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German Pages 208 Year 2018
Susan Banihaschemi Kontroverse Reproduktion
Gender Studies
Susan Banihaschemi (Dr. phil.) hat an der Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie promoviert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gender Studies, Medizin- und Gesundheitssoziologie, Diskurstheorie und -analyse sowie Biopolitik.
Susan Banihaschemi
Kontroverse Reproduktion Zur Legitimierung der Samenspende im reproduktionsmedizinischen Diskurs
Zugleich: Dissertation, Universität Bielefeld, 2017
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Das Normale, sagte Tante Lydia, ist das, was ihr gewohnt seid. Was ihr jetzt erlebt, mag euch vorläufig noch nicht normal vorkommen, aber nach einiger Zeit wird sich das ändern. Es wird das Normale werden. Margaret Atwood 1987, Der Report der Magd.
Inhalt
Einleitung | 9 Regulierte Reproduktion | 17
Medizinisches Wissen über Reproduktion und die Ordnung der Geschlechter | 18 Auseinandersetzungen und Regulierungen zur Reproduktionsmedizin und zur Spendersamenbehandlung | 24 Theoretische Perspektiven auf Medizin, Gesellschaft und Normalisierung | 33
Medizinische Professionalisierung: Prozesse der Ab- und Ausgrenzung | 34 (Bio-)Medikalisierung: Prozesse der Ausweitung medizinischer Zuständigkeit | 48 Normalisierung und Biomacht: Prozesse der Herstellung von Normalität und Abweichung | 56 Legitimierung und Diskursanalyse. Methodologischer Zugang und methodisches Vorgehen | 73
Prozesse der Legitimierung und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit | 74 Wissenssoziologische Diskursanalyse und die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit | 76 Diskursive Legitimierung und ihre empirische Untersuchung | 80 Material: Richtlinien, Stellungnahmen, Empfehlungen und Artikel des reproduktionsmedizinischen Spezialdiskurses | 83 Etablierung der Reproduktionsmedizin und der Samenspende in Deutschland. Wissenschaftlicherund institutioneller diskursiver Kontext | 89
Wissenschaftlich-medizinische und technische Entwicklungen der Spendersamenbehandlung | 90 Professionalisierung der Reproduktionsmedizin und die Entstehung von legitimen Orten des Sprechens | 96
Legitimierungsweisen der Samenspende als reproduktionsmedizinische Behandlungsmethode. Eine diskursanalytische Betrachtung (1978–2010) | 105
Legitimierung durch Problematisierung | 106 Legitimierung durch Normalisierung | 119 Legitimierung durch Orientierung an Ergebnissen | 158 Legitimierte Reproduktion | 167
Zusammenfassung der Legitimierungsweisen | 168 A happy ending story? | 173 Ausblick und weitergehende Fragen | 178 Quellen | 181
Zeitschriften | 181 Richtlinien | 182 Empfehlungen, Leitfäden | 182 Literatur | 185
Einleitung „Grotesk wird es aber spätestens in anderen, inzwischen durchaus zahlreichen Fällen, in denen sich Frauen Spermien aus einem Katalog verschaffen […] oder in denen sich lesbische Paare ein Kind besorgen […]. Dabei ist eine Selbstermächtigung der Frauen im Spiel, die mir zutiefst suspekt ist. Im Grunde liegt solchen Machinationen die Vorstellung zugrunde, Männer seien verzichtbar, oder ihr Einfluss sei auf das Notwendigste zu reduzieren, eben auf ihren Samen. Als Väter kommen sie jedenfalls nicht in Frage“ (Lewitscharoff 2014).
Die Etablierung biomedizinischer Technologien der assistierten Reproduktion geht einher mit zahlreichen Kontroversen. Denn hierbei werden nicht nur technische Verfahrensweisen und medizinische Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten erweitert, sondern auch gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten der Annahmen einer „natürlichen“ und „sozialen“ Ordnung der Reproduktion in Frage gestellt. Auch das in Deutschland mittlerweile erfolgreich etablierte reproduktionsmedizinische Verfahren der Samenspende war und ist – wie das obige Zitat der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff aus den Dresdner Reden „Von Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod“, gehalten im Staatsschauspielhaus Dresden im Jahr 2014, eindrucksvoll zeigt – von höchst strittigen Auseinandersetzungen begleitet. Verschiedene Passagen dieser Rede lösten erhebliche mediale Diskussionen aus, anhand derer das bis in die heutigen Tage hinein existente kontroverse Potential der assistierten Reproduktion und ihrer mittlerweile zunehmend in Anspruch genommen Behandlungsmethoden
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anschaulich wird. Insbesondere bei den reproduktionsmedizinischen Behandlungsmethoden der Spende von Eizellen und/oder Samenzellen zeigen sich sowohl die medizinisch-technologische Machbarkeit als auch die soziale Gestaltbarkeit von als natürlich angenommen Beziehungen wie Elternschaft. Dabei stehen Technologien wie die Eizell- und Samenspende nicht in einem Gegensatz zu „natürlichen“ verwandtschaftlichen Beziehungen, vielmehr verdeutlichen „assistierte Formen der Verwandtschaftlichkeit“ nur in besonderer Weise den Herstellungscharakter dieser sozialen Form (Knecht/Beck/Hess 2007: 8). So haben Reproduktionstechnologien „die naturwüchsige Bindung der Keimzellen an den Körper freigesetzt. Eizellen, Sperma und Embryonen sind nunmehr vom Körper isolierbar, lagerbar, […] und zirkulationsfähig geworden. Sie können neue Beziehungen eingehen und multiplizierte Elternschaft hervorbringen“ (Schneider 2003: 41). Im „Systembaukasten Fortpflanzung“ (Berg 2002) können gegenwärtig also einzelne Bestandteile der Reproduktion wie Eizellen und Samenzellen aus den Körpern herausgelöst und beliebig verfügbar gemacht werden. Doch nicht alles, was technologisch und reproduktionsmedizinisch machbar wäre, ist gesellschaftlich auch vorstellbar und legitimierbar. Willemijn De Jong (2008) hat darauf hingewiesen, dass reproduktionsmedizinische Thematiken im Rahmen ihrer jeweiligen gesellschaftlichen, nationalen Kontexte zu analysieren seien, die sich schon innerhalb der Europäischen Union höchst unterschiedlich darstellen. In Deutschland ist die Spendersamenbehandlung ein mittlerweile etabliertes medizinisches Behandlungsangebot – ganz im Gegensatz zur strafrechtlich verbotenen Eizellspende. Solche regulative Unterschiede fußen auf der Basis der Legitimität der Therapieverfahren in der Gesellschaft und schlagen sich sowohl in der Gesetzgebung als auch in den standesrechtlichen Vorschriften der verfassten Ärzteschaft nieder. Der Medizin sind damit neue Aufgaben sowie Entscheidungsbefugnisse zugewachsen1. Dabei ist die Etablierung der reproduktionsmedizinischen Behandlung mit Spendersamen in Deutschland so1
Anne Gross und Peter Honer (1991) weisen darauf hin, dass den Mediziner_innen bei der Etablierung der Reproduktionsmedizin eine exponierte Rolle zukommt: zum einen im Kollektiv eines angesehenen Standes, dessen Expertise und Entscheidungen richtungsweisend für politische oder juristische Entscheidungen seien (etwa über Gutachter_innentätigkeit und Enquete-Kommissionen) und zum anderen als von Patient_innen anerkannte Expertise.
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wohl innerhalb der Medizin als auch – wie oben angedeutet – darüber hinaus von teils massiven Kontroversen begleitet, in denen auch die jeweiligen Vorstellungen von als natürlich gesetzten Beziehungen und von der Reproduktion der Geschlechter verhandelt werden. Dies ist der Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Die assistierte Reproduktion wird hier als kontrovers umkämpfter Bereich von gesellschaftlichen Vorstellungen und Wissen über soziale und natürliche Ordnungen untersucht. Damit richtet sich der Fokus auf ein zentrales Erkenntnisinteresse der Geschlechterforschung: der Frage nach Herstellung und Wiederherstellung von sozialen und natürlich gesetzten Ordnungen, insbesondere der Geschlechterverhältnisse. Allgemein richtet sich das forschungsleitende Interesse auf das, was im deutschen reproduktionsmedizinischen Spezialdiskurs der Spendersamenbehandlung verhandelt, problematisiert und legitimiert wird und auf welche Art und Weise dies geschieht. Denn reproduktionsmedizinische Behandlungen und somit auch die Spendersamenbehandlung bedürfen gerade vor dem Hintergrund ihres vergleichsweise kontroversen Potentials der Legitimation. Dabei sagt Legitimation, die immer auch „Wissen“ impliziert, „dem Einzelnen nicht nur, warum er seine Handlungen ausführen soll und die andere nicht ausführen darf. Sie sagt ihm auch, warum die Dinge sind, was sie sind“ (Berger/Luckmann 1980: 100, Herv. i. O.). In dieser Arbeit wird hieran anschließend mit einer geschlechtertheoretischen Perspektive eine diskursanalytische Betrachtung von Legitimierungsweisen der Spendersamenbehandlung anhand des in Deutschland geführten reproduktionsmedizinischen Diskurses von über drei Jahrzehnten durchgeführt. Dabei wird eine wissenssoziologische und sozialkonstruktivistische Sichtweise auf Prozesse der Legitimierung in Diskursen durch eine an Michel Foucault orientierte diskurstheoretische Perspektive ergänzt, aus der erweitert durch das Forschungsprogramm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA) eine „Analyse der diskursiven Konstruktion symbolischer Ordnungen“ vorgenommen wird (Keller 2008: 11, Herv. i. O.). Die WDA begreift dabei die der Analyse zugrunde liegenden empirisch erhobenen Materialien des reproduktionsmedizinischen Spezialdiskurses über die Samenspende nicht als Resultat subjektiver oder objektiver Fallstrukturen, sondern als „Manifestationen gesellschaftlicher Wissensordnungen und -politiken. Sie bilden die wichtigste Grundlage einer wissenssoziologischen Rekonstruktion der diskursiven Produktion, Stabilisierung und Veränderung kollektiver Wissensvorräte“ (ebd.: 275, Herv. i. O.).
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Das forschungsleitende Interesse wird im folgenden Kapitel 2 „Kontroverse Reproduktion“ spezifiziert, in welchem der Argumentationsgang der Arbeit ausführlich erörtert wird. Ausgehend von der Perspektive der „Koproduktion“ von Technik und Gesellschaft (Singer 2003) wird das diskursive Feld der Auseinandersetzungen, in dem die Etablierung der Spendersamenbehandlung innerhalb der Medizin stattfand vorgestellt. Im Kapitel 3 werden theoretische Zugänge eingeführt, die sich für den weiteren Verlauf dieser Untersuchung als grundlegend herausgestellt haben. Dies sind zum einen Bezüge auf Professionalisierungsprozesse in der Medizin als auch Diskussionen zu theoretischen Zugängen der Konzepte der Medikalisierung und Biomedikalisierung. Dieses Kapitel schließen Ausführungen ab, wie mit Hilfe von normalisierungstheoretischen Zugängen historische Prozesse der gesellschaftlichen Herstellung von Normalität und Abweichung beleuchtet werden können. Dazu werden Arbeiten Foucaults zu Biomacht und Normalisierungsgesellschaft herangezogen, um hieran anschließend Zusammenhänge zwischen Sexualität, Geschlecht und der Konstitution des Normalen und Nicht-Normalen zu diskutieren. Gegenstand von Kapitel 4 sind der methodologische Zugang der Untersuchung von Legitimierungsweisen innerhalb von Diskursen und die Konzeption des empirischen Vorgehens. Hier werden zudem der reproduktionsmedizinische Fachdiskurs als ein wissenschaftlicher Spezialdiskurs und die untersuchten Materialien vorgestellt und ihre Auswahl begründet. Die empirische Grundlage der Analyse des reproduktionsmedizinischen Diskurses der Spendersamenbehandlung speist sich aus Dokumenten des Zeitraums 1978–2010, speziell aus reproduktionsmedizinischen Fachzeitschriften und Materialien medizinischer Fach- und Arbeitsgemeinschaften wie etwa der Bundesärztekammer (BÄK). Von besonderem Interesse sind Richtlinien, Stellungnahmen und Empfehlungen zu Techniken der assistierten Reproduktion. Da Diskursanalyse immer auch Kontextanalyse ist, werden im Kapitel 5 die Bedingungen, in denen die Diskursbeiträge entstanden sind, nachgezeichnet und der Blick darauf gerichtet, in welchem wissenschaftlich-medizinischen und institutionell-organisatorischen Kontext die Etablierung der Reproduktionsmedizin und Spendersamenbehandlung in Deutschland stattfand. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf der Bedeutung von „Sprecherpositionen“ als „institutionelldiskursive strukturierte Orte für legitime Aussagenproduktion“ (Keller 2008: 235). Kapitel 6 schließlich setzt sich mit dem empirischen Material selbst ausführlich auseinander und legt die Analyse der Legitimierungsweisen der Samenspende als eine reproduktionsmedizinische Behandlungsmethode im
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diskursiven Verlauf dar. Mit Blick auf die Legitimierungsweise der Problematisierung (Kapitel 6.1) kann aufgezeigt werden, für welche Problemkonstellationen die Reproduktionsmedizin und speziell die Samenspende als legitime Lösung angeboten wird. Dabei werden Verschiebungen in den Problematisierungen im zeitlichen Verlauf des Diskurses sichtbar gemacht. Die Legitimierungsweise der Normalisierung (Kapitel 6.2) umfasst verschiedene Prozesse der Legitimierung mit Bezugnahme auf das „Normale“ und das „Natürliche“, die auf jeweils verschieden Ebenen operieren. Hier soll nachvollziehbar gemacht werden, wie sich das „Neue“ der reproduktionsmedizinischen Behandlung mit Spendersamen in bestehende soziale und oft scheinbar natürliche Ordnungen einzufügen vermag. Unter der Prämisse der Ergebnisorientierung steht die dritte Legitimierungsweise, die in Kapitel 6.3 vorgestellt wird. Die Darstellung von Ergebnissen bestätigt und legitimiert die Samenspende als erfolgversprechende reproduktionsmedizinische Behandlungsmethode. Im abschließenden Kapitel 7 werden die einzelnen analytisch herausgearbeiteten Legitimierungsweisen zusammenfassend diskutiert und in ihrer Verwobenheit aufgezeigt. Die im Anschluss daran formulierten, weiterführenden Überlegungen schließen diese Arbeit ab. Seit der Geburt des ersten Kindes, welches im Jahr 1978 in Großbritannien mit Hilfe der In-vitro-Fertilisation (IVF) als einer der maßgeblichen reproduktionsmedizinischen Behandlungsmethoden entstanden ist, ist die Etablierung der Reproduktionsmedizin von den Sozialwissenschaften und besonders auch von der Frauen- und Geschlechterforschung kritisch begleitet worden. Hierbei ist ein umfangreicher wissenschaftlicher Fundus entstanden, auf den diese Arbeit rekurrieren kann. Von feministischen Positionen aus sind die entstehenden Reproduktionstechnologien etwa als Unterdrückung und Entmündigung von Frauen (Corea 1985) aber auch als Möglichkeit der Befreiung von Frauen von der Fortpflanzung diskutiert worden (Firestone 1975).2 Innerhalb der Frauenbewegung hat sich insbesondere die Frauengesundheitsbewegung mit der Formulierung reproduktiver Rechte von Frauen auseinandergesetzt. Auch aus kritischen Perspektiven in den Gesundheitswissenschaften sind Zusammen2
Zu dem breiten Spektrum feministischer Diskussionen, die die Reproduktionsmedizin und die Thematik der Kinderlosigkeit begleiten, siehe Charis Thompson (2002). Über die Vielfältigen feministischen Positionen zu den Technologien der Reproduktion gibt Heidi Hoffmann (1999) einen umfassenden Überblick für die Debatten in der BRD und den USA.
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hänge reproduktiver Gesundheit und medizinischer Technologien diskutiert worden sowie die Gesundheitsversorgung in ihrer Komplexität und der darin eingelagerten Geschlechterdimensionen zu erfassen versucht worden (Abels/Kuhlmann/Lepperhoff 2009). In der Forschung ist der Offenlegung historischer Zusammenhänge von Medizin, Techniken der Reproduktion, Körper und Geschlecht Raum gegeben worden (u. a. Duden 1991, 2002). Für die hier zu untersuchende Fragestellung haben sich die historischen Studien zur Wissenschaftsgeschichte von Caroline Arni (2008a, 2008b), Christina Benninghaus (2005, 2012) und Florence Vienne (2005, 2006, 2009) zu sich verändernden Sichtweisen auf Reproduktion, Zeugung und Vaterschaft für den Kontext des reproduktionsmedizinischen Diskurses in Deutschland als bedeutsam erwiesen. Eine Darlegung der Technikgeschichte der Reproduktionsmedizin für den deutschen Kontext bietet Barbara Orland (u. a. Orland 2003).3 Mit der Geschichte der Reproduktionswissenschaft und ihren diversen Kontroversen im US-amerikanischen Raum setzt sich Adele Clarke (1998) umfassend auseinander. Die sozialen Auswirkungen und Implikationen von Reproduktionstechnologien, ihrer Anwendungen und der sich mit ihnen eröffnenden Möglichkeiten bezogen auf den Wandel der Familie wurden bereits früh aus sozialwissenschaftlicher Perspektiv auch im deutschsprachigen Raum diskutiert (u. a. Beck-Gernsheim 1991; Gross/Honer 1990; Hoffmann-Riem 1988, 1989; Nave-Herz/Onnen-Isemann/Oßwald 1996). Besonders im angloamerikanischen Raum fanden zahlreiche sozialanthropologische Untersuchungen statt, die sich ebenfalls für Wirkungen interessierten, die aus dem Feld der Reproduktionstechnologien auf Konzepte und Konzeptualisierungen von Verwandtschaft gerichtet sind (u. a. Edwards et al. 1993; Franklin 1997; Franklin/McKinnon 2002; Ginsburg/Rapp 1999a; Strathern 1992a, 1992b). In der für die vorliegenden Arbeit häufig hinzugezogenen qualitativen und ethnographischen Studie „Making Parents“ beschäftigt sich Charis Thompson (2005) eingehend und differenziert mit verschiedenen Koordinationsleistungen in reproduktionsmedizinischen Kliniken in den USA und untersucht dort u. a. Techniken der Normalisierung. Mit dem von ihr ausgearbeiteten, weitreichenden Konzept der Normalisierung setzen sich auch die Autor_innen des von Willemijn de Jong und Olga Tkach (2009) herausgegebenen Sammelbandes zu verglei3
Speziell zur Geschichte der IVF siehe Elke Barbian und Giselind Berg (1997) sowie Christine Schreiber (2007).
Einleitung | 15
chenden Forschungen zu Reproduktionstechnologien in Russland, der Schweiz und Deutschland auseinander. Aktuelle qualitative, ethnographische Forschungen zu Reproduktionstechnologien sind im deutschsprachigen Raum u. a. von Stefan Beck et al. (2007), Brigitta Hauser-Schäublin et al. (2008) und Charlotte Ullrich (2012) erschienen. Weitere Einsichten liefert ein aus einem Studierendenprojekt hervorgegangener Sammelband von Michi Knecht et al. (2010) mit ethnographischen Studien speziell zu Samenbanken und Samenspendern in Deutschland sowie eine ethnographische Untersuchung zur Praxis der Eizellspende und zu biomedizinischer Mobilität von Sven Bergmann (2015). Diskursanalysen zur Reproduktionsmedizin in Deutschland, die an Michel Foucault anschließen und öffentliche mediale Diskurse in Deutschland zu den Reproduktionstechnologien vorwiegend in Printmedien untersuchen, sind speziell zur Präimplantationsdiagnostik von Julia Diekämper (2011) und Malaika Rödel (2014) und zu biomedizinischen Fiktionen und Visionen von Expert_innen der Reproduktions- und Gentechnologien im deutschen printmedialen Diskurs von Bettina Bock von Wülfingen (2007) vorgenommen worden. Anne Honer und Peter Groß haben Anfang der 1990er Jahre begonnen, die Praxis der Reproduktionsmedizin aus soziologischer Perspektive im deutschsprachigen Raum zu analysieren (u. a. Gross/Honer 1991; Honer 1994a, 1994b). Von ihnen wird die Relevanz der empirischen Untersuchung des Wissens von „Fortpflanzungsexperten“ und der Rekonstruktion ihrer professionellen Wissensbestände betont, da diesen als „behandelnden Dritten“ eine exponierte Rolle zukomme (Honer 1994b: 181). Die Vorstellungen und die professionellen Wissensbestände der in der Reproduktionsmedizin Tätigen sind seitdem aus soziologischer Sicht empirisch nur wenig weiter begleitend erforscht worden. Diese Arbeit wird den diskursiven Legitimierungen, ihren Wandlungen und den dort vermittelten – oft impliziten – Vorstellungen und Wissensbeständen im reproduktionsmedizinischen Diskurs zur Spendersamenbehandlung in Deutschland nachgehen. Mit dem Fokus auf die Samenspende als Behandlungsmethode männlicher Sterilität werden auch diskursive Konstruktionen von Wissen über Geschlecht und Reproduktion und insbesondere von Männlichkeit und Vaterschaft in den Blick genommen. Somit wird auch ein Beitrag zur Erforschung der Konstruktion von Männlichkeiten und männlichen Körpern als Ort der Reproduktion geleistet, welcher in der sozialwissenschaftlichen und soziologischen Forschung zu Reproduktionstechnologien bisher kaum sichtbar geworden ist (vgl. Oudshoorn 2002: 109).
Regulierte Reproduktion „[...] that social reproduction entails much more than literal procreation, as children are born into complex social arrangements through
which
legacies
of
property,
positions, rights, and values are negotiated over time. In this sense, reproduction, in its biological and social senses, is inextricably bound up with the reproduction of culture“ (Ginsburg/Rapp 1995b: 2).
Reproduktion – auch die medizinisch-technologisch assistierte Reproduktion – findet in komplexen sozialen gesellschaftlichen Arrangements statt. Diese Arbeit blickt aus einer Perspektive der „Koproduktion“ von Technik und Gesellschaft auf ihren Forschungsgegenstand, mit der das Verhältnis von technischem und gesellschaftlichem Wandel prinzipiell als unbestimmt zu begreifen ist (Singer 2003: 120).4 Sie folgt damit Mona Singer (2003), die herausstellt, dass Gesellschaft und Technik genauso wie Kultur und Natur nicht auf ein einfaches Ursache-Wirkungsverhältnis zurückzuführen, sondern als „Koproduktion“, d h. als gegenseitig inspirierend, zu begreifen sind. Dabei ist das, was wir zu wissen glauben – also auch das wissen4
In den 1980er Jahren formierte sich die Techniksoziologie mit ihrem Fokus auf die wechselseitige Bedingtheit von Technikentwicklung und sozialen Prozessen in Abgrenzung zu technikdeterministischen Sichtweisen in Wissenschaft und Politik (vgl. Lösch 2012: 254). Zunehmend rückt eine wissenssoziologische Perspektive und die Bedeutung von Diskursen, Semantiken, Wissensordnungen und Kommunikationsprozessen stärker in den Fokus techniksoziologischer Forschungen (ebd.: 263). Zur interdisziplinären feministischen Wissenschafts- und Technikforschung siehe zusammenfassend u. a. Angelika Saupe (2002); Judy Wajcman (1994); Jutta Weber (2006).
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schaftliche Wissen über Reproduktion – immer in spezifische Kontexte eingebunden, die dem Wissen selbst weder vorgängig sind noch äußerlich bleiben. „Wissenschaftliches Wissen ist kontextabhängig. Es wird in bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten, in Auseinandersetzungen mit alten und neuen Theorien und Praktiken, mit neuen Mitteln und Einsichten und in der Hoffnung auf neue Erkenntnisse produziert. […] In Theorie und Praxis sind wir immer mit Voraussetzungen und Vorgaben konfrontiert“ (Singer 2005: 9).
Da Wissen also stets „situiert“ ist (Haraway 1988, 1995), sind die diversen Kontexte von wesentlichem Interesse, in die auch das fachliche reproduktionsmedizinische Wissen zur Spendersamenbehandlung eingebettet ist. Im Folgenden werden diese ausführlich erörtert, um die Begebenheiten herauszustellen, in welchen das reproduktionsmedizinische Wissen entstanden ist. Zunächst wird medizinisches Wissen über Reproduktion und über die Ordnung der Geschlechter aus einer geschlechtertheoretischen und historischen Perspektive in den Blick genommen. Weiter werden die kontroversen Auseinandersetzungen und Regulierungen der Reproduktionsmedizin und speziell der Spendersamenbehandlung in Deutschland dargestellt, um das diskursive Feld, in dem sich die Etablierung der Spendersamenbehandlung vollzogen hat, zu verdeutlichen und daran anschließend die Fragestellung dieser Arbeit zu spezifizieren.
MEDIZINISCHES WISSEN ÜBER REPRODUKTION UND DIE ORDNUNG DER GESCHLECHTER Medizinisches Wissen über Reproduktion, über die Entstehung von Leben, über Zeugung und über Fortpflanzung zu gewinnen, ist ein historisch ausgiebig verfolgtes und recht umfassend dokumentiertes Interesse der Wissenschaften.5 „Reproduktion“ und „reproduzieren“ wurden als Begriffe, so hat Ludmillla Jordanova (1995) nachgewiesen, bereits ab Mitte des 18. Jahrhunderts im Rahmen von Studien der sogenannten Naturforschungen verwendet. Die Entstehung von Wissen über Reproduktion ist dabei stets 5
Für eine ausführliche Darstellung der Vorstellungen von Zeugung und Geschlecht in der Antike bis zur Moderne siehe die Ausführungen von Bettina Bock von Wülfingen (2009).
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verwoben mit gesellschaftlicher Ordnung gewesen. Die diesbezüglich in einer bestimmten Epoche vorherrschenden Vorstellungen standen und stehen in einem komplexen Zusammenhang mit der jeweils vorherrschenden Gesellschafts- und Geschlechterordnung. Historische Forschungen haben gezeigt, dass sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein grundlegender Wandel in der Auffassung von und dem Wissen über Reproduktion und Zeugung vollzog (Arni 2008a, 2008b; Tuana 1995; Vienne 2009). Caroline Arni (2008a) weist darauf hin, dass mit der Herausbildung der historisch-epistemologischen Voraussetzungen der Reproduktionsmedizin nicht nur wissenschaftliche Theorien, medizinische Instrumente und Prozeduren hinzukamen, sondern auch neues Wissen über das „prokreative Geschehen[s], hinsichtlich der Frage, welchen Elementen Begründungsstatus für verwandtschaftliche Zugehörigkeiten und Genealogie zukommen sollte“ (ebd.: 200). Akzeptanz und Verbreitung neuer biologisierter Konzepte von Reproduktion als „Prokreation“, die vom menschlichen Sexualakt abstrahieren und Prokreation als Vorgang der Verschmelzung von Substanzen, von Keimzellen setzen, wurden Voraussetzung der neuen Methoden der Reproduktionsmedizin (ebd.: 201f.). Florence Vienne (2009) führt aus, dass die Transformation der Betrachtung von „Samentieren“ zu „Samenzellen“ und Träger von Vererbungsmaterie durch ein Verständnis von Reproduktion und Vererbung geprägt war, welches sich im 19. Jahrhundert parallel zu der sich etablierenden Biologie herausbildete. „[...] die Samentiere, die die Naturforscher des ausgehenden 18. Jahrhunderts noch als Parasiten des Samens betrachteten, wurden zu Keimzellen und Trägern der männlichen Vererbungsmaterie“ (Vienne 2009: 215).
Solche Prozesse des Wandels in wissenschaftlichen Beobachtungen, Analysen und Annahmen offenbaren, wie stark diese von gesellschaftlichen Wertvorstellungen unterfüttert sind. So hat die Vorstellung der weiblichen Unterlegenheit wissenschaftliche Beobachtungen und Analysen immens
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beeinflusst (Tuana 1995).6 Dabei ist speziell die Geschichte der Entwicklungs- und Zeugungstheorien „ein aufschlussreiches Beispiel für die Auswirkungen, die diese vorausgesetzte Minderwertigkeit der Frau auf die Entwicklung wissenschaftlicher Theorien hat“ (ebd.: 203). Ebenso lässt ein Blick auf die Geschichte wissenschaftlicher Zeugungstheorien deutlich werden, wie Vorstellungen genereller männlicher Vorherrschaft und solche von der Überlegenheit männlicher Zeugungskraft sich aufeinander beziehen. Emily Martin (1991) zeigt in ihrer Analyse von wissenschaftlichen Darstellungen des Zeugungsvorgangs auf, dass naturwissenschaftliches Wissen und Deutungen des Zeugungsvorgangs von geschlechterstereotypen populären Zuschreibungen dessen, was als männlich und dem, was als weiblich gilt, durchzogen sind. 7 Zuschreibungen von Geschlechterrollen sind in die Deutungen der beteiligten Zellen eingeschrieben. So wurden beispielsweise Samenzellen mit Aktivität und Eizellen mit Passivität hinsichtlich des Befruchtungsvorgangs beschrieben.8 „In the course of my research I realize that the picture of egg and sperm drawn in popular as well as in scientific accounts of reproductive biology relies on stereotypes central to our cultural definitions of male and female“ (ebd.: 485).
Als weiblich gedeutete biologische reproduktive Prozesse erscheinen in ihren Beschreibungen gemeinhin als weniger wertvoll als männlich gedeutete biologische reproduktive Prozesse: „In the case of woman, the monthly cycle is described as being designed to produce eggs and prepare a suitable place for them to be fertilized and grown – all to the end of making babies“ 6
Nelly Oudshoorn (1994) weist in ihrer Studie „Behind the natural Body“ darauf hin, dass die Theorie der Sexualhormone, welche sich zunächst auf beide Geschlechter bezog, sich schließlich auf den weiblichen Körper fokussierte. Sie stellt dabei die Bedeutung vorhandener Strukturen und Netzwerke im 20. Jahrhundert, wie etwa gynäkologische Kliniken, die der Wissenschaft Zugang zum weiblichen Körper geboten haben, heraus. Entsprechende Strukturen und Netzwerke, die sich dem männlichen Körper widmeten und Zugang zu diesem geboten hätten, waren nicht existent.
7
Evelyn Fox-Keller (1995) hat die Metaphorik des biologischen Denkens anhand der Molekularbiologie des 20. Jahrhunderts in einer wissenschaftstheoretischen Perspektive analysiert.
8
Eine ähnliche Untersuchung deutschsprachiger Publikationen leistet Heike Wiesner (1996).
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(ebd.: 486). So erscheint etwa die Menstruation als fehlerhafte Produktion, als Verschwendung von Ressourcen der Eizellen und als degenerativ, während die Produktion von Sperma dagegen mit Beschreibungen von „produktiv“ oder „wertvoll“ gekennzeichnet und differenzierter beschrieben wird.9 Im Verlauf des 18. Jahrhundert lassen sich speziell in Biologie und Medizin die Anfänge des „zweigeschlechtlichen Wissenssystems“ (Wetterer 2008) aufspüren.10 Thomas Laqueur (1992) zeigt in seiner Studie über die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud auf, wie in der Medizin im 18. Jahrhundert das aus der Antike stammende „Ein-Geschlechtermodell“ durch ein „Zwei-Geschlechter-Modell“ abgelöst wird, welches Frauen und Männer als grundlegend verschieden darstellt. 11 In der Medizin herrscht bis Mitte des 18. Jahrhunderts ein Ein-Geschlechter-Modell vor, bei welchem der Körper der Frau in einer hierarchisierten Sichtweise als eine mindere, untergeordnete und introvertierte Version des Körpers des Mannes angesehen wird. Weibliche und männliche Geschlechtsorgane wurden als analog zueinander angesehen. So wurde angenommen, die weibliche Vagina sei ein nach innen gestülpter männlicher Penis. Während des 18. Jahrhunderts setzt sich die Auffassung der grundsätzlichen Verschiedenheit der Geschlechter als naturwissenschaftliche Ordnung des Zwei-Geschlechtermodells durch. In der Medizin werden Organen und Genitalien wissenschaftliche Namen gegeben und diese damit als eindeutig unterscheidbar gesetzt.
9
Auch Lisa J. Moore (2007) legt in einer Studie über die Darstellung von Samen in der wissenschaftlichen und Populärliteratur bis hin zu Kinderbüchern anschaulich dar, wie Samen und Sperma im Zusammenhang mit Männlichkeit repräsentiert werden.
10 Karin Hausen (1976) zeigt auf, dass bereits vor dem ausgehenden 18. Jahrhun dert dualistische Denkmodelle im Sinne einer „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“ kursierten und Männer und Frauen als entgegengesetzt dargestellt worden sind. Ihnen wurden unterschiedliche, komplementär zueinander stehende Charaktere zugeschrieben. 11 Ulrike Klöppel (2010b) stellt in ihrer historischen Studie über Intersexualität dar, dass die Medizin im 17. und 18. Jahrhundert sowohl an ein Kontinuum der Geschlechter als auch das Zwei Geschlechter Modell anknüpfte.
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„Organs that had shared a name – ovaries and testicles – were now linguistically distinguished. Organs that had not been distinguishes by a name of their own – the
”
vagina, for example – were give one (Laqueur 1992: 149).
Londa Schiebinger (1993) arbeitet heraus, wie im Laufe des 18. Jahrhunderts die gesamte belebte Natur der Tiere und auch der Pflanzen als zweigeschlechtlich klassifiziert wird. Auch das Werk von Claudia Honegger (1991) über die Entwicklung einer weiblichen Sonderanthropologie zeigt auf, wie seit dem 18. Jahrhundert eine soziale Neuordnung der Geschlechter etabliert wurde. Sie schildert zudem, wie Frauen Gegenstand einer Spezialwissenschaft, der Gynäkologie wurden. Die Gynäkologie als „Wissenschaft vom Weibe“ habe die „Besonderung der Frau zum Studienobjekt“ unternommen (ebd.: 6). „Die Ordnung der Geschlechter in der Moderne hat von Anbeginn den Anspruch erhoben, das getreue Abbild der natürlichen Ordnung der Dinge zu sein – und nichts weiter. Diese positive Legende der bloßen Naturauslegung hat wesentlich an jenem Gestrüpp aus Theorien, Fiktionen und Projektionen mitgewirkt, in dem wir noch immer gefangen und befangen sind“ (ebd.: IX).
Ausgehend von den Arbeiten von Laqueur (1992) und Honegger (1991) kennzeichnet Andrea Bührmann (1998) das in den Humanwissenschaften hervorgebrachte hierarchische System der biologischen Zweigeschlechtlichkeit als „modernes Geschlechterdispositiv“. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts seien die Geschlechter unterschiedlichen Subjektivierungsweisen unterzogen worden. Der Mann avanciere dabei zum geschlechtslosen Repräsentanten des Allgemein-Menschlichen. Die Frau werde als Gattungswesen vergesellschaftet und ihre „naturgemäße Aufgabe besteht darin, Hausfrau, Mutter und Gattin zu sein“ (ebd.: 149). Die komplexen Vorgänge der Reproduktion der Geschlechter zu erforschen, stellte lange eine herausfordernde Aufgabe dar, welche der Beiträge aus verschiedensten Disziplinen und Forschungszweigen bedurfte (Orland 2003). Die Zunahme der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Vorgängen der Reproduktion bildet sowohl die Grundlage von Technologien zur Verhütung wie der sogenannten „Antibabypille“ als auch von Technologien der Förderung und Optimierung wie etwa der In-vitro-Fertilisation (IVF). Orland (2003) bezeichnet Empfängnisverhütung und Empfängnisförderung als „zwei Seiten einer Medaille“ (ebd.: 26). Allerdings war die Forschung
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anfangs nicht darauf ausgelegt, Fragen zur Behandlung von Sterilität nachzugehen. „Daß die Fortpflanzungstechniken heute anerkannte Sterilitätstherapien sind, ist insofern Ergebnis, keineswegs aber Voraussetzung oder gar einziges Movens der erfolgreich etablierten Technisierung der menschlichen Zeugung gewesen. In der Suche nach bestehenden und kulturell sanktionierten Anwendungskontexten, in der zielgerecht auf diese hin orientierten Institutionalisierung und Reglementierung der Techniken liegt vielmehr die wahre Leistungsfähigkeit der Reproduktionsmedizin, Selbstverständlichkeit zu produzieren“ (ebd.: 8).
Mit der facettenreichen Geschichte der Herausbildung der „Reproductive Science“ in den USA beschäftigt sich auch Adele Clarke (1998) ausführlich in ihrem Werk „Disciplining Reproduction“. Sie stellt die unterschiedlichen Kontexte dar, die bei der Herausbildung dieser Disziplin involviert waren. Diese entstand Anfang des 20. Jahrhunderts aus den Wissenschaften Biologie, Medizin und Agrarwissenschaften und aus sozialen Bewegungen wie der Geburtenkontrollbewegung „Birth Control, Eugenics, and Demography/Population Control Movement“ (ebd.: 54). Eine zentrale These von Clarke (1998) ist, dass Forschungen zur Reproduktion und Sexualität immer auch durch eine gewisse Illegitimität gekennzeichnet und von Kontroversen begleitet worden sind. Es handelt sich um ein besonders umkämpftes Feld, mit dessen kontroversem Charakter sich alle Beteiligten auseinandersetzen mussten. „The illegitimacy of this work has made the arena of reproduction controversial for all […]. All must confront and cope with its controversial status in some ways“ (ebd.: 233).
Clarke (1998) betont die fundamentale Relevanz von Illegitimität der „Reproductive Science“ für das Verständnis der Formierung und Entwicklung dieser Wissenschaft. Sie zeigt auf, wie Forschungen zur Reproduktion ständig gegen gesellschaftliche Widerstände stattfanden.12
12 Wie kontrovers umkämpft dieses Gebiet war, belegt Adele Clarke (1998) in ihrer Arbeit anhand zahlreicher Quellen, insbesondere im Abschnitt 8 „Illegitimate Science: Reproducing Controversy“.
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Aus Illegitimität und kontroversem Potential der Forschung zur Reproduktion lässt sich ableiten, dass die Entwicklungen in diesem Feld und an dessen Schnittstellen zu Nachbarwissenschaften und Gesellschaft stets mit Legitimierungsprozessen verflochten gewesen sein müssen. Die durchaus erfolgreich verlaufende Etablierung und Institutionalisierung der Reproduktionsmedizin ebenso wie ihrer Behandlungsmethoden muss also in diesem Spannungsfeld gesehen werden.
AUSEINANDERSETZUNGEN UND REGULIERUNGEN ZUR REPRODUKTIONSMEDIZIN UND ZUR SPENDERSAMENBEHANDLUNG „Die heterologe Insemination wurde immer wieder von verschiedenen Seiten scharf angegriffen“ (FDF 1980, Band 8: 264).
Seit den 1970er Jahren sind in Deutschland ca. 100.000 Kinder nach einer reproduktionsmedizinischen Behandlung mit Spendersamen geboren worden. Jährlich werden aktuell ca. 1000 Kinder geboren (Katzorke 2008). 13 Die Verwendung von Spendersamen als medizinische Behandlungsmethode, auch als „heterologe Insemination“ (HI), „artifizielle Insemination“ (AI) oder „donogene Insemination“ (DI) benannt, hat schon weit vor der Etablierung der modernen Reproduktionsmedizin zu Diskussionen geführt, gerade auch innerhalb der medizinischen Profession in Deutschland. Der 62. Deutsche Ärztetag hat sich im Jahr 1959 in Lübeck mit der Frage der „artifiziellen Insemination“ beschäftigt und diese für „standesunwürdig aus sittlichen Gründen“ erklärt. Auch widerspräche sie „der Ordnung der Ehe“ (Fromm 1960: 31). In einem 1960 erschienenen Aufsatz setzt sich der damalige Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. med. Ernst Fromm, mit dem berufsethischen Standpunkt der deutschen Ärzteschaft zur artifiziellen Insemination auseinander und hebt hervor, dass allein durch die Beschäftigung des Deutschen Ärztetages als höchster beschlussfassender 13 Seit der Entwicklung neuer, ergänzender Methoden in der Reproduktionsmedizin, wie Anfang der 1990er Jahre die intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) als ein Verfahren bei männlicher Sterilität bzw. ungenügender Spermienqualität, ist die Anzahl der Spendersamenbehandlungen zurück gegangen.
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Instanz mit diesem Thema erkennbar werde, „welche eminente Bedeutung die deutschen Ärzte dieser Frage der artifiziellen Insemination beimessen“ (ebd.: 27). Es gehe nicht nur um die Durchführung einer Behandlungsmethode, sondern um „berufsethische“ Auseinandersetzungen. Zahlreiche kontroverse Debatten hatten diesbezüglich innerhalb der Medizin bereits im Vorfeld stattgefunden. „Hatte schon der Nestor der deutschen Gynäkologie, Geheimrat Prof. Walter Stöckel, in seinem Lehrbuch der Gynäkologie, die Vornahme der donogenen Insemination als eine ,Perversität des Denkens, des Fühlens und des Handelns‘ bezeichnet und die Ärzteschaft eindringlich gewarnt, sich damit ihre Hände zu beschmutzen, so fand er in dem späteren Direktor der Universitätsfrauenklinik Tübingen, Prof. August Mayer, einen Nachfolger“ (Katzorke 2008: 95).
Von Prof. Dr. August Mayer14 finden sich im Zeitraum der 1950er und 1960er Jahre verschiedene medizinische Fachpublikationen gegen die Durchführung der Samenspende. Er fasst unterschiedliche Argumentationskomplexe als Gründe gegen die Samenspende zusammen und führt den „Schutz des Kindes“, den „Schutz von Vatertum und Familie“, den „Schutz der öffentlichen Begriffe über Recht, Sitte und Moral“ sowie die „Verhütung von Unrecht am Ehemann“ und auch den „Schutz der Ärzte gegen sittenwidrige Zumutungen“ gegen diese Methode ins Feld (Mayer 1959: 345). Schon allein die Vorstellung der Gewinnung des Spermas durch Masturbation löste große Vorbehalte aus. So sei der Samenspender vor „Missbrauch“ und „Entpersönlichung“ zu schützen, denn die Masturbation bedeute eine Belastung des Gewissens (vgl. ebd.: 343). Im Laufe der Zeit und zahlreiche Auseinandersetzungen später verlor die heterologe Insemination auf dem 73. Ärztetag 1970 in Stuttgart zwar das Kennzeichen der Standesunwürdigkeit, von einer Empfehlung dieser Methode distanzierten sich die Beteiligten jedoch wegen zahlreicher Probleme explizit. 1986 schließlich erklärte der 56. Deutsche Juristentag die heterologe Inseminationsbehandlung für weder sitten- noch rechtswidrig. 15 Diese Ausführungen sollen das diskursive Feld beschreiben, in dem die Etablierung der Spendersamenbehandlung innerhalb der Kontoversen in der Medizin erfolgte. Auseinandersetzungen zur Reproduktionsmedizin und 14 Zum Werdegang des Mediziners Prof. Dr. August Mayer in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit siehe Thorsten Doneith (2008).
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ihren Anwendungsmethoden fanden zu jeder Zeit allerdings nicht nur innerhalb der Medizin sondern auch in Politik und Gesellschaft sowie der medialen Öffentlichkeit statt und an vielen Orten wurde über die einschlägigen rechtlichen Regulierungen in Deutschland verhandelt. „Öffentliche Diskurse und individuelle Stellungnahmen zeigen, dass die Entscheidungen der AkteurInnen im Feld der Fortpflanzungsmedizin – seien es ÄrztInnen, EthikerInnen von Chemiefirmen oder PatientInnen […] auf der Folie nationaler und transnationaler Debatten ausgehandelt werden“ (de Jong 2008: 140f.).
Nach der ersten erfolgreich durchgeführten IVF und der Geburt von Louise Brown16 im Jahr 1978 in Großbritannien kam es Anfang der 1980er Jahre auch in Deutschland zu den ersten erfolgreich verlaufenden IVF-Behandlungen und in der Folge zu beachtlichen medialen Diskussionen. Die reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten und damit auch die Behandlung mit Spendersamen gerieten in den Fokus breiter und äußerst kontroverser gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Von der IVF lassen sich zahlreiche Verfahren wie Präimplantationsdiagnostik (PID), Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) oder auch das Klonen ableiten. Sie wird als „Schlüsseltechnologie“ der Reproduktionsmedizin beschrieben, dies gelte, so Christine Schreiber (2007), sowohl in medizinisch-technischer Hinsicht als auch für die gesellschaftliche Akzeptanz und die Institutionalisierung der Reproduktionsmedizin als medizinisches Fachgebiet (vgl. ebd.: 10). Durch die Anwendung und sukzessive Etablierung der Reproduktionsmedizin wurden auch in Deutschland immer wieder neue Regelungen erforderlich. Im Verlauf der 1980er Jahre begann die Politik der Frage nachzugehen, „wer unter welchen Bedingungen Zugang zu welchen neuen Verfahren, wie künstlicher Befruchtung (IVF), heterologer Insemination, Leihmutterschaft, etc. erhalten soll und wer hierüber entscheidet“ (Abels/ 15 Im untersuchten reproduktionsmedizinischen Diskurs wird noch im Jahr 1994 von Vorbereitungen von Musterentwürfen eines Gesetzes zur Regelung der künstlichen Befruchtung berichtet, die von leitenden Medizinalbeamten der deutschen Bundesländer verfasst wurden und u. a. ein Verbot der heterologen Insemination beinhalten. Von Seiten medizinischer Fachgesellschaften wurden Einsprüche gegen diese Vorbereitung erhoben (F 1994, Band 10: 114ff.). 16 Robert Edwards entwickelte mit dem britischen Gynäkologen Patrick Streptoe die zur Geburt von Louise Brown führende IVF, wofür er 2010 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielt.
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Braun/Kulawik 2003: 126). Immer wieder haben diesbezüglich Hearings, Expert_innengespräche sowie Beratungen von Ethikkommissionen stattgefunden, verschiedentlich wurden Gutachten erstellt, und es ist mehrmals zur Vorbereitung von Gesetzen gekommen, die die Reproduktionsmedizin und die Anwendung reproduktionsmedizinischer Methoden umfassend regeln sollten. Das in der BRD im Jahr 1991 in Kraft getretene Embryonenschutzgesetz (ESchG)17 setzt u. a. Restriktionen für die IVF. Die gesetzlichen Regelungen fallen allerdings allein in der Europäischen Union schon sehr unterschiedlich aus und die weltweit verfügbaren Technologien zur assistierten Reproduktion werden national jeweils sehr unterschiedlich reguliert. 18 Deutschland zählt zu den Ländern, in denen die Anwendung rechtlich am restriktivsten gehandhabt wird (Revermann 2010). So sind hier beispielsweise Leihmutterschaft und Eizellspende – im Gegensatz zur Samenspende – strafrechtlich untersagt. Im europäischen Kontext gehört jedoch die Eizellspende bereits zur Routine und auch in Deutschland ist die Spendersamenbehandlung mittlerweile ein reproduktionsmedizinisches Anwendungsangebot und entsprechend haben sich auch Samenbanken im Markt fest verankert. Die entstehenden Kosten einer Spendersamenbehandlung werden weder von gesetzlichen noch von privaten Krankenkassen übernommen. Der Zugang zu dieser reproduktionsmedizinischen Methode ist für Singles, lesbische Paare und zum geringeren Teil auch für unverheiratete heterosexuelle Paare noch kaum oder zumindest nur sehr erschwert möglich. Es konnte sich ein transnationaler „Fortpflanzungstourismus“ ausbreiten, „der es wirtschaftlich begüterten Patientinnen und Paaren gestattet, gesetzliche Restriktionen, die in der Bundesrepublik Deutschland vorhanden sind, zu umgehen“ (Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz 2005: 64).19 17 Das 1991 in Kraft getretene Embryonenschutzgesetz als Gesetz zum Schutz von Embryonen (EschG) ist verfügbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/bun desrecht/eschg/gesamt.pdf [27.04.2018]. 18 Einen Überblick über die rechtlichen Regelungen auf dem Gebiet der Fortpflanzungsmedizin in ausgewählten europäischen Ländern hat das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht erarbeitet. Die Datenbank ist verfügbar unter: https://meddb.mpicc.de [27.04.2018]. 19 Viele reproduktionsmedizinische Kliniken haben sich an verschiedenen nationalen Standorten außerhalb Deutschlands angesiedelt und werben mit reproduktionsmedizinischen Behandlungen in deutscher Sprache, z. b. die „IVF Zentren Prof. Zech“, die in fünf europäischen Ländern vertreten sind (www.ivf.at [27.04.2018]).
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Aktuell ist in Deutschland der Umgang mit den Methoden der assistierten Reproduktionsmedizin und speziell das Verfahren der Spende von Samenzellen bestimmt durch einige gesetzliche Regelungen im schon genannten ESchG, im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB)20, im Adoptionsvermittlungsgesetz (AdVermiG)21 und im Gewebegesetz22, welches u. a. Qualitätsund Sicherheitsstandards beim Umgang mit Keimzellen setzt. Bezüglich dieser bestehenden gesetzlichen Regelungen führt Petra Thorn (2011) in einem Gutachten für das Deutsche Jugendinstitut (DJI) zur Samenspende in psychosozialer und juristischer Dimension aus: „2004 wurde die Dokumentationspflicht von vormals 10 auf mindestens 30 Jahre verlängert (EU Richtlinie, 2004). 2007 wurden das Transplantationsgesetz aktualisiert und das Gewebegesetz eingeführt. Damit wurden die Samenbanken gesetzlich verpflichtet, die Unterlagen, aus denen die Identität der behandelten Frau und die des Spenders hervorgehen, mindestens 30 Jahre aufzubewahren. Darüber hinaus wurde im Rahmen dieser gesetzlichen Änderungen die gesundheitliche Untersuchung der Spender präzisiert […]. Es wird davon ausgegangen, dass Teenager bzw. Erwachsene das Recht haben, die Identität des Spenders in Anlehnung an das Recht Adoptierter mit 16 Jahren bzw. spätestens mit Volljährigkeit zu erfahren. Basis dieser Argumentation ist das Grundrecht auf Kenntnis seiner genetischen Herkunft aufgrund des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG)“ (ebd.: 23).
20 Regelungen des Familienrechts, der Verwandtschaft und Abstammung sind im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) niedergeschrieben. Durch das „Kinderrechteverbesserungsgesetz“ (KindRVerbG), das 2002 in Kraft getreten ist, hat eine Änderung des § 1600 BGB „Anfechtungsberechtigte“ stattgefunden. Unter Punkt 5. ist dort bezüglich der Samenspende explizit formuliert: „Ist das Kind mit Einwilligung des Mannes und der Mutter durch künstliche Befruchtung mittels Samenspende eines Dritten gezeugt worden, so ist die Anfechtung der Vaterschaft durch den Mann oder die Mutter ausgeschlossen“ (http://www.gesetzeim-internet.de/bundesrecht/bgb/ gesamt.pdf [27.04.2018]). 21 Das Adoptionsvermittlungsgesetz (AdVermiG) als Gesetz über die Vermittlung der Annahme als Kind und über das Verbot der Vermittlung von Ersatzmüttern ist verfügbar unter: http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/advermig_ 1976/ gesamt.pdf [27.04.2018]. 22 Das Gewebegesetz (GewebeG) als Gesetz über Qualität und Sicherheit von menschlichen Geweben und Zellen ist verfügbar unter: http://www.gesetze-iminternet.de/gewebeg/BJNR157400007.html [27.04.2018].
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Zukünftig können Personen, die davon ausgehen, dass sie mithilfe der reproduktionsmedizinischen Behandlungsmethode der Samenspende in Deutschland gezeugt wurden, ab dem 16. Lebensjahr Auskunft beim Samenspendenregister beantragen. Dafür wird ein zentrales Samenspenderregister beim „Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information“ (DIMDI) eingerichtet.23 Aus einer Spendersamenbehandlung entstandene Kinder setzen sich immer stärker und in zunehmend organisierten Zusammenhängen für die Entwicklung eines gesellschaftlichen Umgangs mit der Samenspende ein und tragen damit zur gesellschaftlichen Debatte um diese Methode bei.24 Neben den aufgeführten gesetzlichen Vorgaben bestehen zudem Regelungen durch das ärztliche Standesrecht in den Berufsordnungen der jeweiligen Landesärztekammern und den von ihnen erlassenen Richtlinien zur Durchführung der assistierten Reproduktion 25 , welche sich jeweils an der vom Vorstand der Bundesärztekammer (BÄK) herausgegebenen „(Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion“ 26 orientieren. Die BÄK hat zum ersten Mal 1985 entsprechende Richtlinien erlassen und 1998 und 2006 fortgeschrieben. In ihnen werden fachliche Standards festgelegt, und sie beschreiben statusrechtliche und elterliche Voraussetzungen, die regeln, wer überhaupt Zugang zur Durchführung von Metho23 Siehe auch die diesbezügliche Veröffentlichung der Bundesregierung: https:// www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2016/12/2016-12-21-wissen-werdie-leiblichen-eltern-sind.html [27.04.2018]). 24 Im Jahr 2000 ist in den USA ein „Donor Sibling Registry“ eingerichtet worden. Dort können Menschen, die durch Spende von Samen- oder Eizellen gezeugt wurden, mit anderen in Kontakt treten und ihre genetischen Angehörigen suchen (https://donorsiblingregistry.com/ [27.04.2018]). In Deutschland hat ein derartiger Zusammenschluss auf der Website „spenderkinder.de“ stattgefunden, um die Öffentlichkeit zur Situation von Kindern aus einer anonymen Samenspende zu informieren und politische Forderungen zu stellen, darunter z. b. die „Schaffung eines unabhängigen Zentralregisters für die Spenderdaten mit mindestens 100jähriger Aufbewahrungsdauer“ (http://www.spenderkinder.de/politischeforderungen/ [27.04.2018]). 25 Die Berufsordnung und die Richtlinien zur assistierten Reproduktion finden sich in der aktuellen Fassung auf der Website der jeweiligen Landesärztekammern. 26 Die geltenden (Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion können auf der Website der Bundesärztekammer abgerufen werden: http:// www.baek.de/downloads/AssRepro.pdf [27.04.2018].
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den der assistierten Reproduktion und speziell der Samenspende bekommen kann. Der 1995 gegründete Verein „Arbeitskreis für Donogene Insemination e. V.“ (AKDI) ist eine „Vereinigung von Ärzten, die Behandlungen mit Fremdsperma durchführen und/oder Samenbanken betreiben, Psychologen, Juristen und anderen Personen, die in ihrem Fachgebiet spezielle Interessen, Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet der Behandlung mit Fremdsamen haben“ und dessen Ziel „zum einen die Förderung und Wahrnehmung der medizinischen, juristischen und wissenschaftspolitischen Interessen der Ärzte und Wissenschaftler, die Behandlungen mit Fremdsamen durchführen, zum anderen die Förderung der gesellschaftlichen Akzeptanz dieser Behandlungsmethode in Deutschland“ ist (http://donogene-insemination.de [27.04.2018]). Dieser Verein wirkt auch an der Erarbeitung und Aktualisierung von Qualitätsstandards und Richtlinien zur Durchführung der Behandlung mit Spendersamen sowie zur Führung von Samenbanken in Deutschland mit. Bis dato existiert allerdings kein umfassendes Gesetz, das die Spendersamenbehandlung und den Zugang zu ihr regelt, wie etwa ein Fortpflanzungsmedizingesetz.27. Vielmehr herrschen speziell im Bereich der Samenspende viele regulative Grauzonen und rechtliche Uneindeutigkeiten. Damit sind dem medizinischen Apparat mit der Etablierung reproduktionsmedizinischer Verfahren neue Aufgaben und Handlungsfelder sowie Entscheidungsbefugnisse zugewachsen. Die Formulierung von regulativen Kriterien obliegt auf der Basis und im Rahmen des ärztlichen Standesrechts den Mediziner_innen selbst. In der Reproduktionsmedizin tätige Mediziner_innen gestalten die Anwendungen der Techniken der Reproduktion und regulieren die Ein- und Ausschlüsse des Zugangs zu diesen, was sowohl eine potenzielle Unsicherheit für das ärztliche Handeln wie auch eine relativ umfassende Entscheidungsbefugnis beinhaltet. Die vorstehenden Ausführungen zu den medizinischen sowie den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Regulierungen machen deutlich, dass längst nicht alles, was technologisch machbar wäre, in bestimmten gesellschaftlichen und medizinischen Kontexten auch legitimierbar ist. Durch die kontroversen Debatten befindet sich die Reproduktionsmedizin und die Regulierung ihrer Anwendungsmethoden unter einem ständigen Legitimationsdruck. Ausgehend von der Annahme von Adele Clarke 27 Diskussionen über ein Fortpflanzungsmedizingesetzes werden in Deutschland seit längerem schon verschiedentlich diskutiert, siehe bereits Bundesministerium für Gesundheit (2001).
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(1998), dass Forschungen zur Reproduktion, die Reproduktionsmedizin insgesamt und ihre Anwendungsmethoden seit ihren Anfängen in einem umkämpften Feld aus Illegitimität und manifesten Kontroversen verhandelt worden sind, scheinen Prozesse der Legitimierung bei der Etablierung von reproduktionsmedizinischen Verfahren wie der Samenspende also von besonderer Bedeutung. „Mit dem Bekanntwerden der ersten heterologen Insemination in der Bundesrepublik (1956) begann eine heftige Diskussion zur ethischen, juristischen und psychologischen Wertung dieser Behandlungstechnik, die bis heute anhält. Dessen ungeachtet hat sich die heterologe Insemination als Möglichkeit der Bewältigung männlicher Infertilität etabliert“ (F 1986, Band 2: 161).
Jedoch ist die Entwicklung und Etablierung der reproduktionsmedizinischen Behandlung mit Spendersamen, bezeichnet „als Möglichkeit der Bewältigung männlicher Infertilität“, keineswegs ein gradlinig verlaufender Prozess gewesen, sondern stellt sich als vielschichtiger Aushandlungsprozess dar. So galt die Samenspende, wie bereits aufgezeigt, sowohl in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit als auch in medizinischen Fachkreisen lange als höchst umstritten und aus sittlichen Gründen als standesunwürdig. Mittlerweile wird sie als „wissenschaftlich begründetes Verfahren“ der Reproduktionsmedizin dargestellt: „Die heterologe Insemination hat heute als wissenschaftlich begründetes Verfahren einen gerechtfertigten Platz in der Reproduktionsmedizin“ (RM 1999, Volume 15, Nr. 3: 165). Im Fokus der in den weiteren Kapiteln folgenden Ausführungen dieser Arbeit steht die diskursive Wandlung der Spendersamenbehandlung im reproduktionsmedizinischen Diskurs von einer ehemals als standesunwürdig gesetzten Methode der Medizin hin zu einem legitimen Verfahren mit einem gerechtfertigten Platz in der Reproduktionsmedizin in Deutschland. Bei der Untersuchung des reproduktionsmedizinischen Diskurses im zeitlichen Verlauf von 1978–2010 zur Legitimierung der Spendersamenbehandlung stellen sich entsprechend folgende Leitfragen: • Welche Positionen, von denen aus gesprochen werden können, sind im
zeitlichen Verlauf des reproduktionsmedizinischen Diskurses gegeben und wie werden diese legitimiert? • Welche Legitimierungsweisen lassen sich im reproduktionsmedizinischen Diskurs der Samenspende differenzieren? Aus welchen Gründen
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und unter welchen Bedingungen gilt diese Behandlung als legitim und aus welchen Gründen wird sie als illegitim gesetzt? • Was ist im Rahmen dieser Prozesse Gegenstand von Verhandlungen und wie wird es verhandelbar? Welches Wissen über die als sozial und/oder natürlich gesetzte Ordnung – insbesondere von Reproduktion, Elternschaft und Geschlecht – wird verhandelt und dadurch transformiert oder auch (re-)stabilisiert?
Theoretische Perspektiven auf Medizin, Gesellschaft und Normalisierung
Das geschlechtertheoretische Forschungsinteresse und die wissenssoziologische ausgerichtete Perspektive dieser Arbeit misst kollektiv geteilten Wissensordnungen über Reproduktion und ihren Aushandlungsprozessen eine grundlegende Bedeutung zu. Die Auseinandersetzungen und Verhandlungen in der Medizin allgemein und speziell in der Reproduktionsmedizin erscheinen als Aushandlungsort der diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit (Keller et al. 2005) und dessen, was als natürliche und soziale Ordnung gilt. Herauszustellen, welche Bedeutung der Medizin im gesellschaftlichen Kontext und vor dem Hintergrund der von ihr hervorgebrachten Unterscheidungen von krank/gesund und normal/abnormal zukommt, ist Gegenstand dieses Kapitels. Sowohl Prozesse der Professionalisierung, der Institutionalisierung und der wissenschaftlichen Standardisierungen sowie der Medikalisierung und Normalisierung prägen die moderne Medizin und waren Voraussetzung für das Entstehen der modernen Klinik und des medizinischen Blicks (Foucault 2005). Dieser medizinische Blick – so illustriert Foucault – lauert der kleinsten Abweichung auf und ist nicht nur der eines Beobachters, „sondern der eines von Institutionen gestützten und legitimierten Arztes, welcher entscheiden und eingreifen kann (ebd.: 117). Im Folgenden werden zunächst die theoretischen Auseinandersetzungen zu Medizin als Profession im Zusammenhang mit Geschlechterverhältnissen aufgezeigt, um die medizinische Profession und somit auch die Reproduktionsmedizin in ihrem gesellschaftlichen Feld zu kontextualisieren. Im Anschluss an diesbezügliche Einordnungen werden theoretische Zugänge zu Medikalisierungs- und Normalisierungsprozessen vorgestellt und diskutiert.
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MEDIZINISCHE PROFESSIONALISIERUNG: PROZESSE DER AB- UND AUSGRENZUNG „Eine weitere Ausführung dieser Frage, welches denn die eigentliche naturgemäße Organisation der menschlichen Gesellschaft sei, wäre in der That keine Ueberschreitung des kompetenten Gebiets einer Frage, die sich mit Leben und Gesundheit der Menschen beschäftigt, denn die medizinische Wissenschaft ist in ihrem innersten Kern und Wesen eine sociale Wissenschaft, […]“ (Salomon Neumann 1847: 64). „Die Medicin ist eine sociale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts, als Medicin im Grossen“ (Rudolf Virchow 1848: 125).
Das „Soziale“ der Medizin wurde innerhalb der medizinischen Wissenschaft und deren sozialpolitischer Ideenwelt schon früh thematisiert, wie oben stehende Aussagen verdeutlichen. Aus Sicht soziologischer und sozialwissenschaftlicher Forschung kann die Medizin „als gesellschaftliche Praxis“ beschrieben werden. So schlagen Sigrid Graumann und Gesa Lindemann (2009) vor, sie als eine genuin soziale Praxis zu begreifen, als einen gesellschaftlichen Bereich, „in dem ein durch Kommunikation erzeugtes Wissen gilt, in dem die Strukturen von Organisationen wirksam werden, in dem Hierarchien eine Rolle spielen oder Karriereambitionen und Abhängigkeitsverhältnisse. Gesellschaftstheoretisch wird die Medizin als Teil der modernen Gesellschaft begriffen, was dazu führt, dass die Wertsetzungen der Medizin orientiert am Wert der Gesundheit bzw. der Lebenserhaltung mit anderen Wertsetzungen konkurrieren“ (ebd.: 242). Die Medizin steht ohne Zweifel in einem engen Wechselverhältnis zu ihren jeweiligen gesellschaftlichen historischen Bedingungen. Im Weiteren soll deshalb zunächst auf eben diese Bedingungen eingegangen werden, um die Entwicklungen der Medizin in Deutschland im gesellschaftlichen Kontext zu erörtern.
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Medizin als Profession Der gesellschaftliche Stellenwert der medizinischen Profession stellt sich als eine anhaltend und vielseitig behandelte Thematik gerade auch in der soziologischen Forschung dar.28 Die Medizin wird häufig zum „Prototyp einer erfolgreichen Profession“ erklärt (Hitzler/Pfadenhauer 1999). Der machtvolle Einfluss auf die Definition ihrer Gegenstände, auf ihre organisationale Verfasstheit und auf die Wahl ihrer Mittel und Praktiken wird zurecht oft betont, insbesondere hinsichtlich gesellschaftlich als legitim anerkannter Lösungen für medizinisch deklarierte Probleme, die sich aus der Unterscheidung von „gesund oder krank“ ergeben (ebd.: 97). Rudolf Stichweh (2008) definiert Professionen als „ein Phänomen des Übergangs von der ständischen Gesellschaft des alten Europa zur funktional differenzierten Gesellschaft der Moderne“ und findet exakt darin ihre gesellschaftsgeschichtliche Bedeutung (ebd.: 330). Wie sich Professionen eingrenzen und ihre eigentlichen jeweiligen Merkmale identifizieren lassen, ist je nach theoretischem Zugang höchst unterschiedlich (Kurtz 2002). 29 Harald A. Mieg (2003) stellt vier charakteristische Rahmenbedingungen von Professionen heraus, die auch für die medizinische Profession gelten: Erstens bildet sich ein gesellschaftlich relevanter Problembereich und ein dazugehöriger Komplex von Handlungs- und Erklärungswissen heraus. Zweitens lässt sich stets ein Bezug auf einen gesellschaftlichen Zentralwert erkennen – so kann sich in der Medizin auf „Gesundheit“ bezogen und medizinische Handlungen können gerechtfertigt werden. Zum Dritten ist der Ausbildungsweg akademisiert und mit der Vermittlung abstrahierten, über den Erfahrungsschatz einzelner hinausgehenden Wissens verbunden – viele 28 Der Professionsbegriff wurde zunächst geprägt durch den Funktionalismus und durch Arbeiten von Alexander Morris Carr-Saunders und Paul Alexander Wilson (1933) sowie von Talcott Parsons ausgearbeitet (u. a. 1951). Davon haben sich macht- und konflikttheoretische Ansätze abgegrenzt und sich auf die Entwicklung von Professionen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen fokussiert (u. a. Freidson 1979). Auseinandersetzungen zu den professionstheoretischen Zugängen fanden zunächst im anglo-amerikanischen Raum statt. In der deutschen Soziologie nahm dies ab Ende der 1960er Jahre seinen Anfang. 29 Thomas Kurtz (2002) unterscheidet fünf Hauptströmungen von Professionstheorien: der Strukturfunktionalismus, der Symbolische Interaktionismus, der machttheoretische Ansatz, der strukturtheoretische Ansatz und die Systemtheorie (Kurtz 2002: 50ff.).
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geläufige Begriffe der Medizin sind schon im 17. und 18. Jahrhundert geprägt worden. Viertens besteht die Existenz berufsständischer Institutionen wie Berufsverbände und Vertretungsgremien (vgl. ebd.: 15ff.). Auf das Erlangen von Marktmacht von Professionen wurde aus der Perspektive machttheoretischer Professionalisierungsansätze vielfach hingewiesen, aus Sicht des „power approach“ sind die Professionen als „wirtschaftlich-gesellschaftliche Machtträger“ zu bezeichnen, die bestimmte Berufsfelder kontrollieren (ebd.: 31). Für Elliot Freidson (1979) zeichnet sich eine Profession dadurch aus, dass sie eine weitreichende professionelle Autonomie und damit privilegierte Stellung besitzt sowie die Möglichkeit zur Regelung von Inhalten der Berufsausübung. Die Profession ist „die alleinige Quelle der Kompetenz für das Erkennen abweichender Berufsausübung, und sie hat auch genug Berufsethos, um abweichende Berufsausübung zu kontrollieren und um sich selbst ganz allgemein die nötigen Regeln zu geben“ (ebd.: 117). Gestützt wird die Regulierung der Medizin über die Inhalte der Berufsausübung durch folgende Besonderheiten: einen hohen Grad an Fertigkeiten und Wissen, das außenstehende Nicht-Professionelle nicht bewerten könnten; ein Verantwortungsbewusstsein, das Professionelle auch ohne Überwachung gewissenhaft arbeiten lasse; und Vertrauen darauf, dass die Professionen selbst zu angemessenen regulierenden Maßnahmen greifen würden, falls es zu einer Ausführung der Arbeit komme, die nicht dem Berufsethos entspräche (vgl. ebd.: 117f.). Weiter hebt Freidson (1979) Krankheit als eine soziale Konstruktion hervor. Was als Krankheit gilt, ist sozial und historisch eingebettet. 30 Die Behandlung einer Krankheit als soziale Abweichung ist dabei „die amtlich zugestandene Domäne der medizinischen Profession“ (ebd.: 177). Die Medizin strebe danach, die soziale Bedeutung von Krankheiten zu erschaffen. Die ärztliche Tätigkeit bringe dabei neue Regeln hervor, nach denen Abweichungen zu definieren seien, und die medizinische Praxis versuche, diese Regeln durchzusetzen. Insofern Krankheiten durch die Medizin beseitigt oder eingedämmt werden müssen, spiele die Medizin die Rolle eines „moralischen Unternehmers“ (vgl. ebd.: 211). 30 Einen differenzierten Überblick zur sozialwissenschaftlichen und gesundheitswissenschaftlichen Diskussion der sozialen Konstruktion von Krankheit und Gesundheit in ihrer Vielschichtigkeit bietet Charlotte Ullrich (2012), die drei Dimensionen herausstellt, in denen Krankheit erfasst werden kann: auf gesellschaftlicher und sozialpolitischer Ebene, auf der Ebene der medizinischen Diagnostik und Behandlung sowie aus subjektiver Sicht.
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Auch Magali Sarfatti-Larson (1977) stellt heraus, dass Professionalisierung immer ein an konkrete historische Bedingungen geknüpfter Prozess ist. Dieser gehe dabei mit einer Vielzahl von Schließungsmechanismen einher, in denen Marktmacht gesichert werde. Der Monopolstellung der Profession auf dem Markt wird eine besondere Bedeutung zugemessen: „The double nature of the professional project intertwines market and status orientations and both tend toward monopoly – monopoly of opportunities for income in a market of services, on the one hand, and monopoly of status in an emerging occupational hierarchy, on the other“ (ebd.: 79).
Claudia Huerkamp (1985) untersucht den Aufstieg der Ärzteschaft im 19. Jahrhundert von einem gelehrten Stand zu einem von professionellen Experten am Beispiel Preußens. In ihrer Untersuchung schließt sie an die Arbeiten von Sarfatti-Larson und Freidson an und hebt folgende Voraussetzungen für eine erfolgreiche Professionalisierung einer Berufsgruppe hervor: • Die Erweiterung eines Marktes für die jeweilige professionelle Dienst-
leistung. • Die Standardisierung von Wissen und wissenschaftlicher Ausbildung. • Das Streben nach Maximierung beruflicher Autonomie durch Berufung
auf spezialisiertes Expertenwissen – nur Fachkompetenz ermächtige zur Regulierung (vgl. ebd.: 17f.). Diese drei miteinander verflochtenen Dimensionen kommen zwar in allen modernen Industriegesellschaften vor, jedoch zeigen sich im Verlauf und bezüglich der jeweiligen Antriebskräfte der Professionalisierungsvorgänge große Unterschiede zeigen (vgl. ebd.: 18). Dementsprechend verlaufen diese Prozesse sehr different. Vor diesem Hintergrund sind im Folgenden die Auseinandersetzungen innerhalb der medizinischen Profession und deren dynamischer Charakter von Relevanz. Dabei liegt das Interesse auf den Konflikten sowie auf den Machtinteressen, welche den Aufstieg der medizinischen Professionen begleitet haben. Der Blick wird auf heterogene und konkurrierende Interessengruppen innerhalb einer Profession wie der Medizin gerichtet. Eine machttheoretische Sichtweise ist insbesondere für Forschungen und Analysen interessant, welche Zusammenhänge von Professionalisierungsprozessen, Machtverhältnissen und Geschlechterverhältnissen thematisieren. So
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sieht auch Kurtz (2002) in diesem Ansatz Anknüpfungspunkte für die geschlechtertheoretische Forschung (ebd.: 54). Ebenso interessante Anknüpfungspunkte bieten interaktionstheoretische Ansätze der Professionstheorie. Hier haben etwa Rue Bucher und Anselm Strauss (1972) in ihrer Analyse des Berufsstandes der Ärzteschaft herausgestellt, dass die medizinische Profession keineswegs als statisch beschrieben werden kann und entgegen manchen Annahmen eine deutlich heterogene Zusammensetzung festzustellen ist. So bestehen eher lose Verbindungen zwischen ihren einzelnen Segmenten, z. B. wie bei der sich etablierenden Reproduktionsmedizin, welche nach Anerkennung innerhalb der Profession der Medizin strebt und dabei stets auch mit anderen Segmenten konkurriert. Professionen können demnach Segmentzusammenschlüsse sein, „die verschiedene Ziele auf unterschiedliche Weise verfolgen und die mehr oder weniger lose unter einer gemeinsamen Berufsbezeichnung zu einem bestimmten Zeitabschnitt zusammengefasst werden“ (ebd.: 183). Innerhalb solcher Zusammenschlüsse lassen sich durchaus auch unterschiedliche Vorstellungen von dem Beruf und seinen Handlungsweisen ausmachen. Wenn die Medizin nach außen homogen erscheint, ist dies eher ein Ergebnis von internen Machtgefällen und „Handlungsresultaten der einflussreichsten internen Gruppe“ (ebd.: 192). Interessenkonflikte innerhalb der Professionen bestehen dort, wo neue Segmente versuchen „Fuß zu fassen“, „bei der Rekrutierung des Nachwuchses“ und „in den Außenbeziehungen“ (ebd.: 191). Dies verdeutlicht sich beim Entstehen neuer Spezialgebiete, wie der in dieser Arbeit relevanten Reproduktionsmedizin als Spezialgebiet der Medizin. Nach Ronald Hitzler (1994) zielt Professionspolitik darauf ab, bestimmte Tätigkeiten dauerhaft und exklusiv an bestimmte Personengruppen zu binden und damit deren Mitglieder als legitimierte Experten zu institutionalisieren (vgl. ebd.: 16). In Anlehnung an Alvin Gouldner (1980) bezeichnet Hitzler (1994) das „Standesbewusstsein technischer, intellektueller und moralischer Überlegenheit und, damit korrelierend, de[n] massive[n] Anspruch nicht nur auf kollektive Autonomie, sondern auch auf Autorität gegenüber anderen gesellschaftlichen Interessengruppen“ als „Ideologie des Professionalismus“ (ebd.: 17). Entsprechend dieser Ideologie könne die Ärzteschaft zwar im Interesse des Staates handeln, ohne sich aber als „Diener dieser Macht“ zu begreifen, und sie habe die Möglichkeit, sich ihrem Selbstverständnis nach als legitime Repräsentanten des Gemeinwohls zu präsentieren und ihre eigenen Interessen zugleich als allgemein gesellschaftliche Interessen auszuweisen (ebd.: 22).
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Professionalisierung in der Medizin zeigt sich als ein durchaus vielschichtiger Prozess, der sich keineswegs statisch oder linear darstellen lässt. Diese Arbeit nimmt aufgrund des zugrunde liegenden Forschungsinteresses eine wissenssoziologische Perspektive auf „Professionalisierung“ ein. Hier bietet sich die Definition von Professionalität aus der Perspektive der pragmatisch-interaktionistischen Wissenssoziologie von Fabian Karsch (2015) an, nach der Professionalität verstanden werden kann als eine performative Darstellung (und Inszenierung) kollektiv geteilten Wissens über Professionen und Erwartungen an Professionen, „die symbolisch kommuniziert werden und bestimmte Machtwirkungen haben, in dem sie etwa strategisch zur Legitimierung bestimmter Interessen eingesetzt werden können. Professionalität ist dann eine symbolische Ordnung, auf deren Wissensbestände zurückgegriffen werden kann“ (ebd.: 85). Historische Entwicklungen in der Medizin Foucault (2005) zeigt in seiner Arbeit „Die Geburt der Klinik“, wie neue Wissens- und Wahrnehmungsweisen in der modernen Medizin an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entstanden sind und wie eine Veränderung des ärztlichen Blicks stattfand. Mit der Neuorganisation der Krankenhäuser, mit der Entstehung der modernen Kliniken hat sich die machtvolle Position der Medizin erweitert. Deutlich wird, dass die Medizin und ihre Entwicklung als Profession nur innerhalb spezifischer historischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse zu verstehen ist. In seinem Vortrag „Krise der Medizin oder Krise der Antimedizin“ (Foucault 2003) betont Foucault das Soziale der Medizin und unterstreicht, dass die Medizin seit dem 18. Jahrhundert eine soziale Aktivität darstelle und immer schon eine soziale Praxis gewesen sei (vgl. ebd.: 59). „[…] dass die Medizin Teil eines historischen Systems ist, dass sie keine reine Wissenschaft ist, dass sie Teil eines ökonomischen Systems und eines Machtsystems ist, und dass es notwendig ist, die Verbindung zwischen Medizin, Ökonomie, Macht und Gesellschaft ans Licht zu bringen“ (ebd.: 76).
Als „endlose Medizinisierung“ bezeichnet Foucault (2003) die Tendenz der Medizin sich auf sämtliche Lebensbereiche auszubreiten. Er stellt vier Prozesse heraus, die für die Medizin ab dem 18. Jahrhundert bezeichnend sind:
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• Das Auftauchen einer medizinischen Autorität, welche eine soziale Auto-
rität darstelle und nicht eine Autorität des Wissens oder eine Autorität einer gelehrten Person. • Das Auftauchen eines Interventionsfeldes der Medizin, welches von dem der Krankheit zu unterscheiden sei. Das gesamte Umfeld, die Luft, das Wasser, Gebäude all dies werde zum Gegenstand der Medizin. • Die Einführung eines Apparates der kollektiven Medizinisierung, das Spital. • Die Verbreitung von Mechanismen der Verwaltung in der Medizin wie etwa statistische Erhebungen. Die heutige Medizin hat sich historisch aus einer Vielzahl unterschiedlicher beruflicher Gruppen entwickelt. Huerkamp (1985) erläutert, dass im 19. Jahrhundert die Herausbildung einer einheitlich vorgebildeten Ärzteschaft begann. Merkmal der vorindustriellen Ärzteschaft war ihre Segmentierung in verschiedene Subgruppen, welche sich je nach Herkunft, Status, Vorbildung und Ausbildung sowie Zugang zu Klientengruppen unterschieden (vgl. ebd.: 22). Chirurgen, Wundärzte, Bader und Barbiere hatten eine eher handwerkliche Ausbildung. Die gelehrten Ärzte, die ein Studium an einer medizinischen Fakultät einer Universität absolviert hatten, stellten eine relativ kleine Gruppe dar. Sie waren für den größten Teil der Bevölkerung nicht verfügbar. Die Zurückhaltung im Umgang mit dem ganzen Feld der Chirurgie im weiteren Sinne ermöglichte es den akademischen Ärzten, ihren Sozialstaus als Gelehrte zu behaupten und war „gleichzeitig eine Bedingung dafür, sich von den anderen ärztlichen Subgruppen, den handwerklich ausgebildeten und handwerklich tätigen Chirurgen und Wundärzten deutlich abzusetzen“ (ebd.: 34). Das Absetzen von anderen Subgruppen ist ebenso grundlegend für die Professionalisierung der Medizin gewesen, wie es auch der organisationale Zusammenschluss von akademisch ausgebildeten Ärzten war. „Zur Monopolisierung des medizinischen Marktes wie auch zur Verbesserung der Medizinerausbildung bedurfte es einer breiten, massiven und effektiven Vertretung berufsständischer Interessen, beispielsweise in Form des Vereins oder anderer Zusammenschlüsse von Ärzten. Die rasante Entwicklung des ärztlichen Vereinswesens verlief fast überall parallel zum langwierigen Professionalisierungsprozess“ (Eckart/ Jütte 2007: 319).
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Diese Entwicklungen von Zusammenschlüssen in der Medizin sind von Prozessen der Ab- und Ausgrenzung anderer, vormals beteiligter Gruppen begleitet worden. Im Verlauf dieser Entwicklungen ist es zu immer weitgehenderer professioneller Autonomie, zu zunehmender wissenschaftlicher Expertenausbildung und zu Herausbildung eines Monopol auf dem Markt für medizinische Dienstleistungen gekommen (Huerkamp 1985). Einen weiteren relevanten Aspekt der professionellen Autonomie hat Celia Davies (1996) benannt: So besteht professionelle Autonomie als Autonomie einer dominierenden Gruppe dann, wenn die Arbeit von anderen, die nicht zu dieser Profession gehören, marginalisiert und unsichtbar gemacht werden kann. „It is also important to recognise that professions can represent themselves as auto nomous only by ignoring or misinterpreting the work of others“ (ebd.: 670).
Als die „Anderen“ macht Davies (1996) vorwiegend weibliche Arbeitskräfte im Gesundheitswesen aus. Professionalisierungsprozesse sind im Hinblick auf Geschlechterverhältnisse auch von der deutschsprachigen Frauenund Geschlechterforschung eingehend untersucht worden. 31 Dabei wurde herausgestellt, dass sie als soziale Prozesse tiefgreifend durch Geschlechterverhältnisse strukturiert sind. Angelika Wetterer (1993) analysiert am Beispiel der Medizin, wie Prozesse der Ausgrenzung und Prozesse der sozialen Konstruktion von Geschlecht zusammenwirken: „Professionalisierungsprozesse waren, historisch betrachtet, immer zugleich Prozesse der Ausgrenzung und später zumindest der Marginalisierung von Frauen. Und sie setzten mit der Etablierung der hierarchischen Beziehungen zwischen (Männern vorbehaltener) Profession und (den Frauen zugeordneter) Semi-Profession das Muster einer geschlechtsspezifischen Segregation des Arbeitsmarktes durch“ (ebd.: 12).
Im Zuge dieser Prozesse kam es in der Medizin auch zum Ausschluss von Frauen generell. So wurden Frauen etwa aus der Medizin und der universitären Ausbildung vollständig ausgeschlossen. Ilse Costas (1992) hat herausgestellt, dass die medizinische Profession, so die Mehrheit der entsprechen31 Einen Überblick bieten etwa Angelika Wetterer (1992), (1995) und Ellen Kuhlmann (1999). Anne Witz (1992) veröffentlichte eine der ersten Studien zu Professionalisierungsprozessen und der Ausgrenzung von Frauen in der Medizin in Großbritannien.
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den Universitätsprofessoren das weibliche Geschlecht in ihren Reihen vehement abgelehnt haben, „sie waren nicht bereit, ihm Zugang zu den mit Macht, Prestige und relativ hohem Einkommen ausgestatteten Positionen zu gewähren“ (ebd.: 72). Das Entstehen der medizinischen Profession ging einher mit Verdrängungs- und Abgrenzungsprozessen. Folgend wird dies am Beispiel der Geschichte der Frauenheilkunde/Gynäkologie, der auch die Reproduktionsmedizin im weiten Sinne angehört, näher erläutert. Zur Geschichte der Gynäkologie Die Gynäkologie oder auch Frauenheilkunde wird beschrieben als eine „Fachrichtung der Medizin, die sich mit der Erkennung, Verhütung, konservativen u. operativen Behandlung einschließlich der psychosomatischen Aspekte von Krankheiten der weiblichen Geschlechtsorgane u. der Brustdrüsen, der gynäkologischen Endokrinologie u. der Reproduktionsmedizin befasst. Wird mit der Geburtshilfe zu einem medizinischen Fachgebiet zusammengefasst“ (Roche Lexikon Medizin 2003: 644). In den Standardwerken der Medizingeschichte wird die Geschichte der Gynäkologie als ein erfolgreicher und konstant verlaufener Prozess der Professionalisierung und des wissenschaftlichen Fortschritt präsentiert. 32 Die Frauen- und Geschlechterforschung hat diesem Bild aus historischer Perspektive die Erkenntnis entgegengesetzt, dass diese Geschichte von vielfältigen sozialen Praktiken und machtvollen Ordnungen begleitet wurde. Hebammen haben in der vorindustriellen Gesellschaft im 18. Jahrhundert über geburtshelferische Tätigkeiten hinaus weitere vielfältige medizinische Aufgaben wahrgenommen (vgl. Huerkamp 1985: 38). Im Jahr 1824 gab es in Preußen sechsmal so viele Hebammen wie Ärzte, d. h. 10.307 Hebammen gegenüber 1776 Ärzten (vgl. ebd.: 38). Sie waren zu einem großen Teil auf dem Land tätig. Da sie ihren Lebensunterhalt allein durch geburtshelferische Tätigkeiten kaum erwirtschaften konnten, nahmen diese „zumindest bei Frauen und Kindern der Landbevölkerung auch Aufgaben der medizinischen Versorgung wahr, wozu sie ihre aus ihrem geburtshelferischen Erfahrungen resultierenden Einsichten in Anatomie und Physiolo32 So sind etwa in einem Werk zur Geschichte der Gynäkologie und Geburtshilfe, dass anlässlich des 100jährigen Bestehens der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe 1986 veröffentlicht wurde, die großen „Meilensteine“ dieser Disziplin präsentiert worden (Beck, L. 1986).
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gie des weiblichen Körpers gewissermaßen prädestinierte. In der Regel waren sie auch mit allerlei pflanzlichen Heilmitteln vertraut und besaßen konkretes Wissen über Verhütungs- und Abtreibungsmethoden“ (ebd.: 39). Sowohl das Wissen zur Geburtshilfe wie auch Wissen über Methoden der Verhütung von Schwangerschaften und Abtreibung wurden von Hebammen und anderen Heilkundigen weitergegeben. Petra Kolip (2000) stellt heraus, dass Heilkunde, die in diesem Bereich auf Erfahrungswissen basierte, in einem langen und konfliktträchtigen Prozess in die wissenschaftliche Medizin integriert worden ist (vgl. ebd.: 13). Im historischen Verlauf ist es der Medizin gelungen, sich in diesem Bereich als die zuständige Gruppe zu definieren und dies auch entsprechend durchzusetzen. Durch die Einrichtung von Hebammenschulen, die unter der Leitung von Ärzten und Medizinalräten standen, gewann die Ärzteschaft Einfluss auf die Ausbildung der Hebammen und ihre Tätigkeitsbereiche. Darüber hinaus kam es zur Einrichtung von Entbindungshospitälern, sogenannten „Accouchieranstalten“, die vorwiegend von schwangeren Frauen aus der städtischen Unterschicht und von ledige Frauen aufgesucht wurden (vgl. ebd.: 14). Die Konsultation solcher Einrichtungen war für die dort behandelten Frauen mit hohen gesundheitlichen Risiken verbunden.33 Legitimiert wurden diese Gebärhäuser etwa damit, ungewollte Kinder vor dem Kindsmord zu schützen und zum Gemeinwohl beizutragen (Seidel 1998). Durch diese Anstalten ergab sich zudem Zugang zu den Körpern der Gebärenden, so konnten „Ärzte und Studenten ihre Instrumente und Techniken ungehindert an unverheirateten und mittellosen Schwangeren erproben“ (Frevert 1982: 202). Während das Heilen an den akademisch ausgebildeten männlichen Arzt verwiesen wurde, wurde das Zuarbeiten und Pflegen Frauen überlassen und sukzessive als deren „biologische Pflicht“ definiert (Frevert 1982: 188). „Der heute noch dominierende Eindruck, die hierarchische Arbeitsteilung zwischen Ärzten, Krankenschwestern und Hebammen hätte sich quasi zwanglos aus der ,Natur der Sache‘ ergeben, ist von daher letztlich nichts anderes als das Ergebnis davon, dass es der Medizin mit Erfolg gelungen ist, einen Zuschnitt der ,Sache selbst‘ durchzusetzen, der ihren Interessen entsprach. Die Definition der Grenzen zwischen
33 Marita Metz-Becker (1998) geht in ihrer umfangreichen Forschung der Entstehung der Gebärhäuser im frühen 19. Jahrhundert und speziell der im Jahre 1792 errichteten Marburger Accouchieranstalt nach und beschreibt die Auswirkungen der Medikalisierung für die schwangeren Frauen.
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den verschiedenen Berufen des Gesundheitssektors ergab sich historisch keineswegs zwingend aus irgendeiner Form von Sachlogik“ (Wetterer 1993: 82).
Organisatorische Strukturen der Medizin Die spezifischen organisatorischen Strukturen der Medizin in Deutschland sind von zentraler Bedeutung für die Entwicklung der Disziplin sowie ihrer Subdiszipline und ihrer Gestaltungs- und Definitionsmacht. Die Standesinstitutionen regeln den Zugang zur medizinischen Profession, üben Einfluss auf Qualifikationsinhalte aus und präsentieren sich und den gesamten Apparat in der Öffentlichkeit. Mitte des 19. Jahrhunderts kam es in Deutschland zu einem Anstieg in der Bildung von Vereinen, darunter vielfach Zusammenschlüsse von Medizinern, die damit „gesellige, wissenschaftliche, politische oder wirtschaftliche Zwecke verfolgen konnten“ (Huerkamp 1985: 241). Wolfgang Eckart (2000) stellt heraus, dass zunächst partikularstaatliche Ärztevereine entstanden, bevor im Jahr 1872 der Zusammenschluss zu einem Dachverband erfolgte. Der als eigenständige Standesorganisation gegründete „Deutsche Ärztevereinsbund“ sollte die lokalen Vereine und ihre Interessen zusammenfassen und vertreten. Im Jahr 1883 folgte die erste gesetzliche Verankerung von Krankenkassen durch die Sozialpolitik. Der „Verband der Ärzte Deutschlands zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen“, der nach seinem Initiator Hermann Hartmann auch „Hartmannbund“ genannt wird, wurde 1900 gegründet (ebd.: 316f.). Im Jahr 1931 sind die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) als Selbstverwaltungsorgane der Vertragsärzt_innen entstanden. Mit der Verabschiedung der Bundesärzteordnung von 1961 und der Einführung der ärztlichen Gebührenordnung von 1965 hat sich die Entwicklung hin zu einem freien Beruf vollzogen, dessen Ausmaß an Autonomie weit über das anderer Berufsfelder hinausgeht. „Parallel zur gesetzlich geregelten Professionalisierung des ärztlichen Berufes entwickelte sich seit den sechziger Jahren ein wachsendes Bedürfnis nach freier Organisation. In allen deutschen Bundesstaaten kam es zur Ausbildung von ärztlichen Vereinen“ (ebd.: 316).
Eckart (2000) deutet dies als Ausdruck eines gesteigerten Selbstbewusstseins und einer zunehmenden Identifikation als gesellschaftlich relevante Gruppe.
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Die Organisation der Ärzteschaft in Deutschland stellt sich dreigeteilt dar und ist in ihrer Besonderheit das Ergebnis wiederholter gesundheitspolitischer Auseinandersetzungen (Beck, W. 1998). Die „Kassenärztliche Vereinigungen“ (KV) sind als Körperschaften öffentlichen Rechts föderal untergliedert in die KVen der Länder und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV). Ihr gehören alle niedergelassenen Vertragsärzt_innen als Zwangsmitglieder an, und ihre Aufgabe besteht in erster Linie darin, Honorarverhandlungen mit den gesetzlichen Krankenkassen zu führen. Die Ärztekammern wiederum sind die Träger der berufsständischen Selbstverwaltung der deutschen Ärzt_innen. Auch den 17 Landesärztekammern (LÄK) 34 und der übergeordneten Bundesärztekammer (BÄK) gehören approbierte Ärzt_innen als Zwangsmitglieder an. Die Landesärztekammern nehmen die ihnen übertragenen Aufgaben auf der Grundlage landesrechtlicher Heilberufe-Kammergesetze35 eigenverantwortlich wahr. „Der rechtliche Status der beiden Gremien KBV und LÄK als Körperschaften öffentlichen Rechts bedeutet einen enormen Vertrauensvorschuss des Staates gegenüber der Ärzteschaft, tritt dieser doch damit zentrale Gestaltungsaufgaben an eine einzelne Berufsgruppe ab. Für die Körperschaften bedeutet dies – der Theorie nach – die Beschränkung auf Selbstverwaltungsaufgaben und den Verzicht auf Interessenpolitik“ (Beck, W. 1998: 103).
Die Bundesärztekammer ist die Spitzenorganisation der ärztlichen Selbstverwaltung. Sie vertritt die berufspolitischen Interessen der Ärzt_innen. Neben diesen Zwangsgemeinschaften der ärztlichen Selbstverwaltung existieren freie Ärzteverbände, die jeweils eigene Interessenpolitik ausüben. In Deutschland haben die ärztlichen Standesorganisationen berufspolitisch bezogen auf die ärztliche Selbstverwaltung und Selbstkontrolle einen besonderen Status erlangt. Diese kontrollieren den Zugang zum Beruf sowie die Berufsausübung, und sie legen zudem berufsständische Prinzipien und Regularien fest. So sind auch die Methoden der Reproduktionsmedizin und die Behandlung mit Spendersamen, wie schon dargestellt, in Deutschland außer durch die bundesgesetzlichen Vorgaben wie dem Embryonenschutzgesetz (ESchG) vor allem durch das ärztliche Standesrecht reguliert. 34 In Nordrhein-Westfalen sind zwei getrennte Ärztekammern für die Landesteile Nordrhein und Westfalen-Lippe zuständig. 35 Die Kammergesetze sind verfügbar unter: http://www.kammerrecht.de/kammer gesetze/berufskammern.html#Heilberufskammern [27.04.2018].
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„Sieht man das ärztliche Berufsrecht als Inbegriff der Normen an, die in irgendeiner Form die Ausübung des Arztberufes regeln, so läßt sich das ärztliche Standesrecht als Teil dieses Inbegriffs der Normen insofern vom übrigen Berufsrecht abgrenzen, als es die von den Standesvertretungen der Ärzte selbst geschaffenen Regeln enthält, an deren Setzungen die Standesmitglieder, die Standesorganisationen oder die mit Standesangehörigen besetzten Gremien direkt und maßgeblich beteiligt sind“ (Müller-Götzmann 2009: 291).
Jochen Taupitz (1991) umschreibt das Standesrecht als das eigene Recht des Standes, gesetzt durch den Stand. „Demgegenüber handelt es sich beim (übrigen) Berufsrecht um Regelungen, die von außen, und zwar von der staatlich verfaßten Rechtsgemeinschaft, an den Stand herangetragen werden“ (ebd.: 158f.). Die Setzung des ärztlichen Standesrechts ist Aufgabe der Landesärztekammern (LÄK). Die LÄK haben die Befugnis, die Berufspflichten der Ärzteschaft in einer Berufsordnung festzulegen, dabei sind die jeweiligen Berufsordnungen rechtlich als Satzungen autonomer Berufsverbände zu charakterisieren und unmittelbar geltendes Recht. Auch enthalten sie die materiellen Regeln für die gesamte berufliche Betätigung der Ärzteschaft (vgl. Müller-Götzmann 2009: 291). Bei Verstößen können im Rahmen berufsgerichtlicher Verfahren Sanktionen verhängt werden. Die erarbeiteten Musterregelwerke der Bundesärztekammer (BÄK) sind im Gegensatz zum Satzungsrecht der LÄK nicht rechtsverbindlich. Jedoch haben die von der BÄK vorlegte „(Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte“ (MBO)36 und die von der BÄK herausgegebenen (Muster-)Richtlinien erheblichen Einfluss auf die Rechtssetzung der Landesärztekammern. Die meisten LÄK transformieren diese in wesentlichen Teilen oder übernehmen sie sogar vollinhaltlich (vgl. ebd.: 292). Die Weiterbildungsordnung stellt dabei einen Teil der Berufsordnung dar. Mit der Weiterbildungsordnung obliegt den LÄK uneingeschränkte Gestaltungsfreiheit für die weitere Qualifikation der Ärzteschaft. Hier wird entschieden, welche Facharztrichtungen anerkannt werden und welche Voraussetzungen zum Erwerb von Facharztbezeichnungen, Zusatzbezeichnungen und anderer Qualifikationen notwendig sind (Beck, W. 1998: 107).
36 Die aktuelle „(Muster-)Berufsordnung“ ist auf der Website der Bundesärztekammer abrufbar: http://www.bundesaerztekammer.de/recht/berufsrecht/musterberufsordnung-aerzte/muster-berufsordnung/ [27.04.2018].
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Aktuelle Entwicklungen medizinischer Professionalisierung Die Medizin kann heutzutage als zentraler Akteur im Gesundheitswesen beschrieben werden, dessen gesellschaftlicher Einfluss vielfältig und oftmals signifikant ist (Mixa 2000). Sie hat ohne Zweifel den Status einer Profession. Dies bedeutet allerdings nicht, dass dieser Status unabänderlich ist, und so existieren auch gegenläufige Entwicklungen. Wie aufgezeigt, ist der medizinische Komplex ein Ort vieler und vielschichtiger Prozesse, von denen manche scheinbar auch zur „Deprofessionalisierung“ der Medizin beitragen. Nach dieser These übt der Bedeutungszuwachs anderer, neuer und nicht-ständischer Organisationen im Gesundheitswesen nachhaltig Druck auf die Position und den Stellenwert der ärztlichen Verfasstheit aus. Ob damit wirklich eine tiefgreifende Deprofessionalisierung des Arztberufs einhergeht, ist allerdings umstritten. Unzweifelhaft steht fest, dass die Medizin auch heute noch das Deutungsmonopol in medizinischen Fragen beansprucht. So liegt die Definitionsmacht für die Bewertung biologischer Prozesse bei der medizinischen Profession, auch wenn es gegenläufige Tendenzen gibt (vgl. Kolip 2000: 9). Gegenwärtig kommt dem Arztberuf hohes Prestige und Ansehen zu, was sich anhand der „Allensbacher Berufsprestige-Skala“ eindeutig und wiederholt zeigt.37 So errang der Arztberuf dort etwa 2013 mit Abstand das höchste Berufsprestige. Der Arztberuf wird von 76 Prozent der Bevölkerung als der Beruf angesehen, vor dem sie am meisten Achtung haben. Elisabeth Mixa (2000) führt aus, dass nicht nur die Anerkennung von Mediziner_innen hoch ist, sondern dass sich entsprechend auch der Einfluss auf andere Berufe des Gesundheitssystems als bemerkenswert bezeichnen lässt (vgl. ebd.: 233). Deutlich wird hier die Medizin als ein zentraler gesellschaftlicher Akteur. Auch wenn die aktuellen Entwicklungen in der Medizin und die Relevanz von Professionalität kontrovers diskutiert werden können ist mit Ellen Kuhlmann (2003) davon auszugehen, dass die Professionen und darunter insbesondere die Medizin eine Schlüsselstellung in gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen einnehmen (vgl. ebd.: 51). In diesem Zusammenhang spricht die Autorin auch von der „diskursiven Macht der Professionalität“. 37 Das Institut für Demoskopie Allensbach ermittelt seit 1966 regelmäßig Ansehen und Achtung ausgewählter Berufe. Von Anfang an war der Arztberuf unangefochten die Nummer Eins im Ranking (https://fowid.de/meldung/berufsprestige2013-2016-node3302 [27.04.2018]).
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„Professionelles Handeln ist kein stabiles und objektives Merkmal eines Individuums, sondern muss kontextspezifisch hergestellt werden. Hierdurch wird die Definition von Professionalität insgesamt flexibler und pluraler. Die diskursive Macht der Professionalität verliert nicht ihre Relevanz, sie wird auf neue Aufgabenfelder und Berufsgruppen wie das Management und Gesundheitsberufe ausgeweitet. In diesen Prozessen wird neu verhandelt, was als professionell gilt“ (ebd.: 58).
Kuhlmann (2003) merkt an, dass Entwicklungen im Gesundheitswesen durch eine zunehmende Pluralisierung von Differenzierungslinien sowie vielschichtigen Vermittlungen von professions- und marktbezogenen Regulierungsmechanismen durchzogen sind. Betont wird die kontextspezifische Bedeutung und die mögliche Flexibilität und soziale Konstruktion von Professionen. Nachdem die Entwicklungslinien der modernen Medizin nachgezeichnet sind und die diversen Prozesse und Etappen der medizinischen Professionalisierung dargestellt wurden, soll sich nun der Blick auf medikalisierungstheoretische Ansätze richten. Nach Huerkamp (1985) bildet die Medikalisierung der Bevölkerung ein notwendiges Pedant zum Professionalisierungsprozess der Ärzteschaft (vgl. ebd.: 12).
(BIO-)MEDIKALISIERUNG: PROZESSE DER AUSWEITUNG MEDIZINISCHER ZUSTÄNDIGKEIT „to make it medical“ (Conrad 2007: 5).
Medikalisierung wird als ein professionspolitischer Prozess herausgestellt (vgl. Stollberg 2001: 29). Um die Dynamiken, die mit dem Aufkommen von neuen medizinischen Behandlungsmethoden wie den Techniken der assistierten Reproduktion einhergehen, als umfassende gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu verdeutlichen, wird im Folgenden das Konzept der Medikalisierung diskutiert. Wie aufgezeigt, ist seit dem 19. Jahrhunderts eine Etablierung und Professionalisierung der Medizin zu beobachten, in deren Verlauf das Wissen, das durch die Medizin generiert wurde, signifikant an Bedeutung gewann. Während also alternative Heilverfahren zu-
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rückgedrängt worden sind, ist gleichzeitig auch ein Bedeutungszuwachs von medizinischen Konzepten für die Gesellschaft zu verzeichnen gewesen. Der Einfluss der Medizin und medizinischer Konzepte hat innerhalb der letzten Jahrzehnte enorm zugenommen. Adele Clarke et al. (2003) stellen heraus, dass das Ausweiten von medizinischen Zuständigkeiten als „one of the most potent transformations of the last half of the twentieth century in the West“ gedeutet werden kann (ebd.: 161). In zunehmendem Maße sind Aspekte des menschlichen Lebens, die vormals außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Medizin lagen, in medizinische Problemen transformiert und medizinischen Interventionen unterworfen worden. Zum Konzept der Medikalisierung Erste Arbeiten zu Medikalisierung erschienen in den späten 1960er und den 1970er Jahren. Im englischsprachigen Raum und insbesondere in den USA bildete sich in der Folge eine eigene Forschungstradition heraus, mit der von Anfang an auch Kontroversen verbunden gewesen sind (vgl. Peter/ Neubert 2016: 273ff.).38 Zunächst fanden Untersuchungen zum Themenkomplex Medikalisierung und Devianz (u. a. Conrad 1975) sowie zum Zusammenhang von Medikalisierung und sozialer Kontrolle statt (u. a. Illich 1975; Zola 1972). Für die Frauen- und Geschlechterforschung sowie die Frauengesundheitsbewegung sind Zusammenhänge von Medizin, Gesellschaft und Geschlecht und die Problematisierung der geschlechtsspezifischen Medikalisierung schon immer eines der zentralen Themen gewesen. Bis zur Gegenwart sind eine Vielzahl von Akteur_innen identifiziert worden, die am Prozess der Medikalisierung beteiligt sind, unter ihnen die Ärzteschaft, soziale Bewegungen, Patient_innenorganisationen, Selbsthilfegruppen und nicht zuletzt die Pharmaindustrie (vgl. Kolip/Lademann 2010: 10). Verschiedene gesellschaftliche Gruppen waren und sind von Prozessen der Medikalisierung in sehr unterschiedlicher Art und Weise betroffen. Aus einer gesundheitswissenschaftlichen kritischen Perspektive ist mit diesem Konzept herausgestellt worden, wie immer mehr körperliche Phänomene in verschiedenen Lebensphasen – etwa Umbruchphasen im Leben von Frauen wie Pu38 Zur Kritik dieses Konzepts und der Gefahr einseitiger Sichtweisen und Komplexitätsreduktion siehe u. a. Peter Conrad (2007) und Nikolas Rose (2007) wie auch eine Zusammenfassung der Pro- und Contra-Argumente des Medikalisierungsansatzes von Claudia Peter und Carolin Neubert (2016).
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bertät, Schwangerschaft, Geburt und Wechseljahre – normiert, reguliert sowie pathologisiert und medizinischer professioneller Behandlung unterstellt worden sind (vgl. Kolip 2000: 18ff.). Auch die Konstruktion vergeschlechtlichter Körper in der Wissenschaft, so auch die des Frauen- und die des Männerkörpers, hat im Fokus verschiedener Analysen gestanden (u. a. Oudshoorn 1994, 2002, 2003). Thorsten Wöllmann (2004) konstatiert eine „asymmetrische Medikalisierung“ der Geschlechter und geht der Entstehung des medizinischen Fachgebietes der Andrologie nach, welches sich auf den männliche Körper spezialisiert und sukzessive als medizinische Teildisziplin ausdifferenziert hat. Deutschsprachige Forschungen zu Medikalisierung aus historischer Perspektive sind etwa die Arbeiten von Ute Frevert (1984) und Franzisca Loetz (1993). Frevert (1984) hat Krankheit eindrücklich als politisches Phänomen herausgestellt. Loetz (1993) betont die enge Beziehung von Professionalisierung der Medizin und Medikalisierung. Diese sei nicht einseitig „von oben“ erzwungen, sondern vielmehr ein wechselseitiger Vorgang, an dem verschiedene Gruppierungen in der Verfolgung ihrer jeweiligen Interessen beteiligt waren. Die Bevölkerung sei also kein passives Objekt der Medizin. Folglich könne von Medikalisierung im Sinne einer „medizinischen Vergesellschaftung“ gesprochen werden. Medikalisierung sei ein Prozess, „der auch ,von unten nach oben‘, über gesellschaftliche und persönliche Wechselwirkungen, mitbestimmt wurde“ (ebd.: 303). Charlotte Ullrich (2012) geht in ihrer ethnographische Studie zur reproduktionsmedizinischen Praxis davon aus, „dass sich die immer selbstverständlichere Inanspruchnahme der Reproduktionsmedizin zur Erfüllung des lebensweltlichen Wunsches nach einem eigenen Kind nicht nur auf eine Interessendurchsetzung der Medizin oder einen medizinischen Imperialismus zurückführen lässt“ (ebd.: 13). Die Etablierung der Reproduktionsmedizin sei sowohl Ausdruck als auch Motor eines gesellschaftlichen Wandels, mit dem diese zugleich untrennbar verbunden erscheine (vgl. ebd.: 13). Peter Conrad (2007) definiert Medikalisierung als Prozess, „by which nonmedical problems become defined and treated as medical problems, usually in the terms of illness and disorders” (ebd.: 4). Als Schlüssel hierzu erscheint die medizinische Definition, also die Benennung und in ihrer Folge die Behandlung von Problemen als medizinische Probleme. Medikalisierung kann als Ausweitung medizinischer Zuständigkeit begriffen werden, in deren Vollzug immer mehr Lebensbereiche, die vormals außerhalb der medizinischen Einflusssphäre lagen, als medizinisch definiert werden. Nach Conrad (2007) verlaufen diese Prozesse komplex, mehrdimensional
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und auch teilweise widersprüchlich. So könne etwa einem Verhalten, das vormals als unmoralisch, sündhaft oder kriminell definiert wurde, medizinische Bedeutung zugeschrieben und dahingehend umgedeutet werden. Peter Conrad und Joseph W. Schneider (1992) benennen dies als „from badness to sickness“, beispielsweise ist Alkoholismus sukzessive nicht mehr als Sünde oder schlechte Eigenschaft sondern als Krankheit konzeptualisiert worden. Hieran zeigt Conrad (2007), dass nicht die Medizin alleiniger Akteur der Medikalisierung ist – Triebkraft sei wesentlich eine soziale Bewegung, die Anonymen Alkoholiker, gewesen. Die von dieser Organisation hervorgebrachte Sicht auf Alkoholismus als Krankheit sei erst sehr viel später auch von der Medizin eingenommen worden (vgl. ebd.: 7). Medikalisierung könne zudem sehr verschieden ausgeprägt sein. Manche Phänomene, wie etwa die Geburt – zumindest wenn sie im Krankenhaus erfolgt – erscheinen als voll medikalisiert, andere, wie etwa die Menopause, als partiell medikalisiert und wieder andere als wenig medikalisiert (vgl. ebd.: 6f.). Auch würden verschiedene Definitionen von Art und Ausmaß der Medikalisierung koexistieren. Und vormals als medizinisch angesehene Probleme können der medizinischen Zuständigkeit auch wieder entgleiten. Im Prozess der Demedikalisierung seien etwa in der westlichen Medizin z. b. Masturbation und Homosexualität ab einem gewissen Zeitpunkt nicht länger in medizinischen Begrifflichkeiten definiert worden. Medikalisierungsentwicklungen stellen sich somit nicht linear und irreversibel, sondern „bidirectional“ dar (ebd.: 7). Als Einflussfaktoren stellt Conrad (2007) Kontextbedingungen heraus, deren Erfüllungsgrad im gesellschaftlichen und historischen Kontext variiert. Zu den unterstützenden Faktoren dieses Prozesses zählen: • die Beteiligung durch die medizinische Profession • die Entdeckung neuer Ursachenzusammenhänge • die Existenz und der Nutzen medizinischer Möglichkeiten der Behand-
lung • die Absicherung durch eine Krankenversicherung • die Verbreitung der neuen medizinischen Definition durch andere
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Als hemmende Faktoren gelten: • • • • •
in Konkurrenz zueinander stehende Definitionen hohe Kosten für die medizinische Behandlung inklusive Diagnostik Mangel an Finanzierungsoptionen Zweifel am Nutzen keine bzw. geringe Unterstützung durch die medizinische Profession (vgl. ebd.: 7).
Zusammenfassend zeigt sich, dass es keine einheitliche und generalisierende Verwendungsweise des Medikalisierungskonzepts für die Analyse komplexer Prozesse in Medizin und Gesellschaft geben kann. Somit kann Medikalisierung der vorliegenden Arbeit eher als Arbeitskonzept denn als theoretische Basis dienen. Medikalisierung reicht nicht zur Beschreibung und Erklärung aus. Zuzustimmen ist Nikolas Rose (2007), der hervorhebt, dass die Bezeichnung der Medikalisierung nicht das Ergebnis einer Analyse darstellen kann sondern nur den Startpunkt, „a sign of the need for an analysis (ebd.: 702). Zum Konzept der Biomedikalisierung Von Adele Clarke und ihrer Arbeitsgruppe wurden das Konzept der Medikalisierung erweitert und der Begriff der „Biomedikalisierung“ eingeführt, um verschiedene neuere Entwicklungen zu beschreiben (Clarke et al. 2003, 2010a, 2010b). Diese sind auch für die Beschreibung der Entwicklungen auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin von Relevanz. Clarke et al. (2003) haben dafür drei historische Etappen identifiziert: der Aufstieg der westlichen Medizin von 1890–1945, die Medikalisierung von 1940–1990 und die Biomedikalisierung ab dem Jahr 1985 bis dato (ebd.: 163ff.). „Then, beginning about 1985, we suggest, the nature of medicalization itself began to change as technoscientific innovations and associated new social forms began to transform biomedicine from the inside out“ (ebd.: 164).
Insbesondere seit Mitte der 1980er Jahre sei eine Wandlung der Medikalisierung auszumachen, die auch für das Aufkommen der Reproduktionsmedizin und ihrer Behandlungsmethoden von Bedeutung ist. In deren Verlauf hat sich Medikalisierung zu Biomedikalisierung gewandelt und damit sei
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statt der Kontrolle über biomedizinische Phänomene deren Transformation in den Fokus geraten. „Biomedicalization is our term for the increasingly complex, multisited, multidirectional processes of medicalization that today are being both extended and reconstituted through the emergent social forms and practices of a highly and increasingly technoscientific biomedicine“ (Clarke et al. 2010b: 47).
Fünf interaktive Prozesse, die sich wechselseitig bedingen und aufeinander wirken, gelten als ausschlaggebend für Biomedikalisierung: • Eine neue biopolitische Ökonomie der Medizin, der Gesundheit, der
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• • •
Krankheit und des Lebens und Sterbens „which forms an increasingly dense and elaborate arena in which biomedicine knowledges, technologies, services, and capital are ever more co-constituted (Clarke et al. 2010a: 1). Ein neuer und intensivierter Fokus auf Gesundheit und die Entwicklung biomedizinischer Technologien zur Einschätzung von Risiken und zu Kontrollzwecken. Die zunehmend aufkommenden technowissenschaftlicher Praktiken der Biomedizin. Die Transformation biomedizischer Wissensproduktion. Die Transformation von Körpern und neuen Eigenschaften sowie individuellen oder auch kollektiven Identitäten.
Diese Prozesse sind durch das Aufkommen neuer Möglichkeiten, durch technische Neuerungen medizinischer Interventionen begleitet. „Bio“ soll dabei die Transformation des Menschlichen wie auch des Nicht-Menschlichen durch die Möglichkeit technowissenschaftlicher Innovationen in den Biotechnologien, der Molekularbiologie, der Genetik, der Transplantationsmedizin und anderen neuen medizinischen Technologien wie etwa den Reproduktionstechnologien signalisieren (vgl. 2010b: 47). Clarke et al. (2010b) betonen die Auswirkungen der Biomedizin auf die Formation von Identitäten. Durch biomedizinische Interventionen können Identitäten ermöglicht werden, die vorher unerreichbar für bestimmte Gruppen waren. So erlaube die Behandlung von Unfruchtbarkeit „Mutter“ oder „Vater“ zu werden. Die Identität der Unfruchtbarkeit könne auch von lesbischen Frauen und Single Frauen strategisch genutzt werden, um eine Schwangerschaft
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durch technowissenschaftliche Behandlungsansätze zu erreichen (vgl. ebd.: 81). Diese Sichtweise auf neue Formen auch der ökonomischen Verfügbarmachung von Körpersubstanzen beschreibt etwa Charis Thompson (2005) in ihrer Arbeit zu Reproduktionstechnologien mit ihrem Konzept des „biomedical mode of reproduction“. Entgegengestellt werden hierbei Aspekte eines kapitalistischen Modus der Produktion in Anlehnung an Karl Marx (1962) zu den möglichen Veränderungen des biomedizinischen Modus der Reproduktion. Für Zeiten wachsender biomedizinischer Ökonomie stellt Thompson (2005) fünf relevante Verschiebungen heraus. Zunächst sei mit einer Verschiebung von der Produktion zur Reproduktion eine Verschiebung der Arbeit Einzelner, die Profit produzieren, hin zu den Körpern Einzelner, die Profit produzieren, verbunden: „[...] where once labor produced things that make profit, and workers could be alienated from the profits of their labor, now bodies reproduce things that make profit, and bodies can be alienated from the profits of their reproduction” (ebd.: 11).
Zudem komme es zu einer Verschiebung in den Vorstellungen ökonomischer Zielvorgaben. Während im kapitalistischen Modus der Produktion die Maximierung von Effizienz und Produktivität im Zentrum stehe, verschiebe sich dies nun zu Kategorien von Erfolg und Reproduktivität biomedizinischer Prozeduren. Weiter sei eine Veränderung bei der Produktion von Abfällen zu beobachten. So stelle sich in der kapitalistischer Produktion Müllund Abfallbeseitigung als physikalisches Problem dar. In der Bioproduktion jedoch werde schon die Bestimmung von Abfall zu einer ethischen Frage. Für die biomedizinische Ökonomie gehe es darüber hinaus gerade um Verfügung über diese „reproduktive by-products“ von Organen über Leichen bis hin zu Embryonen (ebd.: 11). Auch sei eine Verschiebung weg von klassischer Kapitalakkumulation hin zu „capital promissory“ gegeben: „I argue that for biomedicine, capital has a constitutively promissory core, depending on such things as the reproduction of life, and the development of future cures, rather than capital being accumulated, as is more typical in capitalist enterprises” (ebd.: 11f.).
Thompson (2005) betont, dass ihr Konzept des „biomedical mode of reproduction“ eben nicht beinhaltet, dass der Kapitalismus abgelöst wird und damit das Ende einer historischen Epoche gemeint ist. Die von ihr heraus-
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gestellten Phänomene „appear to coexist comfortably with capitalist modes of production, even where the differences are striking“ (ebd.: 247). Nach Susanne Lettow (2012) gehen in dieser Sichtweise auf Bioökonomien39 „Produktion“ und „Reproduktion“ ineinander über. So würden lebende Körper in Prozesse einbezogen, welche auf die Herstellung und Wiederherstellung von Körpern und Körperstoffen zielen (vgl. ebd.: 8). Hierbei gehe es um bioökonomische Strategien, welche sich auf eine Bewirtschaftung sowohl menschlicher als auch nicht-menschlicher Körper richten würden. Einzelne bioökonomische Praktiken und Prozesse zeichnen sich durch verschiedene soziale Ebenen aus, es scheinen sich „unterschiedliche Formen der Produktion, Zirkulation und Konsumtion von Bio-Objekten zu überlagern. So geht es zweifelsohne vielfach um Prozesse der Kommodifizierung, also der In-Wert-Setzung von Gegenständen und Praxen“ (ebd.: 9). Aus dieser Perspektive bezieht sich „Biokapitalismus“ auf gesellschaftliche Prozesse der kapitalistischen Inwertsetzung von Körperstoffen und thematisiert die Zusammenhänge von Kapitalismus und Biopolitik. Lettow (2012) stellt die Veränderungen in den bioökonomischen Prozessen der Gegenwart heraus, „die kulturellen und gesellschaftlichen Gefüge, in denen zirkulationsfähige Bio-Objekte allererst hervorgebracht werden und damit auch neuen Subjektpositionen wie die ,Eizellverkäuferin‘, der ,Organempfänger‘, der ,Samenspender‘ usw.“ (ebd.: 11). Verändern würden sich Körperund Selbstverhältnisse nebst Vorstellungen über die geschlechtlichen sowie die gesellschaftlichen Körper, die Fortpflanzungs- und die Verwandtschaftsverhältnisse – und damit, so soll an dieser Stelle hinzugefügt werden – auch Vorstellungen von als sozial und natürlich gedachten Beziehungen wie Elternschaft.
39 Für eine zusammenfassende Diskussion der unterschiedlichen Auflassungen, was mit Bioökonomie bzw. Biokapitalismus gemeint ist, siehe u. a. Susanne Lettow (2015). Für eine kritische Diskussion aktueller Auffassungen von Bioökonomie siehe auch Lars Thorup Larsen (2012).
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NORMALISIERUNG UND BIOMACHT: PROZESSE DER HERSTELLUNG VON NORMALITÄT UND ABWEICHUNG „Eine Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie“ (Foucault 1991: 172).
Sozialwissenschaftliche Forschungen zu Normalisierung im weitesten Sinne beschäftigen sich ganz allgemein formuliert mit Prozessen, die zur Herstellung von Normalität und Abweichung beitragen. Mit Bezug auf Foucault beschreiben Werner Sohn und Herbert Mehrtens (1999) „Normalität“ als etwas historisch Gewordenes. Die modernen Gesellschaften, wie sie ab dem 18. Jahrhundert entstanden sind, können mit Foucault als Normalisierungsgesellschaften in den Blick genommen werden. „Normen und Normalität wurden herausgebildet und mit ihnen Abweichungen und Abnormitäten. In den Jahrzehnten um 1900, einer Zeit von Fortschrittsoptimismus und Verfallsangst, scheint es eine Intensivierung und Differenzierung derartiger Normalisierung zu geben“ (ebd.: 7). „Normalisierungsgesellschaft“ soll hier nicht als das dominante Vergesellschaftungsprinzip verstanden werden. Johannes Stehr (2007) problematisiert die dabei zum Ausdruck kommende Verabsolutierung einer spezifischen Herrschaftstechnik. Technologien der Macht, wie auch Normalisierungen, können als Typen konzipiert werden, deren teils widersprüchliches Verhältnis erst die jeweilige Gesellschaftsform ausmache (vgl. ebd.: 29). Die Ausführungen zu Normalisierung dienen also nicht dazu, „Gegenwart auf einen Begriff zu bringen“ (Bröckling et al. 2004: 9), sondern sollen im Sinne von Ulrich Bröckling et al. (2004) als eine Rationalität und Technologie untersucht werden, die Gesellschaft als Einheit überhaupt erst denkbar und praktisch herstellbar macht. Eine Analyseperspektive auf die Gesellschaft und ihre soziale Ordnung, die von „Mikrotechniken und vielfältigen Denkweisen, die sich zu ,Makrostrukturen‘ und Diskursen verdichten und verstetigen“ ausgeht (ebd.: 9). Im Folgenden wird der Begriff der Normalisierung beschrieben und seine historischen und theoretischen Implikationen erörtert. Im Anschluss werden dann die Begrifflichkeit der Biomacht im Sinne Foucaults näher bestimmt und schließlich Zusammenhänge von Prozessen der Normalisierung mit Sexualität und Geschlecht thematisiert.
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Zum Begriff der Normalisierung „So inflationär die Verwendung des Normalitätsbegriffs, so unscharf seine Bedeutung“ (Waldschmidt 2004: 190).
Etymologisch wird das Substantiv der „Norm“ von dem lateinischen Wort „norma“ hergeleitet, welches Winkelmaß, Richtschnur, Regel bedeutet, ein ursprünglich in der antiken Bautechnik verwendeter Begriff, der schon bald auf geistige und juristische Problemstellungen übertragen wurde (Bräuer 2003: 498). Auf eine enge Verwandtschaft zwischen Norm und Normalität verweist die Begriffsgeschichte. Das Adjektiv „normal“ wurde erst im 18. Jahrhundert gebräuchlich und das Verb „normalisieren“ erst Anfang des 20. Jahrhunderts (Waldschmidt 2004: 191). Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts sind in den Enzyklopädien dann aber rasant zunehmend die Lemmata „Normal“, „Normalität“ und auch „Normalisierung“ aufgetaucht, dies geschah zunächst eher beiläufig (Link 1997: 185). Georges Canguilhem (1974) zeigt in seiner Studie „Das Normale und das Pathologische“, dass „das Normale“ bzw. die Normalitätssemantik sich als moderner Terminus in Frankreich mit der französischen Revolution und mit der Reform des Erziehungs- und Gesundheitswesens verbreitet hat. Anne Waldschmidt (2004) stellt im Rekurs auf Canguilhelm heraus, dass hier mit „Normalität“ diejenigen Begebenheiten in Zusammenhang gebracht worden sind, die zum Einen den Prototyp der französischen Schule (ecole normale) wie zum Anderen auch das Konzept eines organischen Gesundheitszustands bezeichneten. Von hier gelangte der Begriff des Normalen sukzessive Eingang in die Alltagssprache. Hintergrund von Schulreform und Krankenhaus sei die Forderung der Aufklärung nach Rationalisierung der Lebensbereiche gewesen (vgl. ebd: 191). Die Studien Canguilhems bilden nach Jürgen Link (1997) die Grundlage jeder theoretischen und historischen Beschäftigung mit Normalismus, so finden sich dort alle einschlägigen Kategorien wie Gleichgewicht, Homöostase, Durchschnitt, Gaußverteilung bis hin zu Dispositiv im Zusammenhang mit dem Normalitätskonzept entwickelt (vgl. ebd.: 126). Die Sichtweise auf die Etymologie verleite dazu, so Waldschmidt (2004), soziale, technische und statistische Normen gleichzusetzen und Normalität als Ausdruck normativer Ordnung zu sehen. Jedoch würden bei der Rede vom Normalen zwei Bedeutungsebenen aufeinandertreffen: Nor-
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malität meine in qualitativer Hinsicht die einer Norm entsprechenden Eigenschaft wie auch in quantitativer Hinsicht die Verteilung von bestimmten Merkmalen im Mittelbereich einer statistischen Normalverteilung. Dementsprechend beziehe sich Normalität zum einen auf Regelgerechtheit und zum anderen auf Regelmäßigkeit und beinhalte eine präskriptive und eine deskriptive Dimension. Normalität erscheine nicht als äußerer Zwang, sondern müsse als unbestimmter Referenzpunkt immer wieder neu hergestellt werden (vgl. ebd.: 191f.). „In der Gegenwartsgesellschaft wird vom Individuum zwar immer noch erwartet, sich Normen anzupassen, deren Einhaltung Institutionen und Organisationen wie Justiz, Polizei, Medizin oder Sozialarbeit kontrollieren. Zusätzlich allerdings sind wir mehr und mehr konfrontiert mit Managementtechniken und Selbsttechnologien, die auf der suggestiven Kraft der flexiblen Normalität basieren“ (Waldschmidt 2005: 193f.).
Normalistische Strategien in der Gegenwartsgesellschaft Mit Bezug auf Georges Canguilhem und Michel Foucault zeigt Jürgen Link (1997) auf, wie sich „Normalität“ seit dem 18. Jahrhundert schubweise entwickelt hat, dies auch in der Medizin. In seiner diskurstheoretischen Studie „Versuch über den Normalismus“ wird Normalität als eine spezifische diskurstragende Kategorie herausgestellt. Diese sind nicht als isolierte, einzelne Worte zu verstehen, „sondern ganze semantische Komplexe einschließlich ihrer Praxisbezüge, wiederum vergleichbar mit kreuzweise angeordneten Stahlteilen in Beton“ (ebd.: 15). Link (1997) stellt die Unterscheidung von Normativität und Normalität heraus, indem er betont, dass alle menschlichen Gesellschaften Normativität besessen haben – als explizite oder implizite Regulative. Normalität existiere historisch erst ab dem 18. Jahrhundert, seit es „verdatete Gesellschaften“ gäbe. Infolgedessen schlägt Link (2008) vor, „die Gesamtheit dieser statistischen Verfahren, durch die diese Art der Normalität [...] zustande gebracht wird, eingeschränkt als ,Normalismus‘ zu bezeichnen“ (ebd.: 63). Zwei entgegengesetzte normalistische Spielarten seien dabei sowohl systematisch als auch historisch auszumachen: als „protonormalistische Strategie“ ist die historisch ältere Strategie zu bezeichnen, welche zu Beginn zunächst dominierte. Diese wirkte im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Etablierung fixer und stabiler Norma-
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litätsgrenzen über einen möglichst langen Zeitraum und mit eng gefassten Toleranzzonen. Als Beispiel für solch einen eng definierten Normalbereich gelte etwa die ausschließliche Beschränkung auf „familialistische Heterosexualität“ (Link 2008: 65). Hierbei gehe es um die Konstitution von klar umrissenen Unterschieden zwischen dem Normalen und dem Nicht-Normalen, Abweichenden. Die Überschreitung von Grenzen solle verhindert und Positionen Stabilität verliehen werden. Anders verhalte es sich bei der zweiten und entgegengesetzten Strategie des „flexiblen Normalismus“, mit der die Zonen der Normalität eher Expansionstendenzen unterworfen würden: „In der globalisierten Moderne scheint Normalismus vor allem die Funktion zu ha ben, das Problem der Dynamik zu managen. Einerseits gilt es, Fortschritt herzustellen und zu ermöglichen, gleichzeitig muß dieser auch immer wieder gebremst, auf ein vertretbares Maß zurückgeführt werden. Er darf jedenfalls nicht in einer Rasanz enden, die aus dem Ruder gerät und nicht mehr zu steuern ist. Die Notwendigkeit moderner Gesellschaft, den beschleunigten sozialen Wandel sowohl zu gewährleisten wie auch einzudämmen, hat offenbar zu zwei gegensätzlichen normalistischen Strategien geführt“ (Waldschmidt 1998: 12).
Gegensätzlich also zur älteren protonormalistischen Strategie werden die Normalitätsgrenzen beim flexiblen Normalismus entsprechend beweglicher. Sie haben für kürzere Zeiträume Bestand und sind mit geweiteten Toleranzbereichen ausgestattet – die Zonen der Normalität werden expansiv ausgedehnt. Unterschiede zwischen dem Normalen und dem Nicht-Normalen werden unscharf und durchlässiger konstituiert. Die Festlegung der Normalitätsgrenze gestalte sich in der Weise schwierig, da so viel inkludiert werden solle, wie möglich, und dennoch eine Grenze zu ziehen sei, „da sonst das normalistische Modell insgesamt kollabieren würde“ (Link 2008: 67). Auch für den flexiblen Normalismus erscheinen also Normaliätsgrenzen konstitutiv. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts spiele der Protonormalismus eine eher marginale Rolle und flexiblere normalistische Strategien herrschten vor. Dabei würden die verschwimmenden Grenzen zwischen dem Normalen und dem Abweichenden das Risiko entstehender Verunsicherungen bergen. Link (1997) betont, dass es sich bei den beiden Strategien um idealtypisch konstruierte polare Strategietypen handelt, die beide im Feld des Normalismus operieren. „Prinzipiell können beide Strategien kombiniert bzw. wechselnd und partiell eingesetzt werden“ (ebd.: 81).
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Normalisierungsgesellschaft und Biomacht Werner Sohn (1999) stellt heraus, wie sich Normalitäten und Abweichungen bzw. Abnormalitäten historisch herausgebildet haben und wie im 19. Jahrhundert zu einer Intensivierung und Differenzierung derartiger Normalisierungen kam. Normalität bilde dabei „ein weitgehend selbstverständliches Orientierungs- und Handlungsraster und wird bisweilen auch als das ,Natürliche‘ oder das ,Naturgemäße‘ verstanden“ (ebd.: 9). Dem folgend kann Normalität kaum als etwas Natürliches, Ursprüngliches aufgefasst werden, sondern vielmehr als „Effekt von spezifischen Ordnungstätigkeiten und normalisierenden, dabei häufig institutionalisierten Praktiken“ (ebd.: 10). Im 18. und frühen 19. Jahrhundert ist die Entstehung absolutistischer Zentralstaaten auch Ausgangspunkt neuer Verwaltungen, Technologien und Institutionen für die Regierung der Bevölkerung gewesen. Personale Machtbeziehungen sind zugunsten einer sich vereinheitlichenden und homogenisierenden Regierungsmacht zurückgedrängt worden. Dabei haben sich die Medizinalordungen und medizinalpolizeiliche Regulative in den deutschsprachigen Ländern dadurch ausgezeichnet, akademische Ärzte, Chirurgen, Bader und Hebammen mit je spezifischen Qualifikationen hervorzubringen und in das hierarchisch formierte Medizinalwesen einzusetzen (vgl. ebd.: 11). Hierbei erfolgten, wie im vorherigen Kapitel beschrieben, die Standardisierung medizinischer Ausbildung und die Festlegung und Ausweitung ärztlicher Zuständigkeiten. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts kam es zum Aufbau des Verwaltungsstaates, zur Urbanisierung und zur Industrialisierung. „[…] die Errichtung von Krankenhäusern, Irrenanstalten und Medizinalkollegia, der Ausbau der Polizei und Gefängnissen, die Bedeutung, die der Sexualität im medizinischen Diskurs und im Bürgertum zunehmend beigemessen wird (Masturbation, Zeugung, Schwangerschaft, Geburt), die Aufstellung von Hygieneregeln und Leitfäden für die gesunde Lebensführung, die zunehmende Durchführung der Pockenschutzimpfung etc., markieren die Tendenz zur Vereinahmung des Lebens durch die Macht und das Aufkommen von Normalisierungsgesellschaften“ (ebd.: 14).
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Um differenzierter zu erläutern, was unter dem „Aufkommen von Normalisierungsgesellschaften“ und was diesbezüglich unter Normalisierung 40, Macht, Disziplinierung und Regulierung zu verstehen ist, werden im Folgenden die verwendeten Begrifflichkeiten einer genaueren Betrachtung unterzogen und dazu theoretische Ausführungen Foucaults zur Biomacht 41 herangezogen. Biomacht meint dabei eine spezifische moderne Form der Ausübung von Macht. In Anschluss an Foucault haben eine Vielzahl von Autor_innen sich mit der Frage auseinandergesetzt, wie neue Erkenntnisse in den Biowissenschaften und die Anwendung von Technologien den Zugriff auf Lebensprozesse erweitern und letztlich auch den Begriff des Lebens entscheidend verändern (vgl. Lemke 2007: 119).42 Foucault (1991) beschreibt in „Der Wille zum Wissen“ mit dem Begriff der Biomacht eine neue Art von Machtmechanismus und stellt ihr die Souveränitätsmacht entgegen. Ein Charakteristikum der souveränen Macht stellt das Recht über Leben und Tod dar, sie funktioniert wesentlich über ein Zugriffsrecht. Seit dem 17. Jahrhundert ist diese Machtkonfiguration zunehmend von einer Macht überlagert worden, deren Bezug das Leben ist: „Man könnte sagen, das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen“ (ebd.: 165, Herv. i. O.). Diese Macht hat ihre Zugriffe auf das Leben selbst und seinen Ablauf gerichtet und ist auf Regulierung und Normalisierung ausgerichtet. Dies ging mit politischen und ökonomischen Veränderungen einher, wie der Steigerung industrieller und landwirtschaftlicher Produktionsraten und dem Wachstum medizinischen und wissenschaftlichen Wissens über den menschlichen Körper (vgl. Lemke 2007: 50). 40 In seiner Vorlesung zur Gouvernmentalität mit dem Titel „Sicherheit, Territorium, Bevölkerung“ differenziert Michel Foucault explizit zwischen Normativität, Normation und Normalisierung (Foucault 2004). Siehe dazu auch Isabell Lorey (2010). 41 Die Begriffe Biomacht und Biopolitik werden von Foucault nicht einheitlich gebraucht und verschieben sich in seinen Werken, siehe dazu Thomas Lemke (2007). 42 Lemke (2007) merkt an, dass Foucaults Begriff der Biopolitik an der Idee eines integralen und in sich geschlossenen und abgrenzbaren Körpers festhält. Die modernen Biotechnologien erlauben eine Zerlegung und Rekombination des Körpers und dies insbesondere in der Anwendung der Reproduktionstechnologien.
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Foucault beschreibt diese Machtform als „unerläßliches Element bei der Entwicklung des Kapitalismus, der ohne kontrollierte Einschaltung der Körper in die Produktionsapparate und ohne Anpassung der Bevölkerungsphänomene an die ökonomischen Prozesse nicht möglich gewesen wäre. Aber er hat noch mehr verlangt: Das Wachsen der Körper und der Bevölkerung“ (Foucault 1991: 168). Diese Macht entstand mit der Entwicklung ihrer zwei Hauptformen, die zwei durch ein Bündel von Zwischenbeziehungen verbundene Pole darstellen. „Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert“ (ebd.: 166).
Auf der einen Seite bildete sich der Pol der Disziplinierung des individuellen Körpers, der sich um den Körper als Maschine zentrierte, auf der anderen Seite stand der Gattungskörper im Fokus – die Regulierung der Bevölkerung. Seit dem 17. Jahrhundert entwickelte sich zunächst die Disziplinartechnologie, sie zielte auf die Dressur des individuellen Körpers, die Steigerung seiner Fähigkeiten und die Ausnutzung seiner Kräfte. Mitte des 18. Jahrhunderts bildete sich der zweite Pol als Machttechnologie heraus, die nicht auf individuelle Körper gerichtet war, sondern sich um den Gattungskörper zentrierte. Zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen der Bevölkerung wurden die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau und die Lebensdauer (vgl. ebd.: 166). Im Rahmen der Bevölkerungsregulierung ging es um Demographie, etwa das Sammeln entsprechender Daten über die Bevölkerung, statistische Erhebungen zu Lebensdauer und die Tabellierung von Reichtümern. Nicht Disziplinierung, sondern Regulierung und Kontrolle sind hier zentrale Elemente. Während im 18. Jahrhundert noch beide Entwicklungsstränge differenziert erschienen, hat sich im 19. Jahrhundert die Verknüpfung dieser Machtformen etwa mit dem Sexualitätsdispositiv vollzogen. Sexualität als Dispositiv bildet dabei eine Art Scharnier zwischen den Entwicklungsachsen der zwei Machtformen. Einerseits gehört sie zu den Disziplinen des Körpers und andererseits hängt sie mit der Bevölkerungsregulierung zusammen. „Der Sex eröffnet den Zugang sowohl zum Leben des Körpers wie auch zum Leben der Gattung. Er dient als Matrix der Disziplinen und als Prinzip der Regulierungen. Darum wird die Sexualität im 19. Jahrhundert bis ins kleinste Detail ihrer Existen-
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zen hinein verfolgt; man lauert ihr in den Verhaltensweisen auf und jagt nach ihr in den Träumen; man vermutet sie in den geringsten Verrücktheiten und verfolgt sie bis in die ersten Jahre der Kindheit zurück; sie wird zur Chiffre der Individualität: das, was zugleich ihre Analyse erlaubt und ihre Dressur ermöglicht“ (ebd.: 174).
Sexualität erscheint als „ein besonders dichter Durchgangspunkt für die Machtbeziehungen: zwischen Männern und Frauen, zwischen Jungen und Alten, zwischen Eltern und Nachkommenschaft, zwischen Erziehern und Zöglingen, zwischen Priestern und Laien, zwischen Verwaltungen und Bevölkerungen“ (ebd.: 125). Ergänzend kann noch hinzugefügt werden, dass sich Sexualität auch für Machtbeziehungen zwischen Mediziner_innen und ihren Patient_innen als dichter Durchgangspunkt konstituierte. Foucault hebt vier große strategische Komplexe und ihnen entsprechende Figuren hervor, welche seit dem 18. Jahrhundert spezifische Wissensund Machtdispositive um den Sex entfalten: • Hysterisierung des weiblichen Körpers: Der Körper der Frau galt und gilt
als von der Sexualität durchdrungen und disqualifiziert. Dies führte zu einer Medizinisierung des weiblichen Körpers, er wurde pathologisiert und der Medizin und insbesondere der Gynäkologie zugeordnet. Die „Mutter“ mit ihrem Negativbild der „nervösen Frau“ zeigt die sichtbarste Form der Hysterisierung (ebd.: 126). Dieser Komplex kreist um die Sicherung der zukünftigen Gesundheit des Gattungskörpers der Bevölkerung. • Pädagogisierung des kindlichen Sexes: Die sexuellen Betätigung des Kindes bzw. das „masturbierende Kind“ birgt physische und moralische, individuelle und kollektive Gefahren (ebd.: 126). • Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens: Soziale und steuerliche Maßnahmen sollen die Fruchtbarkeit des Paares als „familienplanendes Paar“ regulieren. Durch „Medizinische Sozialisierung“ wird den Praktiken der Geburtenkontrolle krankmachende und gefährdende Wirkung unterstellt (ebd.: 127). • Psychiatrisierung der perversen Lüste: Der sexuelle Instinkt funktioniert entweder normal und natürlich oder er ist als abweichend auszumachen und pervertiert. Der „perverse Erwachsene“ wird analysiert und soll korrigiert werden (ebd.: 127). Anhand dieser vier Komplexe werden Abweichungen benannt und diagnostiziert, dabei entwickeln sich auch Vorstellungen von Normalität und ihren Abweichungen. Der machtförmige Einfluss auf die Sexualität hat allerdings
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keinesfalls ihre Unterdrückung zum Ziel, vielmehr wird durch das Sexualitätsdispositiv Sexualität produziert. Auch Sexualität ist demzufolge etwas historisch Gewordenes. Sexualität „gehört zur Norm, zum Wissen, zum Leben, zum Sinn, zu den Disziplinen und Regulierungen“ (ebd.: 176). Dem Begriff der Norm kommt damit eine entscheidende Rolle zu. Foucault (1991) ermittelt eine wachsende Bedeutung, die das Funktionieren der Norm auf Kosten des juridischen Systems des Gesetzes gewinnt. So würde eine Macht, welche das Leben zu sichern hat, fortlaufender regulierender und korrigierender Mechanismen bedürfen, um das Lebende in einem Bereich von Wert und Nutzen zu organisieren (vgl. ebd.: 171). „Eine solche Macht muß eher qualifizieren, messen, abschätzen, abstufen, als sich in einem Ausbruch zu manifestieren. Statt die Grenzlinie zu ziehen, die die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Souveräns scheidet, richtet sie die Subjekte an der Norm aus, indem sie sie um diese herum anordnet. […] Eine Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnolo gie“ (ebd.: 172).
Normalisierung, (Hetero-)Sexualität und Geschlecht „Es ist an der Zeit über Sex nachzudenken“ (Rubin 2003: 31).
Foucaults Überlegungen zum Sexualitätsdispositiv sind in der Geschlechterforschung und Queer Theorie schon früh aufgegriffen, kritisiert und weiterentwickelt worden43. Teresa de Lauretis (1987) hat in ihrer Arbeit „Technology of Gender“ Foucaults Analysen zur Sexualität zum Startpunkt ihrer Analyse genommen: „A starting point may be to think of gender along the lines of Michel Foucault’s theory of sexuality as a ,technology of sex‘ and to propose that gender, too, both as rep resentation and self-representation, is the product of various social technolgies” (ebd.: 2).
43 Für eine Zusammenfassung zu queeren/queer-feministischen Auseinandersetzungen zu Geschlecht und Sexualität im Anschluss an Foucault siehe Antke Engel und Nina Schuster (2007).
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Auf die Arbeiten zum Sexualitätsdispositiv von Foucault hat sich auch Gayle Rubin (2003) bezogen und betont, dass moderne westliche Gesellschaften Sexualitäten und sexuelle Akte in hierarchische Ordnungssysteme integrieren.44 An deren Spitze stehe das heterosexuelle, verheiratete Paar, welches sich fortpflanzt und monogam lebt. In der Mitte befinden sich etwa stabile Langzeitbeziehungen homosexueller Paare und an ihrem unteren Ende Personen mit stigmatisierten und verachteten Formen der Sexualität wie u. a. Transsexuelle, Transvestiten und Sex-Arbeiter_innen. „Den Individuen, die einen Spitzenplatz in dieser Rangordnung besetzen, werden geistige Gesundheit, Achtbarkeit, Legalität, soziale und körperliche Flexibilität, institutionelle Unterstützung und materielle Vergünstigungen zuerkannt. Aber je weiter unten auf der Skala die sexuellen Praktiken oder Gewerbe angesiedelt sind, desto stärker sind diejenigen, die sie ausüben, der Unterstellung von Geisteskrankheit, An rüchigkeit, Kriminalität, eingeschränkter sozialer und körperlicher Flexibilität sowie dem Verlust institutioneller Unterstützung und ökonomischen Sanktionen ausgesetzt” (ebd.: 39).
Mit Sexualität gehen also bestimmte Privilegien und soziale Zuschreibungen wie z. B. geistige Gesundheit, Achtbarkeit, Legalität oder auch institutionelle Unterstützungen einher. Kategorien sexuellen Fehlverhaltens sind durch Medizin und Psychiatrie vermehrt worden. Sexualität, die als „gut”, „normal” und „natürlich” gelte, wird mit heterosexuellen, verheirateten, monogamen, nicht kommerziellen und reproduktiven Mann-Frau-Paarbeziehungen verbunden. Andere Sexualitäten, die gegen diese Regeln verstoßen, gelten als „schlecht“, „unnormal“ und „unnatürlich“ (ebd.: 41f.). Dabei kennzeichne die Vorstellung einer einzigen und idealen Sexualität fast alle Theorien über Sex. Schon früh ist also aus verschiedenen Richtungen in Bezug auf Foucault herausgestellt worden, dass Sexualität und Geschlecht sich nicht mehr als naturgegebene und ahistorische Konstanten interpretieren lassen. Heterosexualität und Zwei-Geschlechterordnung werden in der Geschlechterforschung und Queer Theory als Ergebnis sozio-diskursiver Prozesse der Konstruktion verstanden, innerhalb derer sich auch Körper als historisch verän44 In einer ihrer früheren Arbeiten hat Gayle Rubin (1975) den Begriff des „sex/ gender system“ entwickelt, dieses ist zu verstehen als „set of arrangements by which a society transforms biological sexuality into products of human activity, and in which these transformed sexual needs are satisfied” (Rubin 1975: 159).
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derlich erweisen (Engel/Schuster 2007). Queer Theory 45 ist seit den 1990er Jahren ein Theorie- und Forschungsfeld, das sich mit den kulturellen Vorstellungen, sozialen Praktiken und gesellschaftlichen Institutionalisierungsformen von Geschlecht und Sexualität befasst und Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität in ihrer historischen Gewordenheit als Machtregime analytisch in den Blick nimmt. Problematisiert werden deren Normativität und Normalisierungsmacht sowie daran geknüpfte Hierarchiebildungen (vgl. ebd.: 135). Die gesellschaftliche Norm der Heterosexualität und ihre fast als unhinterfragbar zu bezeichnende Selbstverständlichkeit werden unter dem Begriff Heteronormativität 46 fassbar gemacht und als zentrales Machtverhältnis thematisiert. Heteronormativität durchzieht dabei „alle wesentlichen gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche, ja die Subjekte selbst“ (Hartmann/Klesse 2007: 9). Heterosexualität wird als Norm der Geschlechterverhältnisse hervorgehoben, welche sich strukturierend auf „Subjektivität, Lebenspraxis, symbolische Ordnung und das Gefüge der gesellschaftlichen Organisation“ auswirkt (Wagenknecht 2004: 17). „Die Heteronormativität drängt die Menschen in die Form zweier körperlich und sozial klar voneinander unterschiedener Geschlechter, deren sexuelles Verlangen ausschließlich auf das jeweils andere gerichtet ist. Heteronormativität wirkt als apriorische Kategorie des Verstehens und setzt ein Bündel von Verhaltensnormen“ (ebd.: 17).
Karen Wagels (2013) stellt heraus, dass Zweigeschlechtlichkeit als historisch konstituierter und kulturell spezifischer Modus erscheint, der die gesellschaftliche Wissensproduktion beherrscht. Dabei werde die Rede von der Natur des Geschlechtskörpers durch wirkmächtige Diskurse der Naturwie auch der Sozial- und Geisteswissen abgesichert, die Argumentationsfiguren bereitstellten, mit der Zweigeschlechtlichkeit als natürliche und somit legitimierte soziale Ordnung re/produziert werde (vgl. ebd.: 23). Heteronormativität erzeugt als zentrales Ordnungsprinzip einen signifikanten Druck in der Subjekt-Konstitution, „sich selbst über eine geschlechtlich und sexuell bestimmte Identität zu verstehen, wobei die Vielfalt möglicher Identitäten hierarchisch angeordnet ist und im Zentrum der Norm die kohärenten heterosexuellen Geschlechter Mann und Frau stehen. Zugleich reguliert He45 Einführend siehe u. a. Antke Engel (2002) und Annamarie Jagose (2001). 46 Eingeführt wurde der Begriff der „heteronormativity“ von Michael Warner (1993).
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teronormativität die Wissensproduktion, strukturiert Diskurse, leitet politisches Handeln, bestimmt über die Verteilung von Ressourcen und fungiert als Zuweisungsmodus in der Arbeitsteilung“ (Wagenknecht 2007: 17). Lauren Berlant und Michael Warner (1998) heben hervor, dass Heteronormativität ein Ensemble von Institutionen, Strukturen des Verstehens und praktischer Orientierungen meint, die Heterosexualität nicht nur als kohärent sondern auch als privilegiert erscheinen lässt. „By heteronormativity we mean the institutions, structures of understanding, and practical orientations that make heterosexuality seem not only coherent – that is, organized as a sexuality – but also privileged” (ebd.: 548).
Dabei ist die Kohärenz immer provisorisch und die Privilegiertheit kann verschiedene Formen annehmen. Heteronormativität und die Privilegierung der Heterosexualität bestehen dabei weniger aus Normen, sondern vielmehr aus einem Gefühl der Richtigkeit, das in widersprüchlichen Manifestationen, häufig unbewusst und den Praktiken oder Institutionen selbst immanent produziert werde (vgl. ebd.: 548). Dieses Gefühl der Richtigkeit erscheint als eine unhinterfragbare Selbstverständlichkeit. Auch Kontexte mit kaum sichtbaren Beziehungen zu sexuellen Praktiken können heteronormativ sein. Warner (1991) geht davon aus, dass der Kampf um Sexualität und ihre Regulierungen verbunden ist mit der Genese und Reproduktion von Institutionen wie der Familie, dem Staat, von Öffentlichkeit und Privatheit ebenso wie u. a. kulturelle Normen. Judith Butlers (1991) bekanntes Konzept der „heterosexuellen Matrix“ thematisiert Zusammenhänge von Körper, Geschlechtsidentitäten und Begehren in der Gesellschaft. Geschlechtsidentitäten, die intelligibel sind, seien solche, welche in einem bestimmten Sinn Beziehungen der Kohärenz und Kontinuität „zwischen dem anatomischen Geschlecht (sex), der Geschlechtsidentität (gender), der sexuellen Praxis und dem Begehren stiften und aufrechterhalten“ (ebd.: 38). Diese Kohärenz ist nicht willkürlich, sondern gehorche der Norm der Heteronormativität. So müsse die alltagsweltlich „normale“ Übereinstimmung von sex, gender und Begehren als Norm immer wieder konstruiert werden, wobei sich diese drei Dimensionen gegenseitig konstituieren (vgl. Villa 2000: 143). Heterosexuelles Begehren ist dabei konstitutiv für die Identität der Geschlechter. Demnach ist eine Frau oder ein Mann die eigene Geschlechtsidentität genau in dem Maße, wie sie/ er nicht die andere ist, „wobei diese Formel die Beschränkung der Geschlechtsidentität auf dieses binäre Paar voraussetzt und zur Geltung
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bringt“ (Butler 1991: 45). So bedürfe die innere Kohärenz oder Einheit der Geschlechtsidentität eines festen und zugleich gegensätzlich strukturierten heterosexuellen Systems und diese Einheit solle in einem differenzierten Begehren nach dem entgegengesetzten Geschlecht wahrheitsgetreu erkennbar und zum Ausdruck kommen (vgl. ebd.: 45f.). Durch die Bezogenheit von anatomischem Geschlechtskörper (sex), der jeweiligen Geschlechtsidentität (gender) und sexuellem Begehren (desire) entfalte Heteronormativität den Zwangscharakter in einer heterosexuellen Matrix. Mit der heterosexuellen Matrix beschreibt Butler (1991) das Ineinandergreifen einer normativen Heterosexualität und einer symbolischen Ordnung, die die Unterscheidung von zwei und nur zwei geschlechtlichen Körpern organisiert und naturalisiert. Dabei wird die binäre Struktur und Kohärenz von Geschlechtskörper, geschlechtlicher Identität und heterosexuellen Begehren als naturgegeben festgelegt, gleichzeitig sind all diejenigen ausgeschlossen, die nicht der Norm der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit entsprechen. In der heterosexuellen Matrix liegt die Grundvoraussetzung von Zweigeschlechtlichkeit bzw. von deren Naturalisierung. „Der Begriff heterosexuelle Matrix steht [...] für das Raster der kulturellen Intelligibilität, durch das die Körper, Geschlechtsidentitäten und Begehren naturalisiert werden. [...] Es geht darum, ein hegemoniales diskursives/epistemisches Modell der Ge schlechter-Intelligibilität zu charakterisieren, das folgendes unterstellt: Damit die Körper eine Einheit bilden und sinnvoll sind, muß es ein festes Geschlecht geben, das durch die zwanghafte Praxis der Heterosexualität gegensätzlich und hierarchisch definiert ist“ (ebd.: 119f.).
Insofern stellt die heterosexuelle Matrix einen Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit als unhintergehbarer biologischer Gegebenheit und Selbstverständlichkeit dar. „Geschlecht wird deshalb fast immer sexualisiert und zwar heterosexualisiert wahrgenommen. Diese Organisationsform ist nicht nur die vorherrschende, sondern nimmt für sich auch in Anspruch, die naturgemäße zu sein. Heterosexualität kann mit Hilfe des Begriffs der heterosexuellen Matrix also als ein Herrschaftssystem dargestellt werden, das Körper und ihr Verhältnis zueinander normiert und diese aufgezwungene Ordnung als natürlichen Grundzustand legitimiert. Die Kategorie ,Frau‘ ist also immer eingebunden in die heterosexuelle Matrix und trägt deshalb immer normative Effekte im Gepäck mit sich herum. Sie erscheint so betrachtet als macht -
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durchwirktes, interessengeleitetes ,diskursives Konstrukt‘ und nicht als unhintergehbare biologische Gegebenheit“ (Woltersdorff 2003: 917f.).
In dem Aufsatz „Gender-Regulierungen“ beschäftigt sich Judith Butler (2009a) ausdrücklich mit Prozessen der Normalisierung und diskutiert, welchen Regulierungen Gender als Geschlechtsidentität unterworfen ist. In der Auseinandersetzung mit Foucault wird dabei verdeutlicht, dass Gender „sein eigenes unverwechselbares regulatorisches und disziplinierendes Regime erfordert und einführt“ (ebd.: 73). Die Regulierung von Gender bedeute nicht, dass Gender unter die Herrschaft einer äußeren Macht der Regulierung fällt. „Die Norm regiert die Intelligibilität, sie ermöglicht, dass bestimmte Praktiken und Handlungen als solche erkannt werden können“ (ebd.: 73).
Gender als Norm sei der Apparat durch den die Produktion und Normalisierung von Geschlecht sich vollzieht. Dies wirke zusammen mit den ineinander verschränkten hormonellen, chromosomalen, psychischen und performativen Faktoren, die Gender voraussetzen und annehmen. Gender wird hier als Mechanismus beschrieben, durch den Vorstellungen von Geschlechtlichkeit produziert und naturalisiert werden (vgl. ebd.: 74). Butler folgert, dass Gender als Norm und als Form sozialer Macht zu verstehen ist, welche das intelligible Feld der Subjekte hervorbringen und auch als Apparat, durch den Geschlechterbinarität eingerichtet wird (vgl. ebd.: 84). Bemerkenswert ist hier, dass Subjekte durch Gender reguliert werden und diese Regulierung als Bedingung für die kulturelle Intelligibilität des Subjekts fungiert. Dabei entfaltet die Abweichung von der Norm gleichzeitig Wirkung als Exempel der Abweichung. Und solcherlei Abweichungen lassen sich von regulierenden Mächten wie der Medizin aufgreifen, um ihren regulatorischen Eifer zu begründen (vgl. ebd.: 91). Eine Regulierung ist das, was normalisiert. Gleichfalls, so Butler (2009a), sei sie mit Foucault ein Modus der Disziplin und Überwachung innerhalb spätmoderner Machtformen. Durch die Operationalisierung von Normen werden die Regulierungen selbst zu Schlüsselmomenten und wirken als solche an der Herstellung der Idealität der Norm mit. Da Regulierung auf Kategorisierung beruht, ist sie mit dem Prozess der Normalisierung verbunden (vgl. ebd.: 96). Dabei geht mit solchen Regulierungen, die auf die Einschränkung spezifischer Aktivitäten zielen – wie etwa die Einschränkungen der Nutzung der Behandlungsmethoden der Reproduktionsmedizin – eine darüber hinaus ge-
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hende, meist unbemerkte Handlung einher: die „Herstellung von Personen in Übereinstimmung mit abstrakten Normen, welche die einzelnen Menschenleben zugleich bedingen und übersteigen – und auch zerbrechen“ (ebd.: 96). Ehe und Familie können als Muster der heteronormativen Institution betrachtet werden. In queer-feministischen Analysen, so Katharina Hajec (2013), wird Familie als heteronormative historische Institution hervorgehoben, die allen sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen trotzend noch immer auf Zweigeschlechtlichkeit und biologistischen Verwandtschaftsprinzipien aufbaut.47 Mit Foucault hebt Hajec (2013) Familie als biopolitisches Konstrukt hervor, das seit dem Aufkommen moderner Staaten eine zentrale Rolle in der Regulierung der Bevölkerung eingenommen hat. In enger Verknüpfung mit der Ehe als legaler Absicherung sei Familie als heterosexuelle Zweierbeziehung zwischen Mann und Frau mit dem primären Zweck definiert, Nachwuchs zu zeugen. Dies finde seinen deutlichsten Ausdruck in Gesetzen und Regulierungen, die das volle Recht, Kinder zu bekommen, ausschließlich Ehepaaren zukommen lassen (vgl. ebd.: 526f.). Sushila Mesquita (2011) hat anhand der Analyse zu Heteronormativität und Ambivalenzen der Normalisierung des Schweizer Partnerschaftsgesetzes herausgestellt, dass in diesem gesellschaftlichen Segment gegenwärtig neue Möglichkeitsräume und Rechte entstehen und damit gleichzeitig neue Grenzziehungen verbunden seien. Dabei sei Heteronormativität in ihrer Analyse mit anderen Herrschaftsverhältnissen zu betrachten. 48 Formen des Zusammenlebens haben sich nach und nach immer stärker pluralisiert, zudem sind und waren gelebte Formen des Zusammenlebens mit Kindern immer schon vielfältig. „In den letzten Jahren und Jahrzehnten konnte nicht nur eine Vervielfältigung gelebter Formen ,familiären‘ Zusammenlebens abseits der heterosexuellen Kleinfamilie beobachtet werden (Stichwort Patchwork-Familien, Alleinerziehende, gleichgeschlechtliche Partner_innenschaften etc). Auch in der politischen Regulierung von
47 Zur Diskussion von Familie als analytischem Konzept siehe Katharina Hajec (2013). 48 Aufgrund des Ineinandergreifens komplexer Mechanismen und ambivalenter Normalisierungen von nicht-heterosexuellen Lebensweisen spricht sich Sushila Mesquita (2016) für eine interdependente Konzeptualisierung von Sexualität aus.
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Familie in Deutschland fanden und finden tiefgreifende Veränderungen statt“ (Hajec 2013: 519).
In der Geschlechterforschung sind die Ambivalenz, der Wandel und die Persistenz von als sozial und natürlich gedachten Geschlechterordnungen zentrale Themen, die in aufschlussreichen Arbeiten herausgestellt und diskutiert worden sind (u. a. König 2012; Maihofer 2014). So haben etwa Arbeiten wie die qualitative Untersuchung von Tomke König (2012) zur Transformationen der symbolischen Geschlechterordnung hervorgehoben, dass an die Stelle einer lebenslang andauernden, rechtlich institutionalisierten heterosexuellen Beziehung vermehrt unterschiedliche Phasen partnerschaftlicher oder familialer Arrangements treten (ebd.: 15). Auch Andrea Maihofer (2014) geht von einer paradoxen Gleichzeitigkeit von Wandel und Persistenz, sowie von dynamischen gesellschaftlichen Prozessen der Enttraditionalisierung und Pluralisierung familialen Lebensformen oder Arrangements aus. Neben dem gelebten Modell der bürgerlichen Kleinfamilie entstehen zunehmend uneheliche gegen- und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften mit Kindern, Familien alleinstehender Personen mit Kindern und mehr oder weniger komplexe sogenannte Patchwork-Konstellationen. Zudem entwickeln sich durch die Nutzung von Reproduktionstechnologien „neuartige Familienkonfigurationen“ (vgl. ebd.: 316) bzw. Möglichkeiten hierzu. In der Tendenz lasse sich eine Erweiterung des gesellschaftlich Denk- und Lebbaren und eine stetige, wenn auch hierarchisierende Normalisierung von unterschiedlichen familialen Lebensformen feststellen (vgl. ebd.: 318). Maria Teresa Herrera Vivar et al. (2016) stellen heraus, dass Heterosexualität weiterhin als Norm fungiert, auch wenn Heteronormativität als höchst umkämpftes Terrain gelte. „Heterosexualität – und zwar vorwiegend solche, die in Paarbeziehungen einer weißen Mittelschicht gelebt wird – bleibt weiterhin Norm, an der ,andere‘ Lebensweisen gemessen werden und an der sie sich ausrichten sollen. Die Nähe dieser Norm wird zum Gradmesser eines flexiblen Einschlusses einiger und einer fortwährenden [...] Prekarisierung anderer nicht heterosexueller Verkörperungen und Lebensweisen (ebd.: 10, Herv. i. O.).
Die hier vorgestellten Diskussionen zur Normalisierung werden im Verlauf der empirischen Auseinandersetzungen mit dem reproduktionsmedizinischen Diskurs über die Spendersamenbehandlung aufgegriffen werden. Da-
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bei ist mit Sabine Hark (1999) davon auszugehen, dass ein besonderes Augenmerk auf die jeweiligen Grenzziehungen gelegt werden sollte, die durch Normen hervorgebracht werden. Über das Normale zu sprechen, bedeute, so Hark (1999), immer auch über das Nicht-Normale und über Abweichungen zu sprechen. Das Normale reguliere „die Zonen der intelligiblen Normalität und der verworfenen Abweichung, reguliert Toleranzen und mögliche Übergänge zwischen diesen Zonen, leitet die Entwicklung von vorbeugenden und nachsorgenden Interventionsinstrumentarien an“ (ebd.: 79f.). Nachdem die dieser Arbeit zugrunde liegenden Perspektiven auf Prozesse der Professionalisierung, Medikalisierung und Normalisierung ausführlich diskutiert worden sind, werden im nächsten Kapitel der methodologische Zugang und das methodisches Vorgehen der diskursanalytischen Betrachtung von Legitimierungsweisen expliziert.
Legitimierung und Diskursanalyse Methodologischer Zugang und methodisches Vorgehen
„[...] warum die Dinge sind, was sie sind“ (Berger/Luckmann 1980: 100, Herv. i. O.).
Reproduktionsmedizinische Behandlungen und damit auch die Spendersamenbehandlung bedürfen der Legitimation: Aus welchen Gründen gilt die Samenspende als legitime Behandlungsmethode der reproduktionsmedizinischen Praxis und aus welchen Gründen wird sie als illegitim gesetzt? Dabei sagt Legitimation „dem Einzelnen nicht nur, warum er seine Handlungen ausführen soll und die andere nicht ausführen darf. Sie sagt ihm auch, warum die Dinge sind, was sie sind“ (Berger/Luckmann 1980: 100, Herv. i. O.). Im Folgenden wird zunächst eine konzeptionelle und methodologische Verortung vorgenommen und die verwendeten Begriffe der Legitimierung und des Diskurses kurz skizziert. Dabei werden Prozesse der Legitimierung im Zusammenhang mit der Theorie der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit von Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1980) betrachtet. Diese wissenssoziologische und sozialkonstruktivstische Sichtweise auf Legitimierungsprozesse wird durch eine diskurstheoretische Perspektiven ergänzt, die das Forschungsprogramm der Wissenssoziologische Diskursanalyse (WDA) als eine Analyse der „diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit“ vornimmt (Keller et al. 2005). Wie nun Legitimierungen im Diskurs empirisch untersucht werden können, wird in Anlehnung an Ausführungen von Theo van Leeuwen (2007) entwickelt, welcher für die Analyse der vorliegenden Arbeit einen Rahmen bietet. Anschließend werden das empirische Vorgehen und die erhobenen Materialien vorgestellt, begründet und diskutiert.
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PROZESSE DER LEGITIMIERUNG UND DIE GESELLSCHAFTLICHE KONSTRUKTION DER WIRKLICHKEIT „We all practise legitimation and we are all subject to it“ (Luckmann 1987: 112).
Legitimation ist eine in der Soziologie breit verhandelte Thematik. Im deutschsprachigen Raum haben sich insbesondere Max Weber (1922), Niklas Luhmann (1969) und Jürgen Habermas (1973) mit der Relevanz von Legitimation in der Gesellschaft beschäftigt. Swaran Sandhu (2012) führt dazu aus, dass Fragen der Legitimation seit jeher die Sozialwissenschaften aber auch die Philosophie und die Staatslehre bzw. Politikwissenschaft beschäftigt haben, da diese in einer Beziehung zu Macht und Herrschaft stehen und gesellschaftliche Ordnungen der Rechtfertigung 49 benötigen (vgl. ebd.: 2). Da unter dem Begriff der Legitimation verschiedene Aspekte innerhalb der Soziologie dargelegt und diskutiert werden, wird im Folgenden aufgezeigt, was unter Legitimation in Bezug auf die Analysen dieser Arbeit verstanden wird und wie Prozesse der Legitimierung eines Diskurse empirisch untersucht werden können. Dabei erweist sich eine sozialkonstruktivistische und wissenssoziologische Perspektive als zentral. Daher wird im Weiteren auf das von Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1980) in ihrem Werk „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ entwickelte Verständnis von Prozessen der Legitimierung im Zusammenhang mit Institutionalisierung und der Entwicklung sozialer Ordnung zugrunde gelegt. Mit Bezug auf die Ausführungen der beiden Autoren beschreibt Karin Knorr-Cetina (1989), dass sich der Sozialkonstruktivismus zur Bearbeitung der Frage, wie soziale Ordnung kollektiv produziert wird und den Menschen als objektiv erfahrbare Ordnung gegenübertritt, der Begriffe Institutionalisierung, Objektivierung und Legitimation bedient. „Legitimationsprozesse erklären und rechtfertigen institutionelle Prozesse, gegenüber denjenigen, für die diese Prozesse, da sie an ihrer Produktion und Erfahrung nicht beteiligt waren, nicht selbstverständlich sind“ (Knorr-Cetina 1989: 87). 49 Umfassende Reflexionen zu gesellschaftlichen Rechtfertigungsordnungen nehmen Luc Boltanski und Laurant Thévenot (2007) in ihrem Werk „Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft“ vor.
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Institutionelle Prozesse müssen durch Erklärung und Rechtfertigung auch für andere wie etwa nachfolgende Generation legitimiert werden. Dies stellt sich somit als eine Voraussetzung für Institutionalisierung dar. Die institutionelle Welt bedarf der Legitimation, da sie Weisen ihrer Erklärung und Rechtfertigung braucht (vgl. Berger/Luckmann 1980: 66). „Das Problem der Legitimation entsteht unweigerlich erst dann, wenn die Vergegen ständlichung einer (nun bereits historischen) institutionalen Ordnung einer neuen Generation vermittelt werden muß […]. Die Einheit von Lebenslauf und Geschichte zerbricht. Um sie wieder herzustellen und so ihre beiden Aspekte plausibel zu machen, muß man zu Erklärungen und Rechtfertigungen in die Augen springender Ele mente der institutionellen Überlieferung übergehen. Legitimierung ist der Prozess dieses Erklärens und Rechtfertigens“ (ebd.: 99f.).
Diesem Konzept folgend ist der Prozess der Legitimierung als eine sekundäre Objektivation von Sinn zu bezeichnen, welche neue Sinnhaftigkeit produziert (vgl. ebd.: 98f.). Dabei wird objektivierte Sinnhaftigkeit institutionellen Handelns als Wissen angesehen, welches weitergereicht wird (vgl. ebd.: 75).50 Legitimierungen und ihr prozesshafter Charakter erweisen sich in dieser Perspektive als etwas dynamisches und produktives. Berger/Luckmann (1980) betonen, dass Legitimation nicht nicht nur eine normative, sondern ebenso eine kognitive Dimension hat, welche bestimmtes vorhandenes Wissen immer mit einschließt. Legitimationen sozialer Ordnungen können nach Berger/Luckmann (1980) analytisch in vier verschiedene Ebenen unterschieden werden: • Weitergabe eines Systems sprachlicher Objektivation menschlicher Er-
fahrung: Hierbei sei Legitimation unmittelbar an Sprache gebunden. Zum Beispiel werde die Struktur von Verwandtschaftsbeziehungen durch ein mit legitimierenden Erklärungen angereichertes spezifisches Vokabular von Generation zu Generation weitergegeben (vgl. ebd.: 101). • Verschiedene theoretisch rudimentäre Schemata, die objektive Sinngefüge miteinander verknüpfen: Diese seien pragmatisch und mit direktem Tun verbunden. Ihre Legitimationen werde häufig durch Sprichwörter, 50 Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1980) gebrauchen einen weit gefassten Begriff von Institutionalisierung, welche stattfindet, „sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution“ (ebd.: 58).
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Lebensweisheiten, Legenden und Volksmärchen vermittelt (vgl. ebd.: 101). • Explizite Legitimationstheorien, die einen institutionellen Ausschnitt anhand eines differenzierten Wissensbestandes rechtfertigen: Sie seien häufig einem bestimmten Personenkreis zugeordnet, der diese formalisiert weitergebe. Berger/Luckmann bezeichnen diesen auch als hauptamtliche Legitimatoren (vgl. ebd.: 101f.). Beispielsweise können dies auch medizinische bzw. reproduktionsmedizinische Expert_innen als „hauptamtliche Legitimatoren“ sein, die am Ausbau von expliziten Legitimationstheorien beteiligt sind. • Symbolische Sinnwelten als synoptische Traditionsgesamtheiten, welche verschiedene Sinnwelten integrieren: Die Ausschnitte der institutionellen Ordnung werden in ein Bezugssystem integriert (ebd.: 102f.). Angemerkt wird, dass jede symbolische Sinnwelt in einem gewissen Grad problematisch sei und konkurrierende Sinnwelten bestehen., welche mithilfe sogenannter „Stützkonzeptionen“ abgesichert werden. Als eine Stützkonzeption bezeichnen die Autoren die Wissenschaft, neben Mythologie, Theologie und Philosophie (vgl. ebd.: 118). Hier könnte beispielsweise auch die Medizin und die im Entstehen begriffene Reproduktionsmedizin als Wissenschaft eingeordnet werden, die mit anderen konkurrierenden Sinnwelten operiert. Dabei gilt es die eigene gegen andere konkurrierende Wirklichkeitsbestimmungen durchzusetzen. Mit diesem sozialkonstruktivistischen und wissenssoziologischen Verständnis von Prozessen der Legitimierung zeigen die Autoren die grundlegende Bedeutung von Legitimierungsfragen für gesellschaftliche und soziale Ordnungen auf. Diese Sichtweise auf Legitimierungsprozesse wird durch den Anschluss an eine diskursanalytische Perspektive ergänzt, die das Forschungsprogramm der Wissenssoziologische Diskursanalyse (WDA) nach Reiner Keller (2008) vollzieht.
WISSENSSOZIOLOGISCHE DISKURSANALYSE UND DIE DISKURSIVE KONSTRUKTION VON WIRKLICHKEIT Keller (2008) sieht in den Ausführungen zur gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit von Berger/Luckmann (1980) Hinweise auf systematisierte und institutionalisierte Formen der Wissensproduktion und auf die
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Bedeutung der Sprache für diese Wissensvermittlung, welche eine diskursanalytische Perspektive anschließbar machen, auch wenn die beiden Autoren selber den Begriff des Diskurses nicht aufführen (vgl. ebd.: 182). Der Zusammenhang von Legitimationen und Sprache gestaltet sich Berger/ Luckmann (1980) zufolge, indem die objektivierte soziale Welt von der Sprache auf logische Fundamente gestellt wird und das Gebäude unserer Legitimationen auf der Sprache ruhe, und Sprache ihr Hauptargument sei“ (ebd.: 69). Dabei ist „Logik“ als Teil des gesellschaftlich zugänglichen Wissensvorrats zu verstehen, und wird als Gewissheit hingenommen. Keller (2008) sieht hier den Einbau der Diskursperspektive gegeben. Diese stützt sich zunächst auf die bereits von Berger/Luckmann formulierten Bezüge der kollektiven Wissensvorräte. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse „übersetzt den daran anschließenden Gedanken der ,kommunikativen‘ Konstruktion der Wirklichkeit in denjenigen der diskursiven Konstruktion und bestimmt dadurch ihren Untersuchungsgegenstand“ (ebd.: 185, Herv. i. O.). Keller (2008) entwickelt in Auseinandersetzung mit der von Berger/Luckmann begründeten wissenssoziologischen Tradition und der Foucaultschen Diskurstheorie die Wissenssoziologische Diskursanalyse als Forschungsprogramm, welches als Vorschlag zur Analyse der „diskursiven Konstruktion symbolischer Ordnungen“ dient (ebd.: 11, Herv. i. O.). und sich mit diskursiven Prozessen und Praktiken der Produktion und Zirkulation von Wissen auf der Ebene institutioneller Felder beschäftigt. Dabei interessieren besonders „die Produktion und Transformation gesellschaftlicher Wissensverhältnisse durch Wissenspolitiken, d. h. diskursiv strukturierte Bestrebungen sozialer Akteure, die Legitimität und Anerkennung ihrer Weltdeutung als Faktizität durchzusetzen“ (ebd.: 193). In Analysen der gesellschaftlichen Bedeutung von Wissen und symbolischer Ordnung haben Diskurstheorie und Diskursanalyse im Zusammenhang mit der Rezeption der Arbeiten Foucaults an Bedeutung gewonnen. Das Interesse der Sozialwissenschaften an der diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit habe stark zugenommen (vgl. Keller et al. 2005). Die WDA zeigt dabei eine Forschungsperspektive auf und stellt keine spezifische Methode dar. Im Anschluss an Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow (1987) bezeichnet Keller (2008) diese an Foucault diskurstheoretisch orientierte Analyse als eine „interpretativen Analytik“.51 51 Hubert L. Dreyfuß und Paul Rabinow (1987) positionieren Foucaults Zugang und seine methodologische Position jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik als „interpretative Analytik“.
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Foucault hat verschiedentlich Begriffe von Diskursen in diversen Aufsätzen und Werken entwickelt, insbesondere in „Die Archäologie des Wissens“ (Foucault 1988) und „Die Ordnung des Diskurses“ (Foucault 1974) sowie der Genealogie von Macht-Wissens-Regimen52, die Keller (2008) im Programm der WDA aufgreift. Für Foucault sind Diskurse nicht als Gesamtheit von Zeichen zu betrachten, „sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen (Foucault 1988: 74). Hannelore Bublitz et al. (1999) stellen heraus, das Diskurse eine Ordnungsfunktion haben, „indem sie das Wahre vom Falschen, das Vernünftige vom Unvernünftigen, das Normale vom Nicht-Normalen trennen“ (ebd.: 12f.). Im Vorwort des ersten Bandes zu „Sexualität und Wahrheit“ beschreibt Foucault (1991) sein Interesse an der Produktion von Diskursen allgemein: „Es ist das Problem, das fast alle meine Bücher bestimmt: wie ist in den abendländischen Gesellschaften die Produktion von Diskursen, die (zumindest für eine bestimmte Zeit) mit einem Wahrheitswert geladen sind, an die unterschiedlichen Machtmechanismen und -institutionen gebunden? (ebd.: 8).
Durch die Analyse von Diskursen sollen die zu einer bestimmten Zeit selbstverständlichen gesellschaftlichen „Wahrheiten“ ergründet werden. Die Analyse solle dabei den historischen und gesellschaftlichen Zusammenhang beachten und „so deskriptiv wie möglich bleiben“ (Sarasin 2005: 109). Keller (2008) stellt heraus, dass es Foucault um die Rekonstruktion historischer „Wahrheitsspiele“ gehe, „um die Mechanismen der Konstitution von Diskursen, die im Namen der Wahrheit sprechen und das Wissen ihrer Zeit formieren“ (ebd.: 130). Er definiert Diskurs als „eine nach unterschiedlichen Kriterien abgrenzbare Aussagepraxis bzw. Gesamtheit von Aussageereignissen, die im Hinblick auf institutionell stabilisierte gemeinsame Strukturmuster, Praktiken, Regeln und Ressourcen der Bedeutungserzeugung untersucht werden“ (Keller 2008: 234). Bestimmt werden Diskurse als manifeste, beobacht- und beschreibbare soziale Praxen, die sich in unterschiedlichen Dokumenten, wie etwa in den medizinischen Fachzeitschriftenartikel, die der Analyse dieser Arbeit zugrunde liegen, niederschlagen können. Aufgrund dieses Verständnisses von Diskursen als analytisch abgrenzbare Ensembles von Praktiken und Bedeutungszuschreibungen be52 Zur Konjunktur diskursorientierter Theoriebildung und Forschungen in verschiedenen Disziplinen siehe u. a. Reiner Keller et al. (2010), (2011).
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schäftigt sich die WDA mit gesellschaftlichen Praktiken und Prozessen der kommunikativen Konstruktion, Stabilisierung und Transformation symbolischer Ordnung und deren Folgen. Die von der Reproduktionsmedizin erstellten Regulierungen, Statistiken und Klassifikationen lassen sich demzufolge als „Effekte von Diskursen und ,Voraus‘-Setzungen neuer Diskurse“ (Keller 2011a: 59) verstehen. Diskurse stellen Wissensordnungen her. Mit der WDA können Prozesse der sozialen Konstruktion, Objektivation, Kommunikation und Legitimation von Sinnstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen und sozialen kollektiven Akteuren untersucht werden. Die Akteure, welche als Sprecher_innen in Diskursen auftreten und bestimmte Sprecherpositionen besetzen, formulieren die kommunizierten Beiträge, aus denen sich der Diskurs aufbaut, und orientieren sich in ihren diskursiven Praktiken an den Regelungen und verfügbaren, häufig ungleich verteilten Ressourcen des Diskursfeldes (vgl. ebd.: 59). Durch diese Perspektive wird die Normalität der symbolischen Kämpfe und des Wettstreits der Diskurse mit ihren wirklichkeitskonstituierenden Effekten für die symbolische Ordnung unterstellt (vgl. Keller 2008: 192). Auch wird betont, dass Konflikte und Konfrontationen im Diskurs zu neuen Zulässigkeiten, Legitimationen sowie Positionen führen können. Der Einbezug der von Foucault beschriebenen Macht-Wissens-Komplexe in wissenssoziologische Fragestellungen kann diese dahingehend erweitern, dass Wissen als Effekt und Form von Macht begriffen wird, verstanden als „auf unterschiedlichste Ressourcen stützende Macht der Definition, die andere Wirklichkeit ausschließt“ (Keller 2011b: 138, Herv. i. O.). So sind durch die Anlehnung an Foucault Verweise auf die machtvollen institutionellen Implikationen der Wissensproduktion gegeben. Eine solche Perspektive bietet für die vorliegende Arbeit einen geeigneten Ansatzpunkt, um diskursive Konstruktionen von Wissen über soziale Ordnungen, über Reproduktion und Geschlecht nachzuzeichnen. Die Existenz objektiver „Wahrheit“ ist aus dieser Blickrichtung nicht vorgesehen, vielmehr „nur jeweils gegebene historische Gültigkeiten, die als angebliche Wahrheiten zeitweilig durchgesetzt, aber auch infrage gestellt werden können. Ein absolutes Kriterium für Richtig und Falsch gibt es dabei nicht, sondern immer nur die Notwendigkeit, solche zeitweiligen Gültigkeiten zu problematisieren und zu kritisieren [...]“ (Jäger 1999: 54). Auch Tomke König (2014) betont, dass es nicht darum gehe, eine Verteilungsstruktur gesellschaftlicher Phänomene nachzuzeichnen, sondern das Augenmerk der Analyse auf den Vorstellungen und dem Wissen z. b. von Geschlecht und
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Geschlechterverhältnissen liege, die gegenwärtig sagbar seien (vgl. ebd.: 165). Schon früh haben feministisch orientierte Theoriediskussionen diskursanalytische Überlegungen und daran orientierte empirische Studien einbezogen und sich mit den diskursiven Prozessen der Konstruktion von Geschlecht auseinandergesetzt (vgl. Hark 2011). Dabei nehmen diskurstheoretische Perspektiven in der feministischen Theorie die Produktion von Wissen z. b. um geschlechtliche Unterschiede und Fragen nach dem Wissen in sozialen Praktiken und Institutionen, die das Verhältnis der Geschlechter festlegen, in den Blick (vgl. ebd.: 386).53 Die Wissenssoziologische Diskursanalyse erlaubt, Auseinandersetzungen um Legitimierungen und Prozesse der Wissensproduktion in ihrer Dynamik zu betrachten. Legitimierung erscheint hier nicht als eine statische Begebenheit, als ein fester Zustand, sondern als prozesshaft.
DISKURSIVE LEGITIMIERUNG UND IHRE EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG „Legitimation, finally, adds the answer, sometimes explicitly, sometimes more obliquely, to the question ,Why‘ – ,Why should we do this?‘ and ,Why should we do this in this way?‘“ (van Leeuwen 2007: 93).
Eine weitere Frage der Analyse ist, wie genau Prozesse der Legitimierung im reproduktionsmedizinischen Diskurs über die Spendersamenbehandlung empirisch untersucht werden können. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse bietet hier mit ihrem Bezug auf den Sozialkonstruktivismus und die Wissenssoziologie von Berger/Luckmann (1980) und auf die Diskurstheorie von Foucault einen passenden methodologischen Hintergrund. Auch 53 Gefolgert wird, dass diskursanalytische und dekonstruktivistische Herangehensweisen als besonders geeignet gelten, bestimmte Aporien zu durchdenken. Sie ermöglichen, nicht bloß die Konstitution von Geschlechterdifferenz zu erfragen, sie liefern zudem „Instrumente für die kritische Arbeit der Befragung sowohl der eingesetzten Erkenntnismittel und der Konstitution der Erkenntnisgegenstände als auch der im eigenen Wissen produzierten Ausschlüsse“ (Hark 2011: 397).
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Theo van Leeuwen setzt sich in seinem 2007 erschienen Aufsatz „Legitimation in discourse and communication“ mit der Untersuchung von unterschiedlichen Weisen der Legitimation in öffentlichen Diskursen auseinander. Er bezieht sich in seiner theoretischen Fundierung auf Arbeiten von Max Weber (1922), Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1980) sowie Jürgen Habermas (1976) und geht davon aus, dass jedes System der Autorität versucht, den Glauben in seine Legitimität aufzubauen und zu entwickeln. Betont wird auch hier die Relevanz der Kontextualisierung von Legitimation. Legitimation findet in bestimmten institutionellen Zusammenhängen statt. Diese Sichtweise bietet Anschluss an wissenssoziologische und diskurstheoretische Ansätze und stellt für die vorliegende Arbeit einen Rahmen für die Analyse bereit und der Frage nachzugehen, wie in reproduktionsmedizinischen Diskursen über die Spendersamenbehandlung Legitimität hergestellt wird. So könne Legitimation als Antwort auf die Frage dienen, warum man etwas tun solle und warum dies auf eine bestimmte Art und Weise geschehen solle (van Leeuwen 2007: 93).54 Van Leeuwen (2007) hat dazu eine Art Grundgerüst zusammengestellt, in das sich häufig vorkommende Arten der Legitimation einordnen lassen. Er unterscheidet die vier Schlüsselkategorien: Autorisierung, Rationalisierung, Moralisierung und Narration/Mythopoesis. Jede dieser Kategorien beinhaltet wiederum eine Vielzahl von Subtypen.55 • Legitimation durch Autorisierung meint den Verweis auf die Autorität
von Tradition, Gebräuchen und Gesetzten. Sowie den Verweis auf Personen, denen Autorität aufgrund einer institutionellen Position zugeschrieben wird, wie es auch bei Positionen in der medizinischen Institution der Fall ist. • Legitimation durch moralische Evaluation meint den Bezug auf Wertesysteme, dies geschehe meist implizit. • Legitimation durch Rationalisierung meint den Verweis auf Ziele, Nutzen und Ergebnisse institutioneller Handlungen „and to the knowledge
54 Zur Analyse der Strategien zur Legitimation im Diskurs siehe auch die Studie von Theo van Leeuwen und Ruth Wodak (1999) zur Einwanderungskontrolle in Österreich. 55 Diese Kategorien entwickelt Theo van Leeuwen (2007) beispielhaft anhand diverser Textdokumente zur Legitimierung bzw. Delegitimierung der gesetzlichen Schulpflicht.
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society has constructed to endow them with cognitive validity“ (ebd.: 92). • Legitimation durch Mythopoesis meint Legitimierung über das Hinzuziehen von Narrativen: „narratives whose outcomes reward legitimate actions and punish non-legitimate actions“ (ebd.: 92). Van Leeuwen (2007) hat den Anspruch, ein generelles Model von diskursiven Prozessen der Legitimation festzulegen. Die Schlüsselkategorien und ihre Differenzierungen sind als idealtypisch zu verstehen. 56 Sie ergänzen sich und können nicht immer als trennscharf betrachtet werden. Empirische Untersuchungen von diskursiven Legitimationen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zeigen auf, dass diese oftmals zusammen auftreten. So erscheine etwa die Legitimation durch Autorisierung gemeinsam mit Rationalisierung und werde dabei von Moralisierung begrenzt (Vaara/ Tienari/Laurila 2006: 805). Der hier skizzierte Rahmen dient als ein wichtiger Referenzpunkt der Analyse von Legitimierungsweisen der Spendersamenbehandlung im reproduktionsmedizinischen Diskurs. Speziell auf den medizinischen Kontext bezogen sind in Anlehnung an die von Theo van Leeuwen (2007) ermittelten Schlüsselkategorien jedoch einige Modifikationen vorgenommen worden. Der Begründung von Autorität aufgrund institutioneller Positionen wird in Kapitel 5 bei der Ausbildung relevanter „Sprecherpositionen“ im institutionellen Feld der sich professionalisierenden Reproduktionsmedizin nachgegangen. In der empirischen Analyse des reproduktionsmedizinischen Diskurses zur Spendersamenbehandlung sind drei diskursive Legitimierungsweisen differenziert und näher beleuchtet. Diese sind im einzelnen: Die Legitimierung durch Problematisierung als Legitimierung durch die Konstitution einer reproduktionsmedizinisch zu lösenden Problematik, welches sich als eine Art „Narrativ“ durch den untersuchten Diskurs zieht. Dem folgt die Legitimierung durch Normalisierung, diese wird bei van Leeuwen (2007) als ein Subtyp der „moralische Evaluation“ dargelegt. Diese Art der Legitimierung mit der Bezugnahme auf das „Normale“ und auf das „Natürliche“ hat sich in der empirischen Analyse des reproduktionsmedizinischen Diskurses als die grundlegendste Legitimierungsweise erwie56 Swaran Sandu (2012) stellt Legitimität als ein Kernkonzept der Organisationsund PR-Forschung dar. Auch er betont, dass es nicht beliebig viele Strategien der Legitimation gebe, sondern vielmehr ein Set von Mustern idealtypischer Legitimationen bestehe (vgl. ebd.: 230).
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sen. Im untersuchten Diskurs zeigt sich zudem die Legitimierung durch Rationalisierung als Orientierung an Ergebnissen, dem Darstellen von Fakten und Erfolgen der Behandlung mit Spendersamen von herausragender Bedeutung. Die empirische Analyse der Legitimierungsweisen der Samenspende des reproduktionsmedizinisches Diskurs erfolgt auf Grundlage entsprechender Datenmaterialien, die einzelnen Äußerungen im Material werden bezüglich ihrer typischen Gestalt als „Aussage“ innerhalb des Diskurses untersucht.
MATERIAL: RICHTLINIEN, STELLUNGNAHMEN, EMPFEHLUNGEN UND ARTIKEL DES REPRODUKTIONSMEDIZINISCHEN SPEZIALDISKURSES Die Reproduktionsmedizin hat sich, wie schon aufgezeigt wurde, als eine wissenschaftliche Subdiziplin innerhalb der Medizin und in der Gesellschaft erfolgreich etabliert, auch wenn ihr von Anfang an kontroverses Potential zugeschrieben worden ist. Der fachspezifische Diskurs der Reproduktionsmedizin als ein Spezialdiskurs ist Teil gesellschaftlicher Auseinandersetzungen über Reproduktion und über die Anwendung medizinisch assistierter Technologien hierzu. Auch derart wissenschaftliche Diskurse sind in ein Netz aus verschiedenen Beziehungen und Kräfteverhältnissen eingewoben. In diesem Kontext steht das Bestreben der in der sich etablierenden Reproduktionsmedizin Tätigen, Einfluss auf breitere medizinische und gesellschaftliche Diskurse zu nehmen. Im Folgenden wird dargestellt, welches Datenmaterial der Analyse der Legitimierungsweisen des reproduktionsmedizinischen Diskurses der Spendersamenbehandlung zugrunde gelegt worden ist. Diese empirischen Daten werden der WDA folgend als Manifestationen gesellschaftlicher Wissensordnungen und -politiken gesehen und bilden die Grundlage der wissenssoziologischen Rekonstruktion der diskursiven Produktion, Stabilisierung und Veränderung kollektiver Wissensvorräte (vgl. Keller 2008: 275). Zu untersuchen sind dabei die sozialen Mechanismen und Regeln der Produktion und Strukturierung von Wissensordnungen. Als Datenmaterial der vorliegenden Arbeit dienen sogenannte „natürliche Daten“. Diese sind als textförmige Daten vom Diskurs selbst produzierte Aussageereignisse. Als „natürliche Daten“ sind Dokumente zu fassen,
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welche nicht eigens für den Forschungsprozess und ohne die Beteiligung oder Intervention der Forschenden entstanden sind (Salheiser 2014: 813). Wissenschaftliche Spezialdiskurse, so auch derjenige der Medizin und der entstehenden Reproduktionsmedizin, zirkulieren über entsprechende Fachpublikationen, Fachzeitschriften und -tagungen. Der Datenkorpus wurde aus einschlägigen deutschsprachigen Fachzeitschriften der Reproduktionsmedizin gebildet. Zunächst wurde die in Deutschland relevante Fachliteratur gesichtet, um eine erste Bestimmung des Materials zu ergründen. Als relevant erwiesen hat sich dabei die im Jahr 1958 gegründete „Deutsche Gesellschaft zum Studium der Fertilität und Sterilität“, die 1998 in die „Deutsche Gesellschaft für Reproduktionsmedizin e. V“ (DGRM) umbenannte wurde. Diese Fachgesellschaft gilt als die älteste und größte wissenschaftliche Vereinigung auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin in Deutschland (http://repromedizin.de [27.04. 2018]). Die Berichte der wissenschaftlichen Tagungen, welche die Gesellschaft ausrichtete, sind seit der Gründungsveranstaltung in München 1958 dokumentiert. Schriftliches Organ war zunächst die Zeitschrift „Beiträge zur Fertilität und Sterilität“, welche ab 1970 als „Fortschritte der Fertilitätsforschung“ (FDF) weitergeführt wurde. 1986 wurde die Zeitschrift „Fertilität“ (F) gegründet, die als das Organ der Gesellschaft übernommen wurde und ab 1998 dann unter dem Titel „Reproduktionsmedizin“ (RM) herausgegeben worden ist. Seit 2004 bis dato wird die Zeitschrift als „Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie“ (JRE) weitergeführt.57 Zur Erhebung der Daten waren sowohl Recherchen in Archiven als auch Durchsichten entsprechender elektronischer Fachdatenbanken nötig. 57 Die DGRM ist gegenwärtig mit-herausgebende Organisation des grenzüberschreitenden und interdisziplinären „Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie“, zu welchem anfangs zehn herausgebende Organisationen gehören (JRE 2004, Volume 1, Nr. 1): „Arbeitsgemeinschaft Reproduktionsbiologie des Menschen“ (AGRBM), „Bundesverband Reproduktionsmedizinischer Zentren Deutschlands“ (BRZ), „Dachverband Reproduktionsbiologie und -medizin“ (DVR), „Deutsche Gesellschaft für Andrologie“ (DGA), „Deutsche Gesellschaft für Gynäkologische Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin“ (DGGEF), „Deutsche Gesellschaft für Reproduktionsmedizin“ (DGRM), „Deutsches IVFRegister e. V.“ (DIR), „Embryologenforum Austria“ (EFA), „Österreichische Gesellschaft für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie“ (OEGRM), „Sektion Reproduktionsbiologie und -medizin der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie“ (SRBM/DGE).
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Die Dokumente der Zeitschriften „Fortschritte der Fertilitätsforschung“ (FDF) sowie die Zeitschrift „Fertilität“ (F) wurden per Archivrecherche gesichtet, während die Dokumente der Zeitschrift „Reproduktionsmedizin“ (RM) und „Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie“ (JRE) in elektronischen Datenbanken ermittelt werden konnten. Sofern in dem Datenmaterial Bezug auf weitere (medizinische) Diskurse genommen wurde, wurden diese in die Analyse mit einbezogen. Dies sind in der Hauptsache die medizinischen Standesrichtlinien zur Durchführung reproduktionsmedizinischer Maßnahmen. Die Bundesärztekammer hat zum ersten Mal 1985 Richtlinien zur Durchführung der assistierten Reproduktion erlassen, diese wurden 1998 und 2006 fortgeschrieben. In die Analyse sind zudem veröffentlichte Dokumente des „Arbeitskreis für Donogene Insemination e. V.“ (AKDI) als eine „Vereinigung von Ärzten, die Behandlungen mit Fremdsperma durchführen und/oder Samenbanken betreiben“ (http://www. donogene-insemination.de [27.04.2018]) eingegangen. Die Hauptgrundlage der vorliegenden Untersuchung des reproduktionsmedizinischen Diskurses zur Spendersamenbehandlung sind also vom Diskurs selbst produzierte textförmige Daten. Die konkreten Praktiken der Anwendung und Durchführung der Spendersamenbehandlung in der reproduktionsmedizinischen Praxis und ihren Behandlungsräumen sowie die Aneignung dieser Behandlungsform durch die Patient_innen sind nicht Gegenstand der Analyse. „Aber auch wenn man sich darüber im klaren sein muss, dass eine prinzipielle Differenz besteht zwischen dem im Text angesprochenen Wirklichkeitsausschnitt, der davon abgehobenen Wirklichkeit des Textes und der tatsächlichen Realität, so lässt sich gleichwohl [...] aufzeigen, dass wissenschaftliche Texte und ihre Aussagen Bestandteile einer von Macht und Wissen durchwobenen gesellschaftlichen Praxis sind und diese wesentlich konstituieren“ (Waldschmidt 2010: 168).
Zur Ergründung des reproduktionsmedizinischen Untersuchungsfeldes und zur Eingrenzung des in Frage kommenden Datenmaterials sind zunächst vier Expert_inneninterviews58 mit in der Reproduktionsmedizin Tätigen, welche in ihrer Praxis die Behandlung mit Spendersamen anbieten, durchgeführt worden. Von Interesse sind folgende Gegebenheiten gewesen: In welche Strukturen und fachmedizischen Gesellschaften sind die Beteiligten 58 Expert_inneninterviews zielen hier allein auf die explorative Felderschließung (vgl. Meuser/Nagel 2005).
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involviert? Welche Regulierungen erscheinen als relevant? Als relevant erschien somit die Abfrage des organisatorisch-institutionellen Settings und relevanter diskursiver Ereignisse. Die hier durchgeführten Interviews mit einer Randstellung im Forschungsprozess dienten lediglich zur Felderschließung, zur ersten Orientierung, um die Relevanzen, Abläufe in diesem Feld zu sondieren, bevor der Datenkorpus zusammenstellt wurde. Die Datenauswahl wurde zeitlich so eingegrenzt, dass der Schwerpunkt des Korpus auf Texten liegt, die im Zeitraum von 1978–2010 veröffentlicht wurden. In diesem Zeitraum etabliert sich die Reproduktionsmedizin und ihre Anwendungsmethoden gewinnen enorm an Bedeutung. Die Samenspende gehört als sogenanntes „low-tech-Verfahren“ (Kettner 2001) zwar bereits länger zum medizinischen Experimentier- und Behandlungsrepertoire, 1978 markiert jedoch das Jahr der ersten erfolgreichen Durchführung einer In-vitro-Fertilisation (IVF), welche als „Schlüsseltechnologie“ der modernen Reproduktionsmedizin gilt (vgl. Schreiber 2007: 10). Die Geburt des ersten Kindes nach Durchführung einer IVF war begleitet von großer medialer Aufmerksamkeit und kontroversen Diskussionen in Medizin und Gesellschaft. Mit Jürgen Link (1999) kann dieses Ereignis als ein „diskursives Makroereignis“ und dementsprechend als großer Umbruch bezeichnet werden (ebd.: 150). Die Erhebung von Daten eines Zeitraums von über 30 Jahren ermöglicht dabei die Analyse von Diskurs und sozialem Wandel. Der Diskurs, von Siegfried Jäger (1999) metaphorisch „als Fluß von ,Wissen‘ bzw. sozialen Wissensvorräten durch die Zeit“ (ebd.: 132) beschrieben, kann somit ein Stück weit auf dem Weg begleitet werden. Die diskursiven Legitimierungsweisen der Spendersamenbehandlung werden im zeitlichen Verlauf im Hinblick auf Veränderungen und Brüche aber auch auf Verschränkungen mit anderen Diskursen analysiert. Mit Keller (2011a) soll an dieser Stelle betont werden, dass auch sozialwissenschaftliche Diskursforschung keine „Wahrheit“ produziert, sondern vielmehr „Aussageereignisse“, die selbst Teil eines Diskurses sind (ebd.: 65). Dies gilt ebenso für diese vorliegende Studie, auch sie ist letztlich Teil eines sozialwissenschaftlichen Diskurses über Diskurse. Mit der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA) werden die zu analysierenden Texte als materiale Manifestationen gesellschaftlicher Wissensordnung begriffen und sind Grundlage der wissenssoziologischen Rekonstruktion der Produktion, Stabilisierung und Veränderung kollektiver Wissensvorräte (vgl. Keller 2011a: 78). Ein relevanter Unterschied zwischen Diskursanalyse und anderen Ansätzen der interpretativen Sozialforschung liegt dabei in der Annahme „textübergreifender Verweisungszusammenhänge in Gestalt von
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Regeln und Ressourcen, also Strukturen der Aussageproduktion“ (Keller 2011a: 78). Diskurse stehen immer in einem interdiskursiven Kontext und ihre Analyse ist immer zugleich „Kontextanalyse“ (Schwab-Trapp 2003). Die nun folgende Darstellung des diskursiven Kontextes dient dazu die Bedingungen nachzuvollziehen, in denen die zu analysierenden Diskursbeiträge entstanden sind. Aufgezeigt wird, dass die Auseinandersetzungen zur Samenspende als eine medizinische Behandlungsmethode in einen dynamischen Wandel des Kontextes der Reproduktionsmedizin eingebunden gewesen sind.
Etablierung der Reproduktionsmedizin und der Samenspende in Deutschland Wissenschaftlicher und institutioneller diskursiver Kontext
Die Etablierung der Samenspende als eine reproduktionsmedizinische Behandlungsmethode innerhalb der Medizin sowie die dynamischen Entwicklungen der sich konstituierenden Reproduktionsmedizin werden im Folgenden als „Kontextanalyse“ (Schwab-Trapp 2003) ausgeführt. Die einzelnen Diskursbeiträge zur Samenspende sind Teil eines reproduktionsmedizinischen Diskurses und auf andere Diskursbeiträge bezogen, die wiederum ebenfalls Bestandteil von Auseinandersetzungen sind. Schwab-Trapp (2003) bestimmt die Beziehung zwischen den Diskursbeiträgen mehrdimensional als Bestandteile von diskursiven Auseinandersetzungen und hebt hervor, dass Diskursbeiträge „immer auch Beziehungen zu mehr oder weniger verwandten Diskursen herstellen und auf diese Weise Diskurse miteinander verknüpfen“ (ebd.: 38). Im Kapitel 2 „Kontroverse Reproduktion“ sind die gesellschaftlichen und regulativen Auseinandersetzungen und Debatten zur Reproduktionsmedizin und zu ihren Behandlungsmethoden als Teil des historisch sozialen Kontextes nachgezeichnet worden. Hier soll nun der weitere Hintergrund für die Etablierung und Legitimierung der Samenspende in Deutschland beleuchtet und sowohl die wissenschaftlich-medizinischen Entwicklungen als auch die Wege der Institutionalisierung und Professionalisierung von Reproduktionsmedizin und der Spendersamenbehandlung dargelegt werden. Insbesondere ist das institutionell-organisatorische Umfeld von Interesse. Hierzu wird die Ressourcenverteilung im Kontext des institutionellen Feldes der Reproduktionsmedizin näher beleuchtet und die Ausbildung von relevanten „Sprecherpositionen“ (Keller 2008) als legitime Orte der Produktion von Aussagen im reproduktionsmedizinischen Diskurs dargelegt.
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Welche Positionen, von denen aus gesprochen werden kann, sind im zeitlichen Verlauf des reproduktionsmedizinischen Diskurses gegeben? Welche Ressourcen liegen der Produktion der Aussagen zugrunde? In welchem institutionellen Feldern erscheinen diese?
WISSENSCHAFTLICH-MEDIZINISCHE UND TECHNISCHE ENTWICKLUNGEN DER SPENDERSAMENBEHANDLUNG Wissenschaft und Technik gelten als wesentliche Triebfedern gesellschaftlicher Modernisierung und Innovation. Die moderne Medizin stand „von Beginn ihrer Entwicklung an in enger Beziehung zu technologischen Neuerungen. Medizinischer Fortschritt ist heute ohne die fortlaufende Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis und ohne die Entwicklung immer neuer technischer Verfahren kaum denkbar“ (Bora/Kollek 2011: 11). Die Behandlung mit Spendersamen beim Menschen wird allgemein als eine der ältesten Methoden medizinisch assistierter Fortpflanzung eingeordnet (Katzorke 2008) und heute innerhalb der Disziplin als technisch relativ unaufwändiges „low-tech-Verfahren“ angesehen (Kettner 2002: 36f.). Jedoch mussten durch wissenschaftlich-medizinische und technische Forschungen und Entwicklungen überhaupt erst die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass sich die Spendersamenbehandlung als anerkannte wissenschaftliche Methode etablieren konnte. Eine frühe erfolgreiche instrumentelle Spendersamenübertragung beim Menschen ist bereits 1884 in Philadelphia, USA dokumentiert und gegen Ende des 19. Jahrhunderts sind auch für Deutschland erste Behandlungen nachgewiesen. Vormals waren Inseminationsversuche vor allem in der Tierzucht üblich (vgl. Katzorke 2008: 90ff.). Auch wenn im 18. und 19. Jahrhundert „die Frau“ als vergeschlechtliches „Sonderwesen“ (Honegger 1991) und ihr Körper im Zentrum der medizinischen Erforschung stand, sind zugleich schon im 19. Jahrhundert Fälle männlicher Sterilität in den Werken der Medizin beschrieben und dokumentiert (Benninghaus 2012). „The article indicates that by the early 1890s, male infertility had become an element of public knowledge. In the decades before, a redefinition of the phenomenon of male sterility had taken place within the medical community“ (ebd.: 654).
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Christina Benninghaus (2005) stellt in ihrer historischen Untersuchung medizinischer Debatten zur künstlichen Befruchtung um 1910 heraus, dass die Insemination selbst als ein peinliches Verfahren und eine „unästhetische Prozedur“ verhandelt wurde. Zudem war die Insemination zu dieser Zeit ein medizinisch eher bedeutungsloses Verfahren und erfolgreich durchgeführte Versuche blieben Einzelerscheinungen. Die Phasen und Funktionen des weiblichen Zyklus wie beispielsweise sein Konzeptionsoptimum – der Zeitpunkt im Zyklus, zu dem eine Empfängnis am wahrscheinlichsten ist – waren noch nicht erforscht, und so waren Befruchtungsversuche mit nur geringen Erfolgsaussichten verbunden (vgl. ebd.: 122). Die Insemination war in der medizinischen Praxis kaum von Relevanz. Erst mit wachsender Kenntnis des weiblichen Zyklus und dessen Fruchtbarkeitsschwankungen konnte eine Voraussetzung zur erfolgreichen Durchführung der Samenspende geschaffen werden, die Berechnung des Konzeptionszeitraums wurde erst im Laufe der 1930er Jahre möglich. 59 Neben dem Wissen um die zyklischen Schwankungen der weiblichen Fruchtbarkeit war die Erforschung relevanter Parameter männlichen Spermas eine weitere wichtige Voraussetzung. Florence Vienne (2006) hat in historischer Perspektive aufgezeigt, wie die männliche Sterilität, die „Sterilitas Viriles“, insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus im Kontext von Bevölkerungspolitik Gegenstand zahlreicher medizinischer Experimente am Menschen wurde und sich in der Fachliteratur eine Auseinandersetzung über männliche Sterilität entwickelte. Der männliche Körper wurde dabei Gegenstand medizinischen Wissens und dementsprechend medikalisiert. 60 Allerdings richtete sich das medizinische Interesse am männlichen Körper besonders auf das von ihm produzierte Sperma. Im Rahmen der medizinischen Verbrechen in dieser Zeit bestand Zugriff auf „männliche Patienten“ mit der Diagnose „erbkrank“ und somit zur Erforschung männlicher Fertilität und Sterilität (vgl. ebd.). 59 Zu dieser Zeit hatten die Gynäkologen Kiusako Ogino und Hermann Hubert Knaus den Menstruationskalender als Berechnungsgrundlage der zyklischen Schwankungen der Frau entworfen (Schlünder 2005). 60 Florence Vienne (2005) betont, dass sich die Medikalisierung des Männerkörpers von der Medikalisierung des Frauenkörpers unterscheidet. Während der Gebärmutter und den Eierstöcken eine entscheidende Rolle in der Geschichte der Sexualisierung und Pathologisierung von Frauen und Weiblichkeit zukamen, fand eine entsprechende Lokalisation von Männlichkeit nicht statt (vgl. ebd.: 148).
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„Obwohl der Begriff ,Reproduktionsmedizin‘ erst nach 1945 entstand, verdeutlichen die beschriebenen Forschungen zur männlichen Fertilität, dass der Nationalsozialismus ein wichtiges Kapitel ihrer Geschichte darstellt. Durch die Sterilisationsoperationen [...] aber auch durch die Definitionen der Sterilität als Krankheit und die Gründung von Einrichtungen zur Sterilitätsbehandlung erhielten Ärzte in einem bis dahin unbekannten Ausmaß Zugang zu männlichen Patienten“ (ebd.: 226).
Auf der Grundlage des im Jahr 1933 erlassenen „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurden 300.000 bis 400.000 Menschen zwangssterilisiert (Weikert 2001: 37f.).61 Dem Sperma wurde in der medizinischen Forschung großes Interesse entgegengebracht. So wurde eine Untersuchungsmethode von dem NS-Arzt Hans Stiasny und seinen Kollegen entwickelt, mit welcher die Anzahl und Qualität von Spermien ermittelt und klassifiziert werden konnte (Vienne 2005: 146). Dieses sogenannte Spermiogramm 62 dient noch heute zur Bewertung bestimmter Parameter des männlichen Spermas. Die Samenzellen werden durch mikroskopische Beurteilung im Hinblick auf Eigenschaften wie Spermiendichte, -anzahl, -beweglichkeit und Gestalt untersucht. Mit dem Spermiogramm und der damit einhergehenden Analyse und Kategorisierung der Qualität des Spermas ist männliche Fertilität quantifizierbar geworden. In ihrer historischen Analyse zum männlichen reproduktiven Körper in der Biomedizin stellt Antje Kampf (2013) die Entwicklung der Behandlung männlicher Infertilität und die Relevanz der Diagnostik in klinischen Settings und Laboren heraus.
61 Zur Erforschung von Zwangssterilisation im Nationalsozialismus und zum Zusammenhang von Geschlechterpolitik und Rassenpolitik siehe Gisela Bock (1986). 62 Das Spermiogramm, auch benannt als Spermatogramm, wird definiert als „tabellarische Zusammenstellung bestimmter Parameter des durch Masturbation gewonnenen Spermas, Ejakulats (nach mindestens 5-tägiger sexueller Karenz). Bewertet werden Menge=Spermiendichte, pH, Fructosegehalt bzw. -index (Relation zwischen Fructoseverbrauch u. Spermienanzahl), Viskosität (10%ige Erhöhung=doppelter Fructoseverbrauch der Spermien), DNS-Gehalt sowie Anzahl, Basalmotilität (‘Spermabeweglichkeitsfaktor‘) u. Gestalt der Spermien“ (Roche Lexikon Medizin 2003: 1728).
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„In Germany, male infertility, which was once simply determined by a lack of offspring, came to be more precisely established by scientific efforts to classify, stan dardize and normalize male bodies” (ebd.: 30).
Das Spermiogramm als ein wissenschaftliches, standardisiertes Instrument zur Klassifikation männlicher Körper bezüglich ihrer Fertilität und die Möglichkeit der Messbarkeit und Beurteilung von Sperma ist eine weitere wichtige Voraussetzung bei der Etablierung der Spendersamenbehandlung gewesen. Eine wesentliche Folgerung ist die Erkenntnis gewesen, dass nicht nur weibliche Sterilität zu einer kinderlosen Ehe führen kann, sondern ebenso Störungen der Fertilität beim Mann. Die Diagnosen einer Störung der Fertilität verteilen sich etwa gleich auf Männer und Frauen (vgl. Wischmann 2012: 55). Eine weitere relevante Voraussetzung der Etablierung der Spendersamenbehandlung stellt die Erforschung der Möglichkeiten zur Aufbereitung und Aufbewahrung von Sperma dar. Die Lagerung findet in sogenannten Kryo- oder Samenbanken statt. Die ersten Samenbanken entstanden in den 1960er Jahren in den USA. Anfang der 1980er Jahre wurde die erste Samenbank in Deutschland eröffnet. Erst mit der erfolgreichen Durchführung der Kryokonservierung von Sperma – dem Einfrieren und Aufbewahren des Spermas bei tiefen Temperaturen in flüssigen Stickstoff – ist die Lagerung dieser Substanz ohne großen Qualitätsverlust in größerem Umfang möglich. Laura J. Mamo (2005) bezeichnet „sperm banks“ auch als „technoscientific institutions“. „Over the past 25 years, the availability of commercialized sperm banks providing donor sperm to be used in assisted reproduction has altered public understandings of procreation as the ,natural‘ product of hetero-sex. The commodifications of this biomaterial and its associated services were formerly excluded from the marketplace; now they are omnipresent as objects for consumption“ (ebd.: 237).
Der Ort der Übertragung des Spermas musste somit nicht mehr der Ort der Spermagewinnung sein, die Möglichkeit eine zeitlichen und räumlichen Trennung war gegeben. Sperma ist haltbar, transportabel und zirkulierbar geworden und somit besteht die Möglichkeit des kommerziellen Handels mit dieser Substanz.
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„Die leichte Veräußerbarkeit männlichen Samens hat diesen zu einem Prototyp kommodifizierbarer Körpersubstanz werden lassen, der modellbildend für die ökonomische Erschließung weiterer Körperstoffe ist“ (Knecht 2010: 17).
Nach der ersten erfolgreichen Anwendung der IVF nahm Anfang der 1980er Jahre auch in Deutschland die Ausbreitung dieser Behandlungstechnik und anderer Techniken der assistierten Reproduktion zu. Im medizinischen Spezialdiskurs dieser Zeit werden die jeweiligen Techniken der Insemination und die verschiedenen Arten ihrer Applikation, wie „die intravaginale, intrazervikale, die perizervikale (Kappenmethode) und die intrauterine Insemination“ (FDF 1986, Band 13: 236f.) in ihren jeweiligen Vorund Nachteilen vermehrt diskutiert. Eine weitere, häufig diskutierte Fragestellung bezieht sich auf die technologische Aufbereitung und Aufbewahrung von Sperma. Dabei wird das Für und Wider von kyrokonserviertem Sperma und „Frischsperma“ diskutiert. Diese Diskussionen nehmen großen Raum ein – sowohl veterinärmedizinisch bezüglich „Tiefgefrierkonservierung tierischen Spermas“ (FDF 1980, Band 8: 254 –255) als auch mit Blick auf den Menschen, u. a.: „Probleme bei der Tiefgefrierkonservierung von Humansperma“ (FDF 1980, Band 8: 256–258). „Fortschritte bei der Kryokonservierung von Humansperma“ (FDF 1986, Band 13: 316–320).
Auch werden Erfahrungen mit der Organisation und Aufbewahrung des Spermas weitergegeben, u. a.: „Organisation der heutigen Kryospermakonservierung und -deponierung“ (FDF 1984, Band 12: 589–593).
Während zunächst noch Diskussionen darüber stattfanden, ob bei der Samenspende das Sperma eingefroren oder „Frischsperma“ verwendet werden
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solle, ist dies mit Aufkommen um das Wissen von Aids/HIV 63 und seine Übertragungswege in den 1980er Jahren nicht mehr diskutabel. Die Kenntnisse über die Ansteckungsrisiken führten zur ausschließlichen Verwendung kryokonservierten Spermas, dessen Freigabe erst sechs Monaten nach einem negativen HIV-Test des Spenders erfolgt (vgl. Katzorke 2008: 124f.). Besprechungen der Erfahrungen mit der Kryokonservierung und mit dem Betrieb von Samenbanken finden sich in der reproduktionsmedizinischen Fachliteratur der 1980er Jahre: „Erfahrungen mit der Kryokonservierung in der Kryobank“ (FDF 1984, Band 12: 609 –613). Auch die „Qualitätskriterien für Langzeitkonservierung“, mit denen die für eine Konservierung vorauszusetzenden „Spermaparameter“ (FDF 1986, Band 13: 207ff.) beschrieben werden, sind Gegenstand fachmedizinischer Debatten. Anfang der 1990er Jahre werden die Techniken und Kriterien der Anaylse von Sperma und die Aufbewahrung weiterhin intensiv diskutiert. Im 1990 erschienen Kongreßband der „Deutschen Gesellschaft zum Studium der Fertilität und Sterilität“ beschäftigen sich 19 Artikel ausführlich mit der Beurteilung von Sperma, etwa „Spermatozoenmotilität“ und „Spermatozoenfunktionstests im Rahmen der Sterilitätsbehandlung“ (FDF 1990, Band 18). Vorwiegend werden dabei computergestützte Analysen besprochen und verschiedene Techniken entwickeln sich rasant weiter und werden verglichen. Die Entwicklungen weiterer Techniken der Reproduktionsmedizin können auch in den 1990er Jahren als rasant bezeichnet werden. So etablierte sich ein neues Verfahren bei männlicher Sterilität bzw. ungenügender Spermienqualität: die Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI). Bei dieser erstmals 1992 erfolgreich durchgeführten Methode wird eine einzelne Samenzelle, welche zur Befruchtung geeignet erscheint, unter dem Mikroskop mittels Pipette direkt in das Zytoplasma einer Eizelle injiziert.64
63 Aids (acquired immunodeficiency syndrome) bezeichnet eine durch Virusinfektion mit dem Humanen Immundefizienz-Virus (HIV) „erworbenes ,Immundefekt-Syndrom‘ mit Störung des zellulären Immunsystems u. ausgeprägter Verminderung (bis Fehlen) der T-Helfer-Zellen“ (Roche Lexikon Medizin 2003: 34). Das HI-Virus kann durch Körperflüssigkeiten wie Blut und auch Sperma übertragen werden. 64 Auch bei der Diagnose Azoospermie, dem Fehlen von Spermien im Ejakulat, ist es nun möglich, Spermien aus dem Hoden oder Nebenhoden mittels testikuläre Spermienextraktion (TESE) für die ICSI zu gewinnen.
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Mit der Etablierung der ICSI sind die Zahlen reproduktionsmedizinischer Behandlungen mit Spendersamen rückläufig. Betont wird jedoch, dass dieses Verfahren die Samenspende nicht obsolet mache und weiterhin bestimmte Indikationen fortbestünden, wie z. b. genetische Parameter, therapieresistente Azoospermie oder Therapieversagen anderer Verfahren. „Bei allen Therapieverfahren der assistierten Reproduktion gibt es viele Therapieversager. Also werden viele Ehepaare mit Kinderwunsch nach Alternativen suchen, z. b. auch die donogene Insemination beantragen“ (F 1995, Band 11: 231).
Gegenwärtig wird von weiterhin ca. 1000 Geburten nach Spendersamenbehandlung in der reproduktionsmedizinischen Praxis in Deutschland pro Jahr ausgegangenen (vgl. Katzorke 2008: 98). Mit der Darstellung der wissenschaftlich-medizinischen Entwicklungen wird deutlich, dass zunächst medizinisch technische Kenntnisse zu erlangen waren, um Kontrolle über reproduktive Prozesse zu ermöglichen. So zeigt sich, dass die Etablierung der Samenspende als eine reproduktionsmedizinische Behandlungsmethode in verschiedener Hinsicht voraussetzungsvoll gewesen ist.
PROFESSIONALISIERUNG DER REPRODUKTIONSMEDIZIN UND DIE ENTSTEHUNG VON LEGITIMEN ORTEN DES SPRECHENS „Die Reproduktionsmedizin ist in mehrfacher Hinsicht ein dynamischer Bereich. Neben der Technik selbst und der kontinuierlichen Erweiterung der Methoden gilt dies ebenfalls für deren praktische Anwendung“ (Berg 2002: 27).
Mit der Entwicklung und Ausbreitung von wissenschaftlich-medizinischem Wissen zur Reproduktion und reproduktionsmedizinischen Behandlungsmethoden entwickeln sich auch die organisatorischen Strukturen der Reproduktionsmedizin weiter. Die wissenschaftliche Anerkennung der Reproduktionsmedizin und ihre Legitimation waren nicht von vornherein gegeben,
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die Disziplin musste sich als Teilgebiet der Medizin erst institutionalisieren und professionalisieren. Neue „Sprecherpositionen“ mussten im medizinischen Diskurs ausgebildet und auch institutionell durchgesetzt werden. Diese Orte legitimen Sprechens in Diskursen sind nach Keller (2008) mit „Rollensets verknüpfte, institutionell-diskursive strukturierte Orte für legitime Aussagenproduktion innerhalb eines Diskurses“ (ebd.: 235). In wissenschaftlichen Diskursen wie auch im reproduktionsmedizinischen Spezialdiskurs sind legitime „Sprecherpositionen“ durch konkrete medizinische Ausbildung und Qualifikationskriterien bestimmt. Wissenschaftliche Spezialdiskurse wie die Medizin konstituieren die strengsten Verknappungsprozeduren (ebd.: 253). So sind Diskurse mit Ermächtigungs- und Ausschlusskriterien verbunden. Dabei sind sowohl die Aussagen als auch die Menge möglicher Sprecher_innen unterschiedlichen Verknappungsprozessen unterworfen, wie „Ritualen der Qualifikation, Kommentierungen, die den Stellenwert von Aussagen im Diskurs bewerten, Wahr-Falsch-Urteilen, die bewahrenswerte ,Ergebnisse‘ selektieren“ (ebd.: 137). Die Institutionalisierung und Professionalisierung der Reproduktionsmedizin und ihrer Behandlungsmethoden wie die Spendersamenbehandlung soll im Weiteren nachgezeichnet werden. Wie gelang es der im Entstehenden begriffenen Reproduktionsmedizin „Orte des legitimen Sprechens“ bzw. „Sprecherpositionen“ zu schaffen? Im Jahr 1958 wurde die „Deutsche Gesellschaft zum Studium der Fertilität und Sterilität“ als eine interdisziplinäre Vereinigung gegründet. 65 Diese wurde 1998 in die „Deutsche Gesellschaft für Reproduktionsmedizin“ (DGRM)66 umbenannt. Zunächst fanden regelmäßige wissenschaftliche Gemeinschaftstagungen der Österreichischen und der Deutschen Gesellschaft statt. Die herausgegebenen Bände der Gesellschaft sind mit „Fortschritte der Fertilitätsforschung“ (FDF) benannt und erschienen von 1971 bis 1990. In dieser Zeit werden insgesamt 17 Bände beim Verlag Grosse Berlin mit den Nummern 1–10 und 12–18 veröffentlicht. Anfangs arbeiteten verschiedene Fachdiszipline zusammen. Der Gründungsgedanke der Deutschen Gesellschaft zum Studium der Fertilität und Sterilität war geprägt davon, die „Struktur eines Forscher- und Klinker-Teams von Gynäkologen, Androlo65 Der Gründung der deutschen Gesellschaft ging die im Jahr 1951 in Rio de Janeiro gegründete „International Fertility Association“ (IFA) voraus. 66 Die Website dieser ältesten und mitgliederstärksten reproduktionsmedizinischen Gesellschaft ist verfügbar unter: http://www.repromedizin.de [27.04.2018].
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gen und Veterinärmedizinern, die gemeinsam an reproduktionsbiologischen Aufgaben und deren Problembewältigung arbeiten“ zu schaffen (FDF 1980, Band 8: 5). Die ersten Tagungen fanden in Anbindung an Kongresse großer gynäkologischer Gesellschaften statt. Im Selbstverständnis dieser Gesellschaft wurden die „Fortschritte in der Kenntnis von den Mechanismen, die für die Fertilität entscheidend sind“ und die „Steuerung der Fruchtbarkeit“ zu Zielen erklärt (FDF 1980, Band 8: 19). 1985 wurde die Zeitschrift „Fertilität“ (F) gegründet, herausgegeben als Organ der Deutschen Gesellschaft zum Studium der Fertilität und Sterilität e. V. und der Mitteleuropäischen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin. 1998 löste die Zeitschrift „Reproduktionsmedizin“ (RM) die Zeitschrift „Fertilität“ ab. Für alle in der Reproduktionsmedizin Tätigen sollte diese ein Forum sein „für Berichte und Informationen aller Gruppierungen im deutschen Sprachraum, die sich mit Fragen der Reproduktion befassen“ (RM 1998, Volume 14, Nr. 1: 1). Diese Zeitschrift wird schließlich ab 2004 unter dem neuen Namen „Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie“ (JRE) herausgegeben und dient seitdem als offizielles Organ von den in der Reproduktionsmedizin organisierten Gesellschaften. „Die Zeitschrift will über alle Facetten dieses schnell wachsenden Gebietes berichten und damit gleichzeitig den Charakter der Reproduktionsmedizin und -biologie stärken“ (JRE 2004 Jg. 1, Nr. 1: 5).
Deutlich zeigt sich, dass sich die relevanten in der Reproduktionsmedizin arbeitenden Organisationen interdisziplinär zusammengeschlossen und ein offizielles Organ herausgegeben haben. Damit konnten eine breite Leserschaft adressiert und die Lobbyarbeit der Reproduktionsmedizin sukzessive gestärkt werden. Mit diesem Zusammenschluss der Organisationen ist eine garantierte Vergrößerung der Leserschaft verbunden. Im Impressum wird als grundlegende Richtung angegeben „Fachzeitschrift zur Information und Weiterbildung sowie Veröffentlichung von Übersichts- und Fortbildungsartikeln aus dem In- und Ausland“ (http://www.kup.at/journals/reproduktionsmedizin/impr essum.html [27.04.2018]), womit eindeutig der Charakter als Fortbildungsorgan hervorgehoben wird. 2003 ist vom Deutschen Ärztetag der fachärztliche „Schwerpunkt „Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin (GE/RM)“ mit dreijähriger Weiterbildungszeit beschlossen worden, was auf diesem Gebiet eine „führbare Berufsbezeichnung“ bedeutet, die nach außen erkennbar ist (JRE 2004, Jg. 1, Nr. 2: 120).
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Mit der Ausbreitung der IVF-Behandlungen stieg bereits in den 1980er Jahren die Anzahl der Mediziner_innen, die sie anwendeten. Im Jahr 1986 existierten in der BRD 36 medizinische „IVF-Arbeitsgruppen“, die zunächst vor allem in Universitätskliniken gegründet wurden (vgl. Barbian/ Berg 1997: 27f.).67 Gynäkologische Praxen, in denen die Verfahren zunehmend angewendet wurden, entwickelten sich bis Ende der 1990er Jahre zu spezialisierten, reproduktionsmedizinischen Zentren und wurden selbst Motor von Forschung und Verfahrensentwicklung, stärker noch als universitäre Kliniken (vgl. Orland 2003: 21). Mit der Gründung des „Bundesverband Reproduktionsmedizinischer Zentren Deutschlands e. V.“ (BRZ), (http://repromed.de [27.04.2018]) im Jahr 1996 sei, so Barbara Orland (2003), nicht nur die Absicht verfolgt worden, eine unabhängige Lobby für Auseinandersetzungen mit dem Gesetzgeber und den Krankenkassen zu schaffen. Darüber hinaus sollte eine gemeinsame Forschungsinfrastruktur geschaffen werden, welche die akademisch noch nicht verankerte Interaktion zwischen den beteiligten Fachgebieten etablieren sollte (vgl. ebd: 21). In Deutschland werden Zahlen zu reproduktionsmedizinischen Behandlungen registrierter Zentren durch das „Deutsche IVF Register“ (DIR) seit 1996 in Jahrbüchern erhoben. Dieses Register (verfügbar unter: http://www .deutsches-ivf-register.de/ [27.04.2018]) steht unter medizinischer Verwaltung und ist eine Einrichtung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG e. V.), getragen von der Deutschen Gesellschaft für gynäkologische Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin (DGGEF) und dem Bundesverband Reproduktionsmedizinischer Zentren (BRZ). Die Teilnahme am Register ist durch die Berufsordnung verpflichtend. Das DIR stellt jedoch eine freiwillige Einrichtung medizinischer Organisation dar und ist kein rechtlich institutionalisiertes Register. In vielen anderen europäischen Staaten gibt es nationale Register (vgl. Griesinger et al. 2008: 59). So hat sich etwa in Großbritannien die „Human Fertilisation and Embryologie Authority“ (HFEA), eine staatliche Behörde für die Datenerhebung und 67 Die organisatorische Entwicklung der Institutionalisierung der Reproduktionsmedizin unterscheiden sich in der BRD und DDR. In der DDR war die Behandlung auf sechs universitäre Zentren in Berlin, Halle, Leipzig, Jena, Magdeburg und Rostock konzentriert. Auch in der BRD war die überwiegende Zahl der 36 IVF-Arbeitsgruppen in Universitätskliniken tätig, es gab diese jedoch auch in Privatpraxen und Allgemeinen Krankenhäusern. Im Jahr 1998 hat ungefähr die Hälfte der inzwischen existierenden über 90 IVF-Gruppen in privaten Praxen gearbeitet (vgl. Berg 2000: 9).
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-auswertung, aber auch Überwachung der reproduktionsmedizinischen Einrichtungen etabliert. Während 1996 in Deutschland offiziell 71 IVF-Zentren registriert waren, stieg die Zahl bis 2010 auf 124 Zentren (http://www.deutsches-ivf-register.de/perch/resources/downloads/dirjahrbu ch2010d.pdf [27.04.2018]). Die große Mehrzahl der Zentren sind gynäkologische Praxen bzw. Praxisgemeinschaften. Die Bundesärztekammer (BÄK) veröffentlicht im Jahr 1985 die „Richtlinien zur Durchführung von In-vitro-Fertilisation (IVF) und Embryonentransfer (ET) als Behandlungsmethode der menschlichen Sterilität“. Diese waren einer der ersten Regularien in diesem Bereich.68 Mit diesen Richtlinien, welche seitdem mehrfach fortgeschrieben wurden, wird reproduktionsmedizinisches Handeln institutionalisiert und legitimiert. Sie sollen eine wesentliche Orientierungsfunktion für die Beteiligten haben, da die Fortpflanzungsmedizin nicht umfassend rechtlich geregelt sei (vgl. RL BÄK 2006: A-1392). Auch die Spendersamenbehandlung gewann in dieser Zeit als Teil der sich etablierenden Reproduktionsmedizin an institutioneller Form: 1995 konstituiert sich in Fulda der bundesweite „Arbeitskreis für Donogene Insemination e. V.“ (AKDI). Mit den vom AKDI veröffentlichten Richtlinien (RL AKDI 1995, RL AKDI 2006) sollen die donogene Insemination in Deutschland und die Indikation der Behandlung, die ärztlichen Voraussetzungen, die Durchführung, die Auswahl der Samenspender und die Dokumentationsdauer von ärztlicher Seite reguliert und Qualitätsstandards gesetzt werden. Die Gründung dieses Vereins kann als wichtiger Schritt zur Institutionalisierung der Spendersamenbehandlung betrachtet werden. Die aktuellen „Richtlinien des Arbeitskreises für Donogenen Insemination (DI) zur Qualitätssicherung der Behandlung mit Spendersamen in Deutschland in der Fassung vom 8. Februar 2006“ (RL AKDI 2006) sind zwar nur für Mitglieder bindend.69 Durch die Erarbeitung von ausformulierten Standards sind jedoch wirkmächtige Regelungsangebote geschaffen und ärztliche Behandlungspraktiken legitimiert worden.
68 Baraba Orland (2003) führt an, dass die Berliner Frauenklinik schon 1983 die Aufnahme der IVF in den Katalog der Sterilitätstherapien beschlossen und dabei Richtlinien für die Durchführung formuliert hat. Diese Regelungen, das „Berliner Modell“, beeinflussten die berufsständischen Richtlinien von 1985 (ebd.: 18).
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Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Reproduktionsmedizin sich erfolgreich als eigenständiges Fachgebiet innerhalb der Medizin etabliert hat. Meilensteine auf diesem Weg sind die Entwicklung von berufsständischen und fachmedizinischen Organisationen, die Gründung reproduktionsmedizinischer Fachgesellschaften und die Etablierung einer korrespondierenden Fachöffentlichkeit. Durch die Herausgabe eigener reproduktionsmedizinischer Fachzeitschriften ist ein spezifisches Publikum adressiert und erschaffen worden: diejenigen, an die sich der Spezialdiskurs der Reproduktionsmedizin richtet und von denen er rezipiert werden soll. Die Verbreitung von möglichst weitreichenden, eine große Leserschaft erreichenden fachwissenschaftlichen Publikationsorganen ist als eine Ressource im institutionalisierten Feld der Reproduktionsmedizin zu sehen. Die reproduktionsmedizinischen Organisationen können als Zusammenschluss kollektiver Akteure in diesem Bereich gesehen werden, sie schaffen als Akteursgruppen die entsprechenden Infrastrukturen als institutionell organisierte Zusammenschlüsse. Keller (2008) macht darauf aufmerksam, dass in institutionellen Feldern die Ressourcenverteilung für die Teilnahme am Diskurs eine zentrale Rolle spielt. Dabei haben die Gegebenheiten der jeweiligen bestehenden Diskursfelder wie hier der Wissenschaft bzw. Medizin allgemein Orientierung zur Ausgestaltung fachwissenschaftlicher und reproduktionsmedizinischer Tagungen und Publikationsorgane geboten. Die Akteure agieren im Diskurs und aus ihm heraus (vgl. ebd.: 253). Zur erfolgreichen Professionalisierung haben zudem diverse Formalisierungserfolge bei der Errichtung von Regularien und Qualitätsstandards und standardisierter Vorgaben für die fachmedizinische Aus- und Weiterbildung beigetragen. Im Spezialdiskurs der Medizin kristallisiert sich die Reproduktionsmedizin weiter heraus und wird durch spezifisch formalisierte Ausbildungsmöglichkeiten und -abschlüsse institutionalisiert. Ein bedeutender Schritt ist die im Jahr 2003 vollzogene Einführung der fakultativen Weiterbildung eines führungsberechtigten Schwerpunktes „Gynäkologische Endokrinologie und Reproduk69 Auf der Website des „Arbeitskreis für Donogene Insemination e. V.“ (AKDI) sind die medizinischen Praxen in Deutschland aufgeführt, die die Spendersamenbehandlung anbieten. Derzeit sind dort 33 Praxen, meist als „Kinderwunschzentrum“ benannt, und 13 Samenbanken organisiert. Häufig ist eine Samenbank an eine reproduktionsmedizinische Praxis angeschlossen (http://www. donogene-insemination.de/members.cgi?cmd=state&type=bank&state=sl 02.2017]).
[03.
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tionsmedizin“, mit dem die Ausbildung in der Reproduktionsmedizin standardisiert wird. Solch spezialisierte Ausbildungen können in wissenschaftlichen Spezialdiskursen „Verknappungsprozeduren“ konstituieren, die Menge der reproduktionsmedizinschen Sprecher_innen wird so bestimmt und eingegrenzt (vgl. ebd.: 253). Bevor sich dieser Ausbildungsweg in der deutschen Reproduktionsmedizin etablierte, erschienen explizit in den medizinischen Fachpublikationen zunehmend Forderungen nach Professionalisierung der Reproduktionsmedizin: „Forderung nach der Etablierung der Reproduktionsmedizin als eigenständiges Fach“ (FDF 1986, Band 13: 262).
Aus professionalisierungstheoretischer Perspektive ist interessant, welche spezifischen Ärztegruppe mit welchen Kompetenzen sich als meist geeignet präsentiert hat und in diesem Prozess durchsetzen konnten. Professionalität kann hier, wie bereits in Kapitel 3.1 dargestellt, verstanden werden als eine „symbolische Ressource“, auf deren Wissensbestände zurückgegriffen werden und die zur Legitimierung bestimmter Interessen eingesetzt werden kann (vgl. Karsch 2015: 85). Zunächst waren noch verschiedene konkurrierende medizinische Zuständigkeiten gegeben, insbesondere die Gynäkologie jedoch war bestrebt, erforderliche Qualifikationen nachzuweisen und das neue medizinische Feld zu besetzen. „Auf die Frage, wer bei uns diese Spezialität in Zukunft ärztlich versorgen soll, wo es doch noch kein Teilgebiet der ,Reproduktionsmedizin‘ gibt, muß die Antwort lauten, nur derjenige, der sich die erforderliche Qualifikationen dafür erworben hat; also nicht mehr jeder Gynäkologe oder jeder Dermatologe, [...]. Reproduktionsmedizinische Einzelpraxen, die sowohl ein hormonanalytisches als auch ein andrologisches Labor in eigener Regie unterhalten sollten, können nur von einem Voll-Gynäkologen versorgt werden. In größeren lassen sich weitere Spezialisten einbinden“ (FDF 1986, Band 13: 261).
Mit Betrachtung der Professionalisierungsprozesse in der Reproduktionsmedizin treten die verschiedenen bisweilen divergierenden Interessen und die daraus resultierenden Konflikte offen zu Tage, die Inhomogenität der Medizin als Gefüge aus zum Teil konkurrierenden Interessengruppen wird sichtbar. Wie schon in Kapitel 3.1 beschrieben, entstehen nach Rue Bucher
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und Anselm Strauss (1972) Interessenskonflikte innerhalb von Professionen häufig dort, wo neue Segmente entstehen und um Durchsetzung ringen. Solche Konflikte innerhalb der Ärzteschaft – wie der, welche Facharztausbildung und welche praktische Ausrichtung und Erfahrung am ehesten die Eignung zur reproduktionsmedizinischen Spezialisierung mit sich bringen – veranschaulichen die Vielschichtigkeit der Professionalisierungsentwicklung und sie resultieren in der Herausbildung neuer Strukturen und Konstellationen im Feld der Medizin. Mit Ellen Kuhlmann (2003) wurde bereits argumentiert, dass Professionalität kein statisches Merkmal ist, sondern immer wieder hergestellt werden muss. Im Zusammenhang mit der „diskursiven Macht der Professionalität“ muss professionelles Handeln demnach kontextbezogen erzeugt werden und es wird gleichzeitig verhandelt, was als professionell gilt. Im wachsenden und um Konturenschärfe ringenden Feld der Reproduktionsmedizin etablierte sich die Samenspende als Therapieangebot. Die organisationalen Entwicklungen, in deren Rahmen sich die Mediziner_innen kooperativ zusammenschlossen und die Anerkennung sowohl des Faches der Reproduktionsmedizin als auch seiner Anwendungen sind wichtige Schritte der Institutionalisierung und Professionalisierung der Reproduktionsmedizin und ihres methodischen Repertoires. Dem sich herauskristallisierenden reproduktionsmedizinischen Apparat ist es gelungen, sich als wichtigster Ort der Expertise für Themen innerhalb der durch ihn selbst markierten Grenzen seiner Profession zu etablieren. Durch diese Prozesse der Institutionalisierung und Professionalisierung werden gleichzeitig legitime Orte der Produktion von Aussagen und somit relevante „Sprecherpositionen“ geschaffen (Keller: 2008: 223). Mit und durch diese werden Beiträge zu Auseinandersetzungen über reproduktionsmedizinische Behandlungsmethoden autorisiert. Keller (2008) verweist damit auf die „institutionellen Regulierungen der Zugänge von Akteuren zum legitimen Vollzug diskursiver Praktiken, zu den gesellschaftlichen Orten, von denen aus ,ernsthaft‘ gesprochen werden darf“ (ebd.: 215). So sind Orte des legitimen Sprechens über die Reproduktionsmedizin und ihre Behandlungsmethoden geschaffen worden, von denen aus es möglich ist, medizinische Probleme zu benennen und medizinisch legitimierte Lösungen anzubieten.
Legitimierungsweisen der Samenspende als reproduktionsmedizinische Behandlungsmethode Eine diskursanalytische Betrachtung (1978–2010)
Die in Kapitel 5 dargelegten spezifischen institutionell-organisatorischen Voraussetzungen sind von zentraler Bedeutung für die Entwicklung der Reproduktionsmedizin als eine medizinische Subsdiziplin gewesen und bilden den Hintergrund bzw. die Folie der nun folgenden Materialanalyse. In Kapitel 2.1 wurden die diskursiven Auseinandersetzungen und Regulierungen der Reproduktionsmedizin und der Spendersamenbehandlung in Deutschland herausgestellt. Auf die dort ausformulierte Fragestellungen wird im Folgenden Rekurs genommen und drei Legitimierungsweisen für den reproduktionsmedizinischen Diskurs zur Spendersamenbehandlung am erhobenen Material erörtert. Zunächst wird in Kapitel 6.1 auf die Legitimierung durch Problematisierung als Konstitution einer reproduktionsmedizinisch zu lösenden Problematik Bezug genommen. Die Legitimierung durch Normalisierung stellt im reproduktionsmedizinischen Diskurs der Samenspende die grundlegendste Art der Legitimierung dar. Sie zeigt sich auf unterschiedlichen Ebenen, die in Kapitel 6.2 expliziert werden. Abschließend wird die Legitimierungsweise der Orientierung an Ergebnissen in Bezug auf die Spendersamenbehandlung in Kapitel 6.3 aufgezeigt.
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LEGITIMIERUNG DURCH PROBLEMATISIERUNG „Eine Problematisierung ist immer etwas Schöpferisches“ (Foucault 1996: 180).
Michel Foucault (1996) betont den schöpferischen und dynamischen Charakter von Problematisierungen, wenn er fragt, wie und warum bestimmte Dinge zum Problem werden können (vgl. ebd.: 179f.). Den Begriff der Problematisierungsweise führt Ulrike Klöppel (2010a) an Foucault anschließend weiter aus und zeigt auf, dass eine analytische Ausrichtung auf Problematisierungsweisen für Untersuchungen diskursiver Transformationen von Interesse sein können, die der Frage nachgehen, wie und unter welchen Umständen zugleich Veränderungen wie auch Stabilisierungen gesellschaftlicher Verhältnisse stattfinden. Dabei verweist „problematisieren“ als Begriff, so Klöppel (2010a), auf den gesellschaftlichen Interventionsprozess von Problemen, welcher kritisch hinterfragt werden kann: das Problem selbst erscheint als „strategische Intervention in ein dynamisches Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen“ (ebd.: 256). Im reproduktionsmedizinischen Diskurs werden die Disziplin selbst und ihre Behandlungsmethoden wie die Samenspende als Antwort auf ein Problem gesetzt. Doch was wird als Problem formuliert, als dessen Lösung sich die Reproduktionsmedizin und mit ihr die Spendersamenbehandlung präsentieren kann? Diese Darlegung einer zu lösenden Problematik kann als eine Art übergeordnete legitimierende Konstitution eines Themas verstanden werden. Reiner Kellers (2008) Konzept der Phänomen- bzw. Problemstruktur und der narrativen Strukturen hilft, die Legitimierungsweise der Problematisierung im reproduktionsmedizinischen Diskurs genauer zu fassen. Er stellt fest „dass Diskurse in der Konstitution ihres referentiellen Bezuges (also ihres ,Themas‘) unterschiedliche Elemente oder Dimensionen ihres Gegenstandes benennen und zu einer spezifischen Gestalt, einer Phänomenkonstellation verbinden“ (Keller 2008: 248). 70 Von Interesse ist die Konstruktion eines solchen Themas als „Problem“ und die Auseinandersetzung mit verschiedenen Problemdefinitionen. Keller (2008) geht davon aus, dass Dimensionen der Phänomen- oder Problemstruktur durch 70 Reiner Keller (2008) greift damit wissenssoziologische Überlegungen von Karl Mannheim (1969) zur „Aspektstruktur“ auf und bezieht diese in seine diskurstheoretischen Ausführungen mit ein.
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narrative Strukturen in Beziehung gesetzt werden können. Durch eine gemeinsame Grunderzählung zwischen verschiedenen Akteuren werden spezifische Vorstellungen von kausaler Verantwortlichkeit zugewiesen und die Dringlichkeit des Problems und seiner Lösung formuliert (vgl. ebd.: 252). Das Problem kann in einen größeren sozialen Kontext gesetzt werden. Zudem kommt es zur Darlegung von Kausalbeziehungen bezogen auf eine Problematik und zum Aufzeigen von notwendigem Handlungsbedarf zur Problemlösung. Die Legitimierung durch die Konstitution eines Phänomen- bzw. Problembereiches findet sich in der Reproduktionsmedizin durch eine übergeordnete Erzählungen von medizinisch lösbaren Problemen. Reproduktionsmedizinische Therapieansätze bieten demnach hier Lösungsmöglichkeiten. Doch die Problembereiche müssen erst einmal in der Zuständigkeit der Reproduktionsmedizin liegend markiert und definiert werden. Um einem solchen Vorgang nachzuspüren, scheint das Konzept der Medikalisierung vielversprechend. Wie in Kapitel 3 ausführlich diskutiert, beschreibt der Begriff Medikalisierung gesellschaftliche Prozesse, bei denen bisher als sozial gefasste Lebensbereiche von Menschen ins Zentrum der Erforschung der Medizin und deren Zuständigkeitsbereiche und Verantwortungen rücken. In diesem Prozess der Ausweitung von medizinischen Einflussbereichen, Wissen, Praktiken und Technologien werden vormals sozial gedachte Lebensbereiche zu Problemfeldern mit medizinischen Handlungsbedarfen. Peter Conrad (2007) hebt dieses Definieren eines Problems als medizinisch für den Prozess der Medikalisierung besonders hervor: „The key to medicalization is definition. That is, a problem is defined in medical terms, described using medical language, understood through the adoption of a me”
dical framework, or ,treated‘ with a medical intervention (ebd.: 5).
In den 1980er Jahren begann die im Entstehen begriffene Reproduktionsmedizin ihre Zuständigkeit für die Lösung von Problemen zu reklamieren, die sie als medizinische Probleme definierte. Im Folgenden wird aufgezeigt, wie sich die Reproduktionsmedizin zunächst selbst positionierte. Anschließend soll herausgearbeitet werden, für welche Problemkonstellationen die Reproduktionsmedizin mit ihren Behandlungsmethoden – und hier speziell der Samenspende – als Lösung präsentiert wird. Dabei wird auch den sich wandelnden Kontexten und verschiedenen Verortungen im zeitlichen Verlauf des untersuchten Diskurses nachgegangen.
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Bedeutung und Begründung der Reproduktionsmedizin: Von weltweiten Aufgaben zum Leiden von (Ehe-)Paaren an ungewollter Kinderlosigkeit Die Reproduktionsmedizin selbst definierte sich in den 1980er Jahren als eine Lehre von „Funktionen“ und „Störungen“ der Fortpflanzung sowie deren „Diagnostik“ und „Therapie“. Sie bot einen Beitrag zu Problembewältigung von „weltweiten Aufgaben“ an: „Reproduktionsmedizin ist die Lehre von den Fortpflanzungsfunktionen, ihren Störungen und von der Diagnostik und Therapie dieser Störungen. Gemessen an ihrer Bedeutung für die ärztliche Betreuung eines großen Teils der Weltbevölkerung, nämlich der ungewollt kinderlosen Paare, und für die Kontrolle der massiven Zunahme der Bevölkerungsdichte fristet sie in Forschung, Lehre und Fortbildung ein Schattendasein. [...] ein Gebiet also, das einen kritischen Beitrag zur Bewältigung einer der wichtigsten, wenn nicht gar der wichtigsten weltweiten Aufgabe leisten könnte, nämlich für die Eindämmung der Weltbevölkerung“ (UK-Leitfaden 1989: 11).71
In dem dargestellten Zitat wird die enorme Bedeutung der Reproduktionsmedizin zur Problemlösung als wichtigste weltweite Aufgabe herausgestellt. Die Reproduktionsmedizin richtet sich an einen großen Teil der Weltbevölkerung, „nämlich [der] ungewollt kinderlose[n] Paare“ und im selben Zusammenhang wird „die Kontrolle der massiven Zunahme der Bevölkerungsdichte“ genannt. Deutlich zeigt sich die Selbstverständlichkeit, mit der die Reproduktionsmedizin im Kontext der Bevölkerungspolitik als „Biomacht“ auftritt, welche sich als Machttechnologie nicht mehr auf den einzelnen Körper richtet, sondern auf den Gesamtkörper der Bevölkerung. Hier greifen nun Kontrolle und Regulierung (Foucault 1977). 72 Problematisiert wird sowohl 71 Dieses Zitat stammt aus dem Vorwort eines medizinischen Leitfadens „Unerfüllter Kinderwunsch: Leitfaden für Diagnostik, Beratung und Therapie in der Praxis“, welcher 1989 in der 1. Auflage, in 2. Auflage 1995 und in 3. Auflage 2003 jeweils im „Deutscher Ärzte-Verlag“ erschienen ist und durch führende Vertreter_innen der Reproduktionsmedizin herausgegeben wurde. 72 Zur Wandlung internationaler Bevölkerungspolitik, Reproduktion und Biomacht siehe Susanne Schultz (2006). Zur feministischen bevölkerungspolitischen Kontroverse siehe Heidi Hoffmann (1999).
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der Bevölkerungszuwachs (in den südlichen Teilen der Welt) als auch der Bevölkerungsrückgang (in den nördlichen Teilen der Welt). Ingrid Schneider (1994) merkt an, dass Forschungen zu Maßnahmen der Verhütung von Schwangerschaften und neue Methoden der Reproduktionsmedizin wie IVF „zwei Seiten derselben Medaille bilden“ (Schneider 1994: 42). Bei der Begründung der Notwendigkeit der Reproduktionsmedizin verschränken sich die Argumente für pronatalistische und antinatalistische Maßnahmen. Bettina Rainer (2005) stellt in einer Studie über den historischen „Überbevölkerungsdiskurs“ und die Theorie und Praxis der „Bevölkerungskontrolle“ heraus, dass in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg „das Problem der Überbevölkerung“ in der sogenannten „Dritten Welt“ für die Bevölkerungspolitik von großer Wichtigkeit war und als ein ökonomisches Problem behandelt wurde. Dabei werde die Entwicklung der Bevölkerung im globalen Kontext als Gefahr und Katastrophe dargestellt. „Das Dogma der ,Überbevölkerung‘ trat seinen internationalen Siegeszug an und diente in den folgenden Jahrzehnten als Legitimation zahlreicher antinatalistischer Maßnahmen, die zum Großteil in den Ländern des Südens durchgeführt wurden“ (Schulz 2004: 69f.).
Diesem der Bevölkerungspolitik zugrundeliegenden Dogma der „Überbevölkerung“ schließt sich die sich etablierende Reproduktionsmedizin an und legitimiert dabei die Forschung und Anwendung ihrer Methoden. Hierbei zeigt sich deutlich die Verschränkung von Diskursen in der Reproduktionsmedizin mit denen der Bevölkerungspolitik. Bei fast allen heutigen sogenannten Industriestaaten ist seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts ein unterschiedlich starker, jedoch anhaltender Rückgang der Geburtenraten zu beobachten (Münz 2007). Auch mit Verweis auf dieses über den wissenschaftlichen Rahmen hinaus recht breit und kontinuierlich gerade auch in der Politik problematisierten Phänomen bietet sich die Reproduktionsmedizin als gesellschaftlich nützlich an und begründet so ihre Legitimität. Indem herausgestellt wird, „daß Kinderlosigkeit nicht nur ein Einzelschicksal, sondern ein bevölkerungs- und gesundheitspolitisch relevantes Massenphänomen ist“ (UK-Leitfaden 1989: 11), wird impliziert, dass Kinder nicht nur für Einzelne, sondern vielmehr gesell-
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schaftlich und politisch bedeutungsvoll sind und umgekehrt Kinderlosigkeit73 eine über das persönliche „Einzelschicksal“ hinaus bevölkerungs- und gesundheitspolitisch bedeutsame Herausforderung ist, der sich der reproduktionsmedizinische Apparat mit seinen Behandlungsmethoden stellt. „Ungewollte Kinderlosigkeit ist eines der großen medizinischen und psychischen Probleme der westlichen Welt“ (F 1997, Band 12: 173).
Die Dringlichkeit des Problems der (ungewollten) Kinderlosigkeit für Politik und Gesellschaft wird expliziert und gleichzeitig die Lösung dieser Problematik im medizinischen Zuständigkeitsbereich verortet. So reklamiert die Reproduktionsmedizin legitime Einflussnahme über das „Einzelschicksal“ hinaus auch auf die Gesellschaft als Ganzes. Problematisiert wird, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Industriestaaten eine der niedrigsten Geburtenrate aufweise (FDF 1979, Band 7: 11f.). Der Spezialdiskurs der Reproduktionsmedizin, der sich hier auf den gesellschaftlich-politischen und demographischen Diskurs zum Geburtenrückgang bezieht, begründet so seine Bedeutung. Während in den 1980er Jahren im untersuchten Diskurs die Zusammenhänge von reproduktionsmedizinischen Behandlungsmaßnahmen und Bevölkerungspolitik sowie die Betonung von über das „Einzelschicksal“ hinausgehenden übergeordneten gesellschaftlichen Interessen der Reproduktionsmedizin explizit dargestellt worden sind, verschwinden diese Bezüge im weiteren zeitlichen Verlauf des Diskurses. 74 Die Argumentationslinien der Legitimation der reproduktionsmedizinischen Behandlungsmethoden verschieben sich und schon in den 1990er Jahren steht „das Leid ungewollt Kinderloser“ im Fokus. Im Jahr 2006 wird die Anwendung der Reproduktionsmedizin in der von der Bundesärztekam73 Bei dieser Argumentation wird „gewollte“ und „ungewollte“ Kinderlosigkeit nicht unterschieden. Rosemarie Nave-Herz (1989) betont in ihrer empirischen Studie zu kinderlosen Ehen, dass Kinderlosigkeit komplexe Ursachen haben kann. So kann unterschieden werden zwischen freiwillig, bewusster Kinderlosigkeit, befristete, bewusst geplanter Kinderlosigkeit und ungewollter Kinderlosigkeit. 74 Susanne Schultz (2009) macht darauf aufmerksam, dass in den 2000er Jahren die IVF steuerfinanziert anzubieten als Option der bevölkerungspolitischen Lobby in Deutschland zunehmend an Bedeutung gewinnt und die assistierte Repro duktion zum Interventionsfeld demographischer Strategien wird – was auch von der Ärzteschaft befürwortet wird.
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mer (BÄK) erstellten „(Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion“ dieser Entwicklung entsprechend wie folgt begründet: „Die Anwendung medizinisch assistierter Reproduktion ist durch das Leiden von Paaren durch ungewollte Kinderlosigkeit und durch ihren auf natürlichem Weg nicht erfüllbaren Kinderwunsch begründet“ (RL BÄK 2006: A-1393).
Allein das „Leiden von Paaren“ an ungewollter Kinderlosigkeit begründet nun die Anwendung der Methoden der Reproduktionsmedizin. Ähnliche Beobachtungen zeichnen beispielsweise Sarah Franklin (1997), Barbara Orland (2002), Bettina Bock von Wülfingen (2010) und Charlotte Ullrich (2014) in ihren Studien in ganz unterschiedlichen Perspektiven nach. Sarah Franklin (1997) zeigt auf, wie in öffentlichen medialen Darstellungen Unfruchtbarkeit repräsentiert wird und wie das „infertile Paar“ in Beschreibungen typischerweise als verzweifelt charakterisiert wird, als „desperate infertile couples“. Auch beschreibt sie, wie die IVF mit Vorstellungen des Natürlichen verbunden und als „giving nature a helping hand“ eingeführt und dargestellt worden sei, um diese Technik zu etablieren (Franklin 1997: 103). Barbara Orland (2002) stellt heraus, dass Unfruchtbarkeit zwar ein uraltes Phänomen darstelle, dass jedoch die Problematik der „ungewollten Kinderlosigkeit“ sowie daraus resultierendes Leid erst mit dem Aufkommen der Reproduktionsmedizin und Behandlungsmethoden wie der IVF entdeckt und in der öffentlichen Diskussion besprochen worden seien.75 Auch Bettina Bock von Wülfingen (2010) schildert, wie Unfruchtbarkeit als ein zu behandelndes Phänomen mit „Leid“ begründet, wie Kinderlosigkeit zu einem medizinisch zu lösenden Problem und Unfruchtbarkeit als Krankheit diskutiert wird. Charlotte Ullrich (2014) stellt in ihrer empirischen Untersuchung zur reproduktionsmedizinischen Praxis heraus, dass Medizinier_innen mit Verweis auf das „Leiden“ den „unerfüllte Kinderwunsch“ als relativ selbstverständlichen und legitimen Gegenstand ihrer Behandlungs- und Forschungspraxis darstellen. Im untersuchten Spezialdiskurs wird zunehmend angemerkt, dass zunächst Verständnis für das „Leiden der ungewollt kinderlosen Ehepaare“ geschaffen werden müsse. 75 Der Kinderwunsch selbst stellt dabei ein relativ neues historische Phänomen dar, welcher erst mit der Verfügung über sichere Methoden der Empfängnisverhütung zum Gegenstand einer Entscheidung werden konnte (Beck-Gernsheim 2006).
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„Der Alltag lehrt uns – so banal es klingen mag – , dass manchmal kein Verständnis für das Leiden der ungewollt kinderlosen Ehepaare besteht (RM 2001, Volume 17, Nr. 4: 214).
Die Reproduktionsmedizin erkenne dieses Leiden an, dies gelte jedoch nicht für die gesamte Gesellschaft. Zudem müsse „ungewollte Kinderlosigkeit“ bzw. „Sterilität“76 als Krankheit anerkannt werden. So sei es „unabdingbar, dass ungewollte Kinderlosigkeit als Krankheit definiert ist“ (RM 2001, Volume 17, Nr. 5: 302). Auch wird gefordert „ein besseres Verständnis für die Sterilität als Störung von Krankheitswert zu entwickeln“ (RM 2001, Volume 17, Nr. 4: 214). Das Leiden an ungewollter Kinderlosigkeit als „Krankheit“ zu benennen ist ein Thema diverser Aushandlungsprozesse sowohl in medizinischen als auch in gesellschaftlich-öffentlichen Diskursen.77 „Mit ungewollter Kinderlosigkeit wird ein Zustand bezeichnet, der durch Leiden an einer Unfruchtbarkeit (auch als Infertilität bzw. Sterilität bezeichnet) gekennzeichnet ist. 1967 wurde die ungewollte Kinderlosigkeit (Zeugungs- und/oder Empfängnisunfähigkeit) durch die Scientific Group on the Epidemiology of Infertility der WHO als Krankheit anerkannt“ (Strauss et al. 2004: 7).
Das international anerkannte Kodierungs- und Klassifikationssystem „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ (ICD) wird von der World Health Organization (WHO) herausgegeben. In Deutschland werden Diagnosen nach ICD-10-GM (German Modification) verschlüsselt.78 Auch hier wird „Sterilität“ als Krankheit benannt
76 Die Begriffe „Unfruchtbarkeit“, „Sterilität“ und „Infertilität“ werden im untersuchten Diskurs weitgehend synonym verwendet. 77 Zur Diskussion, ob und in welcher Weise der unerfüllte Kinderwunsch als Krankheit angesehen wird, siehe Charlotte Ullrich (2014). Von der Schwierigkeit der Medizin, ungewollte Kinderlosigkeit an sich als behandlungsbedürftige Krankheit zu definieren, siehe Bettina Bock von Wülfingen (2010). 78 Verpflichtet dazu sind in Deutschland die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte bzw. ärztlich geleiteten Einrichtungen. Die vom „Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information“ (DIMDI) herausgegebene ICD-10-GM Version von 2018 ist abrufbar unter: https://www. dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/index.htm [27.04.2018].
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und nach „Sterilität der Frau“ und „Sterilität beim Mann“ unterschieden. 79 Auf diese Ausführungen der WHO wird im untersuchten Diskurs häufig Bezug genommen. Auch in der Auseinandersetzung zur Spendersamenbehandlung finden sich oftmals Aussagen, die die Anerkennung der ungewollten Kinderlosigkeit und der Sterilität des Mannes als Krankheit vehement einfordern, dies nicht nur in medizinischer Hinsicht, sondern auch im Sinne gesellschaftlicher Akzeptanz. Das Anerkennen einer „Krankheit“ oder „Störung von Krankheitswert“ stellt hierbei medizinische Zuständigkeit und Handlungsanforderungen her und legitimiert damit reproduktionsmedizinische Behandlungsmethoden wie die Spendersamenbehandlung. Dramatisierung ungewollter Kinderlosigkeit aufgrund von Infertilität des (Ehe-)Mannes Bei der Beschreibung des Leidens unter ungewollter Kinderlosigkeit durch „Infertilität des Ehemannes“ finden sich im untersuchten Diskurs häufig dramatisierende Krisenerzählungen. Nicht nur die ungewollte Kinderlosigkeit, sondern bereits die Kenntnis der Infertilität des Mannes wird dabei als krisenhafter Zustand im Leben umschrieben. Dieser löse großen Leidensdruck „bei beiden Partnern“ aus (RM 2001, Volume 17, Nr. 4: 214). „Bei Infertilität des Ehemannes entsteht eine einschneidende Lebenskrise“ (RM 2001, Volume 17, Nr. 4: 214).
Mit der Benennung von Begriffen wie „Morbidität“ und „Zerstörung“ wird die Krisenhaftigkeit des Zustandes der ungewollten Kinderlosigkeit aufgrund männlicher Infertilität hervorgehoben. „Ungewollte Kinderlosigkeit stellt eine prolongierte Lebenskrise dar, die nicht selten mit einer erhöhten Morbidität und Zerstörung von menschlichen Beziehungen verbunden ist“ (F 1996, Band 12: 173).
79 Unter dem Kapitel XIV „Krankheiten des Urogenitalsystems“ (N00-N99) im Abschnitt „Krankheiten der männlichen Genitalorgane“ (N40-N51) befindet sich der Code N46 „Sterilität beim Mann, inklusive Azoospermie und Oligozoospermie ohne nähere Angaben“ (http://www.icd-code.de/icd/code/N46.html [27. 04.2018]).
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Menschliche bzw. eheliche Beziehungen erscheinen durch ungewollte Kinderlosigkeit bedroht. „Prolongiert“ beschreibt im medizinischen Sinne eine überdurchschnittlich langen Krankheits- oder Symptomdauer. Oftmals wird auf den langen Leidensweg des Paares bis zur Diagnose der Infertilität bzw. Zeugungsunfähigkeit des Mannes verwiesen. Durch diese Problematisierung des Leidens und die zum Teil drastischen Katastrophen- und Krisenerzählungen wird Handlungsbedarf nahegelegt und die Dringlichkeit der Problemlösung postuliert. Für diese bieten sich reproduktionsmedizinische Behandlungsmaßnahmen wie die Samenspende an. Die Lebenskrise des „leidgeprüfte[n] Paar[es]“ (RM 2001, Volume, 17, Nr. 5: 273) könne mithilfe der Reproduktionsmedizin überwunden und die Beziehung vor „Zerstörung“ bewahrt werden. Somit offeriert die Samenspende als eine reproduktionsmedizinische Behandlungsmaßnahme bei männlicher Infertilität einen Ausweg aus der Lebenskrise und verspricht das Ende des Leidens sowohl für das (Ehe-)Paar als gemeinsamem Patienten als auch für den einzelnen Mann. Von der ungewollten Kinderlosigkeit und dem Leid aufgrund männlicher Sterilität wird hauptsächlich mit Blick auf die heterosexuelle Zweierbeziehung des (Ehe-)Paares berichtet, jedoch finden sich auch Darstellungen individuellen Leides der „Männer“ und des „männlichen Patienten“. „Die Erkenntnis der wahrscheinlichen Zeugungsunfähigkeit ist für diese Männer zunächst ein Schock“ (FDF 1980, Band 8: 271).
So wird für die Männer bei der Mitteilung der Diagnose „Sterilität“ von „Gefühlen der Enttäuschung, Resignation und Trauer“ bis hin zu schweren emotionalen Krisen berichtet (F 1997, Band 13: 40). Zudem würden „Gefühle von Versagen, Schuld und Minderwertigkeit“ entstehen (F 1997, Band 13: 40). Auch wird dies als „Katastrophe“ oder „biosoziale Krise“ geschildert (F 1997, Band 13: 43) und herausgestellt, dass die „Unfruchtbarkeit des Mannes“ ein „Stigma“ bedeute, welches als „Schande“ empfunden werde und „Zweifel an seiner Männlichkeit“ auslöse (RM 2001, Volume 17, Nr. 4: 216). Die Darstellung des Leidens an ungewollter Kinderlosigkeit nach der Diagnose der männlichen Sterilität wirkt dramatisierend. Gesellschaftliche, eheliche und individuelle Erwartungen und aus ihnen resultierende negative Gefühle und emotionale Krisen werden im untersuchten Diskurs zu einem Bild eines höchst krisenhaften Erlebens zusammengeführt, dessen Linderung allein in reproduktionsmedizinischer Behandlung zu suchen ist. Die
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Spendersamenbehandlung wird entsprechend als „eine echte ärztliche Aufgabe, die Leiden lindern kann“ bewertet (F 1994, Band 10: 117). Die Samenspende wird als die letzte Möglichkeit ausgegeben, so sollen etwa alle anderen reproduktionsmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sein (FDF 1986, Band 13: 245) bzw. andere Therapien versagt haben (RM 2001, Volume 17, Nr. 5: 271) Dabei wird Spendersamenbehandlung als einzige Lösung und einziger Ausweg gezeichnet. So wird betont, dass „die donogene Insemination zur Zeit die einzig praktikable Hilfe für die aus androgenen Ursachen sterilen Ehen darstellt“ (FDF 1984, Band 12: 209). „Die donogene (heterologe) Insemination (Gametendonation), die für eine nicht geringe Anzahl von Paaren nach wie vor die einzige Möglichkeit darstellt, zu einem eigenen Kind zu kommen“ (RM 2001, Volume 17, Nr. 5: 302).
Die Darstellung der Spendersamenbehandlung als reproduktionsmedizinische Lösung und als „die einzige Möglichkeit“, „zu einem eigenen Kind zu kommen“, impliziert eine gesellschaftliche heteronormativ geprägte Erwartung an heterosexuelle (Ehe-)Paare, ein eigenes Kind zu bekommen. Im folgenden Zitat wird die Samenspende als ein heilender Eingriff charakterisiert, dem leidenden Mann wird durch diese das „Gefühl gesellschaftlicher Minderwertigkeit“ genommen. „Das Gefühl gesellschaftlicher Minderwertigkeit wird durch diesen heilenden Eingriff von dem an einer impotentia generandi leidenden Mann genommen“ (FDF 1980, Band 8: 272).
Auch an anderer Stelle wird auf das Leiden des Mannes an Zeugungsunfähigkeit bzw. Sterilität, bezeichnet als „impotentia generandi“ 80, Bezug genommen, sie wird als Indikation zur heterologen Insemination aufgeführt (FDF 1984, Band 12: 205). Diese Terminologie wird auch im Kirchenrecht verwendet. Als kanonisches Recht wird das Kirchenrecht der römisch-katholischen Kirche bezeichnet (Brosi 2013). So ist das kanonische Eherecht ein auf Nachkommenschaft fokussiertes Eheverständnis (Brosi 2013: 186). 80 Als „impotentia generandi“ wird die „Zeugungsunfähigkeit (Sterilität) des Mannes“ beschrieben, als „I. coeundi“ das „Unvermögen des Mannes den Geschlechtsverkehr regelrecht (und befriedigend) zu vollziehen“ (Roche Lexikon Medizin 2003: 916).
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Das Ehehindernis der Zeugungsunfähigkeit hat nach Urs Brosi (2013) eine bewegte Geschichte, in der über den Umfang dieses Hindernisses kontrovers diskutiert wurde (ebd.: 202f.).81 Der wirkmächtige Diskurs der katholischen Kirche über das Verständnis von Ehe, Zeugung und Nachkommenschaft sowie die „Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit“ (HagemannWhite 1984) werden nicht explizit thematisiert. Jedoch zeigen sich hier implizit gesellschaftlich naturalisierte Annahmen der Heterosexualität und der Zweigeschlechtlichkeit, insbesondere in dem Verständnis der (Ehe-)Paarbeziehungen. Judith Butler (1991) beschreibt im Rahmen der heterosexuellen Matrix, wie in Kapitel 3.3 bereits dargelegt, die zwanghafte Praxis der Heterosexualität: „Damit die Körper eine sinnvolle Einheit bilden, muß es ein festes Geschlecht geben, welches durch eine feste Geschlechtsidentität zum Ausdruck kommt, die durch eine zwanghafte Praxis der Heterosexualität gegensätzlich und hierarchisch definiert ist“ (Butler 1991: 219f.).
Es zeigt sich, wie im reproduktionsmedizinischen Diskurs Vorstellungen um die Reproduktion der Geschlechter, genauer die männliche Zeugung bzw. die Unfähigkeit dazu, eng verwoben ist mit dem Wissen über Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit. In ihrem Aufsatz „Ist Verwandtschaft immer schon heterosexuell“ stellt Butler (2009b) die heterosexuelle Institution der Ehe als eine normative, heterosexuell fundierte und durch das Ehegelöbnis abgesicherte und dadurch legitimierte Familienform heraus. Dabei werde die Sphäre der legitimen intimen Verbindung dadurch etabliert, dass gleichzeitig Bereiche des Illegitimen produziert werden. Das sexuelle Feld in Bezug auf Ehen sei dabei in einer Weise eingegrenzt, dass Sexualität immer schon in Begriffen der Ehe gedacht werde und Ehe immer schon als Erwerb von Legitimität gelte (ebd.: 173f.). Dabei rechtfertigt die angenommene Reproduktivität die Privilegierung der Ehe und ist konstitutiv hierfür. Wenn im obigen Zitat die Bezeichnung „heilender Eingriff“ verwendet wird, so wird der Begriff der „Heilung“ nicht im eigentlich streng medizini81 Noch 2008 verweigert ein Bischof im italienischen Viterbo einer Frau und einem querschnittsgelähmten Mann die kirchliche Trauung aufgrund dauernder Beischlafunfähigkeit des Mannes, der impotentia coeundi (vgl. http://www. spiegel.de/panorama/gesellschaft/italien-bischof-verweigert-impotentem-mannkirchliche-trauung-a-558455.html [27.04.2018]).
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schen Sinne verwendet. Auch wenn des Öfteren die heterologe Insemination als eine „Heilbehandlung“ bei männlicher Zeugungsunfähigkeit aufgeführt wird (vgl. FDF 1986, Band 13: 336), wird in der Medizin Heilung als „die Wiederherstellung der Gesundheit unter Erreichen des Ausgangszustandes (Restitutio ad integrum)“ definiert (Roche Lexikon 2003: 792). Eine Wiederherstellung der „Zeugungsfähigkeit“ des Ehemannes ist bei der Samenspende jedoch im engeren Sinne nicht gegeben. Hierbei handelt es sich um die Heilung als Wiederherstellung des Gefühls gesellschaftlicher Wertigkeit. Dieses gilt es durch die Samenspende wiederherzustellen und somit kann durch diese reproduktionsmedizinische Möglichkeit dem Ehemann zur Vaterschaft verholfen werden und dem (Ehe-)Paar „zu einem eigenen Kind“, welches die Reproduktivität dieser Beziehung bezeugt und gleichzeitig heteronormative Verhältnisse der Geschlechter und Vorstellungen der männlichen Reproduktionsfähigkeit bestätigt. Die Konstitution einer reproduktionsmedizinisch zu lösenden Problematik Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Legitimierung durch Problematisierung im reproduktionsmedizinischen Diskurs durch eine übergeordnete Erzählung und Konstitution eines im Zuständigkeitsbereich der Reproduktionsmedizin liegenden Problembereiches der (ungewollten) Kinderlosigkeit erfolgt. Hierbei entstehen gesellschaftlich legitimierte Anwendungskontexte für reproduktionsmedizinische Verfahren wie die Samenspende. Im zeitlichen Verlauf des Diskurses ist ein Wandel des Kontextes von Bedeutung und Begründung der sich etablierenden Reproduktionsmedizin erkennbar geworden, innerhalb dessen diese medizinische Problemlösungen anbietet. Während sich Anfang der 1980er Jahren Begründungsansätze zur Reproduktionsmedizin noch in Bezug auf gesellschaftspolitische Interessen der Bevölkerungspolitik setzen, steht ab den 1990er Jahren allein das Leiden der ungewollt Kinderlosen als einer reproduktionsmedizinisch zu lösender Problematik im Vordergrund. Für die Behandlung mit Spendersamen wird explizit als „ärztliche vertretbare Lösung eines Problems“ (FDF 1986, Band 13: 236) argumentiert, welches zur Krankheit bzw. zur „Störung von Krankheitswert“ (RM 2001, Volume 17, Nr. 4: 214) avanciert. Die Zeichnung von Leid und Leidensdruck aufgrund der Diagnose der Sterilität beim (Ehe-)Mann mit teils bemerkenswert dramatisierenden Beschreibungen von Lebenskrisen setzt dabei den übergeordneten Rahmen. Neben dieser Dramatisierung steht die Darstellung von dringendem Hand-
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lungsbedarf und Hilfs- und Lösungsangeboten der Reproduktionsmedizin, welche als alternativlos beschrieben werden. Im Zuge der Medikalisierung wird im untersuchten Diskurs das Problem der (ungewollten) Kinderlosigkeit zu einem in der Zuständigkeit der Reproduktionsmedizin liegendem Problem mit von ihr angebotenen Lösungen. Letztendlich kann die reproduktionsmedizinische Behandlung mit Spendersamen als „eine effektive Methode zur Erfüllung des Kinderwunsches bei Infertilität des Mannes“ und als „erfolgreiches Therapieverfahren“ (RM 2001, Volume 17, Nr. 4: 214) dargestellt werden. An diesem komplexen und nicht immer geradlinig verlaufenden Prozess sind neben Medizin und Reproduktionsmedizin diverse weitere Akteur_innen mit verschiedenen jeweiligen Interessen beteiligt. So haben Petra Kolip und Julia Lademann (2010) herausgestellt, dass Patient_innen als Nutzer_innen, Krankenkassen und die pharmazeutische sowie medizintechnische Industrie beteiligt sind und in einer komplexen Wechselbeziehung stehen (ebd.: 10). Diese Wechselwirkung ist konstitutiv für den hier beschriebenen Prozess. Auch wenn diese Analyse auf den reproduktionsmedizinischen Diskurs bezogen ist, kann festgehalten werden, dass verschiedene Akteur_innen mit ihren jeweiligen Interessen an diesem erfolgreich verlaufenden Medikalisierungsprozess beteiligt waren und sind. Bettina Bock von Wülfingen (2010) zeigt die Komplexität der Medikalisierung der Kinderlosigkeit auf, indem sie betont, dass diese auf keinen Fall als ein durch einzelne Mediziner_innen gesteuertes Phänomen zu verstehen sie: „Sie ist Teil eines in europäischen Kulturen bereits als historisch zu bezeichnenden Normalisierungsprozesses, in dem Kinder zu bekommen als übliche Erwartung an das Paar bzw. an sich selbst gerichtet wird und der Wert einer Frau über die Fruchtbarkeit definiert wird“ (ebd.: 77f.). Kennzeichnend ist zudem die Verwobenheit von gesellschaftlichen heteronormativen Vorstellungen und Erwartungen und der Legitimierung der Behandlungsangebote der Reproduktionsmedizin. Die Problematisierung des Leidens ungewollt kinderloser Paare aufgrund der Diagnose „Sterilität beim Mann“ steht in enger Beziehung zu gesellschaftlichen Erwartungen. Nicht nur in der Medizin, sondern darüber hinaus wird Männlichkeit über seine Fähigkeit zu Zeugen definiert.82
82 Zur asymmetrischen Medikalisierung von Männer- und Frauenkörper und der Etablierung der Andrologie als Teilgebiet der Medizin siehe Thorsten Wöllmann (2004).
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Die Vorstellung von männlicher Sterilität als Krankheit wird im untersuchten Diskurs dadurch erzeugt, dass diese auf eine körperliche, biologische Beeinträchtigung bzw. ein Defizit zurückzuführen ist. Dementsprechend kann die reproduktionsmedizinische Behandlung mit Spendersamen als „Behebung eines unverschuldeten biologischen Defizits“ gesetzt werden (FDF 1986, Band 13: 251). Als Begründung dieses biologisch bedingten Defizits des Mannes bzw. seiner Zeugungsunfähigkeit wird häufig auf das quantifizierbare Spermiogramm mit „pathologischem Spermabefund“ verwiesen (F 13, 1997: 43). Ungesagt bleibt dabei, dass eine Behebung dessen im herkömmlichen medizinischen Sinne als Heilung bzw. Beseitigung der männlichen Sterilität nicht direkt gegeben ist. Die „Behebung eines unverschuldeten biologischen Defizits“ wird nicht am Körper des Mannes vollzogen, sondern am Körper seiner (Ehe-)Frau, das reproduktive Material des Samens erscheint substituierbar. Dieses kann jedoch als ein Ausgleich, als Behebung eines Fehlers der Natur gesetzt werden. Ähnlich, wie Sarah Franklins (1999) Analyse die IVF als „helfende Hand“ der Natur beschreibt, wird hier die Spendersamenbehandlung als helfende bzw. behebende Hand der Natur und ihrer Defizite dargestellt. Als was und wie die Samenspende im untersuchten Diskurs beschrieben, normalisiert und naturalisiert wird, wird im folgenden Kapitel über die Legitimierung durch Normalisierung weiter ausgeführt.
LEGITIMIERUNG DURCH NORMALISIERUNG „Seit ihren Anfängen Ende der 1970erJahre sind reproduktionsmedizinische Behandlungen bei kinderlosen Paaren zur Normalität geworden“ (JRE 2008, Jg. 5, Nr. 6: 329).
Im wissenschaftlichen Diskurs der Reproduktionsmedizin spielt die Legitimierung durch Normalisierung eine herausragende Rolle, wie im Folgenden mit Blick auf normalisierungstheoretische Perspektiven deutlich wird. Foucault bestimmt die Medizin als „die Wissenschaft vom Normalen und Pathologischen“ (Foucault 1976: 84). Die nachstehenden Betrachtungen zur Legitimierung durch Normalisierung sind angelehnt an die Ausführungen von Theo van Leeuwen (2007) zur „moral evaluation“, eine der Schlüsselkategorien der diskursiven Legitimierung, welche sich auf den
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Bezug von moralischen Werten und Wertesystemen stützt. Normalisierung wird als eine spezifische Form moralischer Evaluation aufgefasst. Eero Vaara et al. (2006) beziehen sich in ihren Studien zur Organisationsforschung ebenfalls auf van Leeuwen und bezeichnen Normalisierung gegenwärtig als die grundlegendste Art der Legitimierung. „This normalization can actually be seen as the primary type of legitimation“ (ebd.: 13f.).
Dies lässt sich für den reproduktionsmedizinischen Diskurs der Legitimierung der Spendersamenbehandlung empirisch nachzeichnen. Die Legitimierung durch Normalisierung steht dabei in enger Beziehung zu allgemeinen gesellschaftlichen Werten. Sie liegt dem Diskurs größtenteils implizit zugrunde und wird durch Adjektive wie „gesund“, „normal“ und „natürlich“ ausgedrückt. Angeknüpft wird in der folgenden Analyse an Charis Thompson (2005), die in ihrer Studie Strategien der Normalisierung von Patient_innen in US-amerikanischen reproduktionsmedizinischen Kliniken untersucht hat. Auch wenn Thompsons ethnografischer Zugang von dem diskursanalytischen Zugang dieser Arbeit abweicht, lässt sich ihr wesentlich von Foucault beeinflusstes Konzept der Normalisierung auch für diskursanalytische Zugänge fruchtbar machen83. Thompson (2005) betont, dass das Konzept der Normalisierung sowohl das „Normale“ als auch das „Normative“ beinhaltet und definiert Normalisierung: „Normalization includes the means by which ,new data‘ (new patients, new scientific knowledge, new staff members, new instruments, new administrative constraints) are incorporate into preexisting procedures and objects of the clinic. It also includes the ways in which the grid of what is already there is produced, recognized, reproduced, and changed over time” (ebd.: 80).
Thompson (2005) stellt heraus, dass Normalisierungsprozesse sich dabei aus Vorstellungen und gesellschaftlichen Auffassungen über das Leben, Reproduktion und Familie entwickeln. Auch Willemijn de Jong (2009) un83 Dies zeigt sich auch in dem von Willemijn de Jong und Olga Tkach (2009) herausgegebenen Sammelband zur Normalisierung von Reproduktionstechnologien in Russland, der Schweiz und Deutschland. Alle Beiträge nehmen das (zum Teil auch stark reformulierte) Konzept der Normalisierung von Charis Thompson (2005) zum Ausgangspunkt der dort vorgenommen Analysen.
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terstreicht, dass sich Normalisierungsprozesse als wechselseitig konzeptualisieren lassen (ebd.: 27). Neue reproduktionsmedizinische Behandlungsmethoden wie die Spendersamenbehandlung werden in eine alte bestehende Ordnung integriert, dadurch wird die bestehende Ordnung gleichzeitig transformiert. Im untersuchten Diskurs fügen sich verschiedene Prozesse der Legitimierung durch Normalisierung auf unterschiedlichen Ebenen zusammen, die im weiteren Verlauf anhand des reproduktionsmedizinischen Diskurses der Samenspende expliziert werden sollen. Dies schließt die Herstellung von Statistiken und das Erzeugen von Routinen ebenso ein wie Ein- und Ausschlüsse produzierende Regulierungen des Zugangs sowie auch De-/ Naturalisierungen nebst der Benennung des Sozialen. Dabei interessiert die Auseinandersetzung mit folgenden Fragen: • Wie und auf welche Art und Weise fügt sich das „Neue“ der Spendersa-
menbehandlung in bestehende als „soziale“ und „natürliche“ gesetzte Ordnungen ein? • Wie wird speziell durch die Regulierungen der Zugangskriterien zur Samenspende Elternschaft und eine (hetero-)normative Geschlechterordnung hergestellt? • Welche Ein- und Ausschlüsse werden damit produziert? Auch die Veränderungen in den Vorstellungen und dem Wissen von Geschlecht und Reproduktion sind hier von Interesse. Normalisierung durch Statistiken und Routinisierung Die Normalisierung der Reproduktionsmedizin und ihrer Behandlungsmethoden erfolgt im Besonderen über die Herstellung von Statistiken. So zeigt Thompson (2005) eindrücklich, dass die Genese von statistischen Datensammlungen ein Hauptprodukt reproduktionsmedizinischer Kliniken darstellen. Statistik dient hierbei als „normative Epistemology“, mit ihr erscheinen Erfolge reproduktionsmedizinischen Behandlungsmethoden als statistische Wahrscheinlichkeiten.84
84 Diese Art der Normalisierung benennt Willemijn de Jong (2009) auch als „statistification“ (ebd.: 29).
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„Despite the fact that the success of procedures generates the statistics, the statistics justify the carrying out of infertility medicine – the choice of a particular treatment for a particular patient. Without the statistical justificatory system working, all the other repertoires of normalisation and making things relevantly the same cannot be calibrated and validated“ (ebd.: 109).
Die Produktion und Darstellung von Statistiken sowie die Ermittlung von Erfolgswahrscheinlichkeiten der einzelnen reproduktionsmedizinischen Behandlungen dienen ihrer Normalisierung. Sie regulieren und bestimmen die verschiedenen Behandlungen in der reproduktionsmedizinischen Praxis und geben Neuerungen ihre Evidenz. Auch das „Deutsche IVF-Register“ (DIR) als wesentliche Qualitätssicherungsmaßnahme operiert mit statistischen Daten. Es erhebt seit 1982 Daten aus dem Bereich der Reproduktionsmedizin. Welche tragende Rolle die Erhebung von Daten im Bereich der Reproduktionsmedizin einnimmt, zeigt folgendes Zitat: „Die Forderung der Öffentlichkeit nach Information und Transparenz in dem hoch sensiblen Bereich der humanen Reproduktionsmedizin erscheint mehr als gerechtfertigt. Allein die zuverlässige Auswertung der durch die Fortpflanzungsmedizin erzielten Ergebnisse und deren öffentliche Diskussion kann es erlauben, deren gesellschaftliche Akzeptanz als sichere und erfolgreiche Behandlungsform zu erhöhen, und gleichzeitig Missverständnissen vorzubeugen. Außerdem stellt eine solche Analyse ein wertvolles Hilfsmittel zur verlässlichen Beratung der betroffenen Paare dar“ (Felberbaum/Dahncke 2000: 800).
Die statistischen Erhebungen und ihre Auswertungen werden explizit mit „gesellschaftlicher Akzeptanz“ und somit der Legitimierung der Behandlungsmethoden der Reproduktionsmedizin insgesamt in Verbindung gebracht. Darüber hinaus wird Patient_innen weiter auf der Basis statistischer Erfolgswahrscheinlichkeiten zu den verschiedenen Behandlungsmaßnahmen geraten. Im reproduktionsmedizinischen Spezialdiskurs wird zunehmend hervorgehoben, dass die Spendersamenbehandlung nun ein etabliertes wissenschaftlich begründetes und damit legitimes Verfahren darstellt. „Die heterologe Insemination ist eine wissenschaftlich begründete Therapie bei unbehandelbarer Infertilität des Mannes“ (RM 1999, Volume 15, Nr. 3: 165). „Die heterologe Insemination hat heute als wissenschaftlich begründetes Verfahren einen gerechtfertigten Platz in der Reproduktionsmedizin“ (RM 1999, Volume 15, Nr. 3: 165).
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Durch die Unterstreichung ihrer Etablierung und Wissenschaftlichkeit wird die Spendersamenbehandlung als legitime medizinische Methode begründet, gerechtfertigt und normalisiert und wird innerhalb der Medizin zur Normalität. Auch dies wird im reproduktionsmedizinischen Spezialdiskurs explizit herausgestellt. So seien reproduktionsmedizinische Behandlungen bei kinderlosen Paaren zur Normalität geworden (JRE 2008, Jg. 5, Nr. 6: 329). Eine weitere Normalisierungsstrategie ist die der „routinization“, die auch im reproduktionsmedizinischen Diskurs der Samenspende zum Tragen kommt. Thompson (2005) beschreibt „routinization“ als Teil der Normalisierung, im Sinne von „skilled local knowledge that is exercised by practitioners and patients in conjunction with medical technologies“ (ebd.: 81). Dabei kann eine routinisierte und wissenschaftlich qualifizierte Fähigkeit damit einhergehen, zu bestimmen, was normal und natürlich ist und die jeweiligen Abweichungen hiervon festzulegen. Als Beispiel wird das diagnostische Betrachten von Ultraschallbildern angeführt. Bei der Spendersamenbehandlung ist das routinisierte Hinzuziehen der Diagnostik mittels Spermiogramm wesentlich, die Analyse des Ejakulates nimmt eine große Bedeutung ein. Hierbei kann bestimmt werden, was „normale“ und „abnormale“ Befunde im Spermiogramm sind, die wiederum für die Behandlung ausschlaggebend sind. Der gegenwärtigen reproduktionsmedizinschen Praxis liegt das von der „World Health Organisation“ (WHO) herausgegebene „WHO-Laborhandbuch zur Untersuchung und Aufarbeitung des menschlichen Ejakulates“ (WHO 2012) zugrunde, mit dem die Untersuchungsmethoden und die Beurteilung anhand von Referenzwerten vorgegeben werden und das eine Standardisierung der Methoden zur Untersuchung des menschlichen Ejakulates festschreibt. „Im Laufe der letzten 30 Jahre wurde das Laborhandbuch als globaler Standard an erkannt und weltweit extensiv in der Forschung und in klinischen Laboratorien benutzt“ (WHO 2012: 2):
Die erste Auflage dieses Standardwerkes erschien 1980, seitdem ist es kontinuierlich neu aufgelegt worden. Deutlich zeigt sich hierbei, dass im medizinischen Diskurs das Operieren mit und Unterscheiden von „normal“ versus „abnormal“ und das Festsetzen von standardisierten „Normwerten“ von grundlegend Bedeutung sind.
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Abb.: „Morphologisch ,normale‘ Spermien“ (WHO 2012: 53). Diese Abbildung zeigt „normal“ geformte Spermien. Die zugrundeliegende Idee des Konzeptes der „normalen“ Spermien, wird folgend herausgestellt: „Die zugrundeliegende Philosophie des Klassifikationssystems, das hier beschrieben wird, hat das Ziel, nur diejenigen Spermien als normal zu identifizieren, die der potenziell fertilisierungsfähigen Subpopulation von Spermien, die im endozervikalen Mukus nachgewiesen werden können, entsprechen“ (WHO 2012: 52).
„Normale“ Spermien sind also gleichgesetzt mit potentiell fertilisierungsfähigen Spermien. Es wird angemerkt, dass bei der Anwendung dieser Richtlinie die Spannweite des Prozentanteils normaler Spermien sowohl für fertile als auch für nicht-fertile Männer zwischen 0 und 30% liegt. D. h der größte Anteil der Spermien im Ejakulat weist dementsprechend eine „abnormale Spermienmorphologie“ auf. Normalität speist sich hier nicht aus der Mehrheit bzw. einem statistischen Mittel, sondern wird in Abhängigkeit zur Funktion, welche die Spermien zu erfüllen haben, definiert. Somit werden nur diejenigen Spermien als „normal“ beurteilt, die potenziell der „fertilisierungsfähigen Subpopulation“ angehören. Hier erscheint die Analyse und Identifizierung der „normalen Ejakulatsprobe“ als Bestimmung der Fertilität eines Mannes. Die männliche Fähigkeit zur Reproduktion und die Zeugungsfähigkeit des Spermas des Mannes wird als normal vorausgesetzt, wobei diese Fähigkeit dieser vom männlichen Körper abgesonderten Sub-
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stanz zugeschrieben wird. Tewes Wischmann (2012) stellt dar, wie sich die Normwerte des Spermiogramms in den letzten Jahrzehnten verändert haben (ebd.: 31f.). Durch die Analyse und Beurteilung des Spermabefundes als „normal“ bzw. als „abnormal“ wird männliche Sterilität bestimmt und zur Indikationsabwägung etwa zur Spendersamenbehandlung herangezogen. Zugang zur Spendersamenbehandlung Die Regulierungen des Zugangs zu den reproduktionsmedizinischen Behandlungsmethoden und zur Spendersamenbehandlung stellt eine zentrale und kontrovers diskutierte Thematik des reproduktionsmedizinischen Diskurses über die untersuchten Jahrzehnte dar. Hier legitimiert sich die Reproduktionsmedizin durch die Regulierungen des Zugangs, gleichzeitig vollziehen sich Prozesse der Normalisierung. Folgend werden die Regulierungen der Zulassungsvoraussetzungen zur Spendersamenbehandlung in den von der Medizin und von der Reproduktionsmedizin erlassenen Richtlinien in den untersuchten Jahrzehnten analysiert.85 Auch interessieren die Kriterien der Auswahl eines Samenspenders und die damit einhergehenden Ein- und Ausschlüsse. Das Feld der Aussagen darüber, welche Voraussetzungen Menschen mit Kinderwunsch die Aussicht auf den Status als zu behandelnder „Patient“ der Reproduktionsmedizin eröffnen, wird im Folgenden als Ort verschiedener Normalisierungsprozesse analysiert. Die Analyse der Auseinandersetzungen über den Zugang zur Samenspende und seine Begründungen kann aufzeigen, wie durch Regulierungsbestrebungen das „Normale“ und das „Nicht-Normale“ oder „Abweichende“ diskursiv verhandelt? Welche Formen von Elternschaft werden als normal bestimmt und welche als abweichend oder ungeeignet problematisiert und mehr oder weniger kategorisch ausgeschlossen? Wie werden durch diese Regulierungen Elternschaft und eine (hetero-)normative Geschlechterordnung (re-)konstruiert?
85 Der Zugang zur Behandlung mit Spendersamen ist nicht zuletzt auch eine Frage von ökonomischen Ressourcen. So werden auch diejenigen ausgeschlossen, die sich diese Behandlung ökonomisch nicht leisten können, da die Kosten hierfür selbst getragen werden müssen.
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Regulierungen des Zugangs durch medizinische Richtlinien Wie in Kapitel 2 „Kontroverse Reproduktion“ dargelegt, ist in Deutschland aktuell der Umgang mit den Methoden der assistierten Reproduktion einerseits durch gesetzliche Regelungen wie etwa durch das Embryonenschutzgesetz (ESchG) und andererseits durch das bereits beschriebene ärztliche Standesrecht geregelt. Für die Spendersamenbehandlung existieren keine umfassenden gesetzlichen Regelungen, so dass den Richtlinien der Ärzteschaft eine enorme Bedeutung zukommt, während ihr Entstehung selbst im Kontext rechtlicher Unsicherheit zu verorten ist. „In Deutschland existieren auf gesetzlicher Ebene nur wenige Regelungen, die mittelbar oder unmittelbar auf die Behandlung der Donogenen Insemination Einfluss nehmen. [...] bedingt durch diese wenigen bzw. lückenhaften Regelungen gewinnen die ärztlichen Berufsordnungen an großer Bedeutung“ (Fischer 2011: 18f.).
Somit obliegt die Formulierung von Zulassungskriterien im Rahmen des ärztlichen Standesrechts den Mediziner_innen selbst. Dies bedeutet sowohl eine potenzielle Unsicherheit wie auch eine bemerkenswerte Entscheidungsbefugnis seitens der Medizin. Mediziner_innen und insbesondere die in der Reproduktionsmedizintätigen werden so zu entscheidungsmächtig Gestaltenden, die die Techniken der Reproduktion durch Ein- und Ausschlüsse regulieren und normieren. „Sieht man das ärztliche Berufsrecht als Inbegriff der Normen an, die in irgendeiner Form die Ausübung des Arztberufes regeln, so läßt sich das ärztliche Standesrecht als Teil dieses Inbegriffs von Normen insofern vom übrigen Berufsrecht abgrenzen, als es die von den Standesvertretungen der Ärzte selbstgeschaffenen Regeln enthält“ (Müller-Götzmann 2009: 291).
Das ärztliche Standesrecht und somit durch die Standesvertretungen der Ärzteschaft selbstgeschaffene Regeln setzen Restriktionen für den Zugang zur Durchführung von Methoden der assistierten Reproduktion. Diese Regelungen werden durch die Aufnahme der Richtlinien der Bundesärztekammer in die Berufsordnungen der Landesärztekammer verpflichtend, ihr Nichtbefolgen kann beruflich sanktioniert werden (vgl. ebd.: 291f.). Eine chronologische Betrachtung der Entwicklung der Zulassungsvoraussetzungen zu den Methoden der Reproduktionsmedizin und der Spendersamenbehandlung anhand medizinischer Richtlinien der Bundesärzte-
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kammer zeigt die diskursiven Wandlung des Zugangs zur Behandlung im zeitlichen Verlauf. Von weiterer Bedeutung sind die im reproduktionsmedizinischen Diskurs geführten Diskussionen in den Fachzeitschriften, die den Zugang und den Ausschluss zur Behandlung mit Spendersamen begründen, wie die „Richtlinien des Arbeitskreises für Donogenen Insemination (DI) zur Qualitätssicherung der Behandlung mit Spendersamen in Deutschland in der Fassung vom 8. Februar 2006“ (RL AKDI 2006). Im Jahr 1979 sind zunächst „Allgemein verbindliche Maßstäbe für die Indikation und Durchführung der heterologen Insemination“ anlässlich eines Kongresses der „Deutschen Gesellschaft zum Studium der Fertilität und Sterilität“ gemeinsam mit der „Österreichischen Gesellschaft zum Studium der Fertilität und Sterilität“ explizit diskutiert und 1980 in der Zeitschrift „Fortschritte der Fertilitätsforschung“ dargelegt worden (FDF 1980, Band 8: 262f.). Die Bundesärztekammer hat zum ersten Mal 1985 Richtlinien zur Durchführung der assistierten Reproduktion erlassen und im Anschluss mehrfach fortgeschrieben: • Richtlinien zur Durchführung von In-vitro-Fertilisation (IVF) und Em-
bryotransfer (ET) als Behandlungsmethode der menschlichen Sterilität (RL BÄK 1985) • Richtlinien zur Durchführung der assistierten Reproduktion (RL BÄK 1998) • (Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion (RL BÄK 2006) Neben der Festlegung fachlicher Standards umfassen diese Richtlinien die nun zu analysierenden „Zulassungsvoraussetzungen“. Die im Jahr 1985 herausgegebene Richtlinien (RL BÄK 1985) befassen sich mit der Definition medizinischer und ethischer Vertretbarkeit der Methoden und den ihre Anwendung einschränkenden Zulassungsbedingungen. Weiter sind ein erläuternder Kommentar und ein die Richtlinien begründender Anhang Bestandteile des Dokuments. Unter dem Punkt „Zulassungsbedingungen“ werden medizinische von sozialen Voraussetzungen unterschieden und dabei explizit „elterliche Voraussetzungen“ benannt. Hier findet sich die Erwähnung, dass die Durchführung dieser Methoden bei Ehepaaren anzuwenden sei und dass grundsätzlich nur Samen und Eizellen der Ehepartner Verwendung finden sollen. Ausnahmen hiervon seien nur nach vorheriger Anrufung der bei der Ärztekammer eingerichteten Kommission zulässig (vgl. RL BÄK 1985: A-1691f.). Darüber hinaus „soll der Arzt sorgfältig darauf
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achten, ob zwischen den Partnern eine für das Kindeswohl ausreichende stabile Bindung besteht“ (RL BÄK 1985: A-1691). Nähere Erklärungen finden sich im „Anhang“. Unter dem Punkt „Vermeidung sozialer und rechtlicher Nachteile für ein durch IVF erzeugtes Kind“ wird erklärt, dass die Bindung der Anwendung der Methoden an eine bestehende Ehe ihre Rechtfertigung in dem verfassungsrechtlich verankerten besonderen Schutz von Ehe und Familie finde. Hieran sei auch „der Arzt gebunden, der [...] zur Bildung einer über die Partnerschaft zweier Menschen hinausgehenden Familie beitragen soll“ (RL BÄK 1985: A-1693). In solchen Aussagen wird die Vorstellung offenbar, dass eine Familie ein gemeinsames Kind umfasst. Ehepartnerschaften ohne Kind/er werden nicht als Familie bzw. als defizitär und unvollständig gesetzt. So vervollständigt ein gemeinsames Kind eine Ehepartnerschaft erst zu einer Familie. Hierbei wird das in einer Ehe zusammenlebende heterosexuelle Paar als legitimer Patient der Spendersamenbehandlung gezeichnet. Davon abweichende Konstellationen werden mit Bezug auf die „gedeihliche Entwicklung des Kindes“ ausgeschlossen: „Demgegenüber kann nicht auf das Selbstbestimmungsrecht einer alleinstehenden Frau oder zweier nicht in Ehe zusammenlebender Partner und einen darauf gegründeten Kinderwunsch verwiesen werden, da, losgelöst von dieser Willensbildung, vom Arzt die Aussichten für eine gedeihliche Entwicklung des Kindes zu berücksichtigen sind“ (Richtlinien BÄK 1985: A-1963).
Bezug genommen wird hier auf das „Selbstbestimmungsrecht“ als Idee der Menschenrechte. In Deutschland wird dieses Recht vor allem durch Artikel 2 des Grundgesetz geschützt als das Recht eines jeden Menschen „auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“ (https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_2.html [27.04. 2018]). Der Selbstbestimmungsbegriff ist auch in feministischen Auseinandersetzungen um Abtreibung, Sexualität und Reproduktionstechnologien zentral gewesen und ist es immer noch. 86 Diesem Selbstbestimmungsrecht wird die gedeihliche Entwicklung des Kindes entgegengesetzt, die es „vom Arzt“ zu berücksichtigen gilt. Weitere Ausführungen dazu werden in den Richtlinien nicht gegeben. Es scheint selbstverständlich, dass die Ehe die legitime Form des Zusammenlebens mit Kindern darstellt und andere Le86 Zur Vereinnahmung und Umwertung des feministischen Selbstbestimmungsbegriffs in der Biopolitik siehe Sigrid Graumann (2001).
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bens- und Beziehungsformen, die davon differieren, der gedeihliche Entwicklung des Kindes entgegenstehen können. Als abweichend ausgeschlossen werden in den Richtlinien explizit benannt „alleinstehende Frauen“ 87 und „nicht in einer Ehe zusammenlebende Partner“. Mit dieser Formulierung werden auch in gleichgeschlechtlichen Beziehungen Lebende ausgeschlossen, jedoch nicht ausdrücklich als Form des Zusammenlebens benannt. Der Passus „nicht in der Ehe zusammenlebende Partner“ bezieht sich auf zwei verschiedenen geschlechtliche Partner, die potenziell eine Ehe eingehen könnten, was in späteren Ausführungen deutlich wird: „Wer ernsthaft den Wunsch nach einem eigenen Kind hat, [...] dem ist grundsätzlich zuzumuten, bei bestehender Partnerschaft eine eheliche Lebensgemeinschaft einzugehen und dadurch die Ernsthaftigkeit der beabsichtigten Familiengründung rechtlich gesichert zu dokumentieren“ (Richtlinien BÄK 1985: A-1693).
In den Regelungen der Bundesärztekammer „Richtlinien zur Durchführung der assistierten Reproduktion“ von 1998 wird die Novellierung der Richtlinien im Vorwort damit begründet, dass neue Methoden der assistieren Reproduktion, wie die intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI), eingesetzt worden wären und dass ein Register zur Qualitätssicherung in diesem Bereich entwickelt worden sei. Weiterhin wird Bezug auf gesetzliche Neuerungen genommen, wie die „Verabschiedung des Kindschaftsrechtsreformgesetzes“ (RL BÄK 1998: A-3166). Sowohl wissenschaftliche als auch rechtliche Veränderungen begründen also die Neufassung. Unter dem Punkt „Elterliche Voraussetzungen“ finden sich 1998 einige Modifikationen. Zwar wird, wie schon 1985, auf die grundsätzliche Anwendung der reproduktionsmedizinischen Methoden bei Ehepaaren hingewiesen, es werden jedoch Ausnahmen aufgeführt. So können diese nun auch bei nicht verheirateten Paaren in stabiler Partnerschaft nach vorheriger Beratung durch die bei der Ärztekammer einrichteten Kommission durchgeführt werden (RL BÄK 1998: A-3168). Dementsprechend bildet die Anwendung dieser Methoden bei nicht verheirateten Paaren eine zu begründende Ausnahme, welche jedoch weniger strikt formuliert wird. Zudem bedarf es der Zustim87 Zur Diskussionen über die Irritation, die Frauen auslösen, die unabhängig von einer „stabilen“ Lebenspartnerschaft ein Kind planen, siehe Marilyn Strathern (2001), die auf die Auseinandersetzungen der „virgin birth debate“ in Großbritannien eingeht und Eva-Maria Knoll (2008), die sich mit Diskursen über „single mothers by choice“ auseinandersetzt.
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mung dieser Kommission wenn „fremde Samenzellen verwendet werden“ (RL BÄK 1998: A-3168). Dennoch zeigt sich in den Formulierungen, dass solche Ausnahmen explizit in den Regulierungen gekennzeichnet werden können. Auch alleinstehende Frauen und gleichgeschlechtliche Paare werden in diesen Richtlinien ausdrücklich hervorgehoben. Die Anwendung bei diesen Personengruppen wird als nicht zulässig erklärt. Im Anhang wird unter der dem Topos „Vermeidung sozialer und rechtlicher Nachteile für ein durch IVF gezeugt Kind“ folgende Ausführung gegeben: „Im Hinblick auf das Kindeswohl verbietet es sich, einer alleinstehenden Frau oder gleichgeschlechtlichen Paaren einen Kinderwunsch zu erfüllen“ (RL BÄK 1998: A3170).
Auch hier wird also das „Kindeswohl“ etwaigen Kinderwünschen aus von der Ehe abweichenden Lebens- und Beziehungskonstellationen entgegengestellt, ohne dass die damit verbundenen Risiken und Nachtteile für das Kind einer näheren Erläuterung zu bedürfen erscheinen. Weitere Modifizierungen finden sich in der „(Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion“ von 2006, herausgegeben von der Bundesärztekammer (RL BÄK 2006), mit der die gegenwärtig aktuellste Regelung vorliegt. Auch hier wird die Novellierung im Vorwort mit sowohl internen medizinischen Weiterentwicklungen und Modifikationen reproduktionsmedizinischer Verfahren als auch gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen begründet: „Die (Muster-)Richtlinien berücksichtigen die öffentliche Debatte über Chancen, Legitimität und ethische Grenzen der Fortpflanzungsmedizin, den gesellschaftlichen Wertewandel zu Familie, Ehe und Partnerschaft und die Kriterien der Medizinethik“ (RL BÄK 2006: A-1393).
Deutlich wird die Verwobenheit der Richtlinien sowohl mit den wissenschaftlich-medizinischen als auch mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und Subdiskursen wie dem Wertewandel von Familie, Ehe und Partnerschaft. Allgemeine gesellschaftliche Diskurse werden in Beziehung zu den Regulierungen der Medizin gesetzt. In den Richtlinien der BÄK wird die Spendersamenbehandlung, benannt als „heterologe Insemination“ und „heterologe In-vitro-Fertilisation“, zum ersten Mal ausdrücklich als Teil der medizinischen Behandlungsmethoden assistierter Reproduktion unter dem Punkt „Methoden und Indikationen“ aufgeführt. Der vormals stets hervor-
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gehobene Ausnahmecharakter der Behandlung mit „fremden“ Samen bei dieser Methode ist nicht mehr gegeben. Dies zeigt eindrücklich die Etablierung und Normalisierung der Spendersamenbehandlung als Methode der Reproduktionsmedizin. Unter „Statusrechtliche Voraussetzungen“ findet sich auch hier der Passus: „Methoden der assistierten Reproduktion sollen unter Beachtung des Kindeswohls grundsätzlich nur bei Ehepaaren angewandt werden“ (RL BÄK 2006: A-1395). Jedoch wird weiter festgelegt, dass diese auch bei nicht verheirateten Frauen angewandt werden können, wenn die behandelnde Ärztin/der behandelnde Arzt zu der Einschätzung gelangt, dass „die Frau mit einem nicht verheirateten Mann in einer festgefügten Partnerschaft zusammenlebt“ und „dieser Mann die Vaterschaft an dem so gezeugten Kind anerkennen wird“ (RL BÄK 2006: A-1395). Deutlich werden die sehr viel weniger restriktiv gewählten Formulierungen. Dies auch, wenn folgend kommentiert wird: „Bei nicht mit einander verheirateten Paaren wird dabei einer heterologen Insemination mit besonderer Zurückhaltung zu begegnen sein“ (RL BÄK 2006: A-1400).
Die Verantwortung und die Entscheidungsmacht über den Zugang zur Behandlung als einer Ausnahme liegt nicht mehr bei einer Kommission, sondern nunmehr bei den behandelnden Mediziner_innen. „Auffällig gegenüber den Richtlinien von 1998 ist, dass viel mehr Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten auf den Arzt bzw. die Ärztin verlagert werden“ (Wendehorst 2008: 114). Ausschlüsse von alleinstehenden Frauen und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften vom Zugang zur Spendersamenbehandlung finden weiterhin Erwähnung, so „ist eine heterologe Insemination zurzeit bei Frauen ausgeschlossen, die in keiner oder in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben“ (RL BÄK 2006: A-1400). Diese Erwähnung ist nun jedoch im „Kommentar“ platziert, der als eine Interpretationshilfe der Richtlinie ausgewiesen ist, „ohne an ihrem verbindlichen Charakter teilzuhaben“ (RL BÄK 2006: A-1398). Zusammenfassend lässt sich anhand der Richtlinien und ihren Novellierungen also folgende Entwicklung ausmachen: Während 1985 die Bezeichnung „gleichgeschlechtliche Partnerschaft“ noch nicht einmal Erwähnung findet und außerhalb von dokumentierbaren Vorstellungen und Verhandlungen über durch die assistierte Reproduktionsmedizin hergestellte Elternschaft liegt, sind 1998 der explizite Ausschluss der Anwendung der Metho-
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den bei alleinstehenden Frauen oder gleichgeschlechtlichen Paaren zu finden. 2006 wird zwar auch unter dem Punkt „Statusrechtliche Voraussetzungen“ die Anwendung der Methoden der assistierten Reproduktion grundsätzlich auf Ehepaare beschränkt, wobei die Entscheidung über Ausnahmen den in der Praxis Tätigen obliegt und sich hier der Raum für Auslegungen und Entscheidungen geweitet hat. Der explizite Ausschluss von der Behandlung mit Spendersamen der Frauen, die in keiner Partnerschaft oder in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben, ist in den als „Interpretationshilfe“ ausgewiesenen Kommentar verschoben worden und somit nicht mehr eindeutig verbindlich, auch nicht innerhalb der medizinischen Profession.88 Christoph Revermann und Bärbel Hüsing (2011) merken zur Verbindlichkeit der aktuellen Regelungen zum Ausschluss bestimmter Personengruppen in den Richtlinien der BÄK von 2006 an: „Es ist jedoch fraglich, ob der behandelnde Arzt an dieses Verbot gebunden ist, insbesondere auch weil Richtlinien, wie die (Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion, für den einzelnen Arzt erst dann eine unmittelbare Rechtswirkung entfalten, wenn sie durch die Ärztekammern in formelles Satzungsrecht übernommen worden sind. Erfolgt eine solche Übernahme nicht, entfalten die Richtlinien allenfalls mittelbare Wirkung, indem sie den zu beachtenden ärztlichen Standard konkretisieren“ (ebd.: 206).
Dass auch in Deutschland einige Ärzt_innen lesbischen Paaren Zugang zur Behandlung mit Spendersamen anbieten, stellt Sven Bergmann (2014) heraus (Bergmann 2014: 81).89 Beispielsweise weisen die „Cyrobank München“ und auch die „Erlanger Samenbank“ auf ihren Internetseiten darauf hin, lesbische Paare zu behandeln, wenn diese in eingetragener Lebensgemeinschaft leben und gemeinsam den Behandlungsvertrag unterschreiben (vgl. http://www.cryobank-muenchen.de/Lesben-Singles-Kinderwunsch
88 Für die Reproduktionsmediziner_innen sind die Vorgaben der jeweiligen Landesärztekammern mit deren Berufsverordnungen bindend. Verfehlungen können die Entziehung der Approbation zur Folge haben. Die Berufsordnungen der Länder erwähnen die Samenspende als Maßnahmen der Reproduktionsmedizin unterschiedlich, so dass je nach Bundesland teilweise die Definition über den Kreis der zu behandelnden Patient_innen den jeweiligen Mediziner_innen selbst überlassen erscheint.
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[27.04.2018]; http://www.erlanger-samenbank.de/aktuelles/samenspende-f r-lesbische-paare [27.04.2018]).90 Abgesehen von den wirkmächtigen Richtlinien der Bundesärztekammer ist im fachspezifischen Diskurs der Reproduktionsmedizin die Frage des Zugangs eine über den gesamten Untersuchungszeitraum durchgehende Thematik diskursiver Auseinandersetzungen. Ab Ende der 1990er und in den 2000er Jahren wird die Frage des Zugangs zur Behandlung mit Spendersamen immer offener gestellte: „Sind Bedenken hinsichtlich der Kinderwunschbehandlung lesbischer und alleinstehender Frauen berechtigt?“ (JRE 2005, Jg. 2, Nr. 1: 35).
Die Tendenz der Öffnung des Zugangs zur Spendersamenbehandlung setzt sich auch in den Richtlinien des Arbeitskreises für Donogene Insemination von 2006 (RL AKDI 2006) fort, nach denen eine „relative Indikation“ zur Spendersamenbehandlung auch dann vorliegt, wenn „ein lesbisches Wunschelternpaar in gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaft lebt oder eine Frau ohne Partnerbeziehung nach sorgfältiger Abwägung aller Umstände den eigenen Kinderwunsch verwirklichen möchte“ (RL AKDI 2006: 11). Des Weiteren wird darauf verwiesen, dass ansonsten die reproduktionsmedizinische Behandlungen mit Spendersamen von lesbischen Paaren oder alleinstehenden Frauen im Ausland in Anspruch genommen werden würden. Bettina Bock von Wülfingen (2001) pointiert, dass nun „Homosexuelle“ als Zielgruppe entdeckt werden. So „mehren sich emphatische Äußerungen von Vertretern der Reproduktionsmedizin in Bezug auf die Unfruchtbarkeit der Homosexuellen“ (Bock von Wülfingen 2001: 114). Deutlich wird, dass statt einer einheitlichen Diskursposition bezüglich des Zugangs zur Spendersamenbehandlung sich vielmehr durchgängig „konkurrierende Diskurspositionen“ feststellen lassen (Keller 2008: 231). 89 Eine von Marina Rupp herausgegebene Studie (2009) führt an, dass die meisten gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, knapp 90 Prozent, die Samenspende in Deutschland durchgeführt haben (ebd.: 285). Insgesamt nimmt die Zahl dieser Paare, die mithilfe einer Samenspende Eltern werden zu. Jedoch zeigt die Studie nicht, ob daran medizinisches Personal beteiligt gewesen ist oder eine Selbstinsemination durchgeführt wurde. 90 Ab Anfang Oktober 2017 können gleichgeschlechtliche Paare auch in Deutschland heiraten (https://www.tagesschau.de/inland/ehe-fuer-alle-129.html [27.04. 2018]).
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Auch zwischen dem reproduktionsmedizinischen Diskurs als spezifischem Fachdiskurs und dem allgemeineren medizinischen Diskurs bestehen deutliche Unterschiede. Während die medizinischen Richtlinien der Bundesärztekammer wesentlich restriktivere Formulierungen der Öffnung des Zugangs beinhalten, lassen sich speziell in den Diskussionen in den reproduktionsmedizinischen Fachzeitschriften und in den spezifischen Richtlinien des Arbeitskreises für Donogene Insemination weniger begrenzende Formulierungen finden. Kindeswohl Als zentrale Komponente der Begründungen zur Regulierung und dem Erstellen entsprechender Zulassungsvoraussetzungen zur reproduktionsmedizinischen Behandlung findet sich der Begriff des „Kindeswohl“. Der Bezug auf diesen Begriff lässt sich in in den Richtlinien der Bundesärztekammer durchgehend nachvollziehen. Schon 1985 wird darauf hingewiesen, dass darauf zu achten sei, „ob zwischen den Partnern eine für das Kindeswohl ausreichend stabile Beziehung besteht“ (RL BÄK 1985: A-1691). 1996 wird insistiert, dass für die Entscheidung des Arztes über die Behandlung „das künftige Wohlergehen des erhofften Kindes“ von Gewicht ist (RL BÄK 1996: A-415). Und auch 2006 wird die Bedeutung des Kindeswohls betont: „So gilt der hohe Rang des Kindeswohl auch für den Umgang mit dem noch nicht geborenen Kind“ (RL BÄK 2006: A-1392).
Wie schon beschrieben, wird mit dem Verweis auf das „Kindeswohl“ die Anwendung von Methoden der assistierten Reproduktion zunächst grundsätzlich auf Ehepaaren beschränkt (RL BÄK 2006: A-1392). Dabei bezieht sich die Formulierung auf ein potentielles Kind, welches zum Zeitpunkt des Beginns einer Spendersamenbehandlung weder geboren noch gezeugt wurde.91 Der Begriff des Kindeswohls wird hier äußerst unbestimmt gebraucht. Beim Kindeswohl handelt es sich vor allem um ein rechtliches Konzept, 91 In der rechtswissenschaftlichen Diskussion wird der Kindeswohlbegriff als Zulässigkeitskriterium für die Reproduktionsmedizin bezweifelt, da das Kind, dessen Wohl geprüft werden soll, noch nicht gezeugt wurde (vgl. Müller Götzmann 2009: 300).
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das ab dem 19. Jahrhundert Erwähnung in Gesetzestexten fand und bis heute präsent ist. Es legitimiert staatliche Eingriffe und war stets von den jeweiligen Wertevorstellungen über gesellschaftliche Normalität, Kindsein, Erziehung, Privatheit und Staatsaufgaben geprägt (vgl. Wyttenbach 2003: 39). Das „Kindeswohl“ wurde historisch höchst unterschiedlich gedeutet und seine Relativität verweist nach Rosemarie Nave-Herz (2003) auf seine gesamtgesellschaftliche Einbettung in den jeweiligen Zeiten. Das Kindeswohl erscheint auch außerhalb des Rechts zentral. In ihrer Arbeit „Familie heißt Arbeit teilen. Transformationen der symbolischen Geschlechterordnung“ stellt Tomke König (2012) heraus, dass in Diskussionen über elterliche Lebensweisen das Kindeswohl oberste Priorität hat (ebd.: 106ff.). Die Verwendung des unbestimmten Kindeswohlbegriffs im reproduktionsmedizinischen Diskurs ermöglicht dabei den Anschluss an gesellschaftlich relevante heteronormative Diskurse zum Wohl des Kindes, zur bürgerliche Kleinfamilie, zum Wert der Ehe und ist verbunden mit gesellschaftlichen Vorstellungen über Normalität von Elternschaft. Kirsten Scheiwe (2013) bezeichnet das Kindeswohl als ein „Grenzobjekt“, welches „unterschiedliche Bedeutungen in verschiedenen Kontexten hat, deren Struktur ausreichende Gemeinsamkeit aufweisen, um es zu einem Medium der Übersetzung zu machen“ (ebd.: 209). Inhaltliche Ausführungen zum Kindeswohl bleiben in den untersuchten Richtlinien relativ vage. Etwaige Darlegungen beziehen sich darauf, dass dem durch Spendersamenbehandlung gezeugten Kind eine stabile Beziehung zu beiden Elternteilen zu sichern ist (vgl. RL BÄK 2006: A-1400). „Beide Elternteile“ beschreibt hier offenbar ein gegengeschlechtlich heterosexuell definiertes (Ehe-)Paar, welches sich ein gemeinsames Kind wünscht. Das Fehlen eines Vaters bzw. seine Abwesenheit wird als abweichend und grundsätzlich defizitär gesetzt. Zudem wird in den Regulierungen durchgehend die Relevanz einer „stabilen Partnerschaft“ betont, ohne nähere Einlassungen darüber, was dieser Passus konkret bedeutet. Als Kontraindikation und somit als Ausschluss von der Spendersamenbehandlung ist im untersuchten Diskurs beispielsweise die „Instabilität der Partnerschaft“ aufgeführt (F 1990, Band 6: 171). Nur sehr vereinzelt finden sich Aussagen darüber, was die Stabilität der Beziehung eines Paares definiert. So wird etwa angegeben, dass „Partnerschaftsstabilität als Voraussetzung für die „Durchführung der donogenen Insemination“ sich darauf bezieht, dass eine Partnerschaft mindestens fünf Jahre bestehen solle und mehrere Jahre ein gemeinsamer Haushalt geführt werde (F 1990, Band 6: 171). Zudem „sollen die Ehepartner mehr oder weniger psychisch unauffällig sein“
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und es sollen „keine wesentlichen sexuellen Störungen“ vorliegen (F 1990, Band 6: 170f.). Auch wenn diese Aussagen und insbesondere die Abfrage dieser Eigenschaften seitens der Mediziner_innen nicht weiter ausgeführt und konkretisiert werden, kristallisieren sich hierin Vorstellungen von heterosexueller Partnerschaft und Reproduktion sowie Vorstellungen darüber, wie Eltern zu sein haben, heraus, in denen eine stabile, über Jahre andauernde Beziehung, das Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt, die (psychische) Gesundheit des Paares und das Durchführen (hetero-)sexuellen Geschlechtsverkehres deutlich an das Ideal der traditionellen bürgerlichen Kleinfamilie als Ort der Reproduktion von Elternschaft erinnern. Auch Argumentationslinien, die sich für einen Zugang für gleichgeschlechtliche Paare zur Spendersamenbehandlung aussprechen, beziehen sich auf das „Kindeswohl“ und die „Paarstabilität“. In den 2000er Jahren wird zunehmend auf empirische Studien, insbesondere aus dem englischsprachigen Raum, verwiesen, die die Entwicklung von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften und in gegengeschlechtlichen Lebensgemeinschaften vergleichen und keine Unterschiede im Wohlergehen des Kindes aufzeigen können (u. a. JRE 2005, Jg. 2, Nr. 1: 35–40; JRE 2008, Jg. 5, Nr. 6: 329–334). Über die Zeit ist in den Regulierungen der Spendersamenbehandlung durchaus eine Öffnung des Zugangs zu verzeichnen, jedoch ist das Ideal einer Elternschaft als zweigeschlechtliche, von monogam in stabiler Beziehung lebenden und heterosexuellen Partnern beständig. Davon abweichende Möglichkeiten etwa von nicht zweigeschlechtlichen, nicht monogamen, nicht heterosexuell begründeten Elternschaften werden an diesem Ideal gemessen, problematisiert und zumindest als potentiell das Kindeswohl gefährdend verhandelt bzw. auch ausgeschlossen. Dabei zeigt die Benennung der problematisierten bzw. auszuschließenden Abweichung die heteronormative Norm einer heterosexuellen (Ehe-)Partnerschaft und daraus resultierender Elternschaft mit gemeinsamen Kind, welche dann als selbstverständliche, natürliche und nicht weiter zu benennende Normalität vorausgesetzt ist. Butler (2009b) weißt darauf hin, dass Verwandtschaftsformen, die von normativen, dyadischen, heterosexuell fundierten und durch das Ehegelöbnis gesicherten Familienformen abweichen, als „gefährlich“ für das Kind gelten. Darüber hinaus jedoch auch als „gefährlich“ für die „vermeintlich natürlichen und kulturellen Gesetze die, wie es heißt, die menschliche Intelligibilität aufrechterhalten“ (ebd.: 171). Die Diskursbeiträge zum Zugang sind als Bemühung zu werten, die Spendersamenbehandlung mit dieser he-
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teronormativen, als natürlich gesetzten Ordnung der Elternschaft in Deckung zu bringen und die Methode zum Ort ihrer fortwährenden (Wieder-)Herstellung zu machen. Auswahl von Samenspendern „Der Arzt, der die Inseminationsbehandlung steriler Ehepaare durchführen will, ist interessiert, unter den jungen Männern, meist Studenten, die wenigen geeigneten herauszufinden, [...]“ (RM 2000, Volume 16, Nr. 4: 250).
Auch über die Auswahl in Frage kommender Samenspender finden sich im reproduktionsmedizinischen Diskurs über die untersuchten Jahrzehnte fortwährend Auseinandersetzungen und ebenso sind hiermit bemerkenswerte Ein- und Ausschlüsse verbunden. Ferner ist dieser Prozess durch Regulierungen der Ärzteschaft bestimmt und wird mit zunehmender Institutionalisierung der Samenbanken und der Etablierung der Samenspende immer weiter standardisiert. In den „Richtlinien des Arbeitskreises für Donogenen Insemination (DI) zur Qualitätssicherung der Behandlung mit Spendersamen in Deutschland in der Fassung vom 8. Februar 2006“ sind die „Qualitätskriterien für Spendersperma“ schließlich festgelegt (RL AKDI 2006: 32). Zum Beginn der 1980er Jahre waren diese festgelegten Qualitätskriterien noch nicht gegeben. Einschlägige Aussagen zur Auswahl finden sich hier eher vereinzelt, sind nicht systematisiert und widersprechen sich teilweise. Zunächst unterliegt die konkrete Auswahl der Samenspender außer dem Kriterium der „Zeugungsfähigkeit“ keinen allgemein verbindlichen Kriterien. Hier gilt einzig: „Zeugungsfähigkeit sollte mittels eines Spermiogramms nachgewiesen sein“ (FDF 1980, Band 8: 262).
Durchgehend wird jedoch herausgestellt, dass nicht alle Männer in Frage kommen. Für die Auswahl werden ganz unterschiedliche Fragen erörtert, die messbare medizinische Kriterien wie nachgewiesene Zeugungsfähigkeit mittels Spermiogramm ebenso einschließen wie gesellschaftlich sozial positiv besetzte Eigenschaften.
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Doch schon die fortwährend wiederholte Betonung der Notwendigkeit eines fundierten, durch die Medizin durchzuführenden Auswahlprozesses nach bestimmten „Qualitätskriterien“ legitimiert die Samenspende als medizinische Behandlungsmethode. Über das explizite Bestimmen einzelner Kriterien zur Auswahl des Samenspenders finden sich ab Mitte der 1980er Jahren verschiedentliche Einlassungen. Es wird beispielsweise darüber diskutiert, aus welchen beruflichen Bereichen die Spender stammen sollen oder welcher Grad an Bildung ratsam sei. „Als Spender werden junge Männer gesucht [...] mit ,gutem‘ Intelligenzgrad“ (FDF 1986, Band 13: 246). „Wir greifen vorwiegend auf Spender aus dem medizinischen Bereich zurück, da diese Berufsgruppe am ehesten das nötige Verständnis und Verantwortungsgefühl für diese Behandlungsmethode mitbringt, sowie auch einen entsprechenden Intelligenznachweis erbracht hat“ (FDF 1984, Band 12: 218).
Obschon hier „Spender aus dem medizinischen Bereich“ als Kriterium der Auswahl genannt werden, wird anderseits erwähnt, dass die beruflichen Qualifikationen kein Selektionskriterium bei der Auswahl darstellen (FDF 1986, Band 13: 246). Die im Zitat erwähnte „Intelligenz“ findet sich in den 1980er Jahren und darüber hinaus im gesamten untersuchten Zeitraum als häufig aufgeführtes Kriterium. Ein (Medizin-)Studium wird hier als Nachweis einer nicht näher definierten oder nachzuweisenden „Intelligenz“ gedeutet und nicht etwa ein durch Tests messbarer Intelligenzquotient zugrunde gelegt. Zu vermuten ist, dass der Begriff Intelligenz in diesem Diskurs eher alltagssprachlich verwendet wird, es ist keine allgemeingültige Definition von Intelligenz gegeben. „Intelligenz wird ständig neu definiert und bewertet – genauso wie die Methoden, das Attribut ,intelligent‘ zu verteilen. Somit ist Intelligenz nicht als ein empirisch nachweisbares Objekt wissenschaftlicher Forschung zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um eine in institutionellen Kontexten und diskursiven Praktiken hergestellte und modulierte Kategorie. [...] Obwohl es sich bei ihr um eine exemplarische diskursive und soziale Konstruktion handelt, wird ,Intelligenz‘ immer noch als angeboren und damit genetisch bestimmte kognitive Kapazität einzelner Menschen angesehen“ (Holert 2004: 126f.).
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Weiter wird sich in den „Richtlinien des Arbeitskreises für Donogenen Insemination (DI) zur Qualitätssicherung der Behandlung mit Spendersamen in Deutschland in der Fassung vom 8. Februar 2006“ explizit von „eugenische[n] Implikationen“ und „Züchtung elitärer Nachkommen“ distanziert (RL AKDI 2006: 14).92 „Die Spenderauswahl hat unter strikter Vermeidung aller Maßnahmen der genetischen Manipulationen, der Geschlechtsselektion und der Selektion elitärer Merkmale des Spenders und seiner Samenzellen zu erfolgen“ (RL AKDI 2006: 24).
Nicht Weitergabe oder Vererbung von bestimmten Eigenschaften wie Intelligenz sei das Ziel, vielmehr stützen diese die Annahme sekundärer Charakteristika wie Verantwortungsgefühl und Verständnis für die Spendersamenbehandlung des potentiellen Spenders. Dabei wird ein gewisser Bildungsabschluss mit Intelligenz und schließlich Verantwortungsbereitschaft gleichgesetzt. Weniger gebildeten Kandidaten wird im Umkehrschluss die Fähigkeit abgesprochen, ihre Rolle im Rahmen der Maßnahme voll zu überblicken, sie erscheinen als „ungeeignet“. Das Verfahren der Auswahl von Spendern wird in medizinischen Fachkreisen auch als „Spenderrekrutierung“ bezeichnet (vgl. RL AKDI 2006). Die Distinktion zwischen „geeigneten“ und „ungeeigneten“ Spendern ist in der medizinischen Praxis grundlegend. Dabei erfolgt diese Unterscheidung nicht nur nach messbaren medizinischen Kriterien wie Spermaparametern oder Blutgruppenzugehörigkeit, sondern ist von Normierungen und sozialen Vorstellungen wie z. b. „Intelligenz“ und „Bildung“ im Zusammenhang mit Verantwortung bestimmt. Samen als Risikosubstanz „Als Spender werden junge Männer gesucht, [...] geistig und körperlich gesund“ (FDF 1986, Band 13: 246).
Die Gesundheit des Spenders – sowohl physisch als auch psychisch – und damit der Ausschluss potentiell nicht gesunder Spender ist in allen unter92 Zur Diskussion des theoretisch noch wenig erschlossenen Verhältnisses von Eugenik und Spendersamenbehandlung siehe Scout Burghardt und Kerstin Tote (2010): 154f.
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suchten Dekaden von großer Bedeutung. In den Richtlinien des Arbeitskreises für Donogenen Insemination ist der die Spenderuntersuchung durchführende Arzt angehalten, Samenspender „in gutem körperlichen und seelischen Gesundheitszustand“ auszuwählen (RL AKDI 2006: 24). Der Zustand von Gesundheit und seine Abweichungen werden dabei zunächst nicht weiter definiert. Potentielle Spender in schlechtem körperlichem und/ oder seelischem Gesundheitszustand sind von der Auswahl auszuschließen. In ihrer ethnographischen Untersuchung kommen Scout Burghardt und Kerstin Tote (2010) anhand von Interviews und teilnehmender Beobachtung in Samenbanken in Deutschland und Skandinavien zu dem Schluss, dass die Auswahl der Samenspender von Risikodiskursen und Marktmechanismen begleitet wird. Ab Ab Mitte der 1990er Jahre lässt sich dieser Risikodiskurs auch im untersuchten Material verstärkt nachzeichnen. Die Richtlinien des AKDI von 2006 „stellen den Versuch dar, in Ermangelung gesetzlicher Vorgaben auf Bundesebene, ein verbindliches, praktikables und ethisch allgemein akzeptiertes Regelwerk für die Durchführung der Spendersamenbehandlung in Deutschland zu schaffen“ (RL AKDI 2006: 5). Da die Spendersamenbehandlung ein rechtlich wenig reguliertes Feld darstelle, sollen so verbindliche Regeln geschaffen werden und zur Legitimation dieser Behandlungsmethode durch allgemeine, ethische Akzeptanz beitragen. Als „Hauptaufgabe“ der Richtlinien wird die Festlegung von „Qualitäts- und Sicherheitsstandards“ ausgewiesen (RL AKDI 2006: 7). Diese Standards schreiben dem Samenspender eine potentiell risikobehaftete Position zu. Um durch die Auswahl der Spender Risiken zu minimieren, werden etwa als Ziele dieser Richtlinien benannt: „a) Definition von Standards zur Verhütung von Infektionen durch die Übertragung mit Spendersamen bei den behandelten Personen b) Verminderung des Risikos von genetischen Störungen bei dem so gezeugten Kind“ (RL AKDI 2006: 7).
Deshalb solle ein „Infektions-Screening“ und ein sogenanntes „Genetisches Screening“ zur Reduktion „genetischer Risiken“ durchgeführt werden (vgl. RL AKDI 2006: 26ff.).
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„Männer mit bekannten autosomal-dominanten Erkrankungen oder autosomal-rezessiver Anlageschaft sind von der Samenspende auszuschließen“ (RL AKDI 2006: 27).93
Allerdings werden im Normalfall in der Praxis keine genetischen Tests durchgeführt. Das jeweilige Risikopotential soll im ärztlichen Gespräch mit dem Spender mittels einer Familienanamnese ermittelt werden und das Ergebnis gründet sich auf die von ihm gemachten Aussagen. „Zytogenetische oder molekulargenetische Screeninguntersuchungen werden bei den Spender in der Regel nicht durchgeführt“ (RL AKDI 2006: 27).
Männer, deren Familie ein gehäuftes Auftreten verschiedener Krankheiten „mit erblicher Komponente“ aufweist, sollen von der Samenspende ausgeschlossen werden. Unter diese Krankheiten fallen: „schwere allergische Dispositionen, familiäre Fettstoffwechselstörungen, Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, Epilepsie, juventiler Diabetes, Asthma, Rheuma, Psoriasis, familiäre Herzfehler, Psychosen, juventiler Hypertonie“ (RL AKDI 2006: 27). Der Begriff Krankheit „mit erblicher Komponente“ ist dabei eher ungenau definiert und multifaktoriell bedingte Krankheiten sind eingeschlossen. Thomas Lemke (2003) betont, dass durch genetische Diagnostik keine sicheren Voraussagen des Vorliegens von Krankheitsveranlagungen getroffen werden, sondern stattdessen statistische Bezugsgrößen eingeführt und als genetische Risiken bezeichnet werden. „Der Begriff des genetischen Risikos verweist also nicht auf eine klinische Tatsache, sondern allein auf statistische Kalkulationen“ (ebd.: 999).
Bei der Integration der Risikosemantik im Gendiskurs ist prinzipiell jeder_r verdächtig, Träger_in von „riskanten Genen“ zu sein (Lemke 2004: 93). 93 Autosomaler Erbgang bezeichnet die „Vererbungsweise eines Merkmals, dessen Gen auf einem Autosom (d. h. nicht auf einem Geschlechtschromosom) liegt“. Autosomal dominant meint dabei, dass bereits das „Vorhandensein des Merkmal-prägenden Gens auf einem der beiden homologen Chromosomen genügt, um das Merkmal in Erscheinung treten zu lassen“. Wohingegen bei autosomal rezessiven Erbgängen „das Gen auf beiden homologen Chromosomen als homozygot rezessives Allel vorhanden sein muss, um das Merkmal in Erscheinung treten zu lassen“ (Roche Lexikon Medizin 2003: 554).
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Dies gilt im reproduktionsmedizinischen Diskurs gerade auch für die potentiellen Samenspender als Träger riskanter Gene, die sie durch ihre Spende weitergeben könnten. Durch die Regulierungen soll die Weitergabe dieser riskanten Gene an die nächste Generation minimiert werden. Dabei ist nach Lemke (2003) die Gendiagnostik nicht nur als medizinische, sondern auch als moralische und politische Technologie aufzufassen. Genetische Risiken seien keine bloßen biologisch-empirischen Sachverhalte, sondern der Effekt einer sozialen Problematisierung. So bringt das Konzept des genetischen Risikos die Möglichkeit einer „Naturalisierung und Moralisierung sozial relevanter Probleme“ mit sich (Lemke 2004: 93). Diese Probleme sind im Individuum zu lokalisieren und soziale Kontexte werden aus dem Blick gerückt. Damit geht ein Imperativ von Vermeidung und Verminderung genetischer Risiken einher. Den Vorgaben zur Auswahl der Spendersamenbehandlung ist also die Vorstellung inhärent, dass Kinder mit einer Krankheit wie oben beschrieben zu vermeiden sind.94 „Das (riskante) Subjekt gehört i. d. R. einer oder mehrerer Risikogruppen an [...]. Auf diese Gruppe(n) richten sich je spezifische Regierungsstrategien: Es sind Programme zur Vermeidung oder zumindest Minimierung von Risikofaktoren. Die Sozialität der Risikogruppe entspricht der neoliberalen Gesellschaftsformation, in der jeder gehalten ist, in sein individuelles Humankapital zu investieren immer mit normalisierendem Blick auf die Risikoreferenzgruppe“ (Maasen/Duttweiler 2012: 425).
Bei der Spenderselektion wird das genetische Risiko im Körper des Samenspenders bzw. in einer von ihm produzierten Körpersubstanz lokalisiert. Der Kandidat und sein zu veräußerndes Sperma gelten als potentiell risikobehaftet, das Sperma selbst ist Risikosubstanz. Auch durch die Altersbegrenzung der Spender werden Risiken versucht zu minimieren, die Spender sollten mindestens volljährig und nicht älter als 40 Jahre sein. Denn mit zunehmendem Alter wird eine „Zunahme des Risikos genetischer Fehlbildungen bei den Nachkommen“ (RL AKDI 2006: 24) angenommen. Zudem sei die Zahl der von einem Samenspender zu zeugenden Kinder zu regulieren, „die Zahl der lebenden Nachkommen [soll] auf 15 begrenzt sein“ (RL AKDI 2006: 25). Hier wird auf das Inzest-Tabu verwiesen, also die Gefahr von unfreiwilligen sexuellen Beziehungen von genetischen Nachkommen desselben Samenspenders unter sogenannten Halb94 Zur Entstehen der genetischen Risikoperson siehe Regine Kollek und Thomas Lemke (2008).
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geschwistern. Der nach Andreas Bernhard (2014) latenten Bedrohung des „Inzestproblems“ durch die Reproduktionstechnologien und der damit einhergehenden Übertretung familiärer und gesellschaftlicher Grenzen soll durch die Begrenzung einer bestimmten Anzahl von lebenden Nachkommen von einzelnen Samenspendern entgegengewirkt und somit kontrolliert werden.95 Des Weiteren kommt es bei der Auswahl von Samenspender zum Ausschluss bestimmter Männlichkeiten etwa durch Berücksichtigung von Merkmalen der sexuellen Orientierung. So hätten die ausführenden Ärzte bei der „Spenderrekrutierung“ (RL AKDI 2006: 24) sicherzustellen, dass „der Samenspender zu keiner Risikogruppe gehört, bei der sexuell oder auf dem Blutweg übertragbare Erkrankungen statistisch häufiger vorkommen als in der Normalbevölkerung (z. b. bei Homosexualität, bekannter Promiskurität [sic!], Drogenabhängigkeit)“ (RL AKDI 2006: 24). Heterosexuelle, nicht promiskuitiv lebende Männer werden als „geeignete“ Spender identifiziert, abweichend davon lebende Männer als „ungeeignet“ für die Samenspende ausgeschlossen. Hier zeigen sich hierarchische Beziehungen von Männlichkeiten, die durch Anerkennung von sozialen Werten und Normen fundiert sind (Connell 1999). Der Bezug auf „hegemoniale Männlichkeit“ – hier als heterosexuelle und zugleich nicht promiskuitive, der „Normalbevölkerung“ zuzurechnende Männlichkeit gezeichnet – legitimiert die Regulierung der Spender und die Behandlung mit Spendersamen. Heterosexuelle und nicht promiskuitive Männlichkeit wird normalisiert, Abweichung davon wird gekennzeichnet und zur „Risikogruppe“ formiert. 96 Das „Normale“ wird mit dem Leben in heterosexuellen, monogamen Beziehungen verknüpft.
95 Zur weiteren Diskussion zu „Inzest-Angst“ im Zusammenhang mit den Reproduktionstechnologien siehe Andreas Bernhard (2014). 96 In Deutschland sind derzeit homosexuelle Männer von der Blutspende ausgeschlossen. Diese Praxis des Ausschluss allein aufgrund der sexuellen Orientierung wird im Fall der Blutspende kontrovers diskutiert. Von Interessenverbänden und wissenschaftlichen Institutionen wird dieser Ausschluss kritisiert und als diskriminierend bewertet. Auch nach der Auffassung von Generalanwalt Mengozzi in seinem Schlussantrag am Europäischen Gerichtshof ist eine sexuelle Beziehung zwischen zwei Männern für sich allein kein Verhalten, das einen dauerhaften Ausschluss vom Blutspenden rechtfertigen würde (vgl. http://curia. europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2014-07/cp140111de.pdf 2018]).
[27.04.
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Dies zeigt sich auch darin, dass die „Partnerin“ und „die Familie“ des Spenders thematisiert werden. Bis in die 1990er Jahren hinein wird diskutiert, ob die Zustimmung der Partnerin des potentiellen Spenders zur Samenspende eingeholt werden solle. „Die Spender müssen nicht verheiratet sein. Bei Verheirateten wird die Zustimmung der Ehefrau zur Samenspende gefordert“ (FDF 1986, Band 13: 247). „Unbestritten hat die Familie ein Recht auf genetische und sexuelle Exklusivität. [...] Es ist daher verständlich, dass Frauen von Samenspendern Wissen über die Verwendung der Samenzellen des Mannes haben wollen“ (RM 1999 Volume 15, Nr. 3: 168).
Dabei ist kaum von Belang, wie die tatsächliche Praxis und Handhabung dieser Thematik bei der Spendersamenbehandlung konkret gestaltet ist. Relevant sind die Vorstellungen von Beziehung, die im reproduktionsmedizinischen Diskurs zu Tage treten. In einer heterosexuellen, auf Monogamie, Exklusivität und Dauerhaftigkeit basierenden Beziehung zwischen Ehemann und Ehefrau und der ihr inhärenten heteronormativen Logik erscheinen die Samenzellen des Spenders als gemeinsames Gut. Und eine Veräußerung des Samens ohne Zustimmung der Partnerin ist mindestens diskutabel, dabei wird der Familie des Samenspenders ein „Recht auf genetische und sexuelle Exklusivität“ (RM 1999, Volume 15, Nr. 3: 168) zugesprochen. Die Vorstellung einer sich auf Dauerhaftigkeit und Exklusivität gründenden Liebe und partnerschaftlichen Verschmelzung soll durch die reproduktionsmedizinischen Behandlungsmethoden nicht in Frage gestellt werden. Zur Annahme sexueller Exklusivität fügt sich hier die Idee genetischer Exklusivität. Allerdings lässt sich im Material auch die gegenteilige Haltung nachzeichnen, dass der Samenspender alleine über seinen Körper und somit auch über seine Körpersubstanzen zu bestimmen hat. „Bei der Samenspende handelt der Mann im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und kann somit über seinen Körper allein verfügen“ (RM 1999, Volume 15, Nr. 3: 168). Der Mann alleine entscheidet sich zur Spende und den Gebrauch seiner Körpersubstanz. Auch in der reproduktionsmedizinischen Praxis schlägt sich diese Einstellung im Umgang mit dem Samenspender nieder.
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Passende Spender „Bei unserer Spenderauswahl legen wir Wert darauf, daß [...] einige äußerliche Merkmale wie Größe, Haarfarbe berücksichtigt werden“ (FDF 1984, Band 12: 206). „Im Hinblick auf den Ehemann der Inseminationspatientin wurden dessen Phänotyp bei der Spenderauswahl [...] berücksichtigt“ (FDF 1984, Band 12: 218).
Im reproduktionsmedizinischen Diskurs der Spendersamenbehandlung erscheint durchgängig die Auswahl eines „im Hinblick auf den Ehemann der Inseminationspatientin“ passenden Spenders selbstverständlich. Hier sollen phänotypische97 äußerliche Merkmale des Spenders Berücksichtigung finden und mit denen des „Ehemanns“ abgeglichen werden, um ein hohes Maß an „Ähnlichkeit“ zu gewährleisten. Sowohl in den Richtlinien des Arbeitskreises donogene Insemination (RL AKDI 2006) als auch in denen der Bundesärztekammer (RL BÄK 2006) wird auf den Abgleich phänotypischer Eigenschaften eingegangen und die Erfassung bestimmter als medizinisch und phänotypisch titulierter Merkmale angeregt. Aus welchen Gründen dies sinnvoll erscheint, wird kaum weiter ausgeführt. In diesen Richtlinien heißt es dazu: „Vom Samenspender sollte neben Namen, Vornamen, Geburtsdatum und behördlich angemeldeten Wohnort Merkmale registriert werden, die eine Anpassung an Merkmale der Wunscheltern begünstigen (z. b. Blutgruppe, Rhesusfaktor, Körpergröße, Haar- und Augenfarbe ggf. Beruf und persönliche Interessen)“ (RL AKDI 2006: 25).
97 „Phänotyp beschreibt in der Genetik „die genetisch kontrollierte Eigenschaft ( Phän‘) oder das gesamte Erscheinungsbild eines Individuums zu einem best. ‘
Zeitpunkt seiner Entwicklung als Ergebnis der kombin. Wirkung von Genotyp u. Umwelt“ (Roche Lexikon Medizin 2003: 1446).
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Obwohl nicht weiter expliziert, erfolgt die Auswahl eines spezifischen Samenspenders anhand äußerlich sichtbarer und phänotypischer Merkmale mit dem Ziel, dass das Kind Ähnlichkeit mit seinen „Wunscheltern“ und besonders dem sozialen Vater aufweist. Aber auch nicht sichtbare Parameter wie die Blutgruppe werden berücksichtigt. Kategorien wie Körperstatur, Ethnie, Beruf und persönliche Interessen sind zwar erwähnt, jedoch nicht weiter bestimmt. Wie die Auswahl konkret zu gestalten ist, nach welchen Maßstäben ein Abgleich von z. b. einer Kategorie wie „Ethnie“ konkret erfolgen kann, ist dem vorliegenden Material nicht zu entnehmen. Sven Bergmann (2014) beschreibt in seiner ethnographischen Studie die Herstellung von Ähnlichkeit durch sogenanntes „matching“ bei der Auswahl von Eizellspenderinnen und Eizellempfängerinnen in reproduktionsmedizinischen Praxen in Spanien und Tschechien: „Matching charakterisiere ich als eine Kulturtechnik, die auf dem Common Sense beruht – in diesem Fall auf der Evidenz der Wahrnehmung menschlicher Diversität – und in der sowohl Reproduktionsmediziner_innen zu Expert_innen der Typologie jener Unterschiede werden als auch von Patient_innen und Spender_innen erwartet wird, an der Arbeit der Klassifikation teilzunehmen“ (Bergmann 2014: 194).
Im untersuchten reproduktionsmedizinischen Diskurs wird darauf hingewiesen, dass mit der Berücksichtigung aller diesbezüglichen Selektionskriterien keinerlei Garantie für eine Ähnlichkeit des so gezeugten Kindes mit dem sozialen Vater verbunden sein kann. Durch die Suche nach „passenden“ Spendern soll Elternschaft mit Ähnlichkeit untermauert werden. Das Ziel ist also ein den Eltern äußerlich möglichst ähnlich erscheinendes und damit sichtbar zugehöriges Kind. Dieses soll biologisch interpretierbare phänotypische Ähnlichkeiten mit seinem sozialen Vater aufweisen und umgekehrt sollen Unähnlichkeiten minimiert werden. Die Spendersamenbehandlung soll nicht sichtbar werden bzw. zum Verschwinden gebracht werden. Eine diesem Maßgaben folgende Auswahl des passenden Spenders wirkt normalisierend auf Elternschaft. Das angestrebte Ergebnis ist eine auch für Dritte erkennbare Elternschaft aufgrund von Ähnlichkeiten. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die hohe Relevanz einer als fundiert verstandenen, durch die Medizin vollzogenen Auswahl der Samenspender durchgehend betont wird. Für die Suche nach den „wenigen geeigneten“ Spendern werden allgemeine Diskurse und implizite Vorstellungen von Bildung und Intelligenz, von Gesundheit und Krankheit, von Verer-
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bung und „genetischen Risiken“, von Normalität und Abweichung zu einem Regelwerk verwoben, welches den Blick auf den Samenspender als Risikoperson bestimmt. Die Kriterien zur Auswahl der Samenspender sind insgesamt höchst voraussetzungsreich und machtvoll in ihren Implikationen. Die Kategorien werden von wirkmächtigen Diskursen z. b. der Intelligenz98, der Heteronormativität und des „genetischen Risikos“ gespeist und ihre Prämissen wie Risikominimierung und Sicherheit bleiben nahezu unhinterfragt. Durch die Bestimmung von „Risikopersonen“ werden „ungeeignete“ Spender identifiziert, die sich als Träger der „Risikosubstanz“ des Spermas darstellen. Dabei dienen die empfohlenen Strategien zur Risikovermeidung bzw. -minimierung und die diskutierten Sicherheitsstandards der Legitimation des Verfahrens der Samenspende. Durch die Regulierungen der Auswahl erscheinen Unsicherheiten kontrollierbar. Pointiert ausgedrückt, verspricht die reproduktionsmedizinische Behandlung mit Spendersamen durch die Auswahl „geeigneter“ und „passender“ Samenspender, risikoarmes, gesundes und infektionsfreies Sperma zur Zeugung phänotypisch zu den Wunscheltern passender eigener Kinder zu bieten, ohne dabei zu viele (Halb-)Geschwister zu produzieren.
98 Zu den globalen Praktiken der Fortpflanzungsarbeit im Sinne „biokapitalistischer Inwertsetzung“ merkt Susanne Lettow (2015) an, dass bei der Rekrutierung von Frauen als Leihmütter oder Eizellspenderinnen Kategorien und Vorstellungen, die dem europäisch-kolonialen Rassendiskurs und der Eugenik entstammen, zum Tragen kommen. Eine bedeutende Rolle kommt hier der Konstruktionen des „Weißseins“ und der „Vererbung von Intelligenz“ zu (vgl. ebd.: 37f.).
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(De-)Naturalisierungen: Benennungen der Natur und des Sozialen „Die Benennung der Natur ist die spezielle Aufgabe der Wissenschaft. Theorien, Modelle und Deskriptionen sind solche ausgearbeiteten Benennungen. In diesem Akt der Benennung konstruiert der Wissenschaftler die Natur“ (Fox Keller 1985: 23).
Evelyn Fox Keller (1985) bezeichnet die Natur als eine Konstruktion, welche aus dem Wechselverhältnis von wissenschaftlicher Tätigkeit und sozial bedingten Normen, Zielvorstellungen und Vorannahmen entstanden sei. Im Folgenden soll dem Akt der Benennung der Natur bezüglich der Analyse der Prozesse der Naturalisierung als einem Mittel der Normalisierung nachgegangen werden. Nach Charis Thompson (1995) meint Naturalisierung „the rendering of states of affairs and facts in a scientific or biological idiom and to the means by which aspects of the site are rendered unproblematic or self-evident in the sense of seeming ,natural‘” (Thompson 1995: 81). Das, was als „normal“ Bestand hat, wird durch das, was als „natürlich“ ausgemacht wird, gestützt. Genauso kennzeichnet das, was als „natürlich“ benannt wird, das was als „normal“ anerkannt wird. Willemijn de Jong (2009) führt „naturalisation“ zusammen mit „socialisation“ als normalisierende Praktiken an, die miteinander verwoben sind und in Wechselwirkung stehen (ebd.: 30ff.). Solche Praktiken der Benennung der Natur und des Sozialen sollen im Weiteren als ein Aspekt der Legitimierung durch Normalisierung identifiziert werden. Hier zeigen sich die Naturalisierung von Kinderwunsches, Schwangerschaft und Geburt und die Hervorhebung ihrer sozialen Aspekte sowie die Normalisierung der Samenspende als ein schon immer dagewesener sozialer Vorgang, neben einer naturalisierenden Deutung dieser.
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Naturalisierung des Kinderwunsches und der Schwangerschaft/Geburt und die Hervorhebung ihrer sozialen Aspekte Ein relevanter Aspekt, der die Samenspende als eine reproduktionsmedizinische Maßnahme begründet, ist der „Kinderwunsch“. Dabei wird der Wunsch nach einem gemeinsamen Kind als ein normales und damit natürliches und nicht weiter hinterfragbares Bedürfnis eines Paares gesetzt. Verwiesen werden kann hier auf die schon dargestellte, dem Diskurs inhärente Vorstellung, dass heterosexuelle Partnerschaften erst durch ein zu einer Familie komplettiert werden und Partnerschaften ohne Kind/er als defizitär und unvollständig erscheinen. „Kinderwunsch ist ein natürliches Bedürfnis der meisten jungen Ehepaare“ (RM 2001, Volume 17, Nr. 4: 214).
Die Naturalisierung des Kinderwunsches als ein natürliches Bedürfnis legitimiert seine medizinische unterstütze Erfüllung. Als ein Vorzug der Spendersamenbehandlung wird darauf verwiesen, dass „das Paar eine normale Schwangerschaft erlebt“ (RM 2003, Volume 19, Nr. 3: 147). Dabei erscheint das Erleben einer „normalen Schwangerschaft“ sowohl als ein natürliches als auch soziales Erlebnis. Naturalisierende und soziale Aspekte von Schwangerschaft und Geburt stehen hierbei nebeneinander bzw. sind miteinander verknüpft. „Nach einer DI macht die Schwangere die gleichen Freuden und Sorgen wie bei ei ner gewollt natürlichen Befruchtung durch“ (RM 2001, Volume 17, Nr. 4: 217).
Der biologische bzw. der Natur zugeschriebene Vorgang der Zeugung rückt dabei eher in den Hintergrund. So findet auch der Samenspender hierbei wenig Erwähnung bzw. ist das Substitut für das Beschreiben des „Elternwerdens“ nicht von Relevanz. Stattdessen wird hervorgehoben, dass nicht nur das Ehepaar, sondern auch die „soziale Umwelt“ die Schwangerschaft erlebt. „Das Ehepaar und die soziale Umwelt erleben die Schwangerschaft“ (RM 2001, Volume 17, Nr. 4: 217).
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Das gemeinsame soziale Erleben der Schwangerschaft erscheint sowohl für die werdende Mutter als auch für den werdenden Vater von enormer Bedeutung. Durch das Erlebnis einer Schwangerschaft kann die Zuordnung der Mutterschaft durch eine biologische begründete und als natürlich gesetzte Verbindung erfolgen. Die Vaterschaft kann über die Sichtbarkeit der Schwangerschaft der Ehefrau begründet und sozial anerkannt werden. So wird im obigen Zitat das Erleben der „sozialen Umwelt“ mit einbezogen, welches auch eine soziale Anerkennung der werdenden Elternschaft und insbesondere der Vaterschaft bedeutet. „Das Kind nach einer DI gilt für jederman [sic!] als ein wirklich eigenes Kind, denn es wurde von der Ehefrau geboren [...]“ (RM 2001, Volume 17, Nr. 4: 217).
Durch die Sichtbarkeit der Schwangerschaft und durch die Geburt des Kindes in der Ehe wird der Ehemann als Vater des Kindes anerkannt. Das gilt nicht nur für die soziale Umgebung, sondern bei der Geburt eines Kindes innerhalb der Ehe auch für das deutsche Recht, nachdem der Vater eines Kindes der Mann ist, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter verheiratet ist.99 Präsent ist in dem untersuchten Material auch der Vergleich einer Spendersamenbehandlung mit der Möglichkeit zur Adoption eines Kindes. Im diesem Vergleich erscheint die Samenspende als weniger abweichende Begründung von Elternschaft. Die Adoption dagegen wird bestimmt durch ei fehlen: das Fehlen des Erlebens von Schwangerschaft und Geburt, das Fehlen einer genetischen Verbindung bzw. das Fehlen von Ähnlichkeit. Demgegenüber wird konstatiert, dass das Kind nach einer Spendersamenbehandlung „wenigstens zur Hälfte aus der Ehe“ stamme und Ähnlichkeiten zu erwarten seien: „Phänotypische Ähnlichkeiten sind wenigstens mit der Mutter zu erwarten. Die mütterlichen Gene sind ja bekannt und die väterlichen Gene haben eine geprüfte Herkunft“ (RM 2001, Volume 17, Nr. 4: 217).
Die im obigen Zitat angeführten „bekannten“ und „geprüften“ Gene verknüpfen die Spendersamenbehandlung mit einer Art Sicherheitsversprechen und lassen die Adoption demgegenüber unsicherer und willkürlicher 99 Siehe Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) § 1592 Vaterschaft. Abrufbar unter: http://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__1592.html [27.04.2018].
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erscheinen. Letztlich entwirft das Material in der Gegenüberstellung der reproduktionsmedizinischen Praktik der Spendersamenbehandlung mit der sozialen Praktik der Adoption ein mangelhaftes Bild dieser. 100 Die Adoption wird als die defizitärere Form der Begründung von Elternschaft gesetzt, denn sie läuft dem naturalisierten Verständnis von Elternschaft als biologisch und genetisch bestimmt zuwider. Die Spendersamenbehandlung kann als reproduktionsmedizinische Hilfestellung auf dem Weg zur „natürlichen“ und „normalen“ Schwangerschaft und Geburt hin zur Elternschaft erscheinen. Zudem ermöglicht sie das soziale Erleben von Schwangerschaft und Geburt für das (Ehe-)Paar und die soziale Umwelt. Die Begründungen von Elternschaft über naturalisierende und soziale Aspekte erscheinen insofern unterschiedlich, als Mutterschaft eher über Natur und natürliches Erleben von Schwangerschaft und Geburt begründet wird und Vaterschaft durch soziales Erleben und soziale Anerkennung. Naturalisierung der Samenspende und ihre Normalisierung als ein immer schon dagewesener sozialer Vorgang Daneben finden sich Aussagen, die betonen, dass die Aufspaltung der Vaterschaft in einen sozialen und genetischen Vater, wie sie durch die Samenspende geschieht, schon immer gesellschaftlich vorgekommen ist. So würden ganz ähnliche Umstände vorliegen, „als wenn eine bereits von einem anderen Mann schwangere Frau heiratet und das Kind dann nach der Geburt als ehelich angemeldet wurde. Solche Fälle gibt es seit Jahrhunderten millionenfach“ (FDF 1980, Band 8: 264). Hierbei erscheinen Vergleiche und Analogien mit anderen Vorkommnissen in der Gesellschaft und sozialen Praktiken von Relevanz und haben eine legitimierende Funktion. Der Samenspende wird damit das Tabu von Untreue und des Ehebruchs angehaftet (vgl. Strathern 1992a: 40f.). Ein Vergleich, der sich aus den heteronormativen Vorstellungen von Ehe, Monogamie, Exklusivität und heterosexueller Fortpflanzung speist. Die Samenzellen bzw. das Sperma selbst gelten in diesem Zusammenhang als eine unkontrolliert zirkulierende Substanz. Mit Rekurs auf derlei „ähnliche Umstände“ (FDF 1980, Band 8: 264) wird die genetische Vaterschaft als immer schon unsicher gekennzeichnet.101 Wenn Vaterschaft im Kontext der Spendersamenbehandlung in einen genetischen und einen sozialen Teil auf100 Zu Forschungen zu Adoption und Konstruktion von Verwandtschaft siehe u. a. Judith Schachter Modell (1994) aus anthropologischer Perspektive.
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gespalten wird, so kann dies als Imitation eines sich „seit Jahrhunderten millionenfach“ ereignenden gesellschaftlichen Vorgangs verständlich gemacht werden. „Wenn in Dänemark durch zufällige, also nicht gerichtlich veranlasste Blutproben 5–8% der Väter als biologische Erzeuger ausgeschlossen wurden, [...] haben wir überhaupt keine Veranlassung zu glauben, in Deutschland sei das ja alles ganz an ders“ (RM 2001, Volume 17, Nr. 5: 274).
Die Spendersamenbehandlung wird mit dieser Argumentation als eine Spielart bestehender sozialer Ordnung der Gesellschaft veranschaulicht. Mit Thompson (2005) ist die Darstellung des Neuen als eine Variante des Alten ein Weg zur Normalisierung: „A successful way to make new things seem normal is to interpret them as a new example of old things (ebd.: 141). In diesem Sinne wird die Samenspende durch den Vergleich mit anderen immer schon vorkommenden sozialen Vorgängen normalisiert. Neben der in Kapitel 6.1 dargestellten Legitimierung durch Problematisierung finden sich im untersuchten Diskurs Naturalisierungen der reproduktionsmedizinischen Behandlung mit Spendersamen, wenn diese als „Behebung eines unverschuldeten biologischen Defizits“ beschrieben wird (FDF 1986, Band 13: 251) und somit als bloße Korrektur eines fehlerhaften Zustandes der Natur. Ähnlich wie von Franklin (1999) die IVF als „helfende Hand“ der Natur beschrieben wurde, wird hier die Spendersamenbehandlung mit Vorstellungen des Natürlichen beschrieben und als behebende Hand der Defizite der Natur ausgewiesen. Dies geschieht auch, wenn die Behandlung lediglich als eine „Übertragung biogenetischen Informations-
101 Das lateinische Rechtssprichwort „Mater semper certa est, pater semper incertus est“ (die Mutter ist immer sicher, der Vater ist immer unsicher) stellt eine ehemals gesellschaftliche Selbstverständlichkeit dar. Mit den heutigen Techniken der assistierten Reproduktionsmedizin ist jedoch auch die Eindeutigkeit der Mutterschaft nicht mehr selbstverständlich gegeben. Als Reaktion auf Uneindeutigkeiten der rechtlichen Begründung von Mutterschaft wurde 1997 im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) der § 1591: „Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat“ hinzugefügt (https://www.gesetzeim-internet.de/bgb/__1591.html [27.04.2018]). Der Unsicherheit der genetischen Vaterschaft kann durch einen sogenannten Vaterschaftstest, einer Analyse der DNA der Beteiligten, begegnet werden.
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gut“ gedeutet wird (FDF 1980, Band 8: 272). Hier zeigt sich ein Verständnis von Spendersamen als reproduktivem Material und eine naturalisierte Konzeption der Behandlung mit Spendersamen. Der Entschluss zur Vaterschaft und die Aufwertung des Sozialen Die Aufteilung und Fragmentierung von Vaterschaft in genetische und soziale Vaterschaft führt zu einem ebenso fragmentierten Wissen über Vaterschaft. Hierbei erscheinen sich überschneidende und konkurrierende Konzepte zur Begründung von Vaterschaft. Im untersuchten Diskurs finden sich über alle Jahrzehnte hinweg immer wieder Aussagen, dass Zeugung und Vaterschaft getrennt zu betrachten seien und dies insbesondere von den in der Reproduktionsmedizin Tätigen auch so zu vermitteln sei. „Vielmehr wird dem Ehemann der grundsätzliche Unterschied zwischen dem Begriff Vatertum und Erzeugerschaft eröffnet“ (FDF 1980, Band 8: 271).
Hier zeigt sich, dass auf unterschiedliches Wissen zur Begründung von Vaterschaft Bezug genommen wird. Die genetische Komponente der Vaterschaft wird als „Erzeugerschaft“ vom sozialen Anteil der Vaterschaft, benannt als „Vatertum“, abgespalten. So wird betont, dass zu vermitteln sei, dass eine „Vaterfunktion“ nicht an die Zeugung gebunden sei (FDF 1980, Band 8: 272). Der Entschluss zu Spendersamenbehandlung und die Übernahme von Verantwortlichkeiten begründe die Vaterschaft. „Er [der Ehemann] hat fraglos einen inneren Kampf bestehen müssen, aber dann eben den Entschluß zum Kind mit aller daraus folgenden Verantwortlichkeit gefaßt“ (FDF 1980, Band 8: 272).
Vaterschaft wird als ein sozialer und aktiver Prozess des Entschließens, der Entscheidung und der Absicht des Vaterwerdens konzipiert. Dabei muss die Sichtweise über den Konnex von Männlichkeit, Erzeugerschaft und Vaterschaft modifiziert werden. Die als biologisch, genetisch bezeichnete Erzeugerschaft als Begründung von Vaterschaft wird relativiert. Hierbei kann an das schon existente Wissen über die Unsicherheit von Vaterschaft („pater incertus est“) angeknüpft werden. Soziale Aspekte der Vaterschaft erfahren hingegen eine deutliche Hervorhebung, indem der Entschluss zur sozialen Vaterschaft und der Entschluss zur Übernahme von Verantwortung
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hervorgehoben werden. Sabine Hess (2007) folgend kann dieser „Planungswille zum Kind“ in einen größeren gesellschaftlichen Begründungszusammenhang gestellt werden. So seien Planungs-Rationalität und GestaltungsWille zentrale Leitbegriffe der spätmodernen Arbeits- und Lebenswelt (ebd.: 121). Das folgende Zitat zeigt eindrücklich, wie das Entscheiden für und Planen eines Kindes als positiv hervorgehoben und dabei einer zufälligen Zeugung gegenübergestellt wird: „Kinder, die schon jahrelang sehnsüchtig erwartet wurden, werden mit größerer Geborgenheit und Liebe erzogen, als manches Kind, das seine Zeugung einem Liebestaumel, Alkoholrausch, sexueller Gewalt oder einfach einem ,Verkehrsunfall‘ verdankt“ (F 1994, Band 10: 115).
Dieser Vergleich stellt die Entscheidung und Planung für ein Kind mithilfe einer reproduktionsmedizinischen Behandlung gepaart mit Gefühlen der Sehnsucht nach diesem Kind gegenüber der zufälligen Entstehung eines Kind dar. So können eine medizinisch geplante Maßnahme oder ein zufälliges Ereignis je zu einem Kind führen, wobei als nicht geplante zufällige Ereignisse hier „Verkehrsunfall“, „Liebestaumel“, „Alkoholrausch“ und „sexuelle Gewalt“ in einer Reihe nicht weiter differenziert aufgeführt werden. Der sozialen Entscheidung zur reproduktionsmedizinischen Behandlung und dem damit einhergehenden sehnsüchtigen Warten auf das Kind wird dabei ein größerer Wert für das Aufwachsen des Kindes zugesprochen als der biologischen Verbindung, welcher durch einen ungeplanten „Verkehrsunfall“ entsteht. Die Reproduktion selber erscheint als ein zu planendes Vorhaben für die Begründung von Elternschaft. Neben der Benennung und Aufwertung des Sozialen wird zugleich die genetische, biologisch begründete Bedeutungen von Elternschaft und insbesondere der Vaterschaft für das Wohl des Aufwachsens eines Kindes relativiert. Hervorgehoben wird, dass die Entwicklung des Kindes von der Beziehung zu den sozialen Eltern abhängt, „nicht aber von biologischen Gemeinsamkeiten“ (JRE 2008, Jg. 5, Nr. 1: 20). „Genetische Dispositionen existieren, aber Bindungen zwischen Menschen, ob genetisch unterlegt oder nicht, sind stets die Folge sozialer Prozesse, [...]“ (JRE 2008, Jg. 5, Nr. 1: 19).
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Der Einfluss, den genetische Dispositionen auf Bindungen zwischen Eltern und Kind zu entfalten vermögen, wird hier gegenüber sozialen Prozessen deutlich weniger Bedeutung zugemessen. Caroline Arni (2008a) stellt dar, wie im reproduktionsmedizinischen und literarischen Experiment Vaterschaft nicht mehr durch den Akt, sondern durch Substanz begründet wird. Sie wirft die Frage auf, „inwiefern diese Experimente eine neue Konzeption von Prokreation voraussetzen, die vom menschlichen Tun abstrahiert und Prokreation auf den Vorgang der Keimzellverschmelzung reduziert. Diese ,biologisierte‘ Konzeption erzeugte indes Irritationen hinsichtlich der Bestimmung von ,natürlicher‘ Vaterschaft sowie hinsichtlich der Bedeutung des prokreativen Aktes“ (ebd.: 197). Im Fall der Spendersamenbehandlung als reproduktionsmedizinisches Experiment wird Vaterschaft weder aus einem Akt noch aus der Substanz allein begründet. Die Charakterisierung und Kennzeichnung von Vaterschaft als natürlich erscheint klar von Relevanz, jedoch gilt diese als nicht allein durch Biologie bzw. Genetik zu erklären. So wird im reproduktionsmedizinischen Diskurs paradox anmutend hervorgehoben: „Die biologische Komponente reicht nicht aus, um eine ,natürliche‘ Vaterschaft festzuschreiben“ (F 1986, Band 2: 161).
Arni (2008b) formuliert ein Paradox, welches sich gegenwärtig an der Schnittstelle von „Reproduktion“ und „Genealogie“ entfalte. Einerseits wird im Zuge einer allgemeinen Genetisierung angenommen, dass prokreative Substanzen wie Sperma mit Bezug auf ihren genetischen Gehalt zunehmend als genealogische Substanzen bedeutsam werden. „Andererseits aber und in eklatanter Gleichzeitigkeit erfährt die prokreative Substanz als solcherart genealogische Verhältnisse und Zugehörigkeiten begründender Sachverhalt in der Fortpflanzungsmedizin eine Abwertung beziehungsweise Neutralisierung: In der Samen- und Eispende wird via Kontrakt gerade die genetische Begründung von Eltern- und Verwandtschaftsverhältnissen außer Kraft gesetzt, die jenseits des reproduktionsmedizinischen Kontextes zunehmend relevant gemacht wird“ (ebd.: 294).
Diese paradoxe und dabei durchaus dynamische Konstellation lässt sich am untersuchten Diskurs nachvollziehen, die genetische Zugehörigkeit und der Samen als Substanz der Spendersamenbehandlung erfahren in der Repro-
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duktionsmedizin eine Relativierung ihrer Bedeutung. Gleichzeitig können sowohl Aufwertungen als auch Abwertungen naturalisierender Begründungen von Elternschaft zur Normalisierung und Legitimierung der Spendersamenbehandlung festgestellt werden. Für die Begründung von sozialen Beziehungen wie Elternschaft werden je nach Kontext Benennungen der Natur, des Natürlichen, der Biologie und auch der Genetik ebenso eingesetzt wie Benennungen des Sozialen. Dabei erscheint insbesondere Vaterschaft, die immer schon als unsicher gilt, nicht nur in sozialer Hinsicht gestaltbar und variabel, sondern auch die „natürliche Vaterschaft“. Folglich reicht die biologische Komponente „nicht aus, um eine ,natürliche‘ Vaterschaft“ festzuschreiben“ (F 1986, Band 2: 161). Diese variablen Begründungen und Ambivalenzen sind für die Normalisierung und Legitimierung der Samenspende im reproduktionsmedizinischen Diskurs grundlegend. Die Produktion von Ein- und Ausschlüssen und variable Begründungen von Elternschaft „Indeed, the dividing line between what is natural and what is not is constantly moving“ (Thompson 2005: 140).
Für den untersuchten Diskurs ist die Legitimierungsweise der Normalisierung der Spendersamenbehandlung von herausragendem Belang. Mit der Nachzeichnung der Bedeutungen von statistischen Begründungsmustern, von Routinisierungen und von Ein- und Ausschlüssen produzierenden Regulierungen des Zugangs wurden die verschiedenen Prozesse dieser Legitimierungsweise offengelegt. Neben den naturalisierenden Begründungen von Elternschaft und insbesondere Vaterschaft haben ebenso Argumentationen Eingang gefunden, die eine Aufwertung des Sozialen, von sozialen Entscheidungen, aber auch von sozialen Bindungen und Beziehungen generell betonen und dabei genetische, biologische Begründungen für Elternschaft und für das Wohl des Aufwachsen eines Kindes relativieren. So wird etwa der Entschluss zur reproduktionsmedizinischen Behandlung und damit der Entschluss zur Vaterschaft mit der Betonung der sozialen Dimension aufgewertet. Gleichzeitig werden aber auch naturalisierende Argumente zur Begründung von Elternschaft durch die Spendersamenbehandlung herangeführt, wie die Naturalisierung von Kinderwunsch, Schwangerschaft und Geburt. Durch Naturali-
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sierungen ebenso wie durch Denaturalisierungen und die Benennung des Sozialen sowie das Hervorheben von Sozialität werden Vorstellungen und Wissen über soziale Beziehungen mit erzeugt. Dabei sind gerade die mit den Begründungen von Elternschaft einhergehenden Benennungen von „Natur“ und „Natürlichkeit“ und des „Sozialen“ höchst variabel und ambivalent.102 Das entspricht auch der Analyse von Thompson (2005): in den von ihr untersuchten reproduktionsmedizinischen Kliniken ist ein wesentliches Merkmal, dass eine eindeutige und stabile Unterscheidung zwischen dem, was als natürlich und dem, was als kulturell gilt, fehlt – stattdessen ist ein variables Verständnis dessen gegeben (ebd: 140f.).103 Auch wenn die Unterscheidungen der Benennungen von Natur und von Sozialem variabel erscheinen, so sind die Benennungen für Normalisierungen der reproduktionsmedizinischen Behandlung keineswegs beliebig oder bedeutungslos. Denn ihre je spezifische Verwendung ist von großer Relevanz, um die Methode zu legitimieren. Zudem handelt es sich um wirkmächtige Unterscheidungen, die nicht nur Normalität bzw. das Normale benennen, sondern auch Begrenzungen dessen bis hin zur Markierung des Abweichenden, welches auszuschließen ist. Es konnte dargestellt werden, wie die Regularien des Zugangs zur Spendersamenbehandlung im untersuchten Diskurs eine Beeinträchtigung der sozialen, als natürlich gesetzten und heteronormativ formierten Ordnung der Elternschaft zu vermeiden suchen und stattdessen an ihrer fortwährenden Herstellung mitwirken. Als „legitimer Patient“ wird das monogame, heterosexuell aktive, (psychisch) gesunde und in stabiler Partnerschaft zusammenlebende Paar mit natürlichem Wunsch nach einem gemeinsamen Kind als Selbstverständlichkeit gesetzt. Mit dieser Norm werden Abweichungen produziert. So wird etwa das Fehlen eines Vaters bzw. seine Abwesenheit als abweichend und grundsätzlich defizitär gesetzt. Ein gewisses Maß von Abweichung wird jedoch im zeitlichen Verlauf der diskursiven Auseinandersetzungen um die Methode zunehmend zugestanden. Auch wenn es in den Regulierungen der Spendersamenbehandlung durchaus zu einer Öffnung des Zugangs kommt, ist die vorherrschende Idee eines Ideals von Elternschaft durchgängig gegeben. Davon abweichende Konfigurationen von nicht heterosexuell, nicht 102 Zur „nature-nurture-Debatte“ in der Geschlechterforschung siehe u. a. Anne Fausto Sterling (2003), Evelyn Fox-Keller (2010) und Kerstin Palm (2011). 103 Thompson (2005) bezeichnet mit dem Begriff „ontological choreography“ die dynamischen Koordinationen „of the technical, scientific, kinship, gender, emotional, legal, political and financial aspects of ART clinics“ (ebd.: 8).
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monogam, nicht (psychisch) gesunden und nicht zweigeschlechtlich lebenden möglichen Eltern werden an eben diesem Ideal gemessen, problematisiert und zumindest potentiell als das Kindeswohl gefährdend verhandelt bzw. auch ausgeschlossen.
LEGITIMIERUNG DURCH ORIENTIERUNG AN ERGEBNISSEN Was erscheint nun letztendlich als das Ergebnis der reproduktionsmedizinischen Behandlung mit Spendersamen? Im untersuchten reproduktionsmedizinischen Diskurs ist Legitimierung durch Orientierung an Ergebnissen, das Darstellen von Fakten und Erfolgen der Spendersamenbehandlung von großem Interesse. Soziale Praktiken werden nach van Leeuwen (2007) durch Prozesse der Rationalisierung mit Bezug auf die Ziele, auf den Nutzen, auf die Mittel und auf die Ergebnisse legitimiert.104 „Rationalization, that is, legitimation by reference to the goals and uses of institutio nalized social action, and to the knowledge society has constructed to endow them with cognitive validity” (van Leeuwen 2007: 92).
Weiter kann davon ausgegangen werden, dass das, was als rational, nützlich und als nachvollziehbares Ergebnis eines Vorgangs gilt, Resultat sozialer Übereinkunft ist. Das Wissen um die Wahl und die Darstellung von Ergebnissen muss dabei mit vorherrschenden, sozial legitimierten Vorstellungen ihrer Nützlichkeit einhergehen. Im Folgenden wird die Legitimierungsweise der Ergebnisorientierung, das Herstellen von Faktizität und das Darstellung von Erfolgen der reproduktionsmedizinischen Behandlung mit Spendersamen herausgestellt.
104 Theo van Leeuwen (2007) entwickelt sein Konzept der Legitimierung durch Rationalisierung in Auseinandersetzung mit den Konzeptionen von Max Weber (1964) und Jürgen Habermas (1976). Angemerkt wird, dass sich Rationalisierung in gesellschaftlichen Bereichen wie der Wirtschaft finden, die auf Effi zienz und Steuerbarkeit ausgerichtet sind. Diese Ausrichtung findet sich auch in Bereichen der Wissenschaft wie auch in der Medizin.
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Herstellung von Faktizität Darstellungen zum Verfahren der Samenspende in Fachartikeln sind in den 1980er Jahren stark davon geprägt, die Erfahrungen der praktizierenden Mediziner_innen mit dieser Methode aufzuzeigen. Somit wird die Durchführung der Samenspende als eine gegebene Behandlungspraxis erfasst. Kenntnisse mit dieser Methode in der Praxis sowie erste Ergebnisse werden weitergegeben, wie die folgenden Titel von Fachartikeln verdeutlichen: „Erfahrungen mit der heterologen Insemination in einer gynäkologischen Praxis 1974–1983“ (FDF 1984, Band 12: 210–217). „Heterologe (Donogene) Insemination. Indikationen und Ergebnisse (FDF 1984, Band 12: 205–209). „Heterologe Insemination in unserer Klinik“ (FDF 1986, Band 13: 329–331).
Im reproduktionsmedizinischen Diskurs dominieren in dieser Zeit eher persönliche Erfahrungsberichte zur Anwendung der Spendersamenbehandlung, die die individuellen Beobachtungen und Fertigkeiten der Medizinier_innen wiedergegeben und die erste einschlägige Erfolge besprechen. Hier erweitern sich Sagbarkeitsfelder alleine durch das fachöffentliche Berichten über diese Behandlung. So kann die Behandlungsmethode sukzessive an das schon vorhandene Methodenrepertoire der im Entstehen begriffenen Reproduktionsmedizin angefügt werden und erreicht so einen gewissen Grad an Selbstverständlichkeit. Neben Erfahrungsberichten zur Durchführung der Behandlung mit Spendersamen werden auch Erfahrungen mit der Substanz des Spermas, hauptsächlich mit dem Aufbewahren dieser Substanz, der sogenannten „Kryokonservierung“ besprochen: „Erfahrungen mit der Kryokonservierung in der Kryobank“ (FDF 1984, Band 12: 609–613). „Neue Erfahrungen mit der heterologen Insemination – ein Vergleich von Nativund Kryosperma“ (FDF 1988, Band 16: 211–217). „Sperma-Deponierung in zentraler Kryo-Sperma-Bank/Fünfjährige Erfahrungen des Humansperma-Rings“ (FDF 1990, Band 18: 295).
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Die unter diesen Titeln verfassten Beiträge setzen voraus, dass die Spendersamenbehandlung in den reproduktionsmedizinischen Fachkreisen als eine offiziell praktizierte Methode darstellbar ist und dokumentiert werden kann. Durch das Aufzeigen derartiger Erfahrungen und daraus resultierender Ergebnisse kann Faktizität hervorgebracht werden. Die Samenspende wird als eine wissenschaftlich fundierte, medizinische Behandlungsmethode im fachwissenschaftlichen reproduktionsmedizinischen Diskurs begründet und legitimiert. Darüber hinaus wird darauf verwiesen und offen dargestellt, dass die Methode schon seit Jahren mit Erfolg praktiziert wird. Herausgestellt werden beispielsweise „zwölfjährige Erfahrungen mit der heterologen Insemination“ (FDF 1980, Band 8) oder an anderer Stelle, dass die Methode schon seit 15 Jahren „sehr erfolgreich durchgeführt wird“ (FDF 1986, Band 13: 329). Dass sich Sagbarkeiten und Sichtbarkeiten der Durchführung der Samenspende in der medizinischen Praxis verändern, wird in dem folgenden Zitat deutlich: „Wir führen die heterologe Insemination schon seit über 15 Jahren durch, also zu einer Zeit, als sie noch vom Deutschen Ärztetag als für den Arzt standeswidrig bezeichnet wurde“ (FDF 1984, Band 12: 218).
Das Berichten über langjährige Erfahrungen mit der Durchführung der Samenspende ist also im medizinischen Fachdiskurs explizit gegeben. Wie schon im Kapitel 2 „Kontroverse Reproduktion“ expliziert, galt die Samenspende in Deutschland generell und auch innerhalb der Medizin selbst lange als sitten- und standeswidrig. Erst 1986 erklärte der Deutsche Juristentag diese offiziell als nicht sitten- und nicht rechtswidrig. Dennoch kann bereits in 1980er Jahren über langjährige Erfahrung mit der Spendersamenbehandlung im Zusammenhang mit Erfolgen berichtet und dies veröffentlicht werden. Auch finden sich verschiedentlich Erwähnungen von Ärzt_innen, die die Spendersamenbehandlung in ihrer Praxis durchgeführt haben. Diese werden als „Pioniere“ bezeichnet, „während dieser Zeit, in der hierfür Berufsverbot drohte“ (JRE 2008, Jg. 5, Nr. 1: 17). „Trotz Strafandrohung des Deutschen Ärztetages hatte es offensichtlich Ärzte gegeben, die die Behandlung durchführten: besonders sei hier das Institut von Dr. Ger hard Schaad in Bad Pyrmont genannt. Diese Klinik war in den 1960er- und den frühen 1970er-Jahren die Anlaufstelle für Paare mit androgen bedingter Sterilität“ (JRE 2008, Jg. 5, Nr. 1: 17).
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Die Spendersamenbehandlung wird als eine Art von Erfolgsgeschichte präsentiert, in der es trotz aller Widrigkeiten bzw. gerade ihretwegen letztendlich „Pioniere“ gegeben hat, durch deren Einsatz Erfolge zu verzeichnen sind und langjährige Erfahrungen weitergegeben werden können. Wiederholt wird in allen drei untersuchten Jahrzehnten das kontroverse Potential der Samenspende herausgestellt. Angemerkt wird jedoch gleichzeitig eine Zunahme der Anwendung dieser Behandlungsmethode auf internationaler Ebene trotz der zahlreichen Diskussionen. Somit wird die Samenspende als eine reproduktionsmedizinische Tatsache präsentiert, die sowohl im nationalen als auch internationalen Kontext Anwendung erfährt. Zudem wird durch die Betonung der Effektivität der Methode die Samenspende legitimiert. „Die donogene Insemination gilt international seit Jahrzehnten als eine effektive Methode zur Behandlung der Sterilität der Ehe“ (RM 2001, Volume 17, Nr. 5: 271).
Die Effektivität der Spendersamenbehandlung wird durchgängig herausgestellt und beschrieben als „Routineeingriff, dem auch in der Bundesrepublik bereits hunderte von Kindern ihre Existenz verdanken“ (F 1985, Band 1: 45). „Heute leben in Deutschland mehr als 60.000–70.000 Kinder, die ihr Leben der Befruchtung mit Spendersamen verdanken“ (RM 2000, Volume 16, Nr. 4: 249). „Seit 1970 sind in der Bundesrepublik Deutschland schätzungsweise mehr als 100.000 Kinder nach Behandlung mit Spendersamen geboren worden“ (JRE 2008, Jg. 5, Nr. 1: 18).
Dabei wird nicht nur die Spendersamenbehandlung als eine Faktizität der reproduktionsmedizinischen Praxis eingeführt, auch die durch sie geborenen Kinder stellen allein durch ihre Existenz einen faktischen Beleg des Erfolgs der Methode dar. Die Bestimmung der Anzahl der Kinder bestätigt die Etablierung der Spendersamenbehandlung als „Routineeingriff“ der Reproduktionsmedizin. Als Ergebnis werden „guten Erfolgsraten“ (FDF 1984, Band 12: 216) angeführt, neben der Anzahl der entstandenen Kindern wird über die hohen Schwangerschaftsraten sowie die Zahl der Geburten nach der Behandlung berichtet. Zudem werden auch soziale Verbindungen zwischen den die Samenspende durchführenden Mediziner_innen und den Pa-
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tientenpaaren als Beleg für Akzeptanz und Erfolg herangezogen, wenn etwa berichtet wird: „Unser Miterleben der Leiden, unsere Anteilnahme an den Schwierigkeiten der Pati enten sind auf diesem medizinischen Gebiet von ausschlaggebender Bedeutung. […] Diese Verbindung zu unseren Patienten ebenso wie der Anruf, daß es zu einer Kon zeption gekommen ist, stellt sich für uns ein ,Erfolgserlebnis‘ dar“ (FDF 1980, Band 8: 272).
In diesem Rahmen taucht häufig der Topos der Dankbarkeit auf. Über konkrete Erfolgsraten hinausgehend wird Dankbarkeit als positives Gefühl, das Patientenpaare den behandelnden Mediziner_innen gegenüber haben, herausgestellt: „Einen Ausdruck findet dieser Aspekt auch darin, dass viele Patientinnen in Dankbarkeit zu den Geburtstagen der in der Sterilitätstherapie entstandenen Kinder dem Team die Farbbilder übersenden, die dieses wiederum als Trophäe in der Erfolgsgalerie an der Pin-Wand des Wartezimmers festhält“ (RM 2000, Volume 16, Nr. 6: 402f.).
Das Glück der Familie Die auf Ergebnisse ausgerichtete Legitimierungsvarianten reproduktionsmedizinischer Behandlung sind also nicht nur durch eine Orientierung an Zahlen – ausgedrückt in Schwangerschaftsraten, Geburten und entstandenen Kindern gekennzeichnet. Vielmehr finden sich in den untersuchten Jahrzehnten darüber hinaus Explikationen von Gefühlen der „Dankbarkeit“ und in zunehmendem Maße ein deutlich herausgestellter Bezug auf das „Glück der Familie“ als Ergebnis der Spendersamensamenbehandlung. Dieses „Glück der Familie“ wird den gesellschaftlichen und medizinischen Auseinandersetzungen häufig gegenübergestellt: „Trotz aller Verketzerungen [...] hat sich die donogene Insemination in den letzten 25 Jahren in Deutschland behauptet. Sie hat für viele tausend Ehepaare das ersehnte Wunschkind gebracht und das Glück der Familie stabilisiert“ (F 1995, Band 11: 232).
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„Die DI ist einerseits seit Jahrzehnten ein erfolgreiches Therapieverfahren. Andererseits wird sie häufig diffamiert, [...] und das Familienglück der allermeisten Familien nach DI einfach ignoriert“ (RM 2001, Volume 17, Nr. 4: 214). „Trotz verbreiteter pessimistischer Spekulationen führt auch das mit Spenderspermien gezeugte Wunschkind zum Glück der Familie“ (RM 2001, Volume 17, Nr. 5: 276).
Ausgewiesen werden die kontroversen Auseinandersetzungen um die Spendersamenbehandlung, deren Beiträge hier etwa als „Verketzerungen“ bezeichnet werden. Diesem fortwährenden kontroversen Potential wird das Glück der Familie entgegengestellt. Dieses vage und undefinierte, jedoch häufig zitierte Glück kann seine Wirkung als Bestätigung der in der Reproduktionsmedizin Tätigen entfalten, „das Richtige“ getan zu haben: „Die überschwänglichen freudigen Schreiben der vielen erfolgreich behandelten Ehepaare bestärkten uns in der Gewissheit, das Richtige für das Glück der Familien und für das Wohl des Kindes getan zu haben“ (RM 2001, Volume 17, Nr. 5: 276).
Das medizinisch Machbare wird hierdurch als das Richtige gewertet. In der Gegenüberstellung zu gesellschaftlichen und auch innerhalb der Medizin selbst vorhandenen Vorbehalten gegen die Behandlung mit Spendersamen kann diese als eine Erfolg versprechende Methode, die Aussicht auf das in der Zukunft liegende Glück der Familie eröffnet, legitimiert werden. Reproduktionsmedizinische Behandlungen werden mit einem Versprechen umgeben105. Der Ausgang bzw. das Ergebnis einer individuellen Behandlung mit Spendersamen ist im Einzelfall immer unbestimmt. So ist es unsicher, ob es durch diese Behandlung zu einer Schwangerschaft und einer darauffolgenden Geburt eines Kindes kommen wird oder die jeweilige Behandlung erfolglos bleibt. Durch die an Ergebnissen orientierte Legitimierung der Spendersamenbehandlung kann dennoch eine Erfolgsgeschichte der Methode geschrieben werden. 105 Wie unter Kapitel 3.2 zu Biomedikalisierung schon dargestellt, sieht Charis Thompson (2005) generell eine Verschiebung von Produktion, Produktivität und Profit zu Wissen sowie Technologien, die das Leben betreffen und Versprechen. In ihrem Konzept des „biomedical mode of reproduction“ wird das akkumlative Kapital im Unternehmen der Biomedizin zu einem „promissory capital“ (ebd.: 258ff.).
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Das Schaffen von Fakten und das Versprechen von Glück Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Darstellung von Ergebnissen der reproduktionsmedizinischen Behandlung mit Spendersamen im untersuchten Diskurs als Legitimierungsweise fortwährend und mit recht hoher Frequenz gegeben ist. Im untersuchten Diskurs lassen sich beständig Darstellungen finden, die die Bedeutung von Ergebnissen der Reproduktionsmedizin bzw. der Spendersamenbehandlung hervorheben. Schon in den 1980er Jahren wird davon berichtet, dass die heterologe Insemination bereits über eine lange Zeit und mit nennenswerten Erfolgen praktiziert wird (FDF 1980, Band 8). Die Darlegung von „guten Erfolgsraten“ (FDF 1984, Band 12: 216) ist im untersuchten Material sehr präsent. Die Behandlung mit Spendersamen wird so als Erfolgsgeschichte sichtbar und die in Deutschland zuerst medizinisch Tätigen werden als „Pioniere“ gezeichnet, die diese Methode trotz aller Widrigkeiten eingeführt haben (JRE 2008, Jg. 5, Nr. 1: 17). Von einer standeswidrigen aber inoffiziell dennoch praktizierten Behandlungsmethode hat sich die Spendersamenbehandlung im fachmedizinischen Diskurs zu einem offiziell benenn- und besprechbaren Verfahren der Reproduktionsmedizin entwickelt. Auf ihre langjährige Faktizität kann nun verwiesen werden. Die diesbezüglichen Ergebnispräsentationen werden zum einen aus belegbaren Zahlen etwa von Schwangerschaften, Geburten und zum anderen durch Erzählungen von Gefühlen der Dankbarkeit dargeboten. Zudem wird vielfach das aus der Spendersamenbehandlung resultierende „Glück der Familie“ hervorgehoben, welches die reproduktionsmedizinische Behandlungsmethode der Samenspende legitimiert. Das Scheitern mit und an dieser Behandlung wird im untersuchten Diskurs kaum thematisiert. Vereinzelt wird darauf verwiesen, dass auch reproduktionsmedizinische Behandlungsmöglichkeiten „ausgeschöpft“ sein können. Auch wenn die Behandlung nicht erfolgreich war, könne dies „eine Bestätigung geben, dass ärztlicherseits alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft wurden. Dann brauchen sich die Partner später auch keine Vorwürfe machen, sie hätten die Chance nicht genutzt“ (RM 17, 2001, Nr. 4: 219). Die reproduktionsmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten erscheinen als Chancen auch auf Glück, die es zu nutzen gilt. Ähnlich beschreibt Sarah Franklin (1997) in ihrer Studie die In-vitro-Fertilisation als „hope technology“. Sie analysiert die Gründe, die Frauen dazu bewegen, sich für eine Behandlung zu entscheiden und stellt heraus, dass Hoffnung auf Erfolg jede der Phasen der Behandlung prägt. Mit der IVF einher gehen dabei
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neue Wahlmöglichkeiten, allerdings entstehe auch ein Gefühl des Drucks, diese Technologien auch in Anspruch nehmen zu müssen (ebd.: 168ff.). Das Ausschöpfen von Behandlungsmöglichkeiten und damit die Nutzung von Chancen auf ein Kind sowie auf „Glück der Familie“ soll gegen mögliche spätere „Vorwürfe“ der Partner helfen. Mit der Bestätigung, alle Behandlungsmöglichkeiten genutzt zu haben, wird auch eine erfolglose Behandlung letztendlich gedeutet als Erfolg.
Legitimierte Reproduktion
Die diskursanalytische Betrachtung von über drei Jahrzehnten (1978–2010) kontrovers geführter Diskussionen und Auseinandersetzungen innerhalb des reproduktionsmedizinischen Diskurses haben die spezifischen Legitimierungsweisen der Spendersamenbehandlung dargelegt. Von übergeordnetem Interesse sind dabei Prozesse der Produktion und Zirkulation von Wissen auf der Ebene des reproduktionsmedizinischen Feldes gewesen. In Anlehnung an die Wissenssoziologische Diskursanalyse (WDA) sind die der Analyse zugrunde liegenden empirischen Daten, wie etwa Artikel reproduktionsmedizinischer Fachzeitschriften und medizinische Richtlinien als „Manifestationen gesellschaftlicher Wissensordnungen“ (Keller 2008: 275) im Hinblick auf die diskursive Produktion, Stabilisierung und Veränderung der hier hervorgebrachten kollektiven Wissensvorräte untersucht worden. Dabei hat sich der reproduktionsmedizinische Diskurs über die Spendersamenbehandlung nicht nur als ein Ort der Auseinandersetzung über Problematisierung und Legitimierung einer spezifischen Behandlungsmethode dargestellt, sondern zudem als Ort, an dem Vorstellungen und Wissen über soziale und natürliche Ordnungen, über Reproduktion, über Geschlecht sowie über Familie und Elternschaft verhandelt, verändert oder auch (re-)stabilisiert werden. Die Entwicklungen und die erfolgreiche Etablierung und Institutionalisierung der Reproduktionsmedizin und ihrer Behandlungsmethoden wie die Samenspende sind als ein komplexer und vielschichtiger Aushandlungsprozess offengelegt worden, mit dem zahlreiche Kontroversen einhergingen. Diese Entwicklungen – so zeigte diese Arbeit – waren stets mit Prozessen der Legitimierung verschränkt. Reproduktionsmedizinische Behandlungen und insbesondere die hier im Fokus stehende Spendersamenbehandlung be-
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dürfen der Legitimation. Angeregt durch die Ausführungen von Theo van Leeuwen (2007) zur empirischen Umsetzung der Untersuchung diskursiver Legitimationen in öffentlichen Diskursen wurden in der empirischen Analyse des reproduktionsmedizinischen Diskurses drei Legitimierungsweisen der Samenspende differenziert und analysiert. Diese sind als idealtypisch zu verstehen und sind keinesfalls trennscharf, vielmehr sind sie zumeist ineinandergreifend. Beschrieben wurden im Einzelnen die Legitimierung durch Problematisierung, die Legitimierung durch Normalisierung und die Legitimierung durch Ergebnisorientierung, welche folgend kurz zusammengefasst werden sollen. Daran anschließend werden die Legitimierungsweisen im untersuchten reproduktionsmedizinischen Diskurs in ihrer Verschränktheit weitergehend diskutiert.
ZUSAMMENFASSUNG DER LEGITIMIERUNGSWEISEN Aus der Perspektive der Legitimierungsweise der Problematisierung ist die Konstitution einer reproduktionsmedizinisch zu lösenden Problematik aufgedeckt worden. Dabei wurde deutlich, für welche durchaus produktiven und dynamischen Problemkonstellationen sich die Reproduktionsmedizin und speziell die Samenspende als legitime Lösungen präsentieren. Zudem konnten im zeitlichen Verlauf des reproduktionsmedizinischen Diskurses Verschiebungen in der jeweiligen Benennung von medizinisch zu lösenden Problemen nachgezeichnet werden: Zunächst begann die in den 1980er Jahren im Entstehen begriffene Reproduktionsmedizin ihre Zuständigkeit für die Lösung von Problemen zu reklamieren, die sie dadurch gleichsam als medizinisch definierte, was als ein Prozess der Medikalisierung bezeichnet werden kann. Die Analyse hat verdeutlicht, dass sich die Legitimierung durch Problematisierung auf die übergeordnete Erzählung eines im Zuständigkeitsbereich der Reproduktionsmedizin liegenden Phänomen-/Problembereiches der „(ungewollten) Kinderlosigkeit“ stützt. Während in den 1980er Jahren zur Begründung reproduktionsmedizinischer Behandlung auf gesellschaftspolitische Interessen der Bevölkerungspolitik Bezug genommen wurde, ist ab den 1990er Jahren der Verweis auf das in der individuel len Sphäre verortete Leiden ungewollt Kinderloser als reproduktionsmedizinisch zu lösender Problematik zur vorherrschenden Referenz geworden. Die nachdrückliche Betonung des Leidens aufgrund ungewollter Kinderlosigkeit durch männliche Sterilität wurde von teilweise dramatisierenden
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Beschreibungen krisenhafter Zustände des (Ehe-)Paares und insbesondere des Mannes begleitet. Dabei wurde die Verwobenheit von gesellschaftlichen Vorstellungen, Wissen und Erwartungen der Reproduktionsanforderung an die Geschlechter und der Legitimierung reproduktionsmedizinischer Behandlungsangebote offenbar. Die Legitimierung durch Normalisierung hat sich als die verbreitetste und grundlegendste Legitimierungsweise im reproduktionsmedizinischen Diskurs der Samenspende dargestellt. Ausgehend von der normalisierungstheoretischen Perspektive von Charis Thompson (2005) konnte dabei beschrieben werden, dass Normalisierungsprozesse als Vorgänge wechselseitiger Beeinflussung zu konzeptualisieren sind. In der Analyse wurden entsprechend verschiedene Prozesse der Legitimierung mit Bezugnahme auf das „Normale“ und auf das „Natürliche“ nachgezeichnet, die auf verschiedenen diskursiven Ebenen operieren und dabei stets einen Weg ebnen, wie sich das „Neue“ der Spendersamenbehandlung in bestehende soziale und natürliche Ordnungen einfügt und diese gleichzeitig immer auch beeinflusst und transformiert. Auch hier konnte dargelegt werden, wie sich Prozesse der Normalisierung und der Naturalisierung aus den gesellschaftlichen Wissensvorräten und Vorstellungen über Reproduktion, Geschlecht und Elternschaft speisen und wie diese gleichzeitig verändert oder auch (re-)stabilisiert werden. Dabei ist deutlich geworden, wie Statistiken und Routinen normalisierende Wirkung entfalten und zur Legitimierung der Samenspende beitragen. Die Genese und Heranziehung statistischer Erhebungen hat als „normative epistemology“ (Thompson 2005) das Behandlungsangebot mit Erfolgswahrscheinlichkeiten verknüpft. Darüber hinaus konnte das legitimierende Potential eindrücklich beschriebener Routinen im Zusammenhang mit der diagnostischen Beurteilung des Spermas offengelegt werden. Prozesse der Normalisierung, die mit den Ein- und Ausschlüsse produzierenden Regulierungen des Zugangs zur Behandlungsmethoden in den entsprechenden medizinischen Richtlinien einhergehen, konnten als zentrale Thematik des Diskurses über die untersuchten Jahrzehnte analysiert werden. Durch diese Regulierungen wird legitime Elternschaft hergestellt und eine (hetero-)normative Geschlechterordnung bestätigt. Bestimmte Formen von Elternschaft werden als die „normalen“ bestimmt, andere als „abweichend“ und „ungeeignet“ problematisiert und ausgeschlossen. In den Auseinandersetzungen über die Regulierungen der Spendersamenbehandlung ist im zeitlichen Verlauf des untersuchten Diskurses eine Tendenz zur Öff-
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nung des Zugangs zu verzeichnen. So finden sich Argumentationslinien, die sich für einen Zugang von gleichgeschlechtlichen Paaren zur Spendersamenbehandlung aussprechen. Jedoch bleibt zu jeder Zeit auch das Ideal von legitimer Elternschaft als eine zweigeschlechtliche Verbindung zweier monogam in stabiler Beziehung lebender, heterosexueller und (psychisch) gesunder (Ehe-)Partner bestehen, an welchem sich davon abweichende Konfigurationen von Elternschaft stets zu messen haben und vor dessen Hintergrund sie als potentielle Gefährdung des Kindeswohls verhandelt werden. Dieses vorherrschende ideale Konzept von Elternschaft erinnert an die in Kapitel 3.3 ausgeführte Theorie von Gayle Rubin (2003) zur Existenz und Funktionsweise sexueller Hierarchie, nach der Individuen durch die Gewährung von Privilegien, Status und Anerkennung in einem gesellschaftlichen Gefüge positioniert werden, eine hierarchisierte und hochdifferenzierte Struktur also, an deren Spitze das heterosexuelle, verheiratete, monogame und sich fortpflanzende Paar steht. Aus dieser Perspektive erscheint Elternschaft als eine natürliche Folge von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität. Und da die Regulierungen hier auf Kategorisierungen ihrer Klientel beruhen, entfalten sie zwingend normalisierende Wirkung. „Statuten, die bestimmen, wer die Nutznießer/innen von Wohlfahrtsleistungen sein werden, bringen die Norm der Wohlfahrtsempfänger/innen aktiv mit hervor. [...] Staatliche Regulierungen des Adoptionsrechts von Lesben, Schwulen und Alleinerziehenden beschränken die Adoption nicht allein. Sie beziehen sich auch auf und bestärken ein Ideal dessen, was Eltern sein sollen, dass sie in Partnerschaft leben soll ten und wer als ein/e rechtsmäßige/r Partner/in zählt“ (Butler 2009a: 96).
Dem lässt sich das Beispiel der Regulierung der Spendersamenbehandlung in der Reproduktionsmedizin hinzufügen – auch hier greifen also die spezifischen Regulierungen normalisierend ein. Gerade in diesem spezifischen deutschen reproduktionsmedizinischen Terrain, in einem staatlichen Feld mit vielen rechtllich unregulierten Grauzonen, operiert die stattfindende Regulierung durch die Medizin über Normen und ist mit Prozessen der Normalisierung verbunden. Die medizinischen Richtlinien bestimmen die Nutznießer_innen der reproduktionsmedizinischen Maßnahmen und bringen die Norm der Empfänger_innen dieser Technologie aktiv mit hervor. Hierbei wird nicht nur die Anwendung der Reproduktionsmedizin beschränkt, sondern auch ein Ideal dessen entworfen und bestärkt, wie und
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was Eltern sein sollen, wie Lebensformen mit Kindern auszusehen haben und was sich als Familie bezeichnen lässt. Als ein weiteres mit Ein- und Ausschlüssen einhergehendes Auswahlverfahren, das ebenfalls mit Prozessen der Normalisierung verbundenen ist, konnten die Auseinandersetzungen zur Auswahl von Samenspendern analysiert werden. Hierbei hat sich die Unterscheidung zwischen „geeigneten“ und „ungeeigneten“ Spendern als wesentlich erwiesen, deren Prämissen nicht nur auf messbaren medizinischen Kriterien wie Spermaparameter beruhen, sondern auch von Vorstellungen sozialer Gegebenheiten und Risikodiskursen durchdrungen sind. Hier konnte nachvollziehbar gemacht werden, dass eine so begründete Auswahl des Samenspenders zum Ausschluss von bestimmten, nicht hegemonialen Männlichkeiten führt. Die Regulierungen der Spendersamenbehandlung stellen dabei mehr als ein bloßes Auswählen dar. Die sowohl für den Zugang zur Samenspende als auch zur Auswahl des Samenspenders generierten Kriterienkataloge erscheinen insgesamt als höchst voraussetzungsreich und machtvoll in ihren Implikationen, welche wiederum von wirkmächtigen Diskursen etwa über Intelligenz, über Gesundheit oder über genetische Risiken gespeist sind und deren Prämissen nahezu unhinterfragt bleiben. „Practices of donor selection are more than recipient interpretations and choices. These are networks of agency and constraint produced through sets of knowledges, including but not limited to genetic knowledges and their technoscientific applications. That is, while technoscience is powerful, it is not determining. Human actions and technoscience are co-constitutive“ (Mamo 2005: 258).
Festzuhalten ist, dass Regulierungen zur Samenspende und ihre diskursive Legitimierung durch die Reproduktionsmedizin auf Wissen über Reproduktion und Geschlecht, über Krankheit und Gesundheit und über Normalität und Abweichung zurückgreifen und dieses zugleich auch (re-)produzieren. Weitere maßgebliche Aspekte der Legitimierung durch Normalisierung sind Bezüge auf die Natur und auf das Soziale. Hier ist zunächst die Naturalisierung des Kinderwunsches als relevanter Aspekt sichtbar geworden, welcher die Spendersamenbehandlung begründet. Der Kinderwunsch eines (Ehe-)Paares als Wunsch nach einem aus ihrer Beziehung entstandenen gemeinsamen Kind wird im untersuchten Diskurs als ein natürliches und somit nicht weiter hinterfragbares Bedürfnis gesetzt. Vor diesem Hintergrund kann die angebotene Methode als eine medizinische „helping hand“ (Franklin 1999) zu seiner Erfüllung legitimiert werden.
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Eine legitimierende Funktion kann auch der diskursiven Verankerungen der Methode in alltagsweltliche Wissensbestände unterstellt werden. Das haben Vergleiche und Analogien der Samenspende mit anderen, ihr vorgängigen, sozialen Vorkommnissen in der Gesellschaft, wie etwa der außerehelichen Zeugung (dem Ehebruch) gezeigt, mit denen die Samenspende als ein immer schon dagewesener sozialer Vorgang normalisiert werden konnte. Vaterschaft kann so als historisch immer schon unsicher erscheinen und die medizinisch assistierte Zeugung auf dem Wege der Samenspende als eine Spielart bestehender sozialer Ordnung der Gesellschaft. Vermehrt konnte in der Analyse eine Relativierung der Bedeutung biologisch-genetischer Erzeugerschaft als Fundament von Vaterschaft beobachtet werden, begleitet von einer gleichzeitigen Betonung des Werts sozialer Aspekte zur Begründung von Elternschaft und speziell Vaterschaft, wie etwa die bewusste Entscheidung zur Vaterschaft und dem Willen zur Übernahme von Verantwortung. Für die Begründung von Elternschaft werden je nach Kontext Benennungen der Natur und des Natürlichen ebenso eingesetzt wie Benennungen des Sozialen und der Sozialität. Im Fall des Erlebens von Schwangerschaft und Geburt nach erfolgter Spendersamenbehandlung standen Referenzen auf die Natur scheinbar widerspruchslos neben solchen auf soziale Aspekte. Auch wurden gleichzeitig Auf- und Abwertungen naturalisierender Begründungen von Vaterschaft zur Normalisierung und Legitimierung der Spendersamenbehandlung festgestellt. Diese variablen und ambivalenten Begründungen von Elternschaft und insbesondere von Vaterschaft zeigten sich für die Normalisierung und Legitimierung der Samenspende im reproduktionsmedizinischen Diskurs als konstitutiv. So ist auch in der diskursanalytischen Betrachtung deutlich geworden, dass eine eindeutige und stabile Unterscheidung zwischen Benennungen der Natur und des Sozialen fehlt und ein variables Verständnis dessen gegeben ist. Vorstellungen und das reproduktionsmedizinische Wissen über als sozial und natürlich gedachte Beziehungen und Reproduktion erscheinen kaum jemals eindeutig, sondern ambivalent. Ihr Konnex, ihr gemeinsamer Nenner, so liest sich das Material, liegt in der Legitimierung durch Normalisierung. Von großer Bedeutung stellte sich im untersuchten Diskurs über den gesamten Zeitraum die Legitimierung durch Ergebnisorientierung dar, etwa das Darstellen von Fakten und Erfolgen der Spendersamenbehandlung. Durch diese fortwährend gegebene Orientierung an Ergebnissen, die als die dritte Legitimierungsweise identifiziert wurde, wird die reproduktionsmedizinische Behandlung als eine Art langjährige Erfolgsgeschichte und somit
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als Faktizität sichtbar gemacht. Dies bestätigt und legitimiert diese als eine wissenschaftliche fundierte Methode. Die an der Formulierung von Aussagen mit Ergebnischarakter orientierte Legitimierungsweise ist an messbaren Raten von Schwangerschaften, von Geburten und von mithilfe der Samenspende entstandener Kinder ausgerichtet. Darüber hinaus wird sie durch die Hervorhebung von Gefühlen der Dankbarkeit der erfolgreich reproduktionsmedizinisch Behandelten und Verweisen auf das „Glück der Familie“ angereichert. Dieses häufig zitierte und als Resultat erfolgreicher Spendersamenbehandlungen versprochene „Glück der Familie“ trägt zur Legitimierung der Methode bei und transformiert sie – gerade auch vor dem Hintergrund nachgewiesener Erfolge – zu einer greifbaren Chance auf Glück, die es zu nutzen gilt.
A HAPPY ENDING STORY? „Glücksvorstellungen sagen dem Einzelnen, wann er ,glücklich‘ zu sein hat und wann die für ihn relevante Gruppe ihn für ,glücklich‘ hält und wann sie ihm Unglück bescheinigt“ (Reichertz 2010: 102).
Nachdem die analytisch getrennten Legitimierungsweisen hier noch einmal pointiert dargestellt worden sind, sollen sie abschließend in ihrer dem Material entsprechenden Verwobenheit aufgezeigt und diskutiert werden. Zu diesem Zweck bietet es sich an, die im Diskurs entworfenen Vorstellungen vom „Glück der Familie“ aufzugreifen. Denn wie schon dargelegt, haben Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1980) für Legitimationen ähnlich dem obigen Zitat hervorgehoben, dass sie dem Einzelnen nicht nur sagen, warum dieser eine Handlung ausführen soll, sondern auch, warum die Dinge sind, was sie sind (vgl. ebd.: 100). Demnach eignen sich Glücksvorstellungen, die sozial akzeptiert sind, zur Legitimierung von sozialen Handlungen und eben auch zur Legitimierung der Ziele von Gesellschaften bzw. gesellschaftlichen Gruppen. Wissenssoziologische Perspektiven auf Glück untermauern die Einsicht, dass Glücksvorstellungen grundsätzlich sozialen Ursprungs und als diskursiv vermittelte Konstrukte für die Gesellschaft konstitutiv sind. Jo Reichertz (2010) bezeichnet Glücksvorstellungen in diesem Sinn als „Entwürfe des Begehrenswerten“ (ebd.: 102). Dabei ist es
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nicht von Relevanz, ob einzelne Individuen sich diese genauso zu Eigen machen, da jede_r sich mit diesen vorgegeben Vorstellungen vom Glück auseinanderzusetzen hat. Auch wenn sie in mehr oder weniger vielen Einzelfällen abgelehnt werden bzw. nicht für jede_n zugänglich sind, stellen sie wirkmächtige Konstrukte dar. Was Glück ist, wird als gesellschaftlich „erarbeitetes und sanktioniertes und entsprechend auratisiertes und mit den Medien der Zeit verbreitetes Wissen“ erlangt (ebd.: 104). „Da ,Glücksvorstellungen‘ in diesem Verständnis stets gesellschaftliche Konstrukte sind, überschreiten sie nicht zufällig, sondern systematisch die Perspektive und die Wünsche des Einzelnen. Da ,Glücksvorstellungen‘ Entwürfe des Begehrenswerten sind, dienen sie dazu, den Einzelnen im Sinne der Gruppe ,besser‘ auf bestimmte Ziele einzustellen und daran auszurichten – sie bewirken (so sie denn akzeptiert werden) die Selbstüberschreitung des Einzelnen zum gesellschaftlich gewollten Begehrenswerten. Insofern bedürfen sie, wie die gesamte Kultur, der Legitimierung“ (ebd.: 102f.).
Einerseits bedürfen Vorstellungen vom Glück der Legitimierung, andererseits dienen sie, wenn sie gesellschaftlich als „normal“ akzeptiert sind, wiederum dieser. Hier wird die Verschränktheit der für die Analyse auseinander geführten Legitimierungsweisen im untersuchten reproduktionsmedizinischen Diskurs sichtbar. Denn die den Referenzen auf Glück übergeordnete Legitimierungsweise der Orientierung an Ergebnissen steht in enger Beziehung zu der Legitimierungsweise der Normalisierung und beide bedingen sich gegenseitig. Darüber hinaus finden diese Legitimierungsweisen einen weiteren komplementären Begleiter im Zusammenspiel mit der Problematisierung des im Diskurs benannten Unglücks, dem Leid der ungewollt Kinderlosen aufgrund männlicher Sterilität, dem es reproduktionsmedizinisch zu begegnen gilt. Insbesondere erscheint die kinderlose Ehe als Defizit, mit dem die Produktion großen Leids verbunden ist. Es zeigt sich also, dass die Legitimierungsweise der Ergebnisorientierung eng verknüpft ist mit der Legitimierungsweise der Normalisierung und derjenigen der Problematisierung. In diesem interagierenden Netz erscheint die ausführlich dargestellte Legitimierungsweise der Normalisierung als grundlegend. Im untersuchten Diskurs zur Spendersamenbehandlung und seiner Regulierung implizieren Glücksvorstellungen, wie das Glück der Familie als „Wissen um das gesellschaftlich Begehrenswerte“ (ebd.: 102) und ihr Pendant der Vorstellung des Leidens an Kinderlosigkeit und daraus resultierender krisenhafter Zustände nicht nur heteronormative Vorstellungen und Wissen
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davon, was Glück bedeutet, sondern auch, wer dieses Glück begehren darf, wer die legitimen Eltern sind, denen also dieses Glück zusteht. Sara Ahmed (2010b) bietet mit ihrer affekttheoretischen 106 und feministischen Perspektive auf „happiness“, weiteren Anlass sich zum Abschluss dieser Arbeit über das Glück als Zielmarke und die Geschichte von Glück, Unglück und Leiden zu wundern und sie zu hinterfragen. „Happiness: a wish, a will, a want“ (Ahmed ebd.: 2).
Weil Affekte bei Ahmed (2004) als soziale und kulturelle Praxen zu verstehen sind, bietet auch sie, wie schon Jo Reichertz (2010), keine Definition von Glück als authentischem Gefühl an, sondern interessiert sich dafür, wie Glück und auch das Begehren danach mit bestimmten Lebensweisen und Entscheidungen verknüpft sind und mit anderen gerade nicht in Zusammenhang gebracht werden. „[...] you describe as happy a situation that you wish to defend. Happiness translates its wish into a politics, a wishful politics, a politics that demands that others live according to a wish. When a happiness wish is deposited, a social norm becomes a social good. Feminists have shown how the happiness wish is deposited in certain
”
places (Ahmed 2010a: 572).
Der Wunsch nach Glücklich-Sein bringt in den Orten oder Kontexten, in denen er als Politik wirksam wird, aus sozialen Normen soziale Güter hervor. Ahmed (2010a) verdeutlicht am Beispiel von Werbespots amerikanischer Hausfrauen der 1960er Jahre, wie der Arbeitscharakter ihrer Tätigkeiten von Bildern des Glücks verdeckt und ihre Arbeit so in etwas Wünschenswertes verwandelt wird.
106 „Affect Studies“ als eine theoretische und heterogene Beschäftigung mit Af fekten entwickelten sich hauptsächlich ab Mitte der 1990er Jahre im anglophonen Raum. Als ein zentrales Anliegen wird ausgewiesen, „Emotionen und Affekte wieder ins Zentrum des Erkenntnisinteresses zu rücken, um das komplexe Verhältnis menschlicher Daseinsberechtigung, einschließlich politisch-gesellschaftlicher Aspekte, kritisch neu auszuloten“ (Baier/Binswanger/Häberlein 2014: 14). Weiterführend siehe u. a. Angelika Baier et al. (2014) sowie Melissa Gregg/Gregory J. Seighworth (2010).
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„The claim that women are happy and that this happiness is behind the work they do functions to justify gendered forms of labor not as products of nature, law, or duty,
”
but as expressions of a collective wish and desire (ebd.: 573).
Glücklich-Sein, so Ahmed (2010b), bringt eine spezifische Art der Intentionalität hervor, die sie als „end-oriented“ beschreibt (ebd.: 26). So können Dinge beglücken, die für die Zukunft Glück versprechen. Diese Dinge, die als Objekte des Glücks erscheinen und verweisen, werden Mittel zum Glück. „Happiness does not reside in objects; it is promised through proximity to certain objects. The promise of happiness takes this form: if you do this or if you have that,
”
then happiness is what follows (Ahmed 2010a: 576).
Das Versprechen von Glück fungiert durch die Nähe zu bestimmten Objekten, welche sich als glückversprechend verbreiten. Glück selber funktioniert als ein zukünftiges Versprechen und wird an bestimmte Objekte geknüpft, die Ahmed (2010a) als „happy objects“ benennt. Beispielsweise kann dieses „happy object“ die Familie sein. Im untersuchten Diskurs wird die Spendersamenbehandlung mit einem glückbringendem Objekt verknüpft: dem Versprechen auf ein zukünftiges Familienglück. Dieses Glücksversprechen wird neben das Unglück, das große Leiden an ungewollter Kinderlosigkeit der zu Behandelnden gestellt, es kontrastiert die defizitäre, nicht vollständige oder nicht existente Familie und verspricht die Beendigung dieses Zustandes. Zugrunde gelegt wird dabei, wie am untersuchten Material herausgestellt worden ist, eine heteronormative Vorstellung eines Ideals von Familie als Elternschaft, welche zweigeschlechtlich heterosexuell begründet und in monogamen und stabilen Beziehungen mit einem gemeinsamen erwünschten Kind konfiguriert ist. Andere Möglichkeiten des Lebens mit Kindern erscheinen dabei zumindest problematisch, je nachdem, wie weit diese vom Ideal abweichen. So stellt sich im untersuchten Diskurs das heterosexuell zusammenlebende (Ehe-)Paar mit Wunsch nach einem gemeinsamen, aus dieser Beziehung entstandenem Kind als eine nicht weiter hinterfragbare Normalität der reproduktionsmedizinischen Regulierungen dar. Ahmed (2010a) stellt heraus, dass Glücksversprechen, wie das der Familie, stets mit bestimmten Konditionen einhergehen. Hoffnungen in Gründung und Bestand einer Familie zu legen, macht es erforderlich, sich ihrer Form entsprechend dem Idealtypus anzunähern.
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„We have to make and to keep the family, which directs how we spend our time, our energy, and our resources“ (ebd.: 577).
Das Streben nach und die Erwartung zum Glücklich-Sein können somit auch eine Verpflichtung und Last darstellen, etwas, das gefordert wird. Oder sie verknüpfen – wie in Kapitel 6.3 ausführlich erörtert – die Nichtergreifung einer sich bietenden Chance zum Glück mit dem Ausblick auf zukünftige Reue. Mit Ahmed (2010a) soll hier herausstellt werden, dass es nicht darum geht, einzelnen Personen eine Art „falsches Bewusstsein“ über Glück zu attestieren, sondern um eine kollektive Übereinkunft, Dinge auf eine bestimmte Art und Weise zu sehen, oder eben auch nicht zu sehen (vgl. ebd.: 590). Das im untersuchten Diskurs häufig hervorgehobene und die reproduktionsmedizinische Behandlung begründende Problem des Leidens an ungewollter Kinderlosigkeit, an einer nicht vollständigen bzw. nicht existenten Familie wird als ein persönliches Unglück für eine bestimmte Gruppe von Menschen gesetzt, die dem Ideal einer bestimmten Lebensweise entsprechen bzw. sich diesem annähern. Entsprechend werden von der Reproduktionsmedizin individualisierte, medizinische und nicht zuletzt mit ökonomischen Zugangshürden verbundene glückversprechende Lösungen wie die Spendersamenbehandlung angeboten. Mit ihnen erscheint das Leiden als individuelles Problem, das durch reproduktionsmedizinische Therapieansätze in das individuelle zukünftige Glück der Familie zu überführen ist – unberührt von Möglichkeiten gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, Problematisierungen und sozialer Lösungen für den Umgang mit ungewollter Kinderlosigkeit, denn: „In refusing to be constrained by happiness, we can open up other ways of being perhaps“ (Ahmed 2010a: 593).
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AUSBLICK UND WEITERGEHENDE FRAGEN „Die Menschen regieren: das was sie an die Hand nehmen, sie zu ihrem Heil geleiten – mithilfe einer detaillierten Führungstechnik, die eine Menge Wissen implizierte: Wissen über das Individuum, das man führte, Wissen über die Wahrheit, zu der man führte [...]“ (Foucault 1992: 50).
Reproduktionsmedizin und ihre Behandlungsmethoden – so ist zweifellos deutlich geworden – waren und sind ein äußerst kontroverses Feld. Auch der soziale und gesellschaftliche Charakter der Medizin, ihrer Methoden und Gegenstände im Allgemeinen und in der Reproduktionsmedizin als Teil (bio-)medizinischer Entwicklung im Besonderen bleibt kaum fraglich. Wie im Kapitel 3 zur Medizin als Profession dargelegt ist, stellt sich die Medizin als eine gesellschaftliche Praxis dar, „die sozial erzeugte kognitive und normative Strukturen aufweist“ (Graumann/Lindemann 2009: 236). Vor diesem Hintergrund bieten soziologische und sozialwissenschaftliche Analysen vielfältige Möglichkeiten, die Konstruktion von Wirklichkeit aus einer bestimmten, theoretisch bedingten Perspektive auszuleuchten. Es ist davon auszugehen, dass eine Perspektive auf Wissen, Wahrheit und Macht bei der wissenschaftlichen Begleitung von bzw. der Entwicklung einer Haltung zu Analysen reproduktionsmedizinischer Regulationen, Praktiken und Prozessen ihrer Legitimierung und Normalisierung von Belang sein kann. Unabdingbar wäre es dabei, die vermutlich schon immer gelebte und fortwährend sich wandelnde, gesellschaftliche Vielfalt von Beziehungen zu und mit Kindern zu berücksichtigen. Foucault (1992) formuliert als eine Haltung der Kritik, „eine bestimmte Art zu denken, zu sagen, zu handeln auch, ein bestimmtes Verhältnis zu dem, was existiert, zu dem, was man weiß, zu dem, was man macht, ein Verhältnis zur Gesellschaft, zur Kultur, ein Verhältnis zu den anderen auch – etwas, was man die Haltung der Kritik nennen könnte“ (ebd.: 8). Diese Haltung der Kritik stellt eine Denkungsart dar, benannt als „die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“ (ebd.: 12) und genauer noch als „die Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden” (ebd.: 12). Diese „Denkungsart“ könnte auch die soziologische und sozialwissenschaftliche Analyse und Auseinandersetzung mit den fortwährend voran-
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schreitenden biomedizinischen und reproduktionsmedizinischen Entwicklungen begleiten, so es von Interesse ist, die Art und Weise, wie wir regiert werden, zu erfragen – und darüber hinaus zu reflektieren, welche gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen mit und durch die Reproduktionsmedizin und die Konzeption und Anwendung ihrer Behandlungsmethoden wirken: Zu welchem und wessen Preis? Zu welchem und zu wessen Glück?
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POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7
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