Stadttheaters vgl. Grösch/ Schultze 2015, 50-57. 192 | Fischer-Lichte 2006, 130.

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Sinnhorizont der Aufführung und Erwartungshorizont an die Schauspielerin (vgl. Kapitel 3.1.5) kann eher angenommen werden, dass die ästhetische Differenz zwischen fiktiver Figur und realer Person im Kippmoment und darüber hinaus zwar sicht- und hörbar (gemacht) wird, dass sich hierin jedoch ein Verschmelzen (Blending) der Situationen vollzieht. Dabei entsteht kein Bruch mit dem Gewohnten, sondern ein Blend193 durch das Ambivalente (oder sogar Polyvalente), welches in der spezifischen Inszenierung der Bühnenfigur als auch in der allgemeinen Darstellung der Schauspielerin bereits angelegt ist und im Rahmen der Aufführung die Bedeutungs- und Erzählebenen potenziert. Betrachtet man den daraus resultierenden Effekt einer instabilen Bedeutungskonstitution, erscheint die Wirkung (und Wirkungsabsicht) von Bruch versus Blend, verstanden als inszenatorische Verfahren zur Erzeugung »multistabiler Muster«194, prinzipiell miteinander vergleichbar zu sein. Denn auch Fischer-Lichte attestiert dem Phänomen eine Potenzierung von Emergenzen, das heißt von »im und als Akt der Wahrnehmung«195 hervorgebrachten Bedeutungen. Entsprechend der durch sie vorgenommenen Perspektivierung kommt sie hierbei, die Wahrnehmenden betreffend, zu folgendem Schluss: Diese würden durch die ästhetisch erfahrene Oszillation in einen »Zustand der Instabilität«196, einer »Schwellenerfahrung«197 gleich, versetzt werden: »zwischen verschiedene Zustände […], so dass wir uns immer wieder auf der Schwelle befinden – eine Schwelle, die uns den Zugang sowohl zum einen wie zum anderen ermöglicht.«198 Die ästhetische Wahrnehmung als Schwellenerfahrung bewirke dabei, so argumentiert Fischer-Lichte in Anlehnung an die Ritualtheorie Victor Turners,199 eine liminale (Krisen-)Erfahrung des Wahrnehmenden, das heißt eine »Destabilisierung seiner Selbst-, Fremdund Weltwahrnehmung«200. Das insbesondere rezeptionsästhetisch orientierte Konzept der perzeptiven Multistabilität nach Fischer-Lichte gewinnt innerhalb eines Begriffs- und Wirkungsspektrums von Irritationen, Brüchen, Diskontinuitäten und Destabilisierungen bis hin zu Transformationen (auf Seiten der Wahrnehmenden) sein theatertheoretisches Gewicht. Die dementsprechende Fokussierung auf »Verfahren, welche unsere Wahrnehmung irritieren«201, ist hierbei Teil einer konsequenten Argumen193 | Der Begriff des Blend wird hier in Anlehnung an die Blending-Theorie von Gilles Fauconnier und Mark Turner verstanden als kognitiver Prozess einer emergenten Sinnerzeugung, welcher auf einer Koexistenz von simultanen, kongruenten sowie inkongruenten Informationen basiert; im Blend entsteht dabei prinzipiell ein Mehr an Bedeutung, das – hierin der Gestalttheorie ähnlich – über die Summe seiner Wissenselemente hinausgeht, indem neue, spontane Sinn-Verknüpfungen entstehen, vgl. Fauconnier/Turner 2002, 39-50; siehe auch meine Anwendung der Blending-Theorie für die theaterwissenschaftliche Aufführungsanalyse am Beispiel [fi’lo:tas], vgl. Koban 2016. 194 | Fischer-Lichte 2006, 133. 195 | Fischer-Lichte 2006, 132. 196 | Fischer-Lichte 2006, 137. 197 | Fischer-Lichte 2006, 139. 198 | Fischer-Lichte 2006, 139 [Herv. i. O.]. 199 | Vgl. Fischer-Lichte 2008, 95. 200 | Fischer-Lichte 2006, 139. 201 | Fischer-Lichte 2006, 130 [Herv. d. Vf.].

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tationsführung; es lässt sich aber nicht verhehlen, dass sie auch ein Bias ihrer Forschung ist. Denn obwohl Fischer-Lichte von konkreten Aufführungsbeispielen ausgeht oder gerade weil sie auf eine bestimmte Sorte dieser rekurriert – und zwar diejenige des »experimentellen«202 respektive »postdramatischen Theaters«203 seit den 1960er-/1970er-Jahren – lässt auch die Logik eines derart geprägten Feldes der Theaterwissenschaft nur mehr den (poststrukturalistischen) Blick auf Brüche zu. Dabei verliert eine solche Logik aus den Augen, dass erstens der ›Bruch‹ der (gewohnten) Seherfahrung im Zuge einer fortgeschrittenen »ästhetische[n] Normalisierung […] zweiter Ordnung«204 kaum mehr eine ›Schwellenerfahrung‹, sondern vermutlich eher eine »Ambiguitätstoleranz«205 im Feld des Theaters produziert 206 (vgl. auch Kapitel 3.1.5), und dass zweitens auch ›andere‹, nicht per se postdramatische Verfahren eine perzeptive Multistabilität im Sinne einer Potenzierung von Bedeutungsebenen provozieren – wie in exemplarischer Weise die Inszenierung und die Aufführung [ fi’lo:tas] zeigen.207 In diesem Fall bildet gerade die psychophysisch-realistische Spielweise innerhalb des ›dramaturgischen Regiekonzeptes‹ Vontobels und innerhalb eines reduzierten und symbolkräftigen Bühnenraumes den schauspielerischen und wahrnehmenden Möglichkeitsraum für weitere Assoziationen und Verweisungszusammenhänge. So führt hier kein Bruch, sondern ein Blend von fiktiver Figur mit realer Person auf der Metaebene der Erzählung zur Überlagerung und Verstärkung einer In-Differenz von religiösen, nationalen und geschlechtlichen Identifizierungen sowie Kategorisierungen der Bühnenfigur.

202 | Fischer-Lichte 2006, 137. Namentlich verweist Fischer-Lichte in diesem Zusammenhang auf »Wilson, Castorf, Fabre u.a.« (Fischer-Lichte 2006, 133), denen im FischerLichte’schen Kosmos etwa auch Arbeiten des Kollektivs Socìetas Raffaello Sanzio oder im aktuellen, klassischen Theater(wissenschafts)diskurs wohl Inszenierungen von Nicolas Stemann, Rimini Protokoll, Susanne Kennedy oder Yael Ronen beizugesellen wären. 203 | Vgl. Lehmann 1999. 204 | Reckwitz 2012, 46 [Herv. i. O]. 205 | Hirschauer 2004, 34. Im Rahmen von Hirschauers Konzeption des Un/doing Gender meint der Begriff die potentielle Möglichkeit einer »Ambiguitätstoleranz für unklare oder unstete Geschlechtsdarstellungen« vor dem Hintergrund eines Relevanzverlustes der (komplexen Institutionalisierung der) Geschlechterdifferenz, wie er zumindest im zeitlich befristeten Rahmen von Theateraufführungen durchaus stattfindet. 206 | Sicherlich ist das (Sub-)Feld der Performance Kunst und der ihr nahstehenden freien Theaterszene einer ›Ambiguitätstoleranz‹ deutlich näher als das Feld des Stadttheaters mit seinen ›Standards‹; an denjenigen Theaterhäusern jedoch, an denen – trotz aller Standardisierung und Kanonisierung – regelmäßig ›postdramatische‹ Inszenierungs- und Spielweisen zu sehen sind, ist ebenfalls von einer Gewöhnung des Publikums an ambivalente, gebrochene und/oder selbstreflexive Darstellungen auszugehen. 207 | Fischer-Lichte schließt diese Möglichkeit zwar nicht aus, jedoch bestärkt sie allein durch die Auswahl ihrer Fallbeispiele beziehungsweise Testfälle ihre Position, nämlich, dass die postdramatischen Verfahren seit den sechziger Jahren eine perzeptive Multistabilität »in einem sehr viel höheren Maße zu ermöglichen scheinen als dies in einer psychologisch-realistischen Aufführung der Fall ist. Inszenierungen von Wilson, Castorf, Fabre u.a. scheinen ihr Auftreten geradezu herauszufordern« (Fischer-Lichte 2006, 133).

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Dieser hier produktions- und rezeptionsästhetisch erzeugte Schwebezustand der »Ununterschiedenheit und In-Differenz zwischen der Relevanz und Irrelevanz sozialer [und ästhetischer] Unterscheidungen«208, der inszenierungs- und aufführungsanalytisch durch das Konzept des Un/doing Differences gerahmt werden kann, darf folglich nicht (automatisch) mit jener liminalen Krisenerfahrung gleichgesetzt werden, welche mit Fischer-Lichte die ästhetisch orientierte Wahrnehmung betrifft. Denn eine phänomenologisch verfahrende Theatertheorie argumentiert und theoretisiert in dieser Weise primär rezeptionsästhetisch, wohingegen die Verknüpfung mit der soziologischen Perspektive erstens die Produktionsbedingungen des Theatermachens sinnvoll in die Inszenierungs- und Aufführungsanalyse zu integrieren und zweitens stärker für sozial und ästhetisch differenzierende Praktiken während des gesamten Produktions- und Rezeptionsprozesses zu sensibilisieren versucht.209 In welcher Weise die Inszenierung und Darstellung des [ fi’lo:tas] von einem (über-)regionalen und lokalen Publikum wahrgenommen, aufgenommen und in einen Spezialdiskurs überführt wird, werden anschließend und die ethnografische Feldforschung am Tatort Bochum abschließend sowohl schriftliche Theaterkritiken aus einem Zeitraum von über zehn Jahren als auch mündliche Stellungnahmen von Zuschauer/innen im Kontext der Bochumer Wiederaufnahme jener ersten Zusammenarbeit des Theaterduos Vontobel/Schulz zeigen.

3.1.5 Stellungnahmen II: Überregionales und lokales Publikum In seiner Feldanalyse Die Regeln der Kunst stellt Bourdieu für das (vorläufige) Ende seiner historiografischen Darstellung zur Genese und Struktur des literarischen Feldes im kulturpolitischen Raum Frankreichs zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Anfang der 1990er-Jahre einen Höhe- wenn nicht gar Wendepunkt der Produktion von Kunst und Künstler/innen und dem damit verbundenen Diskurs fest. Das konstitutive Wechselverhältnis zwischen Akteur/innen, Produzent/innen und Rezipient/innen, das Bourdieu in diesem Zusammenhang beschreibt, vermag auch 25 Jahre später noch treffend den modus operandi einer sozialen und ästhetischen Ko-Produktion von Künstler/innen, im Kontext der vorliegenden Arbeit speziell von Schauspieler/innen, zu erfassen und im selben Zuge wesentliche Erfolgsbedingungen im Feld des Stadttheaters offenzulegen: »Daß sich die Arbeit der symbolischen Produktion nicht auf den vom Künstler vollzogenen materiellen Herstellungsakt reduzieren läßt, ist sicher nie klarer als heutzutage offenbar geworden. Die künstlerische Arbeit in ihrer neuen Definition macht die Künstler stärker als je zuvor abhängig von einem ganzen Gefolge von Kommentaren und Kommentatoren, die kraft ihrer Reflexion auf eine Kunst, die häufig selbst eine Reflexion auf die Kunst verkörpert, und auf eine künstlerische Arbeit, die immer auch Arbeit des Künstlers an sich selber beinhaltet, direkt zur Produktion des Kunstwerks beitragen.[…] Der Diskurs über das Kunstwerk ist kein bloß unterstützendes Mittel mehr zum besseren Erfassen und Würdigen, sondern ein Moment der Produktion des Werks, seines Sinns und seines Wertes.« 210 208 | Hirschauer 2014, 170. 209 | Vgl. auch Kreuder 2004b, 63-70. 210 | Bourdieu 1999 [1992], 275f.

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Wie Denis Hänzi in Anlehnung und Erweiterung an Bourdieus Untersuchungen in den Feldern der Literatur und der bildenden Kunst feststellt, hat auch im deutschsprachigen Theater-Feld seit Entstehen einer professionellen Theaterkritik im ausgehenden 19. Jahrhundert ein »Wandel der Geltungsproduktion« stattgefunden, der sich seit den 1990er-Jahren nicht nur in Form einer »expertokratisch legitimierten Konstruktionslogik von Berühmtheit«, sondern darüber hinaus im infrastrukturellen Kontext »einer entweltlichten, explizit wettbewerblich strukturierten Selektionslogik« Bahn breche.211 So sei die Theaterkritik als »meinungsbetonte Darstellungsform«212, wie sich ihre öffentliche Funktion speziell während der politisch motivierten (Neo-)Avantgarden um 1900 und in den 1960er-Jahren bestimmen lässt, heute weit weniger Teil eines solchen, einzelne Theaterarbeiten und Arbeitszusammenhänge positionierenden und mit-produzierenden »Deutungskampf[es] im Theaterfeld«213 zwischen Orthodoxie und Häresie.214 Seit den 1990er-Jahren sei die diskursive Plattform der Fachkritik und -journale vielmehr zu einer von allen Beteiligten legitimierten »Konsekrationsinstanz«215 avanciert, welche sich semantisch insbesondere an den Wettbewerbsmetaphern aus dem Feld des Sports orientiere und den Erfolg von ›Kunst und Künstler/innen‹ strukturell – im Zuge einer allgemein »florierende[n] Test und Vergleichsindustrie«216 – nach Einladungen zu den im Feld renommierten Theatertreffen und Stückemärkten, etwa zum Berliner Theatertreffen oder den Mühlheimer Theatertagen, nach Nominierungen und Auszeichnungen beispielweise im Kontext des Theaterpreises DER FAUST oder nach Umfragewerten im Rahmen der von Theater heute seit Mitte der 1970er-Jahre jährlich durchgeführten ›Kritikerumfrage‹ organisiere.217 Der mediale Wandel der Theaterkritik »in einem sich von einer Publikums- zu einer Fachzeitschrift mausernden Medium«218 und die funktionale Verlagerung von einem schriftlich verfassten Qualitätsurteil hin zu einem kuratierten und autorisierten ›Stimmungsbarometer‹219 des deutschen (Stadt-)Theaters – mit subjektivierenden Effekten – lässt sich meines Erachtens auf zwei weitere Einflussfak211 | Vgl. Hänzi 2015, 305. 212 | Boenisch 2008, 123. 213 | Kraus 2007, 65. 214 | Siehe Hänzi 2015, 313f. 215 | Bourdieu 1999 [1992], 86. 216 | Heintz 2010, 167. 217 | Siehe Hänzi 2015, vgl. auch Schmidt 2013, 205f. 218 | Hänzi 2015, 315. 219 | Vgl. auch die jüngst im Feuilleton entbrannte, kontroverse Debatte um die Münchner Kammerspiele unter der Intendanz von Matthias Lilienthal, in welcher der Leitung zu Beginn ihrer zweiten Spielzeit 2016/2017 in Anbetracht sinkender Auslastungszahlen und öffentlich gewordener Kündigungen seitens Schauspieler/innen unter anderem ein »Null-Interesse und fehlende[s] Sensorium für die Schauspielerei als Kunst« (Dössel 2016) unterstellt wird; in einem Interview mit FAZ-Redakteur Jörg Seewald wirft Chefdramaturg Benjamin von Blomberg dem Journalisten nun seinerseits »Meinungsmache« bis hin zu »Stimmungsmache« vor, mit der folgenden Mahnung: »Es gibt einen Umbruch im Publikum, das ist ganz logisch angesichts der Zukunftsfragen. Wir wollen ja auch junge Zuschauer. Ich hoffe, dass wir durch die unsachliche Berichterstattung nicht auch noch ein Zuschauerproblem bekommen.« (von Blomberg im Interview mit Seewald, siehe Seewald 2016.)

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toren zurückführen. So kann die Transformation der ›Geltungsproduktion‹ zum einen auch als affektive Reaktion der professionellen Rezensent/innen auf die Zeitungs- und insbesondere »Feuilletonkrise«220 seit Mitte der 1980er-Jahre gelesen werden, als offensive Verteidigungsstrategie der (Fach-)Kritik also hinsichtlich des Rückgangs der Theaterkritik im Feuilleton der Tages- und Wochenzeitung. Eine qualitative Beurteilung von Seiten der überregionalen sowie lokalen Theaterkritik erscheint in Anbetracht dieses quantitativen Rückgangs und der instabilen Erfolgskonjunkturen folglich umso konstruktiver (oder destruktiver) in Hinblick auf eine längerfristige Imagebildung von Theaterhäusern und Künstler/innen zu sein.221 Zum anderen scheinen die veränderten »Konsekrationsakte«222 in Form von Rankings und öffentlichen Preisverleihungen, wie bereits Hänzis Ausführungen andeuten, der Logik eines ›medialen Starsystems‹ zu folgen, welches sich nach Reckwitz »seit den 1920er Jahren in einer weitgehenden Ästhetisierung von Subjekten als wahrnehmbare Körper mit Gesichtern und Stimmen«223 realisiere: »Ihr Ästhetisierungseffekt ist ein doppelter: Die Wahrnehmung der Stars ist primär nicht von einem Informationsinteresse geleitet, sondern sinnlich-affektiv orientiert, und die Stars in ihrer Werk-, Persönlichkeits- und insbesondere Performance-Kreativität erscheinen wiederum als expressive Individuen, die immer wieder ästhetisch Relevantes hervorbringen.« 224

In seiner Untersuchung zur »massenmediale[n] Konstruktion expressiver Individualität«225 betrachtet Reckwitz ausschließlich Filmschauspieler/innen und Popmusiker/innen »als paradigmatische[…] Verkörperungen des Stars des 20. Jahr220 | Fischer 2015, 58, vgl. auch Boenisch 2008, 41-56. 221 | Die Verlagerung der Theaterkritik in die Fachjournale führt dabei jedoch vor allem zu einer Konsekration von Einzelnen und Etablierten und vergrößert eher die Kluft zwischen »den immer noch relativ vielbeachteten Metropolbühnen und den immer mehr im publizistischen Windschatten versinkenden Theatern abseits der Zentren« (Brandenburg 2015c, 41). Nichtsdestotrotz sind gerade kleinere und mittlere Theaterbetriebe sowohl auf die überregionale als auch lokale Theaterkritik angewiesen, so erklärt Dagmar Schlingmann, Intendantin des Saarländischen Staatstheaters: »Künstler, Teile des Publikums und die uns finanzierende Politik brauchen den Vergleich, wie die Produktionen in ihrem Theater im Wettbewerb mit den anderen deutschen Städten dastehen.« (Schlingmann zitiert nach Fischer 2015, 58.) 222 | Bourdieu 1999 [1992], 86. 223 | Reckwitz 2012, 247. 224 | Reckwitz 2012, 262. 225 | Reckwitz 2012, 239-268. »Die Aufmerksamkeit richtet sich nun auf das Öffentliche und das Private, und im Star verschränken sich Alltäglichkeit und Außeralltäglichkeit miteinander. In seiner massenmedialen Repräsentation ist der Star grundsätzlich eine öffentliche Figur. Zugleich bildet über seine beruflich-künstlerischen Leistungen hinaus das Private – seine gesamte Biografie, seine persönlichen Beziehungen und Interessen, sein Modestil etc. – einen Teil dieser öffentlichen Darstellung. […] Alltäglich ist er, indem er in Werk wie Persönlichkeit einen kulturellen Typus repräsentiert (Marlon Brando als lonely rebel, die Rolling Stones als angry young men etc.). Außeralltäglich fasziniert er hingegen durch die Idiosynkrasie seines Werkes, seiner Performance oder seiner Persönlichkeit, die sich nicht in einen Typus einfügt und die zum Gegenstand der Auratisierung werden kann.« (Reckwitz 2012, 242f. [Herv. i. O.].)

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hunderts«226; in der historischen Tiefendimension der Genese des Starsystems seien diese Subjektformen daher um international gastierende Theatervirtuos/innen der Jahrhundertwende ergänzt, in persona beispielsweise Eleonore Duse oder Elisabeth Bergner.227 In der Spätmoderne, seit Ende der 1980er-Jahre, findet laut Reckwitz nun eine (erneute) »Expansion des Starsystems«228 auf andere soziale Bereiche statt, sodass ›der Star‹ »zum gesellschaftlich verbreiteten Ideal-Ich avancieren [kann], weil er aufgrund seiner Leistungen als expressives Individuum in besonderem Maße öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht und damit soziale Anerkennung im Übermaß erhält.« 229

Sicherlich lassen sich Theaterschauspieler/innen hinsichtlich ihrer Außenwirkung heute weder mit Popmusiker/innen, noch mit Filmschauspieler/innen vergleichen, sofern letztere nicht ebenfalls auf Theaterbühnen zu sehen sind, wo sie als prominente Gäste gehandelt und reziprok im Film in ihrer besonderen ›Liveness‹ anerkannt werden. Doch auch unabhängig von beziehungsweise historisch längst vor der Beeinflussung durch das Medium des Films, weist das Feld des deutschen Stadttheaters, wie eben skizziert, eine Tradition der ästhetisierten Star- und Imagebildung auf. Während die ›Stars der Szene‹ im ausgehenden 19. Jahrhundert in den Theateralmanachen und -journalen porträtiert oder auf Postkarten verbreitet worden sind, werden diese ersten Akte einer öffentlichen und symbolischen Anerkennung von Theaterschauspieler/innen heute zudem durch die oben beschriebene, expertokratisch legitimierte und wettbewerblich strukturierte Konsekration forciert – mit denselben Effekten auf das darstellende Subjekt als gleichsam »›epistemisches Objekt‹, das sich beständig transformiert und dessen das Publikum nie ganz habhaft wird«230, sowie auf das rezipierende Subjekt, welches seit der Verbürgerlichung und Versachlichung des Theaters »in erster Linie kognitiver und ästhetisch-sinnlicher Beobachter des Geschehens«231 ist: 226 | Reckwitz 2012, 252f. 227 | Zur Außenwirkung von Eleonore Duse als internationale Künstlerin siehe Watzka 2012; zur kulturellen und medialen Bedeutung von Elisabeth Bergner als »Kindfrau« siehe Hochholdinger-Reiterer 1999. 228 | Reckwitz 2012, 262. Reckwitz denkt beispielsweise an das Feld des Sports, zu welchem sich im Rahmen der vorliegenden Arbeit auch im Folgenden erneut heuristische Analogien bilden lassen, daher sei hier auf Reckwitz’ Erläuterungen verwiesen: »Die Sportstars scheinen auf den ersten Blick zwar einem ganz anderen Starregister anzugehören, dem ›Helden‹ und ›Sieger‹, tatsächlich aber erweist sich gerade der Sport, insbesondere der Fußball, als Ort einer populären ›Ästhetik der Präsenz‹ [Gumbrecht (2005): Lob des Sports]. Man kann die These vertreten, dass die sich steigernde Attraktivität des Fußballsports seit den 1990er-Jahren auf dessen Ästhetisierung zurückzuführen ist: Die Attraktivität beruht auf den als ästhetisch wahrgenommen[en] Qualitäten des Spiels, und die Starfähigkeit von Fußballern […] basiert nicht zuletzt auf der Individualität und ästhetisch-stilistischen Qualität, der vorgeblichen ›Genialität‹ ihrer Spielweise – die dann wiederum mit Persönlichkeitsqualitäten außerhalb des Spielfeldes in Zusammenhang gebracht wird.« (Reckwitz 2012, 263.) 229 | Reckwitz 2012, 240f. 230 | Hans-Jörg Rheinberger zitiert nach Reckwitz 2012, 245. 231 | Reckwitz 2012, 243 [Herv. i. O.].

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Der Joker im Schauspiel »Auf der Affektebene changiert die Relation des Betrachters zu den Bildern des Stars dabei zwischen zwei Modi: der Objektbesetzung und der Identifikation. Die libidinöse Besetzung des Stars kann diesen auf einer ersten Ebene zum faszinierenden oder quasisakral angebeteten Objekt machen. Sie kann auf einer zweiten Ebene jedoch auch in eine Identifikation, ›eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung‹, umschlagen: Der Rezipient setzt sich dann an die Stelle des Stars und nimmt diesen zum Vorbild für die Gestaltung seines Selbst.« 232

Die ethnografische Untersuchung zum Tatort Bochum im weiteren Umfeld der Schauspielerin Jana Schulz widmet sich im Folgenden diesen ästhetisierten Wahrnehmungsprozessen auf Seiten professioneller und ›nicht-professioneller‹, das heißt nicht-berufsmäßiger Zuschauer/innen. Hierbei wird in einem ersten Schritt nach den Erfolgsbedingungen des Theaterduos Vontobel/Schulz im Kontext einer etwaigen »Konsekration auf Kredit«233 gefragt; in einem zweiten Unterkapitel wird daraufhin speziell die Image- und Profilbildung der Schauspielerin – gegebenenfalls als ›Star der Szene‹ – im lokalen Kontext des Schauspielhauses Bochum überprüft. Wie gezeigt werden wird, verhält sich die Erfolgslogik im Fall von Schauspieler/ innen vor dem Hintergrund einer längerfristigen Imagebildung und eines Blending zwischen realer Person und imaginiertem Typus hierbei different zu jenem »Modus einer auf Vorschuss vorgenommenen Nobilitierung«234, wie sie Hänzi seit den 1990er-Jahren insbesondere für den Fall von (Nachwuchs-)Regisseur/innen durch eine signifikante Zunahme von Preisverleihungen, (Regie-)Festivals und entsprechenden Publikationen – kurz: durch die Institutionalisierung eines »neuen Sichtbarkeitsregimes«235 – am Werke sieht. Während der Erfolg von Theaterregisseur/ innen hierbei stärker von einzelnen Produktionen und künstlerischen Konjunkturen abhängig zu sein scheint, werden Schauspieler/innen aufgrund ihrer Sichtbarkeit und Präsenz (im Unterschied zu einer tendenziellen Unsichtbarkeit und leiblichen Absenz von Regisseur/innen während der Aufführungsserie) unmittelbar »als wahrnehmbare Körper mit Gesichtern und Stimmen«236 von Rezipient/innen erfahren und als ›visuelle Subjekte‹237 stets zugleich nach kulturell kontingenten, sozialen und ästhetischen Kategorien differenziert. Es lässt sich annehmen, dass sich die Subjektivation von Schauspieler/innen hierbei im Spannungsfeld zwischen diskursiven Konsekrations- und fantasmatischen Projektionsakten im Blick der Betrachtenden vollzieht.

232 | Reckwitz 2012, 247, aus Jacques Lacans Schriften zum »Spiegelstadium« zitierend sowie auf die Unterscheidung von Objektbesetzung und Identifikation nach Sigmund Freud zurückgreifend. 233 | Hänzi 2015, 317-325. 234 | Hänzi 2015, 317. 235 | Reckwitz 2012, 247. 236 | Reckwitz 2012, 247. 237 | Vgl. Mirzoeff zitiert nach Marx 2008, 55.

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3.1.5.1 Wie schreibt die Theaterkritik über das Theaterduo Vontobel/Schulz? Zu Beginn dieses Unterkapitels sei (selbst-)kritisch angemerkt, dass die Rede vom ›Theaterduo Vontobel/Schulz‹, wie ich sie im Rahmen meiner Arbeit zum Zwecke einer pointierten und zugleich repräsentativen Darstellung nutze, selbst ein Produkt der Presse ist und explizit erst im lokalen Kontext der Bochumer Wiederaufnahme von [ fi’lo:tas] entsteht. So heißt es in einem informierenden und ein breiteres Publikum integrierenden Vorbericht im Bochumer Kulturteil der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) vom 30.12.2013: »Die Inszenierung ist die erste Zusammenarbeit des Theater-Duos Vontobel/Schulz. Sie wurde gefeiert, prämiert und zu zahlreichen Festivals eingeladen (Edinburghs Fringe, Ruhrfestspiele, Impulse-Festival).«238 Doch nicht nur im lokalen Diskurskontext gewinnt dieses Debüt eine zentrale Bedeutung in einem Prozess der Sichtbarmachung und öffentlichen Anerkennung der beiden, häufig im Team porträtierten Theaterschaffenden, wie sich anhand zahlreicher und überlappender Konsekrationsakte nachvollziehen lässt. Die Auswertung aller mir zugänglichen, seit ihrem Berufseinstieg in der Spielzeit 2003/2004 veröffentlichen Porträts, Interviews und Theaterkritiken (in Fachjournalen, Tages- und Wochenzeitungen, auf Internetportalen und Webseiten), die im Kontext ihrer gemeinsamen Arbeiten sowie weiterer Produktionen anderer Regisseur/innen, in denen Jana Schulz mitgewirkt hat, entstanden sind,239 ergibt hierbei das in den nachfolgenden Ausführungen zu skizzierende Bild. Auf der Webseite des Goethe-Institutes etwa wird Roger Vontobel unter einer Shortlist mit dem schlichten Titel 50 Regisseure im deutschsprachigen Theater geführt, deren Einträge »von namhaften Theaterkritikern [verfasst]«240 sind und deren künstlerische Erfolge auf diese Weise beglaubigt werden. Jürgen Berger, der in Anbetracht seiner Tätigkeiten als Juror bei den Stückemärkten in Berlin, Mühlheim u.a. als ein im Feld anerkannter Theater- und Literaturkritiker gelten kann, zeichnet sich verantwortlich für das Vontobel-Porträt. [ fi’lo:tas] wird darin als dessen »erste Visitenkarte«241 bezeichnet, woraufhin die üblichen Nennungen der Festivaleinladungen folgen. Im Rahmen der Kurzdarstellung vergisst Berger nicht, die wechselnden und allesamt renommierten Arbeitsorte des Regisseurs aufzuzählen (bis dato Hamburg, München, Essen, Bochum, Zürich [Dresden, Düsseldorf und Frankfurt folgen]) sowie die zusätzlichen Auszeichnungen, etwa die Wahl zum Nachwuchsregisseur des Jahres 2006 in der Kritikerumfrage von Theater heute oder den Kurt-Hübner-Regiepreis im selben Jahr, anzuführen.242 Erst nach der Ver238 | Thelen 2013. 239 | Diese Materialsammlung von Schrift- und Bilddokumenten ist zum einen und größtenteils durch private Anfragen bei den Öffentlichkeitsabteilungen der einzelnen Theaterhäuser entstanden, die mir in den meisten Fällen dankenswerterweise ihre sogenannten Pressespiegel pro Produktion zur Verfügung gestellt haben; zum anderen konnte diese Privatsammlung durch das Kritikenarchiv der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln ergänzt werden. 240 | www.goethe.de/kue/the/reg/reg/deindex.htm. Ein Pendant mit dem Titel ›50 Schauspieler/innen im deutschsprachigen Raum‹ existiert nicht, jedoch – dem Kulturauftrag des Goethe-Instituts entsprechend – eine ähnliche Auswahl an Autor/innen und Stücken. 241 | Berger 2009. 242 | Siehe Berger 2009.

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öffentlichung dieses Porträts folgt im November 2010 die Verleihung des Theaterpreises DER FAUST in der Kategorie »Regie Schauspiel«,243 welcher die Konsekration eines damit nicht mehr als ›Nachwuchsregisseur‹ gehandelten, sondern als souveränes Subjekt anerkannten Regisseurs komplettiert. Doch auch Jana Schulz fehlt im Zusammenhang dieses Konsekrationsaktes nicht, im Gegenteil: Der Fachkritiker sieht vielmehr die Besetzung des doppelgestaltigen Gotteskriegers mit der »damaligen Schauspielschülerin« als »die wichtigste Entscheidung seiner [Vontobels] noch jungen Regiekarriere«244 an, welche Berger hier in exemplarischer Weise mit jenem von Hänzi begrifflich erfassten, vorschussleistenden Kredit versieht.245 Parallel zu dieser ›Erfolgsstory‹ um Regisseur Vontobel, die in Form von schriftlichen Darstellungen und performativen Konsekrationsakten zwar nicht erst produziert, so doch vorangetrieben und fortgeschrieben wird, und neben einem dergestalt objektivierenden Qualitätsurteil auch eine qualitative Einschätzung der künstlerischen Arbeit(en) enthält, zeichnet sich innerhalb dieser ersten Berufsjahre im Feuilleton ebenfalls bereits ein eigenes und eigenwilliges Bild der Schauspielerin ab. Schon 2004 attestiert Willy Theobald der »fantastische[n] Jana Schulz als Julia«, die neben einem Romeo von Robert Stadlober in der Inszenierung von Nils Daniel Finckh am Hamburger Schauspielhaus »eine nervös aufgedrehte, besinnlich ruhige, stark schwache und heiter traurige Gestalt [spielt], die – wie Shakespeares beste Stücke – das ganze Universum in sich vereint«: Sie verfüge »aber noch über viel mehr Potenzial« und habe »das Zeug zu einer ganz großen Darstellerin«.246 Die symbolische Anerkennung ihrer schauspielerischen Leistung geht auch in ihrem Fall mit einem öffentlich vollzogenen Konsekrationsakt einher, der sich in den darauffolgenden Jahren nicht nur in diskursiver Form einschreiben, sondern auch performativ vollziehen wird, wie etwa 2012 durch eine FAUST-Nominierung für ihre Darstellung von Viola/Sebastian in der Was ihr wollt-Inszenierung von Roger Vontobel am Schauspielhaus Bochum. 2014 erhält sie dort dann auch den lokalen Bochumer Theaterpreis, den sie in der Kategorie ›Arrivierte‹ – also längst nicht mehr ›Nachwuchs‹ – gewinnt. Liest man die meist im Zusammenhang mit einzelnen Produktionen entstandenen Vorberichte, Kritiken und Porträts im Kontext der unterschiedlichen Arbeitszusammenhänge der Schauspielerin fällt auf, dass [ fi’lo:tas] – diesen »expertokratisch legitimierten«247 Beurteilungen nach zu urteilen – als Startschuss auch ihrer Karriere betrachtet werden kann: »Die Inszenierung wird 2003 zum ›Impulse‹-Festival eingeladen, und Tom Stromberg [damals Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg], der mit in der Jury sitzt, engagiert die Absolventin ans Schauspielhaus«248 – so schreibt beispielsweise Eva Behrendt 2008 im Rahmen eines in der Fachzeitschrift Theater heute abgedruckten Porträts über Jana Schulz, das neben einer Porträtfotografie folgende Bildunterschrift enthält: »Diese 243 | Die als der größte deutsche Theaterpreis gehandelte Auszeichnung DER FAUST wird jährlich vom Deutschen Bühnenverein in unterschiedlichen Kategorien, alle Sparten und beteiligten Künste berücksichtigend, vergeben. 244 | Vgl. Berger 2009. 245 | Vgl. Hänzi 2015, 317. 246 | Vgl. Theobald 2004. 247 | Hänzi 2015, 305. 248 | Behrendt 2008, 63.

Teil 3: Der Joker im Schauspiel

Frau spielt am liebsten Männer.«249 In ähnlichen Begriffen begründet auch Stefan Keim zwei Jahre später, im Zuge von Vontobels Was ihr wollt-Inszenierung250, in der Jana Schulz nicht nur die verkleidete Hosenrolle Viola/Cesario spielt, sondern zudem die Rolle des Bruders Sebastian inkorporiert, das Schulz’sche Fable für (echte) Hosenrollen, wenn er in seinem Artikel »Mit voller Kraft fürs Theater«251 in der Tageszeitung Die Welt vom 6.11.2011 (reißerisch) schreibt: »Jana Schulz spielt häufig Männer. Das war schon bei ihrer ersten Begegnung mit Roger Vontobel so. Da haben die beiden aus Lessings selten gespieltem Kriegsheldendrama ›Philotas‹ einen Monolog gemacht. […] Eine Stunde, ein Stuhl, eine Frau, die einen Mann verkörpert, voll wilder Verzweiflung, Aggressivität und Verlorenheit. Die Aufführung wurde zu einem Knaller auf Festivals im In- und Ausland. Die Gastspiele bei den ›Impulsen‹ in NRW waren der Durchbruch. Die 1977 in Bielefeld geborene Schauspielerin bekam ihr erstes Engagement in Hamburg. Dort spielte sie zuerst die Hauptrolle in Shakespeares ›Romeo und Julia‹. Obwohl ihr beim Vorsprechen gesagt wurde, sie solle weniger Kampfsport machen. Ihr Rücken würde zu breit und zu muskulös für Mädchenrollen. Jana Schulz war das egal. Und den Regisseuren auch. Denn sie suchten gar nicht mehr die zarte Unschuld, sondern selbstbewusste Frauen, Heldinnen für ein junges Publikum.« 252

Folgt man diesen Darstellungen, kann [ fi’lo:tas] geradezu als Gründungsmythos ihrer künstlerischen Karrieren – geformt in einer symbiotischen Arbeitsbeziehung und ausdifferenziert in zwei Künstler/innen-Persönlichkeiten – gelesen werden. Mehr aber noch für die Schauspielerin, als für den Regisseur hat dieser weitreichende Effekte auf das Image der Schauspielerin, welches bis heute in überregionalen und lokalen Rezensionen von der Süddeutschen Zeitung über die Herner Sonntagsnachrichten bis zum Hamburger Abendblatt auffallend übereinstimmend erstens in einer individuellen »Bereitschaft der Schauspielerin, sich mit Haut und Haar zu verausgaben«253, und zweitens in kategorisierenden (Körper-)Bildern wie etwa dem einer »[u]rgewaltige[n] Jana«254 – meist verbunden mit den Zuschreibungen von »Kraft«255, »Stärke und Präsenz«256 – aktualisiert und reproduziert wird. Das semantische Feld, welches ihren schauspielerischen Typus beschreibt, verweist hierbei in auffälliger Weise sowohl auf das Körperliche als auch auf das Natürliche (nicht aber auf das Körperliche durch das Natürliche und vice versa). Der trainierte und energetische Körper der Schauspielerin, den Jana Schulz in jenen Jahren mittels asiatischer Kampfkunst, heute durch Kundalini-Yoga ganzheitlich ausbildet und wie »ein hochwertiges Instrument«257 besitzt, setzt gegenüber derartigen Diskursivierungen und Normalisierungen vielmehr zu einem Befreiungsschlag an. Er widersetzt sich den diskursiven und nicht-diskursiven Grenzen eines binär und 249 | Behrendt 2008, 60. Vgl. auch Stiekele 2009. 250 | Premiere am 5.11.2011, Schauspielhaus Bochum. 251 | Keim 2011. 252 | Keim 2011. 253 | Dössel 2011. 254 | Herrmann 2014. 255 | Boebers-Süßmann 2013. 256 | Schiller 2008. 257 | Bazinger 2010.

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dichotom strukturierten Ordnungsmusters und kann vor diesem Hintergrund als darstellerisches Körperkapital einer »Praxis des Widerstands«258 im Sinne Heiner Müllers sowie Hans-Thies Lehmanns begriffen werden. So lässt sich bereits mit Blick auf den Habitus der Akteurin, der im zweiten Teil der empirischen Untersuchung feldspezifisch als Typenfach reformuliert worden ist und innerhalb meiner Feldanalyse als Subjektivierungsweise innerhalb einer nach Geschlechts-, Ausstrahlungs- und Altersgraden differenzierten Organisationstruktur des Ensembletheaters fungiert,259 kaum anders urteilen, als dass sich der Schulz’sche Habitus indifferent gegenüber kategorialen und kategorischen Zuweisungen verhält. Dies legen auch die nachfolgenden Ausschnitte aus Theaterkritiken nahe, welche die Schauspielerin zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu charakterisieren und sie zudem in kategorialen und relationalen Ensemble-Konfigurationen einzuordnen versuchen. So beurteilt Andreas Rossmann, Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, im Rahmen einer Premierenkritik zu Rose Bernd (R: Roger Vontobel, 2015) mit Jana Schulz in der Titelrolle deren Status im Gesamtensemble des Bochumer Schauspielhauses wie folgt: »Obwohl sie nicht fest zum Ensemble gehört, ist sie der unglamouröse Star des Schauspielhauses, eine Verwandlungskünstlerin und Virtuosin des Uneindeutigen, die, schmal und schlaksig, an Grenzen geht und die Grenzen wechselt, die, androgyn und schillernd, zwischen den Geschlechtern changiert und deren Differenz aufhebt.« 260

Auch für die Hamburger Zeit lassen sich derartige Einschätzungen finden: »Am Hamburger Schauspielhaus gehört Jana Schulz zu den wichtigsten Protagonisten. Das Geschlecht einer Figur ist für sie keine Grenze, sondern eine Herausforderung«261, so untertitelt etwa Eva Behrendt 2008 ihr Schulz-Porträt »Engel, Elfe, Gendernaut«, in welchem die Kritikerin der Fachzeitschrift Theater heute in der Text- und Bildsprache des Artikels dem ambivalenten Typus der Schauspielerin gerecht zu werden versucht. Diesbezüglich kommt Irene Bazinger in einem Online-Beitrag der Welt 2010 zu dem Schluss: »Hochbegabt und risikofreudig sind andere ebenfalls, aber die stets aufs Neue spannende Jana Schulz ist aus einem anderen Grund die Schauspielerin für das 21. Jahrhundert: Sie hebt – völlig undogmatisch – mit sinnlich-praktischer Souveränität die Polarität zwischen den Geschlechtern auf. In der Wirklichkeit wie in der Kunst. Ein mutiges Geschöpf der Freiheit, eröffnet sie einer selbstbestimmt polymorphen Zukunft schon heute alle Möglichkeiten.« 262

Im Kontext eines zunehmend sowohl alltäglich als auch theatral gerahmten Spiels der Geschlechter ist der Habitus dieser Akteurin weder mit männlich oder unweiblich konnotierten noch mit weiblich denotierten Begriffen zu fassen, auch wenn seine diskursive Zurichtung semantisch den Grenzen dieses Spektrums eines Kultur/Natur- respektive Mann/Frau-Dualismus der bürgerlichen Moderne zwangs258 | Heiner Müller zitiert nach Lehmann 2009, 23. 259 | Siehe Kapitel 2.1.3.3. 260 | Rossmann 2015. 261 | Behrendt 2008. 262 | Bazinger 2010.

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läufig verhaftet bleibt, wie die Versuche einer Zuordnung der Schauspielerin im Kontext des »Normalpersonals«263 am deutschen Stadttheater veranschaulichen. Sowohl die obigen als auch noch folgende Stellungnahmen seitens der professionellen Theaterkritiker/innen machen zudem auf ein weiteres Rezeptionsphänomen aufmerksam, welches ich im Sinne einer ästhetischen Tatsache sozial- und theaterwissenschaflich ernstgenommen wissen möchte: Denn es scheint kein Zufall zu sein, dass im Zuge der Beschreibungen die analytischen Grenzen sowohl zwischen realer Person und fiktiver Figur als auch zwischen individuellen und kategorialen Eigenschaften verschwimmen, und sich die geforderte, durch Satz und Wort zum Ausdruck gebrachte, professionelle Distanznahme zum Gegenstand der Betrachtung (die sowohl im Feld des Journalismus als auch der Wissenschaft als Gütekriterium gilt) im Zuge einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem ›Phänomen Schulz‹ aufzulösen beginnt. Vielmehr eröffnet sich nämlich durch diese dergestalt ›irrationale‹ und affektive Annäherungsweise, wie sie die folgenden kurzen Ausschnitte in exemplarischer Weise vermitteln, jene Perspektive auf die im zweiten Teil der Untersuchung bestimmte, dritte Variable der Performanz von Typen, und zwar die durch Material oder/und Spiel ausgelöste Zuschauer/innenfantasie: So sieht etwa Maike Schiller während der Premiere Die Helden von Helgeland (R: Roger Vontobel, 2008) ein »Bühnentier Jana Schulz als rachlüsterner Brunhild-Verschnitt Hjördis«264; Annette Stiekeler erkennt in der Schauspielerin im Rekurs auf deren Darstellung des Major von Tellheim in Karin Henkels Inszenierung Minna von Barnhelm (Premiere: 2007) und in Erwartung des Käthchen von Heilbronn unter Vontobels Regie (Premiere: 2009) eine »Terroristin des wahren Gefühls«265; aus Perspektive Stefan Keims, der nicht der einzige unter den Rezensent/innen ist, der über mehrere Jahre und Produktionen hinweg die Imagebildung der Schauspielerin mittels seiner Kritiken und subjektiven Darstellungen befeuert, ist Jana Schulz »die Amazone unter Deutschlands Spitzenschauspielerinnen«266, das heißt, wie er in anderem Kontext konkretisiert, »eine kampfsportgestählte Schauspielerin, explosiv, wild, mit der körperlichen Ausstrahlung eines gefangenen Kriegers«267; und Hans-Dieter Schütt befindet 2013 gar im Zusammenhang mit Vontobels Inszenierung Die Nibelungen: »Jana Schulz ist Kriemhild, und sie ist es unaufhörlich erregend. Eine zarte, geschmeidige Pantherin. […] Jana Schulz ist Frau und Furie, eine grandios sehnige Sportlerin des Geschlechterwettkampfs – wo das Mädchen in dieser Kriemhild siegen will, hat Manneswucht schon alles gewonnen; und wo sie mit soldatischer Grobheit losrennt, wird sie doch überholt von erotischer Grazie einer Feengestalt.« 268

In der Gesamtschau des gesammelten und hier ausschnitthaft präsentierten Pressematerials zwischen subjektiven Meinungen und vergleichend objektiven Beurteilungen zeichnet sich ein Bild von der hier betrachteten Akteurin ab, das nicht 263 | Doerry 1926, 42, vgl. Kapitel 2.2.3 der vorliegenden Untersuchung. 264 | Schiller 2008. 265 | Stiekele 2009. 266 | Keim 2013. 267 | Keim 2014. 268 | Schütt 2013.

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auf Widersprüchen, sondern Ambivalenzen beruht. Die sich wiederholenden oder variierenden Sinnmuster sind gleichsam bildstarken Metaphern entlehnt, sie zeugen von Kämpfen im Tier-, Menschen- und Elfenreich, von Spannungen zwischen Gutem und Bösem, zwischen Grobem und Feinem, zwischen Tierischem und Erotischem, zwischen Abgelehntem und Begehrtem. Aus Perspektive der Lacan’schen Psychoanalyse, die in Anbetracht dieses ›Textmaterials‹ einen alternativen und erweiterten Zugang für eine kulturwissenschaftliche Subjektanalyse zu legen vermag, verweisen diese Metaphern auf die Möglichkeit und Notwendigkeit, »über den Umweg der Besetzung von Signifikanten durch andere Signifikanten«269 die Ebene des Imaginären in die Ebene des Symbolischen zu transferieren. Sie offenbaren in der sprachlichen Darstellung der Theaterkritiken subjektiv imaginierte und zugleich imaginäre, kulturelle Bilder – Fantasmen einer sowohl sinnhaften als auch symbolischen Wahrnehmungspraxis in Anbetracht eines nicht nur ›visuellen Subjekts‹270, sondern eines gleichsam überdeterminierten Signifikanten im theatralen und sozialen Rahmen der Aufführung(en). Im Fall der Schauspielerin Jana Schulz lösen ihr Spiel und körperliches Spielmaterial, verstanden als »eine Kette von Signifikanten«271 nicht nur Fantasien, sondern auf Seiten der rezipierenden Subjekte ein fantasmatisches Begehren aus. Wie Slavoj Žižek erläutert, nimmt ein solches, zum Objekt des Begehrens stilisiertes Subjekt dabei »niemals einen neutralen Ort ein […]. Mit anderen Worten, obwohl ›Realität‹ durch ›Realitätsprüfung‹ bestimmt wird, ist der Realitätsrahmen durch Reste des halluzinatorischen Phantasmas vorstrukturiert.« 272

Es ist dieser ›Rest‹, der in den schriftlich verfassten Stellungnahmen sowie den mündlichen Reaktionen von Zuschauer/innen eher um- als beschreibend, stets relational, das heißt auf aktuelle und ehemals dargestellte Bühnenfiguren zurückgreifend, zum Vorschein zu kommen scheint. Die Akteurin selbst verbleibt in diesen Umschreibungen als ein ›leeres Zentrum‹, um das sich zwar alles ordnet, das aber als Projektionsfläche des eigenen Begehrens sinnhaft befüllt werden muss, im Versuch, »eine ungreif bare Erscheinung gegenwärtig [zu] machen«273. Worin die Ursache liegt, dass das Rollenspiel der Schauspielerin Jana Schulz ein solches fantasmatisches Begehren in besonderer Weise auslöst – ein Befund, der in mündlichen Aussagen von befragten Zuschauer/innen Bestätigung findet –, und welcher Art(en) dieses Begehren ist, soll im anschließenden Unterkapitel mit Hilfe dieser subjektiven Stimmen ergründet werden. An dieser Stelle kann festgehalten werden, dass etwas durch die diskursive Festschreibung und Symbolisierung gewisser individueller und kategorialer Eigenschaften im Feuilleton 269 | Reckwitz 2008a, 65. Die Analyse von Metaphern eignet sich in besonderer Weise für die Frage nach dem Nexus zwischen symbolischen Ordnungen und dem Begehren des Subjekts – auf diese Frage wird letztlich meine Subjektanalyse »zur kulturellen Position des Jokers« in Kapitel 3.2 hinauslaufen. 270 | Vgl. Mirzoeff zitiert nach Marx 2008, 55. 271 | Reckwitz 2008a, 58. 272 | Žižek zitiert nach Trapp 2003, 19. 273 | Trapp 2003, 20.

Teil 3: Der Joker im Schauspiel

geschieht, nämlich die Konstitution und Subjektivation einer Persona Schulz, die nicht nur von »Paraderollen«274, sondern auch Projektionen »heimgesucht«275 wird. Nicht nur individualisiert, sondern vielmehr personalisiert und imaginiert, erscheint vor diesem Hintergrund die Frage nach dem Typus der Schauspielerin. Die bis ins 20. Jahrhundert hinein primär von einem Typenfach determinierten (Vor-)Erwartungen werden nun auf die Persona der Schauspielerin übertragen, die im Fall ›Schulz‹ zwischen Normalitätserwartungen an kulturelle Geschlechtsrollenbilder und Konformitätserwartungen an kanonische Figuren oszilliert – deren Instabilität sich arbiträr zeigt. Wie die bisherige ethnografische Forschung der Besetzungs-, Darstellungs- und Wahrnehmungspraktiken im breiten Umfeld des Theaterduos Vontobel/Schulz deutlich macht, lässt sich die Persona der Akteurin nicht kategorial, sondern ausschließlich relational und funktional erfassen: und zwar in ihrer dramaturgischen und rezeptionsästhetischen Funktion und in ihrer kulturellen und symbolischen Position, der Joker im Spiel zu sein. Inwiefern sie in dieser Funktion respektive Position auch als »bildhaft-attraktive[s] Ideal-Ich«276 begriffen werden kann, und mit welchen Implikationen, bildet die erkenntnisleitende Frage der nachfolgenden Auswertung.

3.1.5.2 Wie spricht das lokale Publikum über sie? Das hier präsentierte Datenmaterial ist Teil einer Befragung mittels offenen Interviews, die gezielt im Zuge der Bochumer Wiederaufnahme des Monologes [ fi’lo:tas] im Vorfeld von fünf Vorstellungen zwischen Oktober 2014 und April 2015 durchgeführt worden ist.277 Zwei Einstiegsfragen haben die kurzen Gespräche jeweils eingeleitet: Was wissen Sie bereits über den heutigen Theaterabend? Und was erwarten Sie? Die Fragerichtung hat hierbei auf die allgemeine Motivation des Vorstellungsbesuchs gezielt, woran sich fallspezifisch Nachfragen angeknüpft haben. Durch diese zunächst gemeinsame Ausgangssituation ist eine für die Auswertung der Stimmen notwendige Vergleichbarkeit geschaffen worden, welche in der Folge zu aufschlussreichen Ergebnissen führt. Die Auswahl der Interviewpartner/innen unter den Theaterbesucher/innen, die sich an jenen Abenden im Foyer der Kammerspiele des Bochumer Schauspielhauses nach und nach gesammelt haben, ist aufgrund der unterschiedlichen Ankunftszeiten des Publikums spontan erfolgt. In Anbetracht des Theaterbesuchs als eine soziale Praxis ist häufig auch nicht nur mit Einzelpersonen, sondern mit Paarkonstellationen oder kleineren Gruppen von bis zu sechs Personen gesprochen worden. Eine konkrete Aussage über die genaue Anzahl der insgesamt befragten Personen ist aus diesem Grund und aufgrund des spontanen Verlaufs der Befragung aber kaum vorzunehmen. Trotz 274 | Krumbholz 2014. 275 | Vgl. Carlson 2013, 15. 276 | Reckwitz 2008a, 63. 277 | Die Befragungen und Vorstellungsbesuche haben am 10.10.2014, 17.10.2014, 15.11.2014, 29.01.2015 und 10.04.2015 stattgefunden. Mein Dank gilt in diesem Zusammenhang meiner wissenschaftlichen Hilfskraft Noa Winter, die die Befragung mit mir vor Ort durchgeführt und ebenfalls Transkriptionen der Aussagen angefertigt hat; die Aussagen sind mit einem Aufnahmegerät aufgezeichnet worden, aufgrund der üblichen Lautstärke in vollen Theaterfoyers sind zusätzlich handschriftliche Notizen gemacht und später in die Protokolle überführt worden.

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aller Spontanität ist jedoch angestrebt worden, an jedem der fünf Abende jeweils eine heterogene, nach Geschlecht und Alter divergierende Gruppe an Befragten zu gewinnen. Auffallend ist hierbei gewesen, dass das Publikum – zumindest hinsichtlich dieser Kategorien – stark durchmischt gewesen ist: Rentner/innen um die 70 Jahre und jüngere Besucher/innen, meist Studierende Anfang 20, etwa gleich viele Männer wie Frauen mit alternativen, konservativen, bürgerlichen, punkigen (Kleidungs-)Stilen haben sich hier vor Vorstellungsbeginn versammelt. Innerhalb des begrenzten Zeitrahmens von etwa einer Stunde ab Öffnung der Abendkasse konnten sodann etwa mit einem Drittel des Publikums Gespräche geführt werden. Als überraschend habe ich als Forscherin und Theaterbesucherin die allgemeine Aufgeschlossenheit der Befragung gegenüber empfunden, manche Zuschauer/ innen sind im Gespräch richtiggehend redselig, auch neugierig meinem Frageinteresse gegenüber geworden, sodass die ursprünglichen Eingangsfragen häufig den Anstoß zu längeren Erzählungen und Erinnerungen an vorhergehende Theaterbesuche gegeben haben. Angesichts der Tatsache, dass an den ausgewählten Abenden ein Monolog mit Jana Schulz in der Titelrolle auf dem Programm gestanden hat, kann es kaum verwundern, dass häufig in unmittelbarer Reaktion auf die Eingangsfragen die Sprache auch auf die Darstellerin gekommen ist. In welcher Weise und durch welche Personengruppen dies jedoch geschehen ist, hat meine eigenen Erwartungen weit übertroffen. In Bezug auf die Ausrichtung dieser Studie im Umfeld des lokalen Publikums lässt sich daher retrospektiv konstatieren, dass im Wissen um die Solovorstellung [ fi’lo:tas] zum einen die hervorgehobene Besetzung bewusst genutzt worden ist, um einen Eindruck nicht nur von allgemeinen Vorstellungen von Theater, sondern von spezifischen Sichtweisen auf die Schauspielerin Schulz und den Regisseur Vontobel zu gewinnen. Zum anderen sind während der Befragung erst jene affektiven Sinnmuster zum Vorschein gekommen, welche nun für eine psychoanalytisch motivierte Analyse der Aussagen, wie sie im vorhergehenden Unterkapitel bereits vorbereitet worden ist, fruchtbar gemacht werden sollen. Zunächst ergibt sich aus den gesammelten Stimmen jedoch ein stark heterogenes Bild, was etwa die situativen Gründe für den Theaterbesuch und das ›mitgebrachte‹ Wissen angeht. Die einen kommen spontan und in Bezug auf Aufführungsinhalte und/oder beteiligte Personen unwissend an die Abendkasse, »statt Kino«278 etwa, oder weil für den Abend ansonsten nichts vorgesehen sei. Andere scheinen als routinierte Theatergänger/innen ebenfalls zwar nicht aufgrund langfristiger Planung, jedoch gezielt aufgrund des auf der Homepage beziehungsweise im Leporello und Spielzeitheft angekündigten Abendprogramms die Kammerspiele aufzusuchen, das heißt in den Worten der Befragten beispielsweise wegen der »Vermischung aus Lessings Philotas und der Geschichte von John Walker Lindh«, eines Stückes also »nach Lessing«, sozusagen eines »Mischstück[s] zwischen Klassiker und Nachrichten, also Berichterstattung« als »Eigenkreation des Regisseurs«, in welchem »Parallelen zum Afghanistankrieg gezogen« werden. Auffallend häufig werden auch kurze Vorberichte im Fernsehen und (gute) Kritiken im Radio und 278 | Direkte Rede seitens der Befragten wird im Folgenden mittels doppelter Anführungsstriche kenntlich gemacht, jedoch nicht unter Angabe des Interviewdatums oder anderer Merkmale belegt. An Stellen, an denen Zusatzinformationen bezüglich der Zugehörigkeit der Personen von Interesse erscheinen, werden diese direkt in den Fließtext integriert.

Teil 3: Der Joker im Schauspiel

in der Zeitung als Informations- und Motivationsquelle genannt und zitiert, sodass im Gesamten der Eindruck eines informierten und sowohl an Inhalten als auch schauspielerischer Leistung interessierten Publikums entsteht. Auf letzteren Aspekt, auf die Erwartung an das Schauspiel und die Schauspielerin, wird anschließend zu rekurrieren sein. Hier gilt es zu betonen, insbesondere unter einer dezidiert theaterwissenschaftlichen Perspektive, dass im Kontext dieser Befragung am Bochumer Schauspielhaus als einem repräsentativen deutschen Stadttheater mit eigener RegietheaterGeschichte279 tatsächlich nicht die »Regie für die Rezeption […] von Theater heute de[n] relevante[n] Fixpunkt«280 darstellt, gleichwohl Regisseur Vontobel sowie das Theaterhaus ebenfalls Bestandteile der Erzählungen sind. Die zentralen Fix- oder Referenzpunkte, auf die das nach der Motivation des Theaterbesuchs und etwaigem Vorwissen befragte lokale Publikum verweist, sind eindeutig die angekündigte Adaption des Stückes und/oder die Schauspielerin. Dabei fällt auf, dass viele der Besucher/innen die Akteurin nicht zum ersten Mal in dieser oder anderen Produktionen in Bochum (und andernorts) sehen respektive gesehen haben; andere Inszenierungen des Lessing’schen Trauerspiels sind in deutschen Spielplänen wiederum kaum zu finden, nur eine befragte Person sagt dementsprechend aus, am Deutschen Theater eine Philotas-Inszenierung mit Ulrich Mühe in der Hauptrolle erlebt zu haben. Sofern also der Stückinhalt als Motivationsgrundlage genannt wird, handelt es sich hierbei fast ausschließlich um ein offenes Interesse an der angekündigten Thematik und ihrer Auslegung im Rahmen der Adaption durch Vontobel/Schulz. Das eingebrachte, praktische Wissen in Bezug auf Schauspiel/ Schauspielerin ist dagegen quantitativ und qualitativ anders strukturiert: Sowohl manche der jüngeren Zuschauer/innen zwischen 20 und 30 Jahren als auch einige mittleren Alters (40-50 Jahre und älter) haben bereits bis zu drei Vorstellungen von [ fi’lo:tas] besucht; andere äußern sich euphorisch über ihre Erfahrungen mit weiteren Theaterproduktionen des Duos in Bochum, häufig werden hierbei Aufführungen von Was ihr wollt und Die Nibelungen genannt, in denen Jana Schulz ebenfalls als eine der Protagonist/innen (als »geteilte«281 Figur Viola/Cesario/Sebastian und als ›schöne Kriemhild‹282) zu sehen gewesen ist. Obwohl mit diesen 279 | Zum Bochumer Regietheater seit den 1960er-Jahren vgl. den Überblick bei Ketelsen 1999; zur Ära Zadek siehe exemplarisch Wölk 2014, zur Intendanz Claus Peymanns siehe etwa Wiesel 2001, 256-262, neben weiteren Einzelveröffentlichungen zu den Intendanzen Frank-Patrick Steckels, Leander Haußmanns, Matthias Hartmanns und Elmar Goerdens. 280 | Roselt 2015, 14. 281 | In einem der Gespräche mit dem Publikum verwendet eine etwa 60-jährige Abonnentin diesen Begriff, weniger bezüglich der Figur, als mehr noch im Hinblick auf die Schauspielerin und ihr Spiel: »Was ihr wollt, das vergesse ich im Leben nicht – speziell wegen dieser geteilten Frau, die wirklich nur durch Gesten diese Wandlung vollzieht.« 282 | Das Charakteristikum der schönen (und sittlichen) Erscheinung, wie es bereits die mythische Figur kennzeichnet, wird im Aufführungstext der Vontobel’schen Inszenierung als dramaturgischer Reibungspunkt und szenischer Impuls genutzt: So wird direkt zu Beginn der Aufführung die diskursive, in das Nibelungenlied und die Hebbel’sche Vorlage eingeschriebene Fremdkategorisierung der Kriemhild als ›die Schöne‹ wiederholt und paralinguistisch betont in die epische Erzählung eingebaut, die zunächst von der Gruppe der Akteur/innen, gemeinsam vor dem Eisernen Vorhang stehend, vorgetragen wird; von ihr, also von der Ein-

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Theaterarbeiten nach Aussage des Publikums keine Abendunterhaltung im Sinne eines belustigenden Amüsements, sondern etwas »zum Nachdenken« assoziiert wird, scheint der Unterhaltungsfaktor, das Vergnügen am Theatersehen als ästhetische und am Ins-Theater-Gehen als soziale Praxis, doch groß zu sein. Manche Personen oder Paare sind von Freunden eingeladen worden, in zwei Fällen explizit aufgrund deren vorhergehenden ästhetischen Erfahrungen mit diesem Schauspiel in der Ver-Körperung durch Jana Schulz: »Ich hab’s schon drei Mal gesehen«, antwortet auf Nachfrage eine etwa 60-jährige Besucherin. Was sie daran so beeindrucken würde, frage ich. Zuschauerin: Die ganze Geschichte. Es ist eine tolle Schauspielerin. Dieses Vexierspiel, dieses Doppelte, das ist einfach faszinierend. Sowohl in der Rolle als auch in der Schauspielerin als auch im Thema. Das finde ich einfach toll.

Nicht nur im Fall des Soloabends, auch hinsichtlich der oben genannten Produktionen wird das Vergnügen dabei unmittelbar mit der Protagonistin verknüpft, ein Vergnügen, das sich nicht zuletzt als Lust am Sehen und An-Sehen der Persona äußert. »Die Jana Schulz, die sehe ich sehr, sehr gerne«, begründet beispielsweise eine ältere Dame ihren Theaterbesuch; der Aussage fügt sie später im Interview erklärend hinzu: »Also für mich ist sie immer so toll überzeugend. Als junge Frau – oder auch als junger Mann.« Im Hinblick auf ihre Bühnenfiguren ist dabei auffallend häufig die Rede von einem ›überzeugenden Spiel‹, das semantisch in der Wortwahl variiert und im Grad der Überzeugung – von sachlicher Begründung bis emotionaler Involviertheit – differiert. Ein »intensives« Spiel sei es, das ihren Schauspieler/innen-Typus auszeichne, äußern in Bezug auf die Spielweise mehrere der Zuschauer/innen, wie die erklärte Begründung für und Vorerwartung an den Theaterbesuch eines etwa 70-jährigen Gastes verdeutlicht: »Heute bin ich hier, weil Frau Schulz, Jana Schulz, das spielt. Das war der Anlass, ich möchte mir die Dreiviertelstunde wegen dieser Schauspielerin anschauen. Ich habe sie ganz intensiv gesehen in Nibelungen und Hedda Gabler.« In einer ähnlichen Weise äußert eine weitere Besucherin, Mitte 50, ihr ›Gefallen‹ an der Art und Weise des Schauspiels – und der Schauspielerin: »Sie ist eine sehr wandelbare, aber auch sehr asketisch aussehende Schauspielerin. Spannend. Sie bringt das, was sie spielt, sehr gut rüber ins Publikum. Von daher sehe ich sie gerne. Sie ist immer sehr intensiv, in dem, was sie spielt, das gefällt mir eigentlich.« Vor dem Hintergrund dieser subjektiven Stellungnahmen von routinierten und informierten Zuschauer/innen, als welche die eben zitierten Fälle gelten können und welche, wie meine Befragung ergeben hat, zugleich das Gros des Publikums bilden, lässt sich die Praxis des (Theater-)Sehens als eine Lust am (An-)Sehen von Spiel und Spieler/innen reformulieren. Wie sich anhand der Aussagen abzeichschreibung und Tradierung des Schönen, verstanden als soziale Erwartung und Anweisung an die Rolle ›der (mädchenhaften) jungen Frau‹ versucht sich die Kriemhild Jana Schulz’ von Beginn der Aufführung an – mittels einer distinktiven Gestik und Mimik – offensichtlich abzugrenzen, was in der ersten Szene zu einem abrupten Verlassen der Erzähler/innen-Gruppe und Ausbrechen aus der szenischen Handlung über einen den Zuschauerraum in zwei Hälften teilenden Steg führt – woraufhin das Spielgeschehen in die dramatische Handlung und eine identitäre Figurendarstellung übergeht.

Teil 3: Der Joker im Schauspiel

net, eignet dieser Lust am Sehen weniger ein sexuelles Begehren, als vielmehr ein Bedürfnis nach intensiver Erfahrung im intensiv dargestellten Spiel, verbunden mit einer ästhetischen Faszination in Anbetracht des Anderen – eines Anderen im doppeldeutigen Sinne, nämlich sowohl betrachtet als sichtbarer und sinnlich wahrgenommener (Figuren-)Körper innerhalb der theatral gerahmten Kommunikationssituation als auch begriffen als sozial und ästhetisch Anderes, als eine normabweichende Eigenschaft einer kulturellen Entität, die der (Figuren-)Körper als Objekt der Betrachtung und des Begehrens im Blick der rezipierenden Subjekte besitzt. Aus einer solchen, habitualisierten und kulturalisierten Betrachter/ innen-Perspektive stellt der Körper von Schauspieler/innen weniger ein erotisches, sondern in erster Linie ein ästhetisches Kapital dar, gleichwohl er als sexualisiertes Objekt dargestellt und wahrgenommen werden kann. So fällt im spezifischen Fall der Persona Schulz durchaus auf, dass vor allem weibliche Zuschauer/innen jüngeren bis mittleren Alters äußern, von Spiel und Schauspielerin in besonderer Weise »in den Bann gezogen« zu werden; »fasziniert« zeigen sich dagegen alle befragten Personen und Personengruppen, alters-, geschlechts- und lebensstil-unspezifisch. Diese affektive Erfahrung im ersten Fall ließe sich zwar homoerotisch deuten; wie ich im Folgenden aber am Material zu zeigen versuche, drückt sich auch hier primär ein anderes Begehren aus. Zu ergründen ist also zum einen, was die Faszination ausmacht, was Spiel und Spielerin für die Befragten derart attraktiv erscheinen lässt. Zum anderen ist der Modus der Wahrnehmung, das spezifische Bedürfnis in der ästhetischen Erfahrung zu befragen, welches im Spiel der Schulz in besonderer Weise ausgelöst und auch befriedigt zu werden scheint. Die zweigleisige Fragerichtung und die nachfolgend systematische Darstellung der Ergebnisse in zwei Themenkomplexe ist also bereits als Befund der Auswertung des Stimmenmaterials zu werten. So offenbart dessen Analyse, die durch schriftliche Notizen und Transkriptionen gestützt wird und wie die Interviewstudie mit den Theaterschaffenden im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit einer »Auswertungsstrategie des ›Austausches‹ zwischen erhobenem Material und theoretischen Vorüberlegungen«283 folgt, ausgehend von den »›natürlichen‹ Kodes«284 der Befragten und den sich vergleichend herauskristallisierenden Sinnmustern Interdependenzen zwischen zwei unterschiedlichen, sich im Effekt der Subjektivation der Schauspielerin jedoch gegenseitig verstärkenden Bezugssystemen: der Interdependenz von Faszination und Körperlichkeit und Identifikation und Intensität. Wie die bereits zitierten Aussagen deutlich machen, wird eine Verbindung von Faszination und Körperlichkeit teils explizit von den Zuschauer/innen hergestellt, teils liegt sie eher implizit deren Beschreibungen eines spezifischen Typus der Schauspielerin Jana Schulz zugrunde. Als »spannend« erscheint etwa im Kontext einer obigen Stellungnahme (sowie gemäß anderer Begründungen) das Wandelbare respektive Wandlungsfähige der Schauspielerin, deren Erscheinung in einem Spektrum von »asketisch aussehend«, über »sehr herbe« und »stark« bis hin zu »zerbrechlich« und »verletzlich« beschrieben wird. Das »Androgyne«, das mit dem Habitus der Persona Schulz etwa im Spezialdiskurs der Theaterkritik und -praxis verbunden wird, kann zwar auch im Rahmen meiner Befragung als »ihr Markenzeichen« und eine konsensuelle Beschreibungskategorie in Bezug auf den Typus 283 | Schmidt 1997, 545, vgl. Kapitel 2.2.2. 284 | Schmidt 1997, 553.

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der Schauspielerin gelten, doch meint diese im Sinnzusammenhang der Aussagen ein spielerisches Surplus, also mehr, als die spezifisch-geschlechtliche Diskursivierung äußerlicher Indizes vermuten lässt. »So androgyn, in der Art, in der sie spielt, sehr facettenreich«, sei die Schauspielerin laut Meinung einer befragten Person, eine andere äußert ähnliches: »Ich finde, das ist eine androgyne Persönlichkeit, die eine Ausstrahlung hat, die beides unheimlich gut spielen kann. Das finde ich faszinierend, dass sie in jede Rolle so reinfinden kann.« Wie diese Aussagen nahelegen, liegt die spezifische Wandelbarkeit, die Jana Schulz hier zugeschrieben wird, im Androgynen als einem performativen Spielund Möglichkeitsraum begründet. Diese die Akteurin neben anderen Schauspieler/innen im Feld des deutschen Stadttheaters kennzeichnende Eigenschaft meint dabei sowohl einen geschlechtsindifferent wahrgenommenen Habitus der Akteurin als auch ein (»überzeugendes«) Habhaftwerden sowohl von weiblich als auch männlich codierten Figuren (oder Kindsrollen). Wie sich dieses Habhaftwerden im Sinne einer ›Menschwerdung‹ auch im Produktionsprozess vollzieht, hat die teilnehmende Beobachtung und ethnografische Begleitung des Theaterduos Vontobel/Schulz, wie in den vorhergehenden Kapiteln dargelegt, bereits in ihren theaterpraktischen Zusammenhängen anschaulich zeigen können. Die Analyse der subjektiven Zuschauer/innen-Stimmen komplettiert nun das Phänomen im Kontext seiner Produktions- und Rezeptionsbedingungen: Denn was zu Beginn dieses dritten Teiles mit dem Begriff des (Gender-)Blending theoretisch erfasst worden ist, zeigt sich hier als Gesamtphänomen aus Besetzungs-, Darstellungs- und Wahrnehmungspraktiken – auf die strukturellen (Vor-)Bedingungen seines Gelingens und ›Funktionierens‹ im Ensembletheater wird unter Kapitel 3.2 noch rekurriert. Nur eingeklammert hat dabei die Geschlechterdifferenz, verstanden als historisch kontingente, im sozialen und theatralen Raum institutionalisierte Strukturkategorie, in Anbetracht der Besetzung, Darstellung und Wahrnehmung von Schauspielerin Jana Schulz noch Bedeutung, und zwar als inkorporiertes Sinn- und Verhaltensmuster, das zwar in der Produktion und Rezeption ihrer Bühnenfiguren als Kontrastfolie und relationale Kategorie fungiert, das die Ver-Körperung durch die Akteurin aber zugleich negiert. Sie habe eben erst gar keine Verstellungskünste nötig, wie die Fachkritikerin Eva Behrendt in Bezug auf das Spiel der Schulz konstatiert;285 und auch die nicht-professionellen Zuschauer/innen zeigen sich fasziniert, dass Jana Schulz »mit nur einer Handbewegung Frau und wieder Mann sein kann«, ohne auf der Bühne viel Aufheben zu machen, zumindest keines, das eine ausgewiesene Genderperformance deklariert. Als »passivste Aktivistin der Welt«286, ist sie 2008 in einem Online-Artikel bezeichnet worden. Aufgrund ihrer vordergründig zwar a-politischen, innerhalb des Ensembletheaters aber ›normabweichenden‹ Position und ihrer affektiven Wirkung auf unterschiedlichste Personengruppen von jung bis alt kann dieses Label auch heute noch Gültigkeit beanspruchen. Als »einfach nur echt« oder »total authentisch« wird die Schauspielerin von manchen Bochumer Zuschauer/innen beschrieben, was die direkte Rezeptionswirkung eines Blending belegt, eines Verschmelzens von fiktiver Figur und realer Person, in dessen Sinnhorizont das Genderblending verbleibt. So sei Jana Schulz laut einer Zuschauerin: 285 | Vgl. Behrendt 2008, 62. 286 | Rusche/Schreiber 2008.

Teil 3: Der Joker im Schauspiel »eben wie ein Vollblutschauspieler sein sollte – also vollkommen aus ihrer Persönlichkeit wahrscheinlich raus, nur in diese Rolle geschlüpft, so habe ich das Gefühl. So wie Peter O’Toole im Film. Oder wer war vielleicht noch so intensiv? Bei manchen Filmschauspielern – selten – hat man das. Aber bei ihr kommt das so ähnlich rüber.«

Die Faszination, die in der Befragung, aber auch im öffentlichen Diskurs in Bezug auf die Persona Schulz in signifikanter Weise zum Ausdruck kommt, geht folglich nur zu einem Teil von ihrer geschlechtsindifferenten Ausstrahlung aus, die in ähnlicher Weise dem Charakterdarsteller Peter O’Toole nachgesagt wird. In erheblichem Maße schöpft sie aus dem anfangs erwähnten »intensiven« Spiel, das nach Aussagen von Zuschauer/innen »immer am Rande des Wahnsinns entlang schrappt«, das »sehr emotional« sei, »expressiv auf jeden Fall«, mit einem »kompromisslosen Körpereinsatz«. In den Worten einer anderen befragten Person heißt es bezüglich des Einsatzes der Schauspielerin: »Sie verausgabt sich dermaßen, das ist sehr faszinierend zu sehen, finde ich.« Ähnlich wie die Beschreibungskategorie des Androgynen rekurriert auch die Rede des Intensiven, wie im Folgenden zu sehen sein wird, auf unterschiedliche Signifikate. Während ›das Androgyne‹ der Persona Schulz sowohl ihren Habitus als auch ihren spielerischen Handlungsraum bezeichnet, meint ›das Intensive‹ einerseits eine körperlich-expressive Dimension ihres Spiels, andererseits die durch das Spiel ausgelösten, affektiven Zustände auf Seiten der Rezipient/innen. Lässt sich die schauspielerische Leistung Jana Schulz’, wie die obigen Aussagen im Gesamten vermitteln, keineswegs kategorial und einseitig bestimmen, so mag ihre ›intensive‹ Art der Menschendarstellung dennoch das Bild der Schauspielerin in der Außenwahrnehmung prägen. Dies zeigt sich reziprok in der Hingabe der Akteurin im Vorgang des Darstellens und einer Hingabe an deren Spiel von Seiten mancher Zuschauer/innen im Vorgang des Wahrnehmens. Die Interferenz zwischen Identifikation und Intensität, die das zweite Bezugssystem bildet, soll nachfolgend anhand eines längeren Interviewausschnittes mit einer etwa 25-jährigen Zuschauerin exemplarisch veranschaulicht werden. Die Eingangsfragen zu Vorwissen über und Erwartungen an den Abend beantwortet sie wie folgt: Zuschauerin: Über das Stück selber habe ich nur gelesen, was auf der Homepage stand. Aber das ist auch schon wieder ein bisschen her, dass ich die Karten bestellt habe. Ich hatte die bestellt oder wollte hier reingehen wegen der Schauspielerin, weil ich sie mal woanders gesehen hatte – leider nur im Fernsehen. Und dann habe ich mitbekommen, dass sie hier in echt auf der Bühne steht. Interviewerin: Wissen Sie noch, was Sie da gesehen haben? Zuschauerin: Ja, das war eine Inszenierung von Macbeth, was wir zu der Zeit gerade in der Schule gemacht hatten. Eigentlich gucke ich mir sowas im Fernsehen nicht an, aber da bin ich hängengeblieben. Das hat mich so mitgenommen (verbessert sich) oder berührt, dass ich das dann weitergeschaut und mir den Namen gemerkt habe und dann hierher bin. Interviewerin: Warum hat sie das so mitgenommen?

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Der Joker im Schauspiel Zuschauerin: Einfach, weil sie so intensiv spielt. Also, sie war so in dieser Rolle, dass man gar nicht unbedingt gemerkt hat, ist sie jetzt … Also ich habe mich zwischendurch gewundert: Ist sie jetzt Frau oder Mann? Das war gar nicht klar. Und irgendwie – das hat mich so fasziniert. Und deswegen habe ich dann auch nachgeschaut, wer das denn überhaupt ist? Weil das so sehr intensiv ist, wie sie spielt. Das hat mich einfach umgehauen.

Diese persönliche Stellungnahme ist nicht die einzige, die von einem bleibenden bis hin zu einem transformierenden Eindruck im Sinne eines emotionalen Berührt-Werdens berichtet, wobei auch in diesen Fällen der Intensitätsgrad der affektiven Wahrnehmung zu differieren scheint. Während die einen ihre Zuschauer/ innen-Haltung hinsichtlich des Schulz’schen Spiels reflektieren (»Das berührt mich immer sehr, es ergreift mich sozusagen, das Spiel von ihr. Eindringlich! ›Eindringlich‹, so kann man es auch ausdrücken.«) und dessen (Aus-)Wirkung auf das eigene Wahrnehmen zunächst beschreiben, eine Wirkung, die »einen in den Bann zieht«, offenbaren andere, wie auch die oben zitierte Person, eine subjektive Involviertheit in das Geschehen, die weniger an das Spiel, als vielmehr an die Persona Schulz geknüpft zu sein scheint: »Ich habe noch nie erlebt, dass mich ein Mensch auf der Bühne so berührt hat.« Ähnlich ergriffen zeigt sich eine weitere Person: »Also, ich habe jedes Mal wirklich so viel Emotionen in mir und kann das einfach so gut nachvollziehen. Gerade bei der Vorstellung letzte Woche habe ich es wieder gemerkt: Man spürt so gut mit. Sie ist einfach so präsent und das sprüht auf das ganze Publikum über. (Pause) Also, das habe ich echt bei keiner anderen Schauspielerin vorher erlebt.«

Die Präsenz der Schauspielerin und das berührende, weil ›nachvollziehbare‹ Spiel (zwischen den Geschlechtern) werden in diesen Aussagen als Auslöser für eine affektive Erfahrung beschrieben, die in ihrer Wirkung auf die Betrachter/ innen-Subjekte einen beinahe unvergleichbaren Stellenwert einnimmt. Wie Thomas Alkemeyer in Bezug auf das »Bewegen und Mitbewegen«287 im Rahmen gemeinschaftsstiftender Situationen wie etwa Sportveranstaltungen praxeologisch erläutert, setzt ein Berührt-Werden in sozialen Kontexten trotz einer subjektiv empfundenen Emotionalität »einen erlernten Sinn, ein Interesse, eine erworbene Leidenschaft für das Gezeigte voraus«288. Er schlussfolgert: »Die Menschen müssen sich im Gezeigten praktisch wiedererkennen können.«289 Anders als im Sport fungiert das Theater weniger als eine gemeinschafts-, denn als identitätsstiftende, soziale und ästhetische Praxis.290 Folglich ist anzunehmen, dass sich die hier berührt und ergriffen gezeigten Personen nicht nur in gewisser Hinsicht im Spiel der Schulz wiedererkennen, sondern sich vielmehr mit dem Gezeigten identifizieren – dieses Gezeigte mag die dramatischen, oft krisenhaften Situationen und Entwicklungen der Bühnenfiguren betreffen, die »so gut nachvollzogen« werden können; es scheint aber ebenso auf die Persona Schulz (»Ist sie jetzt Frau oder Mann? 287 | Alkemeyer 2011, 44-72. 288 | Alkemeyer 2011, 69. 289 | Alkemeyer 2011, 69. 290 | Diese Funktion lässt sich wohl auch auf den ästhetisierten, personenbezogenen und vermarkteten Sport von heute übertragen, vgl. das Forschungsdesign der vorliegenden Arbeit.

Teil 3: Der Joker im Schauspiel

Das war gar nicht klar. Und irgendwie – das hat mich so fasziniert.«) bezogen zu sein. Es identifiziert sich also, möchte ich behaupten, ein Teil der Zuschauer/innen einerseits mit den Bühnenfiguren, die Jana Schulz mittels ihres körperlichen Spielmaterials gestaltet, andererseits mit ihrer Persona und deren Habitus als affizierendem Objekt respektive sichtbarem Subjekt. Ausgehend von meiner ethnografischen Forschung lassen sich diese Annahmen mit meinen Beobachtungen am ›Tatort Bochum‹ kontextualisieren und in Teilen zur Deckung bringen. So mag nicht verwundern, dass es sich insbesondere bei den berührt gezeigten Personen durchweg um Zuschauer/innen weiblichen Geschlechts, in den meisten Fällen speziell jüngeren Alters zwischen 20 und 35 Jahren, handelt. Diese Personengruppe ist nicht nur im Kontext der [ fi’lo:tas]-Vorstellungen stark vertreten, sondern ist ebenso in den Publika anderer Aufführungen, in denen Jana Schulz als Protagonistin wirkt, signifikant sichtbar. Nicht selten sind im Foyer vor den Vorstellungen dieselben Personen anzutreffen, was einerseits auf die insgesamt stark vertretene studentische, teils dezidiert theaterwissenschaftlich sozialisierte Zuschauerschaft in Bochum zurückzuführen ist; andererseits liegt ein zentral an die Schauspielerin Jana Schulz geknüpftes Interesse respektive Begehren in Bezug auf ›ihre‹ Produktionen nahe, welches sich nicht nur in den Aussagen, sondern ebenso im Habitus der Rezipient/innen widerspiegelt. Dieser scheint sich nicht selten – in Frisur, Kleidungsstil oder (Körper-)Haltung – jenem der Akteurin, begriffen als ein »bildhaft-attraktive[s] Ideal-Ich«291, anzuähneln. Sowohl hinsichtlich Geschlecht und Alter als Indizes sozialer Zugehörigkeit als auch bezüglich Ausstrahlung lässt sich vor diesem Hintergrund ein Identifikations- sowie Projektionsprozess vermuten, der auf einer relationalen ›Gleichheit‹ zwischen darstellendem und wahrnehmendem Subjekt basiert: In der Beziehung zwischen Zuschauerin und Schauspielerin werden ›Geschlecht‹, ›Alter‹ und ›Ausstrahlung‹ »als Relationskategorien«292 in der sozialen sowie theatralen, aus Darstellungs- und Wahrnehmungsroutinen bestehenden Kommunikationssituation mit sozialem Sinn aufgeladen, ein ›Gleich-Sein‹ wird imaginativ forciert. Im Prozess der Identifikation verbleibt die Geschlechts- und Alterszugehörigkeit der Akteurin nicht im Sinnhorizont, das heißt »im Schwebezustand der In-Differenz«293, sondern bildet das Zentrum einer imaginierten Verbindung, während das in das Bild projizierte Begehren selbst ›geschlechtsindifferente‹ Ideale zu tragen scheint. Selbst wenn Jana Schulz von keiner der befragten Personen im Zusammenhang der Studie explizit als ›Star‹ bezeichnet wird, so gewinnt die Schauspielerin in ihrer Wirkung besonders auf die eben besprochene Personengruppe doch den Status eines Stars der Bochumer Theaterszene – eine Position, die sie schon in Hamburger Zeiten im feuilletonistischen Diskurs innegehabt hat (vgl. 3.1.5.1). Legt man diesem Begriff das zu Beginn des fünften Kapitels dargelegte, kulturwissenschaftliche Modell des spätmodernen Stars zugrunde, der mit Reckwitz als »ge-

291 | Reckwitz 2008a, 63. 292 | Hirschauer 2004, 27. 293 | Hirschauer 2004, 27f: »Ohne diese Markierung der Interaktionsbeziehung als gleich oder verschieden bleibt die Geschlechtszugehörigkeit unseres Gegenüber in-different im Sinne von gleichgültig und aktuell ununterschieden von unserer. Die Differenz verbleibt im Schwebezustand der In-Differenz.«

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sellschaftlich verbreitete[s] Ideal-Ich«294 verstanden werden kann, dann oszilliert die Wahrnehmung dessen auf der Affektebene zwischen dem Modus einer libidinösen Objektbesetzung und dem einer transformierenden Identifikation: »Der Rezipient setzt sich dann an die Stelle des Stars und nimmt diesen zum Vorbild für die Gestaltung seines Selbst.«295 Es versteht sich von selbst, dass die Wirkung von deutschen Theaterschauspieler/innen im 21. Jahrhundert nicht mit jener von Pop-, Sport- oder Filmstars im Vertrieb von multimedialen und internationalen ›ästhetischen Apparaten‹ verglichen werden kann. Wie in exemplarischer Weise gesehen, vollzieht sich innerhalb der Grenzen des deutschen Stadttheater-Feldes mit Blick auf die Rezeption der Schauspielerin Jana Schulz aber eine ähnliche Identifizierung, und zwar mit dem Habitus ihrer Person, der unter dieser Perspektive nicht mehr allein als theatraler, sondern für einen Teil des (jungen und weiblichen) Publikums als kultureller Anti-Typus fungiert. Doch nicht nur für diese Gruppe gewinnt die Akteurin einen besonderen Stellenwert. Wie die (wortwörtlich) ausgesprochene Faszination für ihr Spiel auf Basis ihres körperlichen Spielmaterials gezeigt hat, wird sie von einem breiten Publikum als quasi-auratisches Objekt stilisiert. Als »Fan« bezeichnen sich dementsprechend nicht nur manche unter den jüngeren Zuschauerinnen, sondern explizit und implizit zudem jene Theatergänger/innen, die, wie viele von ihnen erzählen, das Bochumer Programm und Ensemble durch langjährige Seherfahrung kennen.296 In ihren Aussagen spiegelt sich weniger ein den Alltag transformierendes Begehren, wesentlich stärker aber jene außeralltägliche Wirkkraft, die ›der Star‹ nach Reckwitz besitzt. Auf symbolischer Ebene »fasziniert er durch die Idiosynkrasie seines Werkes, seiner Performance oder seiner Persönlichkeit, die sich nicht in einen Typus einfügt und die zum Gegenstand der Auratisierung werden kann«297. Jenen sich nicht kategorial einfügenden Anti-Typus, den die Schauspielerin Jana Schulz sowohl für die Theaterproduzierenden als auch -rezipierenden re/präsentiert, soll im Folgenden der Begriff des Jokers beschreiben. Das abschließende Kapitel wird mit der offenen Frage nach der symbolischen Position des Jokers dabei sowohl die Bedingungen seiner Auratisierung als auch seine kulturelle Bedeutung reflektieren.

3.2 D er J oker – eine symbolische P osition ? Die hier vorgelegte Arbeit hat das Design ihrer Untersuchung einleitend anhand des Fußball-Feldes zu veranschaulichen versucht. Zum Abschluss meiner ethnografischen Feldforschung im deutschen Stadttheater rekurriere ich erneut auf 294 | Reckwitz 2012, 240f. 295 | Reckwitz 2012, 247. 296 | »Wir sind beide Fan von Jana Schulz, kann man sagen«, erklärt ein Zuschauer von Mitte 50 in Begleitung seiner Frau. Implizit erhebt ebenso ein anderes Ehepaar die Schauspielerin zu einem Star der Bochumer Theaterszene. »Ich erwarte einen tollen Abend, der Schauspielerin wegen«, bemerkt der Mann und seine Frau fügt hinzu: »Unsere Freunde haben es schon gesehen. Sie waren alle begeistert. Bei uns kam bisher immer was dazwischen, heute hat es endlich geklappt. Jana Schulz ist eine Ausnahmeschauspielerin.« 297 | Reckwitz 2012, 242f.

Teil 3: Der Joker im Schauspiel

einen Begriff, der prominent ebenfalls im Fußball-Sport Verwendung findet.298 Denn wie die Mannschaftsmetapher nicht nur im Kontext des Sports, sondern ebenso im Feld der Produktion von Kunst und Künstler/innen als ein ›natürlicher Kode‹ fungiert, der praktisches Wissen im Sinne einer Handlungsanleitung für eine einsatzbereite Ensembleaufstellung transportiert, ist auch der Begriff des Jokers hier nicht beliebig gewählt. Er stammt aus dem Feld selbst und wird im Rahmen der sich an dieser Stelle verdichtenden Subjektanalyse auf drei Ebenen heuristisch fruchtbar gemacht: auf Ebene der theatralen Norm mit unmittelbarem Einfluss auf die Ebene der Rede, das heißt der Aufführungssituation(en), und auf Ebene sowohl des theatralen als auch kulturellen Systems.299 Wie die zusammenfassende Darstellung und Reflexion des Jokers im Schauspiel zeigen wird, lässt sich die von Fischer-Lichte zum Zweck einer semiotischen und systematischen Analyse eingeführte »Differenzierung des theatralischen Codes in die drei Ebenen von System, Norm und Rede«300, welche historisch und lokal spezifische Produktions- und Rezeptionsbedingungen des kulturellen (Sub-) Feldes ›Theater‹ impliziert, im Rahmen einer kulturtheoretischen Analyse nicht systematisch aufrechterhalten, da die Praxis und Praxeologie des Theaters fließende Übergänge und Interferenzen zwischen den Ebenen zeitigt. Liegt die unmittelbare Verschränkung von Aufführungssituation, theatraler Norm und kulturellem System in der Regel in (Darstellungs-/Besetzungs-)Praktiken, (Wahrnehmungs-) Routinen, (institutionellen) Strukturen und (Inter-)Diskursen verborgen, macht die Position des Jokers im Schauspiel-Ensemble auf exemplarische Weise die Kontingenz des Systems sichtbar – indem sie zwischen Routine und Reibung respektive Reproduktion und Transgression changiert. Entsprechend der fluiden Konsistenz des Jokers verzichtet das abschließende Kapitel auf eine streng analytische Ordnung und lässt stattdessen den ›freien Austausch‹ zu.301 Der Begriff des Jokers soll hier nicht nur als Feld-, sondern ebenso in seiner Funktion als ›Konzeptmetapher‹ genutzt werden, in welcher er aufgrund ihrer Allgemeinverständlichkeit in unterschiedlichen Kontexten Anwendung findet302 – so genuin im Poker, wo er weit prominenter als im Fußball zirkuliert und (Spiel-) Farben und (Karten-)Werte absorbiert. Trotz aller Unterschiede verbindet das Fußball-, Poker- und Theaterspiel vor allem eines: das Interesse am Spiel. Nach Roger Caillois lässt sich hier insbesondere das Merkmal der Offenheit und Ungewissheit als gemeinsames Prinzip der genannten Felder identifizieren.303 Fußball, Theater und Poker sind Spielfelder, in denen der Ausgang ihrer Spiele prinzipiell offenbleibt. Die Bedingung der nicht nur spielinternen, sondern auch feldimmamenten Kontingenz ihrer (Spiel-)Praktiken scheint die Existenz eines Jokers folglich erst 298 | Der einleitende Teil dieses Kapitels hat Eingang in meinen 2017 veröffentlichten Aufsatz »Der Joker im Ensemble. Zur Re/produktion von Schauspieler/innen und Typen im deutschen Stadttheater« gefunden, vgl. Koban 2017, 133-145. 299 | Vgl. Fischer-Lichte 1983, 21-23. 300 | Fischer-Lichte 1990, 35. 301 | In Anlehnung an das von Pierre Bourdieu und Hans Haacke 1995 veröffentliche Gespräch Freier Austausch. Für die Unabhängigkeit der Phantasie und des Denkens, vgl. Bourdieu/Haacke 1995. 302 | Vgl. Moore 2004, 73f. 303 | Zu den allgemeinen Merkmalen des Spiels siehe Caillois 1982 [1958], 9-17, hier: 16.

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denkbar und möglich zu machen; zugleich potenziert sich durch Einführung eines Jokers in das Spiel sein unkontrollierbares und instabiles Moment. In Analogie zu seiner Etymologie bedeutet der Joker in diesem spiel- und kulturtheoretischen Sinne eine hinzukommende, die Norm überschreitende,304 vor allem »unbebilderte, weiße Karte«, die carte blanche, die aufgrund ihres »besonderen Wert[es] der beliebigen Einsetzbarkeit« Spielkonstellationen neu zu mischen und Situationen überraschend zu transformieren vermag.305 Als Konzeptmetapher kennzeichnet die rhetorische Figur des Jokers aber nicht allein ihre universale Einsetzbarkeit, sondern zudem ihre relative Bedeutungsoffenheit im Zuge der Anwendung in spezifischen Kontexten: »[T]here is a part of them that remains outside or exceeds representation.«306 Da der Joker im theatralen sowie theatertheoretischen Rahmen meiner Untersuchung, wie in der vorangegangenen Feld-/Subjekt-Analyse am Beispiel der Schauspielerin Jana Schulz gesehen, weder allein eine rhetorische Figur darstellt, noch bloß als Symbol von Glück oder Gewinn (wie im Poker oder Fußball) fungiert, sondern im Kontext des Theatermachens und -sehens eine genuin performative, das heißt mit Fischer-Lichte eine materielle, semiotische und symbolische Gestalt annimmt,307 ist seine spezifische Bedeutung im Feld des Stadttheaters erst noch zu ergründen. Die abschließende Frage lautet daher: Welche materielle und kulturelle Funktion nimmt der Joker im Schauspiel ein? Auf Ebene der Norm sowie der Rede meint der Begriff des Jokers – um zunächst in der Metapher der Fußballmannschaft zu bleiben – gleichsam einen Offensivspieler, der in entscheidenden Momenten eingewechselt wird, um eine erfolgsversprechende Wende zu bringen. Sogenannte Joker existieren vornehmlich im Profifußball, sie sind technisch versiert, flexibel, das heißt in der Spielsituation, in der sie eingewechselt werden, auf allen Positionen einsetzbar, und sie sind teuer.308 Auch für das Feld des Stadttheaters lässt sich beobachten, dass der Einsatz von Jokern auf die A-Liga, auf die größeren, finanziell und traditionell besser ausgestatteten Theaterhäuser beschränkt bleibt, die sich sowohl den Zukauf von prominenten Stars aus der deutschen Theater- und Fernsehszene als auch die Integration von Jokern in das Ensemble leisten können. Zwischen beiden ›Leistungskategorien‹, der Kategorie des prominenten Stars und derjenigen des Jokers, existiert ein funktionaler Unterschied: Denn während der Joker durch seine Funktion, sozusagen ›Allrounder‹ zu sein, schnell zu einem Star der lokalen oder gar überregionalen 304 | Im Poker stellt der Joker die 53. Karte dar und überschreitet damit das Normalmaß von 52 Karten. 305 | Pfeifer 2012, 599. 306 | Moore 2004, 73. 307 | Siehe Fischer-Lichte 2004a, 240-280. 308 | Zuletzt hat der Begriff des Jokers im Kontext der Fußball-EM 2016 prominent Anwendung gefunden: »Joker Schweinsteiger sorgt für die Entscheidung«, titelt etwa die RP-Online-Redaktion am 13. Juni 2016, nachdem Bastian Schweinsteiger am Vorabend im ersten EM-Spiel der Deutschen gegen die Ukraine das entscheidende Tor in der Nachspielzeit – kurz nach Einwechslung – geschossen hat, siehe www.rp-online.de/sport/fussball/em/dfb/em2016-bastian-schweinsteiger-sorgt-fuer-tor-in-nachspielzeit-bid-1.6043314. Schon nach Abpfiff des Spiels hat im TV-Interview Manuel Neuer seinen Teamkollegen erneut als Joker bezeichnet und damit den Anstoß für die verstärkte mediale Verbreitung des Begriffes gegeben.

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Theaterszene avanciert, ist umgekehrt nicht jeder Theater- und Fernsehstar zugleich befähigt als Joker im Spiel zu fungieren. Letztere zeichnen sich durch eine körperkategoriale Flexibilität aus. Ausgehend vom eigenen Körper als Spielmaterial setzt diese eine darstellerische Fähigkeit und (Handlungs-)Möglichkeit voraus, um überkategorial einsetzbar zu sein. Die Bedingung hierfür mag paradox erscheinen, gründet sie doch gerade auf einer In-Differenzsetzung körperbasierter und ›objektiver‹ Kategorisierungen, die sich in der Organisation des deutschen Ensemble- und Repertoiretheaters re/produzieren. Wird ein Joker eingesetzt, im Feld des Stadttheaters also besetzt, dann obliegt ihm die Aufgabe, die normative, dominant nach Geschlechts-, Alters- und Ausstrahlungsgraden differenzierte Ensemblematrix strukturell zu unterminieren respektive sie unterminieren zu können. Denn dieses ›Können‹ ist an Bedingungen geknüpft, die in einem wechselseitigen Zusammenspiel die wirkmächtige Position des Jokers ermöglichen, verstärken, aber auch eindämmen und unterbinden: Erstens hängt das individuelle Können309 von dementsprechend individuellen Spiel- und Spieler/innen-Eigenschaften ab. So hat nicht jede/r Akteur/in das Potential als Joker ein- und besetzt zu werden – in diesem Sinne ist die Position grundlegend auch an (Handlungs-)Macht geknüpft. Als Körperkapital benötigen die Joker, verstanden als Schauspieler/innen an der Grenze zur Norm, etwa einen »neutrale[n] Körper«310, der das Ideal eines möglichst form- und wandelbaren Schauspieler/ innen-Körpers bedient. Konkret bedeutet diese Art von Neutralität im deutschen Stadttheater insbesondere körperliche und geistige ›Unversehrtheit‹; vor dem Hintergrund der Dominanz ›weißer‹ Normen im deutschen Sprechtheater geht der ›neutrale Körper‹ zudem mit einer ›Unsichtbarkeit‹ ethnischer Indizes einher.311 Joker befinden sich demnach im Besitz eines für ihre Flexibilität und Mobilität im Spiel nötigen, einerseits unsichtbaren, andererseits – auf eine Art – exzeptionellen Körperkapitals. Jedoch scheint auch Sozialkapital in ihrem Fall nicht weniger wertvoll zu sein, da sie nicht nur entdeckt, sondern auch durch Besetzungen ›attraktiver‹ Rollen in ihrer (Sonder-)Position beglaubigt und öffentlich anerkannt werden müssen, um überhaupt ein Tor respektive einen Stich machen zu können. Zweitens bedingen daher auch Besetzungsentscheidungen ihren Einsatz im Spiel und damit ihr situatives Können während der Proben- und Aufführungsphase. Den Besetzungsentscheidungen von Regisseur/innen, Dramaturg/innen und Intendant/innen zugrunde liegen meist nicht nur künstlerische, sondern auch pragmatische Vorbedingungen (wie insbesondere im zweiten Teil der Arbeit dargelegt) sowie soziale Beziehungen, wie am Beispiel des Theaterduos Vontobel/Schulz exemplarisch belegt. Die Voraussetzung der relativ konstanten Arbeitsbeziehung 309 | Vgl. auch den Begriff des Könnens, wie ihn der Philosoph Christoph Menke formuliert und mit einer vor- und übersubjektiven Kraft assoziiert, vgl. Menke 2013, 13. In diesem Sinne haben Joker auch ein Maximalmaß an ›Kraft‹ und besitzen zugleich das ›Vermögen‹, diese auch wirken zu lassen. 310 | Sandahl 2005, 259. 311 | Dies macht auf ensemblepolitischer Ebene deutlich, warum der Joker-Position Macht eingeschrieben ist: weil dem Joker als genuin ›weiße‹ und ›unbebilderte‹ Spielkarte prinzipiell alle Rollen respektive (Ensemble-)Positionen offenstehen. In anderen Fällen gilt diese Möglichkeit der Transgression von Positionen und Kategorien innerhalb des deutschen Sprechtheaters nicht beziehungsweise nicht in diesem Grad.

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und sozialen Bindung zwischen Schauspieler/innen und Regisseur/innen respektive Intendant/innen fällt auch in anderen Fällen, die stellenweise Eingang in die Analyse gefunden haben, in Bezug auf die Produktion und Integration eines Jokers im Ensemble in besonderem Maße auf.312 Die Schauspielerin Bettina Hoppe bringt diesen für die Anerkennung eines Jokers als Joker notwendigen Aspekt von »Austauschbeziehungen«313 zwischen Akteur/innen und Theaterproduzent/innen in einem offenen Gespräch über ihre überkategoriale Darstellungs- und Wirkkraft (etwa in der Titelrolle der Hamlet-Inszenierung von Oliver Reese am Schauspiel Frankfurt oder in der Mutterrolle der Cäcilie in Andreas Kriegenburgs Stella-Inszenierung314) und ihre eigenen Erfahrungen mit unterschiedlichen Theaterleitungen zum Ausdruck: »Es braucht eine Schnittstelle, den Intendanten, dafür«315 – für »den androgynen Frauentyp«316, denn diesen im Speziellen meint Hoppe im Kontext des Interviews. Damit dieser auch als Joker eingesetzt werden könne, brauche es jedoch nicht nur eine autoritative Bestätigung, sondern mehr noch eine dementsprechende »Fantasie«317 seitens der Produzierenden und zugleich Rezipierenden hinsichtlich einer durch den Spieler/innen-Typus ausgelösten, gleichwohl fantasmatischen Imagination.318 In einem Gespräch mit Anselm Weber, dem damaligen Intendanten des Schauspielhauses Bochum, in welchem er über die Bedingungen des Theatermachens, der Ensemblezusammenstellung und der Besetzungen am ›Tatort Bochum‹ spricht, frage ich in Bezug auf die Schauspielerin Jana Schulz konkret nach ihrer Rolle innerhalb des Ensembles. Er antwortet: »Jana ist der … Jana ist der Joker. Sie wird jetzt das erste Mal mit einer anderen Kollegin [Regisseurin Lisa Nielebock] zusammenarbeiten, die – sage ich jetzt mal – den Mut gehabt hat, sie einfach zu fragen. Was eine ganz tolle Idee ist, weil wir Hiob machen. In dem Roth-Roman, da gibt es doch dieses behinderte Kind, den Menuchim, und den spielt sie. Und das ist na-

312 | Für eine kritische Reflexion dieses Verhältnisses, das nicht selten an eine geschlechtsungleiche Beziehung zwischen Regie- und Schauspiel-Position gekoppelt ist, siehe Kapitel 3.1.2.1. 313 | Bourdieu 1983, 191. 314 | Hoppe wird für ihre Darstellung der Cäcilie am Schauspiel Frankfurt 2011 bei den Hessischen Theatertagen als beste Darstellerin ausgezeichnet und für den FAUST-Preis nominiert. Die Rolle der Cäcilie in der Konvention der ›Mütter‹ kann nach Eigenerzählung der Schauspielerin Bettina Hoppe und in Erweiterung von Susanne de Pontes Unterscheidung der Hosenrollen geradezu als ›falsche Kleiderrolle‹ betrachtet werden, zumindest schien ihre Besetzung in dieser Rolle auf Produktionsseite anfangs kaum vorstellbar gewesen zu sein (Interview vom 21.11.2014). 315 | Interview vom 21.11.2014. 316 | Interview vom 21.11.2014. Hoppe konkretisiert diesen Typus: »Das ist irgendwie eine schöne Erscheinung und trotzdem gibt es etwas Bestimmtes, was, glaube ich, ein Mann nicht kriegt: nämlich so eine Projektionsfläche von wegen: ›Die und ich – wie wäre das wohl?‹ Diese Fantasie, die steht nicht zur Verfügung.« 317 | Hoppe im Interview vom 21.11.2014. 318 | Vgl. Hoppe im Interview vom 21.11.2014.

Teil 3: Der Joker im Schauspiel türlich eine total tolle Besetzung. Plötzlich kriegt das ganze Stück eine unglaubliche … Das merkst du richtig. Bei dem Gedanken, dass Jana Schulz das spielt, macht es richtig Tack!« 319

»Jana [Schulz] ist der Joker«, weil sie sich nicht kategorial in die Ensemblekonfiguration einpassen lässt, aber in der je spezifischen Figurenkonstellation relational ihre überraschende (und gewinnträchtige) Position behauptet. In der Art, in der auch Weber (neben den bereits zitierten Stellungnahmen unter Kapitel 3.1.5) die spezifische Rolle des Jokers auratisiert, offenbart sich dessen symbolische Position und Funktion im (Produktions-)Ensemble. Ausgehend von seiner Positionierung – im Sinne einer Rollenbesetzung – nimmt »das ganze Stück« nicht nur eine Wende, vielmehr gewinnt es regelrecht eine eigene Kraft, so lässt sich die Aussage des selbst regelmäßig regieführenden Intendanten in obigem Zitat interpretieren. Die dramaturgische, konzeptionelle Funktion, welche für die Besetzung von Jana Schulz im Kontext der Vontobel’schen Regiearbeiten charakteristisch ist (vgl. Kapitel 3.1.4, speziell 3.1.4.4), lässt sich damit um eine symbolische Dimension erweitern, die nicht nur Stück und Figurenkonstellation – arbiträr zur erwarteten und erwartbaren Spielrichtung – neu justiert, sondern davon ›Abweichendes‹ in sie hineinprojiziert. Diese Wirkung durch Spiel und Spielmaterial des Jokers betrifft nicht nur eine potentielle – zwischen Darstellung und Wahrnehmung sich vollziehende – Indifferenzsetzung der relationalen Kategorie ›Geschlecht‹, sondern ebenso die Transgression von anderweitig stabil geglaubten Differenzen wie etwa Alter oder Behinderung. Hierbei ist zu bemerken, dass nur aufgrund des aus der Sehnsucht nach kultureller Ordnung erwachsenden Glaubens (doxa) an Drama und Mimesis – die Stützpfeiler des dramatischen Dispositivs – der Joker im zeitgenössischen Sprech- und Stadttheater existieren kann. Wo das dramatische Dispositiv aufhört zu wirken, ist die Figuren- und Subjektkonstitution nicht in dem Maße an Identitätskategorien geknüpft, die nach ›Einheit‹, nach Kohärenz und Eindeutigkeit der intelligiblen Subjekte verlangen, von denen sich wiederum der Joker in seiner wesenhaften Uneindeutigkeit und Wandelbarkeit – als Anti-Subjekt – abhebt. So lässt sich in stärker postdramatisch orientierten Kontexten, etwa in der Performance Kunst oder Body Art, demgegenüber eine Inversion des Jokers zur Norm vermuten. Nur im spezifischen Kontext des Repertoire- und Ensembletheaters, das sich auf Basis des Repertoire-Ensemble-Prinzips zudem in einer nicht nur nach Geschlechts-, Alters- und Attraktivitätsgraden selektierenden, sondern zudem europäische, vornehmlich hellhäutige Typen privilegierenden Matrix kennzeichnet, vermag der Joker alle Rollen zu besetzen – solange er den Anforderungen des Neutralen der im Feld hegemonialen Subjektform(en) entspricht. Sind diese Voraussetzungen gegeben, vermag der Joker sein Potential in dem durch (Körper-)Kategorien vordefinierten Spiel im Spiel mit ebenjenen freizusetzen. Eine solche Freisetzung von Fantasie sowie Indifferenzsetzung kultureller Codierungen und sozialer Kategorisierungen des Körpers scheinen ebenfalls durch das Spiel und Spielmaterial Bibiana Beglaus evoziert zu werden, die nicht nur von 319 | Im Zuge der ethnografischen Feldforschung am Schauspielhaus Bochum konnten in der Spielzeit 2014/2015 zwei längere Gespräche mit Anselm Weber geführt werden, der tiefe Einblicke in das Schauspielhaus unter seiner künstlerischen Leitung und in seine Alltagspraxis als Intendant und Regisseur zugelassen hat. Ich danke ihm nicht nur für diese Informationsbereitschaft, sondern auch für die davon ausgehenden Inspirationen.

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Martin Kušej am Residenztheater in München, sondern auch in früheren oder noch aktuellen Zusammenarbeiten mit Anna Badora, Falk Richter, Frank Castorf oder dem 2013 verstorbenen Dimiter Gotscheff signifikant ›überkategorial‹ eingesetzt wird. Wie im Fall ›Schulz‹ oder auch Bettina Hoppes lässt sich die überkategoriale Flexibilität der Spielerin Beglau dabei in Relation zu ihren Besetzungen in echten, verkleideten sowie falschen Hosenrollen verstehen.320 Während Beglau hierbei zu Beginn ihrer Karriere insbesondere für falsche Hosenrollen wie Lulu und Salome oder für die verkleidete Hosenrolle Rosalinde besitzt wird, scheint sie sich in jüngster Zeit geradezu auf eine geschlechtsindifferente Darstellung von Männer-, Boten- oder Geisterfiguren wie Kreon, Theresias oder Mephisto spezialisiert zu haben. Dass sie 2014 für die Rolle des Ferdinand Bardamu in Frank Castorfs Inszenierung von Reise ans Ende der Nacht321 zur Schauspielerin des Jahres in der Kritikerumfrage von Theater heute gewählt wird und 2015 den deutschen Theaterpreis DER FAUST in der Kategorie ›Darstellerin/Darsteller Schauspiel‹ für ihre Mephisto-Darstellung in der Faust-Inszenierung Martin Kušejs erhält, scheint mir kein Zufall zu sein: So häufen sich in den 2010er-Jahren die Auszeichnungen und Konsekrationsakte für Darstellungen geschlechtskreuzender echter, verkleideter oder hinsichtlich weiblicher Rollen(traditionen) bewusst ›gegen den Strich‹ besetzter, falscher Hosenrollen. Diesen hinzu füge ich – Susanne de Pontes Dreiteilung der Hosenrollen um eine vierte Dimension erweiternd – ein öffentliches Interesse und Bekenntnis für geschlechts- und differenzenindifferente Figurendarstellungen sowie für deren aus- respektive aufführende Schauspieler/innen. Die Darstellungen vermögen in diesem Fall nicht nur soziale Differenzierungen und normative Normalisierungen nach Geschlecht, Alter oder Behinderung, sondern auch die Grenze zum Tierischen, Nicht-Humanen, Transzendentalen zu überschreiten, wie exemplarisch Beglaus außermenschlich gewundene Körperlichkeit in ihrer Darstellung des Mephisto zeigt, regelmäßig aber auch das körperlich indifferente Spiel Martin Wuttkes in verschiedensten Bühnenfiguren offenbart. Beispielhaft genannt sei hier seine höllenhündisch-hechelnde Figurendarstellung des Arturo Ui in Heiner Müllers gleichnamiger Inszenierung aus dem Jahr 1995, die nach 21 Jahren im Programm des Berliner Ensembles nicht nur zu einem kollektiven Gedächtnis der deutschen Theatergeschichte gezählt werden, sondern ebenso als ein Vorreiter der aktuellen Joker im Schauspiel gelten kann. Seit den 2010er-Jahren fungieren und firmieren angesichts ihrer öffentlichen Wirkkraft etwa die nachfolgenden, teils bereits besprochenen, teils ›neuen‹ Schauspieler/innen – begründet auf der Basis folgender Spiel-Figurenverbindungen – als solche: Jana Schulz, die 2012 für den FAUST-Preis für ihre grenzensprengende Doppel- beziehungsweise Dreifachfigur Viola/Cesario/Sebastian (Regie: Roger Vontobel) nominiert wird, neben Fabian Hinrichs, der für seine zweifellos differenzenindifferente Performance in René Polleschs Produktion Kill your Darlings! Streets of Berladelphia aufgestellt wird; Constanze Becker, die den FAUST-Preis 2013 für ihre fulminante Medea-Darstellung (Regie: Michael Thalheimer) erhält, während parallel zu ihr auch Lina Beckmann für ihre Darstellung der Frau John in Karin Henkels Die Ratten-Inszenierung nominiert wird; Bibiana Beglau, die 2015 schließlich den FAUST-Preis für ihre nicht-menschliche Mephisto-Darstellung in 320 | Vgl. de Ponte 2013, 15f. 321 | Premiere am 13. Oktober 2013 am Residenztheater in München.

Teil 3: Der Joker im Schauspiel

Kušejs Faust-Inszenierung erhält, sowie Stefanie Reinsperger, die im selben Jahr für ihre zwischen den (Geschlechts-)Rollen switchende Darstellung in Dušan David Pařízeks Inszenierung Die lächerliche Finsternis322 zur ›Nachwuchsschauspielerin‹ und gleichzeitig zur ›Schauspielerin des Jahres‹ der Kritikerumfrage von Theater heute gekürt und mit dem österreichischen NESTROY-Preis in der Kategorie ›Bester Nachwuchs weiblich‹ ausgezeichnet wird. Letztere verweist in einem Gespräch mit Barbara Petsch vom 22. Juni 2014 auf einen dritten, neben dem individuellen und situativen Können für die Einsetzung, Besetzung und Freisetzung des Jokers zentralen Aspekt. Im Interview bekennt und fordert Stefanie Reinsperger: »Ich hatte großes Glück auf Menschen zu treffen, die mich gefördert haben. Das Theater sollte sich von diesen ganzen Typen befreien.«323 Literarisch und kognitiv vorgeprägte Typen meint die Schauspielerin im Gesprächskontext (und nicht etwa Menschen-Typen am Theater), was für das Können des Jokers bedeutet, dass: drittens die – bereits die Besetzungsentscheidungen beeinflussenden – Konformitäts- beziehungsweise Normalitätserwartungen324 an Rollen- respektive Figurendarstellungen, an das Schauspielen und an Schauspieler/innen grundlegend ein kontextuelles und kontingentes Können bedingen, welches die je spezifische symbolische Bedeutung und Wirkung des Jokers im Kontext der Ensemblekonfiguration und -konstellation325 überhaupt erst konstituiert, indem es sie kontextualisiert. Sind diese Konformitätserwartungen zwischen Bühne und 322 | Die Inszenierung ist im Kontext der vorliegenden Arbeit auch deshalb interessant, weil sich in ihr die ethnografische Forschungshaltung eines »Befremdens der eigenen Kultur« (Amann/Hirschauer 1997, 7-52) auf Basis der Möglichkeit einer theatralen Erforschung des Eigenen und ›Wahren‹ (hier: im Umgang mit dem Fremden respektive eigenen Klischees) zeigt; ethnografische und künstlerische Arbeit treffen sich hier an einem entscheidenden Punkt, nämlich dem der Befremdung beziehungsweise Verfremdung kulturell re/produzierter Verhaltens-, Denk- und Wahrnehmungsmuster mit selbstreflexiven, epischen Mitteln. Zur Befremdung der eigenen Kultur setzt die Inszenierung dabei an der Verfremdung ihres zentralen Ordnungsprinzips an, an der ›Geschlechter-Kultur‹ und ihrer Performanz, die von vier Schauspielerinnen in unterschiedlichsten, stereotypen Männerrollen mal offen ausgestellt, mal übergangen, mal genutzt wird – um mit einem »Witz in den Widersprüchen« (Brecht 1957, 173) die Absurdität der kulturellen Verhältnisse offenzulegen. 323 | Reinsperger zitiert nach Petsch 2014. 324 | Der Einfluss von Konformitäts- und Normalitätserwartungen auf die Wahrnehmung und Bewertung von Figuren respektive Schauspieler/innen zeigt sich exemplarisch anhand dem nachfolgenden, den Zuschauer/innen-Stimmen (unter Kapitel 3.1.5.2) entnommenen Dialog. In diesem bemerkt ein Ende 50-jähriger Mann hinsichtlich der schauspielerischen Qualität Jana Schulz’: »Eine eigentlich gute Schauspielerin, aber so manche Rollen, die mit ihr besetzt worden sind wie Hedda Gabler – ja, irgendwie habe ich das dann nicht auf die Reihe gekriegt. Das passte für meinen Geschmack irgendwie überhaupt nicht.« Woraufhin seine Frau prompt amüsiert reagiert: »Die Besetzung passte nicht mit deinem Geschmack, mit deinen Erwartungen. Du hättest sie anders besetzt.« 325 | Die Begriffe der Ensemblekonfiguration und -konstellation beschreiben unterschiedliche soziale Gefüge während der verschiedenen Phasen der Produktion von Kunst und Künstler/innen: Die relativ feste Struktur einer Konfiguration des Gesamtensembles wird damit von der eher dynamischen Gruppenkonstellation für eine spezifische Produktion unterschieden.

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Publikum, zwischen Akteur/innen, Theaterproduzent/innen, -rezipient/innen und -vermittler/innen während der Entstehungs- und Institutionalisierungsphase des deutschen Stadttheaters als ein flächendeckendes und vernetztes Feld von den 1830er- bis in die 1920er-Jahre hinein noch durch die theatrale Konvention des Rollenfachs kollektiv reguliert worden, wirken sie im Stadttheater-Betrieb des 21. Jahrhunderts zwar individualisiert, doch werden sie zugleich durch die Re/produktion von ›Standard-Typen‹326 stabilisiert und in einem arbeitsteiligen und isomorphistischen Prozess routinisiert praktiziert: im allgemeinbildenden Unterricht als ›Grundkurs‹ in literarischer Kanonkenntnis, im Rollenstudium an Schauspielschulen, in den Vorsprechen und Katalogen der ZAV-Künstlervermittlung, welche gemeinsam mit den Hochschulen das Repertoire an (Spieler/innen-)Typen bedient, in der produktiven und pragmatischen Organisation von Schauspieler/innen innerhalb eines (Stamm-)Ensembles, in einem (geschlechts-)rollenstereotypen Stimm-, Gesten- und Sprechrepertoire, in daran gewöhnten Wahrnehmungsschemata etc. In Bestätigung und Anpassung an diese Konformitätserwartungen wird einerseits ein Spektrum an intelligiblen Subjekten im Bereich des Schauspielens konstituiert, anderseits werden zugleich Anti-Subjekte definiert und produziert. Bereits mit Blick auf das frühe 20. Jahrhundert – und das bürgerliche Theater schon seit seinen Anfängen in dieser Weise konstituierend, wie Friedemann Kreuder in seiner Untersuchung Spielräume der Identität in Theaterformen des 18. Jahrhunderts belegt327 – lässt sich festhalten, dass dies im Kontext des jeweils dominierenden Schauspielstils auf deutschen Bühnen konsequent geschieht. So schreibt Erika Fischer-Lichte etwa in Bezug auf Ensemblespieler/innen im Umfeld des Regisseurs und Intendanten Max Reinhardt: »Reinhardt arbeitete bevorzugt mit Schauspielern, die sich nicht in statischen Posen gefielen, sondern ihren Körper mit einer solchen Dynamik einsetzten, dass sie Energie freizusetzen und auf die Zuschauer zu übertragen schienen. Auch über diese Art der Körperverwendung erfahren wir am meisten aus negativen Kritiken. Zwar geht aus allen Rezensionen zu Reinhardts Inszenierung von ›Elektra‹ (1903) hervor, dass Gertrud Eysoldt in der Titelrolle ihren Körper auf eine Weise verwendete, wie man es bisher auf dem Theater nicht gesehen hatte und so eine neue Art der Schauspielkunst kreierte. Hervorgehoben wurde vor allem die Maßlosigkeit ihres Körpereinsatzes und seine ungeheure Intensität. […] Die Schauspielerin verlangte ihrem Körper mit ihren ›kurzen, hastigen Wendungen‹ und ›konvulsivischen Zuckungen‹ offensichtlich das Äußerste ab […]. Mit ihrem Körper wirkte sie unmittelbar auf die Körper der Zuschauer ein. Während die deutliche Abgrenzung zwischen Schauspielern und Zuschauern durch die Rampe die Entstehung jeglicher Illusion erst ermöglichte, wurde durch das Spiel der Eysoldt auch diese Grenze überschritten. An die Stelle der Illusion trat Suggestion.« 328

Die Figurendarstellungen durch Schauspieler/innen wie Gertrud Eysoldt (18701955) stehen dem zu damaliger Zeit tradierten, veristischen Darstellungsstil in ihrer körperlichen Sprengkraft (gegenüber einer sprachlichen und sittlichen Disziplinierung des Körpers) konsequent entgegen. Sie unterlaufen spielerisch die genu326 | Vgl. Kapitel 2.2, hier speziell 2.2.3. 327 | Vgl. Kreuder 2010. 328 | Fischer-Lichte 2005, 20f.

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in bürgerlich codierten Konventionen, indem sie den in Rezeptionshaltungen habitualisierten Erwartungen nicht entsprechen – nicht entsprechen wollen, wie nicht nur Eysoldts emanzipatorische Darstellungen von insbesondere falschen Hosenrollen, sondern auch ihr eigenwilliger, widerständiger Weg während der 1920er-Jahre als Lehrerin an der Schauspielschule des Deutschen Theaters zu Berlin (heutige Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« Berlin), als Regisseurin und Theaterdirektorin annehmen lassen.329 Der Joker im Schauspiel, als welcher im Raum des Möglichen damals auch Eysoldt fungiert, offenbart damit seine kontingente, im Moment seines Wirkens stets widerständige Gestalt.330 Hinsichtlich seiner Funktion innerhalb des theatralen Systems lässt er sich folglich selbst als eine spezifische Subjektform reformulieren: In seiner Funktion als Anti-Subjekt führt der Joker hierbei nicht allein einen Wendepunkt im (Schau-)Spiel herbei, sondern markiert und konturiert auf plastische Weise die Grenzen des Feldes und die Differenz zur Norm. Im Sinne des Poststrukturalismus nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe stellt der Joker damit die reale Möglichkeit eines ›konstitutiven Außen‹331 her und – für einen historisch und lokal spezifischen Raum – den »Ort eines Antagonismus«332 dar. Wie meine Analyse gezeigt hat, ist die antagonistische Position des Jokers heute an der Schnittstelle zwischen dem Symbolischen und Sozialen zu verorten: In ihrer überkategorialen Flexibilität spielen Joker nicht allein mit den Konventionen eines sowohl dramatisch als auch postdramatisch sich realisierenden Dispositivs, sondern auch und vielmehr mit den (Identitäts-)Kategorien, die diesem – maßgeblich eingeschrieben in Theatertexte und Ensemblestrukturen sowie inkorporiert in sie rezipierende respektive reproduzierende Konformitätserwartungen – zugrunde liegen. In exemplarischer Weise zeugt ihr Spiel hierbei von der »kontinuierliche[n] Bewegung von Differenzen«333, welche die Kontingenz von Kultur als »ein System zentraler Unterscheidungen«334 definiert und die soziale Praxis dynamisiert: »[W]enn das Soziale […] nur als partieller Versuch existiert, Gesellschaft zu konstruieren – das heißt ein objektives und geschlossenes System von Differenzen – ist der Antagonismus als Zeuge der Unmöglichkeit einer endgültigen Naht die ›Erfahrung‹ der Grenze des Sozialen.« 335

Was Martin Kušej mit Blick auf das individuelle Können der Schauspielerin Bibiana Beglau formuliert, dass sie »an den Grenzen spazieren« 336 geht, trifft in je spezifischer Weise auf alle der oben genannten Joker zu. An der »Grenze des Sozia329 | Vgl. Niemann 1993. 330 | Der kurze Blick auf die Historie macht zugleich exemplarisch auf die Kontingenz des Phänomens aufmerksam: Denn ist das expressive Anti-Subjekt der Zwanziger nicht spätestens seit dem Theater der 1960er-Jahre selbst Teil der Norm und Darstellungsform? 331 | Vgl. Laclau/Mouffe 2006, 148. 332 | Laclau/Mouffe 2006, 171. 333 | Laclau/Mouffe 2006, 161. 334 | Reckwitz 2006, 36. 335 | Laclau/Mouffe 2006, 165. 336 | Kušej 2014, 22: »Der schnelle Wechsel der Geschlechter, das Nichtfestlegbare, das Spiel mit den Grenzen: Das liegt ihr. Aber wo andere sich diesen Grenzen mühsam nähern

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len« 337 lässt sich mit ihnen das Reale erfahren – jenseits des Kategorisierbaren und Objektivierbaren.

und sie dann mit Müh und Not vielleicht sogar überwinden, geht sie an den Grenzen spazieren und ist eigentlich immer schon auf der anderen Seite, kaum zu fassen.« 337 | Laclau/Mouffe 2006, 165.

Schlussbemerkung Stadttheater – Ensembletheater – Joker

Das Feld des deutschen Stadttheaters ist erneut in Bewegung geraten. Die Transgressionen im künstlerischen und sozialen Raum gehen auch in der aktuellen historischen Phase mit Transformationen des Kräftefeldes von »objektiven Relationen zwischen Positionen«1 einher, welche in den kommenden Jahren dieses Feld potentiell umstrukturieren werden – in diese Richtung zumindest weisen aktuelle Debatten um die Internationalisierung respektive Angleichung des Ausbildungssystems an einen internationalen Markt,2 um die gewachsenen Anforderungen an (Theater-)Schauspieler/innen in einem auch von den neuen Medien beeinflussten wie bedrängten Arbeitsbereich3, um neue (alte) Produktionsweisen in Kollektiven4 versus Ensembles. Wie nicht nur durch die wiederaufgeflammte Diskussion zu Auflösung oder Aufrechterhaltung der Ensemblestrukturen ersichtlich wird, sondern auch in der empirischen Untersuchung zu Praktiken der Ensemblezusammenstellung an deutschen Staats-, Stadt- und Landestheatern gezeigt worden ist, wird hierbei dem Ensemble in seiner Funktion als Betriebssystem eine zentrale Bedeutung sowohl auf theaterpraktischer als auch kulturpolitischer Ebene beigemessen. Das Ensemble ist in diesem Sinne nicht nur das ›Herz des Theaters‹, sondern verkörpert die illusio des Systems schlechthin: Es bietet Vertrautheit in der Wiedererkennung, Vergleichbarkeit von Leistungen und Besetzungsentscheidungen; es schreibt (wie das Stadttheater als Ganzes) seine eigene, miterlebbare Geschichte als Erzählung durch das lokale Publikum fort. Das Ensemble muss aufrechterhalten werden, weil es die Verbindung zwischen Theater, Stadt und Stadtgesellschaft (und damit die kommunale Finanzierung legitimierend) möglich macht – so lässt sich aus Perspektive der ›orthodoxen‹ Position argumentieren. Es muss aufgelöst werden, weil es keine Freiräume, sondern Abhängigkeiten schafft und den rezipierenden Blick zugunsten einer vermeintlich notwendigen Identifikation verengt – so lässt sich aus Perspektive der ›Häretiker/innen‹ die kritische Position formulieren. In dieser Auseinandersetzung geht es kulturpolitisch sowohl um Kunst als auch um Geld, theaterpraktisch aber vor allem um die Fragen danach, wie, mit wem 1 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 127. 2 | Vgl. exemplarisch Drescher 2014. 3 | Vgl. exemplarisch Kurzenberger/Müller/Rey 2011 und Stegemann 2010b. 4 | Vgl. exemplarisch Kurzenberger 2009.

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und unter welchen Bedingungen Theater gemacht werden soll und/oder will. Genau an diesem Punkt kreuzen sich die Positionen und Traditionen, stehen sie doch bei allen (Interessens-)Unterschieden – repräsentiert etwa durch die in den nächsten Spielzeiten wechselnden Intendanzen von Frank Castorf zu Chris Dercon, von Anselm Weber zu Johan Simons, von Claus Peymann zu Oliver Reese – für die Idee einer relativ autonomen Kunst durch produktive Arbeitsbeziehungen unter subventionierten Bedingungen ein. Die eigentlichen Gegensätze betreffen hierbei weniger das Fundament einer seit 1919 vermittelnden (Theater-)Verfassung zwischen Arbeitnehmer/innen und -geber/innen, zwischen Staats- und Stadttheatern, zwischen Staat und öffentlicher Kunst. Sie spielen sich – spätestens seit der ›Einverleibung‹ von Konzepten und Kollektiven aus der ›freien Szene‹ – vielmehr in persönlichen Grabenkämpfen und im Hinblick auf die symbolische Funktion von Theater zwischen Soziabilität und Ästhetizität ab, gleichwohl auch hier kaum mehr scharfe Trennlinien zwischen den Positionen gezogen und Zuordnungen der einzelnen Akteur/innen und Produzent/innen zu nur einer Position getroffen werden können: Schauspieler/innen vermögen nicht nur zwischen Rollen, sondern auch Spielweisen zu switchen; Regisseur/innen passen sich Texten, Projekten, Kontexten an; ebenso wissen Intendant/innen städtischer Bühnen um ihre Möglichkeiten finanzieller, programmatischer und pragmatischer Art. Was hier stattfindet, sind Kämpfe um die Deutungshoheit im Feld. Sie werden vordergründig auf Ebene der künstlerischen Programme und Spielpläne ausgetragen und abseits der künstlerischen Produktion von persönlichen Stellungnahmen flankiert. Wie die vorliegende Arbeit sowohl im historischen Abriss als auch in der empirischen Untersuchung zum Ensemble-Prinzip und seiner Transgression durch die antagonistische (Subjekt-)Position des Jokers gezeigt hat und wie die eben skizzierten ›Kämpfe‹ gleichfalls verdeutlichen, lässt sich das deutsche Stadttheatersystem aufgrund seiner internen Dynamiken in Form von Aushandlungsprozessen um Erhalt oder Veränderung von Kräfteverhältnissen auf exemplarische Weise im Sinne Bourdieus als ein soziales Feld verstehen.5 Im von mir eingebrachten Begriff der ›Re/produktionsmaschine‹ klingt diese kraftvolle Dynamik und die sich in der Re/produktion von Typen und Konformitätserwartungen offenbarende, automatisierte Fortschreibung der Strukturen des Repertoire- und Ensemblebetriebs an. Aufgrund ihres Transformationspotentials muss diese ›Maschine‹ aber – bei aller konnotativen Bedeutungsähnlichkeit der Begriffe – klar vom Terminus des (starren) ›Apparates‹ abgegrenzt werden. Bourdieu selbst nimmt hierzu folgende Unterscheidung vor: »In einem Feld gibt es Kämpfe, also Geschichte. Ich halte sehr wenig von dem Begriff Apparat, der für mich das Trojanische Pferd des Funktionalismus zum Schlechteren ist: Ein Apparat ist eine für bestimmte Zwecke programmierte Höllenmaschine. […] Bildungssystem, Staat, Kirche, politische Parteien oder Gewerkschaften sind keine Apparate, sondern Felder. In einem Feld kämpfen Akteure und Institutionen mit unterschiedlichen Machtgraden und damit Erfolgsaussichten nach den (und in bestimmten Konstellationen auch um die) für diesen Spiel-Raum konstitutiven Regularitäten und Regeln um die Aneignung der spezifischen Profite, die bei diesem Spiel im Spiel sind.« 6 5 | Vgl. Bourdieu 1998 [1994], 62. 6 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 133.

Schlussbemerkung: Stadttheater – Ensembletheater – Joker

Die historischen Transformationen und situativen Transgressionen untergraben zwar nicht die Grundstruktur des Feldes ›Stadttheater‹, sie erzeugen durch künstlerischen respektive personellen Austausch, durch Kooperation von und Kritik durch Akteur/innen aber ein produktives Kräftefeld. Die darin stattfindende Ausdifferenzierung von Darstellungsformen und -stilen negiert hierbei jenen reinen Funktionalismus des l’art pour l’art zugunsten einer zwar fortschreibenden, aber konstruktiven (Weiter-)Entwicklung. Diese Weiterentwicklung ist – den Merkmalen des nach außen nicht hermetisch abgeschlossenen Feldes entsprechend – zweifelsohne an äußere Bedingungen und Einflüsse geknüpft: an öffentliche Subventionen, die dem Stadttheater seine (relative) Autonomie verschaffen, an öffentliches Interesse, das seine Existenz (politisch) legitimiert, an gesellschaftliche Entwicklungen und sozial relevante Themen, die künstlerisch aufgegriffen und auf vielfältige Weise verhandelt werden (können). Im Kontext dieser Einflüsse äußert sich Wilfried Schulz, Generalintendant des Düsseldorfer Schauspielhauses, anlässlich der fragwürdigen Zukunft seines Hauses zu Funktion und Position des Stadttheaters heute: »Ich glaube, dass die heftig zerrissene und sich überfordert fühlende Gesellschaft in den nächsten Jahren nichts mehr braucht als gemeinsame Orte der Reflexion, des Diskurses, des Aushaltens und Erprobens von Differenz und der Infragestellung und Vergewisserung von Identität. […] Wie wollen wir leben? Diese Frage muss man stellen als Individuum, als Citoyen, als Handelnder und Verantwortlicher. Die gemeinsamen Orte der Kunst und Kultur bieten sich hierfür an, öffnen sich zunehmend und stellen sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. Es ist eine gute Herausforderung, dass auch das Theater formulieren muss, wozu es gebraucht wird. Der nicht dem Konsum und dem Renditeversprechen gewidmete öffentliche Raum, der Raum der direkten Begegnung wird immer kleiner; es gilt ihn zu verteidigen. Von den verantwortlichen Politikern, der Stadtgesellschaft, dem Publikum, den Künstlern und den Mitarbeitern. Gemeinsam.« 7

Die aufgrund von finanzieller Bedrängnis getroffene Aussage des Düsseldorfer Intendanten offenbart eine Verteidigungsstrategie im Kontext eines allgemeineren Legitimationsdrucks, unter dem Stadttheater gegenwärtig stehen. Die Argumente zielen hierbei auf die zu verteidigende Reproduktivität des Feldes. Seine Strategie formuliert aber auch die Offenheit gegenüber äußeren Anforderungen, benennt Fragen nach der eigenen Identität und kann darüber hinaus als Verweis auf das permanente Aushandeln der Kräfteverhältnisse im Feld verstanden werden. »Geschichte gibt es nur, solange Menschen auf begehren, Widerstand leisten, reagieren« 8, schreibt Bourdieu. Diesen Versuch unternehmen auf je eigene Weise und vielerlei Ebenen jene im Rahmen der Arbeit besprochenen Akteur/innen. Im Fall des Theaterduos Vontobel/Schulz zeigt sich der ›Widerstand‹ weniger in Form einer offen politischen Haltung, als vielmehr inkorporiert in den von ihnen vertretenen künstlerischen Positionen durch die Habitus der Akteur/innen: Obwohl die beiden kein politisches Theater im engeren Sinne machen, ist ihre Arbeit mit und an den Bedingungen, wie ich die illusio ihres künstlerischen Schaffens begreife, doch ›politisch‹ motiviert, und zwar im Sinne Hans-Thies Lehmanns, der 7 | Schulz 2016. 8 | Bourdieu/Wacquant 1996 [1992], 133.

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konstatiert: »Politisch ist das Theater, wenn es unsere Kategorien verunsichert«9 – was sich in Inszenierungen mit Jana Schulz in Bezug auf die Ordnungskategorie ›Geschlecht‹ regelmäßig vollzieht und im Akt einer Indifferentsetzung von Kategorien weit über deren bloße ›Verunsicherung‹ hinausgeht. Schließlich vermögen die Joker im Schauspiel mittels ihrer überkategorialen Darstellungs- und Wirkkraft neue Bedeutungshorizonte zu öffnen und alternative Möglichkeitsräume zu erschließen. Mit und an den sozialen, theatralen und ästhetischen Bedingungen im Feld des deutschen Stadt- und Ensembletheaters, teils gegen diese Bedingungen an, arbeiten seit vielen Jahren die beiden Protagonist/innen der hier vorgelegten Untersuchung, Jana Schulz und Roger Vontobel, sowie die anderen, im Rahmen der Arbeit benannten Joker – im vollen Bewusstsein ihrer Grenzen zwischen Reproduktion und Transgression der Norm. So endet diese Arbeit zwar nicht mit einem Plädoyer für das deutsche Stadttheatersystem, aber mit einem Plädoyer für seine Akteur/ innen – für Akteur/innen, die hingebungsvoll und dennoch bodenständig, sentimental und zugleich scharfsinnig, zwischen Hingabe an die Arbeit und Rückzug ins Leben, zwischen Glück, Schmerz und ›innerem Frieden‹ changieren.

9 | Lehmann zitiert nach Widmann 2014.

Dank

Im Rahmen der Vorbemerkung habe ich bereits den für den Forschungsprozess auf der Bühne des Theaters und der Wissenschaft unabdingbaren Personen gedankt, welche diesen inspiriert und konstruktiv mitgetragen haben. Ich möchte an dieser Stelle die Möglichkeit nutzen, denjenigen Menschen einen persönlichen Dank auszusprechen, welche meine Promotionsphase ›hinter der Bühne‹ in geradezu überlebenswichtiger Weise begleitet haben: Von Herzen danke ich meinem Ehemann Phillip Koban, ohne dessen Aufrichtigkeit im Mitdenken, Mitfühlen und Betreuen, ohne dessen Liebe unseren Kindern und mir gegenüber dies alles nicht möglich gewesen wäre. Ich danke im selben Zuge unseren beiden Töchtern Lilith und Zelda, die mir in ihrer Aufgeschlossenheit und Eigenheit Vorbilder sind, deren Bedürfnis nach Ruhe und gemeinsamer Zeit aber nicht weniger ernst zu nehmen ist. Meinen Eltern Hedwig und Norbert Waniek gilt ebenso ein besonderer Dank: Sie haben nicht nur mich in allen (Lebens-)Lagen emotional und mental unterstützt, sondern auch als Großeltern in den Phasen mehrtägiger dienstlicher ›Abwesenheit‹ zur Seite gestanden – so auch meine Schwiegermutter Christiane Koban-Neumann, der ich ebenfalls für ihre stete Hilfe und Fürsorge in den letzten Jahren herzlich danken möchte, sowie Peter Neumann, der mir nicht zuletzt als ›Coach‹ in einem schwierigen Moment weiterhelfen konnte. Meinem Bruder Alexander Waniek und meinen Schwägerinnen Katharina Waniek und Anna Koban sowie meiner Freundin Christin Heinrichs-Lauer danke ich für ihre Kraftpakete und klugen Worte, sie haben mir bei Bedarf mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Auch meinen Kolleginnen und Freundinnen am Institut für Theater-, Film- und empirische Kulturwissenschaft danke ich von ganzem Herzen dafür, dass ich sie immer alles fragen konnte, dass sie nachgefragt haben, dass sie lachend und manchmal auch weinend für mich und mit mir da waren: Dorothea Volz, Constanze Schuler, Nadine Civilotti, Nikola Schellmann, Annika Rink, Annika Wehrle, Julia Pfahl und Jeanette Müller. Zum Schluss möchte ich noch einmal den für den konkreten Forschungsprozess zentralen Akteur/innen danken: allen befragten und auf diese Weise beteiligten Theaterschaffenden, insbesondere Jana Schulz und Roger Vontobel als Protagonist/innen der Arbeit, überdies Friedemann Kreuder und Stefan Hirschauer, Hanna Voss und Noa Winter. Als ein intensives Kapitel meines Lebens möchte ich dieses Buch abschließend meinen Kindern Lilith und Zelda schenken – als Zeichen von (relativer) Autonomie, kreativer Freiheit und Zeit.

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Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein (Hg.)

Choreografischer Baukasten. Das Buch 2015, 280 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3186-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3186-3

Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)

Partizipation als Programm Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche Oktober 2017, 270 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3940-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3940-1

Sabine Karoß, Stephanie Schroedter (Hg.)

Klänge in Bewegung Spurensuchen in Choreografie und Performance. Jahrbuch TanzForschung 2017 Bd. 27 Oktober 2017, 234 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3991-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3991-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater- und Tanzwissenschaft Friedemann Kreuder, Ellen Koban, Hanna Voss (Hg.)

Re/produktionsmaschine Kunst Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten August 2017, 408 S., kart., Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3684-0 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3684-4

Katharina Rost

Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance April 2017, 412 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3250-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3250-1

Susanne Quinten, Stephanie Schroedter (Hg.)

Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis Choreographie, Improvisation, Exploration. Jahrbuch TanzForschung 2016, Bd. 26 2016, 248 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3602-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3602-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de