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German Pages 309 [312] Year 2009
Hallesche Beitrge zur Europischen Aufklrung Schriftenreihe des Interdisziplinren Zentrums fr die Erforschung der Europischen Aufklrung Martin-Luther-Universitt Halle-Wittenberg
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Ernst Stçckmann
Anthropologische sthetik Philosophie, Psychologie und sthetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklrung
n Max Niemeyer Verlag Tbingen
Herausgeber: Daniel Fulda, Ulrich Barth, Harald Bluhm, Wolfgang Hirschmann, Gabriela Lehmann-Carli, Monika Neugebauer-Wçlk, Jrgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Wolfgang Adam, Roger Bartlett, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Daston, Wilhelm Khlmann, Wolfgang Levermann, Jean Mondot, Jrgen Osterhammel, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Peter Hanns Reill, Heiner Schnelling Redaktion: Grit Neugebauer Satz: Kornelia Grn
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-81039-6
ISSN 0948-6070
Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Printed in Germany. Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Vorbemerkung
Die vorliegende Studie, die im Jahr 2006 vom Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Dissertation angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet wurde, war ursprünglich als eine Untersuchung zur philosophischen Ästhetik Georg Friedrich Meiers und der deutschen Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts angelegt. Parallel vorgenommene umfangreiche Untersuchungen zur Textgattung der Anthropologie führten zu einer stetigen Neuausrichtung der Kompassnadel dieser Arbeit. Ihre endgültige Gestalt verdankt sie allerdings einer weiteren Transformationsstufe – der ‚Rückübersetzung‘ der Fragestellungen der wissenschaftlichen Aufklärungsanthropologie in die der zeitgenössischen philosophisch-psychologischen Ästhetik. Mein persönlicher Dank gilt namentlich Prof. Dr. Manfred Beetz sowie Prof. Dr. Bernhard Spies für ihre ausdauernde Betreuung und instruktive Kritik. Prof. Dr. Andrea Jäger danke ich für ihre aktive Unterstützung im Kampf mit der Beharrlichkeit. Dankend verbunden bin ich in diesem Sinn ebenso Prof. Dr. Wolfgang Klein, Dr. Dieter Kliche, Dr. Heidi Ritter und Frau Katrin Bethge. Dr. Andre Rudolph, Katrin Greiner und im Besonderen Grit Neugebauer verdanke ich kritische Korrekturen, Kornelia Grün umsichtige Unterstützung im Drucklegungsprozess. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Universitäts- und Landesbibliothek in Halle bin ich dankbar für gleichbleibend zuvorkommende Hilfe bei Standardwie Sonderwünschen. Zu Dank verpflichtet bin ich nicht zuletzt der Landesgraduiertenförderung des Landes Sachsen-Anhalt sowie der Fritz Thyssen-Stiftung im Stipendienprogramm der Franckeschen Stiftungen Halle, durch die die Durchführung des Forschungsprojekts in grundlegender Weise unterstützt wurde.
Halle, im Dezember 2008
Ernst Stöckmann
V
Gewidmet meinen Eltern
Inhaltsverzeichnis
I
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Anthropologische Ästhetik. Der thematische Rahmen und die These der Untersuchung . . . . . . . 2 Ästhetik und Anthropologie. Untersuchungsfelder . . . . . . . . . . . . .
II Ästhetische Theorie im anthropologischen Feld der späten Aufklärung. Ausgangskonstellationen und Begründungskontexte . . . . . . . . . . . . . 1 Transdisziplinäre Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 „Ästhetik von unten“ und „doppelte Ästhetik“ . . . . . . . . . . . . . . . 3 Sinnlichkeit als Grundsignatur des Ästhetischen . . . . . . . . . . . . . III Anthropologie und Physiologie der Emotionen im französischen Lustdiskurs: Descartes, Dubos, de Pouilly . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Physiologie des Vergnügens. Descartes’ Theorie der Affekte . . . 1.1 „L’âme est jointe au corps.“ Lustbegriff als Commerciumdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Affekt ästhetisch: Wohlgefallen als Spielart von L’Amour . . . 1.3 Lustpsychologie als Physiologie des Körpers und der Nerven 2 Natürliche und künstliche Leidenschaften. J. B. Dubos’ Anthropologie und Ästhetik der Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Anthropologie des Lustbegehrens: Affekt als „gewaltsame Bewegung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Kunsttheoretische Transposition des Affekts: Künstliche Leidenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Dubos’ emotionalistischer Neuansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Lusttheorie als „Physik der Empfindungen“. Erster und zweiter Physiologismus bei Lévesque de Pouilly . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Wissenschaft der Empfindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Physiologie des Leibes als Funktionsmodell der Lust. De Pouillys Rückgriff auf Santorio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Vollkommenheit als Beschäftigungsprinzip . . . . . . . . . . . . . 3.4 Ästhetische Erfahrung auf anaisthetischer Basis: „Geist“ als ästhetisches Organon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Modifikationen des Gehirns. De Pouillys zweiter Physiologismus . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV Zwischen sinnlicher Erkenntnislehre und theoretischer Ästhetik des Affekts. „Natürliche Ästhetik“, Theorie des schönen Geistes und ästhetische Pathologie in der Ästhetik als Disziplin (Baumgarten, Meier) . . . 1 Anthropologische Ästhetik. Das Modell Baumgartens . . . . . . . . . . 1.1 Aesthetica naturalis oder empirische Psychologie als Paradigma der Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Ästhetischer Anthropologismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Ästhetischer Egalitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Ästhetischer Kognitivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Von der cognitio sensitiva zur aesthetica pathologica? Baumgartens Ansätze zu einer Ästhetik der Emotionen . . . . . . . 1.2.1 Vita cognitionis aesthetica Pathologia aesthetica. Die Konjunktion von Erkenntnis und Begehren in wirkungsästhetischer Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Lebendige Erkenntnis: logisch (Wolff) und rhetorisch (Gottsched) . . . . . . . . . . . 1.2.3 Von der Vita cognitionis aesthetica zur „rührenden Erkenntnis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Ästhetische Pathologie. Anthropologie der Leidenschaften und Ästhetik des Begehrens bei G. F. Meier . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Philosophische Psychologie und Affektästhetik in der Theoretischen Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (1744) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Zwischen Erkennen und Begehren. Meiers Anthropologie der Leidenschaften . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Vom ‚Pathos‘ zur ästhetischen Kompetenz. „Lebendige Erkenntnis“ als affektästhetische Kategorie . . 2.1.3 Geschmack. Anthropologisch und ästhetisch . . . . . . . . . . 2.2 Von der Anthropologie zur Ästhetik des Begehrens. Anthropologische Poesiekonzeption und ästhetische Pathologie . . . . . . 2.2.1 Exkurs: Naturgemäße Poesie. Meiers frühes Konzeptmodell einer Ästhetik der Rührung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 „Begehrungskraft“ in ästhetischer Hinsicht: Affekttheoretische Impulse in Meiers Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (1748/1749) . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Vita cognitionis aesthetica. Pathologische Ästhetik als Theorie des „ästhetischen Lebens“ . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Kontextualisierung des Begehrens: epistemologisch, anthropologisch, ästhetisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V Psychologie und Erkenntnistheorie der Emotionen. Ästhetiktheoretische Implikationen der philosophischen Erfahrungspsychologie und Vorstellungstheorie (Eberhard, Tetens) . . . 1 Emotion als Vorstellung. Psychologie der Empfindungen im Deutungsschema der rationalistischen Vorstellungstheorie (J. A. Eberhard) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Erkenntnistheorie der Emotionen als „Mathematik der Seele“. Vorstellungstheoretische Revisionen des Psychischen in J. A. Eberhards Allgemeiner Theorie des Denkens und Empfindens (1776) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Kognition und Emotion im transzendentalen Indifferenzpunkt: „Urkraft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Omnipotenzverlust der erkennenden Seele und „Verwechselung unserer selbst“: Passivitätsstruktur und Identifikationspotential der Emotionen . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Psychophysischer Commerz als Korrespondenzphänomen. Übergangskonzeptionen (Leib-Seele; Denken-Empfinden) . . . . 1.3 „Leichtes Anschauen des Mannigfaltigen zu Einem“: Revitalisierung de Pouillyscher Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Logisierung des Psychischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Ich-Dissoziation in der ästhetischen Zustandserfahrung . . . 2 Emotion als Vermögen. Phänomenologie, Erkenntnistheorie und Psychologie des Gefühls in J. N. Tetens’ Philosophischen Versuchen (1777) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Unmittelbare Beobachtung und aufklärende Vernunft versus anthropologische Methodologie. Tetens’ Physiologismuskritik in psychologischer Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 „Innere Empfindung“. Emotion als Seelenäußerung und psychische Grundkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Basiskategorie Gefühl. Terminologische Positionierungen im zeitgenössischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Innere Empfindungen als Verhältnißgefühle . . . . . . . . . . . 2.2.3 Der Gegenstandsbezug des Gefühls. Rezeptivität . . . . . . . 2.2.4 „Leidentliche“ Wahrnehmung. Selbstbezüglichkeit und Affizierungsgehalt des Gefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Interesselosigkeit und Genuss. Ästhetische Differenzen im Gefühlsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6 „Grundvermögen der Seele“. Aspekte der anthropologisch-ästhetischen Progression des Gefühls (Tetens und die Folgen) . . . . . . . . . . . . . . . .
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IX
VI Erkenntnistheorie der Lust, Psychologie des ästhetischen Zustands, Ästhetik des Geschmacks. Anthropologie und Ästhetik der Emotionen bei Johann Georg Sulzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Emotionalistisches Paradigma – nach Baumgarten und vor Kant. Entwicklungstendenzen der spätaufklärerischen Ästhetiktheorie . . . 2 Anthropologische und ästhetische Progression der Emotionen. Sulzers Akademieschriften von 1751/52 und 1763 im zeitgenössischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Aisthesis im emotionalistischen Paradigma. Popularphilosophischer Impetus und empiristische Methodologie . . . . . . . . . . 2.2 Lustpsychologie ohne Emotionsbegriff. Sulzers Theorie der angenehmen Empfindungen (1751/1752) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Anthropologische Universalisierung der Vorstellungskraft. Sulzer versus Wolff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Dynamisierung der vis repraesentativa und Progression des Begehrens. Revitalisierung Leibnizscher Prämissen . . . 2.2.3 Betätigungszwang und Lebhaftigkeit. Dubossche Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Rückversicherungen in der Schönheitsmetaphysik . . . . . . 2.3 Von der anthropologischen Vermögenstheorie zur Psychologie des ästhetischen Zustands. Sulzers Theorie des Gefühls (1763) . 2.3.1 Selbstbezüglichkeit ohne Erkenntnischarakter. Der Neuansatz zu einer Anthropologie der Emotionen . . . . 2.3.2 Philosophiehistorische Vorlagen. Johann Bernhard Merians Rationalismus- und Sensualismuskritik . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Entwertung des Erkenntnisparadigmas. Die affekttheoretische Einbettung der Emotionen . . . . . . . . . . 2.4 Selbstbezüglichkeit als Rührung. Sulzers Psychologie des ästhetischen Zustands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Ästhetische Kontemplation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Wissenschaft der Emotionen als Ästhetik des Geschmacks. Der Nexus von Anthropologie und Ästhetik in Sulzers Wörterbuch der Ästhetik (1771/1774) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Allgemeine Theorie der schönen Künste. Artikel Empfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Artikel Geschmack; Schön . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Ästhetik der Emotionen als Prototyp einer Theorie der ästhetischen Erfahrung. Konklusionen mit Blick auf einen erweiterten Ästhetikbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VII Von der Lustpsychologie zur Kunsttheorie der Emotionen. J. A. Eberhards Versuch eines Plans zu einer praktischen Aesthetik (1790) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 1 Praktische Ästhetik: Ästhetik ‚von unten‘ und ‚von oben‘ . . . . . . . . 252 2 Das „Gefühl unserer Kräfte“: Eberhards anthropologische Ästhetik der Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 2.1 Verlangen nach Impressionen. Ästhetische Lust als Eindrucksgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 2.2 Verlangen nach Emotionen. Ästhetische Lust als Rührungsgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 2.3 Verlangen nach Wohlgefallen. Ästhetische Lust als Schönheitsgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 3 „Objective“ versus „subjective“ Methodologie des ästhetischen Wissens. Eberhard contra Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 4 Kunsttheorie der Emotionen. Mimesiskritik und Psychologie des ästhetischen Zustands vom anthropologischen Standpunkt . . . . . . . 268 5 Der Schritt von Baumgarten zu Eberhard. Anthropologischästhetische Dispositionsschemata im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . 271 VIII
Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Sekundärliteratur, Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XI
I Einleitung
Man muß auch hierin den Nutzen der schönen Künste erkennen, wenn durch ihre richtige und lebhafte Nachahmung menschlicher Charaktere, und ihrer verschiedenen Aeußerungen, uns das Studium des Menschen erleichtert wird. (Eberhard: Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens)
1 Anthropologische Ästhetik. Der thematische Rahmen und die These der Untersuchung Die Zusammengehörigkeit anthropologischer und ästhetischer Reflexion, die in der vorliegenden Untersuchung am Gegenstand philosophisch begründeter Theorien des Ästhetischen und am Leitfaden emotionstheoretischer Fragestellungen der Aufklärung rekonstruiert wird, erschließt sich unter systematischem Blickwinkel scheinbar ohne größere Anstrengungen. Ästhetische Fragestellungen gewinnen anthropologische Relevanz, wenn der Phänomenbereich des Ästhetischen1 im Ganzen als das Wirkungsfeld der sinnlichen Vermögensnatur des Menschen begriffen und für die Bildung respektive Kultivierung dieser Vermögen konzeptualisiert wird. Anthropologische Fragestellungen erlangen umgekehrt ästhetische Relevanz, wenn der menschlichen Sinnennatur attestiert wird, für die Grundlegung wie die Entwicklung des ästhetischen Wissens, d.h. für den Bereich des ästhetischen Wahrnehmens, Erfassens bzw. Erlebens, unverzichtbar zu sein. Anthropologische Kenntnis, nicht schönheitsmetaphysische Spekulation erscheint dann als der maßgebliche Ausgangspunkt für das Verständnis des Ästhetischen, ästhetische Theo1
Sofern nicht explizit als Frage nach der ästhetischen Wahrnehmung des Kunstschönen ausgewiesen, bezeichnet der Titel des Ästhetischen im hier verfolgten Problemzusammenhang Phänomene ästhetischen Wahrnehmens, Erfassens bzw. Erlebens für das ästhetisch erfahrende Subjekt, d.h. Phänomene mit spezifischen, lust- bzw. unlustgeprägten Erfahrungsintensitäten. Zu den einschlägigen Basisbestimmungen im Theoriefeld der ästhetischen Erfahrung und ästhetischen Wahrnehmung siehe Wolfhart Henckmann: Über die Problematik ästhetischer Kategorien, in: ZÄAK, Bd. 38.2 (1983), S. 169–182, bes. 179ff.; Wolfgang Ruttkowski: Kernbegriffe der Ästhetik. Ein Vorschlag für ihre sinnvolle Verwendung im ästhetischen Diskurs in Kants Problemhorizont, in: ZÄAK. Sonderheft: Ästhetische Erfahrung heute (Hg. v. Ursula Franke), 2000, S. 155–168; Martin Seel: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung – fünf Thesen, in: ZÄAK. Sonderheft: Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich (Hg. v. Gert Mattenklott), 2004, S. 73–81.
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riebildung fungiert umgekehrt zugleich als differenzierendes Interpretament der anthropologisch allgemeinen Wahrnehmungs-, Erfassungs- und Erlebnisdispositionen. Ein reziproker Begründungs- und Ergänzungszusammenhang verbindet beide Bereiche.2 Eine ihrer prägnantesten Ausprägungen findet diese im Folgenden thematisierte Konstellation von Anthropologie und Ästhetik3 am historischen Einsatzpunkt der disziplinären Systembildungen anthropologischen und ästhetischen Denkens – in der „vorkantische[n] Epoche“4 der deutschen Spätaufklärung zwischen 1750 und den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts. Im Einflussfeld erfahrungsorientierter Erforschungen des menschlichen Seelenlebens und der Aufwertung der sinnengeleiteten Tätigkeitsformen des menschlichen Geistes und Bewusstseins gelangt die philosophische Reflexion ästhetischen Wahrnehmens, Beurteilens und Erlebens zu einer gegenüber der Tradition spürbar veränderten und von Grund auf konzeptuell ge-
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Unter dem Titel der „Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie um 1750“ ist die hier behauptete Koinzidenz anthropologischer und ästhetischer Denkformen mit Blick auf die neu entstehende Wissenschaftsgattung der Menschenkunde (‚Anthropologie‘) von C. Zelle thematisiert worden (vgl. Carsten Zelle: Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie um 1750, in: ders.: Vernünftige Ärzte. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001, S. 5–2, hier S. 5). Neben diesem Forschungsansatz, dessen sachlichen Befund einer gezielten anthropologisch-ästhetischen Symbiose der hier praktizierte Zugriff für den anthropologisch-erfahrungswissenschaftlichen Perspektivenwechsel der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufnimmt und fortführt, stehen im Zentrum des Folgenden dezidiert ästhetiktheoretische Fragestellungen mit unterschiedlichen Anschlussmöglichkeiten an moderne Konzeptformulierungen. Von philosophisch-ästhetischer Warte aus weisen so verschiedenartige Ansätze wie die Theorie der ästhetischen Erfahrung (H. R. Jauß, R. Bubner u.a.), die Modellierungen einer psychologischen Ästhetik (im Anschluss an J. Volkelt, T. Lipps u.a.) oder auch die postmodernen Zugänge zum Phänomenbereich des Ästhetischen über die Kategorie der Aisthesis (H. und G. Böhme, M. Seel, W. Welsch u.a.) in die Richtung des hier als ‚anthropologische Ästhetik‘ Thematisierten. Allen diesen Erklärungsansätzen gemeinsam ist der ästhetiktheoretisch interessierte Rückgriff auf Dispositionen der menschlichen Sinnennatur und die Zentralstellung des Wahrnehmungs-Begriffs in ästhetischer Problemperspektive. Zum generellen Problemzusammenhang von anthropologischen und ästhetischen Wissensformen siehe: Rudolf zur Lippe: Sinnenbewußtsein. Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik. Reinbek / Hamburg 1987. ‚Anthropologie‘ und ‚Ästhetik‘: Wenn nicht explizit gekennzeichnet, werden beide Termini im Sinn diskursiver Ensembles bzw. Wissensformen, d.h. in einer nicht auf den spezifischen Status der wissenschaftlichen Disziplinen bzw. historischen Textgattungen Anthropologie und Ästhetik bezogenen Verwendungsweise gebraucht: ‚Anthropologie‘ als generalisierender Titel also für integrative Ansätze der Verwissenschaftlichung der empirischen Vermögensnatur des Menschen, ‚Ästhetik‘ als terminologischer Platzhalter für die disziplinübergreifenden Verständigungen über das Ästhetische bzw. über die ästhetisch affine Sinnlichkeit (Wahrnehmung, Erfahrung, Beurteilung, Erleben etc.). Daniel Jenisch: Über Grund und Werth der Entdeckungen des Herrn Prof[essor] Kant in der Metaphysik, Moral und Aesthetik. Nebst einem Sendschreiben des Verf[assers] an Kant über die bisher günstigen u[nd] ungünstigen Einflüsse der kritischen Philosophie. Berlin 1796, S. 27.
stimmten ästhetischen Selbstbesinnung.5 In einem etwa gut vierzigjährigen Zeitraum zwischen A. G. Baumgarten und den Vertretern der sogenannten Popularästhetik avanciert die Theorie des (Kunst-)Schönen, des Ästhetischen – von alters her vorherrschend eine der philosophisch begründeten Poetik, Rhetorik und Geschmackstheorie – zum breit angelegten Untersuchungsfeld der leibseelischen Natur des Menschen, namentlich seiner sinnlichen (sensitiven) Gemütsvermögen.6 Anthropologisch begründete Ästhetik: Nicht im spekulativen ästhetischen Wissen, d.h. im Begründungskontext einer intellektuell fundierten Metaphysik des Schönen und der Kunst, sollen die Grundsätze des Ästhetischen nach der Ansicht ihrer maßgeblichen Vertreter wurzeln. Vielmehr gilt es, sie aus einer dezidiert erfahrungsgestützten Kenntnis der – als Konstanten zugrundegelegten – Eigenschaften und Leistungen der menschlichen Seele, d.h. aus dem Konstitutionszusammenhang einer integrativen ästhetischen Anthropologie der menschlichen Sinnlichkeit (Aisthesis) heraus genetisch herzuleiten und begrifflich zu fixieren.7 Den angesprochenen Verschiebungen im Ästhetikbegriff seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entspricht eine theoriegeschichtlich folgenreiche Einschränkung des Hoheitsanspruchs ausschließlich rationaler Tätigkeitsformen des menschlichen Geistes und Bewusstseins et vice versa eine neue Hochschätzung der präreflexiven Potentiale sämtlicher sinnlich vermittelter Erfassungsleistungen, wobei den intuitiven Wahrnehmungserfahrungen, den Erlebnis- und Genussformen sowie der ästhetischen Rezeptivität die größere Aufmerksamkeit gilt denn den produktionsästhetisch relevanten Potenzen der menschlichen Sinnlichkeit.8 Zwar war der Gedanke, „allgemeine in der Natur des Menschen und der Dinge gegründete Haupt- und Grundsätze“ zur Basis der ästhetischen Kritik zu erheben, bereits in der ästheti-
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Zum Terminus und seiner Reservierung für die „ersten Anläufe“ dieser „Selbstbesinnung“ im Übergang zwischen spätem 18. und 19. Jahrhundert vgl. Eduard von Hartmann: Die deutsche Ästhetik seit Kant. Erster historisch-kritischer Theil der Aesthetik. Leipzig 1886, Vorwort zum ersten Theil, S. VII. Die ästhetisch relevanten Vermögen der menschlichen Seele thematisiert die spätaufklärerische Ästhetik in der Regel als Funktionsbereiche des Gemüts, d.h. als bezogen auf die Ebene des Begehrungsvermögens (Affekte, Leidenschaften etc.), in Abgrenzung zum Seelen- und Sinnlichkeitsbegriff Kants folgerichtig schließlich auch als Gegenstand der von Erkenntnis-, Vorstellungs- und Willenskraft unterschiedenen „Gefühlkraft“. Vgl. Johann Heinrich Abicht: System der Elementarphilosophie oder vollständige Naturlehre der Erkenntniß-, Gefühl- und Willenskraft. Erlangen 1795, S. 136–208, bes. S. 201. Die „Untersuchung des Grundes, warum das was schön ist, schön sey“, setzt mehr eine „genetische“ denn eine „nominale“ Definition des Ästhetischen voraus, vgl. Anonymos: Ueber die Theorie der Schönheit, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Literatur. 3. Jg., 2. St. (1782/83), S. 42–61, hier S. 43f. Es ist ein Charakteristikum der hier betrachteten Theorieformation (genau genommen bis hin zu Kants Theorie der ästhetischen Apperzeption), dass deren spezifisch genieästhetische Akzente erstaunlicherweise eher latent zutage treten bzw. von der rezeptionsästhetischen Grundausrichtung derselben verdeckt werden, – ungeachtet der Tatsache im Übrigen, dass die Hochschätzung der einschlägig produktionsästhetischen Vermögen wie Einbildungskraft oder Phantasie für die gesamte zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ungebrochen ist.
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schen Theorie der frühen und mittleren Aufklärung entwickelt worden.9 Er überschritt jedoch nicht den engeren Rahmen der regelorientierten Rhetorik und Geschmackstheorie und die damit gegebene Fixierung auf die einschlägigen ästhetischen Vermögen Geschmack, Einbildungskraft, Witz und Dichtungskraft. Als eine Theorieform, der es im Kern um eine positive Neubewertung der Erlebnis- und Bedeutungsdimensionen der menschlichen Sinneserfahrung geht, tritt die vorkantische Theorieperiode in der Ästhetik gleichsam als Beschleuniger jenes anthropologischen Paradigmawechsels auf, an dem sie als philosophische Reflexion der Sinnlichkeit und seiner ästhetischen Potentiale selbst partizipiert. Der für das aufgeklärte Denken charakteristische Anspruch auf eine der Vollkommenheitsidee gemäße Konzeption menschlicher Wahrnehmungs- und Tätigkeitsleistungen wird im anthropologischen Begründungszusammenhang indes weder entscheidend relativiert noch gar verabschiedet. Als konstitutiver Leitgedanke der ästhetischen Theoriebildung – Vollkommenheit besitzt „ästhetische Kraft [und ist] folglich ein Gegenstand der schönen Künste“10 – fungiert der Vollkommenheitsbegriff vielmehr als Äquivalent von Schönheit: gebunden an den prinzipiellen Anspruch, die ästhetischen Potentiale der sinnlich bestimmten Leistungen und Vermögen (inbegriffen ‚Reiz‘ und ‚Rührung‘) als den anthropologischen Voraussetzungen gemäße zu konzipieren.11 Der sachliche Nexus der philosophischen Begründungsformen anthropologischer und ästhetischer Provenienz wird erstmals in Alexander Gottlieb Baumgartens philosophischem Entwurf einer disziplinären Ästhetik (Aesthetica, 1750/1758) systematisiert, um sich in den folgenden Dezennien zu einem integrativen,12 transdisziplinär artikulierten Konzept13 eines philosophisch fundierten anthropolo9
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Vgl. Johann Jacob Bodmer: Brief-Wechsel von der Natur des Poetischen Geschmackes. Dazu kömmt eine Untersuchung Wie ferne das Erhabene im Trauerspiele Statt und Platz haben könne; Wie auch von der Poetischen Gerechtigkeit. Zürich 1736, S. 1f. Johann Georg Sulzer: Art. Vollkommenheit (Schöne Künste), in: ders.: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einanderfolgenden Artikeln abgehandelt. Bd. 4, Leipzig ²1794, S. 688–689, hier S. 689. Für die frühe Geschichtsschreibung der Ästhetik fällt die Genesis der theoretisch-philosophischen Ästhetik zwischen Baumgarten und dem Ende des 18. Jahrhunderts mit einer Entwicklung vom Prinzip der Vollkommenheit (Wolffsche Schule) über Herders „Humanitätsprinzip“ bis hin zum „Princip der Sentimentalität“ (Popularphilosophen bis hin zu K. H. Heydenreich) zusammen, vgl. Johann Gottfried Gruber: Ueber den Geist und die Tendenz der neueren Aesthetik, in: Neue Leipziger Literaturzeitung, Vierter Band. October. November. December. Leipzig 1804, 144.–145. St., Sp. 2289–2318, hier Sp. 2289. Was sich für Kant als Widerstand gegen den ästhetischen Sensualismus (à la Burke) und gegen den ästhetischen Rationalismus (à la Baumgarten) gestaltet, bildet für die Vertreter der hier benannten Richtung ästhetischer Theorie das Projekt einer Synthesebildung beider Begründungsweisen (vgl. Hartmann: Die deutsche Ästhetik, S. 2ff.). Zum Konzeptbegriff der „Transdisziplinarität“ als methodischer Variante eines interdisziplinären Wissenschaftsverständnisses, dem es um die „Einheit der wissenschaftlichen Rationalität, nicht der wissenschaftlichen Systeme“ geht, siehe Jürgen Mittelstraß: Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie. Frankfurt/M. 1989, S. 72–77, hier S. 77; vgl. auch unsere Ausführungen in Abschnitt II.1.
gisch-ästhetischen Begründungszusammenhangs auszuweiten und sich bis hin zu den Autoren der sogenannten ‚zweiten‘ und ‚dritten‘ Reihe gezielt zu konsolidieren14 – ein Prozess, der erst durch Kants transzendentalphilosophischen Neuansatz und die idealistisch-kunstphilosophische Aufladung der Ästhetik am Jahrhundertende zum Stillstand kommt.15 Im unmittelbaren Anschluss also an ihre Begründung als philosophische Disziplin des sinnlichen Erkennens (scientia cognitionis sensitivae)16 durch Baumgarten progrediert die Ästhetiktheorie in der deutschen Spätaufklärung zu einer philosophischen Reflexion der empirisch bestimmten Voraussetzungen ästhetischer Erfassungsleistungen. Dem anthropologisch charakterisierten Subjekt im Allgemeinen und dem wahrnehmenden und empfindenden Subjekt im Besonderen gilt die theoretische Aufmerksamkeit; auf dem Verständnis der integrativen Gesamtheit seiner psychophysischen Vermögensdispositionen und -leistungen soll das Verständnis des Schönen elementar gegründet sein. Noch die Geschichtsschreibung der Ästhetik zu Beginn des 19. Jahrhundert sollte in diesem Umbau des von Baumgarten inaugurierten Ästhetikbegriffs, der die Konzeption des Schönen der Tendenz nach 14
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Für den periodisierungsgeschichtlich zu Recht vielstrapazierten Zäsurbereich ‚um 1750‘, der kürzlich zur „Sattelzeit“ (R. Koselleck) der „psychologisch-anthropologischen“ Konzepte der Moderne erhöht wurde – vgl. Wolfgang Riedel: Erster Psychologismus. Umbau des Seelenbegriffs in der deutschen Spätaufklärung, in: Jörn Garber, Heinz Thoma (Hg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung. Anthropologie im 18. Jahrhundert. Tübingen 2004, S. 1– 18, hier S. 2 – liegen im Breitenspektrum der älteren wie der aktuellen Forschung annähernd identische Merkmalsbestimmungen bezüglich der zeitgenössischen Entwicklungstendenzen (Empirisierung, Rückbau der schulphilosophischen Begründungsformen in popularphilosophischen Wissensforen und Begründungszugängen, Fundamentalstellung von Erfahrungspsychologie und Anthropologie etc.) vor. Vgl. einschlägig: Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977; Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: IASL, Sonderh. 6, Folge 3, Tübingen 1994, S. 93–157. Wie kaum verwundert, verdanken moderne Sondierungen der Problem- und Entwicklungsfelder des späten 18. Jahrhunderts namentlich der zeitgenössischen Psychologie und Psychologiehistorie aufschlussreiche Einsichten (vgl. beispielhaft Friedrich August Carus: Geschichte der Psychologie. Leipzig 1808. Eingeleitet von Rolf Jeschonnek. Reprintausgabe. Berlin 1990, S. 653f.). Die theoriegeschichtliche Scheidemarke wird im wesentlichen durch die Statusänderung der Sinnlichkeit für Ästhetik als Wissenschaft bestimmt und tritt sowohl in Kants Dichotomisierung der anthropologisch verfassten Ästhetik in spekulative Geschmackswissenschaft (Kritik der Urteilskraft) einerseits, transzendentalphilosophische Erkenntnislehre (Kritik der reinen Vernunft) andererseits zutage, als auch etwa in Schellings oder Bouterweks Reformulierungen einer philosophischen Ästhetik auf idealistischer Basis (vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst [1802], in: Schellings Werke. Hg. v. Manfred Schröter. Bd. 3. München 1927; Friedrich Bouterwek: Ideen zur Metaphysik des Schönen in vier Abhandlungen. Eine Zugabe zur Aesthetik. Leipzig 1807). Zur Periodisierung des Theoriefelds der Aufklärungsästhetik über die Differenz von ‚vorkantischer‘ (psychologischer, anthropologischer) Ästhetik und transzendentaler Ästhetik (Kant) vgl. prägnant Dieter Kliche: Ästhetik und Aisthesis. Zur Begriffs- und Problemgeschichte des Ästhetischen, in: Weimarer Beiträge 44 (1998), H. 4, S. 485–505, hier S. 495–499. Alexander Gottlieb Baumgarten: Texte zur Grundlegung der Ästhetik. Hg. v. Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1983, S. 79.
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von der Gnoseologie weg- und zur Psychologie und Anthropologie hinführen sollte, eine epochale Begründungsleistung sehen und den kulturgeschichtlichen Einfluss namentlich der sogenannten Popularästhetiker anerkennen, – um das Verdienst dieses Typus ästhetischer Theorie für die philosophische Ästhetik Wissenschaft allerdings zugleich einzuschränken.17 Die Prädominanz der anthropologischen Beobachtungen und Untersuchungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so notierte rückblickend der erste Historiker der philosophischen Ästhetik J. G. Gruber, habe die Ästhetik zu einem „besondere[n] Abschnitt der Anthropologie“ erklärt, welche „uns auch über die Natur des Schönen das Verständniß eröfnen sollte“ und „das Schöne vor ein eignes Tribunal gezogen“ habe, das es gegenüber den Ansprüchen der Logik erstmals und erfolgreich autonomisierte. „Eigentlich“ sei dadurch indes „doch mehr die Psychologie bereichert, als eine Philosophie des Schönen [...] aufgestellt“ worden – die vorkantische Ästhetik firmiere mithin allenfalls als deren Propädeutik.18 Im historischen Abstand betrachtet erscheinen diese Einschätzungen weder als Verkennung der historischen Sachlage noch als polemisch motivierte Gegenpositionierung. Sie machen vielmehr auf die Grundprobleme aufmerksam, die sich einstellen, wenn die ästhetische Theorie Teilfunktionen der Anthropologie übernimmt, um die Eigenart des Ästhetischen und seiner Phänomene zu definieren, d.h. wenn sie eine Erklärung des Ästhetischen ‚von unten‘ her (durch anthropologisch allgemeine Beschreibungen der Wahrnehmungs- und Erkenntnispotentiale der menschlichen Sinnlichkeit) anstrebt – anstatt durch eine das empirisch-sinnliche Subjekt überwiegend vernachlässigende Metaphysik oder Ontologie des Schönen. Die systematischen Untersuchungskomplexe, die sich aus diesen Befunden der historischen Theoriesituation von anthropologischer und ästhetischer Wissenschaft im 18. Jahrhundert abzeichnen, sind entsprechend außerordentlich spannungsreich und bedürfen neben der Situierung im Forschungskontext von Psychologiehistorie, Ästhetikhistoriographie und germanistischer Anthropologieforschung einer genaueren Verortung im historischen Theoriefeld.19 An drei Bereichen, die in diesem 17
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Vgl. Hartmann: Deutsche Ästhetik, Vorwort zum ersten Theil, S. VII. Hartmann spricht den „ersten Anläufe[n] zur ästhetischen Selbstbesinnung“ durch die „Popularästhetiker“ des späten 18. Jahrhunderts einen vorwiegend „kulturgeschichtliche[n]“ Rang zu; die „principielle“ Bedeutung für die Entwicklung der wissenschaftlichen Ästhetik setze hingegen erst mit Kant – als dem „Begründer der modernen Ästhetik“ – ein (vgl. ebd.: Die geschichtliche Entwickelung der ästhetischen Principienlehre, S. 1). [Anonymos]: Art. „Aesthetik“, in: Johann Gottfried Gruber: Wörterbuch zum Behuf der Aesthetik, der schönen Künste, deren Theorie und Geschichte, und Archäologie. Ersten Theiles Erster Band [m.n.e.]. Weimar 1810, Art. „Aesthetik“, S. 114–122, hier S. 118 (Hervorh. E.S.). Das Referat der einschlägigen Forschungsliteratur wird jeweils in den einzelnen Abschnitten geführt. Gleichwohl ist an dieser Stelle zu konstatieren, dass seit Martinos Studie zur DubosRezeption in der deutschsprachigen Aufklärungsästhetik (vgl. Alberto Martino: Geschichte der dramatischen Theorien in Deutschland im 18. Jahrhundert. Bd. 1: Die Dramaturgie der Aufklärung (1730–1770). Tübingen 1972), Sauders wegweisender Untersuchung zum interdisziplinären Kommerz von Psychologie, Anthropologie und Ästhetik in der deutschen Spätaufklä-
Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit verdienen, gilt es zunächst, die für Auswahl und Interpretationsaspekte der Untersuchung maßgeblichen Gesichtspunkte zu veranschaulichen: a) Anthropologische Ästhetik; b) Anthropologie und Ästhetik der Emotionen; c) Ästhetik als Aisthesis. a) Anthropologische Ästhetik Anthropologisch begründete Theorien des ästhetischen Wissens im 18. Jahrhundert, so die leitende These anschließender Untersuchungen, partizipieren am anthropologischen Paradigma des Wissens, und sie sind zugleich selbst ein bedeutsames diskursives Element der anthropologischen Wissensbildung.20 Wie in der zeitgenössischen Seelenlehre und Menschenkunde, geht es im Wissenschaftsdiskurs der Ästhetik um die Gewinnung eines erfahrungs- und beobachtungsgestützten Wissens von den leibseelischen Gegebenheiten menschlicher Natur und um deren gesetzmäßiges Erfassen im Begründungshorizont einer empiristisch verfassten „Lehre für Menschen“.21 In ästhetischen Theorien bildet sich entsprechend
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rung (vgl. Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974) sowie Gleissners Rekonstruktion des Verhältnisses von Aufklärungsästhetik und -anthropologie in ästhetischer, philosophischer und theologischer Dimensionierung (vgl. Roman Gleissner: Die Entstehung der ästhetischen Humanitätsidee in Deutschland. Stuttgart 1988), von pointierenden Überblicken abgesehen keine einlässlichen Untersuchungen zum interdisziplinären Zusammenwirken der spätaufklärerischen Textgattungen Psychologie, Anthropologie und Ästhetik erschienen sind (vgl. Kliche: Ästhetik und Aisthesis; Brigitte Scheer: Art. „Gefühl“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. [Sigle: ÄGB] Bd. 2, Stuttgart / Weimar 2001, S. 629–660). Während die autorenübergreifenden Zusammenhänge der ästhetischen Diskussion im 18. Jahrhundert nach wie vor über die Geschmacksdebatte rekonstruiert werden (vgl. Wilhelm Amann: „Die stille Arbeit des Geschmacks“. Die Kategorie des Geschmacks in der Ästhetik Schillers und in den Debatten der Aufklärung. Würzburg 1999), ist in den neueren Untersuchungen zur wissenschaftlichen Aufklärungsanthropologie der thematische Zusammenhang mit der Ästhetik zugunsten erkenntnistheoretischer und psychophysiologischer Fragestellungen nahezu vollständig ausgeblendet worden (vgl. Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin, New York 2003). Noch die philosophische Enzyklopädik um 1800 rechnet die Ästhetik der späten Aufklärung zu den „anthropologischen Wissenschaften im engern Sinne“ (vgl. Wilhelm Traugott Krug: Versuch einer Systematischen Enzyklopädie der Wissenschaften. Erster Theil. Wittenberg und Leipzig 1796, S. 7). Krug lässt in seiner Wissenschaftsenzyklopädie die philosophische Ästhetik der Aufklärung – zusammen mit der zeitgenössischen psychophysischen Anthropologie, Physiognomik, angewandten Logik, Moral und Pädagogik – unter diesem Sammelbegriff firmieren. Dieselben, so Krug, „beziehen sich auf den einzelnen für sich bestehenden Menschen, als ein vernünftiges Sinnenwesen, und betrachten ihn also nach allen seinen empirischen Vermögen, Anlagen und Bestimmungen“ (ebd., S. 7). „Die Ästhetik ist daher unstreitig eine empirisch-razionale Wissenschaft, und bekommt wegen ihrer genauen Beziehung auf den Menschen und dessen Gemüthsvermögen, insonderheit die sinnlichen, am schicklichsten hier ihren Platz“ (ebd., S. 20). Carus: Geschichte der Psychologie, S. 692. Die spätaufklärerische Erfahrungspsychologie ist, dieser Sachverhalt prädestiniert sie zur fundamentalen Bezugswissenschaft der Ästhetik, Commercium-Wissenschaft – Diskurs des wechselseitigen psychophysischen Bedingungszusammenhangs und der Möglichkeiten seiner Beeinflussung. Vgl. hierzu grundlegend: Raimund Bezold: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz. Würz-
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ab, was durch den systematischen Rekurs auf die „Bedürfnisse und Fähigkeiten der menschlichen Natur“22 angestrengt wird und für den wissenschaftlichen Diskurs der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts paradigmatische Geltung besitzt: die Relativierung der rationalistischen Vorbehalte gegenüber der Sinnlichkeit, verbunden mit grundsätzlichen Geltungseinschränkungen der traditionell hoheitlichen Erkenntnisvermögen Verstand und Vernunft. Folgerichtig gehört die Wissensbildung im ästhetischen Theoriefeld mit zu den entscheidenden Faktoren jenes Entwicklungsprozesses, in dessen Verlauf es in den letzten Dezennien des 18. Jahrhunderts zur nachhaltigen Überbrückung traditioneller Hiate innerhalb der philosophischen Wissenschaftszweige kommt: des Hiatus zwischen Erfahrungswissen und spekulativen Ausgriffen auf metaphysisch Mögliches („Psychologia empirica“ versus „Psychologia rationalis“),23 zwischen rational-begrifflichen und sensitiv-aisthetischen Erkenntnisformen („Logik“ versus „Ästhetik“),24 zwischen Leibsphäre und Seelengesetzlichkeit („Anthropologia physica“ versus „Anthropologia moralis“),25 zwischen Prinzipienphilosophie und Weltweisheit als Reflexionsform der Lebenswelt („Philosophie der Schule“ versus „Popularphilosophie“).26 Im Medium anthropologischer Theorien des Ästhetischen formiert sich mithin Aufklärung über die Natur des Menschen, ästhetische Reflexion avanciert zur anthropologischen Wissenschaft. Sowohl die federführenden als auch die weniger namhaften Autoren der deutschen Spätaufklärung bilanzieren ästhetische Theorie denn auch als diskursiven Kernbestandteil einer am ganzen Menschen orientierten Aufklärungsbemühung. Ästhetik gilt als „schwere[r] Theil der Anthropologie, der Menschenkänntniß“.27
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burg 1984. Zur neueren Historiographie der Aufklärungspsychologie im Spannungsfeld von rationalistischer Tradition und natur- und geisteswissenschaftlichem Empirisierungsschub siehe Roland Galle: Entstehung der Psychologie, in: Horst Albert Glaser, György M. Vajda (Hg.): Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760–1820. Epoche im Überblick. Amsterdam 2001, S. 313–335, hier S. 328–334; Riedel: Erster Psychologismus, S. 6–11. Carus: Geschichte der Psychologie, S. 654. Vgl. Hans-Jürgen Engfer: Von der Leibnizschen Monadologie zur empirischen Psychologie Wolffs, in: Christian Wolff: Gesammelte Werke. Hg. v. Jean Ecole u.a. Abt. 3. Materialien und Dokumente. Bd. 31, Hildesheim u.a. 1992, S. 193–215. Vgl. grundlegend: Horst-Michael Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung. Leibniz, Wolff, Gottsched, Bodmer und Breitinger, Baumgarten. München 1982. Neben Raimund Bezold: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde, vgl. neuerdings Lothar von Laak: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 2003. Vgl. jetzt: Christoph Böhr: Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003. Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder. Oder Betrachtungen über die Wißenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen, über Riedels Theorie der schönen Künste, in: Herders Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Bd. 4, Berlin 1878, S. 1–198, hier S. 15. Mendelssohn schließt sich in der Sache dieser Hochschätzung des ästhetischen Wissens an, wenn er demselben dezidiert anthropologischen Erkenntniswert zuerkennt: „In den Regeln der Schönheit [...] liegen die tiefsten Geheimnisse unserer Seele verborgen. Jede Regel der Schönheit ist
Mit diesen Bestimmungen verbindet sich eine für die ästhetische Theorie dieses Zeitraums charakteristische Forderung, die in vorliegender Untersuchung als der inhaltliche Kern für den Modellbegriff einer ‚anthropologischen Ästhetik‘ gefasst wird: Die Forderung nach einer gezielten Akkumulation und Differenzierung des erfahrungsgestützten Wissens über den Menschen auf ästhetischem Wege.28 Theorien des ästhetischen Wissens, wie sie das Quellenmaterial des 18. Jahrhunderts reichhaltig entfaltet, lassen sich in diesem Verständnis als Beitrag zur theoretischen Erfassung, Erweiterung und Differenzierung des Wissens vom Menschen interpretieren.29 Dabei handelt es sich im Rahmen der empiristischen Grundorientierung ästhetischer Theorie darum, einen integrativen Erfassungs- und Komplexitätsanspruch geltend zu machen, der auf eine paritätische Berücksichtigung von sinnlicher und vernünftiger Natur des Menschen zielt. In diesem Verständnis ordnet sich die ästhetische Theorie dem szientifischen Profil der zeitgenössischen empirischen Anthropologie (Psychologie) und Erkenntnistheorie (Philosophie) zu, die einer Vervollkommnung des ganzen Menschen zuarbeiten und darauf zielen, die traditionellen Hierarchien zwischen Erkenntnis- und Empfindungskräften der menschlichen Seele, zwischen Kognition und Emotion, zwischen abstrahierender Objektivität und individualisierender Subjektivität wenn nicht zu demontieren, so doch in grundlegender Weise zu entschärfen.30
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zugleich eine Entdeckung in der Seelenlehre.“ Moses Mendelssohn: Ueber die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften, in: ders.: Ästhetische Schriften in Auswahl. Hg. v. Otto F. Best. Darmstadt 1994, S. 173–198, hier S. 173. Die subjektphilosophischen Implikationen des skizzierten Zusammenhangs für die Ästhetik des 18. Jahrhunderts hatte explizit erstmals Cassirer – unter dem Stichwort der „Wendung zum Subjektivismus“ – formuliert: An die Stelle der „natura rerum, an der der ästhetische Objektivismus [des Klassizismus, E.S.] sich orientierte [...], ist die Natur des Menschen getreten: jene Natur, auf die auch die gleichzeitige Psychologie und Erkenntnislehre überall ausgeht, und in der sie den Schlüssel zu jenen Problemen sucht, deren Lösung die Metaphysik versprochen, aber niemals geleistet hatte. Wenn irgendwo, so muß diese Art der Fragestellung sich im Gebiete der Ästhetik bewähren: denn das Ästhetische ist seinem Wesen nach ein rein menschliches Phänomen. [...] Hier kann es keine logische oder metaphysische, sondern nur eine strenganthropologische Lösung geben.“ (Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung [11932]. Hamburg 1998, S. 398f.). Vgl. etwa Johann August Eberhard: Theorie der schönen Wissenschaften [Sigle: TSW II]. Zum Gebrauche seiner Vorlesungen. Zweyte verbesserte Auflage. Halle 1786, „Vorbericht zu der neuen Ausgabe“ S. XIV: „Die Gründe solcher [ästhetischen, E.S.] Erscheinungen in den Tiefen der Seele aufzusuchen und sie da in den bekanntesten und allgemeinsten Gesetzen ihrer Kräfte zu finden, würde erst die Aesthetik für die Kenntniß des Menschen recht interessant machen. Ich habe mir angelegen seyn lassen, ihr, so oft ich gekonnt habe, diesen Nutzen zu verschaffen [...]“ (Hervorh. E.S.). Ausrichtung am Modell des „ganzen Menschen“ heisst in ästhetischer Theorie also nicht nur Untersuchung des „Leib-Seele-Problems“, wie gelegentlich konstatiert wurde (vgl. Zelle: Sinnlichkeit und Therapie, S. 5, Anm. 1). Campes anthropologisches Credo von der „Unzertrennlichkeit der höchstmöglichen Vollkommenheit des Verstandes und des Herzens“ – unter der Voraussetzung einer „verhältnißmäßige[n] Cultur“ der „Hauptvermögen unserer Seele“ inbegriffen ihrer „verhältnißmäßigen Uebung“ – ist programmatischer Kernbestandteil von Psychologie, Anthropologie und Ästhetik im späten 18. Jahrhundert (vgl. Joachim Heinrich Campe: Die Empfindungs- und Erkenntnißkraft der menschlichen Seele. Die erstere nach ihren
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Herders zitierte Formel von der Ästhetik als unverzichtbarem Wissenssegment der Menschenkunde verweist jedoch nicht nur in eine Richtung des Verständnisses anthropologischer Ästhetik in der Spätaufklärung, die es in den folgenden Untersuchungen zu charakterisieren gilt. Mit ihr ist zugleich jene andere Seite des anthropologischen Wissens vom Ästhetischen angesprochen, die – zumal für die Theoretiker des Schönen von Baumgarten über Kant – maßgeblich und verbindlich wurde, und an dem sich die Kritik entzündete, um – seit Kant – die theoriegeschichtliche Relevanz dieses Typus ästhetischer Theorie fundamental in Abrede zu stellen.31 Gemeint ist die ästhetische Begründungsfunktion des anthropologischen Wissens. Denn seine theoriegeschichtliche Relevanz wie seine programmatischen Konturen gewinnt der skizzierte Typus ästhetischer Theorie, so einer der Leitgedanken des Folgenden, aus dem anthropologischen Begründungscharakter der ästhetischen Theorie selbst. Anthropologische Ästhetiken setzen ein wechselseitiges Begründungsverhältnis zwischen aisthetischer Vermögenstheorie (Aufklärung über die Sinnennatur des Subjekts) und ästhetischer Schönheitstheorie (Reflexion des (Kunst-)Schönen) voraus. In der Konsequenz dieses Ansatzes avanciert die empirische Vermögensnatur des Menschen zur Normgröße der ästhetischen Gesetzgebung.32 Den Geltungsausweis einer derart konstituierten ästhetischen
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Gesetzen, beyde nach ihren ursprünglichen Bestimmungen, nach ihrem gegenseitigen Einflusse auf einander und nach ihren Beziehungen auf Charakter und Genie betrachtet. Leipzig 1776, S. 196): „Wollen wir also den Absichten der Natur entsprechen; wollen wir uns zu dem höchsten Gipfel der uns zum Ziel gesetzten Vollkommenheit schwingen: so müssen wir das schwesterliche Band, wodurch unsere Seelenkräfte, zum Besten unsers ganzen Wesens, so inniglich verbunden sind, zu erhalten und zu verstärken suchen.“ (vgl. auch ebd., S. 117f., S. 204). Annähernd zeitgleich formuliert Goethe in anders geartetem Zusammenhang (als Charakteristik Hamanns) den nämlichen Sachverhalt als ‚anthropologisches Prinzip‘: „Alles, was der Mensch zu leisten unternimmt, es werde nun durch Tat oder Wort oder sonst hervorgebracht, muß aus sämtlichen vereinigten Kräften entspringen; alles Vereinzelte ist verwerflich.“ Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: ders.: Werke (Hamburger Ausgabe). Bd. 9, Hamburg 1974, S. 514f. Kants berühmtes Diktum über die Ästhetik des Baumgartenschen Typus in der Fußnote seiner Kritik der reinen Vernunft, das den von Baumgarten erstmals etablierten Wissenschaftsnamen der Ästhetik „wiederum eingehen zu lassen“ vorschlägt, lautet: „Die Deutschen sind die einzigen, welche sich jetzt des Worts Ästhetik bedienen, um dadurch das zu bezeichnen, was andre Kritik des Geschmacks heißen. Es liegt hier eine verfehlte Hoffnung zum Grunde, die der vortreffliche Analyst Baumgarten faßte, die kritische Beurtheilung des Schönen unter Vernunftprincipien zu bringen und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben. Allein diese Bemühung ist vergeblich. Denn gedachte Regeln oder Kriterien sind ihren vornehmsten Quellen nach bloß empirisch und können also niemals zu bestimmten Gesetzen a priori dienen, wornach sich unser Geschmacksurteil richten müßte; vielmehr macht das letztere den eigentlichen Probirstein der Richtigkeit der ersteren aus.“ Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft [Sigle: KrV], in: ders.: Die Kritiken. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 3, Frankfurt/M. 1997, § 1, S. 70, Anm. (B 36). Darin liegt ein Kontinuitätsmoment zur philosophischen Poetik der mittleren Aufklärung, wie das Beispiel J. J. Bodmers zeigt: Die Regeln des poetischen Geschmacks, so der Schweizer im Rahmen einer ästhetischen Grundsatzdebatte, müssen „biß auf ihre kleinesten Theile unter allgemeine in der Natur des Menschen und der Dinge gegründete Haupt- und Grundsätze [...] ge-
Wissenschaft bildet seit Baumgartens Ästhetik bis hin zu Kant, dass die Prinzipien des Schönen „ihre Wurzel in der menschlichen Natur [haben] und durch Grundsätze bestimmt [werden], die für alle Menschen gelten.“33 Die Wende zur empirischen Natur des Menschen, zu seinen natürlich gegebenen Ausstattungsmerkmalen unter dem Gesichtspunkt ihrer ästhetischen Relevanz und Funktionalität, bildet demgemäß den entscheidenden Schritt zum Verständnis des ästhetischen Subjekts und seines „Lebensgefühls“.34 Entsprechend ist die ästhetiktheoretische Grundfrage: Was das Schöne sei, im hier fokussierten Theoriefeld stets identisch mit der Frage nach den anthropologischen Voraussetzungen der Erfahrung dieses Schön-
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bracht werden [...]“. Vgl. Johann Jacob Bodmer: Brief-Wechsel Von der Natur des Poetischen Geschmackes. Dazu kömmt eine Untersuchung Wie ferne das Erhabene im Trauerspiele Statt und Platz haben könne; Wie auch von der Poetischen Gerechtigkeit. Zürich 1736. Reprint Stuttgart 1966, S. 1. Einsichten wie diese entwickeln sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts disziplinübergreifend zum Gemeingut des literarästhetischen Diskurses, wobei sich die anthropologischen Begründungsinteressen nicht selten auf den ästhetischen und ethischen Geltungsbereich gleichermaßen beziehen. So hält etwa J. F. Zöllner prägnant fest: „Schon dies allein, daß das Lehrgebäude der Moral, wenn sie etwas mehr als hochtönendes Geschwätz seyn soll, auf keinem andern Grundstein ruhen kann, als auf der Kenntniß des Menschen, müßte uns das eifrigste Bestreben nach ihr einflößen; aber dies Bestreben muß noch einen neuen Reiz erhalten, wenn wir nicht bloß die Regeln des Guten, sondern auch die Regeln des Schönen von ihr allein herleiten können. Man hat es sehr früh versucht, für Kritik und Ästhetik sichre Prinzipien vestzusetzen; aber man wußte nicht, aus welcher Quelle sie geschöpft werden müßten. [...] Neuere Kritiker […] sahn diesen Mangel und entdeckten seinen Grund. Sie begnügten sich nicht mehr damit, aus den Werken der Classiker die Regeln des Schönen zu ziehn und dann erst ihren Grund in den Tiefen des menschlichen Herzens zu erforschen, sie gingen bis zur ersten Quelle zurück, und von hier geschöpft konnten sie unwandelbar vestgesetzt werden, wie die unabänderlichen Gesetze unsers Empfindens.“ In: Johann Friedrich Zöllner; J. S. Lange (Hg.): Wöchentliche Unterhaltungen über die Charakteristik der Menschheit. Als eine Fortsetzung der Wöchentlichen Unterhaltungen über die Erde und ihre Bewohner. Erster Band. Berlin 1789, S. 18f., Hervorh. E.S. Henry Home [=Lord Kames]: Grundsätze der Kritik in drey Theilen. Aus dem Englischen übers. Erster Teil. Leipzig 1763, Einleitung, S. 8. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: ders.: Die Kritiken. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Bd. 10, Frankfurt/M. 1997 [Sigle: KdU], § 1, S. 115: Im ästhetischen Urteil „wird die Vorstellung gänzlich auf das Subjekt, und zwar auf das Lebensgefühl desselben, unter dem Namen des Gefühls der Lust oder Unlust, bezogen […].“ Es ist die Sinnennatur des ästhetischen Subjekts, aus der heraus die anthropologische Ästhetik die ästhetische Subjektivität reflektiert – ein Sachverhalt, auf den bereits die Ästhetikhistoriographie um 1800 im philosophiehistorischen Rückblick auf die vorkantische Ästhetik als „Anfangspunkt der subjectiven Aesthetik“ aufmerksam machte: Die „grosse Reform“ der rationalistischen Philosophie respektive Ästhetik, so J. G. Gruber, der erste Geschichtsschreiber der philosophischen Ästhetik als Disziplin, sei aus dem innigsten Zusammenhang mit dem Empirisierungsprozess erwachsen, den Locke zuerst in der philosophischen Erkenntnistheorie initiiert habe. Indem er „zuerst uns belehrt [hat], dass wir die Welt nicht so erkennen, wie sie ist, sondern nur wie sie unsre Organe afficirt. [...] Von nun an war die Frage weniger nach den Gegenständen selbst, als nach unsern Vermögen dieselben aufzufassen. In der Aesthetik namentlich musste die Frage entstehen: welche Organe und Kräfte hat der Mensch, mittelst deren er die Schönheit der Objecte percipiren kann?“ Johann Gottfried Gruber: Revision der Aesthetik in den letzten Decennien des verflossenen Jahrhunderts, in: Revision der Literatur in den drey letzten Quinquennien des achtzehnten Jahrhunderts in Ergänzungsblättern zur Allgemeinen Literatur-Zeitung dieses Zeitraums. 5. Jahrgang. Zweyter Band. Halle und Leipzig 1805, Sp. 65–124, hier Sp. 74.
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en – im Element des ästhetischen Wahrnehmens und Erlebens, der ästhetischen Lust-Unlust-Erfahrung, der ästhetischen Emotionen.35 Beide Aspekte der Redeweise von ‚anthropologischer Ästhetik‘ also: der philosophische Anspruch, die ästhetisch relevanten Prädispositionen des Subjekts anthropologisch, d.h. im Rekurs auf die empirische Natur des Menschen in ihrer Vollständigkeit zu untersetzen und der nicht minder philosophische Anspruch, den Erfahrungsraum des Ästhetischen als einen Geltungsbereich sui generis zu begründen und systematisch abzubilden, gehören zum Charakteristikum des empiristischen Wissenschaftsprogramms anthropologisch begründeter Ästhetik und heben diese theoriegeschichtlich von der transzendentalen Ästhetik (Kant) einerseits und von der ‚kallistischen‘ Ästhetik als Philosophie der Idee des Schönen (Hegel) andererseits theoriegeschichtlich markant ab.36 b) Anthropologie und Ästhetik der Emotionen Dieses verbindende Element von anthropologischer und ästhetischer Wissensbildung an der komplexen Vermögensnatur des Menschen orientiert und von erfahrungswissenschaftlich artikulierten Zugangsweisen ausgehend die Eigenart des Ästhetischen theoretisch erfassen zu wollen, bildet die Voraussetzung für einen Prozess im Innern dieser anthropologisch-ästhetischen Theoriebildung, der in vorliegender Untersuchung als emotionalistischer Paradigmawechsel begriffen und am Gegenstand philosophisch-erkenntnistheoretischer, psychologischer und kunsttheoretischer Quellentexte zwischen französischer Frühaufklärung und deutscher Spätaufklärung rekonstruiert wird. Mit der Einsetzung der Kategorie der Emotionen als Schlüsselbegriff der ästhetisch relevanten Wahrnehmungs- und Erfassungskapazitäten – als Erfahrungsbereich sinnengeleiteten Lust-Unlust-Erlebens sui generis – so die hier unter entwicklungsgeschichtlichen Aspekten verfolgte These, setzt die vorkantische Ästhetik den seit 1750 beschleunigten Erfahrungswandel für das begriffliche Neuverständnis dessen um, was in der Sprache der gegenwärtigen Dis-
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Im weitesten Sinn handelt es sich also um Einsichten in die Frühgeschichte der Gefühlsästhetik, die in Kant bekanntlich nicht ihren Gegenspieler, sondern, so wollte es bereits die ältere Geschichtsschreibung der Ästhetik, ihren ersten berufenen Theoretiker hat. Vgl. etwa Hartmann: Deutsche Ästhetik („Kant als Gefühlsästhetiker“), S. 16–20. Zu Kants Programm einer transzendentalen Ästhetik im Unterschied zur Ästhetik als „Kritik des Geschmacks“ bzw. „in psychologischer Bedeutung“ vgl. Kant: KrV, § 1, S. 70f. und Anm., ebd., S. 70. Kant weist den im Deutschen verbreiteten Gebrauch des Worts „Ästhetik“ im Sinn von „Kritik des Geschmacks“ zurück, insofern hier „eine verfehlte Hoffnung zum Grunde [liegt], [...] die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien zu bringen, und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben.“ Eine „Wissenschaft von allen Prinzipien der Sinnlichkeit a priori“ hingegen definiert Kant als die „transzendentale Ästhetik“. In ihr „werden wir zuerst die Sinnlichkeit isolieren, dadurch, daß wir alles absondern, was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt, damit nichts als empirische Anschauung übrig bleibe.“ Zum Begründungskontext von Ästhetik um 1800 vgl. den einschlägigen Sammelband: Walter Jaeschke (Hg.): Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795–1805). Mit Texten von Humboldt, Jacobi, Novalis, Schelling, Schlegel u.a. und Kommentar. Hamburg 1999.
kussion unter dem Titel der ‚Eigenbedeutsamkeit des Ästhetischen‘ firmiert.37 Dieser historische Prozess der inneren Umbildung des ästhetischen Denkens bedeutet im Kern, dass sowohl die Theorie der schönen Künste als auch das Verständnis der diversen subjektiven ästhetischen Erfahrungsweisen (die Zustände des Subjekts als ästhetisch genießendes) konsequent an die „Untersuchung der ersten Gründe ästhetischer Empfindungen“ zurückgebunden werden.38 Ästhetische Grundsatzphilosophie wird tendenziell identisch mit einer anthropologischen Grundlagentheorie, die vorzüglich die affektiv-emotionale Natur der menschlichen Seele in den Blick nimmt. Charakteristisch für die diesbezüglichen ästhetischen Debatten ist die mit ihrem anthropologischen Begründungsmoment befestigte Orientierung an den sinnlichleiblichen Dimensionen von Wahrnehmungsprozessen, aus der im Verlauf der Diskussion allmählich die Autonomisierung der emotionsbasierten Leistungen des Psychischen gegenüber den Erkenntnisleistungen respektive den Vorstellungen erwächst. Aus dem Augenmerk auf die leiblichen Affizierungspotentiale von Emotionen, Gefühlen, Sentiments und mithin in erster Linie auf die Phänomene ästhetisch relevanter Rezeptivität gewinnt die ästhetische Theoriebildung Modelle der gesteigerten Selbstwahrnehmung, des ästhetischen Wahrnehmungserlebens.39 Im Medium des Gefühlsbegriffs emotionalistisch grundierter ästhetischer Reflexion erfolgen noch im Vorfeld der prinzipiellen Separierung des Ästhetischen vom Kognitiven durch Kants Ästhetik die begrifflichen Weichenstellungen für die Begründung der ästhetischen Anschauung und Erfahrung aus emotiven Vermögenskomplexen40 – die ästhetische Theorie der anthropologischen Spätaufklärung ist
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Hans Heinz Holz: Art. „Ästhetik“, in: Europäische Enzyklopädie zur Philosophie und Wissenschaften. Herausgegeben von Hans Jörg Sandkühler u.a. Bd. 1, Hamburg 1990, S. 53–70, hier S. 53. Karl Heinrich Heydenreich: System der Aesthetik. Erster Band. Leipzig 1790. Vorrede, S. XXVII. Zur anthropologieästhetischen Erstformulierung des ausgezeichneten Stellenwerts des „empfindenden Theile [sic!] der menschlichen Natur“ für die ästhetische Prinzipienbildung vgl. Home: Grundsätze I, S. 45f. Mit Blick auf die Leidenschaften, so formuliert Lessing bereits 1757 im Kontext einer ästhetischen Theorie der Illusion, sind wir uns „bey jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung, eines größern Grads unserer Realität bewußt“ – ein Bewusstsein, das „nicht anders als angenehm seyn kann“ und im Zustand der ästhetischen Erfahrung (Illusion) die Gegenstandserfahrung gegenüber der Selbsterfahrung zurückdrängt. Vgl. Gottholf Ephraim Lessing: Brief an Moses Mendelssohn [2. Februar 1757], in: Robert Petsch (Hg.): Lessings Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai über das Trauerspiel. Nebst verwandten Schriften Nicolais und Mendelssohns. Leipzig 1910, S. 98–102, hier S. 98f. Die Differenz zwischen den Begriffen Anschauung und Erfahrung kann für den hier betrachteten Typus ästhetischer Theoriebildung vernachlässigt werden, denn weder der Begriff der ästhetischen Anschauung noch der Begriff der ästhetischen Erfahrung, sondern der der Empfindung ist der Leitbegriff, mit dem dessen Vertreter die Merkmale und die Beziehungsverhältnisse zwischen Erkenntnis-, Empfindungs- und Anschauungsvollzügen thematisieren. Zur theoriegeschichtlich späteren Unterscheidung der genannten Leittermini (unter Zentralstellung des ‚Synthese‘-Begriffs der Anschauung) vgl. exemplarisch Max Schasler: Ästhetik. Grund-
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die eigentliche ‚Sattelzeit‘ des Gefühlsbegriffs für die moderne philosophische Ästhetik.41 Dem Bedürfnis, auf der Ebene der ästhetischen Theoriebildung die Differenzierung der Potentiale ästhetisch relevanter Sinnlichkeit voranzutreiben, korrespondiert dabei das Bemühen, von erkenntnistheoretischer Warte aus die Eigenschaftsmerkmale der konstitutionell bedingten, affektiv-emotional zurückgebundenen und rezeptiv bestimmten Wahrnehmung gegenüber den Vollzügen des Erkennens und der geistigen Spontaneität auszuzeichnen und die Spezifika der ästhetischen Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen in einem funktional komplexen ästhetischen Organon zu lokalisieren. Es kennzeichnet den Diskurs der Emotionen, des Affektiven im 18. Jahrhundert, dass diese Bemühungen im Kontext eines Vervollkommnungssstrebens konzeptualisiert werden, das den Belangen sowohl der theoretischen Anthropologie (der Selbsterkenntnis, Selbsterfahrung) als auch der praktischen Anthropologie (Selbstvervollkommung im sittlichen Handeln) Rechnung zu tragen sucht.42 Die Relevanz des Emotionsbegriffs und seiner Subkategorien für kulturhistorische Fragestellungen im Breitenspektrum geistes- wie naturwissenschaftlicher Disziplinen – das dokumentieren zudem beachtenswert die jüngsten Recherchen zum Konjunkturphänomen des Affektiven – ergibt sich nicht zuletzt aufgrund seiner semantischen Komplexität als anthropologisch-ästhetischer Zentralbegriff der Aufklärung.43 Emotionen verweisen im weitesten Sinn auf Aspekte des sinnen-
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züge der Wissenschaft des Schönen und der Kunst. Erster Teil: Die Welt des Schönen. Leipzig, Prag 1886, S. 5–8, bes. S. 7. Zum Konzept der „Sattelzeit“ als heuristischem Vorgriff auf einen Bedeutungswandel tradierter Begriffsbildungen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, die „zwar erläutert werden können, die aber auch unmittelbar verständlich zu sein scheinen“, siehe Reinhart Koselleck: Einleitung, in: Otto Brunner, Werner Conze, R. Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIII– XXVII, hier S. XV. Beispiele dafür, dass die ästhetische Theorie in ihren anthropologischen Einlassungen den „VollkommenheitsTrieb“ (sic!) in den „Begierden, Empfindungen, Bewegungen und Leidenschaften“ situiert, um denselben anthropologisch als eine Art des „Instinkts“ zu legitimieren, sind keine Seltenheit innerhalb der ästhetischen Kompendienliteratur. Vgl. Friedrich Just Riedel: Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Neue Aufl., Wien und Jena 1774, S. 265f. („XV: Ueber das Pathos“). Unter Fokussierung sowohl des theoretischen wie des praktischen Moments ästhetischer Anthropologie heißt es entsprechend bei J. A. Eberhard, dass „das wichtigste Studium des Menschen [...] der Mensch selbst [ist], seine Neigungen, seine Leidenschaften. Die wichtigsten Beobachtungen, die er über sich anstellen könnte, wären gerade diejenigen, die er über seine Empfindungen und Leidenschaften anstellt, über ihre Entstehung, ihre Verwandtschaft, ihre Umwandlung, Wachsthum und Abnahme; denn davon hängt die ganze Kenntniß unserer selbst, sofern sie uns zu unserer moralischen Bildung, zur Lenkung unseres Willens nützlich seyn kann, am meisten ab.“ (vgl. Eberhard: Allgemeine Theorie, S. 142). Aus den einschlägigen Arbeiten zur literarischen Gefühlskultur des späten 18. Jahrhunderts erhellt nicht nur der generelle Stellenwert des Emotionsbegriffs als Leitkategorie des kulturellen Diskurses zwischen Moralphilosophie, Anthropologie und Ästhetik. (Vgl. Christian Begemann: Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1988; Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit.
geleiteten Wahrnehmens, das so unterschiedliche Phänomene wie die äußere Sinneswahrnehmung (‚empfinden‘), die menschlichen Gemütsbewegungen und Affekte (Furcht, Freude, Mitleid, Hass, Liebe) umgreift und im Kontext dieser Verflechtungen außen- und innengeleiteter Affizierungsweisen für die ethischen Bedeutungsaspekte (gut, böse) des Begehrens und des Triebs ebenso relevant ist wie für die diversen ästhetischen Spielarten affektiv-emotionaler Wahrnehmung und Zustandserfahrung – also im Modus der Lust-Unlust-Erfahrung bzw. des ästhetischen Erlebens. Nicht wesentlich anders als im modernen Sprachgebrauch44 übrigens verwenden die Autoren im 18. Jahrhundert den Begriff der Emotionen in der Regel ohne Trennschärfe45 im Wortfeld von „Empfindung“, „Gefühl“, „Empfind-
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Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur. Stuttgart 1988; Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Literatur und Anthropologie im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1994; Anne Fuchs, Sabine Strümper-Krobb (Hg.): Sentimente, Gefühle, Empfindungen. Zur Geschichte und Literatur des Affektiven von 1770 bis heute. Würzburg 2003). Den diachronen und disziplinhistorisch übergreifenden Rekonstruktionen der Emotionskategorie ist darüber hinaus deren Repräsentativität für den Bewusstseins- und Kulturwandel des späten 18. Jahrhunderts eingeschrieben, die sie für die nachaufklärerischen Konzeptbildungen zwischen Soziologie, Politik, Neurologie, Linguistik oder Emotionspsychologie anschlussfähig macht. (Vgl. Hartmut Böhme: Gefühl, in: Christoph Wulf (Hg.): Vom Menschen. Handbuch historischer Anthropologie. Weinheim, Basel 1997, S. 525–548; Claudia Benthien, Anne Fleig, Ingrid Kasten (Hg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Köln u.a. 2000). Die alltagssprachlich in der Regel synonym verwendeten Begriffe „Gefühl“, „Affekt“, „Emotion“ – vgl. etwa Hans Hermsen: Art. „Emotion / Gefühl“, in: Europäische Enzyklopädie zur Philosophie und Wissenschaften. Hg. v. Hans Jörg Sandkühler. Bd. 1, Hamburg 1990, Sp. 661–682, hier Sp. 661f.; vgl. auch den Artikel „Gefühl“: „Synonym zu Gefühl ist Emotion. Affekt wird oft gleichbedeutend mit intensivem Gefühl gebraucht“ (ebd., S. 271) – kennzeichnen gemütsrelevante Aspekte der menschlichen Sinneswahrnehmung, ohne dass die semantischen Dimensionen, die zum Worfeld des Emotionsbegriffs gehören, durch empirische Analysen eindeutig strukturiert und voneinander abgegrenzt werden können. Vgl. die im Ansatz durchaus heterogenen Klärungsbemühungen der Begriffe „Gefühl“, „Affekt“, „Emotion“ u.a. im Diskussionszusammenhang der psychologischen Forschung: Rainer Krause: Die Gefühle – ein Einführung, in: Zeitschrift für psychosomatische Medizin und Psychoanalyse 42 (1996), S. 194– 204, hier S. 195ff. Zu den Einzelnachweisen der begrifflichen Bedeutungsfacetten vgl. Joachim Lanz: Art. „Affekt“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter. Bd. 1. Basel, Stuttgart (1971), Sp. 89–100; Ursula Franke, Günter Oesterle: Art. „Gefühl“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 3 (1974), Sp. 82–89. Zum Gefühlsbegriff im Kontext der Ästhetik und Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts vgl. neben der einschlägigen Überblicksstudie von Brigitte Scheer: Art. „Gefühl“, in: ÄGB II, S. 629–660 neuerdings auch Ursula Franke: Spielarten der Emotionen. Versuch einer Begriffsklärung im Blick auf Diskurse der Ästhetik, in: Klaus Herding, Bernhard Stumpfhaus (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten. Berlin 2004, S. 165–188. Der Philosoph und Wörterbuchautor J. C. Lossius beklagt noch um 1800 die Unbestimmtheit in der Terminologie, nicht ohne selbst im übrigen zu derselben beizutragen: „Gemüthsbewegungen, Empfindnisse, Begierden und Leidenschaften sind Ausdrücke, welche oft mit einander verwechselt, und für eins gebraucht werden, ob sie gleich an sich verschiedene Grade in den Veränderungen der wollenden Kraft [sic!] des Menschen andeuten, wovon Leidenschaft der höchste ist.“ Johann Christian Lossius: Neues philosophisches allgemeines Real-Lexikon oder Wörterbuch der gesammten philosophischen Wissenschaften in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artikeln. Aus verschiedenen Schriftstellern gezogen [...]. Bd. 1, Erfurt 1803, Lemma „Affect. Moral und Anthropologie“, S. 162–195, hier S. 162 (Hervorh. E.S.).
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niß“, von „Affekt“, „Gemüthsbewegung“,46 „Pathos“47 oder auch „Fühlbarkeit“,48 „Gesinnung“.49 Als Angelbegriff von Ästhetik und Anthropologie der späten Aufklärung bezieht sich der ästhetische Gefühlsbegriff, das macht nicht zuletzt die breit geführte Diskussion um die Binnenunterscheidung zwischen den „gröbern“ und den „geistiger[n] und feiner[n]“ Sinnen deutlich,50 nicht nur, ja nicht einmal vornehmlich auf die Phänomene der äußeren Sinnlichkeit (die Qualitäten der ‚sensatio‘, der äußeren Sinneswahrnehmungen). Vereinzelt korreliert, mit anderen Gemütsvermögen wie etwa der Einbildungskraft verklammert, der ästhetisch relevanten Gefühlskategorie in erster Linie das breite Spektrum der inneren (‚feineren‘) Sinneserfahrungen (Qualitäten des ‚sentiment‘ auf der begrifflichen Skala zwischen Innerem Sinn, Pathos, Affekt u.a.). In diesem weiten Bedeutungsfeld sind Emotionen Inbegriff leibseelischer Erfahrung außerhalb der begrifflichen Verstehensleistungen und insofern zugleich stets mehr als der Titel eines isolierten Vermögens der menschlichen Sinnennatur.51 Mit ihnen ist ein umfassendes Verständnis der Sinneswahrnehmung, der Aisthesis, intendiert und verkörpert sich zugleich der für die spätaufkflärerische Theoriebildung signifikante enge Zusammenhang zwischen philosophischer Wahrnehmungstheorie, Erkenntnistheorie und Ästhetik.52 46
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Vgl. Joachim Heinrich Campe: Ueber die Reinigung und Bereicherung der Deutschen Sprache. Dritter Versuch. Verbesserte und vermehrte Ausgabe. Braunschweig 1794, Lemma „Gefühl“, S. 151: „Emotion Bewegung, Gemüthsbewegung“. Wie Einzelnachweise exemplarisch veranschaulichen können, beziehen die Autoren des 18. Jahrhunderts die Redeweise von „Gefühl“ respektive „Emotion“ sowohl insgesamt auf den Vermögensbereich der Seele, der ‚zwischen‘ dem Vorstellungsvermögen und dem Begehrungsvermögen angesiedelt wird, als auch auf das Einzelvermögen der konkreten Tätigkeiten emotionalen Wahrnehmens. In der Regel wird dabei eine starke Abgrenzung zu den Erkenntnistätigkeiten vorgenommen; zur Vermögenssphäre des Affekts (Begehrens) hingegen dominieren die offenen Übergänge. Noch in dem Anthropologieentwurf Michael Wagners etwa sind „Gefühle“ der Sammelbegriff für diverse „Classen der Empfindungen und Gefühle“ einschließlich der Affekte, vgl. Michael Wagner (Hg.): Beyträge zur Philosophischen Anthropologie und den damit verwandten Wissenschaften. Erstes Bändchen. Wien 1794, Vorrede, S. VII–XXXI, hier S. XXIV. Vgl. Albrecht Kirchmayer: Johann Georg Sulzers Theorie der Dichtkunst. Zum Gebrauch der Studirenden bearbeitet. Erster Theil, München 1788, § 3, S. 9: „Der Grund des poetischen Genies wird [...] in einer ungewöhnlichen starken Fühlbarkeit der Seele zu suchen seyn, die mit einer außerordentlichen Lebhaftigkeit der Einbildungskraft begleitet ist.“ Riedel: Theorie der schönen Künste, S. 314. Zum Diskussionsstand im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vgl. exemplarisch Johann Jakob Engel: Ueber einige Eigenheiten des Gefühlssinnes, in: ders.: Schriften. 9. Bd.: Philosophische Schriften. Erster Theil. Berlin 1844, S. 100–111, hier S. 106. Das Wort „Gefühl“, so einer der frühesten und bedeutendsten Pioniere emotionsbasierter Ästhetik im 18. Jahrhundert, ist ein „allgemeine Name aller unserer Leidenschaften und Bewegungen, aller unsrer Vergnügungen und Leiden.“ Heinrich Home: Grundsätze der Kritik. Dritter Band. Übers. v. Johann Nicolaus Meinhard. Dritte, verb. u. verm. Ausg. Leipzig 1791 [„Anhang. Erklärte oder erläuterte Kunstwörter“], S. 405f. Vgl. etwa Ernst Platner: Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Anderer Theil. Leipzig 1782, § 92, S. 30, Anmerkung: „Was wir in der Sprache der modernen Philosophie Empfindung nennen, das heißt bey den Alten nicht aisthe-
Aus dem Fundus dieser Bedeutungsdimensionen, so kann gezeigt werden, schöpft die anthropologisch-ästhetische Theoriebildung, um „Erlebnisqualitäten des Menschen“ im Grenzbereich von ‚innerer‘ (seelischer) und ‚äußerer‘ (körperlicher) Erfahrung und Selbstwahrnehmung zu thematisieren und namentlich den Bereich der ästhetischen Erfahrung unter anthropologischen Gesichtspunkten – als einen der biologischen Sinnennatur unterworfenen und diese zugleich transzendierenden – herauszustellen.53 Die vorliegenden Untersuchungen nehmen auf diesen komplexen Begriff der Emotionen Bezug, um die anthropologische und die ästhetische Valenz der Vermögenssphäre des Gefühls im Diskurs der anthropologischen Ästhetik kenntlich werden zu lassen. Das Aufgreifen des Begriffs der Emotionen, gemäß des skizzierten Bedeutungsspektrums, bedeutet im Theoriefeld der anthropologischen Ästhetik stets zugleich den Begriff des Ästhetischen zu konturieren. Die Dimensionen des Problemhorizonts aus dem heraus die Autoren der anthropologischen Ästhetik dabei den Emotionsbegriff reflektieren, um zu einem empirisch begründeten Verständnis ästhetischer Phänomene zu gelangen, lassen sich freilich nicht nur auf ästhetische reduzieren. Die engen Verflechtungen zwischen ästhetischer und ethischer Thematisierung des Emotionsbegriffs sind spätestens seit der moral-sense-Theorie (Shaftesbury, Hutcheson, Hume) offenkundig.54 Diesen gezielter nachzugehen, würde jedoch nicht nur Einschränkungen der hier beabsichtigten Fokussierung ästhetischer Fragestellungen bedeuten, sondern auch eine
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sis, sondern pathos, wie denn auch selbst Cartes und andere vor Leibnitzen das Wort Passio noch in dieser weitern Bedeutung nehmen. $LVTKVL9 heißt auch eigentlich nicht einmal die sinnliche Vorstellung, sondern nur die körperliche Rührung der Organen.“ Exakt diesen Passus wird wenige Jahre später der Philosoph und Literat Heinrich Zschokke übernehmen, um den „ganzen Plan [zu] einer psychologischen Aesthetik“ zu entwerfen, die den Titel der „Aesthetische[n] Pathologie“, der „ästhetische[n] Empfindungslehre“ trägt, vgl. Heinrich Zschokke: Ideen zur psychologischen Ästhetik. Berlin, Frankfurt/O. 1793, § 76, S. 229, Anmerkung. Zu Zschokkes Entwurf einer ästhetischen Empfindungslehre siehe die Ausführungen in Abschnitt VIII (Schluss). Vgl. etwa Platners Neuzugriff auf die ästhetischen Emotionen im einschlägigen Kapitel seiner revidierten Anthropologie (1790) unter dem Titel: „Von den eigentlich menschlichen Empfindungen“, in: ders.: Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Ästhetik. Erster Band. Leipzig 1790, S. 336–444. Die erstmals von Francis Hutcheson systematisch begründeten Affinitäten zwischen ästhetischem und moralischem Gefühlsbegriff in der englischen Ästhetik und Moralphilosophie waren für die deutschsprachigen popularphilosophischen Autoren von großem Interesse und gingen frühzeitig in die diversen Konzepte philosophischer Weltweisheitslehre ein. Eine erste, durch J. H. Merck besorgte, deutsche Übersetzung von Hutchesons Grundlagenstudie zur gemeinsamen Wurzel von Ethik und Ästhetik – An Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue (1725) – lag pünktlich zu Beginn der popularphilosophischen Konjunkturperiode unter dem Titel Untersuchung unsrer Begriffe von Schönheit und Tugend in zwo Abhandlungen (Frankfurt, Leipzig 1762) vor. Zum Begründungskontext des Moral-Sense bei Hutcheson siehe die einschlägigen Studien von Angelica Baum: Selbstgefühl und reflektierte Neigung. Ethik und Ästhetik bei Shaftesbury. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001 und Astrid von der Lühe: David Humes ästhetische Kritik. Hamburg 1996.
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andere Auswahl des Quellenmaterials erfordern. So liegt der Schwerpunkt der hier verfolgten Fragestellungen in dem Nachvollzug der wesentlichen historischen Begründungsentscheidungen, mit denen die Autoren anthropologisch begründeter Ästhetik die Möglichkeiten eines anthropologischen Neuverständnisses ästhetischer Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen reflektieren. Dass in der ästhetischen Reflexion dabei die Komplexität von Erkenntnis-, Gefühls- und Begehrenssphäre thematisch wird, hat seine Ursache nicht zuletzt in der Offenheit des ästhetischen Diskurses selbst: Die Differenz zwischen dem Angenehmen und dem Schönen, für Kant bekanntlich die Basisunterscheidung im ästhetischen Theoriefeld, ist den Theoretikern der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in unterschiedlicher Weise zwar durchaus geläufig, nicht jedoch Anlass zu dichotomischen Grenzziehungen.55 Nachvollziehbar wird die semantische Spannweite des Emotionsbegriffs in den hier untersuchten Quellentexten somit nicht zuletzt gerade dort, wo der – durch empirische Vermögenspsychologie bzw. empirische Anthropologie der späten Aufklärung noch nicht ausdifferenzierte – Vermögensbegriff des ästhetischen Gefühls (Gefühl der Lust und Unlust) zum integralen Bestandteil der Theorie der Gemütsbewegungen, des Affekts avanciert und von hier aus problematisiert wird. Bevor die Vermögenspsychologie der späten Aufklärung das Gefühl als Basisbegriff der psychischen Leistungen thematisiert, wird im Begriff des „sinnlichen Lebens“ der Erkenntnis (Baumgarten, Meier) die Wende zum empfindenden ästhetischen Subjekt eingeleitet und der ästhetiktheoretische Neuansatz zu einer Ästhetik der „Rührung“ etabliert. Die sich hieraus ergebenden Leitfragen für die Interpretation eines disziplinär breit gefächerten Quellenkorpus lassen sich vor dem Hintergrund dieser Problemstellungen wie folgt formulieren: Welcher Art sind die wechselseitigen Bezugnahmen zwischen ästhetischen und anthropologischen Reflexionsmodellen, d.h. in welcher Weise schlagen sich transdisziplinäre Ergänzungszusammenhänge als Differenzierungszuwachs im Bereich der anthropologisch-ästhetischen Theoriebildung nieder? Was bedeutet es für die Konzeption der ästhetischen Erfahrung, wenn die Wahrnehmung des Schönen anthropologisch in den sinnlichen Vermögen des Gefühls und des Begehrens (Affekt) verankert wird? Welche Begründungsmuster sind in den unterschiedlichen Erklärungsansätzen leitend für die ästhetische Validierung der gefühlsgeleiteten Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen im Unterschied zu den Erkenntnisvollzügen? Und welche ästhetische Relevanz kommt namentlich dem sinnlich gebundenen Gefühl, der Vermögenssphäre der Emotionen
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Für Kant kommen sowohl das Angenehme als auch das Gute – als Spielarten des Wohlgefallens im Gefühl der Lust oder Unlust – „doch darin überein: daß sie jederzeit mit einem Interesse an ihrem Gegenstande verbunden sind […].“ Der „Geschmack am Schönen“ hingegen ist mit dem Angenehmen wie dem Guten unvereinbar, insofern diesem „einzig und allein“ ein „uninteressiertes und freies Wohlgefallen“ zugesprochen werden kann: „denn kein Interesse, weder das der Sinne, noch das der Vernunft, zwingt den Beifall ab.“ Kant, KdU, § 5, S. 123.
im Rahmen der Reflexion der Leistungsfähigkeit der sinnlichen Wahrnehmung, der Aisthesis zu? c) Ästhetik als Aisthetik Bezogen auf die ästhetische Bedeutungsseite des hier als „anthropologische Ästhetik“ gefassten Begriffspaars bleibt schließlich auf das für die Interpretationen des Quellenmaterials leitende Verständnis von ‚Ästhetik‘ hinzuweisen. Der hier behauptete wechselseitige Begründungszusammenhang von Anthropologie und Ästhetik macht nicht nur einen transdisziplinären Zugriff auf sachlich heterogene, thematisch gleichwohl zusammengehörige Diskursensembles zwischen französischer Frühaufklärung und deutscher Spätaufklärung (philosophische Affekt- und Emotionstheorie, philosophische Erkenntnistheorie und Vermögenspsychologie, Psychophysiologie, Vermögenspsychologie, Lusttheorie, Geschmackstheorie, Kunsttheorie) unumgänglich. Er setzt, sollen anthropologische Begründungsmuster und ästhetische Begründungsinteressen in ihrer wechselseitigen Bezüglichkeit sinnvoll zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, auch einen erweiterten Ästhetikbegriff voraus. Wie eingangs dargelegt, bedeutet ‚anthropologische Ästhetik‘, dass die Eigenbedeutsamkeit des Ästhetischen vordergründig nicht als Metaphysik des Schönen (Theorie des ästhetischen Gegenstands und der Kunst) entwickelt wird, sondern als Reflexion der Leistungsfähigkeit der sinnlichen Wahrnehmung (Aisthesis) im Element des Empfindens, des Gefühls. Nicht erst in Baumgartens Theorie der cognitio sensitiva freilich, sondern bereits in den affekt- und emotionstheoretischen Thematisierungen der ästhetisch affinen Sinneswahrnehmung (Affektphysiologie Descartes’, Emotionalismus Dubos’, Lustphysiologie de Pouillys) artikuliert sich ästhetisches Denken als Problematisierung der gesamten ästhetisch relevanten Aisthesis, – der Lust- und Unlusterfahrung, der sensitiven Erkenntnis, der ästhetischen Gemütserregung etc. Abzubilden sind diese Verständnisweisen von ‚ästhetisch‘ nur mit einem erweiterten Ästhetikbegriff, der es erlaubt, die historischen Problematisierungen der menschlichen Sinneswahrnehmung im Medium von ‚Gefühl‘ und ‚Affekt‘ als Ansätze zu einer Qualifizierung der ästhetischen Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen zu rekonstruieren. In Anlehnung daran fungieren als Deutungsparameter der Interpretationen entsprechend nicht Theoreme der Metaphysik des (Kunst-)Schönen. Vielmehr werden Unterscheidungen der ästhetischen Wahrnehmungsphilosophie herangezogen, wobei den Bestimmungsparametern der Vollzugsorientiertheit sowie der Selbstbezüglichkeit die entscheidende Bedeutung bei der Analyse des historischen Textmaterials zukommt.56 56
Ich beziehe mich im besonderen auf Martin Seels Unterscheidungen zwischen allgemeinem und ästhetisch spezifiziertem Wahrnehmungsbegriff. Nach Seel charakterisiert sich ästhetische Erfahrung auf der Ebene der Aisthesis durch die Merkmale der Vollzugsorientiertheit (des Wahrnehmenden) und die Selbstbezüglichkeit (der subjektiven Wahrnehmungserfahrung). „Vollzugsorientiert sind Wahrnehmungen, bei denen die Wahrnehmungstätigkeit selbst zu ei-
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So lässt sich die leitende Suchbewegung in den hier an einem breiteren Quellenmaterial vorgenommenen Untersuchungen als der Versuch beschreiben, anhand von Leitkategorien des ästhetischen und des anthropologischen Diskurses der Aufklärung nachzuvollziehen, mit welchen maßgeblichen Begründungsmustern sich die anthropologische Ordnung des ästhetischen Wissens vollzieht, und damit ineins: welchen theoretischen und begrifflichen Transformationen in diesem Zusammenhang die traditionellen Konstitutionsmuster einer Metaphysik des Schönen unterliegen. Dabei, so die hier verfolgte These, berechtigt die im theoriegeschichtlichen Langzeitraum zwischen Cartesischer Psychophysiologie und psychologischästhetischer ‚Pathologie‘ zu Tage tretende Kontinuität anthropologischer Begründungsmuster für die Konzeption ästhetischen Wissens entschieden dazu, den von der Aufklärungsforschung theorie- und disziplingeschichtlich gemeinten Topos der „anthropologischen Wende“ nicht zum Periodisierungsbegriff innerhalb der ästhetischen Theorieentwicklung (‚zwischen Crousaz und Zschokke‘), sondern als substantielle Eigentümlichkeit des ästhetischen Diskurses selbst zu deklarieren.57 Denn erstens ist die Frage nach dem Begriff des Schönen, systematisch gesprochen, immer schon anthropologisch in dem doppelten Sinn, als dass mit ihr nach dem für den Menschen anschaulich werdenden Ästhetischen (Schönen, Hässlichen, Erhabenen) gefragt wird und ihre Beantwortung Untersuchungen über die vermögens-
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nem primären Zweck der Wahrnehmung wird.“ „Selbstbezüglich ist alle ästhetische Wahrnehmung in dem [...] Sinn, daß es ihr nicht nur um das jeweils Wahrgenommene, sondern gleichermaßen um den Akt der Wahrnehmung selbst geht.“ (Martin Seel: Ästhetik und Aisthetik. Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung mit einem Anhang über den Zeitraum der Landschaft, in: ders.: Ethisch-ästhetische Studien. Frankfurt/M. 1996, S. 36–69, hier S. 48f., S. 51). Die für die anthropologisch orientierte Aufklärungsforschung der achtziger Jahre charakteristische Identifikation von „anthropologischer Wende“ und „Spätaufklärung“ geht auf eine disziplingeschichtlich orientierte Sichtweise zurück, die Schings’ bahnbrechende Studie zum anthropologischen Diskurs der späten Aufklärung am Leitfaden der Wissenschaft vom Menschen erstmals eingehend entwickelt hatte (vgl. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977). Von einer „anthropologischen Wende“ im 18. Jahrhundert (als der „bemerkenswerteste[n] geschichtlichen Entdeckung“ in der deutschen Aufklärung) wurde innerhalb der germanistischen Aufklärungsforschung in der Folge dezidiert mit Bezug auf die Dezennien ab 1750 gesprochen (vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Ralph Häfner: Richtungen und Tendenzen in der deutschen Aufklärungsforschung, in: Das achtzehnte Jahrhundert 19 (1995), S. 163–171, hier S. 168). Die sachlich gegen diese Zuspitzung opponierende Position Zelles, die in der ‚Rückverlegungsthese‘ des Terminus der ‚anthropologischen Wende‘ – von der ‚späten Aufklärung‘ (ab 1750) in die Zeit der „Frühaufklärung“ (um 1750) ihren konzeptuellen Ausdruck fand (vgl. Zelle: Sinnlichkeit und Therapie, S. 7 sowie ders.: Zwischen Weltweisheit und Arzneiwissenschaft. Zur Vordatierung der anthropologischen Wende in die Frühaufklärung nach Halle, in: Reinhard Bach, Roland Desné, Gerda Haßler (Hg.): Formen der Aufklärung und ihrer Rezeption. Festschrift zum 70. Geburtstag von Ulrich Ricken, Tübingen 1999, S. 35–44), bemisst die paradigmatischen Verschiebungen allerdings stark am Maßstab einer disziplingeschichtlich fixierbaren Genesis und argumentiert darüber hinaus auf der Basis einer periodisierungsgeschichtlichen Alternative zur gängigen Einordnung der „Spätaufklärung“ (zur Diskussion vgl. Riedel: Erster Psychologismus, S. 2f., Anm.).
spezifischen Voraussetzungen dieser (ästhetischen respektive aisthetischen) Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen provoziert. Und zweitens veranschaulicht, historisch argumentiert, die Kontinuitätslinie zwischen französischer Geschmacksund Emotionstheorie und deutschem Ästhetikdiskurs, aber auch die Kontinuität zwischen so genannter „Vollkommenheitsästhetik“ und psychologisch begründeten Ästhetikentwürfen in der späten Aufklärung, dass bezüglich des anthropologischen Moments im ästhetischen Diskurs weder sinnvoll von einem Bruch, noch von einem Paradigmawechsel gesprochen werden kann. Die Abgrenzung einer ‚vor‘oder ‚nach‘-anthropologischen Ästhetik ist problemgeschichtlich nicht zu begründen und unter disziplingeschichtlichen Aspekten nicht sinnvoll. Im anthropologischen Paradigma des ästhetischen Wissens – dies gestaltet die Rekonstruktion seiner theoriegeschichtlichen Verläufe so spannungsreich wie schwierig – tritt die Alterität der theoretischen Entwürfe ästhetischer Theorie hinter der ästhetisch unerlässlichen Grundbedingung von Ästhetik, der Aisthesis, in der Tat vielmehr zurück. Sowohl Kants frühe ästhetische Entwürfe als auch sein anthropologisches Plädoyer für die Sinnlichkeit erwachsen bekanntlich aus Begründungszusammenhängen, die sich von den vorkritischen erkenntnistheoretischen Prämissen der popularphilosophischen Periode des 18. Jahrhunderts entschieden distanzieren. Gerade in ihrer Bezogenheit auf die Eigenart der ästhetischen Erfahrungsweisen, auf den Vermögensbereich des Gefühls (der Emotionen, der Lust- und Unlusterfahrung), halten die Kantischen Ästhetikreflexionen indes zugleich den theoriegeschichtlichen Anschluss an die begrifflichen Vorleistungen der nichttranszendentalen, anthropologischen Ästhetiker. Damit tritt ein deutliches Kontinuitätsmoment anthropologischer Begründungsmuster in der ästhetischen Theorie der Aufklärung zutage.58 Das muss eine problemgeschichtliche Untersuchung zum Nexus anthropologischer und ästhetischer Reflexion zunächst anerkennen, will sie bei der Suche nach theoriegeschichtlicher Gegensätzlichkeit nicht Essentialien der ästhetischen Diskussion aus den Augen verlieren.59 58
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Der von der jüngeren Ästhetikhistoriographie nach wie vor gebührend rekonstruierte Sachverhalt ist der älteren Forschung durchaus selbstverständlich. Vgl. Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1: Die Metaphysik des Schönen. ²München 1922, S. 127: „Die Ästhetik wird schon vor Kant Empfindungslehre [...].“ Kants Sinnlichkeits-Plädoyer, um die oben formulierte Hypothese zuzuspitzen, affirmiert mit der Kritik am rationalistischen Begriff der Sinnlichkeit nicht weniger als die tragenden Grundüberzeugungen der anthropologischen Ästhetiker der späten Aufklärung, denn weder liegt es in der Struktur der anthropologisch gegebenen Aisthesis, zu „verwirren“ und zu „betrügen“, noch über den Verstand zu gebieten. Vgl. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Ders.: Werkausgabe. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M. 1964, Bd. 12 [Sigle: ApH], §§ 8–10, S. 432ff. B 30–B 33. Kliches theoriegeschichtlicher Überblicksartikel zum ästhetischen Kardinalbegriff der „Aisthesis“ geht in diese Richtung, wenn Kants einen weiten, d.h. anthropologischen Ästhetikbegriff limitierende Positionsbestimmungen in der Kritik der Urteilskraft zum generellen Gegenkonzept der kontemporären Entwürfe theoretischer Ästhetik im späten 18. Jahrhundert stilisiert werden (vgl. Dieter Kliche: Ästhetik und Aisthesis. Zur Begriffs- und Problemgeschichte des Ästhetischen, in: Weimarer Beiträge 44 (1998), H. 4, S. 485–505, hier S. 495ff.). Kants Ästhe-
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2 Ästhetik und Anthropologie. Untersuchungsfelder Auf die Frage, wie ästhetische Erfahrung gedacht werden kann, wenn sie kognitiven Ansprüchen und sensitiv-emotionalen Aspekten des Wahrnehmens und Erfassens in gleicher Weise Rechnung tragen soll, gibt die ästhetische Theorie in der späten Aufklärung keine Antwort im Sinn einer geschlossenen Stellungnahme zum Problem – der tentative Charakter der diversen Konzeptualisierungen ästhetischer Erfahrungsweisen im Medium des Gefühlsbegriffs bedarf entsprechend methodologischer Berücksichtigung. Eben so sehr, wie eine begriffsgeschichtlich angelegte Rekonstruktion des hier verfolgten Themenzusammenhangs von anthropologischer und ästhetischer Reflexion den heutigen Ansprüchen auf begriffliche Exaktheit entgegenkommen würde, so sehr führt die durch terminologische Heterogenität selbst in ihren Grundbegriffen geprägte Debattenlage im Problemfeld der aufklärerischen Anthropologie und Ästhetik permanent vor Augen, dass gerade eine solche Fixierung auf die Geschichte einer Begriffsverwendung („Empfindung“, „Gefühl“, „Geschmack“ etc.) eher einer Restriktion des Problemfelds denn einer adäquaten theoretischen Erfassung des Problemgegenstands gleichkäme.60 Im Suchschema von ‚Anthropologie‘ und ‚Ästhetik‘ treten in dem noch nicht in geistes- und naturwissenschaftliche Sphäre separierten Wissenschaftsdiskurs des 18. Jahrhunderts sowohl heterogene Themenstellungen unter einem Leitbegriff („Empfindung“, „Gefühl“) zusammen wie umgekehrt verwandte Problemstellungen (Anthropologie des Geschmacks, der Empfindungen) sich unterschiedlicher Terminologien bedienen. Die für die Psychologie des 18. Jahrhunderts zuletzt resümierte Crux, wonach den Rubrizierungen von „Psychologie“ und „Psychischem“ in der Regel kein eindeutiges Referenzfeld zuzuweisen ist, stellt sich gerade für eine anthropologiege-
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tikkonzeption indes, das zeigt die Theoriebildung seiner vermeintlich polemischen Gegner (Eberhard ausgenommen), dient nicht generell als polemische Folie für Gegenentwürfe dezidiert anthropologisch bzw. pathologisch begründeter Ästhetik. Wie das Beispiel H. Zschokkes etwa zeigt, gehen die Missverständnisse bezüglich des transzendentalphilosophischen Ansatzes Kants durchaus mit konkreten Anschlussbemühungen an Einsichten des Königsberger Philosophen einher (vgl. Zschokke: Ideen zur psychologischen Ästhetik, §§ 1ff., 16ff.). Diese Feststellung gilt ausdrücklich für den deutschen Theoriebereich und dessen oben ausgewiesenes Spezifikum der transdisziplinären Konstitution des Ästhetischen. In der Romania liegen die Verhältnisse aufgrund eines anders gelagerten Traditionsbezuges zu den lateinischen, über die Renaissance und den Klassizismus vermittelten Begriffsprägungen von „goût“, „gustus“ einerseits, „sentiment“-Begriff andererseits, bekanntlich wesentlich anders. Wort- und begriffsgeschichtlichen Untersuchungen kommt hier entsprechend ein anderer Stellenwert für die problemgeschichtliche Beurteilung zu, vgl. Hans Sckommodau: Der französische psychologische Wortschatz der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1933; Frank Baasner: Der Begriff ‚sensibilité‘ im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Ideals. Heidelberg 1988. Für die Theoriesituation im deutschen Sprachraum hingegen, wo der Empfindungs- bzw. Gefühlsbegriff relativ inhomogen je nach disziplinärem Verwendungskontext diskursiv eingebettet wird, vgl. Ludwig Jäger, Sabine Plum: Historisches Wörterbuch des deutschen Gefühlswortschatzes, in: L. Jäger (Hg.): Zur historischen Semantik des deutschen Gefühlswortschatzes. Aspekte, Probleme und Beispiele seiner lexikographischen Erfassung. Aachen 1988, S. S. 5– 55.
schichtlich orientierte Arbeit wie die vorliegende, die die Relevanz der problemgeschichtlichen Untersuchungsaspekte nicht an einem disziplinären Ausdifferenzierungsprozess zu fixieren sucht und entsprechend weder eine Disziplingeschichte der Ästhetik rekonstruiert noch nur auf das Quellenmaterial der Wissenschaftsgattungen „Anthropologie“ und „Ästhetik“ zurückgreift, sondern einen disziplinübergreifenden anthropologisch-ästhetischen Argumentationszusammenhang in den Blick nimmt.61 Damit wird versucht, sowohl zeitgenössischen Auffassungen vom transdisziplinären Beeinflussungszusammenhang der anthropologischen Wissenschaften der Aufklärung Rechnung zu tragen, als auch den zeitgemäßen Ansprüchen an die interdisziplinäre Hermeneutik geistesgeschichtlicher Produktionen nachzukommen.62 Mit den oben skizzierten Fokussierungen theoriegeschichtlicher Einschnittpunkte, die hier nicht durchgängig auf die Kontrastierung gegenläufiger Theorieangebote zugespitzt, sondern in der Regel als Variationen thematisch durchaus homogener Problembestände begriffen und rekonstruiert werden, spannt die Arbeit einen Bogen des ästhetikgeschichtlichen Denkens im Horizont anthropologiegeschichtlich aufgefächerter Fragestellungen zwischen früher und später Aufklärung, wobei der Phase der Empirisierung des psychologischen (anthropologischen) und ästhetischen Wissens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Schwerpunkt der Analysen zufällt. Unter Zugrundelegung eines erweiterten – am komplexen Bedeutungsumfang der Aisthesis orientierten – Ästhetikbegriffs und unter der Voraussetzung der begründungsgeschichtlichen Reziprozität anthropologisch-psychologischer und ästhetischer Reflexion ergibt sich die Einheit der Fragestellung in der Breite des untersuchten Quellenmaterials vordergründig nicht aus disziplingeschichtlich verorteten Theoremen von Anthropologie und Ästhetik, sondern aus dem Nachweis einer theoriegeschichtlichen Kontinuität, die hier als Aufklärung über die Natur 61
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In J. Jahnkes Überblick zur Aufklärungspsychologie und ihrer Erforschung erscheint der Problemzusammenhang zwischen historischem Untersuchungsgegenstand und jeweils gewählter Untersuchungsperspektive als ein im historischen Theoriefeld der Aufklärung nicht generell aufweisbarer Indizienzusammenhang: „Die Begriffe ‚einschlägig‘ und ‚thematisch relevant‘ verbergen [...] ein Problem, das [...] grundlegend ist [...]: Gibt es klare und abgrenzbare Begriffe von ‚Psychologie‘ und ‚Psychischem‘, nach denen man entscheiden kann, was einschlägig und wichtig ist?“ – um gleich darauf die Antwort zu formulieren: „Während der Literatursuche [ist] das eigene Thema immer wieder in Frage [zu stellen].“ (vgl. Jürgen Jahnke: Psychologie im 18. Jahrhundert. Literaturbericht 1980–1989, in: Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts, 1990, H. 14.2, S. 253–278, hier S. 253). Feders Warnung vor dem naiven Glauben an die vermeintliche Selbständigkeit innerdisziplinären Wissens (hier im Bezug auf die theoriegeschichtliche Entwicklung der philosophischen Ethik) liest sich wie das Credo popularphilosophischen Methodenverständnisses: „Die Arten fremder Einflüsse lassen sich nicht abzählen; und wer leicht dieselben für zu weit hergeholt ansieht; hat schwerlich genug beobachtet.“ Johann Georg Heinrich Feder: Über das moralische Gefühl. (aus dem Deutschen Museum 1776 abgedruckt). Kopenhagen, Leipzig 1792, S. 149.
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emotional begründeter Sinnlichkeit begriffen wird. Freilich gruppieren sich dabei um das hier fokussierte Kontinuitätsmoment anthropologischer Ästhetik ihr Gravitationszentrum ‚Emotionalität‘ und im weiteren Sinn: Sinnlichkeit eine Reihe von Diskontinuitäten, die bei den nachfolgenden Untersuchungen entwicklungsgeschichtlicher Verläufe berücksichtigt werden müssen. Namentlich die Veränderungen im Verständnis autonomieästhetischer Konzeption von Ästhetik, in der systematischen Stellung der Rhetorik als ästhetischer Nachbardisziplin und nicht zuletzt freilich die Transformationen in der Begriffsauffassung der Aisthesis, der ästhetisch verstandenen Sinnlichkeit, gehören zu den hier maßgeblich beachteten Vektoren der ästhetischen Theoriebildung. Um die historische Bedeutung und den Umfang der vorstehend skizzierten Wandlungen im anthropologischen und ästhetischen Denken der späten Aufklärung zu konturieren, werden in Abschnitt II der Untersuchung zunächst systematische Untersuchungsaspekte eingeführt, die einen Überblick über die zentralen theoriegeschichtlichen Verschiebungen in der „geschichtlichen Inkubationsphase des Begriffs ‚Ästhetik‘ in Deutschland (zwischen 1750 und 1790)“ erlauben sollen.63 Ästhetische Theorie im anthropologischen Feld der späten Aufklärung, so lässt sich zeigen, ist anschlussfähig an aktuelle Konzeptualisierungen des ästhetischen Wissens, auch und gerade weil sie den Inbegriff des Ästhetischen nicht nach Maßgabe eines autonomen respektive idealistischen Ästhetik- und Kunstbegriffs theoretisch entfaltet, sondern, beginnend mit Baumgartens Aesthetica (1750/1758), in der Orientierung am Gegenstandsbereich der sinnlichen Wahrnehmung, der Aisthesis. Herrscht über die Periodisierung dezidiert anthropologisch begründeter Ästhetik im deutschen Sprachraum wie gesehen inzwischen weitgehend Einigkeit – 1750 ist Stichdatum der Ästhetik als philosophischer Disziplin und Stichdatum für die anthropologische Neuausrichtung der Wissenschaftslandschaft im Zusammenhang progredierender Empirisierung und Metaphysikkritik64 –, so wäre es gleichwohl verfehlt, die Gründungsdaten von Wissenschaftszweigen zu den periodisierungsgeschichtlich verbindlichen (lies: einzigen) Indikatoren epochaler Theoriekonstellationen zu erheben. Die Vorgeschichte anthropologisch orientierter philosophischer Ästhetik im Rahmen der hier verfolgten Fragestellungen zu berücksichtigen (Abschnitt III), erscheint unter diesen methodologischen Voraussetzungen unumgänglich. Ihre Relevanz für das Verständnis der ästhetischen Theorieentwicklung im 18. Jahrhundert erhellt freilich auch aus den historischen Bezugnahmen selbst, berücksichtigt man die latente wie manifeste Omnipräsenz der französischen Lustpsy63
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Karlheinz Barck: „Ästhetik“: Wandel ihres Begriffs im Kontext verschiedener Disziplinen und unterschiedlicher Wissenschaftskulturen, in: Gunter Scholz (Hg.): Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte. Archiv für Begriffsgeschichte. Sonderheft. Hamburg 2000, S. 55–62, hier S. 58. Vgl. Schmidt-Biggemann, Häfner: Richtungen und Tendenzen, S. 167f.; Riedel: Erster Psychologismus, S. 2.
chologie, Physiologie und Affektästhetik im deutschsprachigen Ästhetikdiskurs der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Mit dem Rückgriff auf eine in den leitenden Problemstellungen homogene Theorieform affektpsychologischer Ausrichtung (am Beispiel von R. Descartes, J. B. Dubos sowie L. de Pouilly) lässt sich, so das hier verfolgte Rekonstruktionsanliegen, eine Alternative im Verständniszugang der vordisziplinären Ästhetik des 18. Jahrhunderts aufzeigen, der bislang nahezu ausschließlich durch die Berücksichtigung der frühaufklärerischen Geschmacksdebatte (Dubos, König, Bodmer, Breitinger, Gottsched) befördert wurde.65 Abschnitt IV widmet sich der Gründungsphase der philosophischen Ästhetik als Disziplin am Beispiel von Alexander Gottlieb Baumgartens und Georg Friedrich Meiers Ansätzen zu einer anthropologischen und affektaffinen Theorie der ästhetischen Sinnlichkeit. Baumgartens ästhetische Qualifizierung der Aisthesis im ersten Teil der Aesthetica (1750) gilt es zunächst unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmungs- und Empfindungsfunktion der cognitio sensitiva zu rekonstruieren und auf ihre anthropologischen Implikationen hin freizulegen. Als entwicklungsgeschichtlich tragfähiges Begründungsmuster anthropologischer Ästhetik erweist sich Baumgartens Thematisierung der ästhetischen Aisthesis dabei in einem doppelten Sinn: Erstens als Modell einer ästhetischen Anthropologie (Aesthetica naturalis), mit der der Gesamtheit der leibseelischen Wahrnehmungs- und Erfassungskompetenzen „unterhalb der Schwelle streng logischer Unterscheidung“66 für eine philosophisch-systematische Theorie des ästhetischen Wissens Rechnung getragen wird. Zweitens als Typus einer affektaffinen Ästhetik, die nicht allein auf die kognitive Rehabilitation der Aisthesis zielt, auf die ‚untere Erkenntnislehre‘, sondern – im Begriff der vita cognitionis, der Lebendigkeit des Erkennens – den Geltungsbereich der sinnlich-ästhetischen Wahrnehmung ansatzweise auf die Sphäre des Affekts, des Begehrens und seiner Dynamiken hin ausdehnt. Bezüglich dieser beiden anthropologischen Konstitutionsmomente ästhetischer Theorie können Meiers Anschlussbestimmungen aus den Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften (1748–1750) sowohl als Fortsetzung wie Radikalisierung des Baumgartenschen Ausgangspunktes in der Ästhetik gekennzeichnet werden – mit der theoriegeschichtlichen Pointe, dass der Baumgartenschüler die Grundannahmen seiner affektpathologischen Ästhetik dezidiert im transdisziplinären Ausgriff auf die philosophische Affektenlehre und Rhetorik generiert. Die rührungsästhetische Ausweitung der Aisthesis in der Ausarbeitung einer Ästhetik des Begehrens schlägt ein Thema an, dessen theoriegeschichtliche Tragweite erst in der erfahrungswissenschaftlichen Periode der deutschen Spätaufklärung vollends zum Ausdruck kommen wird: Im Ästhetischen als vorzüglichem Artikulationsbereich der menschli-
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Vgl. einschlägig Friedhelm Solms: Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder. Stuttgart 1990, S. 82ff.; Amann: Arbeit des Geschmacks, S. 241ff. Baumgarten: Theoretische Ästhetik, § 17, S. 11.
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chen Gemütskräfte (movere) stellt sich primär weder die Frage nach dem Erkenntnisbeitrag des Sinnlichen (ästhetische Wahrheit) noch die nach der begrifflichen Signatur des metaphysisch Schönen, sondern die nach dem Affizierungsgehalt der sinnlich-ästhetischen Wahrnehmungserfahrung. Dass mit diesen Einsichten der Bogen zur gefühlsbasierten Ästhetik im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts der Sache nach bereits geschlagen ist, der Mangel an einer vermögenstheoretischen Sicherstellung des anthropologischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsdatums der Empfindungen die Umstellung der aisthetike episteme von Erkenntnis- auf Gefühlsästhetik gleichwohl hemmte, belegen ästhetisch interessierte Erkenntnistheorie, Phänomenologie und Psychologie der Emotionen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gleichermaßen (Abschnitt V). Während sich in Eberhards Vorstellungstheorie der Anspruch zurückmeldet, die Integrität des Psychischen vom Boden des rationalistischen Vorstellungsbegriffs (vis repraesentativa) aus zu reformulieren, zeichnen sich in Tetens’ konsequent phänomenologischer Theorie der sinnlichen Wirklichkeitswahrnehmung – im Leitbegriff des Gefühls (‚Empfindniß‘) – erstmals auch die vermögenstheoretischen Effekte einer Anthropologisierung der Sinneserfahrung ab. Die bemühte Zurückstellung der älteren, am Passivitätsmodell orientierten Konzeption gefühlsgeleiteter Wahrnehmungsakte, so lässt sich zeigen, gibt innerhalb der Theorie den Blick frei auf ein Verständnis auch der rezeptiven Seite ästhetisch relevanten Wahrnehmens und Vorstellens; Genuss kristallisiert sich als neuer anthropologisch-ästhetischer Reflexionsbegriff. Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Ansätze im Vergleich mit Sulzers ästhetischer Wahrnehmungs- und Zustandspsychologie (Abschnitt VI) von einer Diskontinuität in der Theorieentwicklung der anthropologischen Wissenschaften der späten Aufklärung zu sprechen, erscheint auf den ersten Blick sachlich berechtigt. Näher betrachtet löst Sulzer jedoch ein, was als Impuls bereits in Meiers Ausformulierung der Theorie der cogitatio pathetica, der affektaffinen Erkenntnis, vorhanden war, mit der Vermögenspsychologie des Gefühls (Tetens) trotz erheblich anders gelagerter Ausgangsbestimmungen jedoch durchaus vereinbar erscheint. Baumgartens gnoseologisch und epistemologisch motivierter Situierung der sinnlich-ästhetischen Vermögen setzt Sulzer eine ästhetische Anthropologie entgegen, die die ästhetisch qualifizierte Aisthesis im Empfindungs- und Geschmacksbegriff zentralisiert, um sie gleichermaßen für die Vollzüge des Fühlens und Begehrens offen zu halten. Sinnvoll kann hier, bezüglich Sulzers forcierter Ausweitung der ästhetischen Fragestellung auf die Vollzugsaspekte der sinnlichen Wahrnehmung, nach den Anschlussmöglichkeiten von anthropologischer Aufklärungsästhetik an die modernen Ansätze einer aisthetischen Wahrnehmungstheorie des Ästhetischen (M. Seel, W. Welsch u.a.) gefragt werden.67 Am Beispiel von Sulzers seit 1750 entwickelter psychologischer Ästhetik, seiner programmatischen 67
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Vgl. oben, Abschnitt 1.1.
Aufwertung des Gefühlsbegriffs zur anthropologischen Fundamentalkategorie der ästhetischen Kunsttheorie – ineins mit dem Geschmack als zugehörigem Organon des ästhetischen Wahrnehmens und Erfassens – lässt sich exemplarisch kenntlich machen, wie ästhetisches Wahrnehmen und intuitives Erkennen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu Formen der subjektiven Selbstwahrnehmung bzw. Selbstvergegenwärtigung avancieren: Die theoretischen Modellierungen ästhetischer Gegenstandskonstitution – im Element von Wahrnehmung, Empfindung und ästhetischer Zustandserfahrung (‚Rührung‘) – spiegeln ein gesteigertes Bewusstsein für die Notwendigkeit der Subjektivierung ästhetischer Erfahrungsweisen wider. Sie erweisen sich zunehmend als Artikulationsformen subjektiv erfahrenen „Lebensgefühl[s]“.68 Ein von der Ästhetikhistoriographie bislang unbeachtetes, gleichwohl symptomatisches Dokument für den Psychologisierungsschub in der Theorie des ästhetischen Wahrnehmens und Empfindens ist schließlich Gegenstand des abschließenden Teils dieser Untersuchungen und nicht zuletzt Anlass, sich des anthropologisch-ästhetischen ,avancements‘ der Emotionen im Einfluss- und Parallelfeld der Kantischen Ästhetik zu vergewissern (Abschnitt VII). Aufschlussreich zugleich für den Variantenreichtum, mit dem im ausgehenden 18. Jahrhundert die Gültigkeit des Baumgartenschen Konzepts ästhetischer Gegenstandserkenntnis von dezidiert wirkungspsychologischer Warte aus revidiert und bestritten wird, lassen sich an Eberhards im Emotionsbegriff entwickelter ästhetischer Vermögenslehre (Versuch eines Plans zu einer praktischen Aesthetik, 1790) die Spannungen zwischen anthropologischer (genuss- und gefühlspsychologischer) und kunsttheoretischer Reflexion des Ästhetischen verfolgen. Der Antithese der „Rationalisierung des Ästhetischen“ einerseits und seiner „Emotionalisierung“ andererseits69 entschlägt sich dieser Begründungsentwurf vermögenspsychologisch im Gefühlsbegriff koordinierter Aisthesis ebenso wie die – schließlich im Schlussausblick (Abschnitt VIII) eingeblendeten – Ansätze zu einer programmatisch psychologischen Ästhetik (Abicht, Zschokke). Mit der hier getroffenen Entscheidung für einen disziplinübergreifenden problemgeschichtlichen Zugriff, der in einer Abfolge exemplarischer Einzelanalysen modellbildende Entwicklungsstationen der „verschwisterte[n] Genese von Anthropologie und Ästhetik“70 im Paradigma des Emotionsbegriffs nachzuzeichnen sucht, sind indes zugleich Grenzen der Darstellung abgesteckt. 68 69 70
Kant: KdU, § 1, S. 115. Vgl. Scheer, Brigitte: Einführung in die philosophische Ästhetik [Sigle: VPS]. Darmstadt 1997, S. 43f. Lothar Bornscheuer: Zum Bedarf an einem anthropologiegeschichtlichen Interpretationshorizont, in: Germanistik. Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. Teil 2: Ältere deutsche Literatur. Neuere deutsche Literatur, hg. v. Georg Stötzel, Berlin, New York 1985, S. 420–438., hier S. 436; vgl. auch ebd., S. 428.
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Die eine Seite der hier vorgenommenen Einschränkungen betrifft fraglos die Fokussierung der Untersuchungsperspektiven auf das Korpus theoretischer Texte, in denen die argumentative Korrelation anthropologischen und ästhetischen Denkens greifbar wird. Die Rekonstruktion der Genese anthropologiegeschichtlich relevanter Begründungsmuster im Rahmen der ästhetischen Praxis von Kunst würde Pfotenhauers Modellstudie zur literarischen Anthropologie hat das vor Augen geführt nicht nur die Dimensionen der vorliegenden Untersuchung sprengen, sondern einen anderen Untersuchungstypus voraussetzen.71 Das damit verbundene Manko, dass die Widerspiegelung der hier aufgezeigten theoriegeschichtlichen Veränderungen im Medium der belletristischen Literatur des 18. Jahrhunderts im Rahmen dieser Untersuchung keine Berücksichtigung findet, lässt sich vor dem Hintergrund eines nach wie vor sich erweiternden literaturwissenschaftlichen Forschungsbegriffs in erster Linie auch nur methodisch rechtfertigen.72 Die andere, vermutlich gewichtigere Auswahlentscheidung betrifft Einschränkungen des Untersuchungsmaterials selbst. Der hier erprobte Zugriff auf den Problemkomplex Anthropologie und Ästhetik erzwang Abweichungen von üblichen Rekonstruktionsschemata und Zitierlinien und über weite Strecken zugleich die eingehendere Berücksichtigung von Autoren und Quellentexten, die auf der Karte der Ästhetik-, Psychologie- und Anthropologiehistorie bislang nur schematisch eingezeichnet wurden oder teilweise noch gänzlich uneinbezogen sind. Die Rechtfertigung von deren einlässlicherer interpretatorischer Ausleuchtung, die gelegentlich als Überbelichtung im Verhältnis zu den gut erforschten ‚Schlüsseltexten‘ der ‚Höhenkammautoren‘ erscheinen mag, muss sich aus dem Einzelfall und seinen innovatorischen Mehrwerteffekten für das Verständnis der ins Auge gefassten Theoriekonstellation ergeben.
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Vgl. Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987. Zu dem Versuch, disziplingeschichtliche (Wissenschaftsgattung Anthropologie) und literarhistorische (‚anthropologischer Roman‘) Gesichtspunkte zu verbinden, siehe J. Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall, sowie die Einschätzungen oben (1.2). Ob der methodische Versuch (und nach wie vor anhaltende Trend) in der Germanistischen Literaturwissenschaft, anthropologiehistorische Fragestellungen disziplinübergreifend zu supplementieren und für das Verständnis der Kunst und Ästhetik aufzuschließen, entweder zur via regia der literarhistorischen Interpretation selber wird (vgl. etwa Bernhard Spies: Politische Kritik, psychologische Hermeneutik, ästhetischer Blick. Die Entwicklung bürgerlicher Subjektivität im Roman des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1992), oder ob literaturwissenschaftliche Ausgangsfragestellungen unmittelbar in die Analyse der außerliterarischen Konstituenzien belletristischer Produktion münden (vgl. für das Oeuvre Johann Karl Wezels etwa Nowitzki: Aufklärungsanthropologien im Widerstreit, S. VII): In beiden Varianten literarhistorisch interessierter Rekonstruktion ist die heuristische Gültigkeit eines wissenschaftsgeschichtlich untersetzten, an Psychologie wie Anthropologie gleichermaßen orientierten Verstehens von Kunst so ersichtlich, dass – zumal für das späte 18. Jahrhundert – methodische Alternativen wenig aussichtsreich erscheinen.
II Ästhetische Theorie im anthropologischen Feld der späten Aufklärung. Ausgangskonstellationen und Begründungskontexte
1. Transdisziplinäre Ästhetik Zu den spezifischen Charakteristika der spätaufklärerischen Wissenschaft des Schönen als des Sensitiven zählt nicht nur die generelle Orientierung an den empirischen Äußerungsformen, Leistungen und Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Sinnennatur – in der Doppelbedeutung von äußerer und innerer Sinnlichkeit.1 Anthropologische Ästhetik in der späten Aufklärung ist in einem konkreten Sinn wesentlich ein transdisziplinärer2 Diskurs über das Schöne: Die intensive Kooperation mit der zunehmend zur Wissenschaft vom Menschen (Anthropologie, Menschenkunde) sich erweiternden Erfahrungspsychologie bildet gewissermaßen
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Zum Begriffsumfang der „Sinnlichkeit“ werden in der Regel (bis hin zur bereits vom Kantianismus beeinflussten Erkenntnistheorie) sowohl die Erkenntnisvermögen (mit der „äusseren“ und „inneren“ Sinnlichkeit) als auch die Begehrungsvermögen gerechnet; die nicht eigens ausgewiesene, spezifisch ästhetische Sinnlichkeit fällt der Definition nach in den Bereich der inneren Sinnlichkeit und ihrer „innere[n] Empfindungen von dem Zustande der Seele“ (Carl Christian Erhard Schmid: Art. „Sinn, Sinnlichkeit“, in: ders.: Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften. Nebst einer Abhandlung. Vierte vermehrte Ausgabe. Jena 1798, S. 484–489, hier S. 487). Nachfolgend wird vom „transdisziplinären“ Begründungscharakter anthropologisch-ästhetischer Wissenschaft im 18. Jahrhunderts gesprochen. Zum einen, um auf das verbindende disziplinenübergreifende Moment spätaufklärerischer Wissensbildung („trans“: ‚über‘) zu verweisen – ihren anthropologischen Index. Zum zweiten, um die Andersartigkeit der in der Regel noch nicht disziplinär verfestigten Wissenschaftszweige bzw. -gattungen des 18. Jahrhunderts von den modernen, durch geistes- und naturwissenschaftliche Separierung ausdifferenzierten Disziplinen des Wissens terminologisch abzuheben. Im zeitgenössischen Sprachgebrauch entspricht „Disziplin“ in der Regel unspezifisch einem „besondern Theil der Gelehrsamkeit“ (vgl. Johann Georg Sulzer: Kurzer Begriff aller Wißenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit, worin jeder nach seinem Inhalt, Nuzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird. Leipzig ²1759, S. 9). Noch 1787 konstatierte C. Meiners entsprechend, dass die „Gränzen dieser Wissenschafft noch vor Kurzem unbestimmt [waren], [...] so blieb es einem jeden frey, sie nach Willkühr zu erweitern“ (vgl. Christoph Meiners: Grundriß der Theorie und Geschichte der schönen Wissenschafften. Lemgo 1787, S. 2). Die präzise Statusbestimmung akademischer Fächer unter dem Titel „Disziplin“ setzt, wie im Anschluss an die Untersuchungen R. Stichwehs zuletzt am Beispiel der Erfahrungspsychologie und Anthropologie der deutschen Aufklärung nachdrücklich gezeigt wurde (vgl. Georg Eckardt, Matthias John, Temilo van Zantwijk, Paul Ziche (Hg.): Anthropologie und empirische Psychologie um 1800. Ansätze einer Entwicklung zur Wissenschaft. Köln u.a. 2001, S. 96ff.), die Einbeziehung der konkreten Prozesse der Institutionalisierung voraus. Zum Terminus der „transdisziplinären Öffnung“ mit Blick auf die begriffsgeschichtlichen Implikationen für die Ästhetikgeschichtsschreibung vgl. generell Mittelstraß: Flug der Eule, S. 72ff.; für die Ästhetik: Karlheinz Barck: „Ästhetik“: Wandel ihres Begriffs S. 56.
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ihre Existenzbedingung.3 Dass die Grundsätze der Ästhetik „fast durchgehends ganz genau mit den ersten psychologischen Wahrheiten verwebt sind, und folglich keine ästhetische Lehre ohne Kenntniß jener psychologischen Begriffe gehörig entwickelt werden könnte“,4 ist denn auch der autorenübergreifende Konsens innerhalb der anthropologischen Aufklärungsästhetik, auf dessen Grundlage am Beginn der Geschichte dieser Disziplin ästhetisch unspezifizierte Konstitutionsmerkmale (anthropologisch allgemeine Voraussetzungen der menschlichen Sinneswahrnehmung, Affektdisposition etc.) zum Begründungsfundament der Ästhetik als philosophischer Wissenschaft erhoben werden.5 Anders als im Kantischen Ästhetikmodell, das das ästhetisch relevante individualanthropologische Wissen den Vermittlungszwecken der eigentlichen Anthropologie vorbehält,6 rangiert in der anthropologischen Ästhetik die von der Erfahrungspsychologie etablierte Theorie der inneren und äußeren Sinnlichkeit als Basisepistem, als prima philosophia der Ästhetik. Es ist diese Verquickung von grundsatzphilosophischer und empiristischer Theorielegitimation (zwischen Cartesianismus und Empirismus) in der vorkantischen Philosophie, die diese hybride Modellierung ermöglicht: Auch als 3
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Aus dieser Kooperation erwächst im Verlauf des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts die Physiologisierung des Commercium-Problems und erfolgt mit der zunehmenden Integration somatologischer Aspekte (Körperlehre) in die Seelenlehre deren Erweiterung zu einer ‚SuperPsychologie‘, der sog. ‚Erfahrungs-Menschenlehre‘ (J. K. Wezel). Vgl. beispielhaft für diesen Prozess das erste selbständige Lehrbuch der nachwolffschen Erfahrungspsychologie: Jakob Friedrich Abel: Einleitung in die Seelenlehre. Stuttgart 1786 sowie die theoriegeschichtliche Kontextualisierung (mit Blick auf Abel) bei Wolfgang Riedel: Influxus physicus und Seelenstärke. Empirische Psychologie und moralische Erzählung in der deutschen Spätaufklärung und bei Jacob Friedrich Abel, in: Jürgen Barkhoff, Eda Sagarra (Hg.): Anthropologie und Literatur um 1800. München 1992, S. 24–52. Philipp Gäng: Aesthetik oder allgemeine Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Salzburg 1785, § 2, S. 2f. Dem Kompendienautor E. Schneider nach ist ästhetisch verstandene Psychologie „der unentbehrlichste Theil in der Aesthetik. Wir müssen die Empfindungen kennen, welche wir darstellen und erwecken wollen. Der Künstler muß die Menschen studieren, wenn er ihnen gefallen will.“ (Eulogius Schneider: Die ersten Grundsätze der schönen Künste überhaupt, und der schönen Schreibart insbesondere. Bonn 1790, § 20, S. 23). Positionen wie die Gängs oder Schneiders, zwei von vielen innerhalb der ästhetischen Lehrbuchliteratur der achtziger und neunziger Jahre, sind in M. Mendelssohns vielzitierten frühen Ästhetikreflexionen – „jede Regel der Schönheit ist zugleich eine Entdeckung in der Seelenlehre“ (vgl. Moses Mendelssohn: Ueber die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften [1757], in: ders.: Ästhetische Schriften in Auswahl. Hg. v. Otto F. Best, Darmstadt ³1994, S. 173) – prägnant vorgebildet. Auch von produktionsästhetischer Seite aus erhält im Kontext dieser und ähnlicher Positionierungen die von alters her bekannte Einschätzung, wonach ‚wahre Dichtung‘ ein Quell des psychologischen Wissens ist, neue Impulse. „Was ist Dichtkunst“, so fragt etwa J. J. Engel in seiner Poetiktheorie, „anders als ein abgerissener Theil der Seelenlehre [...]?“ (Johann Jakob Engel: Die Poetik, in: J. J. Engels Schriften. Bd. 11. Berlin 1845, S. VI, Vorrede). Systematisch disponiert Kant die empirisch begründeten Vermögen des Gemüts im ersten Teil seiner Anthropologie: „Anthropologische Didaktik. Von der Art, das Innere sowohl als das Äußere des Menschen zu erkennen“ (vgl. Kant: Anthropologie, S. 125), nicht aber, und hier liegt die maßgebliche Differenz, in der Kritik der Urteilskraft, in welcher das Gefühl der Lust und Unlust transzendentalphilosophisch („nicht auf bloß empirischen Gründen, sondern auch auf Prinzipien a priori beruhe[nd]“) hergeleitet wird (vgl. Kant: KdU, § 12).
empirisch-anthropologisch untersetzter Wissenszweig – als „empirische oder psychologische Aesthetik“7 – bleibt die Seelenlehre (in Gestalt der Vermögenspsychologie) Bestandteil der philosophischen rationalistischen Metaphysik inbegriffen der Erkenntnistheorie, gehört sie folglich zu den „metaphysische[n] Grundlehren“.8 Die empirisch-anthropologische Verankerung ästhetischer Theorie im späten 18. Jahrhundert schließt jedoch nicht nur die Anerkennung des psychologischen Wissens als empirischer Basisbezugsquelle ästhetischer Theorie ein, sondern es geht im Rahmen dieser Akzeptanz wesentlich auch um die programmatische und auf Wechselseitigkeit beruhende Affirmation der symbiotischen Effekte zwischen empirisch-psychologischer und ästhetischer Wissenschaft. Die Erfahrungspsychologie, so der Philosoph C. C. E. Schmid, entfaltet sich zur Basiswissenschaft der Ästhetik (so wie jene an der ästhetischen Theorie partizipiert), indem der „Beruf des Aesthetikers mit dem Geschäfte des Psychologen“ nunmehr gleichsam vereinigt wird: Jener [der Ästhetiker, E.S.] liess sich von dem Seelenforscher über die ersten Bedingungen alles Wohlgefallens und Vergnügens belehren; dieser vergalt ihm seine dargereichten Prämissen durch ein wichtiges Gegengeschenk, indem er die Kunst und ihre Werke dem Untersucher des menschlichen Gemüths als Stoff zu neuen Vordersätzen oder als Bestätigung seiner eigenen Einsichten anbot. Und dieser Umtausch vermehrte die Reichthümer des einen mit gleichem Gewinn für den andern.9
So wird in Stellungnahmen wie solchen kenntlich, fungieren Grundeinsichten der ästhetischen Theoriebildung, als Begründungsfundament des anthropologischen
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Zu diesem Terminus und seiner Definition in Abgrenzung zur „transzendentalen“ wie zur „metaphysischen“ Ästhetik vgl. Georg Samuel Albert Mellin: Art. „Aesthetik“, in: ders.: Encyclopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie. 1. Band, 1. Abtheilung, Züllichau und Leipzig 1797, S. 77, S. 84. Vgl. Gäng: Aesthetik oder allgemeine Theorie, S. 59: „Von dem untern Erkenntnißvermögen, als der eigentlichen Grundkraft zur Aesthetik“. Carl Christian Erhard Schmid: Empirische Psychologie. Teil 1: Einleitung zur Psychologie überhaupt und Generelle empirische Psychologie, Jena ²1796, S. 63. Die von C. Meiners zu Beginn der siebziger Jahre erhobene Forderung, die Psychologie solle die „Lehre von den angenehmen Empfindungen [...] der Aesthetik [übergeben]“, da sie als akademische Wissenschaft „von zu großem Umfange werden“ würde (Christoph Meiners: Kurzer Abriß der Psychologie zum Gebrauche seiner Vorlesungen. Göttingen, Gotha 1773, S. 7), hatte zweifelsohne sachlich berechtigte Gründe; sie fand bei den Erfahrungsseelenkundlern der Spätaufklärung indes kein Gehör, im Gegenteil. Bis in die neunziger Jahre des Jahrhunderts hinein erzeugte die sukzessive Ausweitung der Erfahrungspsychologie zur Anthropologie kontinuierliche Komplexitätsschübe im Bereich der ästhetischen Wissensbildung, blieb die Ausdifferenzierung der Modi ästhetischer Erfahrung eine vom Boden der ‚Zentralwissenschaft‘ Psychologie aus unternommene Angelegenheit, die weitere Subdisziplinen oder Wissenschaftszweige mit einbezog (vgl. beispielhaft Ernst Platner: Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Ästhetik. Erster Band. Leipzig 1790).
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Wissens10 et vice versa.11 Dass derartige Einschätzungen ein realistisches Bild der transdisziplinären Annäherungsbewegung zwischen ästhetischen und außerästhetischen Konzeptbildungen innerhalb der geisteswissenschaftlichen Disziplinen der späten Aufklärung zeichnen, lässt sich von der wissenschaftlichen Anthropologie und philosophischen Ästhetik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis in die Lehrbuchliteratur der Philosophie am Ende des Jahrhunderts verfolgen,12 für die die disziplinäre Integration der Wissenschaftszweige der Psychologie, Anthropologie und Ästhetik selbstverständlich ist.13 Die Ästhetik als eine zunehmend zur philosophischen Fachwissenschaft sich etablierende Disziplin wusste von dieser symbiotischen Verhältnisbeziehung nicht weniger zu profitieren als die der künstlerischen Praxis wie die der Belletristik nahestehende ästhetische Kritik.14
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Neben den ubiquitären Bezügen der anthropologischen Empfindungstheorie auf die einschlägigen Analysen der popularphilosophischen Ästhetiker und Psychologen (allen voran Sulzer und Mendelssohn) gehört namentlich E. Platners zweite Anthropologie von 1790 zu den exemplarischen Dokumenten dieses symbiotischen Ergänzungszusammenhangs (vgl. Platner: Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Die Zentralstellung des Grundsatzwissens der zeitgenössischen Vermögenspsychologie und psychologischen Ästhetik (Natur und Wirkungsart der Seelenkräfte, wirkungsästhetische Potentiale der Kunstwerke, Kategorien der ästhetischen Produktion und Rezeption etc.) stellt in der philosophischen Ästhetik und Kompendienliteratur etwa seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts den Standardfall dar. Vgl. beispielhaft Gotthilf Samuel Steinbart: Grundbegriffe zur Philosophie über den Geschmack: Erstes Heft, welches die allgemeine Theorie sämtlicher schönen Künste, und die besondere Theorie der Tonkunst enthält. Züllichau 1785, S. 65–72; Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur, S. 13–32. Beide Autoren veranschaulichen den transdisziplinären Begründungskontext ästhetischer Theorie durch ausführliche Fußnotenverweise auf Grundlagentexte der Philosophie, Psychologie, Anthropologie und Ästhetiktheorie; die Kenntnis der einschlägigen Schriften E. Burkes, A. Gerards und H. Homes sowie J. H. Campes, J. A. Eberhards, J. G. Herders, J. N. Tetens’, D. Tiedemanns, C. Meiners’, E. Platners u.a. wird damit ausdrücklich zur Grundvoraussetzung für das Verständnis (kunst-)ästhetischer Produktion und Rezeption erklärt. Noch in der vierten Auflage seines Philosophielehrbuchs etwa unterstreicht der Gießener Philosophieprofessor F. W. D. Snell den Geltungsanspruch der Erfahrungspsychologie (namentlich die „Kenntnis des niedern und höhern Begehrungsvermögens und des Gefühlvermögens“) für die Begründung des ästhetischen Wissens: Die Abschnitte zur Erfahrungsseelenkunde werden als philosophisches Basiswissen und methodisches Propädeutikum für das philosophische Studium deklariert (vgl. Friedrich Wilhelm Daniel Snell: Lehrbuch für den ersten Unterricht in der Philosophie. Erster Theil. Erfahrungsseelenlehre, Logik, Metaphysik und Aesthetik. Vierte, verbesserte Auflage. Gießen und Darmstadt 1806, Vorrede, S. X). Bereits für Engel ist Ästhetik die Wissenschaft der sensitiven und damit der „untern, [...] der ästhetischen Seelenkräfte“ (vgl. Johann Jakob Engel: An Herrn Z**. Von dem moralischen Nutzen der Dichtkunst, in: ders. (Hg.): Der Philosoph für die Welt. Zweyter Theil, Leipzig 1777, 18. Stück, S. 65–80, hier S. 65f.) In vergleichbarer Weise sinnfällig wird der Nexus anthropologischer und ästhetischer Forschungsinteressen im Ästhetikkompendium E. Schneiders, der die psychischen Vermögen ausdrücklich als Bestandteil der „aesthetische[n] Seelenlehre“ firmieren lässt (vgl. Eulogius Schneider: Die ersten Grundsätze der schönen Künste überhaupt, und der schönen Schreibart insbesondere. Bonn 1790, S. 23). Mit großer Ausführlichkeit und kritischem Interesse rezensierte das renommierte literarästhetische Publikationsorgan der Neuen Bibliothek die jüngst erschienene Platnersche Theorie der ästhetischen Empfindungen in der Neuen Anthropologie des bekannten Verfassers. Vgl. Anon.:
Die Kehrseite dieser nachgerade als Komplexitätszuwachs angelegten Konstellation anthropologisch-ästhetischer Theoriebildung: die Tendenz zur Entdifferenzierung zwischen dem genuin Ästhetischen und dem Sinnlichen, sollte die wissenschaftshistorische Kritik der Ästhetik erst mit dem Geltungsdurchbruch der Philosophie Kants (ab den 1790er Jahren) herausstellen, um die transdisziplinären Ausgriffe der nichttranszendentalen psychologischen Aufklärungsästhetik als Verfehlung des Wissenschaftscharakters der Ästhetik zu bewerten. Der anthropologische Standpunkt in der Ästhetik psychologischen Zuschnitts, so der Tenor der Disziplinhistoriker, habe gleichsam systemfremde Anteile in die Wissenschaft des Schönen hineingetragen,15 ja in der vorkritischen Ästhetik sei „das Aesthetische mit dem Sinnlichen überhaupt [...] sonderbar verwechselt worden“.16 Der transdisziplinär gewonnene Zuwachs an anthropologisch-ästhetischer ‚Grundlagenforschung‘ habe in der Tendenz den „rein ästhetische[n] Standpunkt“ aus dem Blick verloren,17 womit der Beweis erbracht sei, dass der Phänomenbereich der ästhetischen Erfahrung einer philosophisch gegründeten Verwissenschaftlichung, aus der eine Kanonisierung ästhetischer Regeln erwachsen soll, per definitionem nicht zugänglich ist.18
2. „Ästhetik von unten“ und „doppelte Ästhetik“ Systematisch rekonstruierbar ist dieser in der Spätaufklärung dominante Typus ästhetischer Theorie jedoch auch noch von einer anderen Seite her: als erster historischer Modellfall jener „Aesthetik von Unten“, die G. T. Fechner im 19. Jahrhundert als eine echte Alternative zur spekulativen bzw. deduktiven Vergewisserung des ästhetischen Wissens gesehen und in systematischer Hinsicht ausformuliert
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Rez. zu Ernst Platners Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise, in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste. Bd. 45, 2. Stück (1792), S. 199–220. Die empirisch-anthropologische Fundierung der ästhetischen Theoriebildung ermöglichte zwar, so der Jenaer Ästhetiktheoretiker und Enzyklopädist J. G. Gruber in seinem kritischen Resümee einer annähernd fünfzigjährigen Theoriebildung, „daß man in die Tiefen der Empfindungen den spähenden Blick warf“; es zeigte sich jedoch bald, dass „freylich zunächst nur die empirische Psychologie, die Aesthetik bloss beyher gewann“ (vgl. Johann Gottfried Gruber: Revision der Aesthetik in den letzten Decennien des verflossenen Jahrhunderts, in: Revision der Literatur in den drey letzten Quinquennien des achtzehnten Jahrhunderts in Ergänzungsblättern zur Allgemeinen Literatur-Zeitung dieses Zeitraums. 5. Jahrgang. Zweyter Band. Halle und Leipzig 1805, Sp. 65–124, hier Sp. 74). Vgl. Bouterwek: Ideen zur Metaphysik des Schönen, S. 13. Ebd., S. 12. Die wissenschaftshistorische Delegitimation der anthropologisch gegründeten Ästhetik betreibt die Kritik unter Anschluss an Kants vielzitiertes Diktum über dieselbe mithilfe der wiederholt verbreiteten Klarstellung, dass „alles Schöne [...] sich auf keine Weise als Wissenschaft behandeln läßt“; die ästhetische Theorie der Aufklärung wird wieder in die Bahnen der Erkenntnistheorie zurückgelenkt. Vgl. Friedrich Gottlob Born: Ueber die Analogie der Logik und Aesthetik, in: Neues Philosophisches Magazin, 2. Bd., 2. St. (1790), S. 205–212, hier S. 212 (Hervorh. E.S.).
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hatte.19 Diese Feststellung gilt in methodologischer Hinsicht, insofern die notierten transdisziplinären Ausgriffe der anthropologischen Ästhetiker auch eine Übernahme des empiristischen Methodenpostulats der Induktion („vom Einzelnen zum Allgemeinen“ aufsteigend) beinhalteten.20 Und sie gilt im Besonderen mit Bezug auf die inhaltlichen Spezifika anthropologisch verfasster Ästhetik. Das Interesse an einer unverkürzten Berücksichtigung der Ausstattungsmerkmale und Vermögenspotentiale menschlicher Sinnlichkeit gehört zum originären anthropologischen Interesse ästhetischer Theorie und bindet folgerichtig das theoretische Verständnis des Schönen an die anthropologischen Voraussetzungen ästhetischen Wahrnehmens, die Aisthesis, nicht an eine dem empirischen Subjekt vorausliegende Metaphysik des Schönen. Mit anderen Worten: Nicht in der Absicht, Empirie in moralisch-ästhetische Norm (sprich Metaphysik) zu überführen,21 sondern vielmehr im begründungstheoretischen Ausgangspunkt „von den Erfahrungen über das, was gefällt und missfällt“,22 gewinnt dieser Typus ästhetischer Reflexion seine theoriegeschichtliche Relevanz und Aktualität.23 Freilich lässt sich ein solches Projekt, die Erklärung der spezifisch ästhetischen Erfahrungs- und Erkenntnisweisen vom Sinnlichen und Empirischen ausgehend zu leisten, nicht ausschließlich auf das Begründungsverfahren von unten reduzieren. Die anthropologische Ästhetik des 18. Jahrhunderts demonstriert vielmehr zugleich und eben darin weist sie sich als eine den Prämissen der Aufklärung verpflichtete aus die anhaltende Bezogenheit des empiristischen Ansatzes von unten 19 20
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Vgl. Gustav Theodor Fechner: Vorschule der Ästhetik. Bd. 1, Leipzig 1876, S. 1–7. Ebd., S. 1. Tetens, eine der zentralen Bezugsfiguren der anthropologischen Ästhetiker auch in methodologischer Hinsicht, plädiert für eine konsequent empiristische Psychologie („psychologische Analysis der Seele, die auf Erfahrungen beruhet“, vgl. Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1, Leipzig 1777, S. IV, und setzt dieselbe von der materialistisch-physiologischen Erklärungsweise (der Betrachtung psychischer Veränderungen „von der Seite, da sie etwas in dem Gehirn, als dem innern Organ der Seele sind“ (ebd.) dezidiert ab. Die vereinseitigenden, wo nicht diskreditierenden Züge der vielzitierten Kantischen Charakterisierung dieses Ästhetiktypus treten unter diesem Blickwinkel deutlicher hervor: „Die Deutschen sind die einzigen, welche sich jetzt des Worts Ästhetik bedienen, um dadurch das zu bezeichnen, was andre Kritik des Geschmacks heißen. Es liegt hier eine verfehlte Hoffnung zum Grunde, die der vortreffliche Analyst Baumgarten fasste, die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien zu bringen, und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben.“ (Kant: KrV, § 1, S. 70, Anm. [B 36]). Fechner: Vorschule der Ästhetik, S. 1 (Hervorh. E.S.). Die aktuellen Debatten zum Problemfeld der Aisthesis verdeutlichen, dass der konzeptuelle Rekurs auf die Aufklärungsästhetik und dessen Leitmotiv, die Kritik am Cartesianischen Logozentrismus, eine doppelte Beerbung zulässt: erstens für die Zwecke einer historisch gestützten postmodernen Revision des Paradigmas der Vernunft, zweitens für die Zwecke einer kritischen Relativierung kallistisch vereinseitigter Ästhetik. Vgl. Wolfgang Welsch: Zur Aktualität ästhetischen Denkens, in: ders.: Ästhetisches Denken. Stuttgart 51998; Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München 2001; Hans Adler (Hg.): Aesthetics and aisthesis. New Perspectives and (re)discoveries. Oxford u.a. 2002.
auf spekulative Prinzipienbestimmungen von oben. Der Weg dahin wird in entscheidender Weise durch den Sachverhalt geebnet (und hier liegen im übrigen die maßgeblichen Differenzen des deutschen gegenüber dem französischen und britischen Ästhetikdiskurs),24 dass die erfahrungspsychologischen Begründungsprinzipien der anthropologischen (vorkritischen) Ästhetik selbst Bestandteil der rationalistischen Metaphysik sind – und zwar auch dort, wo durch diese auf „empirische Weise“ (Hegel)25 die Kritik der vernünftigen und spekulativen Seele geleistet wird.26 Für die anthropologisch begründete Ästhetik bedeutet die Theorie der Aisthesis daher kein Naturalisierungsargument, ist die Erfahrung des Schönen keineswegs lediglich ein Fall der aufs Angenehme eingeschränkten Sinnlichkeit.27 Als „Wissenschaft oder Kenntnis des Schönen“28 auf der Basis einer empirisch ausgerichteten Ästhetik bleibt sie vielmehr der tradierten Schönheitsmetaphysik in grundlegender Weise verpflichtet. Mit anderen Worten: Auch die anthropologische Begründung der Phänomene des Schönen und ästhetisch Vollkommenen bleibt unhintergehbar „einem, von obersten Gesichtspuncten aus construirten, ideellen Rahmen“ verpflichtet, der das ästhetische Wissen in „Beziehung zum Wahren und Guten“29 hält. Mit dem – von Baumgarten über Sulzer bis hin zu Zschokke geltenden – Anspruch, das Schöne als Konstitutionszusammenhang „der theoretischen,
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Einen deutschen Sonderweg ästhetischer Theorie hat Paul de Man erst in Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung – mit Bezug also auf die einsetzende idealistische Ästhetik – exemplarisch zum Ausdruck kommen sehen (vgl. Paul de Man: Kant and Schiller, in: ders.: Aesthetic Ideology. Minneapolis, London 1996, S. 130). Die hier rekonstruierte Anthropologie und Ästhetik samt ihrer Verwurzelung in der philosophischen Tradition Leibniz’ und Wolffs zeigt indessen, dass der deutsche Sonderweg nicht erst für die Phase der Identitätsphilosophie und idealistischen Philosophie des Kunstschönen (Deutscher Idealismus) gilt. Hegels Charakterisierung der (durch den Rationalismus Wolffs geprägten) deutschen Popularphilosophie: „Metaphysik zu sein, von allgemeinen Verstandesbestimmungen auszugehen, damit aber zu verbinden Erfahrung, Beobachtung, überhaupt die empirische Weise“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Bd. 20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. Frankfurt/M. 1986, S. 264), trifft exakt das doppelte Konstitutionsmoment der hier thematisierten Ästhetik: Orientiertheit an der Sinnennatur der ästhetischen Wahrnehmung bei gleichzeitiger Einsicht in die Irreduzibilität transempirischer Konstitutionsprinzipien für eine systematisch begründete Theorie des ästhetischen Wissens. Die Prämissen der rationalistischen Vorstellungstheorie sorgen nicht nur für die Fundamentalbegründung einer im Begriff der menschlichen Seele zugrunde gelegten Personalität des Subjekts, sie wirken auch unmittelbar auf die Konzeption der ästhetischen Aisthesis ein: Noch die Theorie des sinnlich-ästhetischen Gefühls etwa ist im deutschen Ästhetikdiskurs weitgehend nicht sensualistische Lehre der Sinnesempfindung, sondern Theorie der psychischen Leistungen des (vorstellenden) Subjekts (vgl. die Folgekapitel dieser Untersuchung). Es ist, so eine der einschlägigen Stimmen aus dem Umkreis der Kompendienautoren, der „nächste Zweck“ der schönen Künste, „in uns ein sinnliches, jedoch mehr idealisches als körperliches Vergnügen zu erregen und einige Zeit zu unterhalten“ (Steinbart: Grundbegriffe zur Philosophie über den Geschmack, § 1, S. 1). Sulzer, Kurzer Begriff aller Wißenschaften, § 372, S. 57. Vgl. Fechner: Vorschule der Ästhetik, S. 1.
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moralischen und sinnlichen Vollkommenheit zur Empfindung“30 zu demonstrieren, bezeugt die anthropologische Ästhetik die Geltung der Idee der Perfektibilität, mithin die Notwendigkeit sinnlich-ästhetischer Kultivierung (Bildung).31 Die sich im Spannungsfeld von physis und nomos, anthropologischer Grundausstattung und Perfektibilitätsstreben vollziehende Beschreibung und Erklärung des Ästhetischen als des ‚Menschlichen‘ ist folglich die grundlegende Voraussetzung für die Duplizität von empirischem (‚determinatio‘) und transempirischem (‚destinatio‘) Begründungszugang, die der anthropologisch begründeten Ästhetik seit ihrer Abkunft aus der ethisch-ästhetischen Geschmacksdebatte innewohnt.32 Der begründungstheoretische Ansatz von unten bezeichnet in diesem Sinn die bestimmende Dominante der anthropologischen Ästhetiktheorie der Spätaufklärung sie repräsentiert genauer einen markanten historischen Gründungsfall doppelter Ästhetik.33
3. Sinnlichkeit als Grundsignatur des Ästhetischen Mit Bezug auf die Ästhetik der deutschen Spätaufklärung von einer Anthropologisierung des ästhetischen Denkens zu sprechen, bedeutet schließlich in einer dritten und maßgeblichen Hinsicht, den gemeinsamen Ausgangs- und Bezugspunkt von anthropologischer und ästhetischer Wissenschaft im 18. Jahrhundert festzuhalten und damit zugleich zu konturieren, worin die historischen Begründungsleistungen der anthropologischen Aufklärungsästhetik und mithin ihre Anschlussfähigkeit an moderne Verständnisweisen des Ästhetischen liegen. Anthropologische Ästhetik ist auf markante Weise Theorie der menschlichen Sinnlichkeit als Theorie der sinnengeleiteten Wahrnehmung, der Aisthesis.34 30 31
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Vgl. Zschokke: Ideen zur psychologischen Ästhetik, § 55, S. 138. Die spekulativen Ausgriffe auf „die Ideen und Begriffe der Schönheit, der Kunst, [...] insbesondre ihre Beziehung zum Wahren und Guten“, rechnet Fechner der Begründungsweise „von Oben“ zu (Fechner: Vorschule der Ästhetik, S. 1). Für die einschlägigen historischen Einzelnachweise siehe in prägnanter Zusammenschau Monika Fick: Art. Geschmack, in: Gerd Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 870–901, bes. Sp. 883–901. Zum skizzierten Spannungsfeld am Beispiel der ästhetischen und moralischen Geschmackskategorie im 18. Jahrhundert vgl. HansJürgen Gabler: Geschmack und Gesellschaft. Rhetorische und sozialgeschichtliche Aspekte der frühaufklärerischen Geschmackskategorie. Frankfurt/M. 1982. C. Zelle hat diese Theoriekonstellation in seiner systematischen Studie zur „doppelten Ästhetik“ Rhetorik und Kallistik, das Erhabene und das Schöne als koexistente Phänomenbereiche des Ästhetischen systematisch nachgezeichnet (vgl. Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart 1995). In der deutschen Vorlesungsnachschrift seiner Aesthetica definiert Baumgarten die aisthetische Episteme als „die Wissenschaft von allem, was sinnlich ist“; die Grundbestimmungen der ästhetischen Aisthesis müssten explizit auf das rekurrieren, „was die Alten [...] eigentlich in der Seele zur Sinnlichkeit zählten.“ (vgl. Bernhard Poppe: A. G. Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant. Nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens. Borna, Leipzig 1907, S. 65, vgl. auch ebd., S. 66). Ähnlich veranschlagt Sulzer noch 1772 den Stel-
Seit Baumgarten systematisch konzipiert als episteme aisthetike, d.h. als Wissenschaft der sinnengeleiteten Erkenntnisvollzüge,35 thematisiert die vorkantische Ästhetik die empirischen Formen des nichtbegrifflichen, präreflexiven bzw. nondiskursiven Erkennens, Wahrnehmens und Erlebens. Die Verständigung über den Stellenwert der primären Sinneswahrnehmung für die Konzeption genuin ästhetischer Wahrnehmungs- und Erfassungsweisen bildet dabei einen der neuralgischen Problemschwerpunkte im transdisziplinären Diskurs zwischen Philosophie, Psychologie und empirischer Anthropologie. Aus verständlichen Gründen, wie sich von der Warte eines modernen – am Modell der Kunstautonomie orientierten Verständnisses von Ästhetik – deutlich ergibt. Denn erstens geht es für die aufklärerischen Theoretiker des ästhetischen Wissens in der Regel nicht um eine ‚kallistische‘ Engführung des Begriffs von „Ästhetik“ auf „Schönheit“, sondern um das Offenhalten der Rede vom Ästhetischen für alle Aspekte der sinnengeleiteten Wahrnehmung im semantischen Doppelbezug auf ‚ästhetisch‘ (angenehm, schön) und ‚moralisch‘ (gut).36 Zweitens ist anthropologisch begründete Ästhetik nicht auf die Verengung des Begriffs der Sinnlichkeit – auf eine von empirischer Sinnlich-
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lenwert der „Theorie der Sinnlichkeit“ im ausdrücklichen Bezug auf das Projekt einer Wissenschaft der Ästhetik als „ohne Zweifel [...] schwerste[n] Theil der Philosophie“. Vgl. Johann Georg Sulzer: Die Schönen Künste, in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur, und besten Anwendung betrachtet. Leipzig 1772, S. 72. Kein Geringerer als Herder hat die Vielzahl der mit dem Terminus „sinnlich“ verbundenen anthropologisch-ästhetischen Bedeutungsfacetten so prägnant wie sicher auf den Punkt gebracht. In seiner luziden Kritik der zeitgenössischen Ästhetiktheorie (als Verriss der Riedelschen Ästhetik) notiert Herder bezüglich dieses schillernden Begriffs, der „bis zur Vieldeutigkeit reich und prägnant ist, das also auch bis zum Streit und zum Mißbrauch vieldeutig werden kann [...]. Sinnlich leitet auf die Quelle und das Medium gewisser Vorstellungen, und das sind die Sinne; es bedeutet die Seelenkräfte, die solche Vorstellungen bilden, das sind die sogenannten untern Fähigkeiten des Geistes; es charakterisiert die Art der Vorstellung, verworren und eben in der reichen, beschäftigenden Verworrenheit angenehm zu denken, d.i. sinnlich; es weiset endlich auch auf die Stärke der Vorstellungen, mit der sie begeistern und sinnliche Leidenschaften erregen [...].“ Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder. Oder Betrachtungen über die Wißenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen, über Riedels Theorie der schönen Künste, in: ders.: Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Schriften zur Literatur. Bd. 2/1. Hg. v. Regine Otto. Berlin, Weimar 1990, S. 575f. H. Reiss hat in seiner Untersuchung über das frühe, bekanntlich von zahlreichen Anfeindungen geprägte Begriffsverständnis von „Ästhetik“ zurecht als symptomatische Indizien für die Ausrichtung der neuen Wissenschaft am Sinnlichkeitsbegriff bewertet, dass Baumgartens Aesthetica (1750) als „Aisthetic“ rezensiert wird und das erste akademische Ästhetikkolleg (1748) ebenfalls unter ‚aisthetischer Wissenschaft‘ firmiert. Hans Reiss: Die Einbürgerung der Ästhetik in der deutschen Sprache des achtzehnten Jahrhunderts oder Baumgarten und seine Wirkung, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 37 (1993), S. 109–138, hier S. 127, S. 131. Als „Theorie der schönen Künste“, so notiert 1784 der Kompendienautor J. C. König, betrachtet die Ästhetik „nicht bloß Gegenstände, die in die äussern Sinne fallen. Denn das moralische und intellektuelle Schöne gehört auch in ihr Gebiet, und keines von beiden fällt in die äussern Sinne, oder ist ein aistheton, sondern iedes ist vielmehr ein noeton.“ Johann Christoph König: Philosophie der schönen Künste. Nürnberg 1784, S. 11.
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keit isolierte „Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit überhaupt“37 – ausgerichtet. Vielmehr erweist sie sich für die überwiegende Mehrheit ihrer Vertreter als transdisziplinärer Ausgriff auf die anthropologischen Voraussetzungen der ästhetischen Sinnlichkeit – als empirische Lusterfahrung, Theorie des Angenehmen, Psychologie der ästhetischen Erfahrung etc. Sinnlichkeit, deren viel zitierte Aufwertung und „Rehabilitation“ – wahrnehmungstheoretisch, kognitiv und emotional38 – das meint in erster Hinsicht das Geltendmachen der Sinnlichkeit als Verhältnisbegriff des Psychischen zum Physischen: anthropologische Ästhetik ist per definitionem Reflexion des Zusammenhangs von Leib und Seele, Theorie des Commercium mentis et corporis.39 Die ästhetische Aufwertung des Sinnlichen, das umfasst in zweiter Hinsicht die Aufwertung des sensitiv vorstellenden und perzipierenden Subjekts, die Anerkennung und Auszeichnung also aller nicht kognitiv verfügbaren Erfassungsleistungen des Psychischen und damit jener „sogenannten untern Seelenkräfte“, zu denen die zeitgenössische Ästhetik und Psychologie in der Regel alle sinnengeleiteten Formen des Erkennens, inbegriffen die Einbildungskraft, den Witz und die Affektäußerungen auf der Ebene der Triebe, des Genusses und der Neigungen im menschlichen Gemüt zählten.40 Woran die Reflexion des Ästhetischen den Maß-
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Kant: KrV, S. 98 (A 52). Vgl. auch ebd., § 1, S. 70f. (B 36f.): „Eine Wissenschaft von allen Prinzipien der Sinnlichkeit a priori nenne ich die transzendentale Ästhetik. […] In der transzendentalen Ästhetik also werden wir zuerst die Sinnlichkeit isolieren, dadurch, daß wir alles absondern, was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt, damit nichts als empirische Anschauung übrig bleibt. Zweitens werden wir von dieser noch alles, was zur Empfindung gehört, abtrennen, damit nichts als reine Anschauung und die bloße Form der Erscheinungen übrig bleibe, welches das einzige ist, das die Sinnlichkeit a priori liefern kann.“ C. Menke differenziert P. Kondylis’ Basishypothese, wonach die „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ den Motor und das Indiz des Empirisierungsprozesses der anthropologischen Wissenschaften der Aufklärung, ihrer „Seinsfrage“ darstellt (vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. [11981] München 1986, S. 9, S. 42ff.), für die ästhetische Theoriebildung des 18. Jahrhunderts. Die „kognitive Rehabilitierung des Sinnlichen“ kann nur als ein Aspekt im Entstehungsprozess der philosophischen Ästhetik betrachtet werden. „Er ist aber keineswegs der entscheidende. Vielmehr läßt sich die Bedeutung der kognitiven Rehabilitierung der Sinnlichen in der Ästhetik nur richtig abschätzen, wenn sie im Zusammenhang mit ihrer grundsätzlichen Neufassung des Prozeßcharakters sinnlichen Urteilens gesehen wird.“ Vgl. Christoph Menke: Wahrnehmung, Tätigkeit, Selbstreflexion. Zu Genese und Dialektik der Ästhetik, in: Andrea Kern, Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik. Frankfurt/M. 2002, S. 19–48, hier S. 25 (Hervorh. E.S.). Mit den Worten des Kronzeugen der englischsprachigen anthropologischen Aufklärungsästhetik formuliert: „So genau ist die Seele mit dem Körper verbunden, daß nicht Eine Bewegung in ihr entsteht, die nicht eine sichtbare Wirkung auf diesen hervorbringt.“ (Heinrich Home: Grundsätze der Kritik. Zweyter Band. Übers. v. Johann Nicolaus Meinhard. Dritte, verb. u. verm. Ausg. Leipzig 1790, S. 123). Zum Umfang des ästhetischen Begriffs der Sinnlichkeit siehe Herders luzide Kritik der zeitgenössischen Ästhetiktheoire in dessen Kritischen Wäldern (Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder. Oder Betrachtungen über die Wißenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen, in: ders.: Kritische Wälder. Erstes bis Drittes Wäldchen. Viertes Wäldchen. Parali-
stab ihrer Geltung entwickelt, ist entsprechend zugehörig sowohl zur Primärsinnlichkeit der ‚äußeren‘ Sinne (Sinnenbewusstsein) wie zu den Erfahrungsweisen eines durch Vorstellungen vermittelten Wahrnehmens (ästhetische Kontemplation, Genuss etc.).41 Situiert sind die ästhetischen Aspekte der Emotionalität und Affektivität, der Empfindsamkeit und der Rührung für die Autoren anthropologisch begründeter Ästhetik entsprechend stets im Kreuzungsbereich von primärer Sinneswahrnehmung und vermittelter Wahrnehmungserfahrung, bezogen auf den gesamten Phänomenbereich der äußeren und der inneren Sinnlichkeit. Ästhetisch unverzichtbar für die Theoretiker des Schönen ist äußere Sinnlichkeit, insofern der empiristisch orientierten Aufklärungsästhetik die Sinnesempfindung als das Fundament der Theorie des Schönen gilt was schön ist, das muss auch erscheinen.42 Sieht nicht nur die deutsche, sondern auch die europäische Theoriebildung hierin – in der ästhetischen Theorie der Aisthesis – das Zentrum der ästhetischen Reflexion, so besitzt die unmittelbare Sinnesempfindung in der Tat nur einen sehr begrenzten Stellenwert für das, was für die Theoretiker des Schönen als der Kernbezirk des ästhetischen Erklärungsinteresses gilt. Nach der überwiegenden Mehrheit der Theoretiker des Ästhetischen ist das Entscheidende der ästhetischen gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung – und in diesem Befund trifft sich die moderne psychologische Ästhetik mit den Aufklärungsästhetikern , dass es durch eigentlich „nichts sinnlich Wahrnehmbares“43 gebildet wird. Zum ästhetisch irreduziblen Basisdatum wird daher innere Sinnlichkeit, insofern die spontanen (aktivitätsbestimmten) Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen des Subjekts als Grundlage der ästhetischen Zustandserfahrung (Lust-Unlust-Erleben) angesehen werden: Ästhetische Theorie maßgeblich als Theorie der inneren Sinnlichkeit also, als ästhetische Theorie des Gemüths.44 Grundiert wird ästhetisches Wahrnehmen durch das, was sich auf das Subjekt und seine Erfahrungsweisen niederschlägt, und weder
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pomena. In: Schriften zur Literatur. Hg. von Regine Otto. Berlin, Weimar 1990, Bd. 2/1, S. 575f. Vgl. Kant: KrV, § 1, S. 50 (Anmerkung). Vgl. Bouterwek: Ideen zur Metaphysik des Schönen, S. 18: „Es ist überhaupt gar kein ästhetisches Streben des menschlichen Geistes, etwas an sich ergreifen, anschauen, oder durchdringen zu wollen. So bald wir zum Genusse des Schönen mehr verlangen, als daß uns etwas schön erscheine, nimmt unser Geist schon eine speculative Richtung.“ Zur kunstästhetischen Bewertung des ästhetischen Konstitutionsmoments der Phänomene vgl. Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens. München 2000. Theodor Lipps: Einfühlung und ästhetischer Genuß [1906], in: Emil Utitz (Hg.): Aesthetik. Berlin 1923, S. 152–167, hier S. 154. Die im spätaufklärerischen Ästhetikdiskurs vielfach anzutreffende begriffliche Korrelation von „Gemüt“ und „innerer Sinnlichkeit“ war bereits in der frühen Aufklärung deutlich vorgezeichnet worden, und zwar ebenfalls bereits im Rahmen der Bemühung um eine striktere Abgrenzung (man beachte die Gegensätzlichkeit von organismischer vs. mechanistisch-technomorpher Metaphorik!) zwischen erkennender, unterscheidender und „etwas würckende[r] [...] Krafft des Gemüthes“ einerseits gegenüber dem „aeusserliche[n] Sinn“ als „Werkzeug einer mechanischen Einrichtung“ (sic!) andererseits, vgl. Bodmer: Brief-Wechsel, S. 12.
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identisch ist mit dem factum brutum des Sinnenreizes, noch mit dem erkenntnisrelevanten Gehalt, den die ästhetische Wahrnehmungserfahrung potentiell vermittelt. „Die wenigste Sinnlichkeit“, so Platner im Kontext einer ästhetikmoralischen Reflexion, „haben die geistigen Empfindungen des Verstandes und Herzens. Zwischen den sinnlichen und geistigen Empfindungen stehen mitten inne die ästhetischen.“45 Die anthropologische Theorie der ästhetisch relevanten Erfahrung, soviel lässt sich vor diesem Hintergrund plausibilisieren, versucht nicht anthropologische Theorie in physiologicis vom Leibe aus zu sein, auch wenn leibliche Erfahrung in ihr unhintergehbar ist. Die anthropologische Modellierung der Sinnlichkeit betrifft primär die theoretische Verfügbarmachung sinnengeleiteter Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen für das ästhetische Ideal einer allseitig ausgebildeten Persönlichkeit (felix aestheticus, Schöngeist), in dem die Reziprozität zwischen dem Schönen und Guten stets mitgedacht wird46 darin liegt ihr Spezifikum als einer ‚vorautonomen‘ und nicht kallistisch verengten Ästhetik im Sinn einer Ästhetik der transzendentalen Sinnlichkeit des Kantischen Typus.47 Und das nicht zuletzt deshalb, weil ästhetische Erfahrung für die Aufklärung gebunden ist an die Sublimierungsleistungen des sinnlich empfindenden Subjekts; sie ist Reflexion auf die Zusammenhänge zwischen sinnlich gegebenem Gegenstand und jener sinnengeleiteten Selbsterfahrung (Erleben, Genuss, Tätigkeit, Lebensgefühl), die durch die Wahrnehmung des ästhetischen Gegenstandes ermöglicht wird: „Es muß ausgemacht sein“, so konstatiert etwa J. A. Eberhard im Kontext seiner psychologischen Vorstellungstheorie, „daß in dem Maße, als die Seele in die [sic!] Sinnlichkeit versinkt, sie ihren Flug nicht zu dem Anschauen des unsichtbaren Schönen erheben kann. Sie muß dadurch zu den Beschäftigungen des Geistes, zu der Verfeinerung 45
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Vgl. Ernst Platner: Philosophische Aphorismen, § 57, S. 20. Der Sachverhalt ist kein Spezifikum der deutschen ästhetischen Theoriebildung, wie das Beispiel E. Searchs zeigt: Die „am meisten verfeinerten Vergnügungen“ sind diejenigen, die „am weitesten von den sinnlichen Empfindungen entfernt liegen.“ (vgl. Eduard Search [=Abraham Tucker]: Das Licht der Natur. Des ersten Theiles zweyter Band: die menschliche Natur. Aus dem Englischen übersetzt von J. C. P. Erxleben. Göttingen und Gotha 1772, S. 122f.). Für die Autoren ästhetischer Theorie im 18. Jahrhundert stellt die menschliche Sinnlichkeit in ihrer Doppelbedeutung von außen- bzw. innengeleiteter Wahrnehmungsaffizierung sowohl einen ästhetisch wie ethisch relevanten Vermittlungsbegriff dar: „Das Sinnliche ist es, welches beiden, dem Schönen und Guten, die gründlichsten und zuverläßigsten Dienste leistet; denn es giebt ein doppeltes Sinnliches; eines für die äusserliche Empfindung, für die Sinne des Leibes, und die Einbildungskraft; eines für die innerliche Empfindung, oder für die Sinne der Seele, wenn es uns vergönnt ist, die Affekten des Herzens also zu nennen. Jenes hat vornehmlich die Gunst des Schönen [...] Dieß hingegen gehört dem Guten eigenthümlich zu [...].“ Johann Adolf Schlegel: Herrn Abt Batteux [...] Einschränkung der Schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt, und mit verschiednen eignen damit verwandten Abhandlungen begleitet. Zweyter Theil. Leipzig ³1770, S. 213. Eben diese Leistung der anthropologischen Ästhetik, das Ästhetische vom Sinnlichen aus zu konzipieren, identifiziert die Ästhetik um 1800 nachgerade als eine Verwechslung: „des Aesthetischen mit dem Sinnlichen überhaupt“ (vgl. Bouterwek, Ideen zur Metaphysik des Schönen, S. 11f.).
des Geschmackes und der Empfindlichkeit des Herzens untüchtig werden, und das stimmt mit der Erfahrung überein.“48 Vermögenstheoretisch finden diese Differenzierungen zwischen sensitiven, kognitiven und emotiven Komponenten der Sinneserfahrung im ausgehenden 18. Jahrhundert schließlich ihren Niederschlag in der unmittelbar ästhetischen Evaluierung der menschlichen Sinnlichkeit selber: „Sinnlichkeit“, so der Autor H. Zschokke in seinem Ästhetikkompendium, „erkennt nicht, bestimmt keine sittliche Handlungsweise, sondern fühlt bei seinen [sic!] Objekten Lust oder Unlust.“49 Das Charakteristische der ästhetischen Theorie der anthropologischen Ästhetik gewinnt seine theoriegeschichtlichen Konturen indes nicht nur im Kontrast zu dem von Kant – in kritischer Auseinandersetzung mit den Konzepten popularphilosophischer Psychologie, Anthropologie und Ästhetik – entwickelten Paradigma einer „transzendentalen Ästhetik“, das eine systematische Alternative zur zeitgenössischen Ästhetik und Geschmackskritik „in psychologischer Bedeutung“ bieten sollte und als Erkenntnistheorie der „Sinnlichkeit a priori“ konzipiert worden war.50 Spätestens der um 1800 florierenden „neuen Kunstmetaphysik“, die von der Denkform des Absoluten aus die Renaissance der Metaphysik des Schönen einzuleiten suchte, galt die für die anthropologische Aufklärungsästhetik typische Identifizierung des Sinnlichen und des Ästhetischen, ineins mit deren bestimmendem Interesse an ästhetischer Rezeptivität, als suspekt. Die Zentralstellung des Sinnlichen in der Aufklärungsästhetik gerät, hier liegt die maßgebliche theoriegeschichtliche Zäsur, zur Zielscheibe des Angriffs auf Ästhetik als Wissenschaft der Aisthesis überhaupt. Um nicht mehr empirisch-psychologische Theorie der Aisthesis, ästhetische Theorie der Potentiale von äußerer und innerer Sinnlichkeit zu sein, bedürfe es einer ästhetischen Theorie „vom Standpunkt der ursprünglichen Bedürfnisse des menschlichen Geistes, diesem einzigen wirklich ästhetischen Standpunkte aus“.51 Die „neue Philosophie des Schönen“, so läßt sich sachlich hieran anschließend von seiten der frühen Ästhetikgeschichtsschreibung um 1800 vernehmen, beruhe auf dem „Princip des neuen Idealismus“ und sei in entschieden produktionsästhetischer Ausrichtung mit der Aufgabe betraut, die „Hervorbringung
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Eberhard: Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens, S. 205f. Zschokke: Ideen zur psychologischen Ästhetik, § 48, S. 121. Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, § 1, S. 70f. und Anm., ebd., S. 70. Friedrich Bouterwek: Aesthetik. Erster Theil. Allgemeine Theorie des Schönen in der Natur und Kunst. Leipzig 1806, S. V (Hervorh. E.S.). Bouterweks Absage an das Forschungsprogramm der anthropologischen Aufklärungsästhetik ist exemplarisch genau insofern, als seine Position in Sachen Ästhetik den Modestandpunkt des transzendentalen Idealismus und seiner Metaphysik des „Absoluten“ nicht teilt: „Ich wünschte, den wahren Geist einer nicht schwärmerischen und doch keinesweges auf psychologische Verhandlungen über die so genannten Seelenkräfte, Affecten und Leidenschaften eingeschränkten Aesthetik zu wecken und zu beleben.“ (ebd., S. VIII). Der Plan der ‚neuen Ästhetik‘ gipfelt entsprechend in dem Versuch, die „unbedingte Idee des Schönen im unmittelbaren Bewußtseyn auf[zu]suchen“ (ebd., S. 28).
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des Idealen aus dem Absoluten durch die schaffende Kraft des Geistes“ zu leisten.52 Durch die kunstphilosophische Wende in der Ästhetik um 1800 wir die philosophische Aufklärungsästhetik als Theorie der Aisthesis historisiert und auf die Bahn einer neuen Gehalts- und Genieästhetik gebracht.53 Ließe man T. Eagletons Diagnose uneingeschränkt gelten, wonach die antiintellektualistische Aufwertung des Sinnlichen bei Baumgarten maßgeblich von der Absicht einer „Kolonisierung“ des Sinnlichen „durch die Vernunft“54 getragen sei, gewänne die Periode zwischen epistemologisch fundierter Ästhetik (Baumgarten) und spekulativ-idealistischer Neuformulierung der ästhetischen Erfahrung der Kunst (Idealismus) an theoriegeschichtlicher Brisanz gerade aufgrund ihres erwähnten anthropologischen Komplexitätsanspruchs: Durch Aufwertung des wahrnehmenden, empfindenden, genießenden Subjekts die Anerkennung der sinnlichen Natur des Menschen umfänglicher zu machen.
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Johann Gottfried Gruber: Ueber den Geist und die Tendenz der neueren Aesthetik, Sp. 2293. Auch das wird bei Gruber kenntlich. Terry Eagleton: Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie. Stuttgart 1994, S. 15.
III Anthropologie und Physiologie der Emotionen im französischen Lustdiskurs: Descartes, Dubos, de Pouilly
1. Physiologie des Vergnügens. Descartes’ Theorie der Affekte Die Untersuchung über die begründungsgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen anthropologischer und ästhetischer Reflexion mit Descartes beginnen zu lassen, mag prima vista überraschen. Denn dass abbreviatorisch mit der Etikettierung „Cartesianismus“ die philosophischen Positionen René Descartes’ stets mit Selbstverständlichkeit als Antithese empiristischer und sensualistischer Theoriebildung und mithin als Gegenentwürfe zu einer die Aspekte der menschlichen Sinnlichkeit berücksichtigenden Theoriebildung aufgefasst wurden, gehört zur communis opinio der Philosophiegeschichtsschreibung nicht minder als der Ästhetikhistoriographie.1 Sowohl die neuere Philosophiegeschichtsschreibung als auch die aktuelle Ästhetikhistoriographie hat freilich längst darauf hingewiesen, dass Descartes’ Beiträgen zur Theorie der Sinnlichkeit eine maßgebliche Bedeutung für die Konzeption der sinnengeleiteten Aktivitäten des Psychischen in der ästhetischen Diskussion des 1
Ältere und jüngere Forschungspositionen unterscheiden sich diesbezüglich nur unwesentlich. Baeumler hat, wenngleich nicht ausschließlich, Descartes’ „starren mathematische[n] Rationalismus“ im Gegenlicht zu den Leibnizschen Freilegungen des Vor- und Unbewussten positioniert (vgl. Alfred Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft. Reprografischer Nachdruck der 2. durchgesehenen und um ein Nachwort erweiterten Auflage 1967. Darmstadt 1981, S. 39). In vergleichbarer Weise hat Dessoir die Cartesische Philosophie als Ausdruck einer „Leugnung der Sinnenwelt“ und als an-aisthetische „Reaktion gegen die wirklichkeitsfrohe Renaissance“ gedeutet (vgl. Max Dessoir: Geschichte der neueren deutsche Psychologie. Bd. 1, Berlin 1902, S. 25–27, hier S. 25). Auch in den neueren Forschungsbefunden firmiert Descartes’ Philosophie in der Regel als Inbegriff eines das anthropologische (somatologische) Moment vernachlässigenden rationalistischen Theorietypus. So blendet etwa Bornscheuer den psychophysiologischen Begründungskontext der Cartesischen Lust- und Affekttheorie vollständig aus, wenn er Descartes’ LeibSeele-Anthropologie zum philosophiehistorischen Inbegriff eines „unversöhnlichen Dualismus“ zwischen Psyche und Physis hypostasiert, einer rückwärtsgewandten (scholastischen) „Zwei-Substanzen-Lehre“ also – im Unterschied zu den „unterschiedlichen Vermittlungsmodellen eines ‚commercium mentis et corporis‘ “ im 18. Jahrhundert, die durch die Empirisierung der traditionellen (theologisch und politisch-sozial determinierten) Anthropologie gekennzeichnet sind (vgl. Lothar Bornscheuer: Rhetorische Paradoxien im anthropologiegeschichtlichen Paradigmenwechsel, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 8: Rhetorik heute II (1989), S. 13–42, hier S. 30.) Dagegen hat Schmidt-Biggemann den empirisch-anthropologischen Sprengsatz der letzten Schrift Descartes’ für den historischen Wandlungsprozess in der Auffassung des Leib-Seele-Kommerzes (obgleich Descartes auch hier in der Maschinenmetaphorik argumentierte) geltend gemacht: Der Leidenschaften-Traktat „verwischt schon die Substanzgrenzen“ (Wilhelm Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte. München 1975, S. 37).
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18. Jahrhunderts zukommt.2 Nicht nur die Cartesischen Reflexionen zur Lust im Rahmen seines berühmten Briefwechsels mit Elisabeth, die (über Christian Wolffs Theorie des Vergnügens und des Glücks vermittelt) zu den einflussreichsten Theoremen spätaufklärerischer Ästhetik- und Anthropologiekonzeption zählen, beeinflussten indes nachweislich die Debatte um die Natur der sinnlich-ästhetischen Lust.3 Theoriegeschichtlich relevant für die Frage nach historischen Bezugsmodellen anthropologisch-ästhetischer Theorie wird in einer zweiten und entscheidenden Hinsicht, so die hier im Anschluss an neuere Bewertungen vertretene These, Descartes’ späte Affekttheorie in den die Passions de l’âme (1649),4 die sich als grundlegender Beitrag zu einem philosophischen Verständnis der menschlichen Natur auf materialistischer Begründungsbasis rekonstruieren lässt.5 In ihr treten die 2
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Zur umfassenden Würdigung des Cartesischen Philosophiebegriffs vgl. Wolfgang Röd: Descartes. Die Genese des Cartesianischen Rationalismus. München 1982. Röd bezieht in die Rekonstruktion des Cartesischen Philosophiebegriffs nicht nur die gängigen Schriften zum Gewissheitsargument und zur Methodenlehre ein, sondern thematisiert auch die Cartesische Konzeption des Leib-Seele-Problems und die Lehre von den Affekten (vgl. ebd., S. 131ff.). Descartes formuliert in einem seiner Briefe an die Prinzessin Elisabeth (1645) jenen berühmten lusttheoretischen Leitsatz, der die theoretische Grundlage für die Identifikation von Vollkommenheitsbewusstsein und Lusterfahrung bis in das 18. Jahrhundert hinein bildet: „Tota autem nostra voluptas posita tantum est in perfectionis alicujus nostrae conscientia“, René Descartes: Epistolae omnes, partim ab auctore latino sermone conscriptae, partim cum responsis doctorum virorum ex gallico translate. Pars prima. Editio secunda, priore emendatior. Frankfurt/M. 1692, S. 96 (Brief Nr. 6). Es ist exakt diese Stelle, auf die sich Wolff zur Begründung seines eigenen lusttheoretischen Ansatzes in der Erfahrungspsychologie seiner Metaphysik beruft, vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. [Sigle: DM] Mit einer Einleitung und einem kritischen Apparat von Charles A. Corr. [1. Abt.: Deutsche Schriften, Bd. 2.1., Bd. 2.2.], Hildesheim u.a. 2003, § 404, S. 247: „Indem wir die Vollkommenheit anschauen, entstehet bey uns die Lust, daß demnach die Lust nichts anders ist, als ein Anschauen der Vollkommenheit: welches Cartesius schon angemercket.“ Zur Cartesischen Lusttheorie der Elisabeth-Briefe im Entstehungskontext der Eudaimoniekonzeption Wolffs vgl. umfassend Clemens Schwaiger: Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs. Eine quellen-, begriffs- und entwicklungsgeschichtliche Studie zu Schlüsselbegriffen seiner Ethik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, bes. S. 36ff. Vgl. René Descartes: Les Passions de l’âme [Original: Traité des passions]. Die Leidenschaften der Seele. Hg. u. übers. v. Klaus Hammacher, Hamburg 1984 [Sigle: Tr]. Descartes’ letzte Schrift, vom wissenschaftlichen Programm her eine „Ethik als Affektenlehre“ (vgl. K. Hammacher: Einleitung, S. XV–XCVIII, hier S. XV–XXVII), ist bezeichnenderweise von den ersten Übersetzern als Traktat „de passionibus animae“ sowie „Tractatus Pathologicus“, d.h. als Traktat von den Leiden der Seele gelesen worden eine Deutung, die sachlich im Begründungskontext der Pathologia aesthetica Baumgartens und seiner Schule (vgl. oben, Abschnitte IV, V) wiederum eine Rolle spielen wird, deren Verengung auf die medizinische Bedeutung der Krankheitslehre (als körperlich verursachtes Leiden) Descartes’ Auffassung der seelischen Leistungen tatsächlich jedoch nur bedingt vorgearbeitet hat. Eine deutsche Übersetzung der lateinischen Fassung kursierte bereits in der Frühaufklärung: Renati Cartesii Tractat Von den Leidenschafften Der Seele. Aus dem Lateinischen ins Teutsche Übersetzet Und mit Anmerkungen versehen von Balthasar Heinrich Tilesio. Frankfurt, Leipzig 1723. Martino hat die Cartesische Psychophysiologie der Emotionen als „entscheidende Voraussetzung – sozusagen die wissenschaftliche Grundlage – für die Entfaltung einer organischen und systematischen Ästhetik des Pathetischen“ im 18. Jahrhundert gewürdigt. Vgl. Alberto Martino: Emotionalismus und Empathie. Zur Entstehung der bürgerlichen Kunst im 18. Jahrhun-
epistemologischen Motive gegenüber dem Versuch zurück, im Begriffsfeld von Lust (Vergnügen) und Genuss den Zusammenhang von sinnlicher und geistiger Natur des Menschen zu thematisieren und damit genau jenen Diskurs über die Sinnlichkeit zu eröffnen, der gemäß dem leitmotivischen Fragezusammenhang dieser Untersuchung auf die theoretische Erschließung des anthropologischen und ästhetischen Potentials von Affektivität und Emotionalität zielt. Ohne nennenswert vorauszugreifen kann festgehalten werden, dass in der Cartesischen Theorie die Elemente jener korrelativen Verhältnisbestimmung zwischen Vollkommenheit und Lustempfindung liegen, die noch die emotionalistische, empfindsame und anthropologisch-psychologische Theorie der sinnlich-ästhetischen Lust in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als gültige Fassung des Problems betrachten wird. Wenn es im Folgenden also darum geht, den theoretischen Beitrag des Begründers des neuzeitlichen philosophischen Rationalismus unter dem Gesichtspunkt einer empirisch fundierten Anthropologie herauszustellen, dann unter einem doppelten Gesichtspunkt.6 Zum ersten mit Hinsicht auf die verschiedenartigen Versuche, im Zusammenhang der lust- und affekttheoretischen Reflexion die Interdependenzen der leibseelischen Natur des Menschen im Kontext einer gleichermaßen ethisch wie ästhetisch ausgerichteten Argumentation sichtbar zu machen. Zum zweiten im Hinblick auf die dezidierten Rücksichtnahmen dieser Reflexionen auf das sinnlich (somatologisch) bestimmte und lebensweltlich situierte Subjekt.7 Die Intensität der
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dert, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins. Bd. 81/82/83 (1977/78/79), S. 117–130, hier S. 118. Die Hinweise auf Descartes’ affekttheoretisches Spätwerk sind mittlerweile auch von der Ästhetikgeschichtsschreibung aufgenommen worden. Die Verfasser des Ästhetikartikels im „Wörterbuch der ästhetischen Grundbegriffe“ halten fest, dass von diesem Werk Impulse ausgingen, „die den anästhetischen Charakter seiner [Descartes’, E.S.] Erkenntnistheorie relativierten.“ (vgl. Karlheinz Barck, Jörg Heininger, Dieter Kliche: „Ästhetik / ästhetisch“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 1. Stuttgart, Weimar 2000, S. 308–400, hier S. 323, Abschnitt: Der Weg zu Baumgartens ‚Aesthetica‘. Abgesehen von den genannten ästhetikgeschichtlich orientierten Hinweisen auf die Bedeutung der Cartesischen Psychophysiologie resp. Lusttheorie für das Verständnis der Vorgeschichte anthropologisch-psychologisch begründeter Ästhetik im 18. Jahrhundert – zu Vorgeschichte und theoriegeschichtlichem Kontext siehe explizit Martino: Geschichte der dramatischen Theorien, S. 23ff. – ist die Cartesische Affekttheorie in der älteren Forschungsliteratur stets vorrangig unter disziplingebundener Sicht von Moralphilosophie, Anthropologie (Affekttheorie) und Physiologie, nicht jedoch unter ästhetikgeschichtlicher Perspektive rekonstruiert worden. Vgl. etwa zum psychophysiologischen Wissenschaftsansatz der Cartesischen Affekttheorie von neurophysiologischer Warte aus: Karl Eduard Rothschuh: Zur Geschichte der physiologischen Reizmethodik im 17. und 18. Jahrhundert, in: Gesnerus 23 (1966), S. 147–160. Für die Thematik der Elisabeth-Briefe Descartes’ ist die Forschungslage seit Schwaigers zitierter Studie zum Wolffschen Lustbegriff wesentlich verbessert, selbst wenn Schwaigers vollständige Ausklammerung der psychophysiologischen Ansätze des Traité im Zusammenhang der Erörterungen der Wolffschen Lustkonzeption die Aussagekraft einiger Befunde freilich relativiert (vgl. Schwaiger: Problem des Glücks, S. 31ff.). Die Kontinuitätslinie in der philosophisch-psychologischen Reflexion zwischen Descartes, Wolff und Leibniz (vgl. Robert Sommer: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Aesthetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller. Würzburg 1892, S. 1 u. S. 6: den
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Auseinandersetzung mit den genannten Schriften jedenfalls, die sich gleichermaßen für die französischen Emotionstheoretiker (Dubos, de Pouilly u.a.) wie für die deutschsprachigen Apologeten der ästhetisch und psychologisch orientierten Vollkommenheitstheorie (Wolff, Merian, Sulzer, Eberhard u.a.) belegen lässt, demonstriert indes auf eindrückliche Weise, dass das Verständnis der ästhetischen Phänomene im 18. Jahrhundert ohne die Cartesischen Reflexionen im Kreuzungsfeld von Physiologie und psychologischer Affekttheorie einen anderen Verlauf genommen hätte.8 1.1 „L’âme est jointe au corps.“ Lustbegriff als Commerciumdiskurs Aus dem Zusammenhang der komplexen Argumentation des Traité lassen sich zunächst drei Aspekte herauslösen, mit denen sich symptomatische und theoretisch weitreichende Begründungsentscheidungen der Cartesischen Lusttheorie im Vorfeld der Etablierung eines anthropologisch eigenständigen Begriffs der Emotionen kennzeichnen lassen. Lust, betrachtet nicht nur als angenehme Sensation, sondern unter dem Gesichtspunkt des Genießens,9 ist so die erste anthropologische Doktrin der Cartesianischen Psychophysiologie des Affekts nicht lediglich als intellektuelles bzw. intrapsychisches Phänomen zu beschreiben. Ihr Referenzorgan liegt nicht im Intellekt, in den begrifflichen Ordnungsleistungen des Verstandes (entendement), sondern im Gehirn und dem von ihm erzeugten Eindrücken.10 Es muss sich dabei
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„antimaterialistischen Zug“ der Cartesischen Philosophie kennzeichne die „Verherrlichung des verständigen, leidenschaftslosen Denkens, die Grundlage einer rationalistischen Cultur“) lässt sich daher, und hierfür stehen die nachfolgenden Untersuchungen, genauso auch unter umgekehrtem Vorzeichen belegen: Die Tradition einer materialistisch (empirisch-psychologisch und physiologisch) fundierten philosophischen Reflexion menschlicher Natur. Zur Adaption der im Lust- und Vergnügensdiskurs zumal der deutschen Spätaufklärung omnipräsenten Cartesischen Lust- und Vollkommenheitstheorie auf der Rezeptionsachse Wolff-Sulzer-Mendelssohn (die im Übrigen die stetige Bezugnahme auf beide genannten Quellen kennzeichnet) vgl. nachfolgend bes. Kap. VI. Abweichungen gibt es freilich auch hier. In seinem kritischen Resümee der Lusttheorie der Aufklärung hat Georg Dreves (1793) die Cartesischen Begründungsimpulse für das deutschsprachige Verständnis ästhetischer Lust und ästhetischen Erlebens unterschlagen: Dubos und Wolff stehen hier für die Inkubationsphase der anthropologisch-ästhetischen Lusttheorie (vgl. Georg Dreves: Resultate der philosophirenden Vernunft über die Natur des Vergnügens, der Schönheit und des Erhabenen. Leipzig 1793, S. 9–11). Der auch bei Descartes eindeutig in den Reflexionskomplex der „emotion agréable“ fallende deutschsprachige Begriff der „Lust“ (vgl. Tr, Art. 91, S. 141) hat im Traité keine wörtliche Entsprechung. „La Joye“ (von Hammacher zutreffend mit „Freude“ übersetzt), Descartes’ Terminus für einen der sechs Primäraffekte, umklammert sowohl die Bedeutungsaspekte des Genießens („jouissance“; vgl. ebd., S. 140) wie die der primären Sinneswahrnehmung („chatouillement ou sentiment agréable“; Hammacher: „Kitzel oder angenehme Empfindung“; vgl. ebd., Art. 94, S. 145–149, hier S. 146). Tr, Art. 91, S. 141–143, hier S. 141: „Die Freude ist eine angenehme Emotion der Seele, die im Genuß des Guten besteht, wie es die Eindrücke im Gehirn ihr als ihr zu eigen vorstellen.“
um etwas Gutes handeln [...], das die Eindrücke im Gehirn als der Seele zu eigen darstellen, um nicht diese Freude, die eine Leidenschaft ist, mit der rein intellektuellen Freude zusammenzuwerfen, die in der Seele allein durch ihre eigene Tätigkeit entsteht und die man eine angenehme Emotion, die in ihr selbst und durch sie selbst erregt wird, nennen kann, und die den Genuß von etwas Gutem enthält, das der Verstand [Hervorh. E.S.] als ihr zugehörig darstellt.11
Descartes’ Insistieren auf den Repräsentationsleistungen der intellektunabhängigen Seelentätigkeiten, das unterscheidet seine Theorie von den antimaterialistischen Impulsen der sensualistisch argumentierenden Autoren des 18. Jahrhunderts (Helvétius, Condillac etc.), bedeutet im Kern weniger die Depotenzierung der willkürlichen Akte verstandesgeleiteter Tätigkeit, als die Aufwertung sämtlicher körperlich gebundener Vermittlungsleistungen. Nebst dem Gehirn als Zentrum der Bewegung der Lebensgeister sind bei der Lust stets sowohl „die Nerven der Milz, der Leber, des Magens oder der Därme“, im Besonderen jedoch die die Blutversorgung des Herzens gewährleistenden Nerven tätig.12 Lust wird zur Leidenschaft der Seele demgemäß durch die Passivität der Perzeption, in der weder die intentionalen Vorstellungen subjektiver Vervollkommnung eine Rolle spielen noch die selbstreflexive Befriedigung über die psychischen Tätigkeiten als solche den Anlass der Lusterfahrung bildet. Lust als Commercium-Phänomen auf psychophysiologischer Basis, das die Annahme einer gegenseitigen kausalistischen Wirkungsbeeinflussung zwischen Leiblichem und Seelischem zur Voraussetzung hat,13 ist Ergebnis einer organisch (somatologisch und neuronal) vermittelten Erfahrung, durch die 11 12
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Tr, Art. 91, S. 143. Vgl. Tr, Art. 104, S. 159–161, hier S. 159. Auf physiologischer Ebene illustriert Descartes in diesem Zusammenhang physiologische Grundprinzipien, in denen bereits de Pouillys Theorem der „leichten Beschäftigung“ (vgl. oben, Abschnitt III. 2) anklingt: Im schroffen Unterschied zu den Hemmungen des Blutkreislaufs bei Trauer oder Hass beruht die für die Freude konstitutive (fröhliche) Ausgeglichenheit des Gemüts auf regelmäßigem Puls, gesteigertem Blutumlauf und jener leichten Ausdehnung der Venen, die „gleichmäßig und subtil“ aufgebaute Lebensgeister erzeugt (vgl. Tr, Art. 99, S. 153–155, hier S. 153; Art. 104, S. 159–161). Nicht zuletzt in solchen Passagen des Traité zeigt sich, inwieweit Descartes im 18. Jahrhundert auch für diejenigen philosophischen Anthropologen und Erkenntnistheoretiker an Bedeutung gewinnen musste, für die die kurrenten Theorieangebote zur Erklärung des Leib-Seele-Nexus im Kontext philosophischer Zweisubstanzenlehre zunehmend fragwürdig wurden und die den psychophysischen Parallelismus durch die Annahme kausalistischer Interaktionsmöglichkeiten – im Commerciummodell des Influxus physicus – alternativ zu formulieren suchten. Ein Prozess, der den Anthropologiediskurs etwa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts bestimmt und die zunehmende Attraktivität des Modells des ‚physischen Einflusses‘ gegenüber den älteren, in der Regel ontologisch fundierten, Commerciumtheorien des monistischen Psychophysischen Parallelismus (Spinoza), des Okkasionalismus sowie des von Leibniz inaugurierten Erklärungsansatzes der Prästabilierten Harmonie dokumentiert. Vgl. zum allgemeinen philosophiehistorischen Diskussionszusammenhang der Deutungsmodelle des leibseelischen Zusammenhangs nach wie vor Rainer Specht: Commercium mentis et corporis. Über Kausalvorstellungen im Cartesianismus. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966; für die Periode der späten Aufklärung mit Perspektive auf Descartes vgl. im besonderen Günter Mensching: Vernunft und Selbstbehauptung. Zum Begriff der Seele in der europäischen Aufklärung, in: Gerd Jüttemann; Michael Sonntag; Christian Wulf (Hg.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Weinheim 1991, S. 217–235, sowie Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin, New York 1996, S. 55–73.
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erfasst und der Seele vorstellig gemacht wird, was ihrer Natur angemessen bzw. konträr ist. Das Alleinstellungsmerkmal, das Descartes dem neurophysiologischen Interaktionskontinuum aus leiblichen Prozessen, neuronalen Aktivitäten und seelischer Emotion attestiert, betrifft mithin jene Autarkie des Psychischen, die gleichermaßen durch Differenz gegenüber den intellektuellen Vollzugsleistungen geprägt ist wie durch jene emotiven intrapsychischen Erregungen, die vom Subjekt selbst erzeugt werden und eine Steuerung der Emotionen zulassen.14 Als Leidenschaft sui generis hingegen ist die Lust unverfügbares, der Sinnennatur verhaftetes subjektives Erleben. Vermittelt über die Einbildungskraft, schlägt ihre leibbestimmte Natur noch auf die intellektuellen Emotionen durch.15 1.2 Affekt ästhetisch: Wohlgefallen als Spielart von L’Amour Die zweite, für den anthropologisch-ästhetischen Lustdiskurs der Aufklärung wegweisende Komponente der Cartesischen Lust- und Affekttheorie ist die qualitative Einschätzung der ästhetischen Empfindung, des „Wohlgefallens (l’agréement)“16 selbst einschließlich seiner vermögenstheoretischen Platzierung. Descartes’ schmaler, gleichwohl gewichtiger Artikel thematisiert jene Basisunterscheidung, die ebenso im Diskussionszentrum der ästhetisch orientierten, nach-wolffschen Psychologie wie der anthropologisch orientierten Ästhetiktheorie bis zu Kant stehen wird: Die Differenz zwischen dem neigungs- und begierdefreien sinnlichen Anschauen (hier dem sinnlich vermittelten ästhetischen Affekt) und dem gedanklich induzierten Begehren des Guten: Wir nennen gewöhnlich gut oder böse das, was unser innerer Sinn oder unsere Vernunft als unserer Natur angemessen oder konträr zu ihr beurteilt. Aber wir nennen schön oder häßlich, was sich durch unsere äußeren Sinne darstellt, hauptsächlich durch den Gesichtssinn, welcher hier mehr in Betracht kommt als alle anderen. Daraus entspringen zwei Arten von Liebe, und zwar diejenige, die man zu guten Dingen und diejenige, die man zu schönen Dingen hat. Der letzteren kann man die Bezeichnung Wohlgefallen geben, auf daß man sie nicht mit der anderen verwechselt, noch auch mit der Begierde, der man auch häufig die Bezeichnung Liebe zukommen läßt.17
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Vgl. Descartes: Tr, Art. 147, S. 229–231, hier S. 229: Anders als die durch die Bewegung der Lebensgeister konstituierten Leidenschaften sind die „inneren Erregungen der Seele“ „nur durch sie selbst erregt“: Spielarten jener intellektuellen Emotion, die wir, so Descartes, am Beispiel der „intellektuellen Freude“ als „von uns veranlaßt [...] empfinden“ und entsprechend auf subjektive und selbstreflexive Vollzugsaktivitäten zurückführen (vgl. ebd., S. 229, S. 231). Vgl. ebd., Art. 91, S. 143: „Solange die Seele mit dem Körper verbunden ist, kann die intellektuelle Freude tatsächlich jedoch nicht entbehren, von derjenigen begleitet zu sein, die eine Leidenschaft darstellt.“ Ebd., Art. 85, S. 131–133: „Über Wohlgefallen und Schauder“. Es ist der einzige ästhetiktheoretisch orientierte Artikel der Cartesischen Affekttheorie (vgl. dagegen ebd., Art. 90, S. 139– 141). Tr, Art. 85, S. 131–133.
Bereits mit der vermögenstheoretischen Zuordnung des Gefallens zum Affektkomplex der „Liebe“ hatte Descartes den anthropologischen Stellenwert der ästhetischen Affektivität verdeutlicht: Wohlgefallen ist eine Emotion der Seele, die von der Bewegung der Lebensgeister abhängt und demzufolge eine dezidiert leibgebundene Erfahrung darstellt.18 Das Wohlgefallen ist darüber hinaus durch die doppelte Abgrenzung sowohl vom Stellung nehmenden Unterscheiden (Beurteilen durch Vernunft und inneren Sinn) und damit der Vermögensebene der Kognition als auch von der Tätigkeit des Strebens auf der Ebene des affektiven Begehrens19 gekennzeichnet. In der Tat, es ist die Sinnennatur der ästhetischen Erfahrung des Wohlgefallens, ihr aisthetisches Moment, das für den Rationalisten Descartes ihr spezifisches Charakteristikum bildet, und, so die entscheidende Zusatzbestimmung, die Basis ihrer emotiven Überlegenheit gegenüber allen intellektuell (durch den inneren Sinn bzw. Vernunft) vermittelten Wahrnehmungsformen bildet: Im ästhetischen Wohlgefallen artikuliert sich begierdefreier Genuss an der Unvermitteltheit der Sinneserfahrung. Die Basis der ästhetischen Erfahrung ist daher nicht „intellektueller“,20 sondern gerade aisthetischer Natur.21 Denn, so Descartes in Formulierung eines weiteren ästhetischen Basissatzes, was man hier noch am meisten beachten muß, ist, daß diese Leidenschaften des Wohlgefallens oder des Schauders gewöhnlich viel stärker als die anderen Arten von Liebe und Haß sind, weil das, was
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Vgl. ebd., Art. 79, S. 123. Auch hier wieder sind die oben kenntlich gemachten Vermittlungsleistungen der Cartesischen Argumentation gut erkennbar: Die Gegensätzlichkeit von aktiver und passiver Seele wird umgangen durch die Verknüpfung von Bewegungsreiz (der Lebensgeister) und Aktivität der Objektwahl durch die Seele: „Die Liebe ist eine Emotion der Seele, bewirkt durch die Bewegung der Lebensgeister, die sie dazu anreizt, sich willentlich mit den Objekten zu verbinden, die ihr als angemessen erscheinen.“ (ebd.). Von Bedeutsamkeit für die Theorien der Seele in der späten Aufklärung ist darüber hinaus die mit dem Terminus der „Bewegung“ angezeigte Tendenz zu einer Quantifizierung des Psychischen, die verstärkt auch den schulphilosophischen Seelendiskurs der deutschen Aufklärung bestimmt und etwa seit der Jahrhundertmitte bei Autoren wie Krüger in ein nach dem Modell der Naturwissenschaften konzipiertes Seelenmodell transformiert wird, vgl. Johann Gottlob Krüger: Versuch einer Experimental-Seelenlehre. Halle, Helmstädt 1756; zu Krügers Ansatz im zeitgenössischen neurophysiologischen Kontext eingehend Nowitzki: Aufklärungsanthropologien im Widerstreit, S. 33ff. Vgl. Tr, Art. 86, S. 133ff.: „Die Leidenschaft der Begierde ist eine Betätigung der Seele, die sie veranlaßt verursacht durch die Lebensgeister die Dinge in der Zukunft zu wollen, die sie sich als angemessen vorstellt.“ So Martinos Einschätzung der ästhetischen Implikationen der Cartesischen Affektenlehre (Martino: Geschichte der dramatischen Theorien, S. 24). Es ist eben dieser Sachverhalt, der nach Descartes die zu den „passions primitives“ zählenden Affekte der Liebe und des Hasses einerseits von den anderen Hauptaffektgattungen wie der Verwunderung und dem Begehren unterscheidet, die beide vom Gehirn als ‚Mittlerinstanz‘ verursacht sind bzw. aktive Betätigungsformen der Seele darstellen – vgl. Tr, bes. Art. 70–75, S. 109–117 („Verwunderung“ [Admiration]) sowie bes. Art. 86–87, S. 133–135 („Begierde“ [Désir] – und sie andererseits mit den beiden verbleibenden Hauptaffekten der Freude und der Trauer verbindet. Letztere werden „durch Gutes oder Übles, das nur den Körper betrifft“, erregt; als Reizreaktion „der Sinne in den Nerven“ sind sie Leiberfahrungen par excellence (vgl. bes. Art. 91–95, S. 141–149, hier S. 145).
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der Seele durch die Sinne zukommt, sie viel stärker bewegt [la touche, E.S.] als das, was ihr durch die Vernunft vorgestellt wird.22
Das emotive Potential des ästhetischen Gefallens entspringt der Abwesenheit vernunftgeleiteter Vorstellungen und der sinnlich-aisthetischen Wirkung unmittelbarer Anschauung, die im Gesichtssinn ihre höchste Intensitätsentfaltung besitzt.23 Die Anschlussfähigkeit dieser Bestimmungen wird nicht allein die Theorie der vita cognitionis der lebendigen Erkenntnis in der ästhetischen Theorie Baumgartens, Meiers und Plitts demonstrieren; auch bei der Grundlegung der sensualistischen Erkenntnislehre wird diese Konstruktion wieder begegnen.24 Im Unterschied zu diesen späteren Ansätzen bleibt in Descartes’ genereller Zuordnung des Wohlgefallens freilich die spezifische Kopplung zwischen affektiver Natur und sinnlicher Anschauung schönheitstheoretisch gefasst unter dem Begriff der „Betrachtung“25 auffällig, wobei sich, wie zu sehen war, mit der Abkopplung des Gefallens von den Vorstellungsleistungen des Intellekts auch die Ausgrenzung des „inneren Sinns“ verbindet: Die Aufwertung der Konstruktionsleistungen der (neuro-)physiologischen Strukturen der Wahrnehmung macht die Bildung einer autonomen Instanz ästhetisch affiner Wahrnehmungserfahrung entbehrlich.26 22 23
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Tr, Art. 85, S. 133. Diesbezüglich nicht anders als die kunstästhetische Theorie des Deutschen Idealismus verfahrend hat sich die ästhetische Theorie des 18. Jahrhunderts bezüglich dieser hohen Einschätzung des Gesichtssinns angeschlossen und im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu einer differenzierten Theorie der ästhetischen Sinneshierarchie ausgebaut. Henry Homes’ Grundsatz aus der Ästhetik steht beispielhaft für die ästhetiktheoretische Auszeichnung von optischer und akustischer Sinneswahrnehmung einerseits und die Abwertung der anderen Wahrnehmungskompetenzen der äußeren Sinnlichkeit andererseits (vgl. Home: Grundsätze der Kritik I [³1790], S. 7.: „Die schönen Künste sind erfunden worden, dem Ohr und dem Auge Vergnügen zu geben, ohne auf die niedrigern Sinne zu sehen.“). Hegels Theorie des Kunstschönen, welches ausdrücklich „kein nur sinnliches Verhältnis [zwischen den Sinnen und den Gegenständen der Kunst, E.S.] zulassen“ soll, konnte hier unmittelbar anknüpfen: Das „Sinnliche der Kunst“ beziehe sich „nur auf die beiden theoretischen Sinne des Gesichts und Gehörs, während Geruch, Geschmack und Gefühl vom Kunstgenuß ausgeschlossen bleiben.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Mit einem einführenden Essay von Georg Lukács. Herausgegeben von Friedrich Bassenge. Berlin 1955, S. 82. Siehe hierzu oben, bes. Abschnitt IV. Zur Theorie der „lebendigen Erkenntnis“ vgl. im besonderen Caroline Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert. München 2002, bes. S. 135ff. In der Unterscheidung zwischen dem Betrachten der Schönheit der Blumen und jener der Früchte, die zum Essen einladen (vgl. Tr, Art. 90, S. 139–141, hier S. 139), sind die oben gegebenen Befunde bestätigt, auch wenn Descartes zugesteht, dass aus dem Wohlgefallen „Arten der Begierde“ (ebd.) entstehen können. Die Bestimmungsbasis des Wohlgefallens am Schönen: durch den aisthetischen und momentverhafteten Charakter der Sinneswahrnehmung kategorial vom Begehren unterschieden zu sein, bleibt davon unberührt. Auch diesbezüglich werden sich die philosophischen Ansätze zur Begründung der ästhetisch relevanten Seelenvermögen innerhalb der deutschen Ästhetiktheorie in markanter Gegensätzlichkeit positionieren. Sowohl Baumgarten als auch beispielsweise der Willenstheoretiker J. G. H. Feder entwickeln die emotionalen Kompetenzen der ästhetischen Wahrnehmung im wesentlichen durch den Rückgriff auf die Kategorie des „inneren Sinns“, um die Intellektbezüglich-
1.3 Lustpsychologie als Physiologie des Körpers und der Nerven Nicht zuletzt Mendelssohns eingehende und ästhetikhistorisch folgenreich gewordene Auseinandersetzungen mit der Cartesischen Affekttheorie legen nahe, Descartes’ psychophysiologische Verankerung der Emotionen mit gebührender Differenziertheit gerade auch unter dem engeren Gesichtspunkt ihrer ästhetiktheoretischen Einlassungen zu verfolgen.27 Welche Stellungnahmen enthält Descartes’ psychophysiologische Begründung der Emotionen mit Bezug auf die ästhetisch konstitutiven Erfassungsleistungen des Subjekts und wodurch werden die lustvollen respektive ästhetischen Bezugnahmen auf Gegenstände als die dem Subjekt eigenen Erlebnisweisen wahrgenommen? Die lustvollen Gegenstandswahrnehmungen, so Descartes’ dritte folgenreiche Bestimmung im Theoriefeld der angenehmen Emotionen, sind zwar an die Vorstellungsleistungen des Subjekts zurückgebunden, in ihrem Ursprung jedoch das Ergebnis neurophysiologischer Prozessabläufe, in denen die Vermittlung zwischen der augenblicklichen körperlichen Verfasstheit und der Selbstwahrnehmung des Subjekts bereits geleistet ist. Das die Freude genießende Subjekt als bloßer Registrator von „Eindrücken im Hirn“, ohne, so der Physiologe Descartes unmissverständlich, irgendein „Eingreifen der Seele“!28 Was die rationalistische Vorstellungstheorie als ästhetisch relevante Elementartätigkeit der Seele (als einer vis repraesentativa) fassen wird als undeutliche Erkenntnis konzipiert Descartes mithilfe des Begriffs der „Meinung“, die jedoch, wie zu betonen ist, anders als das undeutliche Erkennen nicht mit einer „gesteigerten psychischen Aktivität“ einhergeht: Freude entstammt lediglich der „Meinung, daß man ein Gut besitzt [...], ohne daß man deutlich das Gut oder Übel bemerken kann, das dafür die Ursache ist.“29 So ist darüber hinaus im Cartesischen Modell einer physiologischen Fundierung der Lust folgerichtig auch für jenen Gedanken, den die vorstellungstheoretisch konzipierte Lusttheorie der spätaufklärerischen Ästhetiker zum Achsenbegriff der Diskussion etabliert die Vollkommenheit als Kategorie des ästhetischen Gegenstands kein Platz. Es ist im Effekt, so der Philosoph, die innige Korrespondenz
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keit der ästhetischen Erfassungsleistungen zu betonen (neben der einschlägigen Konzeption Baumgartens, s. oben, Abschnitt IV.1. vgl. die philosophischen Einlassungen in Johann Georg Heinrich Feder: De sensu interno. Exercitatio philosophica prima. Göttingen 1768, bes. S. 30ff. („Pulchri externus sensus“; „sensus pulchri proprie internus“). Mendelssohns 1761 verfasster Entwurf „Vom Vergnügen“ setzt sich außer mit Descartes’ Elisabeth-Briefen eingehender auch mit dessen Traité auseinander und verweist hier insbesondere auf die Artikel 90 und 93 (vgl. Moses Mendelssohn: Ästhetische Schriften in Auswahl. Hg. v. Otto F. Best, Darmstadt 1994, S. 111–115, hier S. 115). Descartes, Tr, Art. 93, S. 145. Ebd. Martino hat eben hierin die Quintessenz der Cartesischen Psychophysiologie des Affekts gesehen, ein Befund, der jedoch, wie zu sehen sein wird, nicht für die Psychophysiologie des Traité, sondern lediglich für die Cartesische Emotionspsychologie (als Thema der Cartesischen Briefe an Elisabeth) Gültigkeit besitzt (vgl. Martino: Geschichte der dramatischen Theorien, S. 22).
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zwischen körperlicher Verfasstheit und subjektivem Fürwahrhalten, welche den Genusszustand der Freude als ein dem Leib wie der Seele als „Gut“ erscheinendes Erleben auszeichnet und als inneres Lustempfinden erfahrbar macht. Descartes’ konsequenter Physiologismus des Psychischen folgenreiches Grundmodell einer Materialisierung des Ich und einer nichtemotionalistischen Konzeption der Empfindungsaktivität der Seele entfaltet hier, so scheint es, seine theoretisch einflussreichsten Wirkungen: Die Zuschreibung der Seele, Freude zu empfinden aufgrund selbst erzeugter, Lust gewährender (vollkommener) Vorstellungen, lässt sich demnach zur Gänze auf einen extrapsychischen, d.h. somatisch bzw. neuronal konstituierten, Vorgang im „[I]nnersten“ des Gehirns (für Descartes: in der Zirbeldrüse) zurückführen, der das Resultat einer physikalisch bestimmten „Bewegung“ ist.30 Alles, was man Kitzel oder angenehme Empfindung nennt, [besteht, E.S.] in der Bewegung, die die Gegenstände der Sinne in den Nerven hervorrufen und die in der Lage sind, diesen zu schaden, wenn sie nicht genug Kraft hätten, ihnen zu widerstehen, was heißt, daß der Körper nicht in guter Verfassung ist. Da das Gehirn von Natur aus so beschaffen ist, die gute Verfassung des Körpers und seine Kraft anzuzeigen, stellt sich das, was einen Eindruck im Gehirn macht, dann der Seele als ein Gut, das ihr zukommt, dar, da sie mit dem Körper verbunden ist, und ruft so in ihr Freude hervor.31
So sind es in der Tat also der Leib und das Gehirn selbst in der Doppelbedeutung von bonne disposition und force32 , die als die influxionistischen Instanzen der Vermittlung agieren und gleichsam katalysatorisch wirken, indem sie der Seele die Vorstellung vermitteln, die leibseelische Lusterfahrung sei psychisch konstituiert.33 Nicht aus der Gegenstandsreferenz, sondern aus der Referenz zur leiblichen Erfahrung konstituiert sich demnach die Subjektivität des Lusterlebens.34 Von ent30
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Tr, Art. 31, S. 53. Hauptindikator für diese anthropologisch-physiologische Topographie des Psychischen ist Descartes’ programmatische Repositionierung des Affektzentrums vom Herz (diese Hypothese erachtet der Psychophysiologe polemisch als „nicht weiter der Beachtung wert“, vgl. ebd., Art. 33, S. 55) zum Gehirn („der innerste von dessen Teilen, welches eine gewisse sehr kleine Drüse ist, die inmitten der Hirnsubstanz liegt“, vgl. Tr, Art. 31, S. 53). Zum neurophysiologischen Begründungskontext des Psychischen für das 18. Jahrhundert vgl. erschöpfend Michael Hagner: Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn. Berlin 1997. Tr, Art. 94, S. 145–149, hier S. 147. Ebd., S. 146. So ist Descartes’ Formulierung zu verstehen, die somatologisch und neuronal vermittelten Eindrücke erschienen „der Seele als ein Gut, das ihr [Hervorh. E.S.] zukommt“ (vgl. ebd., S. 147). Wolff versuchte in seiner Erklärung der Lust, Descartes auf eine objektivistische Theorie des vollkommenen Gegenstands festzulegen – unter Berufung freilich nicht auf den Traité, sondern die Cartesische Formel von der Lust als „Anschauen“ von Vollkommenheit (vgl. Wolff, DM, § 404, S. 247). In der Bewusstseinstheorie des späten Sulzer finden sich aufschlussreiche Parallelen zum psychophysiologischen Ansatz Descartes’, wenngleich mit umgekehrten Vorzeichen: Der Affektgehalt der sinnlichen Empfindungen wird über die vorstellungsgeleitete „sinnliche Empfindung“ vermittelt, um in der Folge „die Erschütterung einem beträchtlichen Theile des Nervensystems mitzutheilen“ (vgl. Johann Georg Sulzer: Von dem Bewußtseyn und seinem Einflusse in unsre Urtheile [1764], in: ders., Johann George Sulzers vermischte Philosophische
scheidender Bedeutung ist dabei freilich, dass die subjektive Lusterfahrung unter der Voraussetzung der Unschädlichkeit des konkreten Lustreizes erfolgt, eine Kautel, anhand derer Descartes in Vorformulierung Dubosscher Axiome die Bedingung der spezifisch kunstästhetischen Lust entwickelt: Denn man hat normalerweise Freude daran [...], sich von aller Art Leidenschaften bewegt zu fühlen, selbst von der Traurigkeit und vom Haß, wenn diese Leidenschaften nur durch seltsame Abenteuer hervorgerufen werden, die man auf einem Theater dargestellt sieht, oder durch ähnliche Vorgänge, die uns in keiner Weise schaden können, aber unsere Seele, indem sie sie rühren, zu kitzeln scheinen.35
Ästhetische Lust als Passion der Seele, die die physische Determination (die Zumutung des Nerven-Kitzels, der Bewegungen) auf der Ebene des Subjekts nicht als Zwang, sondern lustvolle Erfahrung aufgrund des leibseelischen Zusammenspiels und der Annahme, die leibliche Erfahrung sei subjektiv konstituiert, erscheinen lässt.36 Mit dieser Konzeption der angenehmen Emotion gelingt es Descartes erstens nicht allein, die Erfahrungsweise der Lust unter Verzicht auf den Vollkommenheitsbegriff zu entwerfen, sondern werden im Modell des Influxus physicus zugleich die Gegensätze zwischen rezeptiver Passivität (bloßem Sinnesreiz) und psychischer Aktivität (seelischer Vorstellungstätigkeit), physischer Affektzumutung und subjektivem Emotionserleben vermittelt. Obgleich unter die Vermögensgattung des Affekts fallend, gehört die Lust für Descartes sonach weder eindeutig in die Kategorie des Begehrens (des Guten), noch ist sie als angenehme Emotion eine Modifikation der Vorstellungen. Ihre vermögenstheoretische Platzierung weist sie als von der Körper- und Sinneserfahrung her konstituierte Wahrnehmungserfahrung des Subjekts aus. Mit der asymptotischen Annäherung von Lust des Leibes und Lust der Seele, der Materialisierung der psychischen Lust in physiologicis, sind theoretisch die Voraussetzungen geschaffen, die Lusterfahrung sowohl ohne die Disjunktion von sensitiver, psychischer und voluntativer Lust37 als auch ohne die Dichotomisierung in „physische“ und „moralische“ Emotionen der Lust38 zu beschreiben. Dubos wird einer der ersten sein, der die Anschlussfähigkeit
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Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. Leipzig 1773, S. 199–224, hier S. 214). Descartes, Tr, Art. 95, S. 147. Unter diesen Prämissen hat Descartes auch den Typus einer durch Vorstellungen induzierten Lust die Lust, „etwas zu wagen und sich eines vergangenen Übels zu erinnern“ konzipiert: Lust entsteht demnach durch den „Gedanken, daß dasjenige, was sie [junge Leute, E.S.] unternehmen, schwierig ist, [und] einen Eindruck auf ihr Gehirn macht, der mit dem verbunden ist, den sie bilden würden, wenn sie dächten, es sei etwas Gutes, sich sehr mutig, sehr erfolgreich, gewandt, oder sehr stark zu fühlen.“ (Vgl. Tr, Art. 95, S. 149). Sowohl Lévesque de Pouilly als auch Sulzer werden diesem Dispositionsschema folgen (vgl. im Folgenden Abschnitte III.3, V.). Nachweislich hat Descartes’ oben genannte Unterscheidung die im moralischen Diskurs des Vergnügens der späten Aufklärung eine leitende Rolle spielende Lusttheorie Pietro Verris beeinflusst. „Physisch“ heißen, so Meiners in einer zusammenfassenden Übersetzung der Thesen Verris, „diejenigen [Empfindungen, E.S.], die durch eine unmittelbare Impreßion auf unsere
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dieser Konzeption der Emotionen für eine emotionalistische Theorie der ästhetischen Gegenstandserfahrung demonstriert.
2. Natürliche und künstliche Leidenschaften. J. B. Dubos’ Anthropologie und Ästhetik der Emotionen Im historischen Urteil herrscht Einmütigkeit darüber, dass mit Jean Baptiste Dubos’ Kunst- und Emotionstheorie die theoriegeschichtlich grundsätzliche Antithese zur Konzeption des Ästhetischen unter rationalistischen Prämissen erreicht ist, und der damit verbundene Vorstoß zu einem grundsätzlichen und theoretisch folgenreichen Neuverständnis des Phänomenbereichs des Ästhetischen führte.39 Ästhetische Theorie im Element einer anthropologisch-psychologischen Reflexion der Lust Jean Baptiste Dubos’ Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture (1719)40 bieten in der Tat nicht weniger als den Entwurf einer anthropologischen Ästhetik avant la lettre, mit der zugleich die zentralen Begründungselemente der Cartesischen Psychophysiologie und Psychologie der Emotionen wieder aufgenommen und in eine dezidiert ästhetiktheoretische Fragestellung transformiert sind. Denn das Beweisziel, die Klärung der ästhetischen Transformationsleistung von Kunst
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thierische Maschine erzeugt werden; moralische aber solche, bey denen man keine unmittelbare Einwirkung wahrnimmt.“ Christoph Meiners: Rezension zu Pietro Verri: Gedanken über die Natur des Vergnügens, in: Göttinger gelehrte Anzeigen (1776), 41. St., S. 347–351, hier S. 347. Vgl. Baeumler: Irrationalitätsproblem, S. 49: „Wir erhalten eine Ästhetik des sentiment, die den letzten Schimmer des Rationalismus abgestreift hat“ und Martino: Geschichte der dramatischen Theorien, S. 50f.: Die „zum erstenmal in der Geschichte der Kunstphilosophie [aufgestellte] allgemeine Ästhetik des Emotionalismus“ sollte „die Quelle und der Ausgangspunkt aller folgenden ästhetischen Spekulationen darstellen [...].“ Auch Sauder, der von einer „fast revolutionäre[n] Bedeutung“ der Dubosschen Theorie spricht, akzentuiert deren theoriegeschichtlich radikale Alterität zum vorstellungstheoretisch, vollkommenheits- und schönheitstheoretischen Ansatz der deutschen Theoriebildung, wenn er Dubos’ Réflexions critiques attestiert, durch sie sei „zum erstenmal in der ästhetischen Theorie eine totale Subjektivierung der Kunst“ ermöglicht worden, vgl. Gerhard Sauder: Mendelssohns Theorie der Empfindungen im zeitgenössischen Kontext, in: Ehrhard Bahr, Edward P. Harris, Laurence G. Lyon (Hg.): Humanität und Dialog. Lessing und Mendelssohn in neuer Sicht. Detroit, München 1982, S. 237–248, hier S. 238. Jean Baptiste Dubos: Réflexions Critiques Sur la Poesie et Sur la Peinture. Ut Pictura Poesis. Paris 1719. Die erste deutschsprachige Übersetzung erschien 1760 unter dem Titel: Kritische Betrachtungen über die Poesie und Mahlerey, aus dem Französischen des Herrn Abtes Du Bos. [Deutsche Übersetzung von Gottfried Benedict Funk], Erster Theil, Kopenhagen 1760, Zweyter Theil, ebd. 1760, Dritter Theil, ebd. 1761. Nachfolgend wird in der Regel aus dieser Ausgabe zitiert [Sigle: KB], ausgenommen die Fälle problematisch erscheinender Übersetzungen signifikanter Termini, die zitiert werden nach der französischen Ausgabe von 1760: Réflexions critiques sur la Poesie et sur la Peinture. Nouvelle Edition. Dresden 1760 [Sigle: RC]. Die hier für die Erörterung der zentralen Begründungsentscheidungen herangezogenen Passagen der Dubosschen Theorie finden sich in den ersten vier Abschnitten des Ersten Teils der Kritischen Betrachtungen, S. 1–42 [Sigle: KB I] sowie in den Abschnitten 22–31 des Zweiten Teils [Sigle: KB II], S. 301–401.
gegenüber der empirischen Realitätserfahrung, führt Dubos mitten hinein in eine Untersuchung der Verfasstheit der menschlichen Natur selbst41 nicht als anthropologische Theorie gegebener, sondern dynamisch bestimmter situativer Vermögen im Spektrum der „innersten Bewegungen seines [des Menschen, E.S.] Herzens“.42 Durch die empirische Analytik des Emotionalen, als konkrete Wirkungsanalyse von Kunsterfahrung (Poesie, Malerei) und mithin Analysis des ästhetisch induzierten Affekts, gewinnt ästhetische Reflexion hier erstmals ihre theoretische Legitimation.43 Zweifelsohne ist Dubos’ emotionalistischer Ansatz, der schon bald nach seinem Erscheinen nicht nur im eigenen Sprachraum zur meistdiskutierten theoretischen Legitimationsquelle innerhalb der kunstästhetischen Diskussion avanciert, sondern namentlich im psychologischen Ästhetik- und Anthropologiediskurs der deutschsprachigen Aufklärung zu der Autorität schlechthin erklärt wird, Ausdruck einer
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Den ästhetiktheoretischen Ausgangspunkt seiner Untersuchungen fixiert Dubos an jenem „paradoxe“ (RC, S. 3), wonach in der Lust an der künstlerischen Nachahmung jener Situationen, die „die Menschlichkeit in uns erschüttert haben würden, wenn wir wirkliche Zuschauer derselben gewesen wären“, der Selbstschutzmechanismus des Wahrnehmenden („innerliche[r] Schauer“) zum „geheimen Reiz“ verwandelt wird, der im Effekt für die ästhetische Mimesis einnimmt (vgl. KB I, S. 2f.). KB I, S. 3. Die Untersuchungen stellen nach der Ansicht des Verfassers ein Buch dar, das geeignet ist, „uns das menschliche Herz in dem Augenblicke, da es durch ein Gedicht erweicht, oder durch ein Gemählde gerührt ist“, zu entwickeln und für die ästhetische Praxis theoretisch auf den Begriff zu bringen (vgl. KB I, S. 4). Methodisch folgen die Betrachtungen empiristischen Prinzipien, wonach Selbstbeobachtung und Erfahrung gleichsam selbstevidenten Erklärungsanspruch für sich behaupten. Das Neue von Dubos programmatischer Selbstpositionierung der anthropologisch-ästhetischen Theorie, die ihren Ausgangspunkt in dem „jedermann vor Augen [Liegenden]“ nehmen soll (vgl. KB I, S. 3), erhellt der Vergleich mit Crousaz’ ästhetischer Theorie die Gegenfolie der Dubosschen Réflexions critiques. Crousaz’ Verfahren im Traité du Beau (1715) folgt zwar durchgehend den Prinzipien einer deskriptiven Psychologie. Durch das Postulat einer dem empirischen Subjekt vorausliegenden „Idée générale du Beau“, deren Merkmalseigenschaften aus der Analogiekonstruktion mit den Eigenschaften des göttlichen Geistes („Créateur“) gewonnen sind, verkehrt sich der deskriptive Ausgangspunkt in der Folge indes zu einer deduktiven Theorie des Schönen, die die empirisch-psychologischen Erklärungsmuster im Ergebnis gegenüber den klassizistischen Begründungsinteressen zurückstellt (vgl. Jean-Pierre de Crousaz: Traité du beau. Où l’on montre en quoi consiste ce que l’on nomme ainsi, par des Exemples tiréz de la plûpart des Arts & des Sciences. Amsterdam 1715, Reprint Genf 1970, Chapitre II: „Idée générale du Beau“, S. 4ff. sowie Chapitre III: „Caractéres réels & naturels du Beau“, S. 12ff.). Im Unterschied zu Dubos’ vom empirischen Subjekt ausgehenden Ansatz wäre mit Bezug auf Crousaz daher von einer Naturalisierung des objektivistischen Schönheitsbegriffs zu sprechen, der sich für die Neubewertung der Emotionen (inbegriffen: Sensibilität) entschieden offen zeigt. K. Dirscherl hat, den Befund in der Sache teilend, Crousaz einen wichtigen Vorläuferstatus in der ästhetischen Theorie der Sinneswahrnehmung eingeräumt (vgl. Klaus Dirscherl: ‚Von der Herrschaft des Schönen über unsere Gefühle‘. Elemente einer sich formierenden Ästhetik der sensibilité (Fénelon, Crousaz, Dubos), in: Sebastian Neumeister (Hg.): Frühaufklärung. München 1994, S. 383–413, hier S. 400). Zur Bewertung Crousaz’ unter psychologiehistorischem Blickwinkel vgl. Christian Allesch: Geschichte der psychologischen Ästhetik. Untersuchungen zur historischen Entwicklung eines psychologischen Verständnisses ästhetischer Probleme. Göttingen, Toronto, Zürich 1987, S. 169.
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theoriegeschichtlich avancierten Entwicklung im Feld von theoretischer Ästhetik und Emotionstheorie.44 Die wichtigsten Konturen des von Dubos entwickelten Erklärungsansatzes bezüglich der Wesensmerkmale der angenehmen Emotionen werden nachfolgend unter der doppelten Fragestellung nach der Natur der ästhetischen Lust (Abschnitt 1) sowie nach dem Begriff der „künstlichen Leidenschaft“ (Abschnitt 2) so rekonstruiert, dass die Frage nach dem vermögenstheoretischen Ort der ästhetischen Emotion geklärt werden kann. Im Unterschied zu Descartes ebenso wie zu de Pouilly gewinnt Dubos’ Emotionstheorie dabei, wie nachfolgend zu demonstrieren, einerseits die Grundlinien für das Verständnis des anthropologischen Lustbegriffs in der Reflexion auf die Vermittlungsleistungen der kunstästhetischen Emotion, und entwickelt sich andererseits das Verständnis der Eigenart ästhetischer Emotionen (Lust) in der Untersuchung der konstitutiven Merkmale des Emotionalen als primärer Sinneserfahrung. Es ist dieser Sachverhalt, der sie zur exemplarischen Theorieform einer anthropologisch begründeten Ästhetik avancieren lässt.45 2.1 Anthropologie des Lustbegehrens: Affekt als „gewaltsame Bewegung“46 Lust, so die entscheidende Ausgangsbestimmung des Dubosschen Ansatzes in den Réflexions critiques, gewinnt ihre ästhetische Geltung weder als Form des lebensweltlich erfüllenden Genusses noch als sanfte psychische Aktivität. Sie gehört vielmehr in jene Affektstruktur des Begehrens, die durch die Konvergenz des Angenehmen mit dem Unangenehmen, der Lust und des Leidens, des Angenehmen mit dem Schmerzhaften bestimmt ist.47 Das empfindliche Vergnügen [plaisir sensible] ist so oft einem Leiden ähnlich [...], und [äussert] sich bisweilen mit allen Kennzeichen des lebhaftesten Schmerzes. Die beyden Künste der Poe-
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Auf die neben Descartes in Frage kommenden Bezugsautoren von Dubos’ ästhetischer Theorie der Emotionen hat erstmals Martino umfassend hingewiesen, wobei Pascal und Malebranche neben dem von Dubos ausdrücklich geschätzten Locke vermutlich den stärksten Einfluss ausgeübt haben (vgl. Martino: Geschichte der dramatischen Theorien, S. 51–54). Die Konstante in der historischen Deutung innerhalb der Ästhetikhistoriographie wird von Hazard bis Martino durch die These von der Identität zwischen Schönheitsbegriff und ästhetischer Pathologie gebildet. Vgl. Paul Hazard: La crise de la conscience européenne (1680– 1715). Paris 1961, S. 46f.; Alfred Lombard: L’abbé Du Bos. Un initiateur de la pensé moderne (1670–1741). Paris 1913; Heinrich von Stein: Die Entstehung der neueren Ästhetik. Hildesheim 1964, S. 234–236; Cassirer: Philosophie der Aufklärung, S. 434 („Ästhetik des Pathetischen“); Eugen Teuber: Die Kunstphilosophie des Abbé Dubos, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. 17. Bd., Stuttgart 1924, S. 361–410, hier S. 403; Martino: Geschichte der dramatischen Theorien, S. 45–57, hier S. 46, Anm. („Identifizierung des Schönen mit dem Pathetischen“). Vgl. KB I, S. 12; RC, S. 11: „l’agitation“. Hier liegt der anthropologiegeschichtlich bedeutsame Ausgangspunkt der Dubosschen Theorie, der sie sowohl von Pascals als auch Descartes’ bedürfnistheoretischen Ableitungen der Lust unterscheidet (vgl. Descartes: Tr, Art. 90, S. 139–141, hier S. 139).
sie und Mahlerey erhalten niemals mehr Beyfall, als wenn es ihnen gelingt, schmerzhafte Empfindungen in uns zu erregen.48
Dass das „plaisir“ im Element der Kunst stets am affektiven Potential der „schmerzhaftangenehme[n] Empfindungen“ (Mendelssohn)49 partizipieren muss, ist die conditio sine qua non dieser ästhetischen Reflexion, die die paradigmatischen wirkungsästhetischen Kriterien entsprechend nicht im Lustspiel, sondern in der Tragödie und der Raphaelitischen Malerei verwirklicht sieht.50 Wie Dubos die Affektivität des Empfindens herleitet, zeugt entsprechend weniger von jenem medizinisch-diätetischen Blick, den de Pouilly nur wenig später auf die menschliche Natur werfen wird,51 als von einer vertieften Einsicht in die spezifische Differenz zwischen dem Selbsterhaltungsgesetz der physischen Natur und dem geistig bestimmten Anspruch der conditio humana, die physische Selbsterhaltung in Einklang mit den geistigen Bedürfnissen und Sinnvorstellungen zu bringen. Denn dass die Lust bedürfniskonstituiert ist eine anthropologische Prämisse, die Dubos Pascal entlehnt52 leitet er aus einer in der Tat existenziellen Zwangssituation ab, die auf der Ebene der psychischen Vorstellungen erzeugt wird und in ihrer Intensität die Vordringlichkeit jenes Bedürfnisses spiegelbildlich abbildet.53 Es ist ausdrücklich die Nothwendigkeit, die Seele zu beschäfftigen, [die] eine der größten bey den Menschen [ist]. Die lange Weile, die der Unthätigkeit unsrer Seele sogleich nachfolget, ist für den Menschen ein so
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Dubos: KB I, S. 1. Mendelssohn: Ästhetische Schriften, S. 86. Zur Kritik Dubos an der (Molièrschen) Komödie vgl. KB I, S. 212–221. Vgl. hierzu die Ausführungen im nachfolgenden Kapitel. Das Original der Réflexions macht die zentrale Bestimmung der Seele an der Bedürfnisnatur des Geistes, d.h. an den Vorstellungen fest (vgl. RC, S. 6: „L’âme a ses besoins comme le corps; & l’un des plus grands besoins de l’homme, est celui d’avoir l’esprit occupé [Hervorh. E.S.].“) eine Konstruktion, an die Autoren der späten Aufklärung wie Sulzer und Mendelssohn unter Anschluss an die schulphilosophische Tradition (Leibniz, Wolff) unmittelbar anknüpfen konnten (vgl. oben, Abschnitt VI.2). Das Beschäftigungsmotiv aus Überdruss (Langeweile), im Kontext der Dubosrezeption die anthropologische Leitprämisse der emotionalistisch-dynamistischen Ästhetik (de Pouilly; Sulzer), hatte Dubos den Pascalschen Pensées entnommen. Der thematische Abschnitt zum Überdruss in den Gedanken hält unter anderem fest: „Nichts ist dem Menschen so unerträglich, wie in einer völligen Ruhe zu sein, ohne Leidenschaft, ohne Tätigkeit, ohne Zerstreuung, ohne die Möglichkeit, sich einzusetzen. Dann wird er sein Nichts fühlen, seine Verlassenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unablässig wird aus der Tiefe seiner Seele die Langeweile aufsteigen, die Niedergeschlagenheit, die Trauer, der Kummer, der Verdruß, die Verzweiflung.“ (vgl. Blaise Pascal: Gedanken. Nach der endgültigen Ausgabe übertragen von Wolfgang Rüttenauer. Mit einer Einführung von Roman Guardini. Wiesbaden 1947, S. 82). Die Tragweite der anthropologisch-existentiellen Ausrichtung der Emotionen ist nicht zu übersehen wenn es etwa heisst: „Je dringender das Bedürfniß ist: Je empfindlicher ist das Vergnügen, demselben abzuhelfen“ (KB I, S. 6, S. 12). „Doch den Menschen überhaupt sind die Martern, die sie fühlen, wenn sie ganz und gar ohne Leidenschaften leben sollen, weit unerträglicher, als die Martern, welche die Leidenschaften nur jemals zu erwecken vermögend sind.“ (ebd., S. 12).
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schmerzhaftes Uebel, dass derselbe öfters die mühsamsten und beschwerlichsten Arbeiten unternimmt, sich nur der Foltern dieses Uebels zu überheben.54
Das unübersehbar, gleichsam zwanghaft dynamische Bestimmungsmoment, das sich mit diesem Befund verbindet, unterstreicht Dubos mit jener zirkelhaften Struktur psychischen Beschäftigtseins für das zwischen dem Aktivitätsbegehren und der Erfüllung dieses Bedürfnisses weder die subjektive Lust am Gelingen der Vollzugstätigkeiten der Genuss bestimmend ist noch gar (wie auf der Cartesisch-Wolffschen Traditionslinie) die lustgeprägte Vorstellung der Vollkommenheit als eines subjektiven Gutes. Am Ursprung aller psychischen Tätigkeiten gewahrt Dubos vielmehr das Leiden am Zwang, den Betätigungstrieb an stets wechselnden und zu erneuernden Gegenständen zu perpetuieren: Weder die das Vergnügen begleitende Leidenschaft noch die aus dem Betätigungszwang resultierende Fluchtbewegung „können den Menschen durch ihre eigene Natur [Hervorh. E.S.] gefallen.“55 So ist die Dynamik des Affekts, die Dubos anthropologisch konstituiert, gerade das der menschlichen Natur und ihren Betätigungsformen nicht Gemäße, sind Leiden und Schmerz, nicht Lust und Freude, die grundlegenden Charakteristika der Emotionen. Die affektive Struktur aller menschlichen Betätigungen entspringt demnach jener negativen Anthropologie des Begehrens, die ebenso der freien Wahl wie der Genugtuung, die Vollzugstätigkeit auf der Vermögensebene des Emotionalen respektive des Affekts als Bestandteil positiver Lebenserfahrung zu erleben, entbehren muss.56 Für Dubos legitimiert sich daher im emotiven Begehren der Affekt lediglich als Notwendigkeit, die Affektlosigkeit zu vermeiden. Denn nichts, so Dubos, ist schlimmer, als das Bewusstsein der Langeweile zu erfahren; Betätigung freilich, als Remedium der „dauerhafte[n] und peinliche[n] Schmerzen“57 dieses Zustands, ist im Effekt aporetischer Struktur. Vor dem Hintergrund dieser anthropologischen Prämissen scheint zunächst deutlich, dass die ästhetische Pathologie, die diesem Konstitutionsmuster entspringt, nicht auf eine Thematisierung der Emotionen als einer Spielart des subjektiven Genusszustands hinauslaufen kann. Anders als im Cartesischen Erklärungsmodell der leib- und nervenvermittelten Lusterfahrung der Seele akzentuiert Dubos’ pragmatische Anthropologie der Emotionen die Sphäre des Affekts und der Emotionen als Resultat der entzweiten Natur und damit als affektive Triebkraft der ästhetischen Erfahrung selber.58 Denn gemäß dieser gehen erstens sowohl die 54 55 56
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Ebd., S. 6. Ebd., S. 10. Die diesbezügliche Abweichung von Descartes trotz verwandter bedürfnistheoretischer Ableitung ist deutlich: Anthropologisch bestimmend ist für Descartes das „äußerst brennend[e]“ Verlangen nach dem Genuss selbst, jener von der Natur wohlweislich eingerichteten Affektkategorie des „Wohlgefallens“, die „das größte dem Menschen zukommende Gut“ darstellt (vgl. Descartes, Tr, Art. 90, S. 139). Dubos: KB I, S. 10. Pietro Verri, dessen Lusttheorie Christoph Meiners 1776 in einer pointierten Zusammenfassung übersetzte, hat in der anthropologischen Disposition zum dauerhaften Schmerz, den er im Un-
Lust an der Leidenschaft als auch die Lust am Vollzug der angenehmen Emotionen ins Leere. Und nach ihr ist zweitens die Sphäre des Affekts letztlich stets Ausdruck einer vom Schmerzhaften gerade nicht erlösenden Zumutung der Physis: „gewaltsame Bewegung“.59 2.2 Kunsttheoretische Transposition des Affekts: Künstliche Leidenschaften Vor dem Hintergrund dieser anthropologischen Prämissen erscheint die Funktionszuweisung an die Adresse der Künste (Poesie und Malerei), dem menschlichen Beschäftigungsbedürfnis kompensatorisch abzuhelfen, folgerichtig: „Diese Schattenbilder von Leidenschaften, welche die Poesie und Mahlerey durch ihre Nachahmungen in uns hervorbringen können, sind hinreichend, der Nothwendigkeit, beschäfftigt zu seyn, worinnen wir uns befinden, abzuhelfen.“60 Für eine Reflexion jener „schlimmen Folgen, welche die meisten Leidenschaften mit sich führen“,61 war in Descartes’ optimistischer Psychophysiologie des Lustaffekts kein Platz vorgesehen. In Dubos’ ästhetischer Anthropologie hingegen, die den Phänomenbereich der Emotionen unter dem Gesichtspunkt seiner pragmatisch-existentiellen Bezogenheit auf das Lebensgefühl des ‚alltäglichen‘ und des bewusst kunstgenießenden Subjekts bezieht, werden erstmals in der Geschichte der ästhetischen Theorie drastisch die Konsequenzen bemerkbar, die aus der fortgeschrittenen Auseinandersetzung mit dem psychologischen Moment ästhetisch relevanter Erfahrung resultieren. Der Antrieb für die theoretische Ausmessung der Potentiale ästhetisch erzeugter Emotionen entspringt der Reflexion der menschlichen Affektnatur und ihrer negativen Begleiterscheinungen.62
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terschied zu Dubos jedoch als rein physisch konstituiert ansieht – „wir alle leiden beständig unnennbare Schmerzen, deren Sitz wir nicht genau wissen; dergleichen müssen in einem jeden Menschen sich finden, weil keiner einen durchaus gesunden Körper hat, und Unordnung oder Unvollkommenheit in der thierischen Maschine nothwendig Schmerz nach sich zieht“ – explizit die Voraussetzungen der (kunst-)ästhetischen Sensibilität gesehen. Vgl. Meiners: Rezension zu Pietro sowie ebd., S. 350: „Ganz gesunde und vergnügte Menschen“, so Verri, „würden nie schöne Künste erfunden haben [...]; [...] völlig gesunde Menschen [würden] gegen die Reitze derselben am wenigsten empfindlich [sein]“ (ebd., S. 350). Verris bereits von der zeitgenössischen Kritik als originell eingeschätzte genussästhetische Schlussfolgerung hat Parallelen zu Schlegels Kritik an der poetischen Nachahmung, die der „Unähnlichkeit“ entbehrt: „Der große Zweck aller schönen Künste ist dieser, kleine unangenehme Empfindungen zu erregen, und sie plötzlich aufhören zu machen. Musik braucht Misstöne, die Dichtkunst dann und wann rauhe Verse.“ KB I, S. 12. Ebd., S. 26. Ebd., S. 25. Vgl. ebd., S. 25: „Könnte [...] die Kunst nicht Mittel erfinden, die schlimmen Folgen, welche die meisten Leidenschaften mit sich führen, von dem, was sie angenehmes haben, abzusondern? Könnte die Kunst nicht, so zu reden, Wesen von einer neuen Natur erschaffen?“
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Wie hier gezeigt werden soll, verdeutlicht Dubos’ historischer Entwurf einer ästhetischen Theorie des Affektiven63 exemplarisch gerade jene Konstante in der anthropologisch-ästhetischen Theoriebildung der Aufklärung, die wenig später im Grundbegriff der philosophischen Ästhetik, der Aisthesis, manifest wird: Die ästhetische Rehabilitation der Sinnlichkeit verbindet sich keineswegs mit dem uneingeschränkten Plädoyer für die Intensität der primären Sinneserfahrung, der sinnlichen Lust. Sie geht vielmehr stets mit dem Versuch einher, die physische Sinneserfahrung als ästhetische zu sublimieren und das heißt, als Möglichkeit einer sinnengeleiteten Erfahrung des Subjekts zu entwerfen (ästhetisches Erleben, ästhetisches Erfahren), in der dieses sich als Konstituens dieser Erfahrung wahrnimmt bzw. den sinnlich-ästhetischen Erfahrungsgehalt als einen subjektgemäßen (lustvollen) erfährt.64 Diesbezüglich ist Dubos’ Begründung einer grundlegenden Differenz in der Affektstruktur, die er durch das Gegensatzpaar von „künstlichen Leidenschaften“ (passions artificielles) und „wahrhaften Leidenschaften“ (passions véritables) erreicht, theoriegeschichtlich gesehen von erheblicher Tragweite und soll deshalb an dieser Stelle ausführlicher zitiert werden:65 Die Mahler und Dichter erregen [...] künstliche Leidenschaften dadurch, dass sie uns Nachahmungen solcher Gegenstände darstellen, welche fähig sind, wahrhafte Leidenschaften in uns zu erwecken. Denn der Eindruck, den diese Nachahmungen auf uns machen, ist von eben der Art, als derjenige, welchen der von dem Mahler oder Dichter nachgeahmte Gegenstand selbst uns machen würde. Gleichwie aber der Eindruck, den die Nachahmung verursacht, sich von dem Eindrucke, den der nachgeahmte Gegenstand hervorgebracht haben würde, nicht weiter unterscheidet, als darinnen, dass er nicht so stark ist: So muß er auch eine Leidenschaft in der Seele erwecken, die derjenigen ähnlich ist, welche der nachgeahmte Gegenstand in ihr hätte erregen können. [...] Weil aber der Eindruck, welchen die Nachahmung verursacht, nicht so tief geht, als der Eindruck, den der Gegenstand selbst gemacht haben würde; weil er nicht ernstlich ist, da er sich nicht bis auf die Vernunft erstreckt, die sich in dergleichen sinnlichen Empfindungen nicht hintergehen läßt [...] weil endlich dieser Eindruck nur den sinnlichen Theil der Seele lebhaft rührt, so verlischt er auch bald wieder. Da er nur auf der Oberfläche der Seele bleibt, so
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Dubos’ neuer Standpunkt in der Geschichte der ästhetischen Theoriebildung ist im übrigen auch darin zu sehen, dass mit den Kritischen Betrachtungen erstmals der Versuch unternommen wird, die Reflexion auf die Voraussetzungen kunstästhetischer Erfahrung auf den Doppelaspekt von physischer und pragmatischer Anthropologie zu beziehen und unter historischem Gesichtspunkt zu betrachten für Dubos verbindet sich die Analyse der ästhetischen Natur des Subjekts mit der Untersuchung der „physischen Ursachen“ für das Entstehen des ästhetischen Künstlers („Genie“) wie z.B. Beschaffenheit der Luft, Nationalcharakter, Klima etc. (vgl. KB II, S. 136–297). Mit Rudolf zur Lippe lassen sich die ästhetisch relevanten Vollzugsformen des Erlebens und Erfahrens als „Dimensionen unserer Existenz“ bzw. der „Verarbeitung“ verstehen, die „jede auf andere Weise die Gleichzeitigkeit zu leisten haben. [...] Erleben entspricht etwa dem, was man emotionale Verarbeitung nennen könnte. Erfahren meint die Verarbeitung im Bewußtsein, und zwar der verschiedenen Formen und Schichten des Bewußtseins vom nicht verstandesmäßigen ‚Körperbewußtsein‘ durch die begrifflichen Umsetzungen bis hin zu den Bewußtseinsformen lebensgeschichtlicher und gattungsgeschichtlicher Praxis.“ Vgl. Rudolf zur Lippe: Sinnenbewußtsein, S. 287f. Vgl. KB I, S. 26f.; RC, S. 25.
verschwindet er, ohne die dauerhaften Folgen hinter sich zu lassen, welche der Eindruck des von dem Künstler nachgeahmten wirklichen Gegenstandes verursacht hätte.66
Qualitativ den realen (natürlichen) Emotionen verwandt, zeichnen sich die suggerierten ästhetischen Emotionen67 gegenüber diesen vordergründig durch ihren verminderten Intensitätsgrad sowie durch ihren distanzierenden Charakter aus. Im Wissen um den Konstruktionscharakter des ästhetisch Dargestellten (ästhetische Illusion) soll nach Dubos die ästhetische Emotion eine Form der pathetischen Identifikation darstellen, die von den negativen Begleiterscheinungen, welche die natürlichen Leidenschaften hervorrufen, per definitionem befreit ist. Mit dem wirkungsästhetischen Postulat an die Adresse der Kunst, die Realität des Affekts durch die kunstästhetische Suggestion von Affektivität zu ersetzen, bekundet sich das Interesse sowohl an einer künstlichen Affekterregung als auch an einer ästhetisch induzierten Steuerung und Sublimierung der primären Sinneserfahrung des Affekts.68 Denn Rückgewinnung der seelischen Autonomie durch ästhetisch erzeugte Leidenschaften ist genauer besehen Dubos’ eigentliche Formel für die affektästhetische Überlegenheit der ästhetischen Mimesis (Gedichte und Gemälde) gegenüber der elementaren psychophysischen Affekterfahrung. Wie die von Dubos gewählten Beispiele affektästhetischer Emotionalität im einzelnen belegen, beruht die anthropologische Rechtfertigung der kunstästhetischen Emotion somit erstens auf ihrer Leistung, durch die Transformation der möglichen Schmerzhaftigkeit realer Affekte im ästhetischen Abbild die Schädlichkeit und den hartnäckigen Zumutungscharakter der primären Sinneserfahrung so zu reduzieren, dass der sinnlich-ästhetische Vorstellungsakt anstelle des potentiell schmerzverursachenden Vorstellungsinhalts als Wesensmerkmal der emotionalen Wahrnehmung erscheint: Das Vergnügen, das man empfindet, wenn man die Nachahmungen sieht, so die Mahler und Dichter von Gegenständen zu machen wissen, welche Leidenschaften in uns erregt haben würden, deren Wirklichkeit uns zur Last gewesen wäre, ist ein reines Vergnügen. Es wird nicht von
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KB I, S. 26f. Den Terminus der „Rührung“ setzt Dubos in der Regel für „gefallen“ bzw. (im Geschmackskapitel seiner Abhandlung) pleonastisch für das wirkungsästhetische Potential von sinnengeleiter Kunsterfahrung, sensitiver Geschmackserfahrung (des „ragout“) und geistigem Genuss: Es ist der „Endzweck“ aller dieser Beschäftigungen, „uns zu rühren und zu gefallen“ (vgl. KB II, S. 303). Der Popularphilosoph Thomas Abbt wird annähernd fünfzig Jahre später den hier von Dubos problematisierten Sachverhalt mit Hinblick auf eine vermögenstheoretische Differenzierung des Emotionsbegriffs thematisieren und die Selbstverfügbarkeit der inneren Emotion als einer ästhetisch qualifizierten am Vermögen der Einbildungskraft dingfest machen: Jede innere Emotion (als „Empfindniß“, im Unterschied zur äußeren Sinneswahrnehmung als „Empfindung“) hat „etwas angenehmes“, weil sie „nur durch die Einbildungskraft läuft“. Im Gegensatz zum unmittelbaren Sinneseindruck „entstehet bey uns kein eigentliches Leiden, weil der Grad desselben, indem wir ein Bild der Fantasey bald stärker bald schwächer machen können, einigermaßen von uns abhänget. In meiner Einbildungskraft kann ich die Furien ertragen, die auf der Bühne unausstehlich sind [...]“, Thomas Abbt: Die Abhandlung vom Verdienste, in: ders.: Vermischte Werke. 1. Theil. Berlin und Stettin 1768, S. 118f.
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dem unangenehmen Gefühle ernsthafter Gemüthsbewegungen begleitet, die der nachgeahmte Gegenstand selbst verursacht haben würde.69
Erst in dieser Äquidistanz des „reinen Vergnügens“ zum realen Affekt also, das ist der entscheidende begründungstheoretische Effekt dieses Ansatzes, entsteht jene Freiheit der ästhetischen Vermögensbetätigung, die das vorstellende Subjekt selbst zum Konstituens der Emotion erhebt.70 Indem das Bewusstsein vom Vorliegen einer ästhetischen Illusion von der physischen Zumutung des realen Affekts entbindet, kann gerade die Betätigung der emotional affizierten Seele als ästhetisch lustvoll erlebt werden. Denn die entscheidende Voraussetzung für die Identifikation des Ästhetischen mit dem Pathetischen ist mithin an die „Hauptregel“ gebunden: „Dass unsere Seele allezeit Herr über die obenhin gemachten Erfahrungen bleibt, welche Verse und Gemählde in ihr erregen.“71 Die mit Dubos’ Theorie des ästhetischen Affekts immer wieder in Verbindung gebrachte Formel, wonach die Geltung der Kunst auf den Bereich des Pathetischen eingeschränkt wird und zu einer „vollkommenen Identifizierung des Schönen mit dem Pathetischen“ führe,72 erscheint von diesen Befunden aus revisionsbedürftig. Tatsächlich verbindet Dubos mit der Leitdifferenz zwischen natürlichen und künstlichen Leidenschaften einen Instanzenwechsel bezüglich der für die ästhetische Wahrnehmung und Erfassung zuständigen Vermögen. Die pathetische Emotion der künstlichen Leidenschaft geht nicht in der Affekterregung auf, sondern initiiert eine in ihrer Intensität abgeschwächte Leidenschaft, deren wesentliches Merkmal nicht nur in der Emotionalisierung der ästhetischen Wahrnehmung zu sehen ist (als leibhaftige Lust), sondern in der durch die affektive Dynamisierung bewirkten Zunahme der psychischen Aktivität. Und hierin erst, so lässt sich Dubos’ Rekurs auf die Aristotelische Mimesistheorie an diesem Punkt der Argumentation verstehen, sind die Voraussetzungen dafür gegeben, dass die ästhetische Lust in der Doppelheit von emotionaler Affiziertheit und psychischer Betätigung auftritt bzw. dass, mit anderen Worten, die affektiv-emotionale Erregung nicht die Lust an der Erfassung der Merkmale des ästhetischen Gegenstands prädominiert.73 69 70
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Dubos: KB I, S. 29. Anders als die rationalistische Vorstellungstheorie gelangt Dubos also über die Reflexion der Sublimierungsfunktion kunstästhetischer Erfahrung zur Transformation der primären Sinneserfahrung in jene sinnengeleitete Erfahrungsform, in der sich das wahrnehmende Subjekt selbst als Konstituens dieser Erfahrung erlebt. KB I, S. 32. Vgl. Martino: Geschichte der dramatischen Theorien, S. 49. Dubos zitiert zustimmend (vgl. KB I, S. 28f.) Aristoteles’ Mimesistheorie aus dem 4. Kapitel der Poetik, in der der Philosoph den Intensitätsgrad der ästhetischen Lust an der ästhetischen Nachahmung (am Beispiel der Malerei) mit der Vollkommenheit der Nachahmung korreliert und damit in direkte Verbindung mit der ästhetischen Beurteilungstätigkeit des Betrachters bringt (vgl. Aristoteles, Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994, [Kap. 4] S. 11–13). Mit Aristoteles betont Dubos somit den Anteil der vorstellungsgeprägten Erfassungsleistungen der Seele für die ästhetische Gegenstandskonstitution, insofern die Freude an der ästhetischen Mimesis von Schreckenerregendem auf der Tätigkeit des erfas-
Dubos’ Beispiele zielen jedoch nicht nur auf die Untermauerung des Sachverhalts, dass die ästhetische Geltung der kunstvermittelten Affektsuggestion überhaupt erst die Voraussetzungen dafür bildet, die Wahrnehmung des Affekts als Lust zu erfahren: Es ist erst die ästhetische Rührung als Distanz zum unmittelbaren Sinneneindruck, die gleichsam als verfügbare Passion der Seele74 die Selbstbezüglichkeit der Lust ermöglicht. Die affektive Erregung der ästhetischen Emotion führt nicht in die Ungezügeltheit des pathetischen Schmerzes, sondern zu jenem Schauspiel der Seele, in welchem sie, von Emotionen erregt, zugleich selbst als Akteurin aufzutreten vermag: Racines Trauerspiel, welches uns diese Begebenheit [Tod der Phaedra, E.S.] nachgeahmt vorstellt, erweicht und rührt uns, ohne einigen Saamen zu einer dauerhaften Schwermuth in uns zurücke zu lassen. Wir geniessen unsere Gemüthsbewegung [Hervorh. E.S.], ohne von der Furcht beunruhigt zu werden, dass sie allzulang dauern möchte. Racinens Stücke lockt uns Thränen aus den Augen, ohne uns in der That traurig zu machen: Der Schmerz kommt, wenn ich so reden darf, nicht weiter als auf die Oberfläche des Herzens; und man fühlt wohl, dass unsre Thränen mit der Vorstellung der sinnreichen Erdichtung, die sie uns abzwingt, aufhören werden.75
Wie das Beispiel verdeutlicht, ist Dubos’ ästhetische Lusttheorie zwar im wirkungsästhetischen Paradigma der Tragödienerfahrung verankert. Anders als bei Descartes etwa ist die Struktur der ästhetischen Lusterfahrung jedoch nicht nach dem bloß reizphysikalischen (psychophysiologischen) Modell der affektiv-emotionalen Erregung konzipiert, wonach die Steigerung des Schmerzquantums als Telos der theatralischen Kunsterfahrung fungiert.76 Von diesen Befunden her erweist sich die Hypothese als problematisch, wonach die antithetische Gegenüberstellung von rationalistischer und emotionalistischer Struktur der Affektbegründung den ambivalenten Charakter der ästhetischen affektiv-emotionalen Gegenstandskonstitution
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senden und erkennenden Vergleichens beruht. Lessing wird diesen Gedanken der affektivemotionalen Selbstbezüglichkeit (erhöhtes Selbstgefühl in der bewußten „stärkern Bestimmung unserer Kraft“) im Kontext der ästhetischen Illusionstheorie affektpsychologisch verstärken und legitimieren, um die ästhetische Lust an unlusterzeugenden Gegenständen zu erklären, vgl. Lessing: Briefwechsel mit Mendelssohn, S. 98f. Vgl. Dubos: KB I, S. 30f.: „Der Mahler und der Dichter verursachen uns nicht mehr Leiden, als wir selbst wollen; sie können uns für ihre Helden und Heldinnen nicht stärker einnehmen, als es uns beliebig ist; da wir hingegen nicht Meister von der Stärke unserer Empfindungen, von ihrer Lebhaftigkeit und Dauer seyn würden, wenn wir von den wirklichen Gegenständen, welche diese edlen Künstler nachahmen, gerührt worden wären.“ Ebd., S. 30. Zu Martinos Einschätzung des Dubosschen Ansatzes der tragischen Lust („sie entspringt dem Schmerz und sie erhöht sich mit der steigenden Intensität dieses Schmerzes“; vgl. Martino: Geschichte der dramatischen Theorien, S. 47) gelangt man entsprechend nur unter Ausblendung der Differenz zwischen dem von Dubos formulierten wirkungsästhetischen Postulat an die Adresse der Kunst (dem Schmerz verwandte Emotionen erregen zu können) einerseits und der Einsicht in die Sublimierungsfunktion der ästhetisch vermittelten Emotion (in der Kunst am Schmerz teilhaben zu können) andererseits.
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nach Dubosschem Muster angeblich verfehle.77 Die sich in der Konvergenz von pathetischem Identifikationsbedürfnis (Erlebnisfunktion) und ästhetischer Wahrnehmung (Beurteilungsfunktion) konstituierende ästhetische Emotion unterläuft sowohl die klassizistische Forderung, die Kriterien des Ästhetischen ausschließlich an den Eigenschaften eines für vollkommen befundenen ästhetischen Gegenstandes zu bemessen, als auch die Forderung, den Wert der ästhetischen Emotion einzig nach dem „Pathosgehalt“ der rein sinnlichen Lusterfahrung also zu beurteilen, den das Kunstwerk auslöst.78 In der Befreiung der ästhetischen Lust vom affektiven Wahrnehmungsgehalt des undistanziert physischen Sinneseindrucks Dubos’ Grundbedingung der ästhetischen Emotion können sich diejenigen ästhetisch relevanten Emotionen entfalten, die das Subjekt als die ihm gemäßen affirmiert, und, so Dubos’ entscheidende Zusatzbestimmung: An die Stelle der schmerzbestimmten Verzweiflung, zu der die natürliche Leidenschaft führen kann bzw. führen würde, tritt in der ästhetischen Emotion die leidfreie, aber gleichwohl zur sittlichen Anteilnahme disponierte innere Gemütsbewegung.79 Die Thränen eines Unbekannten machen uns weichmüthig, ehe wir noch wissen, weswegen er weint; das Geschrey eines Menschen, welcher blos durch das Band der Menschlichkeit mit uns verwandt ist, macht, dass wir durch eine maschinenmäßige Bewegung, die aller Ueberlegung zuvorkommt, mit der größten Geschwindigkeit zu seinem Beystande herbey eilen.80
Die Überlegenheit und die konstruktive Vermittlungsleistung der emotionsgeleiteten affektiven Wahrnehmung wird von Dubos somit nicht lediglich als Überlegenheit der (sensitiven und affektbestimmten) Spontaneität gegenüber der Reflexivität
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Baeumlers Behauptung, Dubos bilde „das Gegenteil von Descartes“, denn er „leugne den Wert der raison zugunsten des sentiment“ (vgl. Baeumler: Irrationalitätsproblem, S. 56), trifft genauer besehen nur für Dubos’ ästhetische Beurteilungstheorie zu, mit der der Primat der Empfindungsbeurteilung gegenüber dem vernunftbegründeten Urteil durch die Feststellung der kategorialen Andersartigkeit der emotionalen Erfassungsleistungen gegenüber den rationalen begründet wird: Die mit Vernunft argumentierenden Kunstrichter, so Dubos, können die Qualität ästhetischer Werke zwar mit Erfolg „stückweise [...] untersuchen“: Allein „[...] wenn man die Frage entscheiden soll: Gefällt ein Werk, oder gefällt es nicht? [...] Ist ein Werk überhaupt gut oder schlecht?“, delegitimiert sich das logisch-analytische ästhetische Urteil. „Die Entscheidung solcher Dinge [Schönheit, Grad der ästhetischen Rührung, E.S.] gehört nicht vor de[n] Richterstuhl der Vernunft, die sich hierinnen dem Ausspruche der Empfindung, als der rechtmäßigen Richterinn über solche Streitigkeiten [Hervorh. E.S.], unterwerfen muß.“ (KB II, S. 301f.). Eben gegen die (bei Dubos vermeintlich vorhandene) Nivellierung der Ebenen zwischen „Vergnügen der Seele“ und „sinnliche[r] Lust“ meinte Mendelssohn noch in seiner Erstbeurteilung der Dubosschen Theorie opponieren zu müssen (vgl. Mendelssohn: Über die Empfindungen, in: ders.: Ästhetische Schriften, S. 87). Vgl. KB I, S. 29: „Le Bruns Abbbildung dieser tragischen Begebenheit [kriegerischer Kindermord, E.S.] erweicht uns, und macht uns wehmüthig, aber sie läßt keine unangenehme Idee in unserm Geiste zurücke; sie erregt unser Mitleiden, ohne uns wirklichen Jammer zu verursachen.“ Ebd., S. 38f.
konzipiert81 ein Begründungselement, das der Ästhetiker Dubos als im Geschmacksbegriff als „innere[n]“ bzw. „sechste[n] Sinn“ und somit als ein Element der vernunftunabhängigen Wahrnehmungserfahrung und -beurteilung begründen wird , sondern als anthropologische gegebene „Empfindlichkeit“.82 Deren spezifische Konstruktionsleistung besteht innerhalb der kunstästhetischen Erfahrung in einer eminent sozialen Funktion – der Empathie.83 So wird in der „ersten Ästhetik des Sentimentalismus“84 die ästhetische Emotion nicht nur erstmals als Subjektivität affektiv geprägter Erfassungsleistungen legitimiert, sondern auch als eine Weise der Sinneserfahrung, in der die transsubjektiven Funktionen moralischen Bewertens und Verhaltens aktiviert sind. Die ästhetische Emotion ist nicht Steigerung der Irrationalität des Gefühls; sie setzt vielmehr die Rationalität moralisch fungibler Erfahrungsweisen frei.85 2.3 Dubos’ emotionalistischer Neuansatz Im Vorverweis sowohl auf den theoriegeschichtlichen Stellenwert sowie die Anschlussfähigkeit der Dubosschen Bestimmungen der Réflexions critiques für die 81
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Vgl. KB II, S. 305: „Nachahmungen thun also ihre Wirkung auf uns, sie [...] fesseln unser Herz an sich, ehe noch die Vernunft Zeit hat, zu handeln und zu untersuchen. [...] Das innere Gefühl sagt es uns, ehe wir noch daran gedacht haben, eine Untersuchung darüber anzustellen.“ Ebd., S. 38. Es bestätigt die Gültigkeit der vorgetragenen Befunde, dass Dubos die anthropologische Instanz der ästhetischen Wahrnehmung und Beurteilung (die „natürliche Empfindlichkeit des menschlichen Herzens“, vgl. KB I, S. 38) im geschmackstheoretischen Teil seiner Abhandlung sowohl im Zentralorgan der ästhetischen Wahrnehmung und Beurteilung (ästhetischer Geschmack als „innerer Sinn“) als auch im sittlich relevanten Vermögensbegriff des „Herzens“ (vgl. KB I, S 22) lokalisiert. Vgl. hierzu auch den Abschnitt: „Das Publicum urtheilt überhaupt gut von Gedichten und Gemählden. Von unsrer Empfindung, nach welcher wir den Werth solcher Werke beurtheilen müssen“ (KB II, S. 301–317, hier S. 305). Das „innere Gefühl“ als anthropologisch allgemeine Fähigkeit (nicht kunstrichterliche, elitäre Kompetenz der Beurteilung) ermisst demzufolge ebenso den ästhetischen Rührungsgrad von Kunstwerken wie die innere Erregung „bey dem Anblicke einer Mutter, die ihren einzigen Sohn zu Grabe begleitete“ (KB II, S. 304f.). Dubos’ diesbezügliche Erläuterungen (die Natur hat dem Menschen „dieses geschwinde und plötzliche Gefühl [Hervorh. E.S.] als den ersten Antrieb zur Gesellschaftlichkeit beylegen“ wollen, vgl. ebd., KB I, S. 38) zeigen deutlich, wie weit der Emotionalismus sich damit in sachlich engster Nähe zur Theorie des moral sense (Shaftesbury, Hutcheson) befindet, zugleich aber auch zu den am sittlichen Handlungsbegriff orientierten Ästhetiken der spätaufklärerischen Popularphilosophie (vgl. Doris Bachmann-Medick: Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1989, bes. S. 244ff.). Baeumler: Irrationalitätsproblem, S. 53. In Sulzers Konzeptbegriff der ‚ästhetischen Sinnlichkeit‘ scheint der von Dubos formulierte Sublimierungscharakter der Kunst als Transformationsprozess der ästhetischen in moralaffine Emotion wieder auf: „Der rohe Mensch ist bloß grobe Sinnlichkeit, die auf das tierische Leben abzielt; der Mensch, den der Stoiker bilden wollte, aber nie gebildet hat, wäre bloße Vernunft [...]; der aber, den die schönen Künste bilden, steht zwischen beiden in der Mitte; seine Sinnlichkeit besteht in einer verfeinerten inneren Empfindsamkeit, die den Menschen für das sittliche Leben wirksam macht.“ Siehe Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1, Art. „Aesthetisch (Schöne Künste überhaupt)“, S. 59–60, hier S. 60.
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Theorie der Lust und der Vermögensleistungen der Emotionen innerhalb der Ästhetikdiskussion der späten Aufklärung seien zusammenfassend die maßgeblichen Merkmale seines emotionalistischen Neuansatzes festgehalten: 1) Die intentionale Struktur der angenehmen Emotionen ist anthropologisch auf der Basis eines „Triebs“ konstituiert, der physische und psychische Komponenten umfasst, dessen essentielles Merkmal jedoch das Bedürfnis der kontinuierlichen psychischen Aktivität (Vorstellungstätigkeiten des Geistes) ist. 2) Im Unterschied zur Erfahrung der natürlichen Leidenschaft zeichnen sich die ästhetischen Emotionen dadurch aus, von der Intensität und Dauerhaftigkeit assoziierter Schmerzempfindungen die die natürliche Sinneswahrnehmung für das Subjekt stets bereithält, befreit zu sein. Unter dieser Voraussetzung kann die Unmittelbarkeit der Sinneserfahrung der ästhetischen Emotion am (schmerzhaften) Pathosgehalt der ästhetisch vorgestellten Emotionen mit Lust partizipieren, insofern die Struktur der ästhetischen Rezeptivität von Dubos nicht lediglich als passives Erleben physisch affizierender Emotionen, sondern als emotiv erregte und psychisch aktive Erfassungsleistung der Seele konzipiert wird. Der intensitätsgeschwächte Affekt ist im Element der ästhetischen Erfahrung genauer besehen nicht mehr pathos, sondern kontrollierte subjektgemäße Betätigung des selbstreflexiven Gemüts. In Dubos’ Modell der ästhetischen Erfahrung schlägt die ästhetische Affizierung (rezeptives pathos) um in Beschäftigung der Seele in Selbst-Genuss des Subjekts. Nur so kann der ästhetischen Gegenstandskonstitution der schmerzhaft-angenehmen Emotion die Aufgabe zukommen, in der ästhetischen Erfahrung (von Kunst) kompensatorischen Ausgleich zum mental empfundenen Überdruss zu leisten (Surrogatfunktion der Kunst). 3) Dubos’ doppelte Ableitung der Natur der ästhetischen Emotion aus der anthropologischen Triebstruktur des Subjekts und den Spezifika der kunstästhetisch vermittelten künstlichen Leidenschaft lässt sich als theoriegeschichtliches Indiz einer subjektivistisch begründeten Ästhetik lesen, insofern sie die Emotionen zu den Trägern der ästhetischen Gegenstandskonstitution erhebt und damit in eins die intellektuellen Erfassungsleistungen als akzidentielle Wahrnehmungs- und Beurteilungsleistungen delegitimiert: Im Feld der ästhetischen Erfahrung geht die Emotion der Vernunft strukturell und funktionell voraus. Die ästhetische Lust bemisst sich demnach nicht am subjektiven Vorstellungsgehalt eines als vollkommen eingeschätzten Gegenstands. Mit der Inthronisierung der Emotion zur wesentlichen Vermögensinstanz ästhetischer Rezeptivität und Beurteilung systematisch korreliert mit der Instanz des Geschmacks entwickelt Dubos vielmehr ein folgenreiches Gegenkonzept zu jener ästhetischen Theorie, die den Geltungsmaßstab des Schönen durch die Kriterien einer ästhetisch normierten Gegenständlichkeit zu begründen versucht. Die anthropologische Begründung der Theorie der ästhetischen Emotion ersetzt damit in letzter Instanz das ratio-
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nalistische Kriterium der Gegenstandserfassung (cognitio sensitiva) durch das Kriterium des subjektiven Erlebens (passion artificielle).86 Insofern legitimiert Dubos’ Theorie der ästhetischen Emotion die Affekterregung als Konstituens der ästhetischen Erfahrung, ohne die sinnliche Lust den Pathosgehalt der natürlichen Leidenschaft zum Letztbegründungskriterium der schönen Kunst erklären zu müssen. Im Ergebnis, das ist die theoriegeschichtlich bedeutsame Pointe des Dubosschen Ansatzes, steht die emotionalistische Begründung einer Selbstreflexivität der Kunsterfahrung, die aus der Distanz zum Pathosgehalt der natürlichen Leidenschaft das Lustpotential der künstlichen Leidenschaft als ästhetische Emotion gewinnt.
3. Lusttheorie als „Physik der Empfindungen“. Erster und zweiter Physiologismus bei Lévesque de Pouilly Dass Louis Jean Lévesque de Pouillys Théorie des sentimens agréables (1747) im Zusammenhang der hier verfolgten Frage nach den begründungstheoretischen Konvergenzen von anthropologischer und ästhetischer Reflexion eingehenderer Berücksichtigung bedarf, legt nicht allein schon der bis zum Jahrhundertende verfolgbare europäische Rezeptionszusammenhang nahe.87 Im deutschen Sprachraum wird die internationale Anerkennung der problemgeschichtlichen Relevanz und Originalität der Théorie geteilt. Sowohl der popularphilosophische Diskussionszusammenhang zum Lustbegriff als auch noch die transzendentalphilosophisch forcierte Kritik der vorkantischen Lusttheorie etwa haben de Pouillys Theorie der angenehmen Empfindungen als Berufungstext ernstgenommen.88 Was sie für die 86 87
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Vgl. RC, S. 25f. pass. Louis Jean Lévesque de Pouilly: Théorie des sentimens agréables. Où après avoir indiqué les régles que la Nature suit dans la distribution du plaisir, on établit les principes de la Theologie naturelle et ceux de la Philosophie morale. Geneve 1747 [Sigle: Tsa]. Die Hochschätzung der Emotionstheorie Lévesque de Pouillys (1691–1750) im französischen und englischen Sprachraum – der Herausgeber der fünften französischen Auflage erklärt, dass sie „[...] unserem Jahrhundert immer originell erscheinen [wird]“ (vgl. Theorie der angenehmen Empfindungen. Aus dem Französischen des Herrn Lévesque de Pouilly [dt. Übers. von Georg Dreves]. Jena 1793, S. XXXII [Sigle: TaE] – dokumentiert nicht zuletzt die Vielzahl der Neuherausgaben und Übersetzungen, die in rascher Folge datieren: französisch: ²1748 (Paris), ³1749 (Dublin; Genf; Paris); 51774; englisch: 1749, ²1750 (London). Die Kernform der Théorie bilden die 1736 anonym in einem anonym publizierten Sammelwerk „Réfléxions sur les sentimens agréables, et sur le plaisir attaché à la vertu“, in: Anon.: Recueil de divers écrits, sur l’amour et l’amitié, la politesse, la volupté, les sentimens agréables, l’esprit et le cœur, Paris 1736, S. 137–228 [Sigle: Rsa]. Wo für die Argumentation ergiebig, werden die Réflexions als Vergleichsfolie bzw. Indikator für die konzeptionellen Umstellungen zwischen früherer und späterer Fassung der de Pouillyschen Lusttheorie mit herangezogen. Spuren der Rezeption der Lusttheorie de Pouillys finden sich im deutschsprachigen anthropologisch-ästhetischen Diskurs der späten Aufklärung allenthalben und beschränken sich keines-
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hier verfolgte Leitfrage nach den Zusammenhängen anthropologischer und ästhetischer Begründungsentscheidungen interessant macht, bemisst sich nicht am Maßstab systematischer und definitiver Lösungsvorschläge bezüglich des Problems der Lust. Pouillys Emotionstheorie zeichnet vielmehr die Verschränkung kompilatorisch und eklektizistisch gewonnener Gesichtspunkte mit dem Anspruch aus, deren Heterogenität im systematisierenden Zugriff des empiristisch orientierten „esprit systématique“ zu homogenisieren. Das macht, und zwar auch und gerade dort, wo ihre internen Widersprüchlichkeiten kenntlich werden, de Pouillys sentiment-Theorie – als frühes Zeugnis einer erfahrungsanalytisch untersetzten Auseinandersetzung mit der gefühlsgeleiteten menschlichen Wirklichkeitswahrnehmung – für die hier berührten Fragen wertvoll. Während sich die zeitgenössische Rezeption, zumal im deutschen Sprachraum, im wesentlichen auf die Diskussion und theoriegeschichtliche Integration des von de Pouilly ausformulierten Grundsatzes der „Leichtigkeit in der Beschäftigung“ der Seele89 konzentrierte, geht es in den folgenden Ausführungen primär darum, den Querverbindungen der Argumente zwischen physischer und pragmatischer Anthropologie in ihren begründungsgeschichtlichen Zusammenhängen nachzugehen und die Komplexität des de Pouillyschen Problemzugriffs auf die Sphäre der
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wegs auf die popularphilosophische Ästhetik, die bis in die achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts hinein die „Letzte Quelle des Vergnügens“ wechselweise über Dubos bzw. de Pouilly zu definieren sucht, vgl. Eberhard: Theorie der schönen Wissenschaften, § 13, S. 16. So führt im Kontext der Menschhheitsgeschichte etwa Isaac Iselin das „vortreffliche Werkgen des Herrn von Pouilli [sic]“ in einem Zusammenhang mit Sulzers und Mendelssohns, aber auch Hutchesons und Homes Theorie der Empfindungen auf (vgl. Isaak Iselin: Ueber die Geschichte der Menschheit. 1. Bd., Carlsruhe 1784, S. 42, Anm.). Der Kant-Schüler K. L. Reinhold formuliert im Rahmen seiner Ästhetikvorlesungen zu Beginn der 90er Jahre, „dass diese Schrift [de Pouillys, E.S.], welche von unseren Wielanden immer noch geschätzt wird, bei Vielen zu einer völligen Vergessenheit verdammt zu seyn scheint“, und plädiert für eine Neuübersetzung (vgl. TaE, Vorbericht des Uebersetzers, S. IXf.). Verdienst an der ebenso frühen wie intensiven Aufnahme der Schrift de Pouillys im deutschen Sprachraum haben freilich auch hier die mehrfachen, unmittelbar nach Ableben des Autors erschienenen Übersetzungen: den beiden zeitgleich erscheinenden Verdeutschungen der Théorie (J. C. Stockhausen, Berlin 1751; F. J. Biel, Leipzig 1751) folgt noch in einem Abstand von gut vierzig Jahren die erwähnte Neuübersetzung des Reinhold-Schülers Georg Dreves – vgl. TaE [1793]. Letztere wird im Folgenden hauptsächlich für die deutsche Übersetzung herangezogen; aufgrund der von Dreves stellenweise sehr freien Behandlung der französischen Textvorlage bleibt in Einzelfällen die zusätzliche Berücksichtigung der französischen Fassung allerdings unerlässlich. Anders als Sulzer bezieht sich Mendelssohn in diesem Zusammenhang mehrfach explizit auf die Théorie de Pouillys; 1758 vermerkt er sie als „bekannte[s] System“ (vgl. Mendelssohn: Von dem Vergnügen, in: ders., Ästhetische Schriften, S. 128; vgl. auch Moses Mendelssohn: Philosophische Untersuchung des Ursprungs unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, ebd., S. 247–265, hier S. 258f.). Der genannte, für de Pouilly zentrale Ansatz, findet sich, wenngleich ohne physiologische Ableitung und ohne die systematische Nachdrücklichkeit wie bei dessen Urheber, bereits bei Dubos (vgl. KB I, S. 24: „[...] Unsere Seele überläßt sich aus einem natürlichen Triebe allem, was sie beschäfftigt, wenn sie nur der Mühe überhoben ist, sich dabey anzustrengen.“ Im Fall der Mühsamkeit der geistigen Anstrengungen hingegen (nach Dubos die Regel) tritt automatisch das Gegenteil der Lust ein: leer laufende Gedanken oder völlige Erschlaffung des Geistes (vgl. ebd., S. 7).
Emotionen evident zu machen. Zum einen in systematischer Absicht, um sie in das Licht der hier verfolgten Problemzusammenhänge zu stellen auch die Theorie de Pouillys der Emotionen verspricht einmal mehr, dass sich mit der Frage nach der Lust „manche tiefe Blicke in die menschliche Natur“ gewinnen lassen, wie eine der zeitgenössischen Übersetzungen prägnant notierte.90 Zum anderen in Hinsicht auf den theoriegeschichtlich signifikanten Differenzierungsprozess des ästhetischanthropologischen Wissens im Element einer empirisch begründeten Theorie der Emotionen.91 Zu demonstrieren ist in diesem Zusammenhang darüber hinaus, dass de Pouillys Théorie ungeachtet zahlreicher Parallelen zum affekttheoretischen Emotionalismus à la Dubos (dessen Werk in der gesamten Abhandlung unerwähnt bleibt) mit diesem nicht glatt verrechenbar ist.92 Das hier als begründungstheoretischer Dreh- und Angelpunkt etablierte Axiom, „seinen Zustand sich möglichst angenehm zu machen“,93 bildet in nuce jene Formel, mit der nicht allein die Koinzidenz von Anthropologie und Ästhetik, sondern die Interdependenzen zwischen anthropologischer (physiologischer), ästhetischer und ethischer (eudämonistischer) Argumentation augenfällig hervortreten. 3.1 Wissenschaft der Empfindungen Mit der bis in die neuere Forschung hinein wiederholten Einschätzung, Lévesque de Pouillys Bedeutung für die Lustdiskussion der Aufklärung beruhe auf der Fortführung der von Dubos eingeleiteten ‚kopernikanischen Wende‘ in der Lusttheorie der Wende zum sensitiven Subjekt94 ist ein theoriegeschichtlich signifikanter
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TaE, S. V–XXX, hier S. XII (Vorbericht des Uebersetzers). Eine eingehende Untersuchung der anthropologisch-physiologischen Argumentation de Pouillys fehlt bislang und ist erstaunlicherweise auch in der neueren Studie zum physiologisch fundierten Anthropologiebegriff der mittleren und späten Aufklärung unberücksichtigt geblieben (s. Nowitzki, Der wohltemperierte Mensch). Während die ältere Psychologie- und Ästhetikgeschichtsschreibung (Sommer: Grundzüge; Dessoir: Geschichte der neueren deutschen Psychologie) de Pouillys Beitrag zur Theorie der Lust geradewegs übergangen hat, beschränken sich die Untersuchungen von Martino, Altmann und Zelle im wesentlichen auf die Kennzeichnung rezeptionsgeschichtlicher Anschlussstellen zu Mendelssohn (Altmann, Zelle) bzw. Sulzer (Martino). Vgl. Martino: Geschichte der dramatischen Theorien, S. 96f.; Altmann: Mendelssohns Frühschriften, bes. S. 99–103; Carsten Zelle: „Angenehmes Grauen“. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg 1987, S. 337–339. Vgl. etwa die philosophiehistorisch orientierte Retrospektive der Lusttheorie der Aufklärung durch den Reinhold-Schüler Georg Dreves am Ende des 18. Jahrhunderts: De Pouillys Théorie wird zu unrecht, wie nachfolgend zu zeigen dem Dubosschen Lustmodell subsumiert (Georg Dreves: Resultate der philosophirenden Vernunft über die Natur des Vergnügens, der Schönheit und des Erhabenen. Leipzig 1793, Vorbericht, S. V–XX, hier S. XIf., S.11–16). De Pouilly: TaE, S. 7. Wie du Bos habe de Pouilly, so resümiert Dreves, „nur den subjektiven Gesichtspunkt gewählt [...], das heisst, er wirft sich allein die Frage zur Beantwortung auf: was geht bei dem Zustande, den wir Vergnügen nennen, in uns selbst, dem vorstellenden Subjekte, vor?“ (vgl. TaE, Vorbe-
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Sachverhalt nahezu untergegangen: Die Tatsache, dass de Pouilly als erster dezidiert die Konturen einer empirisch fundierten Wissenschaft der Emotionen umrissen und sie als neuen Zweig der Humanwissenschaften an der Schnittstelle von naturkundlicher (physiologischer) und sittlicher (pragmatischer) Anthropologie platziert hat.95 Denn den weiten Phänomenbereich der Lust durch ein empirisch verifizierbares Prinzip einheitlich abzuleiten ist der wissenschaftliche Erklärungsanspruch der Théorie und ihre erst in der Abfolge der unterschiedlichen Fassungen erreichte Systematisierungsleistung, die noch den an Leibniz und Wolff geschulten philosophischen Ästhetikern des deutschen Sprachraums augenscheinlich imponierte.96 In programmatischer Analogie zur „Science Naturelle“97 und somit als naturkundlich gestützte Wissenschaft konzipiert, liefere die Théorie des sentimens, so de Pouilly mit nicht zu verkennender Begründungsemphase, „des principes aux arts qui nous intéressent le plus“.98 Die empiristisch fundierte Analyse des Begriffs der Empfindungen verschmilzt gemäß dieser Konzeption mit der Theorie der ästhetisch und ethisch (eudämonistisch) relevanten Gefühle; der Lustanalyse ‚von unten‘ soll in genetischer Folge eine Metaphysik der Sitten entspringen.99 In dieser Eigenschaft fungiere die Theorie der Emotionen entsprechend stets sowohl als ästhetisch wie sittlich (‚pragmatisch‘) relevante Prinzipienwissenschaft.100 Mit eben dieser programmatischen Formulierung einer Konvergenz von emotionalistischer (resp. ästhetischer) und eudämonistischer (resp. sittlicher) Problemstellung wird deutlich, mit welchen Komplexitätsansprüchen eine im sentiment-Begriff
richt des Uebersetzers, S. V–XXXXVI, hier S. XIIf.). Unter direktem Anschluss an diesen Befund vgl. Zelle: Angenehmes Grauen, S. 338. 95 De Pouillys diesbezüglicher programmatischer Aufriss ist ohne Vergleich im deutschen Sprachraum und in seiner Entschiedenheit für eine disziplinäre Autonomisierung dieses Problembezirks auch nur aus der französischen Theoriesituation heraus zu begreifen (vgl. TaE, Erstes Kapitel, S. 3–12: „Es giebt eine Wissenschaft der Empfindungen, die eben so sicher begründet, und zugleich wichtiger ist, als jede andere aus der Natur geschöpfte Wissenschaft.“ 96 Vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen zu Sulzers Theorie der angenehmen Emotionen (Abschnitt VI.). 97 Die Frühfassung der Théorie vermerkte den naturwissenschaftlichen Exaktheitsanspruch der neuen ästhetischmoralischen Wissenschaft noch dezidierter: durch Analogiebeziehung zu den „Sciences Physico-Mathématiques“ (vgl. Rsa, S.140f.). 98 De Pouilly: Tsa, S. 6. Er nennt konkret Poetik, Rhetorik und Malerei als ästhetisch relevante Gegenstandsbereiche einer ‚Wissenschaft der Emotionen‘ (Tsa, S. 7). Den starken begründungstheoretischen Anspruch unterstreicht der Autor dabei in einer prägnanten Umkehrformulierung: Alle Regeln dieser unterschiedlichen ästhetischen Gattungen sind „abgerissene Glieder, welche die Theorie der Empfindungen sich wieder zuzueignen berechtiget ist.“ (TaE, S. 7). 99 Verzicht auf normative Setzungen einer meta-physischen Vernunft und genetische Vermittlung zwischen physiologischer Ebene und moralästhetischen Schlussfolgerungen sind die in methodologischer Hinsicht signifikanten Parameter der Théorie, ungeachtet der dabei waltenden terminologischen Inkonsistenzen (vgl. TaE S. 7: „bis zu den Gesetzen des Empfindens hinaufgehen [...]“; ebd., S. 8: „in ihre [Theorie der Empfindungen, E.S.] Tiefen hinunter steigen [...]“. 100 Tsa, S. 1 (vgl. auch TaE, S. 11: die Wissenschaft der Emotionen ist „ein Zweig der Naturkunde, aber der wichtigste Zweig“).
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gegründete Theorie versehen wird, die von geistes- und naturwissenschaftlichen Deutungsinteressen bestimmt wird. Denn gerade aus dem genannten doppelten Begründungsaspekt leitet de Pouilly zwei theoriegeschichtliche Vorteile der neuen Wissenschaft ab, die durch die Bezugnahme auf den Phänomenbereich der Emotionen gewährleistet werden sollen: Gewissheitsanspruch und lustdynamische Motivationsstruktur. Insofern nämlich erstens der lust- und empfindungstheoretische Ausgangspunkt der Théorie durch die empirische Natur des Menschen ausgewiesen wird genauer wäre von beobachtbaren psychophysiologischen Funktionsgesetzen des menschlichen Organismus und von empirischen Wirkungserfahrungen, auf deren physikalische Ursachen zurückgeschlossen wird, zu sprechen , ist der ästhetisch und moralisch affinen Wissenschaft des Vergnügens ein neues wissenschaftliches Evidenzkriterium gewonnen.101 Vor diesem Hintergrund ist die Konkurrenz zu den subjektübergreifenden Normbildungen der zeitgenössischen theologischen Sittenlehre vorprogrammiert.102 Zweitens ergibt sich die konzeptuelle Überlegenheit einer empirisch begründeten Theorie angenehmer Empfindungen für de Pouilly aus dem Sachverhalt auch dieser Aspekt wird in den emotionstheoretischen Ansätzen der deutschen Spätaufklärung wiederholt begegnen , dass sich im Begriff der Emotionen ästhetische und moralische Sphäre als Erscheinungsformen eines subjektivitätsbezogenen Prinzips definieren lassen, das als Angenehmes, Lust, Vergnügen selbsttätig und autoregulativ im Innern des Subjekts wirksam ist und keiner meta-physischen Instanz der Motivation und Regulation bedarf. De Pouillys wiederholte Akzentuierungen des „Interesse“-Begriffs sowie im Besonderen seine Einbeziehung des „amour-propre“-Topos in die Definition der Emotionstheorie bilden diesbezüglich eindeutige Belege.103
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Von einem konsequent durchgeführten Empirismus wird man bei de Pouilly indes kaum sprechen können: die neurophysiologischen Überlegungen im 7. Kapitel werden als konjekturaler Standpunkt des Wissens deklariert („Aus Mangel an Erfahrung trägt uns die Kunst des Vermuthens hier gütig ihre Fackel vor.“ (TaE, S. 81). Entscheidend ist jedoch die Stoßrichtung: die Verankerung psychischer Leistungen des Subjekts in der anthropologisch allgemeinen Sinnennatur des Menschen, auf deren Basis der Verfasser (im Abschnitt zur sinnes- und neurophysiologischen Theorie der Lust) mit programmatischem Tonfall von den „Grundlinien einer Physik der Empfindungen“ sprechen kann, welche die Théorie vorzeichne (vgl. TaE, S. 89). 102 Vgl. Tsa, S. 13. Der von Sauder (vgl. Empfindsamkeit, S. 84) erwähnte Einfluss de Pouillys auf Adam Smith’ Theorie der ethischen Gefühle erscheint von dieser Perspektive aus als plausibel. Die von dem französischen Herausgeber betonten moralphilosophischen Implikationen der de Pouillyschen Empfindungstheorie („un précieux morceau de Philosophie morale“, Tsa, Préface de l’Editeur, S. III–XVII, hier S. VI) sind mit vergleichbarer Bedeutungsgewichtung im Übrigen auch von den zeitgenössischen deutschen Kommentatoren herausgestellt worden (vgl. bes.: Lehre der angenehmen Empfindungen. Aus dem Französischen übersetzt, und mit Anmerkungen begleitet von einem Mitgliede der Deutschen Gesellschaft zu Helmstädt [=Johann Christoph Stockhausen], Berlin 1751, Vorrede des Übersetzers, unpag., a4–d2). 103 Vgl. de Pouilly: Tsa, S. 13. G. Dreves unterschlägt diesen Terminus, der als „Selbstliebe“ bzw. „Eigenliebe“ im zeitgenössischen Ethikdiskurs durchaus präsent ist, in seiner Übersetzung vermutlich wegen mangelnder Geltung in der philosophischen Zunft des Kant nahe stehenden K. L. Reinhold.
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Nicht zuletzt freilich aber auch jene folgenreiche Formel, die der Lusttheoretiker in der Folge leitmotivisch wiederholen und in zahlreichen Bedeutungsvarianten thematisieren wird, und in der sich der Gegensatz seiner physiologistischen Lustkonzeption zu allen vorstellungstheoretischen Erklärungsansätzen manifestiert: „Par l’ordre de la Nature, un usage convenable des nos facultez est toûjours accompagné de sentimens agréables.“104 Die anthropologische Legitimation des menschlichen, auf angemessenen Vermögensgebrauch ausgerichteten Betätigungscharakters lässt das eigentliche Erklärungs- und Beweisziel der Théorie des sentimens als Erklärungstheorie der Lust deutlich hervortreten: Aus einem aktiven Prinzip der anthropologischen Selbsterhaltung die Rechtmäßigkeit der Lusterfahrung aufzuweisen und damit den ästhetischen und moralischen Zweck der Lust als konstitutiven Bestandteil der subjekthaften Betätigung auszuweisen.105 Beides ist Gegenstand der anschließenden Argumentation der Théorie. 3.2 Physiologie des Leibes als Funktionsmodell der Lust. De Pouillys Rückgriff auf Santorio Wie de Pouilly die Geltung des zitierten Axioms für die Vermögensbereiche der Physis („Beschäftigung der körperlichen Organe“),106 des Intellekts („Beschäftigung unseres Geistes“),107 sowie des voluntativen Vermögens („Beschäftigung des Herzens“),108 zu demonstrieren sucht, gewährt Aufschluss sowohl über die anthropologischen wie die ästhetischen Aspekte der hier verfolgten Problemzusammenhänge. Seinen im wissenschaftsgeschichtlichen Aufriss der Théorie formulierten empiristischen Begründungsanspruch löst de Pouilly, und hier liegt zweifelsohne die theoriegeschichtliche Originalität seines Ansatzes, durch den Rekurs auf ein medizinisch-diätetisches Argumentationsmodell ein. Tätigkeitsprinzip und Proportionalitätsgrundsatz diese beiden reziproken Erklärungselemente der Lust verifiziert der Autor bezeichnenderweise im Abschnitt zur Sinnenlust im expliziten Verweis auf die physiologische Diätetik De statica medicina des Mediziners Santorio.109 Santorios Abhandlung über die Funktionsmechanismen der unwillkürli104 105
Tsa, S. 12. Allein auf den sittlichen Gesichtspunkt bezogen bedeutet das die Aufhebung des Gegensatzes von Pflicht und Neigung. 106 Vgl. TaE, S. 13–21. 107 Ebd., S. 22–39. 108 Ebd., S. 40–53. 109 [Santorio Santorio]: Sanctorii Sanctorii De statica medicina aphorismorum Sectiones Septem. Accedunt in hoc opus commentarii Martini Lister, et Georgii Baglivii. Venedig 1759. Der für die Konzeption der Lust relevante Teil der Abhandlung des römischen Mediziners und aufklärerischen Literaten Sanctorii Sanctorii (1561–1636) findet sich im ersten Abschnitt (De Ponderatione Insensibilis Perspirationis, S. 3–61), in dem Erscheinungsformen und Funktionsweise der natürlichen Transpiration des Menschen umfassend erläutert und mit diätetisch-medizinischen Therapievorschlägen versehen worden. (Die Existenz eines Exemplars der Ausgabe von 1703 in Mendelssohns Bibliothek hat A. Altmann nachgewiesen, vgl. Altmann: Mendelssohns
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chen Transpiration des Menschen dient de Pouilly dabei erstens zur Untermauerung seiner lusttheoretischen Leitprämisse vom kontinuierlichen Betätigungstrieb als anthropologisch gegebener Bedürfnisstruktur:110 Jede Unterdrückung des „freien Spiels der Transpirationsorgane“111 führt zu sämtlichen Formen von Erkrankungen, letztlich zum Tod; kontinuierliche Betätigung ist mithin Elementarvoraussetzung aller Arten von Lust.112 Zum zweiten präzisiert de Pouilly mit Santorio die für seinen Grundsatz der leichten bzw. ermüdungsfreien Beschäftigung obligate Proportionalitätsforderung: Angemessenheit bedeutet, so hatte es auch der Mediziner formuliert, Maßnehmen bzw. Regulation der Extreme des Zuviel wie des Zuwenig: „Eine zu heftige oder gar keine Bewegung hindert gleich sehr diese unmerkliche Ausdünstung, und nur durch eine unsern Kräften angemessene Veränderung wird sie befördert.“113 Frühschriften, S. 106f., Anm. 69.) Dass de Pouillys Rekurs auf seinen Gewährsmann Santorio eher punktuell ist (vgl. TaE, S. 15, S. 41), will hierbei wenig besagen; entscheidend ist vielmehr, dass de Pouilly seinen Grundsatz der proportionierten Betätigung ausschließlich durch Santorios physiologisch-diätetisches Modell legitimiert. 110 De Pouillys naturwissenschaftliche Abstützung seiner Prämisse zeigt den gesteigerten wissenschaftlichen Erklärungsanspruch der Théorie gegenüber Dubos, der seine anthropologische Hauptthese – „Jedwedes Vergnügen, das die Natur den Menschen gewähren kann, stammt von dem Bedürfnisse her [...]“ – in der Art einer philosophischen Setzung als „Wahrheit […] ausser allem Zweifel“ unter Rückgriff auf Platon eingeführt hatte (vgl. KB I, S.5ff.). 111 De Pouilly: TaE, S. 15. „[...] Dans le jeu des organes de la transpiration“ heißt es im französischen Original. Dreves hat in die de Pouillysche Metapher ex post offenkundig den Gegensatz einer physiologistischen Vermögensinteraktion zum Kantischen Erklärungsansatz der ästhetischen Lust des Geschmacksurteils im „Zustand eines freien Spiels der Erkenntnisvermögen hineingetragen (vgl. Kant: KdU, § 9, S. 132, B 29). 112 Was die Lusttheorie der deutschen Spätaufklärung als notwendigen Reflex auf die Unmöglichkeit, den Geist unbeschäftigt seiner Freiheit zu überlassen, zurückführt, demonstriert de Pouilly mit Santorio als Unbarmherzigkeit der physischen Natur selbst: „Wann die unempfindliche Ausdünstung [d.i. Transpiration, E.S.] gäntzlich unterbrochen ist, [...] bringt es den Tod zu wege; Was die edlen Theile anbetrift, so erwecket es im Gehirn den Schlag, im Hertzen das Hertz-Klopffen, in der Leber eine übermäßige Blutmachung, und in der Bährmutter die Erstickung: Aber in den geringen Theilen erweckt es eine anfangende Ersterbung.“ siehe [Santorio:] Des berühmten Medici Sanctorii à Sanctorio Tractat von der unempfindlichen Ausdünstung [=Übers. von Johann Timme], Bremen 1736, 1. Abschnitt, § 86, S. 40. 113 De Pouilly: TaE, S. 15. Die Ersetzung des dem menschlichen Organismus Ermangelnden und die Abführung des ihn Bedrängenden (Überflüssigen), so Santorio im ersten Aphorismus seiner Abhandlung, ist das diätetische Grundgesetz zur Erlangung leibseelischer Gesundheit (vgl. Santorio: Tractat, S. 1, Anm.). Demgemäß ist die Auslegung des Schrifttitels der Abhandlung sowie im Besonderen des programmatischen Titels des ersten Abschnitts („De Ponderatione“) sowohl im unmetaphorischen Sinn (als quantitative Bilanzierung von Nahrungseinfuhr und Stoffausfuhr) als auch im metaphorischen Sinn (als ‚Abwägung‘ zur Erlangung des Gleichgewichts der Gegensätze) zulässig. Die erste Deutung unterstreicht das Titelkupfer der TimmeAusgabe, das eine Wägevorrichtung zeigt, auf deren einer Waagschale ein essender Mann sitzt, während die andere von Speisen und Getränken gefüllt ist). Es ist theoriegeschichtlich aufschlussreich, dass der ethische Kontext dieser Begriffs- und Bildverwendungen als Ausgeglichenheit von sinnlicher und geistiger Natur des Menschen nicht nur in Baumgartens Lustund Unlusttheorie überliefert ist, die das „Übergewicht“ (praedominium) bzw. „Gleichgewicht“ (aequilibrium) zwischen Vergnügen und Missvergnügen thematisiert (vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica [11739]. Halle, Magdeburg 41757 [Sigle: MPa], §§ 656,
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Angemessene Nerven- und Organ-Beschäftigung, Aufrechterhaltung der Blutzirkulation und des organischen Saftflusses als physiologische Voraussetzungen der Entstehung angenehmer Empfindungen aber de Pouillys lusttheoretische Begründungsinteressen erschöpfen sich freilich nicht in der Parallelisierung der Funktionsgesetze der Emotionen mit naturgesetzlichen Steuerungsprinzipen des Organismus, wie sie im medizinisch-physiologischen Modell Santorios formuliert worden waren. Santorios diätetisches Modell bietet de Pouilly auch die Grundlage dafür, die aus „la raison et les passions“114 zu bildende „République intérieure“115 unter dem Gesichtspunkt der fortwährenden und proportionierten Aktivität zu modellieren und in der Folge auch auf die Vermögensbereiche der Primärsinnlichkeit (Sinne und Organe) sowie des Geistes und des Herzens zu transponieren. Sowohl das (ästhetische) Lust- als auch das (ethische) Glücksgefühl, das ist die pragmatische Pointe dieser Theorie, ergibt sich demnach nicht auf der Basis einer dichotomischen Anthropologie, die die Gegensätze von Geist und Sinnlichkeit über den vorstellenden Intellekt zu vermitteln sucht, sondern durch Regulation der einzelnen Vermögenspotenzen (sensitiv, kognitiv, affektiv) nach dem Grundsatz der gemäßigten Ausübung, des mittleren Maßes der wirksamen Kräfte. 3.3 Vollkommenheit als Beschäftigungsprinzip Diesen hier vorrangig unter eudämonistischem Gesichtspunkt zutage tretenden Konsequenzen des physiologischen Begründungsgangs gebührt theoriegeschichtliche Aufmerksamkeit indes auch unter dem Aspekt jener von de Pouilly vorgenommenen begrifflichen Neuakzentuierung, die sich als Gegenentwurf zur rationalistischen Theorie der Vollkommenheit nach dem Cartesisch-Wolffschen Modell rekonstruieren lässt. Denn seinen physiologisch geprägten Ansatz subsumiert de Pouilly selber, wie bereits in der Frühfassung seiner Lusttheorie kenntlich wird, unter jenen Begriff, den die rationalistisch geprägte Lusttheorie der deutschen Aufklärung bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein in der Regel vornehmlich als außersubjektive bzw. objektiv determinierte Kategorie des Gegenstandes zu fassen sucht: den der Vollkommenheit (perfectio). „Ce qui exerce ces puissances [les „facultés des sens, de l’esprit & du coeur“] sans les fatiguer; ce qui est de nature à nous prouver leur perfection [...] fait sur nous une impression agréable.“116
661, 670f.), sondern auch in Wolffs Metaphysik metaphorischer und nichtmetaphorischer Gebrauch des Wiegens und Abwägens erörtert werden (vgl. Wolff: DM, §§ 509f.). 114 De Pouilly: TaE, S. 139; Hervorh. E.S. 115 De Pouilly schließt sich diesbezüglich in beiden Fassungen seiner Empfindungstheorie Platon an (vgl. Rsa, S. 138; TaE, S. 8). Nach dem „Dogma der Platonischen Schule“, das sich „unmittelbar auf die Theorie der Empfindungen gründen“ könne, ist die Tugend prinzipiell „durch sich selbst“ gerechtfertigt – wenn sie denn Vernunft und Leidenschaften einschließe (vgl. TaE, S. 8). 116 Rsa, S. 144.
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Die Antithese dieser den Wahrnehmungsvollzug betonenden Modellierung des naturgesetzlichen resp. organismischen Ablaufs ermüdungsfreier Betätigungen als Erscheinungsform der Vollkommenheit zum metaphysischen perfectio-Begriff Leibniz-Wolffscher Provenienz ist kaum zu übersehen117 und vermag die Attraktivität des de Pouillyschen Entwurfs für die späteren Erklärungsansätze der Lust im deutschen Sprachraum zu plausibilisieren.118 Vollkommenheit ist demnach primär als die empirisch erfahrbare Qualität von Vollzugstätigkeiten zu verstehen, als Bestandteil der anthropologischen Grundausstattung selber, nicht als normativ bestimmter Vorstellungsinhalt des denkenden Subjekts.119 Dass de Pouilly die Vollkommenheitskategorie in einem späteren Kapitel der Abhandlung explizit auch als normativ konnotierte „Idee“120 in ethischer Hinsicht reflektiert, ändert nichts an der Tendenz, wonach die perfectio als integraler Bestandteil der leibseelischen Äußerungsformen des Menschen konzipiert ist, im Gegenteil. Die sittliche Perspektivierung lässt die subjektivierenden und naturalisierenden Komponenten des de Pouillyschen Vollkommenheitsbegriffs umso deutlicher hervortreten.121 Perfectio,
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In seine Definition der Lust als einer Anschauungsmodalität der Vollkommenheit nimmt Wolff (vgl. Wolff, DM, §§ 404ff., S. 247ff.) zwar auch die subjektive Komponente der Vollzugslust der Wahrnehmung mit hinein, wenn er den Grad der Lustempfindung von der Intensität der „anschauende[n] Erkäntniß von der Vollkommenheit unsers Verstandes“ [Hervorh. E.S.] abhängig macht (vgl. ebd., § 412, S. 251). Gleichwohl dominiert in Wolffs Erklärung der Lustempfindung nicht der Wirkungsaspekt der subjektiven Wirklichkeitswahrnehmung, sondern es werden die kognitiv und reflexiv bestimmten Konstitutionsmomente der Empfindungswahrnehmung an den Begriff des nach Wolff durch „Regeln“ objektivierten ästhetischen Gegenstands zurückgebunden. Die Erklärung der Lustwahrnehmung kann demnach per definitionem nicht nur auf den empirisch-psychologischen Sachverhalt der subjektiven Lusterfahrung rekurrieren, sondern muss das lustvolle „Anschauen der Aehnlichkeit“ als einen Vermittlungsprozess von ästhetischer Vorstellung (Gemälde) und ästhetisch Vorgestelltem (die abgebildete „Sache“) berücksichtigen (vgl. ebd., § 404, S. 247). 118 Vgl. die Ausführung oben, bes. Abschnitte VI, VII. 119 Vgl. Zelles Befund der „Austauschbarkeit von vollkommenheitstheoretischer und physiologischer Begrifflichkeit“ (am Leitfaden der Mendelssohnschen Deutungsperspektiven), Zelle: Angenehmes Grauen, S. 337. Die Divergenzen zwischen französischem und deutschem Begriffsverständnis sind, wie jüngst gezeigt wurde, auf der Basis national unterschiedlicher Traditionslinien beträchtlich (vgl. Josef Früchtl; Sibille Mischer: „Vollkommenheit“, in: AGB VI, Bd. 6, S. 367–397). Darüber hinaus ist de Pouillys perfectio-Topos durch seine historisierenden und (soziologisch) relativierenden Züge gegenüber der deutschen Begriffstradition different: Diese „so interessante Idee“ der Vollkommenheit ist für den französischen Theoretiker ganz unmissverständlich ein Produkt „von der Erziehung, vom Temperamente, von der Gesellschaft, von unseren eigenen Bemerkungen“ (TaE, S. 68). 120 De Pouilly: TaE, S. 68. 121 Von de Pouilly werden Konfuzius und Zeno (und damit ineins der antike Hintergrund der stoischen Ethik) als Vertreter der Auffassung zitiert, dass die „Vollkommenheit in [dem] der Natur unseres Wesens angemessenen Gebrauch unserer Fähigkeiten“ gesehen werden muss (vgl. ebd., S. 68), der wiederum die vollständige Funktionsfähigkeit des Körpers, des Geistes und der Herzens vorausgeht (vgl. ebd., S. 70). In solchen Bestimmungen wird abermals deutlich, dass der de Pouillysche Ansatz keineswegs „eigentlich nur vom Ästhetischen her entwickelt wurde“ (Altmann, Mendelssohns Frühschriften, S. 101); der sittliche Vollkommenheitsbegriff fungiert vielmehr als Bestätigung und Ergänzung der am medizinisch-physiologischen
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so de Pouilly unmissverständlich, ist als selbstreflexives Modell zu denken, wonach jede Wahrnehmungserfahrung als Korrelat der Eigenliebe des Subjekts aufzufassen ist: „Jeder Gegenstand, der uns einen Beweis von unserer [Hervorh. E.S.] Vollkommenheit giebt, wird von innigem Vergnügen begleitet.“122 Nicht, dass die Lust an das Vollkommenheitsbewusstsein, sondern dass sie an die empirische Wahrnehmungserfahrung des Subjekts (und die mit dieser gegebene Vervollkommnungsbestrebung) zurückgebunden wird, ist hierbei das entscheidende Kriterium. Mit dem hier nachgezeichneten Ansatz zu einer Theorie der selbstbezüglichen Wahrnehmungsweisen ist schließlich auch das Stichwort für die eigentliche Pointe von de Pouillys lusttheoretischem Physiologismus in aestheticis gegeben. Noch der Abschnitt zur sinnengeleiteten Lust nämlich (Lust der körperlichen Organe und der äußeren Sinnesorgane)123 entwirft das Grundprinzip einer dynamisch konstituierten und selbstbezüglichen Lust, die sich nicht auf das anthropologische Prinzip der Selbsterhaltung (auf der Basis organischer Funktionsabläufe) einschränken lässt, – denn Lust, so de Pouilly, tritt nicht nur als anthropologische Disposition des Subjekts selbst auf, wonach sie ohne Zutun desselben „selbst aus dem Schoosse unserer Fähigkeiten aufzublühen“124 scheint. Lust ist vielmehr auch, und in dieser Eigenschaft wird sie von de Pouilly als Ableitungsprinzip aller nachfolgenden Vermögensleistungen (auf der Ebene des Intellekts wie des Herzens) modelliert, an die ästhetisch relevante Wahrnehmungserfahrung des Subjekts gebunden und das heißt: an dessen Vorstellungsaktivität. Über die Ebene der konstitutionellen Funktionseigenschaften hinaus (die Organ- und Sinnenlust hatte de Pouilly ja de facto als ein dem bewussten und tätigen Subjekt vorausliegendes physiologisches Funktionsprinzip konzipiert) affirmiert de Pouilly die subjekteigene Vermögensbetätigung, bei der die Seele „dann gleichsam aus sich selbst hervorzugehen [scheint], um die günstigen Eigenschaften der sich ihr darbietenden Gegenstände zu erkennen.“125 Liegen die Parallelen zu Dubos’ Aufwertung des menschlichen Betätigungsdrangs auf der Hand, so sind de Pouillys originäre Erklärungsinteressen bezüglich der Charakterisierung der Lusterfahrung doch zugleich unverkennbar: „Il y a un sentiment agréable attaché à l’exercice [Hervorh. E.S.] de nos facultés“, so lautete die pointierte Formulierung bereits im frühen Theorieentwurf der angenehmen Emotionen.126 Mit diesem Schritt ist die Formel vom „jeu des organes de la transpi-
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Modell gewonnenen Bestimmungen, mithin als Beleg für die theoretische Kompatibilität von ästhetischer und ethischer Argumentation. Ebd., S. 67, vgl. auch S. 78. De Pouilly: TaE, S. 13ff. Ebd., S. 21. Ebd. De Pouilly: Rsa, S. 145. De Pouillys veränderte Akzentsetzungen zwischen Früh- und Spätfassung seiner Lusttheorie sind diesbezüglich aufschlussreich. Während die frühen Réflexions das soeben zitierte Gesetz explizit als „Première Loi des Sentimens“ benennen (vgl. ebd., S. 145– 151), um in den Folgeabschnitten das Angenehme der „objets“ (vgl. ebd., S. 151–171), der
ration“, oder wie es an früherer Stelle hieß, der im „principe Physique“127 verankerten Lusterfahrung, von der Ebene der biologisch bestimmten Selbsterhaltung auf diejenige der Subjekttätigkeit übertragen, und damit ineins sind die im Prinzip der leichten Beschäftigung verankerten Prämissen sanktioniert. Sowohl die Untätigkeit, die notwendig zum Verderben führt, als auch die Unangemessenheit des Betätigungsreizes gegenüber der subjektiven Disposition verhindern, wie in Santorios Modell zu sehen war, die lebens- und lustnotwendige Aufrechterhaltung des Kreislaufs zwischen Vermögensausübung und Lustempfindung. In der Lust am Vollzug der Tätigkeiten selbst hingegen „in dem Vergnügen selbst [...], das der Beschäftigung unserer verschiedenen Fähigkeiten als eine treue Begleiterin folgt“128 sind die angenehmen Emotionen nunmehr auch als die autoregulativen Triebkräfte für eine kontinuierliche und selbstinteressierte Betätigung der subjekteigenen Vermögen selbst legitimiert.129 Vollzugslust, im Angemessenheitsverhältnis des Betätigungsreizes zu den aktivierten Vermögen, belässt das Subjekt bei sich selbst, führt es sich selbst zu.130 Anders als bei Dubos im Anschluss an Pascal wird daher nicht die Affektgeladenheit der Emotionen als Voraussetzung der subjektiven Lusterfahrung deklariert,131 sondern eine sich durch die emotiven Vollzugsqualitäten selbst charakterisierende Wahrnehmungserfahrung des Subjekts. Mit dieser folgenreichen Formel, so lässt sich im theoriegeschichtlichen Vorausblick sowohl auf die spätaufklärerischen Erklärungsansätze der sinnlich-ästhetischen Lust als auch die psychologische Wahrnehmungsästhetik etwa von Lipps oder Volkelt for„bien utiles“ (S. 172–180) und der „vertu“ (S. 187–227) zu erläutern, konzipiert de Pouilly in der Abhandlung von 1747 (vgl. Tsa) den Grundsatz der ermüdungsfreien Tätigkeit als einheitliches, von der empirischen Bedürfnisnatur des Subjekts aus entwickeltes Erklärungsprinzip aller psychophysischen Vermögensaktivitäten. 127 Ebd., S. 144. 128 De Pouilly: TaE, S. 14f. 129 Bereits der französische Herausgeber Vernet hatte daraus auch ethische Konsequenzen abgeleitet, die sachlich auf die antike mesotes-Lehre zurückführen. Vgl. [L. J. L. de Pouilly]: Theorie der angenehmen Empfindungen, welche erst die Gesetze entdecket, denen die Natur bey Vertheilung des Ergötzenden folget und sodann die Gründe der natürlichen Theologie und der Moral fest setzet. Aus dem Französischen nach der neuesten Ausgabe übersetzt, und mit nöthigen Anmerkungen erläutert, von Friedrich Julius Biel. Leipzig 1751, Vorrede unpag. (Bogen 3–5, hier 4): „Es ist uns also nur eine gemäßigte Bewegung oder Uebung zugemessen. Hierinnen nun vereiniget sich der Gebrauch oder die Vollkommenheit unserer Kräfte mit dem ersten Nutzen, der in unserer Erhaltung beruhet. Denn recht in diesem Mittelpunkt [...] in der gemäßigten Uebung unserer Kräffte, hat die Natur oder besser zu sagen, der Schöpffer, die Ergötzung weislich zusammen vereiniget.“ 130 Dreves hat in seiner Übersetzung aus diesem Sachverhalt einen Gegenentwurf des physiologischen Emotionalismus à la de Pouilly zum Pascalschen „Zerstreuungs“-Theorem konstruiert eine sachlich berechtigte Querverbindung, die sich in dieser Explizitheit bei de Pouilly jedoch nicht findet, vgl. TaE, S. 14f.: „Pascal glaubte, daß ein Streben, den Anblick seiner selbst zu vermeiden, die Ursache sey, warum dem Menschen alle Arten von Ergötzungen und starken und lebhaften Beschäftigungen so willkommen wären: mir aber scheint die Ursache in dem Vergnügen selbst zu liegen, das der Beschäftigung unserer verschiedenen Fähigkeiten als eine treue Begleiterinn folgt [...].“ 131 Vgl. Dubos, KB I, S. 10f.
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mulieren,132 ist ein anthropologisch untermauertes lustästhetisches Grundprinzip gefunden: Ebenso wie das Bedürfnis der Lustgewinnung wird damit auch der Antrieb, den Lustzustand zu erhalten, nicht als Ergebnis eines Spannungsgegensatzes zwischen empirischem Subjekt und subjektübergreifender Vollkommenheitsvorstellung gedeutet, sondern als Ausdruck eines in der menschlichen Natur verankerten Bedürfnisses nach leicht fallender und nicht ermüdender Beschäftigung.133 3.4 Ästhetische Erfahrung auf anaisthetischer Basis: „Geist“ als ästhetisches Organon Aus den bisherigen Erörterungen dürften zwei Befunde deutlich geworden sein. Zum ersten, dass sich durch die Verschränkung von physiologischer und pragmatischer Begründung für die ästhetische Lusttheorie konstitutive Argumente gewinnen lassen: Die pragmatische Dimensionierung der Lusterfahrung spitzt dieselbe auf eine naturgemäße Aktivität zu und erweist diese Naturgemäßheit als ästhetisch fungible und ethisch angemessene Tätigkeitsform aus. Zum zweiten erhellt aus dem weitgefassten Begründungsansatz de Pouillys das vordergründige Interesse der Théorie nicht an einer Analyse der ästhetisch spezifizierten Lustempfindung (Empfindung des Schönen), sondern der anthropologisch-dispositionellen Voraussetzungen der Erfahrung des Angenehmen. Mit diesen Befunden ist eine Basis für die Frage nach den engeren ästhetiktheoretischen Implikationen der de Pouillyschen Lusttheorie gewonnen, die nachfolgend auch auf den Stellenwert des Begriffs der Emotionen für die Erfassung ästhetisch affiner Erfahrung zu beziehen ist. Vor dem Hintergrund der gewonnenen Ergebnisse stellt sich im besonderen die Frage, ob die am Modell der medizinischdiätetischen Physiologie gewonnenen und moralphilosophisch abgestützten Grundsätze die behauptete Analogie der subjektiven Vollzugstätigkeiten zum „freien Spiel der Transpirationsorgane“134 im ästhetischen Gegenstandsbereich sinnvoll zu halten sind. Gelingt es de Pouilly, von hier aus einen innovativen Begründungsweg zum Problem der ästhetischen Gegenstandskonstitution zu finden?
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In seiner Theorie der ästhetischen Einfühlung identifiziert Lipps das ästhetisch involvierte „Thätigkeitsgefühl“ mit dem „Lebensgefühl“ des Subjekts und setzt diesen ästhetischen Akt zugleich von aller „inneren Arbeit, [...] Kraftaufwand, [...] Streben oder Wollen“ ab. Die ästhetische Einfühlung bezeichnet den Sachverhalt der ästhetischen Auffassung eines Gegenstands über eine „Thätigkeit“, die als „Weise meiner Selbstbethätigung erlebt“ wird, dem „ein Gefühl der Lust an dem Objekt“ korreliert (vgl. Theodor Lipps: Einfühlung und ästhetischer Genuß, S. 155, S. 158f.). 133 Dreves hat in diesen anthropologisch-physiologischen Grundsatz de Pouillys intellektualistische Komponenten hineingelesen und (am Beispiel Dubos) wiederum auf den „Trieb nach Vorstellungen“ eingeschränkt (vgl. Dreves, Resultate, S. 13). 134 De Pouilly: TaE, S.15.
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Dass de Pouilly die Antworten auf diese Fragen im Abschnitt zu den intellektuellen Vergnügungen („Beschäftigung unseres Geistes“)135 formuliert, erlaubt nicht nur die Annahme, dass mit der emotionalistischen Theorie dieser vordisziplinären Anthropologie die psychophysiologische Grundierung der Lustgefühle nicht umstandslos mit einer vermögenstheoretischen Sicherung der Emotionen zusammenfällt, sondern auch, dass der Psychophysiologismus nicht zwangsläufig mit einer Konzeption der ästhetischen Erfahrungsweisen unter Verzicht auf den Intellekt einhergeht. Unter die Tätigkeiten des Geistes jedenfalls, und hier liegt die ästhetiktheoretisch relevante Grundentscheidung, subsumiert de Pouilly die Erfassungstätigkeiten des Subjekts anlässlich der von den „schönen Künsten“ vorgebildeten ästhetischen Gegenstandseigenschaften. Ordnung, Symmetrie, Proportion und Kontrast, das gesamte Crousazsche Inventar der ästhetischen Normkategorien (inbegriffen der Relationen zwischen Teil und Ganzem, Einheit und Mannigfaltigkeit)136 sowie das Gesetz der drei dramatischen Einheiten, vgl. bes. 36ff.)137 werden als die dem geistigen Bedürfnis nach „nicht ermüdende[r] Beschäftigung“138 korrespondierenden Merkmale der ästhetischen Gegenstände erklärt.139 In der Tat ist de Pouillys ästhetisches Teil-Ganzes-Gesetz nichts anderes als die Konkretisierung des physiologisch begründeten Gesetzes nach proportionierter Betätigung; umgekehrt führt der Nachweis seiner psychophysiologischen Bedingtheit (de Pouilly schlussfolgert auf der Basis psychischer Wirkungen) zugleich dessen anthropologische Legitimation mit sich. Ungeachtet der Konsequenz, mit der der Autor die Gegenstandseigenschaften gleichsam als axiomatisch geronnene Dispositionen der Subjektnatur (Wahrnehmungs- und Erfassungstätigkeiten des Subjekts) ableitet, bleiben die begründungstheoretischen Schwächen dieser Konzeption alles andere als verdeckt.140 Die
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Ebd., S. 22–39. Zu den objektiven Prinzipien der ästhetischen Gegenstände definiert Crousaz in seiner Ästhetik nach der Reihenfolge: „l’uniformité“, „la regularité“, „l’ordre“, „la proportion“ (vgl. Crousaz: Traité du Beau. Chapitre III, S. 12–16). 137 De Pouilly: TaE, S. 25–29, bes. S. 26ff., S. 36ff. 138 Ebd., S. 22. 139 Sie gefallen durch die „Leichtigkeit, mit welcher der Geist sie auffassen, und die verschiedenen Theile des Gegenstandes verbinden kann.“ (TaE, S. 25) ein Verhältnis, das, wie kaum anders zu erwarten, am optimalsten durch „die völlige Uebereinstimmung der Theile eines Werkes zu einem bestimmten Zweck“ erreicht wird und entsprechend das „grösste Vergnügen“ (ebd., S. 32, vgl. S. 26ff.) gewährt. 140 Im veränderten Zuschnitt der Fassungen de Pouillys ist deutlich der Versuch zu erkennen, den subjektzentrierten, an den psychophysischen Vermögenssphären ansetzenden, Zugriff konsequent als umfassendes Ableitungsprinzip zu etablieren. Während die frühere Fassung diesen noch über die sensitiven Eigenschaften der „objets“ einführt (vgl. Tsa, Chapitre 3: „Des objets qui sont agréables par eux-mêmes, soit au sens, soit à l’esprit“, S. 151–171) und somit Subjektund Objektseite der Wahrnehmung in Gegensatz bringt, vermeidet die spätere Fassung die gegenstandsorientierte Diktion ganz: Das emotionalistische Grundgesetz fungiert jetzt als Ablei-
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mit dem wirkungstheoretischen Ansatz verbundene Überblendung der Erfahrungsbereiche des Angenehmen und des Schönen lässt zwar eine schlüssige, in der Sache jedoch beliebige Verwendung des psychophysiologischen Grundgesetzes zu, womit faktisch die Geltung der zu beweisenden Gesetze bereits vorausgesetzt wird. So kommt das Plädoyer für einen weiten Begriff von ästhetischem Vergnügen unmittelbar neben der Akklamation klassizistischer Normen zum Stehen.141 Eine innovatorische Revision der kunstästhetischen Gesetze als solcher, so kann gefolgert werden, ist vom psychophysiologischen Axiom aus nicht möglich. Indem der Grundsatz der angemessenen Betätigung des Geistes zur Grundlage der ästhetischen Gesetzgebung erhoben wird, ergibt sich aber auch noch eine andere Konsequenz, die sich, wie abschließend zu zeigen, als Alternative zur vollkommenheitstheoretischen Konzeption der Lust nach Cartesisch-Wolffschem Modell präsentiert und einen Ansatz zur ästhetischen Differenzierung auf der Ebene der intellektuellen Vermögen enthält. Leichte Betätigung des Geistes ist, so machte de Pouillys erster Differenzierungsansatz deutlich, die sich selbst perpetuierende Lust im Vollzug des Gefallens, „Vergnügen des Findens“ im Zuordnen von Merkmalen.142 Psychische Aktivität im Modus der Lust ist demnach vom Vorgang des begrifflichen Erkennens durch das Absehen vom unmittelbaren Zweck der vorstellungsgeleiteten Betätigung unterschieden. Statt am Ergebnis der Reflexion erfüllt sich dieselbe in einer selbstbezogenen Wahrnehmung des Vollzugsvorgangs selbst: In einer Überzeugung durch das „innere Gefühl [...], ohne dadurch irgend eine Aussicht für die Zukunft zu gewinnen, und ohne einen anderen Zweck vor Augen zu haben, als den gegenwärtigen Augenblick angenehm auszufüllen.“143 Daher, so die ästhetiktheoretische Quintessenz in der anschließenden Kritik des Aristotelischen Mimesistheorems, muss nicht der gezielte Zuwachs an begrifflichem Wissen, sondern die Befriedigung des (geistigen) Aktivitätsbedürfnisses als Ursache der Lust deklariert werden.144 Damit sind in der Tat Grundlinien der spätetungsbasis, mit der die Ebenen von Körper, Geist und Herz erfasst werden die Objekteigenschaften sind jetzt Gegenstand des Geistes und seiner Vergnügungen (vgl. TaE, S. 22ff.). Vgl. ebd., S. 28: Auch das Bemerken der „Fehler einer ungetreuen Darstellung“ ist lusterzeugend. Vgl. dagegen ebd., S. 31: einzig die „leicht aufzulösende[n] Accorde“ und die harmonischen „Consonanzen“ sind ästhetisch respektabel, sowie ebd., S. 37: die Wahrung der drei Einheiten im Drama „ist durch die Theorie der Empfindungen ausser Zweifel gesetzt“. 142 De Pouilly: TaE, S. 25. 143 Ebd. S. 23. De Pouilly hat diesen, im „esprit“-Kapitel der Théorie entwickelten Zustand nicht als ästhetisch rezeptiven und sinnengeleiteten Genusszustand gekennzeichnet (man vergleiche dagegen Sulzers Theorie des ästhetischen Zustands), sondern als anaisthetisch bestimmte psychische Aktivität. In den Zuständen dieser Art, so de Pouilly, erscheint die Seele von „ihrem Körper entfesselt“ (ebd., S. 24), werden die Reize der äußeren Sinneswahrnehmung von der psychischen Aktivität gleichsam absorbiert. 144 Die Aristotelische Erklärung der Lust an der Nachahmung als Lust am Erkenntnisgewinn weist de Pouilly mit dem Argument als zu weit gefasst zurück, dass demzufolge auch das Entdecken der „Fehler einer ungetreuen Darstellung [...] doch immer eben denselben Eindruck von Vergnügen auf uns machen“ müsste (vgl. TaE, S. 28). Die betreffende Stelle der Poetik widmet sich allerdings der Erklärung der Freude an „Bildern“ überhaupt und der (anthropologisch all141
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ren Konzeption ästhetischer Interesselosigkeit auf der Basis eines dynamisierten Vorstellungsbegriffs gezogen. 3.5 Modifikationen des Gehirns. De Pouillys zweiter Physiologismus Die Einseitigkeit der subjektivierenden Tendenzen seines Ansatzes hat de Pouilly offenkundig gesehen und in einem zweiten neurophysiologischen Anwendungsbereich seines Grundsatzes der leicht fallenden Beschäftigung zu kompensieren gesucht.145 Wiederum ist es ein naturwissenschaftliches Argumentationsmuster, mit dem der Verfasser der Théorie einerseits eine mechanistische Abstützung seiner Emotionstheorie anstrebt, andererseits einen Vorstoß unternimmt, die Instanz der subjektiven Lustwahrnehmung im anthropologischen Anlagenspektrum zu lokalisieren.146 Dass noch Sulzer auf den Spuren de Pouillys sich vor vergleichbare Schwierigkeiten gestellt sehen wird bei dem Versuch, physiologische Erklärungsmuster in den Problemzusammenhang der ästhetischen Lust einzubetten, rechtfertigt es, den einzelnen begründungstheoretischen Schritten in der Theorie eingehender nachzugehen.147 Die „meisten Reitze, welche in den Werken der Natur und Kunst entzücken, [bringen] auch auf [!] die Fibern des Gehirns angenehme Eindrücke [hervor], weil sie hier verknüpfte, und sich gegenseitig Hülfe leistende Bewegungen veranlassen.“148 Mitten in jenes Organ also, in dem Descartes’ mechanistische Psychophysiologie das Steuerungszentrum aller psychischen Aktivitäten zwischen Kognition und Affekt lokalisiert hatte, führt de Pouillys Versuch, die Identifikation von Vollkommenheitskategorie und Vollzugslust durch einen objektivistischen Zugriff auf die anthropologische Grundausstattung zu ergänzen das Gehirn.149 Denn die gemeinen) ästhetischen Valenz des Erkennens und Lernens (vgl. Aristoteles: Poetik, S. 11–13). Als kritisch ergänzender, in der Sache jedoch durchaus anschließender Reflex der de Pouillyschen Aristoteleskritik in lusttheoretischer Hinsicht lassen sich J. A. Eberhards (ebenfalls an der Aristotelischen Erklärung dingfest gemachte) lusttheoretische Erörterungen lesen nunmehr freilich im vermögenspsychologischen Begründungskontext der „rührenden“ Emotionen (vgl. Johann August Eberhard: Versuch eines Plans zu einer praktischen Ästhetik. Den philosophischen Kunstrichtern zur Prüfung vorgelegt, in: ders. (Hg.): Philosophisches Magazin. 3. Bd., 1. Stück, Halle 1790, S. 1–54, hier S. 26–31; siehe hierzu auch im folgenden, Kapitel VII). 145 Der einschlägige eigenständige (7.) Abschnitt der Théorie trägt den programmatischen Titel: „Von den Modifikationen des Gehirns, welche den angenehmen Empfindungen entweder vorhergehen oder sie begleiten“ (vgl. TaE, S. 80–91). 146 Vom „Mechanismus“ und der „Physik der Empfindungen“ ist in der Théorie explizit die Rede (vgl. ebd., S. 86, S. 89), deren „Haupttheil in dem Gehirne“ zu bezeichnen ist, welches „als der Sitz des Vergnügens und des Schmerzens“ aufzufassen sei (vgl. ebd., S. 89). 147 Vgl. Johann Georg Sulzer: Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen. Dritter Abschnitt: Von den Vergnügungen der Sinne, in: ders. Vermischte Philosophische Schriften, S. 50–77. 148 De Pouilly: TaE, S. 82. 149 Wie Dubos bleibt auch de Pouillys anderer Hauptgewährsmann, Descartes, in der Abhandlung verschwiegen. De Pouilly folgt der Cartesischen Zirbeldrüsenhypothese nicht, teilt jedoch mit
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„Quelle des Vergnügens“, so de Pouilly nun in Ergänzung aller bisherigen Bestimmungen, ist nicht nur in den einzelnen „Organen der Empfindung“ den Wahrnehmungsvermögen der Sensation, Kognition und des Affekts aufzusuchen; diesen korrespondieren vielmehr stets „gleichfortlaufende und verhältnissmässige Veränderungen in dem Gehirne, von welchen sich die Spuren durch das Gedächtnis aufbewahren.“150 In der Anwendung des Grundtheorems der proportionierten resp. ermüdungsfreien Beschäftigung ergibt sich daraus, dass „ein Gegenstand, der angenehme Empfindungen gewährt, [...] die Fibern des Gehirns [beschäftigt], ohne sie zu schwächen, oder zu erschlaffen,“ das Ergebnis der Wirkungen vorzüglich jener Gegenstandsmerkmale also, die (als Symmetrie, Reim, Proportion etc.) „in den Werken der Natur und Kunst entzücken.“151 Die Bedeutung dieser neurophysiologischen Fundierung der Lusterfahrung für die ästhetische Theorie der angenehmen Empfindungen, die neben dem direkten Rückgriff auf ein Kernsegment der psychophysiologischen Anthropologie Descartes’152 unter anderem auch Anleihen bei der zeitgenössischen musikalischen Theorie der harmonischen Schwingungen nimmt,153 ist in einer dreifachen Hinsicht relevant. Zum ersten wird mit ihr unter beibehaltenem Verzicht auf den Begriff der Seele sowohl die gegenseitige und harmonische Interaktivität leiblicher (organbezogener) und seelischer (neuronaler) Funktionen behauptet, als auch der ‚infiltrierende‘ Charakter der Lust untermauert: Lust ist weder bloße Organ- noch Sinnenlust, sondern Lust im anthropologisch komplexen Beeinflussungs- bzw. Schwingungsfeld zwischen der Wahrnehmung durch die Einzelvermögen (der Sinne, des Intellekts, des Herzens) und den Prozessen der neuronalen Perzeption.154 Descartes die Auffassung von der zentralen koordinativen Funktion des Gehirns (wovon die „Organe der Sinne [...] gleichsam abgeleitete Zweige sind“ (TaE, S. 81; vgl. Descartes: Tr, Art. 7, S. 13). Zu den hier nicht weiter zu verfolgenden Parallelen zwischen de Pouilly und Descartes in Bezug auf die Erklärung der Affekte des „Herzens“ vgl. Martino: Geschichte der dramatischen Theorien, S. 96f. 150 De Pouilly: TaE, S. 80. 151 De Pouilly: TaE, S. 81f. De Pouillys Theorie der Gehirnfibern folgt eindeutig Descartes’ Materialisierung des Psychischen und damit jenem Modell der physiologischen Empfindungstheorie, das den Aufbau der neuroanatomischen Struktur als Zusammenwirken von spezifischen neuronalen Fibern und den von diesen hervorgebrachten Schwingungen definiert (vgl. TaE, S. 81f.) Zu den Modellvarianten neurophysiologischer Erklärungsansätze des Psychischen zwischen Animismus und Mechanismus vgl. Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998, S. 120ff. 152 Vgl. Descartes: Tr, Art. 94, S. 145ff. 153 De Pouilly: TaE, S. 82. Zur Rolle der Musik für die Herausbildung einer emotionalen Kunsttheorie siehe die Bemerkungen bei Martino: Geschichte der dramatischen Theorien, S. 17–20. 154 Im Vergleich mit der Cartesischen Affekttheorie wird einerseits die Eigenständigkeit de Pouillys deutlich, der sich sowohl von Descartes’ Fixierung der neuronalen Prozesse in der Zirbeldrüse des Gehirns löst als auch der Cartesischen Theorie der „Lebensgeister“ („esprits animaux“ vgl. ebd., Art. 7, S. 12, pass.) als den impulsiven Einheiten der Affektentstehung (vgl. bes. ebd., Art. 27–30, S. 47–51) nicht folgt. Andererseits zeigt sich de Pouillys Anschlussbedürfnis an den Zentralisierungsgedanken der Cartesischen Erklärung, um die anthropologi-
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Zum zweiten wird mit der Lokalisation der Lustempfindungen im Gehirn ein synchron agierendes übergeordnetes Koordinations- und Kommunikationszentrum aller lustgeprägten Wahrnehmungen etabliert, ohne dass dasselbe zugleich den Status einer intellektabhängigen, d.h. vorstellungserzeugenden Instanz erhält.155 Die neurologisch, durch das „Spiel der Gehirnfibern“156 konstituierten Momente der Lust sind gleichsam die Parallelaktionen der Lusterfahrung auf der Vermögensund Vollzugsebene: neurophysiologische Modifikationen von Lust, die alle Empfindungswahrnehmungen begleiten. De Pouillys Lokalisation der Lusterfahrung führt somit zwar ins Zentrum des Denkens, des Intellekts. Doch ist der Gegensatz zur vorstellungstheoretischen Konzeption der Wahrnehmung augenfällig, wie nicht zuletzt Formulierungen zu erkennen geben, die die Passivität des Psychischen hervorheben.157 Weit davon entfernt, Ort intellektuell geleiteter Erzeugung von Vollkommenheitsvorstellungen zu sein, fungiert für de Pouilly das Gehirn vielmehr lediglich als der zentrale ‚Resonanzboden‘ der lustgeprägten Wahrnehmungen. Zum dritten schließlich entwickelt de Pouilly mit seinem neurophysiologischen Ansatz ein den ersten Erklärungsansatz ergänzendes Wahrnehmungsmodell auf der Basis eines kausalmechanischen Parallelismus, wonach die Schönheit der Gegenstände lediglich als das Resultat des Auslösens bzw. Übertragens spezifisch gearteter Fibernschwingungen, und die Lusterfahrung letztlich als Reizverhältnis zwischen Subjekt und Gegenstand gedeutet wird: „Vortreffliche Eigenschaften, aus welchen die Schönheit des Körpers, des Geistes und Herzens besteh[en]“, erzeugen Schwingungswellen im Gehirn, die darauf abzwecken, dem Wahrnehmenden „selbst diese Eigenschaften mitzutheilen.“158 Die subjektive Wahrnehmung der Lust, das ist der entscheidende Begründungsschritt, wird damit nicht an die Erfassungsleistungen des Subjekts zurückgebunden, sondern an die präreflexiv und unwillkürlich erfolgenden Wahrnehmungsverläufe selbst, die im Modus der „Ansteckung“ fortwährend Schwingungen erzeugen und an das wahrnehmende Subjekt vermitteln ästhetisch als Schönheits-, ethisch als Mitleidsempfinden.159
schen Implikationen für seinen eigenen neurophysiologischen Erklärungsansatz zu übernehmen. Wie für Descartes bilden die Gehirntätigkeiten für de Pouilly eine funktionell ausgezeichnete, mit zentralen Vermittlungsaufgaben betraute Sphäre (vgl. TaE, S. 84). 155 Die Vergleichbarkeit dieser Konzeption mit der rationalistischen Theorie der Aisthesis, wonach die kunstästhetische Erfahrung nicht als Angelegenheit einer körperlich vermittelten Erfahrung der primären Sinnesorgane, sondern als lediglich sinnengeleitete Erfassungsleistung des Subjekts aufgefasst wird, ist evident (vgl. Kliche: Ästhetik und Aisthesis, S. 485–505). 156 De Pouilly: TaE, S. 85. 157 Der auslösende Impuls für die Erzeugung der Lustwahrnehmung, darin liegt der generelle Unterschied zur rationalistischen Vorstellungstheorie (und mithin: Theorie der Aisthesis), entspringt nicht der Aktivität des vorstellenden Subjekts selbst; es ist der Gegenstand bzw. es sind die von ihm ausgelösten „Reitze“, welche die angenehme Empfindung verursachen. 158 De Pouilly: TaE, S. 84. 159 Vgl. TaE, S. 84. De Pouilly appliziert dieses mechanistische Modell der Schwingungsübertragung schließlich auch auf ethische Fragestellungen: das Problem der Erzeugung der Sympathie und ihrer Kommunikation (vgl. ebd., S. 85–89).
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Diese Konzeption insgesamt als den Versuch zu beschreiben, die Funktionsabläufe des Lustmechanismus zu erhellen, griffe fraglos zu kurz. Näher liegend scheint vielmehr die Intention, durch den Rekurs auf die anthropologische Allgemeinheit neuronaler Konstitutionsmuster (und das heißt durch das Geltendmachen vermeintlich objektiver Maßstäbe) das Problem der Diversität der subjektiven Gegenstandswahrnehmung zu relativieren eine Begründungsfigur, die auch im zeitgenössischen britischen Empirismus in der Ästhetik theoretische Attraktivität besaß.160 Bezieht man de Pouillys Grundbestimmungen auf die Leitfrage nach der Struktur des ästhetischen Erfassungsmodells und seiner emotionstheoretischen Implikationen, ergeben sich die Grundzüge eines Erklärungsmodells, das den Grundsatz der ‚leichten Beschäftigung‘ vermögensbezogen (Sinne, Affekte, Intellekt) wie vermögensübergreifend (Gehirn) einheitlich zur Geltung bringt, im Einzelnen jedoch zu durchaus gegensätzlichen Bestimmungen gelangt. Der sachlich als Ergänzung des ersten physiologischen Ansatzes intendierte neurophysiologische Erklärungsansatz der Lusterfahrung („Spiel der Gehirnfiebern“) erzeugt näher besehen eine dilemmatische Begründungssituation: Ästhetische Erfahrung wird von de Pouilly sowohl auf der Ebene der subjektiven Vollzugs- und Erfassungsleistungen beschrieben wie als Resultat der mechanisch ablaufenden Schwingungserzeugung und -übertragung auf der Ebene der anthropologisch allgemeinen (vorwillkürlichen und prämentalen, sprich neuronalen) Disposition erklärt. Wird auf der einen Seite somit die Selbstentmächtigung des (vorstellenden) Subjekts und die Aufwertung der anthropologisch-dispositionellen Voraussetzungen der Lusterfahrung zu den elementaren Trägern der dynamischen Lusterfahrung erhoben, erfolgt auf der anderen Seite die Naturalisierung des metaphysischen Vollkommenheitsbegriffs durch die Aufwertung der subjekteigenen Vollzugstätigkeiten. Im Ergebnis ergibt sich eine Gegenläufigkeit zwischen der subjektgebundenen Aktivität (des Vollzugs) und der dem Subjekt vorausliegenden Passivität (der Perzeption). Die ästhetische Gegenstandskonstitution ist somit Sache sowohl des Subjekts als auch der dem Subjekt vorausliegenden anthropologischen Disposition ein Ansatz, dem de Pouilly durch das aktivitätsbezogene Modell der Selbstbezüglichkeit des Empfindens dennoch eine in ihrer Schwerpunktsetzung klar akzentuierte Kontur verleiht: „Nichts bringt einen angenehmeren Eindruck auf uns hervor, als was in den Fibern des Gehirns Schwingungen entstehen lässt, die in der Seele solche Empfindungen unterhalten, in welchen sie sich gefällt. [Hervorh. E.S.].“161 160
So etwa bei dem Kronzeugen der anthropologischen Ästhetik nach britischem Muster, Henry Home: „Jeder Zweifel überhaupt in Ansehung der Richtigkeit der Meynungen oder des Geschmacks, kann durch eine [...] Zurückführung auf die natürlichen Triebfedern gehoben werden.“ Home: Grundsätze der Kritik III [³1791], S. 400. 161 De Pouilly: TaE, S. 88. Auch diese Konstruktion folgt dem Cartesischen Modell, das das erkenntnistheoretische Aktivitäts-Passivitätsproblem der Seele physiologisch in das Ergänzungsmodell von funktionserhaltendem Körper und gedankenbildender Seele transformiert (vgl. Descartes: Tr, Art. 2–6, S. 5–11).
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So löst de Pouilly die Frage nach den angenehmen Empfindungen letztlich, und hier liegt seine theoriegeschichtliche Besonderheit, nicht nur durch den doppelten Verzicht auf den Begriff der Seele und auf einen vermögenstheoretisch abgegrenzten und eigenständigen Begriff der Emotionen, des Gefühls Emotionen sind in der Théorie nicht vermögenspsychologisch identifizierbares ästhetisches Organon, sondern Qualität eines physiologisch fundierten Wahrnehmungsvollzugs.162 Die Theorie der angenehmen Empfindungen kennzeichnet im Besonderen auch die Zurückstellung der affektiv-emotionalen Vermögenssphäre im Erklärungszusammenhang der ästhetischen Lust.163 Denn vom Begehrungsvermögen, der Ebene des „Herzens“, führt bei de Pouilly kein Weg zur Erklärung des Ästhetischen.164 Allenfalls die gemäßigte affektive Erregung, keinesfalls der starke Affekt, gilt in ihr als notwendige Bedingung der ästhetischen Erfahrung.165 Darin liegt, ungeachtet der Parallelen zu Dubos’ bedürfnistheoretischer und dynamistischer Begründung der Lust, der signifikante Unterschied zum Emotionalismus als einer das affektive Subjekt aufwertenden Theorie der Lust. Mit der Festlegung auf den Geist als anth162
‚Gefühl‘ ist für de Pouilly somit keine ausgewiesene Vermögenskategorie der Seele und Konstituens des Ästhetischen im Zwischenraum von Erkenntnis und Begehren. Vielmehr ist von einer emotionalistischen (psychophysiologisch grundierten) Theorie der Lust ohne systematisch definierten Emotionsbegriff zu sprechen. 163 Zwar heißt es im Abschnitt zu den Vergnügungen des „Herzens“, dass dasselbe die „einzige Quelle jedes wahren Vergnügens“ darstelle (vgl. TaE, S. 53), doch zieht de Pouilly weder hier noch in den anderen Abschnitten seiner Théorie aus dieser Einschätzung (kunst-)ästhetische Konsequenzen. Die Anmerkung des deutschen Übersetzer Stockhausen, dass „[...] sowohl die angenehmen als die unangenehmen Empfindungen meistentheils mit Affecten begleitet [sind], oder solche doch in Bewegung“ setzen (vgl. Pouilly: Lehre der angenehmen Empfindungen [Übers. Stockhausen], S. 5), gibt einen Hinweis auf ein affekttheoretisches Deutungsbedürfnis in der deutschen Theoriebildung um die Jahrhundertmitte, hat im Text de Pouillys aber keine Entsprechung. 164 Von Dubos ästhetischem Basiskriterium, der ästhetisch induzierten Erregung „empfindlichen Vergnügen[s]“, ja der sinnlich aufgeladenen „schmerzhafte[n] Empfindungen“ (vgl. KB I, S. 1.), ist bei de Pouilly, der trotz zahlreicher mit Dubos geteilter Ausgangsdiagnosen anders geartete Konsequenzen zieht, nichts mehr zu spüren. Pointiert formuliert bildet de Pouillys systematische Zurückhaltung gegenüber dem starken Affekt einen Gegenentwurf zum affektivitätsfundierten Emotionalismus Dubos’ und demonstriert mithin nachdrücklich, dass die Entwicklung der ästhetischen Theorie im Verlauf des 18. Jahrhunderts zumindest im französischen Sprachraum nicht ohne weiteres auf den Nenner einer sukzessiven Zurückweisung des schmerzhaft-erregenden Affekts zugunsten einer ästhetischen Theorie der ‚gemäßigten Empfindungen‘ zu bringen ist, wie zuletzt für den deutschen Sprachraum nachgewiesen wurde (vgl. Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung, S. 137: Die „Bevorzugung heftiger Gemütsbewegungen und Sinnesreizungen“ in der Baumgartenschen Schule (einschließlich Sulzers) weiche in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der „Tendenz zur Distanzierung von starken Empfindungen [...], die sich in ihrer ästhetischen Disqualifikation und in ihrer historischen Relativierung äußert.“). 165 Vgl. exemplarisch TaE, S. 29: Zwar konzediert der Autor, dass die künstlerische Mimesis „nur durch Hülfe der Leidenschaften gefällt“ und „diesen ihre mächtigsten Reitze verdankt“ (ebd., S. 29); die ästhetischen Effekte der Lust können jedoch auch noch vom „uninteressanteste[n] Gegenstand, [der] gleichsam auf die Oberfläche der Seele einen leichten Eindruck von Vergnügen macht, wenn [...] wir eine vollkommene Aehnlichkeit zwischen dem Originale und dem Gemählde auffinden können“, ausgelöst werden.
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ropologischen Ort der ästhetischen Erfassungsleistungen (und mithin auf das Gehirn als dessen neurophysiologisches Korrelat) scheint der anthropologische Dualismus zwischen Sinnlichkeit und Geist, Aisthesis und Anaisthesis folglich auch eher erneuert denn von emotionstheoretischer Perspektive aus relativiert.166 Lässt sich von anthropologiegeschichtlicher Perspektive aus betrachtet somit gerade nicht von einem Zuwachs in der Differenzierung der anthropologischen Vermögen sprechen, so sollte doch zugleich die de Pouilly nachfolgende Generation namentlich die vermögenspsychologisch geschulten Theoretiker des Schönen in der deutschen Popularphilosophie die Anschlussfähigkeit von de Pouillys Theorem der dynamisch-proportionierten Vollzugslust im ästhetiktheoretischen Feld vielfältig unter Beweis stellen. In der Rezeption jener Autoren wird de Pouillys ästhetische Charakteristik der lustvollen Emotion als Charakteristik selbstbezüglicher Wahrnehmungs- und Erlebnisqualitäten zu seinem eigentlichen theoriehistorischen Erbe. Denn auf diese Einsicht de Pouillys konnte auch die vollkommenheitstheoretisch ausgerichtete Theorie der Lust im deutschen Diskurs nicht verzichten: Dass die Lustempfindung als dynamische Betätigungsform auf das genießende Subjekt zurückverweist; und dass sie gegenüber dem Erkenntnisvorgang das Absehen von zweckgebundenen Erfassungsleistungen unterscheidet.167 Der damit eingeleitete Schritt hin zu einer – am lebensweltlich situierten Subjekt ausgerichteten – Theorie der ästhetischen Erfahrung ist darin unübersehbar.
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Gemessen an den vermögenspsychologischen Differenzierungen der sinnengeleiteten Erkenntnisvermögen innerhalb der deutschen Theoriebildung (Konzept der cognitio sensitiva, des analogon rationis) erscheint de Pouillys ausschließliche Fixierung der ästhetischen Vollzugstätigkeiten an den Tätigkeiten des „esprit“ insgesamt unterdifferenziert; eine ästhetisch spezifizierte Vermögensinteraktivität wird nicht eigens ausgewiesen (der in Dreves Übersetzung verwendete Terminus der „Einbildungskraft“ im Zusammenhang der Erfassungsleistungen ästhetischer Kontraste (vgl. TaE, S. 29) hat im französischen Original keine Grundlage). 167 Neben dem Ästhetikdiskurs hat auch die Pädagogik der späten Aufklärung in Deutschland, und zwar im Kontext einer dynamischen Neufassung des Vollkommenheitsbegriffs, tragende Elemente der de Pouillyschen Einsicht zu adaptieren gewusst, wie das Beispiel P. Villaumes (der auch als Theoretiker des Vergnügens hervorgetreten ist), zeigt: „Weil der Mensch durch die genießenden Kräfte in Bewegung gesetzt wird, und durch die thätigen im Stande ist, etwas zu bewirken“, gehören die genießenden Kräfte zum Begriffsumfang von Vollkommenheit. Denn: „Bewegung aber und Thätigkeit ist Wohlseyn. Wenn auch die Empfindungen unangenehm sind, so sind sie doch besser, als gar keine.“ vgl. Peter Villaume: Ob und wie fern bei der Erziehung die Vollkommenheit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sey? in: Joachim Heinrich Campe: Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher. Dritter Theil. Hg. v. J. H. Campe, Hamburg 1785. 3. Teil, 10. Abhandlung, S. 435–616, hier S. 462.
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IV Zwischen sinnlicher Erkenntnislehre und theoretischer Ästhetik des Affekts. „Natürliche Ästhetik“, Theorie des schönen Geistes und ästhetische Pathologie in der Ästhetik als Disziplin (Baumgarten, Meier) Wenn, um eine ursprüngliche ästhetische Einsicht Sulzers aufzunehmen, das Ästhetische als eine Weise, das menschliche Gemüt anzusprechen und einzunehmen, definiert werden muss, dann bietet die Annäherung ästhetischer Theorie an die Vermögenssphäre des Affekts, des Begehrens, die entscheidenden Voraussetzungen, dieser Einsicht begründungstheoretisch Rechnung zu tragen.1 Die deutschsprachige philosophische Ästhetik der Aufklärung hat, parallel zu den zahlreichen Versuchen, die ästhetischen Kompetenzen als sinnengeleitete Erkenntnistätigkeiten der menschlichen Seele zu fixieren, diese Möglichkeit in unterschiedlichen Varianten theoretisch auszuloten versucht und im Programmbegriff einer „pathologischen Ästhetik“ am Ende des 18. Jahrhunderts schließlich zum Gegenentwurf der „transzendentalen Ästhetik“ gesteigert.2 Der darin artikulierte Affekt gegen die Affektlosigkeit transzendental begründeter Sinnlichkeit bildet in verstärkter Form jenen Impetus ästhetischer Theorie der Aufklärung ab, mit dem, so die hier vertretene These, von Anbeginn auch die pathologische Komponente der Aisthesis innerhalb der philosophisch begründeten Theorie des ästhetischen Wissens latent gegeben war: Als Theorie der ästhetischen Wahrnehmungs- und Erkenntnisleistungen ging es ihr seit Baumgartens Begründungsentwurf der Ästhetik als Disziplin (1750) weder primär noch ausschließlich darum, die Zusammenhänge bezüglich der „Erkenntnisfähigkeit der Sinne“ analytisch auszuleuchten und vermögenspsychologisch zu systematisieren.3 Im Zentrum der Begründungsinteressen der ästhetischen 1
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„Wir werden nämlich sehen, dass die Wahrheit, die man bloß begreift, niemals zum Bewegungsgrunde wird, und dass diejenige, die man empfindet, Einfluß in unsre Handlungen hat. [...] Die Wahrheit, die man empfinden will, muß die Seele gleichsam berühren, und sich ihr einverleiben.“ Johann Georg Sulzer: Psychologische Betrachtungen über den sittlichen Menschen [1769], in: ders.: Vermischte Philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. Leipzig 1773, S. 282–306, hier S. 293, S. 295. Vgl. auch ders.: Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste [1765], in: ebd., S. 122–145, hier S. 132: „Der Verstand verleihet der Seele gar keine thätige Kraft: darum müssen, wenn wir uns dieser [sittlichen, E.S.] Wahrheiten erinnern, die Einbildungskraft und das Herz Antheil daran nehmen. Nur alsdann tragen sie den Sieg davon.“ Vgl. Heinrich Zschokke: Ideen zu einer psychologischen Ästhetik. Frankfurt/O. 1793. Yvonne Ehrenspeck: Aisthesis und Aesthetik. Überlegungen zu einer problematischen Entdifferenzierung, in: Klaus Mollenhauer (Hg.): Aisthesis / Ästhetik zwischen Wahrnehmung und Bewußtsein. Weinheim 1996, S. 201–230, hier S. 214. Ehrenspeck betont im Hinblick auf die ästhetische Theorie Baumgartens und Meiers zurecht den Sachverhalt, dass „vor Kant die Leistungsfähigkeit der Aisthesis immer in Analogie zur Erkenntnismächtigkeit der Vernunft gedacht wurde“ (vgl. ebd., S. 215), reduziert das Interesse dieser Autoren an anthropologischen Begründungsformen jedoch a limine, wenn sie das ästhetische Projekt beider Autoren pauschal mit der Absicht verrechnet, „die Logik der verschiedenen Arten von sinnlicher ‚Erkenntnis‘
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Theorie der Aufklärung und der mit diesen verbundenen Fragen nach den ästhetischen Kompetenzen der menschlichen Sinnennatur stand vielmehr stets gleichberechtigt auch die Reflexion auf das affektiv-emotionale Moment der ästhetischen Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen, der das menschliche Gemüt einnehmenden und affizierenden Empfindung.4 Dass das Begriffsverständnis der systematischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts als einer affektiv-emotional relevanten Theoriebildung geeignet ist, eine wirksame Antithese zum intellektualistisch verengten Verständnis der Vermögensleistungen der menschlichen Seele zu artikulieren, ergibt sich im Licht dieser Auffassung folgerichtig und unterstreicht zum ersten einmal mehr den anthropologiegeschichtlichen Stellenwert ästhetischer Reflexion innerhalb des Denkprozesses der späten Aufklärung und zum zweiten, wie es im folgenden zu demonstrieren gilt, ihren Anspruch, in der Bezugnahme auf die affektiv und emotional geprägte Sinnlichkeit des Menschen Möglichkeiten lebensweltlich grundierten Wahrnehmens und Erlebens zu thematisieren, denen als Alternativen zum Hegemonialanspruch der affektbeherrschenden Ratio Gültigkeit zukommt. In der fundamentalen Gegensätzlichkeit, die sich hierbei zum Disziplinierungsanspruch der bloß epistemologisch abgestellten Vermögenslehre des Rationalismus (Wolff)5 bekundet, drücken sich mithin stets zugleich auch die von der Ästhetik getragenen Impulse zur möglichst umfassenden und integrativen Erschließung der menschlichen Vermögensleistungen aus: Analytische Auszeichnung und ästhetiktheoretisch-moralische Aufwertung der affektiv-emotionalen Sinnlichkeit6 sind Inbegriff des programmatischen Anspruchs
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und die Möglichkeiten ihrer Perfektionierung zu untersuchen“ (vgl. ebd., S. 214). Steffen W. Gross war in seinem Versuch einer Aktualisierung der anthropologischen Prämissen der Baumgartenschen Aesthetica diesbezüglich wesentlich weiter gegangen, indem er unter Rückgriff auf den Deutungsansatz Cassirers und das moderne Aisthesiskonzept als Wahrnehmungstheorie der Sinnlichkeit Baumgartens Ästhetik unter der interpretatorischen Leitlinie einer „aisthetischen Anthropologie“ rekonstruierte. Über die Absicht hinaus, auf philosophischem Wege die Erkenntnismöglichkeiten der Sinneserfahrung philosophisch theoriefähig zu machen, habe Baumgarten „betont, dass die Sinnlichkeit dem Menschen einen empfindenden Zugang zur Wirklichkeit verschafft, der ihm als unhintergehbares Fundament seiner Welterschließung dient.“ (Steffen W. Gross: Felix Aestheticus: die Aesthetik als Lehre vom Menschen. Zum 250. Jahrestag des Erscheinens von Alexander Gottlieb Baumgartens „Aesthetica“. Würzburg 2001, S. 169). Zu der für Baumgartens ästhetische Anthropologie leitenden Differenz zwischen „Seele“ (Geist) und „Gemüt“ vgl. unten, Abschnitt 1.1. Vgl. Wolff: DM, § 491, S. 298f.: „Derowegen weil die Affecten von den Sinnen und der Einbildungs-Kraft herrühren; so macht die Herrschaft der Sinnen, der Einbildungs-Kraft und Affecten die Sclaverey des Menschen aus. Und nennet man dannenhero auch Sclaven diejenigen, welche sich ihre Affecten regieren lassen, und bloß bey der undeutlichen Erkäntniß der Sinnen und Einbildungs-Kraft verbleiben.“ Vgl. auch ders.: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit [= Deutsche Ethik]. Nachdruck [1. Abt.: Deutsche Schriften, Bd. 4] Hildesheim u.a. 1976, § 390, S. 260: „Die gröste Sclaverey kommet von den Affecten her [...].“ So etwa der Poetiktheoretiker und Aristotelesübersetzer M. C. Curtius im Kontext seiner Katharsistheorie (1753): „Durch die Erregung der Leidenschaften werden die Triebe der Menschlichkeit gepflanzet, erwecket, und unterhalten. Wenn das Unglück eines Fremden auf
anthropologischer Ästhetik zur vollständigen Berücksichtigung sinnengeleiteter Wahrnehmungs- und Erfassungskompetenzen der menschlichen Seele. Der hier unternommene Versuch, die latente Affektaffinität der philosophischen Ästhetik Baumgartens und Meiers das ‚Pathetische‘ der affektiv-emotional konstituierten menschlichen Sinnennatur zu rekonstruieren und gegenüber dem kognitiven Begründungsanspruch der systematischen Theorie ästhetischen Denkens zu akzentuieren, zielt in Abweichung von gängigen Rekonstruktionsschemata entsprechend darauf, die anthropologischen Signaturen der ästhetischen Theorie in der Frühphase ihrer Konsolidierung als Disziplin freizulegen. Ausgegangen wird dabei von der Annahme, dass die ausgeprägte Aufmerksamkeit der ästhetischen Theorie der Aufklärung gegenüber dem pathologischen Element sinnfällig im ästhetisch-affektpathologischen Credo von der Poetizität des Affekts (Baumgarten)7 Ausdruck eines intensivierten Interesses nicht an der menschlichen Sinnennatur als solcher ist, sondern an den spezifischen Weisen, wie Sinnlichkeit im Moment des Begehrens, der Gemütsbewegung konstituiert wird und sich als Wahrnehmungserfahrung des Subjekts niederschlägt. Die Aufmerksamkeit auf die solchermaßen anthropologische Ästhetik ist mithin Aufmerksamkeit auf die Affektivität als Bindeglied zwischen psychischen Leistungen und körperlicher Determination, seelischer Aktivität und leidenschaftsgebundenem Erleben. Das grenzt das im nachfolgenden artikulierte Interesse am Verständnis der affektiv-emotionalen Natur im Element seiner ästhetischen Wirkungsentfaltungen – am spezifisch ästhetischen Leidenschaftsbegriff8 – doppelt ab gegenüber den Verwendungsweisen, wie sie den kontemporären Wissenschaftsdiskurs der „Pathologie“ prägen:9 medizinisch-naturwissenschaftlich (anthropologisch) einerseits als „Wissenschaft von Krankheiten“, von Leiden, und das heißt vornehmlich in
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der Bühne uns lebhaft rühret, so wird das Mitleiden und Erbarmen zu einer Fertigkeit der Seelen, und der Menschenfreund in den Logen und dem Parterre, bey dem die auf der Bühne vorgestellten Begebenheiten das Gefühl der Menschlichkeit rege gemacht haben, wird auch in den Handlungen seines Lebens sich als ein Menschenfreund erweisen.“ Michael Conrad Curtius: Abhandlung von dem Wesen und dem wahren Begriffe der Dichtkunst. Abhandlung von der Wahrscheinlichkeit, in: Aristoteles Dichtkunst, ins Deutsche übersetzet, mit Anmerkungen, und besondern Abhandlungen, versehen, von M. C. C. Hannover 1753, S. 390. „Da Affekte merklichere Stufen der Unlust und der Lust sind, so werden ihre Empfindungen demjenigen, der sich etwas vorstellt, als in verworrener Weise Gutes und Schlechtes gegeben. Sie bestimmen also die poetischen Vorstellungen. Daher ist es poetisch, Affekte zu erregen [affectus movere est poeticum]“, Alexander Gottlieb Baumgarten: Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts. Herausgegeben von Heinz Paetzold. Hamburg 1983 [Sigle: PBBG], § 25, S. 25. Zum Begriffsverständnis im 18. Jahrhundert vgl. Dieter Kliche: Ästhetische Pathologie. Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte der Ästhetik, in: Archiv für Begriffsgeschichte 42 (2000), S. 197–229. Zum Überblick über das Bedeutungsspektrum des Begriffs vgl. neuerdings: Rainer Dachselt: Pathos. Tradition und Aktualität einer vergessenen Kategorie der Poetik. Heidelberg 2003, S. 3ff.
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Hinsicht auf den Körper10 , und moralphilosophisch (sittlich-pragmatisch) andererseits als „Wissenschaft unserer Pflichten“, und das heißt unter dem Blickwinkel der praktischen Vernunft.11 Wie einleitend skizziert, ist, mit Baumgartens Entwurf einer philosophisch begründeten Disziplin Ästhetik einsetzend, die Entwicklungsgeschichte des disziplinären ästhetischen Denkens zumal im deutschen Sprachraum von der Ästhetikhistoriographie und Psychologiegeschichte bislang stets überwiegend als Entfaltungsprozess der Aisthesis im Element ihrer „Logisierung“ rekonstruiert worden.12 Von diesem Rekonstruktionsschema, wonach die theoriegeschichtliche Entwicklung des ästhetischen Denkens im 18. Jahrhundert in Kants ‚Lösung‘ des Geschmacksproblems und der transzendentalphilosophischen Kritik der rationalistischen Konzeption der Sinnlichkeit gipfelt, wird nachfolgend abgewichen. Unter eingehender Analyse begründungstheoretischer Hauptsegmente der anthropologischen Ästhetik Baumgartens: 1) der ästhetischen Theorie der anthropologischen Vermögen („Aesthetica naturalis“) sowie 2) der affektästhetischen Theorie der „lebendigen Erkenntnis“ geht es darum, die ‚nichtkantische Aufklärungsästhetik‘ als Ästhetik der affektaffinen (emotionalen) Vermögensnatur zu rekonstruieren und ihre anthropologiegeschichtlich relevanten Implikationen herauszuarbeiten. Das zweischrittige Rekonstruktionsverfahren hat erstens zum Ziel, die begründungsgeschichtlichen Voraussetzungen philosophischer Ästhetik bei Baumgarten nicht als innerästhetisches Problem (der ästhetischen Erkenntnis- und Auffassungsweisen, der
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Vgl. Ernst Anton Nicolai: Pathologie oder Wissenschaft von Krankheiten. Erster Band, Halle 1769, Vorbericht, §§ 1–17, hier § 4, S. 4., vgl. ebd., § 5: „Krankheiten sind Leidenschaften, denn ein Kranker ist ein leidender.“ Die Identifikation von Krankheitslehre und Leidenschaftstheorie im Begriff der Pathologie geht auf die antike Pathologia-Tradition zurück und ergibt sich im medizinisch-anthropologischen Pathologiediskurs aus der Zentralstellung der Körperfunktionen (Physiologie) für die Erklärung pathologischer Prozesse. Die Ausrichtung an den Funktionsprozessen des Leibes (Krankheitsätiologie als Organuntersuchung) gilt bis auf wenige Ausnahmen für die gesamte Tradition der medizinischen Pathologie als Krankheitslehre (Stahl, Hoffmann, Unzer, Juncker, Krüger, Platner etc.) einschließlich der pragmatisch ausgerichteten Medizinalpathologie (vgl. etwa Wilhelm Gesenius: Medicinisch-moralische Pathematologie oder Versuch über die Leidenschaften und ihren Einfluß auf die Geschäfte des körperlichen Lebens. Erfurt 1786). Vgl. Georg Friedrich Meier: Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt. Halle 1744 [Sigle: LGÜ], § 5, S. 5–6, hier S. 6. Die „Practische“ Lehre von den Gemüthsbewegungen, so Meier, „betrachtet die sittliche Seite der Gemüthsbewegungen“; sie „untersucht die Sittlichkeit der Leidenschaften“ zu dem Zweck, „die Leidenschaften der Vernunft (zu unterwerfen) [und sie dem] rechtmäßigen Gebrauch derselben“ zu „unterwerfen.“ Zum Überblick für den Gesamtzusammenhang, den A. Baeumler in entscheidender Weise vorzeichnete (vgl. Baeumler: Irrationalitätsproblem, S. 6f., S. 12f., passim), vgl. Joachim Ritter: Art. „Ästhetik“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, 1971, S. 555ff. Zu den neueren Rekonstruktionsansätzen des Baumgartenschen Ästhetik-Projekts unter dem Gesichtspunkt seiner genetischen Entfaltung zwischen den frühen Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735) und dem zweibändigen Spätwerk der Aesthetica (I: 1750; II: 1758) siehe Salvatore Tedesco: L’estetica di Baumgarten. Palermo 2000.
ästhetischen Darstellung etc.) zu verfolgen, sondern in Beziehung zu dem in der Aesthetica formulierten anthropologischen Anspruch zu setzen, wonach die ästhetische Theorie der menschlichen Sinnlichkeit die Gesamtheit der anthropologischen Voraussetzungen des schönen Denkens berücksichtigt. Zum zweiten geht es um den Nachweis der Eigenart des Begründungszugangs der deutschsprachigen Theorie des Ästhetischen, die, anders als innerhalb der französischsprachigen Theorie des ästhetischen sentiment, sich über die Imprägnierung durch die rationalistische Vorstellungstheorie entfaltet und unter diesen Voraussetzungen zu eigenständigen, im historischen Debattenkontext jeweils zu rekonstruierenden, Bewertungen der affektiv-emotionalen Sinnlichkeit in ästhetischer Hinsicht gelangt.
1. Anthropologische Ästhetik. Das Modell Baumgartens Ungeachtet des vorstehend als genuin anthropologisches Konstitutionsmoment der ästhetischen Theorie Artikulierten scheint der These von der Kontinuität eines emotionalistischen Paradigmas in der philosophischen Ästhetik der deutschen Spätaufklärung im Hinblick auf Baumgarten prima vista eine Reihe kontradiktorisch anmutender Befunde gegenüber zu stehen, die zunächst zu rekapitulieren sind. Findet für den Begründer der Ästhetik als philosophischer Disziplin die Theorie des ästhetischen Wissens ihren systematischen Zusammenhalt in den an die Sinnlichkeit zurückgebundenen kognitiven Erfassungsleistungen der menschlichen Seele, hat sie ihren generellen systematischen Ort als „Scientia sensitiue cognoscendi & proponendi[:] Aesthetica“13 in der Theorie des Erkennens, und ihre spezifizierte Systemstelle als „Aesthetica critica“14 im Geschmacksbegriff als Kategorie des unteren Erkenntnisvermögens, der sinnengeleiteten Erkenntnis. Die Qualifizierung der sinnlichen Erfahrung als ästhetischer vollzieht sich am Beginn ästhetischer Theorie als philosophischer Disziplin mithin unpsychologisch: über die Qualifizierung kognitiver Wahrnehmungs- bzw. Erfassungsleistungen der menschlichen Seele (Theorie der sinnengeleiteten Erkenntnis, der cognitio sensitiva) und über ihre Verknüpfung mit dem metaphysischen Schönheitsbegriff (Einheit des Zusammenstimmens heterogener Merkmale).15 13 14
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Baumgarten: MPa, § 533, S. 187. Für „Aesthetica“ setzt Baumgarten selbst die Eindeutschung „die Wissenschaft des Schönen“ (ebd., Anm. 1). Vgl. ebd., § 607, S. 220. Grundlage der Definition der Ästhetik als ‚ästhetischer Kritik‘ Meier ist einer der ersten, der diese Bestimmung als verbindliche Erklärung der neuen Wissenschaft deklarieren wird (vgl. Meier: LGÜ, § 6, S. 6f.) ist Baumgartens ästhetiktheoretisch bedeutsame Transformation des „iudicium“-Begriffs zum Vermögen des „Geschmack[s] in weiterer Bedeutung“: „Iudicium sensitiuum est gustus significatu latiori (sapor, palatum, nasus).“ vgl. ebd., S. 220f. (Anm.). Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der „Aesthetica“ (1750/58). Übersetzt und herausgegeben von Hans Rudolf Schweizer [11983]. Hamburg ²1988. [Sigle: TÄ], §§ 14ff., S. 11ff.
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Bietet Baumgartens Ästhetik, so ist im folgenden unter Verschränkung ästhetiktheoretischer und anthropologischer Gesichtspunkte zu fragen, über diese eindeutigen Platzierungen ästhetischer Episteme auf der Vermögensebene des Erkennens hinaus, systematische Anhaltspunkte dafür, dass der anthropologische Komplexitätsanspruch der Aesthetica16 sich auch in der Berücksichtigung der nonkognitiven Vermögen Emotion, Affekt, Gemütsbewegungen17 einlöst, um den ästhetischen Erkenntnisprozess als eine integrative und damit ineins: als spezifisch ästhetische Erfahrungsform zu qualifizieren,18 in der auch die emotional affinen, lust- und affektrelevanten Aspekte der ästhetischen Aisthesis mit erfasst sind? Geht, mit anderen Worten, Baumgartens Ästhetik tatsächlich eindeutig in einer Theorie des auf Vollkommenheit gerichteten sensitiven (schulphilosophisch: undeutlichen bzw. verworrenen) Erkennens, einer ästhetischen Sinnenerkenntnis auf, oder kann gezeigt werden, dass sich in ihr die Impulse der emotionalistischen Theorien des Ästhetischen zu einer Theorie der Affektivität (als Theorie der ästhetischen Wirkung, ästhetische Theorie der Rührung) verbinden, wodurch sowohl das anthropologische Geltungsmoment der Aisthesis als auch der Stellenwert der subjektivästhetischen Erfahrung eine Aufwertung gegenüber der kognitiven Ausrichtung ästhetischen Wahrnehmens und Erkennens erfahren?19 16
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Baumgarten hat den anthropologischen Erfassungsanspruch seiner Aesthetica in den Abschnitten der „natürlichen Ästhetik“ niedergelegt. Dabei werden Erkenntnis- und Begehrungsvermögen (Intellekt und Gemüt) ausführlich thematisiert und bezüglich ihrer Kopplungseffekte ins Verhältnis gesetzt, freilich mit der klaren quantitativen Prädominanz der Paragraphen zu den kognitiven Fakultäten gegenüber den appetitiven Vermögen (vgl. hier auch weiter unten, unter 1.2). „Gemüthsbewegungen, Beunruhigungen, Leidenschaften“ lauten Baumgartens Eindeutschungen des Begriffs „affectus“ (vgl. Baumgarten: MPa, § 678, S. 259 (Anmerkung 1). Baumgartens Übersetzungsvarianten der lateinischen Termini, seit der 4. Auflage der lateinischen Metaphysik (1757) im Anmerkungstext wiedergegeben, werden, wo für die Erörterung hilfreich, im Folgenden jeweils in eckigen Klammern wiedergegeben. Zur Rekonstrution des Aesthetica-Projekts mit spezifischem Blick auf die Relationen zwischen „perfektionierte[r] Sinneserkenntnis“ und „Schönheitserfahrung“ sui generis vgl. Arbogast Schmitt: Die Entgrenzung der Künste durch ihre Ästhetisierung bei Baumgarten, in: Gert Mattenklott (Hg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich. (=Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft) Hamburg 2004, S. 55–71, hier S. 55. Die Stoßrichtung dieser Fragestellung, die im Kern anthropologiegeschichtlicher Natur ist, greift Verständnisbemühungen auf, die bislang nicht explizit zum Gegenstand der einschlägigen Baumgartenforschung gehörten, und, wo sie artikuliert wurden, ohne systematische Auswertung der entsprechenden werkgeschichtlichen Begründungszusammenhänge erfolgten (vgl. Ernst Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch A. G. Baumgarten und G. Fr. Meier. Leipzig 1911, S. 166–172). Gleichwohl hat bereits Bergmann gesehen, wie zentral die Fragestellung systematische Aspekte der vermögenstheoretischen Zuordnung ästhetischer Leistungen betrifft, wenn er mit Bezug auf den hier einschlägigen, von Baumgarten wie von Meier verwendeten Begriff der vita cognitionis (vgl. hier auch weiter unten, bes. Abschnitt 1.2) die Spekulation über ein mögliches ‚drittes‘ ästhetisches Vermögen knüpft und auf die „Andeutung einer Ästhetik auf Grund der unteren Begehrungskraft, genauer der Lust- und Unlusttheorie“, verweist (vgl. ebd., S. 167) mit dem im Ergebnis freilich unbefriedigenden Befund, diesbezüglich dokumentiere sich Baumgartens „Schwanken“ (ebd., S. 167). Von Seiten der
1.1 Aesthetica naturalis oder empirische Psychologie als Paradigma der Ästhetik Es ist eine doppelte Grenzüberschreitung – hin zu den etablierten Disziplinen der Logik und der Psychologie – aus der Baumgarten die inhaltlichen Konturen der Disziplin Ästhetik als scientia cognitionis sensitivae gewinnt. Während der LogikBezug der neuen Wissenschaft Ästhetik den Grundcharakter einer Meliorationswissenschaft im Horizont der Vollkommenheitsidee vorzeichnet und sie als Erkenntniswissenschaft definiert,20 dient die systematische Adaption der Psychologie dazu, der Ästhetik die schulphilosophisch etablierte Organisationsmatrix der psychischen Vermögen, der Sinnlichkeit und ihrer Gesetze zur Verfügung zu stellen; darüber hinaus sichert sie der neuen ästhetischen Wissenschaft ihr disziplinäres Existenzrecht als philosophische Instrumentalwissenschaft der Metaphysik: die Psychologie, so Baumgarten, gibt die „feste[n] Prinzipien“.21 Dieser Grundkonstruktion liegt die folgenreiche Einsicht in den Bedingungszusammenhang der ästhetisch relevanten Erkenntnis (cognitio sensitiva) und der anthropologisch-psychischen Primärausstattung, kognitiven wie appetitiven Anlagepotentialen, zugrunde. Denn, so der Philosoph, „die Schönheit der Erkenntnis als Leistung des schön Denkenden [ist] weder größer noch von edlerer Art [...] als dessen lebendige Kräfte selbst“.22 Das historisch Neue des hier vollzogenen Begründungsschritts gegenüber der zeitgenössischen philosophischen Poetik liegt in dem Sachverhalt, dass die Leistungsfähigkeit des Sinnlichen erstmals konsequent als eine vom Intellekt – auf der Ebene der unteren Erkenntniskräfte der Seele – unterschiedene zur Bestimmung gelangt und eine systematische Auswertung erfährt.23 Zwar fungiert bereits in der ästhetischen Geschmackstheorie der Frühauf-
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rhetorikgeschichtlichen Forschung hingegen sind die affekttheoretischen Potentiale von Baumgartens Ästhetik stets schon durch das rhetorikgeleitete Suchfeld wirkungsästhetischer Strategien in den Blickwinkel gerückt, mit allerdings stark differierenden Untersuchungsbefunden. Während Linns nach wie vor viel zitierter Artikel sich im Wesentlichen auf den Nachweis des rhetorischen Dispositionsschemas der Aesthetica beschränkt (vgl. Marie-Luise Linn: A. G. Baumgartens „Aesthetica“ und die antike Rhetorik, in: DVjs 41 (1967), S. 424–443), hat Finsen wenngleich ohne detailliertere Auswertung von Baumgartens ästhetiktheoretischem Pathologiekonzept in Baumgartens Ästhetik die Präsenz wirkungsästhetischer Elemente in der Aesthetica auf den anthropologischen Konstitutionscharakter der ästhetischen Theorie zurückbezogen (vgl. Hans Carl Finsen: Evidenz und Wirkung im ästhetischen Werk Baumgartens. Texttheorie zwischen Philosophie und Rhetorik, in: DVjs 70 (1996), H.2, S. 198–212). Analog zur Disziplin der Logik teilt Baumgarten die ästhetische Wissenschaft in natürliche Ästhetik („aesthetica naturalis“) und ästhetische Kunstlehre („artis aestheticae“) ein, welche die erstere ergänzt und durch Übungen („exercitatio aesthetica“) zur Vervollkommnung führt (Baumgarten: TÄ, § 2f., S. 3; §§ 47–61, S. 29–39). Baumgarten: PBBG, § 115, S. 85; vgl. Baumgarten: TÄ, § 10, S. 7. Ähnlich wie in seinen späteren, 1741 herausgegebenen philosophischen Briefen (vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Texte zur Grundlegung der Ästhetik. Herausgegeben von Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1983 [Sigle: TGÄ], S. 68–70) entwirft Baumgarten bereits hier (1735) das Grundgerüst der ästhetischen Wissenschaft im doppelten Rückgriff auf Logik und Psychologie. Baumgarten: TÄ, § 27, S. 17. Auch Gottsched etwa, der sich seinerseits auf Boileau und Opitz berufen kann, identifiziert im „gute[n] Naturell oder [...] fähigen Kopf“ anthropologische Dispositionen für die ästhetisch
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klärung die anthropologische Prämisse, dass die „Poesie ihren Grund im Menschen selbst“ und „ihren ersten Quell in den Gemüts-Neigungen des Menschen“ hat,24 als theoretisches Grundgerüst der Nachahmungs- und Dichtungstheorie. Aber es ist das Verdienst der Baumgartenschen Aesthetica, hier erstmals die sinnliche „Natur des Menschen“25 als ästhetiktheoretisches Apriori definiert und, über die zeitgenössische Poetik hinausgehend, in die Form einer disziplinfähigen philosophischen Systematik überführt zu haben.26 Psychologie als Dispositionsmodell der Ästhetik, als anthropologische Taxonomie sämtlicher ästhetisch relevanter Wahrnehmungsund Erfassungsleistungen der Seele – unter der Leitfrage nach den prototypischen Strukturen des Modells einer anthropologischen Ästhetik bleibt im folgenden nachzuvollziehen, welche anthropologischen und ästhetischen Implikationen sich mit dieser erfahrungsseelenkundlichen Wende der ästhetischen Wissenschaft im einzelnen verbinden. Was Baumgarten innerhalb des zweiten Abschnitts seiner theoretischen Ästhetik unter dem Titel „Aesthetica naturalis“27 im einzelnen formuliert, ist dem wesentlichen Inhalt nach in der Tat zunächst nichts anderes als empirische Psychologie, modelliert im Hinblick auf das Leitmodell des felix aestheticus, des ‚erfolgreichen Ästhetikers‘.28 Analog zum Dispositionsschema der unteren und oberen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen, das seit Wolffs Metaphysik für die wissenschaftli-
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wertvolle Nachahmung; ausgenommen das „ehrliche tugendliebende Gemüt“, stehen freilich alle psychischen Einzelvermögen unter der Ägide des Intellekts: sie sind, wie im besonderen auch der Geschmack, wesentlich „Eigenschaften des Verstandes“ (vgl. Johann Christoph Gottsched: Schriften zur Literatur. Herausgegeben von Horst Steinmetz. Stuttgart 1972, S. 43, S. 51). Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730), in: ders.: Schriften zur Literatur. Hg. von Horst Steinmetz. Stuttgart 1972, S. 12–196, hier S. 12. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung [11932]. Hamburg 1998, S. 398. Allein die Berücksichtigung und Anerkennung dieses Sachverhalts, der im Kern eine Autonomisierung der ästhetisch relevanten Sinnlichkeit gegenüber den Tätigkeiten von Intellekt und Ratio beinhaltet, hätte die Vertreter der spekulativen Ästhetik davon abhalten können, Baumgartens Ansatz ohne allzugroße analytische Sorgfalt des Formalismus und Intellektualismus zu zeihen. Auch für K. W. F. Solger etwa blieb Baumgartens Ansatz daher (z.T. nicht zuletzt aus polemischen Gründen) „Stifter der intellectualistischen Ansicht“, vgl. Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Vorlesungen über Ästhetik. Hg. von Karl Wilhelm Ludwig Heyse. Leipzig 1829. Repr. Nachdr. Darmstadt 1980, S. 20 (zur Rekonstruktion der Solgerschen Einwände gegen Baumgartens Ästhetikbegriff und die damit verbundenen Mißverständnisse vgl. Friedhelm Decher: Die Ästhetik K. W. F. Solgers. Heidelberg 1994, S. 57–70). Baumgarten: TÄ, §§ 28–46, S. 17–29, 1.Teil: „Theoretische Ästhetik“, 1. Kapitel: „Heuristik“, 2. Abschnitt: „Die natürliche Ästhetik (Aesthetica naturalis)“. Baumgarten hat das hier Vorgetragene bereits 1741 – im Aufriss zu einer der ‚Logischen Empirik‘ entgegengesetzten ‚ästhetischen Empirik‘ – entworfen und in diesem Zusammenhang explizit auch die zeitgenössische empirische Psychologie als die fundierende Bezugsdisziplin dieser ästhetischen Erfahrungswissenschaft gekennzeichnet (vgl. Baumgarten: TGÄ, S. 70). Zu der (unter anderem bereits in Dominique Bouhours’ Theorie des bel esprit vorgebildeten) Figur des felix aestheticus vgl. Karlheinz Barck, Jörg Heininger, Dieter Kliche: „Ästhetik / ästhetisch“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd.1, Stuttgart, Weimar 2000, S. 308–400, hier S. 325–327.
che Psychologie Verbindlichkeit beanspruchen konnte,29 inventarisiert Baumgarten in den achtzehn Paragraphen dieses Abschnitts die anthropologischen Grundvoraussetzungen für die optimale Entfaltung des pulchre cogitare (schönen Denkens), und zwar, wenngleich in erheblich restringiertem Umfang, in nahezu identischer Entsprechung zum Psychologie-Kapitel seiner philosophischen Metaphysik.30 Die systematisch orientierte Rekapitulation dessen, was Baumgarten in diesem psychologischen Dispositionsschema der ästhetisch relevanten Vermögen im Einzelnen aufnimmt, gibt wertvolle Aufschlüsse über die grundlegenden Prioritätensetzungen für die neue Disziplin. Die Ausführungen zur anthropologischen Basisausstattung des Ästhetikers untergliedern sich in einen ersten größeren Abschnitt zu den kognitiv relevanten Geistesanlagen – ingenium venustum et elegans connatum31 – und in eine erheblich kürzeren Sektion zu den affektiv-emotionalen Gemütskompetenzen – temperamentum aestheticum connatum.32 Die in der Metaphysik ausgeschriebenen Paragraphen zu den verschiedenen Vorstellungsarten
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Zu Wolffs doppelter Grundunterscheidung in ‚untere‘ und ‚obere‘ Seelenfakultäten (obere und untere Erkenntnisvermögen, obere und untere Begehrungsvermögen) vgl. Christian Wolff: Der vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Anderer Theil, bestehend in ausführlichen Anmerckungen. Mit einer Einleitung und einem kritischen Apparat von Charles A. Corr. [1. Abt.: Deutsche Schriften, Bd. 3] Hildesheim u.a. 1983, § 129, S. 210; § 141, S. 227f. Baumgarten rekrutiert die für die natürliche Ästhetik relevanten Vermögen aus dem dritten Teil seiner Metaphysik, d.i. der „Psychologia empirica“, der die Paragraphen 519 bis 732 (als Gesamtbereich der Erkenntnis- und Begehrungsvermögen) umfasst (vgl. Baumgarten: MPa, S. 179–289). Dieses dem anthropologischen Vollständigkeitsanspruch der philosophischen Ästhetik verpflichtete Schema, hinsichtlich der systematischen Berücksichtung der menschlichen Vermögensbereiche ein Novum in der ästhetischen Theorie, ist gleichwohl nicht ohne Vorbilder im frühaufklärerischen Philosophiediskurs. Bereits 1723 hatte der Jenaer Professor für Philosophie und Theologie sowie spätere Herausgeber des Philosophischen Lexicons (1726), Johann Georg Walch (1693–1775), das Propädeutikum zu einer „ächten Philosophie“ entworfen, wonach aus der „Beschaffenheit der natürlichen Fähigkeiten, welche uns die Natur mitgetheilet“ aus dem philosophischen Naturell die systematischen Grundlagen zur Erlangung der wahren wissenschaftlichen „Klugheit“ systematisch abgeleitet werden sollten (vgl. Johann Georg Walch: Gedancken vom Philosophischen Naturell. Als eine Einleitung Zu seinen Philosophischen Collegiis aufgesetzet. Jena 1723, §§ 1–2, S. 1–3). Es mutet wie eine Vorwegnahme der Theorie des Begehrens bei Meier (siehe im Folgenden, Kapitel 2) an, wenn Walch dabei den Vermögensbereich des Willens zur Instanz der erkenntnisbegleitenden Selbstbezüglichkeit im Element der Lust erklärt: Denn das zur philosophischen Erkenntnis nötige „Naturell“, so der leitende Grundgedanke der Abhandlung, erstrecke sich „nicht nur auf den Verstand, sondern auch auf den Willen“; der „Philosophus“ aber „hat mit Wahrheiten zu thun, dass er selbige nicht nur erkenne, sondern auch an den erkannten Wahrheiten zur Ehre Gottes und Beförderung der menschlichen Glückseligkeit ein Vergnügen habe“ (ebd., § 15, S. 32). Im Rahmen seiner Charakteristik des „schönen Geistes“ in der Ästhetik verwendet Meier den Terminus des „aesthetische[n] Naturel[s]“ wieder allgemeiner: zur Kennzeichnung der „Gaben der Natur“ bzw. der „glückliche[n] und erwünschte[n] Geburt“ als Grundvoraussetzung zum schönen Denken (vgl. Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Theil I, Halle 1748 [Sigle: AsW I], §§ 223–224, S. 525–529, hier S. 526f.). Baumgarten: TÄ, §§ 29–43. Ebd., §§ 44–46.
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auslassend,33 erörtert Baumgarten zunächst sämtliche Fakultäten des so genannten ‚unteren‘ Erkenntnisvermögens – facultates cognoscitivae inferiores34 –, in der Folge Verstand und Vernunft als ‚obere‘ Vermögen – facultates cognoscitivae superiores –, abschließend folgen die Paragraphen zum ‚angeborenen ästhetischen Temperament‘ als dem Platzhalter der psychologischen Theorie des Begehrungsvermögens.35 Vergegenwärtigt man sich Baumgartens selektiven ‚ästhetischen‘ Zugriff auf die Seelenvermögen in seinen grundlegenden Zügen, erscheinen zwei Gesichtspunkte besonders markant. Erstens der Gesichtspunkt der Reduktion im Verhältnis zwischen den von der Aesthetica berücksichtigten Seelenvermögen und dem vollständigen Vermögensinventar der empirischen Psychologie. Denn so umfangreich Baumgartens Adaption der unteren Erkenntnisfakultäten der Seele auch ausfällt, so auffällig ist es, dass zentrale Vermögen offenkundig unberücksichtigt bleiben. Und zwar betrifft dies im einzelnen die (für den Wolffianer Baumgarten zum Erkenntnisvermögen gehörenden) Zustände der Gleichgültigkeit, des Gefallens und Missfallens – indifferentia36 –, die Zustände der Lust und Unlust bzw. des Vergnügens und Missvergnügens – voluptas et taedium37 –, schließlich auch die Gemütszustände des (zum Begehrungsvermögen zählenden) Begehrens und Verabscheuens – appetitiones et aversationes – einschließlich des Affekts – affectus.38 Der zweite Gesichtspunkt betrifft die klare Prädominanz der berücksichtigten kognitiven gegenüber den affektiven Seelenfakultäten innerhalb der Aesthetica – die ästhetische Vermögenstheorie des Affekts macht bezeichnenderweise lediglich ein Fünftel des Gesamtumfangs der Paragraphen der Aesthetica naturalis aus.39 Das ästhetische 33 34
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Vgl. Baumgarten: MPa, §§ 519–533, S. 179–187. Dieser Abschnitt bildet den Anfang der Theorie der facultas cognoscitiva inferior der Erfahrungspsychologie. Baumgarten: TÄ, §§ 30–37. Im Einzelnen behandelt Baumgarten folgende natürliche Vermögen bzw. Anlagen nacheinander: Empfindung; Phantasie; durchdringende Einsicht; Gedächtnis; dichterische Anlage; guter Geschmack, Voraussicht und Vorausahnung; Bezeichnungsvermögen (vgl. Baumgarten: TÄ, §§ 30–37, S. 19–23). Ebd. §§ 38–46. Ebd., §§ 651–654. Ebd., §§ 655–662. Ebd., §§ 663–675, §§ 678–688. Die Paragraphen zu den Affekten im engeren Sinne (Gemütsbewegungen, Beunruhigungen, Leidenschaften) sind von Baumgarten dem Begriff der scientia pathologia zugeordnet (vgl. Baumgarten: MPa, §§ 651f., S. 241f.). Baumgarten unterscheidet explizit zwischen den ästhetischen Potentialen des Geistes – „ingenium venustum et elegans connatum“ – „der angeborene schöne und feine Geist“ (Ebd., § 28, S. 17) – und denjenigen des Gemüts – „indoles“ (ebd., § 44, S. 27) –, die er mit dem ästhetisch affinen „temperamentum“ (ebd., § 59, S. 36) in Zusammenhang bringt. Die Differenzierung zwischen „Geist“ und „Gemüt“ als kognitiv und affektiv bestimmten Ordnungsbegriffen der Seelenvermögen ist eine in der zeitgenössischen Psychologie und Anthropologie verbreitete Unterscheidung, die häufig auch im Begriffspaar „Kopf“ und „Herz“ gefasst wird (vgl. etwa Johann August Eberhard: Versuch einer allgemeinen deutschen Synonymik in einem kritischphilosophischen Wörterbuche der hochdeutschen Mundart. Teil 3, Halle und Leipzig 1798, S. 219 (das synoptische Lemma „Geist. Seele. Gemüth. Herz“). Korrespondenzen hat Baumgartens Konzeption dieser anthropologisch-ästhetischen Leitunterscheidung in Gottscheds Cha-
Temperament ausgenommen, läuft Baumgartens ästhetiktheoretische Engführung der komplexen Erfahrungspsychologie somit gleichsam auf eine Eliminierung des Gesamtbereichs der affektiv-emotionalen Vermögenssphäre (Gefallen bzw. Missfallen, Lust bzw. Unlust, Begehren bzw. Abscheu u.a.) hinaus.40 Vor dem Hintergrund des Sachverhalts, dass Baumgartens ästhetische Anthropologie die Wende zum sensitiven (aisthetischen) Subjekt vollzieht, insofern das rationalistische Erkenntnisideal ausdrücklich von einem dezidiert lebensweltlichen Standpunkt aus kritisiert wird, stellt das in der Tat einen bemerkenswerten Befund dar, dem entschiedener nachzugehen es sich lohnt.41 In welchem Verhältnis zueinander, so ist erstens zu ermitteln, stehen anthropologischer Begründungskontext und ästhetiktheoretische Begründungsinteressen in Baumgartens Argumentation in der Aesthetica? Inwiefern verweist zweitens der Sachverhalt, dass Baumgartens ästhetischer Anthropologie eine Reduktion der komplexen Vermögensstruktur des Psychischen zugrunde liegt, auf den Versuch, den Phänomenbereich des Ästhetischen kognitiv verfügbar zu halten, und inwiefern arbeitet demzufolge auch die anthropologische Kritik der rationalistischen Entwertung des Sinnlichen in der Sache dem Versuch einer „Kolonisierung“ des Sinnlichen „durch die Vernunft“ zu?42 Die Beantwortung dieser Fragen soll am Leitfaden von drei generalisierenden Merkmalsbestimmungen der Baumgartenschen Aesthetica naturalis erfolgen: 1. ästhetischer Anthropologismus, 2. ästhetischer Egalitarismus und 3. ästhetischer Kognitivismus. 1.1.1 Ästhetischer Anthropologismus Baumgartens Theorie der ästhetischen Disposition in der ‚natürlichen Ästhetik‘ ist revolutionär und ambivalent. Revolutionär, insofern der mit der Aesthetica naturalis manifestierte Anticartesianismus – präziser, die „aisthetische Intervention gegen
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rakteristik der Gemütsvermögen im Kapitel zum „Charaktere eines Poeten“: Das „gute Naturell oder de[r] fähige Kopf eines Dichters“ muss durch ein „ehrliches tugendliebendes Gemüte“ ergänzt werden (vgl. Gottsched: Schriften zur Literatur, S. 43, S. 51). Auf die Gemütsfähigkeit des Begehrens entfallen bei Baumgarten lediglich drei Paragraphen (Baumgarten: MPa, §§ 44–47, S. 27–29). Ihr Thema sind die emotiven Fähigkeiten des „angeborenen ästhetischen Temperaments“ (ebd., § 44, S. 27). Den möglichen Anwürfen aus dem Lager der cartesianischen Tradition gegen die neue Wissenschaft der Ästhetik, diese setze die affektiv-emotionale Sinnlichkeit in direkten Bezug zu den Experten für das Nichtsinnliche und Begriffliche, den Philosophen, begegnet Baumgarten entschieden mit dem lebensweltlichen Argument, dass der Philosoph „ein Mensch unter andern Menschen“ ist und dass es „nicht gut [ist], wenn er glaubt, ein so bedeutender Teil der menschlichen Erkenntnis“ – Baumgarten führt hier im Einzelnen „sinnliche Empfindungen, Einbildungen, Erdichtungen, alle die Wirrnisse der Gefühle und Leidenschaften“ an – „vertrage sich nicht mit seiner Würde.“ (vgl. Baumgarten: TÄ, § 6, S. 5). Terry Eagleton: Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie. Stuttgart 1994, S. 15.
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den rationalistischen Erkenntnisbegriff“43 – erstmals eine anthropologisch motivierte und weit ausholende Kritik respektive Überbietung des intellektualistisch verengten Erkenntnismodells leistet – in den theoretischen Begründungsformen der rationalistischen Systematik selbst (Ästhetik als ars analogi rationis) und mit szientifischer Begründungskonsequenz (Ästhetik als philosophia instrumentalis). Sie ist ambivalent, insofern die Aufwertung der sinnlichen Wahrnehmungs- und Vollzugsleistungen des ästhetischen Subjekts keine Autonomisierung des Sinnlichen überhaupt darstellt, sondern in den Zusammenhang der Begründung eines sinnlich fundierten Erkenntnisideals gehört und aus der Perspektive dieser eindeutig „rationalistischen Funktionalisierung“ ihre Konturen erhält.44 Baumgarten erreicht die anthropologische und ästhetische Rehabilitation der Sinnlichkeit, indem er die Konstitution des Schönen der Erkenntnis an die angeborene Primärausstattung zurückbindet: ästhetisches Erkennen setzt eine natürliche Veranlagung voraus, den „angeborenen schönen und feinen Geist“.45 An dieser sinnlich bestimmten Vermögensbasis hat alle Ausbildung ästhetischer Kompetenzen anzusetzen; in den „lebendigen Kräften“46 des felix aestheticus selbst, und das heißt im weitesten Sinn: in dessen Sinnennatur, liegen die Voraussetzungen für das Gelingen ästhetischer Erkenntnis. Mit dieser Deklaration der anthropologischen Primärausstattung als Grundvoraussetzung schöner Erkenntnis ist jedoch alles andere als eine naturalisierende Perspektive verbunden. Denn die anthropologische Disposition des felix aestheticus, die Grundausstattung der Vermögen, die Baumgarten hier meint – „Physis, Natur, gute Anlage, urtypische Prägungen der Geburt“47 – bezieht sich nicht auf beliebige naturale Ausstattungsmerkmale (im Sinn einer biologischen determinatio), sondern auf die anthropologische Disposition des „schön denkenden Menschen“:48 Die ästhetische Geeignetheit der Primärsinnlichkeit bestimmt sich demzufolge im wesentlichen nach Maßgabe ihrer Kultivierbarkeit als eines sensitiven Vermögens der „schönen Erkenntnis“49 (Hervorh. E.S.). Mit dieser Konstruktion bleibt die Leitperspektive der Aesthetica naturalis jener Konzeptualisierung der Sinnlichkeit und des Seelenbegriffs verpflichtet, nach der noch die rezeptiv 43 44
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Dieter Kliche: Ästhetik und Aisthesis. Zur Begriffs- und Problemgeschichte des Ästhetischen, in: Weimarer Beiträge 44 (1998), H. 4, S. 485–505, hier S. 489. Wolfgang Welsch: Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre. Stuttgart 1987, S. 23. Welsch hat die hier diagnostizierte Ambivalenz eindeutiger als Scheitern des mit Baumgarten begonnenen ästhetischen Projekts der Aufklärung gesehen, die Aufwertung des Sinnlichen in seiner „Originarität“ zu leisten. Die „crux des ganzen Projekts“ bestehe darin, dass „das Sinnliche, das man herbeirief, ja von vornherein kein anderes als eben das klassische Gegenspieler-Sinnliche des Rationalen [war], [...] also gar nicht originär vom Sinnlichen her erfahren und geortet, sondern seinem ganzen Zuschnitt [...] nach aus der Perspektive des Rationalen bestimmt und limitiert“ war (ebd., S. 23). Baumgarten: TÄ, § 29, S. 17. Ebd., § 27, S. 17. Ebd., § 28, S. 17. Ebd., § 27, S. 17. Ebd.
bestimmten Vollzüge der Aisthesis nicht das Resultat passiver und selbstbezüglicher Perzeptionen von Sinnesdaten sind, sondern das Ergebnis einer gegebene Merkmale unterscheidenden psychischen Tätigkeit des Vorstellens (d.h. des Produzierens sensitiver Vorstellungen, repraesentationes). Als Telos der cognitio sensitiva ist die „Schönheit der Erkenntnis“, auch als eine anthropologisch gegründete, eine „Leistung des schön Denkenden“ (Hervorh. E.S.).50 1.1.2 Ästhetischer Egalitarismus Nicht durch ihre spezifische Verhältnisbestimmung zu den Gegenständen des Schönen bzw. der schönen Kunst, sondern lediglich durch regulative Empfehlungen bezüglich ihres Zusammenspiels bzw. durch Bestimmungen hinsichtlich ihrer Intensität erreicht Baumgarten die ästhetiktheoretische Spezifizierung der Vermögen der ästhetischen Anthropologie. Keine Fähigkeit des schön Denkenden, so die notorisch wiederkehrende Formulierung, solle zu vordergründiger Wirkung gelangen, damit dieselbe „mit den übrigen harmoniert“.51 Mit anderen Worten: Ihre ästhetiktheoretische Signifikanz erhalten die einzelnen Fakultäten der Seele nicht als solche, d.h. als vermögenspsychologisch isolierte bzw. ästhetisch autonomisierte, sondern als relationale Vermögensgrößen der episteme aisthetike. Wie implikationsreich diese Bestimmungen sind, wird freilich erst deutlich, wenn man sich die Ebenenunterscheidungen vor Augen führt, die durch die Baumgartenschen Differenzierungen der psychologischen Vermögenslehre gegeben sind. Die programmatische Forderung nach einer interaktiven Harmonie der Vermögen, mit der Baumgarten über die bloße Inventarisierung der ästhetisch affinen Seelenvermögen und damit über die poetische Tradition hinausgeht, besagt dann, dass im Rahmen des ästhetisch-anthropologischen Vermögenskonzepts der natürlichen 50
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Ebd., § 27, S. 17. Vgl. in diesem Zusammenhang Horst-Michael Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung. Leibniz, Wolff, Gottsched, Bodmer und Breitinger, Baumgarten. München 1982, S. 21–35, S. 177–187. Zur systematischen Rekonstruktion der rationalistischen Theorie der Repräsentation vgl. David E. Wellbery: Lessing’s „Laocoon“. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge 1984, bes. S. 43–59. Ebd., § 30, S. 19, passim. Mit Ausnahme der Paragraphen zum Gedächtnis und zum Geschmack weisen alle von Baumgarten abgehandelten Paragraphen der Aesthetica naturalis zum unteren Erkenntnisvermögen diese (in der Formulierung stets identische) Wendung auf (vgl. Baumgarten, TÄ, §§ 30–37, S. 19–23). Welcher anthropologiegeschichtlich bedeutsame Schritt mit diesem harmonischen Interaktionsmodell der menschlichen Gemütsvermögen in der ästhetischen Theorie vollzogen ist, sei noch einmal durch den vergleichenden Blick auf die frühaufklärerische Theorie des philosophischen Naturells (Walch) hervorgehoben: Während der Schöngeist nach Baumgarten der umfassenden Vervollkommnung der ästhetischen Wahrnehmungs- und Erkenntnisvollzüge verpflichtet ist, folgert Walch aus der Bindung des philosophisch Erkennenden an den Wahrheitsbegriff die subordinierte Stellung von „Ingenium“ und „Gedächtnis“ unter das „Iudicium“ des Verstandes, „welches man deswegen als die Haupt-Fähigkeit anzusehen hat, dem die beyden andern Fähigkeiten in ihren Würckungen an die Hand gehen müssen.“ (vgl. Walch, Philosophisches Naturell, § 16, S. 34f.).
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Ästhetik sowohl a) sämtliche Einzelvermögen als auch b) obere und untere Erkenntnisvermögen paritätisch, komplementär und interaktiv konzipiert sind. a) Nur im interaktiven Bündnis der sensitiven Erkenntnisvermögen und entsprechend nur auf dem Wege der bewusst regulierten Koordination aller sinnlichästhetischen Einzelvermögen sieht Baumgarten die Voraussetzungen für jene wirksame funktionelle Ergänzung der deutlichen Erkenntnisformen (Verstand, Vernunft) gegeben, die die Ästhetik als Wissenschaft begründen soll. Die Aufmerksamkeit des Ästhetikers muss der Verhinderung von Übermaß und Alleingeltung ästhetisch relevanter Vollzüge gelten; nur so kann es zu einem tatsächlichen Zusammenspiel aller unteren Erkenntnisvermögen kommen, das für Baumgarten in seiner Summe zur „ästhetische[n] Wahrheit“52 der Sinneserfahrung beitragen soll.53 Die Etablierung eines die ästhetische cognitio grundierenden ästhetischen Basisvermögens (respektive dessen Verselbständigung gegenüber den anderen sensitiven Erkenntnisvermögen) ist im Rahmen dieser Konzeption augenscheinlich weder möglich noch nötig.54 Aus diesem Sachverhalt lässt sich unter anderem erklären, dass Baumgarten zwar namentlich die Empfindungen – als Inbegriff des sensus internus – von den anderen, auf Gegenstandserkenntnis abgestellten Vermögen, wohl unterscheidet und sie damit der Sache nach auch als Vermögen der ästhetischen Selbstwahrnehmung konzipiert. Letztlich erkennt er ihnen jedoch keine Priorität innerhalb des Modells der ästhetischen Gegenstandserkenntnis zu. Die ästhetische Rezeptivität, als sinnengeleitete Wahrnehmungsfähigkeit und Empfänglichkeit, ist eine Weise ästhetisch affinen Vollzugs unter anderen. Sie gilt es jeweils mit den ästhetisch gleichberechtigten Vermögen der nichtrezeptiven (kognitiven) Gegenstandsrepräsentation zu koordinieren. Mit dieser Dehierarchisierung der ästhetisch affinen Vermögen sub specie cognitionis entrichtet die natürliche Ästhetik gleichsam den Tribut an die programmatisch begründete „Analogie zur Erkenntnismächtigkeit der Vernunft“55 und das heißt an den Anspruch der ästhetischen Wissenschaft, analog zur Logik auf die Verbesserung der „Erkenntnis überhaupt“ (ebd., § 7, S. 5) zu zielen – ein Vorhaben, das nur durch die vollständige
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Baumgarten: TÄ, § 424, S. 53. Die „ästhetische Wahrheit, d.h. die Wahrheit, soweit sie sinnlich erkennbar ist“, die Baumgarten als die „dritte Aufgabe im Bereich des schönen Denkens“ definiert, ist nur über die Anwendung der „unteren Erkenntnisvermögen“ (facultatibus cognoscendi inferioribus) erreichbar (Baumgarten: TÄ, § 424, S. 54). Zu der abweichenden Lesart, das „Gefühl“ bilde im Begründungskontext der Aesthetica ein selbständiges und fundamentales ästhetisches Vermögen, vgl. Ursula Franke: Ein Komplement der Vernunft. Zur Bestimmung des Gefühls im 18. Jahrhundert, in: Ingrid Craemer-Ruegenberg (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl. Philosophische Beiträge. Freiburg (Bg.), München 1981, S. 131– 148, hier besonders S. 139–141; vgl. (unter Anschluss an Franke) Brigitte Scheer: Art. „Gefühl“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2, Stuttgart, Weimar 2001, S. 629–660, hier S. 646f. Ehrenspeck: Aisthesis und Ästhetik, S. 215.
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Berücksichtigung und funktionale Gleichstellung aller Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen zu realisieren ist.56 b) Noch deutlicher treten auf der zweiten Unterscheidungsebene (derjenigen zwischen so genannten ‚unteren‘ und ‚oberen‘ Seelenvermögen) die epistemologischen Motive der Baumgartenschen Ästhetiktheorie hervor. Die unteren Erkenntnisvermögen, die ‚sinnlichsten‘ Vermögen wie etwa Sinneswahrnehmung und -empfindung, bleiben im Rahmen der skizzierten integrativen Konzeption erklärtermaßen stets an die oberen, die kognitiv unmittelbarsten Vermögen des Verstandes und der Vernunft komplementär zurückgebunden;57 die Wahrheit des Ästhetischen bestimmt sich für Baumgarten als eine „ästhetikologische“.58 Darin dokumentiert sich die anticartesianische Sprengkraft des anthropologisch ausholenden Ansatzes: Die sensitive Erkenntnis hat ihr Telos nicht in der Umformung zur deutlichen Erkenntnis, aisthetische und noetische Erkenntnisform sind vielmehr koexistente Erkenntniskomponenten. Das Verhältnis der sensitivästhetischen Erkenntnis zum Bereich der klaren und deutlichen Erkenntnis besteht entsprechend nicht in einer Konkurrenz bzw. ästhetischen Eigenheit gegenüber der klaren und deutlichen Erkenntnis, sondern im Gegenteil: in deren Ergänzung und Vermittlung. Indem Baumgarten der Sinnlichkeit die Rückbezüglichkeit auf die Rationalität sichert, wird nicht nur die Kontrollstellung des Verstandes im Gebiet des Ästhetischen gewahrt (etwa als potentieller Garant der intersubjektiven Gültigkeit ästhetischen Urteils oder als Interventionsgröße im Fall sittlich anstößiger Kunst), sondern die Einheit der Aisthesis als sinnlichästhetische Erkenntnisform begründet. 56
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Der Hinweis auf die theoriegeschichtliche Bedeutung dieses anthropologischen Komplexitätsansatzes ist bereits an dieser Stelle unerlässlich. Denn zu verfolgen ist er in der Formel der „höchstmöglichen Vollkommenheit des menschlichen Verstandes und höchstmöglichen Vortreflichkeit des Herzens“ nicht nur in der Erkenntnispsychologie noch der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts (vgl. Campe: Empfindungs- und Erkenntnißkraft, S. 208), sondern – über Meier vermittelt – bis in die späte Ästhetik Eberhards hinein, im ästhetischen Geniebegriff. Sowohl in produktions- wie in rezeptionsästhetischer Hinsicht („Hervorbringung“ und „Genuß“), so Eberhard, ist „der verhältnißmäßigste Gebrauch der verschiedenen Erkenntnißvermögen“ [Hervorh. E.S.] erforderlich, und das heißt (in identischer Entsprechung zum Baumgartenschen Vermögensprospekt): Nur im Zusammenwirken von Sinnen, Einbildungskraft, Gedächtnis, Verstand, Dichtungsvermögen, Vernunft, Beurteilungsvermögen und Geschmack erlangt die ästhetisch relevante Anlagennatur des Menschen die für die ästhetische Produktion und ästhetische Erfahrung (Kunstwerkgenuss) notwendige Vollständigkeit (vgl. Johann August Eberhard: Theorie der schönen Wissenschaften. Zum Gebrauche seiner Vorlesungen. Herausgegeben von Johann August Eberhard. Zweyte verbesserte Auflage. Halle 1786, § 23, S. 29f.). „Die bedeutenderen untern Erkenntnisfähigkeiten, und zwar die natürlich entwickelten, sind für denjenigen, der schön denken will, unerläßlich. Sie sind aber nicht nur zusammen mit den höhern auf natürliche Art entwickelten Fähigkeiten möglich, sondern sie stellen für jene auch eine notwendige Voraussetzung dar.“ (Baumgarten: TÄ, § 41, S. 24). Zu Baumgartens Schlüsselbegriff der ‚ästhetikologischen Wahrheit‘ als Vermittlungskategorie zwischen der ‚Wahrheit der Allgemeinbegriffe und der Begriffe überhaupt‘ und der ‚Wahrheit der Einzeldinge und der individuellen Vorstellungen‘ siehe Baumgarten: TÄ, §§ 440f., S. 69–71); vgl. ausführlich: Gross: Felix aestheticus, S. 143ff.
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1.1.3 Ästhetischer Kognitivismus Eben dieser Sachverhalt, die durchgängig epistemologische Ausrichtung der Vermögen der natürlichen Ästhetik, lässt sich schließlich auch mit Blick auf die hier vorgenommene dritte Ebenenunterscheidung in der empirisch-ästhetischen Vermögenspsychologie, die Differenzierung zwischen den Vermögensbereichen des Erkennens und des Begehrens, zwischen kognitiv und emotiv bestimmten Seelenvermögen verdeutlichen und differenzieren. Diesbezüglich ist nicht allein bemerkenswert, dass Baumgarten der Sphäre des Affekts im engeren Sinn wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat. Denn offenkundig interessiert dieselbe allein unter dem Gesichtspunkt einer die Erkenntnis begleitenden bzw. zur schönen Erkenntnis hinführenden Gemütsdisposition: Das temperamentum aestheticum connatum bezeichnet die affektiv-emotionale Disposition, allem ästhetisch Anziehenden „besonders gern nachzugehen“59 bzw. sich von ihm zur schönen Erkenntnis führen zu lassen, nicht etwa ein Charakteristikum der spezifisch ästhetischen Gegenstandswahrnehmung selbst.60 Signifikanter für die Gesamtbeurteilung der anthropologischen Konzeptualisierung der Aesthetica naturalis erscheint freilich der bereits skizzierte Sachverhalt der großflächigen Ausgrenzung jener affektiv-emotionalen Vermögen der Seele, die innerhalb der empirischen Psychologie des Wolffianismus traditionell zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen situiert wurden.61 Von dieser sind in Baumgartens ästhetischer Vermögenstheorie näher betrachtet genau diejenigen Vermö59 60
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Baumgarten: TÄ, § 44, S. 27. Baumgartens drei Paragraphen zur affektiv-ästhetischen Disposition orientieren sich nicht an der ethischen Theorie des Begehrungsvermögens wie etwa bei Gottsched, der als Fähigkeit des Dichters die Gemütstugend der sicheren Unterscheidung zwischen guten und bösen Handlungen fordert (vgl. Gottsched: Schriften zur Literatur, S. 51f.), sondern (wertneutraler) an der Theorie der Temperamente. Zu einer Favorisierung eines ‚ästhetischen Temperaments‘ führt die Baumgartensche Argumentation jedoch nicht. Nivelle kommt diesbezüglich zu ähnlichen Befunden, wenn er Baumgartens über den Temperament-Begriff vermittelten Kategorie der ästhetischen Neigung selbständige ästhetische Geltung für das „Schönheitsurteil“ abspricht (vgl. Armand Nivelle: Sulzer als Neuerer, in: Gustav Erdmann, Alfons Eichstaedt (Hg.): Worte und Werte. Bruno Markwardt zum 60. Geburtstag. Berlin 1961, S. 281–288, hier S. 281). Die uneinheitliche Zuordnung der affektiv-emotiven Vermögenssphäre (Wolff gliedert die Lust-Unlust-Theorie innerhalb des Abschnitts den facultatibus affectibus zu; Baumgarten lässt dieselben unter den facultates cognoscitivae firmieren und situiert sie damit, im Anschluss an die Theorie der Erkenntnisfakultäten, gleichsam im vermögenspsychologischen Niemandsland zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen) ist ebenso Ausdruck der Verlegenheit innerhalb der schulphilosophischen Vermögenspsychologie des Rationalismus, welchen Vermögenskompetenzen der menschlichen Seele die Sphäre der Emotionalität eigentlich zuzurechnen sei, wie symptomatisches Indiz für die Grenzen der ontologisch fundierten rationalistischen Seelenlehre, nach der alle psychischen Leistungen respektive seelischen Vermögen als Derivate der singularen psychischen Grundkraft des Vorstellens (der vis repraesentativa) gelten (vgl. Wolff: DM, § 745, S. 464; § 747, S. 465f.; § 878, S. 544). Auf die erkenntnistheoretischen Aporien für eine empirisch begründete Theorie der ästhetischen Lust hat in diesem Zusammenhang Costazza hingewiesen, vgl. Alessandro Costazza: Schönheit und Nützlichkeit. Karl Philipp Moritz und die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Bern 1996, bes. S. 79ff.
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gen betroffen, die nicht die Merkmalsrepräsentation anschaulich gegebener Objekte, sondern die sensitive Vergegenwärtigung selbstbezüglicher Zustände des Gemüts leisten. Denn die diesbezüglich einschlägigen Zustände der Gleichgültigkeit, des Gefallens und Missfallens, der Lust und Unlust bzw. des Vergnügens und Missvergnügens, schließlich auch die Gemütszustände des Begehrens, des Verabscheuens und des Affekts sind sachlich gesehen erkenntnisindifferente Phänomene.62 Mit ihnen sind sinnengeleitete Wahrnehmungs- und Erfassungsfähigkeiten benannt, die, obgleich gemäß der rationalistischen Repräsentationstheorie zugleich Leistungen des vorstellenden Subjekts, primär Inbegriff selbstbezüglicher und vollzugsorientierter Perzeptionsakte sind.63 Es ist nicht der erkennende Bezug auf das außerhalb des Subjekts situierte Objekt, der diese sinnlichen Wahrnehmungsvollzüge charakterisiert. Insofern können durch sie auch nicht als vom Subjekt und seinem Zustand unterscheidbare Merkmale repräsentiert werden. Als eigentliche Zustandsformen des Subjekts verweisen sie vielmehr auf das Wie des ästhetischen Wahrnehmens, Auffassens und Beurteilens. Sie sind Inbegriff der im Subjekt und seiner natürlichen Wahrnehmungsfähigkeit gegründeten, von dessen spezifischen Vollzugsakten und dessen ästhetischer Selbstbezüglichkeit (Selbstreflexion) bestimmten, ästhetischen Tätigkeit.64 Dass sie als genuin ästhetische Erfahrungsformen aus dem für die sinnliche Erkenntnis unmittelbar relevanten Vermögensbe62
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Vgl. (für den genannten Vermögensprospekt) Baumgarten: MPa, §§ 478–509). Zum Terminus des Analogon rationis (Vernunftähnlichen) vgl. Ursula Franke: „Analogon rationis“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1, Stuttgart 1971, Sp. 229–230. Es ist für das Verständnis des von Baumgarten etablierten Modells der ästhetischen Seelenvermögen unerlässlich, dessen Differenzbestimmung zwischen den Vermögen des analogon rationis und den davon abgegrenzten Vermögen nicht zu überblenden (vgl. so etwa Scheer: Gefühl, S. 647). Für Baumgarten gehören die Empfindungen (sensatio in der Doppelbedeutung der inneren und der äußeren Empfindungen) per definitionem nicht zum Vermögensverbund des analogon rationis, mit dem Baumgarten einen Komplex zur deutlichen Erkenntnis analoger Vermögen gekennzeichnet hatte. Denn im Unterschied zu den ‚vernunftanalogen‘ Vermögen leistet die Empfindung, ebenso wie das Vermögen der Einbildungskraft (phantasia) und das Vorhersehungsvermögen, keine kognitive Repräsentation gegenständlich gegebener Merkmale. Sie sind vielmehr, so Baumgarten eindeutig, Vermögen der subjektiven Zustandsvergegenwärtigung, „repraesentationes status mei“ (Baumgarten: MPa, § 534, S. 187). ‚Selbstbezüglichkeit‘ und ‚Vollzugsorientierung‘ sind nach Einschätzung der neueren Wahrnehmungsästhetik Merkmale, mit denen sich die spezifisch ästhetischen Qualitäten der sinnengeleiteten Wahrnehmung (Aisthesis) charakterisieren lassen: „Vollzugsorientiert sind Wahrnehmungen, bei denen die Wahrnehmungstätigkeit selbst zu einem primären Zweck der Wahrnehmung wird. [...] Selbstbezüglich ist alle ästhetische Wahrnehmung in dem [...] Sinn, daß es ihr nicht nur um das jeweils Wahrgenommene, sondern gleichermaßen um den Akt der Wahrnehmung selbst geht.“ (Vgl. Martin Seel: Ästhetik und Aisthetik. Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung mit einem Anhang über den Zeitraum der Landschaft, in: ders.: Ethisch-ästhetische Studien. Frankfurt/M. 1996, S. 36–69, hier S. 48f., S. 51). Unter diesen drei Merkmalsbegriffen: ‚Tätigkeitscharakter‘, ‚Subjektivität‘ und ‚Selbstreflexion‘ hat jüngst Christoph Menke mit Prägnanz die Eigenheiten der ästhetischen Theoriebildung gegenüber der Cartesianischen Theorie des Sinnlichen exponiert und in systematischen Bezug gesetzt (vgl. Christoph Menke: Wahrnehmung, Tätigkeit, Selbstreflexion. Zu Genese und Dialektik der Ästhetik, in: Andrea Kern, Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik. Frankfurt/M. 2002, S. 19–48).
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reich der natürlichen Ästhetik herausfallen, bezeichnet die eigentümliche markante Leerstelle eben jenes anthropologisch-ästhetischen Ansatzes, mit dem Baumgarten dem Begriff nach auf nicht weniger als auf die Vervollkommnung ausdrücklich des ganzen Menschen zielte.65 Baumgartens frühere Ansätze zu einer ästhetischen Qualifizierung des Sinnlichen durch lust- und affektbezogene Wahrnehmungsqualitäten sind mit diesem Begründungsschritt zugleich relativiert. Die Geltung der ästhetisch relevanten Seelenvermögen resultiert demnach primär aus ihrem Beitrag zur Einheit der sensitiven Gegenstandserkenntnis. Erst in einer zweiten vermittelten Hinsicht gewinnt im Rahmen einer generellen Reflexion ästhetischer Erfassungsleistungen an Bedeutung, welche Geeignetheit denselben zukommt, Modi sinnengeleiteter Selbstbezüglichkeit, der ästhetischen Erfahrung zu artikulieren.66 1.2 Von der cognitio sensitiva zur aesthetica pathologica? Baumgartens Ansätze zu einer Ästhetik der Emotionen Im Licht der vorstehenden Befunde könnte die Suche nach Anhaltspunkten für eine über den ästhetischen Erkenntnisbegriff hinausgehende Strukturierung der anthropologischen Ästhetik bei Baumgarten vergeblich erscheinen. Gleichwohl: Baumgartens Hauptanliegen, die philosophische Validierung der sinnengeleiteten Erfassungspotenzen, der Aisthesis, erschöpft sich wie oben dargelegt nicht in der Auslotung ihrer kognitiven Potenzen, wie nun in einem zweiten Rekonstruktionsschritt der anthropologischen Begründungsentscheidungen zu erörtern ist. Tatsächlich hat Baumgarten bereits in einem frühen Grundriss zu einer Enzyklopädie der Metaphysik den Zusammenhang zwischen Affekt- bzw. Begehrenssphäre und ästhetischer Wissenschaft unter dem Titel der Pathologia aesthetica hergestellt und innerhalb dieses Begründungszusammenhangs ein am Repertoire rhetorischer Wirkungskategorien orientiertes Wissenschaftsmuster entworfen. Die Ästhetische Pathologie ist im Rahmen dieser Basisdefinitionen Wissenschaft der Leidenschaften – in Hinsicht auf ihre gezielte Steuerung im Element von Rede65 66
Baumgarten: TÄ, §§ 3–12, S. 3–9. Noch in seiner ästhetischen Frühschrift zur philosophischen Poetik, den Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735), hatte Baumgarten den Zusammenhang von Sinneswahrnehmung und Selbstbezüglichkeit explizit thematisiert und die affektivemotionalen Gemütswirkungen der Lust und Unlust als „gegenwärtige Veränderungen des Vorstellenden“ zum ästhetischen Kriterium des Poetischen erhoben (vgl. Baumgarten: PBBG, § 24, S. 25; Hervorh. E.S.) – und zwar zum einen unter Bezugnahme auf das affektive Evokationspotential der Lust-Unlust-Empfindungen in ihrer Steigerungsform des Affekts: die Affekte als „merklichere Stufen der Unlust und der Lust [...] bestimmen [...] die poetischen Vorstellungen. Daher ist es poetisch, Affekte zu erregen.“ (ebd., § 25, S. 25). Und zum anderen in der Form der emotiven Aufwertung des ästhetischen Geschmacksbegriffs: Das Geschmacksurteil der Sinne (in Baumgartens Beispiel die Ohren) ist Bestandteil eines lust- bzw. unlustrelevanten Vorstellungskomplexes, das Gegenstandswahrnehmen entsprechend ein per definitionem gefühlsbegleitetes Beurteilen. „Also ist es sehr poetisch, den Ohren höchste Lust oder höchste Unlust zu verschaffen.“ Vgl. ebd., § 94, S. 71.
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kunst und Dichtung, in Abgrenzung sowohl von einer nur psychologischen Theorie der Affekte („Pathologia Psychologica“) als auch von einer dezidiert praktischen, auf die „Pflichten der Menschen in Absicht der Leidenschaften“ bezogenen Handlungstheorie („Pathologia practica“).67 Erhellt mit diesen Bestimmungen einschließlich der Baumgartenschen Ergänzungen im Kontext seiner Entwürfe zu einer „organischen Philosophie [...] der sinnlichen Erkenntnis“68 die fühlbare Anlehnung an die rhetorischen Leitintentionen der Affektbeherrschung im Doppelbezug auf pathos und ethos,69 so erschließt sich das Wesentliche für die hier leitmotivisch verfolgte Frage nach der Bedeutung der Konjunktion von Ästhetikbegriff und anthropologischer „Pathologie“ indes nicht näherhin am Begriff der ästhetischen Pathologie selbst. – Die pathologische Ästhetik als affektästhetisches Konzept der ästhetischen Aisthesis bleibt über die gegebenen Bestimmungen hinaus für Baumgarten ein unvollendetes Projekt.70 Vielmehr ist es notwendig, auf Baumgartens essentielle ästhetiktheoretische Bestimmungen in der Aesthetica zurückzugehen, um die begründungsgeschichtlichen Ansätze für eine pathologische Progression der Aisthesis freizulegen. 1.2.1 Vita cognitionis aesthetica Pathologia aesthetica. Die Konjunktion von Erkenntnis und Begehren in wirkungsästhetischer Hinsicht Unstreitig nämlich liefert nicht nur bereits die Stellung des Begriffs der pulcritudo im disziplinären Aufriss der Metaphysica und in der Aesthetica wertvolle Indizien 67
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Vgl. Baumgarten: MPa, § 678, S. 258f.: „Appetitiones auersationesque (fortiores) ex confusa cognitione sunt affectus [...], eorumque scientia pathologia 1) psychologica, eorundem theoriam explicans, 2) aesthetica, eorum excitandorum, compescendorum, significandorumque regulas continens, quo pertinet pathologia oratoria, rhetorica, poetica, 3) practica, obligationes hominis respectu affectuum exhibens.“ Baumgartens früher enzyklopädischer Grundriss der Ästhetik als einer der Logik und Ethik analogen philosophischen Instrumentalwissenschaft („Philosophia Generalis“, 1742) bestärkt die Annahme, dass Baumgartens grundsätzliche Ausrichtung der ästhetischen Pathologie in genuin rhetorischen Intentionen verwurzelt ist. Die hier genannte „pathologia oratoria“ („als Kunst, die Affekte richtig anzusprechen“), firmiert unter dem Titel einer ästhetischen Bezeichnungskunst („ars [...] characteristica“) und ist der „eloquentia“ respektive „oratoria“ zugordnet (siehe Baumgarten: TGÄ, § 147, S. 77). Zu den diesbezüglich einschlägigen, für die hier verfolgten Argumentationslinien jedoch zweitrangigen Zusammenhänge zwischen dem ästhetisch-ethischen und erfahrungspsychologischen Pathologiekonzept am Leitfaden der Bestimmungen der Baumgartenschen Metaphysica vgl. Dieter Kliche: Ästhetische Pathologie, S. 197–229, hier S. 206ff. Nicht mehr auf den in der Metaphysik entwickelten Begriff der ästhetischen Pathologie nimmt Baumgarten an einer späteren Stelle seiner Philosophie Bezug, sondern, unter Bezugnahme auf den dortigen Pathologie-Paragraphen, auf „Pathologie“ als Konzeptbegriff der praktischen Anthropologie und Ethik ein nachdrücklicher Verweis darauf, dass bereits im ästhetischen Pathologiebegriff von 1739 die medizinische Bedeutungskomponente von pathos – als Leiden miteinbezogen war (vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Ethica philosophica scripsit acroamatice. Halle, Magdeburg ²1763, § 242–245, S. 146–149, hier § 245, S. 148 („Cura facultatis appetitiuae inferioris“).
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für eine von Baumgarten theoriegeschichtlich gewollte Durchlässigkeit kognitiver und affektiv-emotionaler Vermögensaktivität.71 Zum Vermögensbereich des Erkenntnisvermögens gehörend und in diesem das „Ziel der Ästhetik“, die „perfectio cognitionis sensitivae, qua talis“ realisierend,72 ist die cognitio sensitiva zwar deutlich durch diejenigen Vorstellungsleistungen gekennzeichnet, die zu einem erfassenden Erkennen und Ordnen ästhetischer Gegenstandsmerkmale führen.73 Nichtsdestoweniger enthält die Platzierung der Schönheit im Vermögensbereich der Lust und Unlust den nachdrücklichen Verweis darauf, dass die ästhetische cognitio zugleich Konstitutionsmoment einer affektaffinen subjektiven ästhetischen Erfahrung ist. Denn im Unterschied zu den anderen unteren Erkenntnisvermögen der menschlichen Seele zeichnet nach Baumgarten die Erfahrung der Lust und Unlust (voluptas et taedium) die Bezüglichkeit auf den subjektiven Zustand der Seele („status animae“)74 aus, genau diejenige Eigenschaft also, die im Element des sinnlichen Begehrens zur Selbstkonfrontation des Subjekts mit seiner sinnlichen
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Das oben für den Vermögensbereich der Emotionen Gesagte gilt auch hier: Baumgartens ambivalente Situierung des zentralen Paragraphen zum Schönheitsbegriffs in der Metaphysik zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen (vgl. ebd., § 662, S. 248: „Perfectio phaenomenon, s. gustui latius dicto obseruabilis, est pulcritudo […]“) ist keine bloß formelle Nachlässigkeit, sondern signifikant für die sachlichen Zuordnungsschwierigkeiten der ästhetischen Phänomensphäre im anthropologisch dualen Vermögensfeld von Erkenntnis- und Begehrungsvermögen, damit jedoch zugleich ein symptomatischer Hinweis auf die anthropologische Unabtrennbarkeit von Erkenntnis-, Lust- und Affekttheorie in psychologisch-ästhetischer Hinsicht, wie die genauere Prüfung belegen kann. Während die graphische Zusammenschau der Vermögensbereiche in der Metaphysik den Schönheitsparagraphen eindeutig als Bestandteil des Begehrens (zusammen mit Begehren und Abscheu, Lust und Unlust) ausweist (vgl. Baumgarten: MPa, „Synopsis“ [unpag.]), positioniert der Fließtext den betreffenden Abschnitt vor dem allgemeinen Vermögensabschnitt zur facultas appetitiva (§§ 663ff.), und zwar als letztes Kapitel im Gliederungsabschnitt zum „Gefallen“ und „Mißfallen“ (vgl. ebd., voluptas et taedium, §§ 665–672, S. 243–249). Baumgartens epistemologischer Ausgangspunkt in der Ästhetik findet somit noch einmal von vermögenstheoretischer Seite Bekräftigung: Die sensitiven Erkenntnisvermögen, nicht die Sphäre des Begehrens samt ihrer „Triebfedern des Gemüts“ (vgl. ebd., § 669, S. 252, Anm. 1 [Übersetzung Baumgartens]), bilden den systematischen Ort der dem Schönheitsbegriff zugeordneten Vermögen der menschlichen Seele. Wolff, so ist an dieser Stelle zu ergänzen, war bezüglich der vermögenstheoretischen Zuordnung des Ästhetischen wesentlich eindeutiger gewesen: die Paragraphen zum Schönheitsbegriff („Pulchritudo“) sind, als Erfahrungsphänomene des Gefallens bzw. Missfallens der menschlichen Seele, der Vermögenstheorie des sinnlichen Begehrungsvermögens subsumiert (vgl. Christian Wolff: Psychologia empirica, methodo scientifica pertractata. Frankfurt/M. ²1738. Pars II: De Facultate appetendi in specie & Commercio inter Mentem & Corpus, Sectio I: De Facultatis appetendi parte inferiori. Caput 1: De Voluptate ac Taedio, nec non Notione boni ac mali], bes. §§ 543–546, S. 420–421). Baumgarten: TÄ, § 14, S. 10, S. 11. Vgl. ebd., §§ 18–20, S. 13: Die allgemeine Schönheit der sensitiven Erkenntnis wird durch die „Übereinstimmung der Gedanken“ (§ 18), die „Übereinstimmung der Ordnung“ (§ 19), und drittens die „Übereinstimmung der Zeichen“ (§ 20) konstituiert. Baumgarten: MPa, § 656, S. 244.
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Natur (sinnliche Triebfedern, Leidenschaften, Affekt etc.) führt und entsprechend selbstbezüglicher Struktur ist.75 Die bedeutungsvolleren Anhaltspunkte für das, was sich als Baumgartens ästhetiktheoretische Rehabilitation des Affekts bezeichnen lässt, liefern zweitens allerdings die erstmals von Baumgarten ästhetiktheoretisch verwendeten Bestimmungskriterien der ästhetischen Erkenntnis, die Kriterien der ästhetischen Gegenstandsrepräsentation als „Hauptvolkommenheit[en] der Erkentnis [sic!]“.76 Denn sie weisen, wie zu zeigen, auf eben jenen Schlüsselbegriff der Baumgartenschen Ästhetik, der sie von der Seite der ästhetischen Rührung aus charakterisiert: die vita cognitionis, das Leben der Erkenntnis.77 Zwar erschließt sich, was Baumgarten mit dieser Kategorie der vita cognitionis theoriegeschichtlich akzentuiert hat, nur über eine Reihe fragmentarisch ausgearbeiteter Ansätze wie die ästhetische Pathologie blieb Baumgarten bekanntlich die theoretische Ausarbeitung der ästhetischen Kategorie des Lebens, vermutlich aus
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Sowohl der generelle Paragraph zu dem Begehrungsvermögen als auch die Ausführungen zu den unteren Fakultäten des Begehrens veranschaulichen, wie Baumgarten Selbstbezüglichkeit und Affektaffinität als qualitative Elemente der Vorstellungstätigkeit der Seele definiert (gemäß der rationalistischen Theorie der Repräsentation sind kognitive und affektiv-emotionale Prozesse per definitionem an die psychische Aktivität der vorstellenden Seele zurückgebunden; vgl. Wellbery, Lessing’s „Laocoon“, S. 43ff.). Im Begehren ist das Subjekt selbst („si vim animae meae seu me determino ad certam perceptionem producendam“, vgl. Baumgarten: MPa, § 663, S. 249) der Produzent subjektgemäßer (‚begehrender‘) bzw. nicht subjektgemäßer (‚verabscheuender‘) Vorstellungen. Den anthropologischen Index dieser Bestimmungen unterstreicht Baumgarten, indem er in diesem Zusammenhang den Nexus sowohl mit der menschlichen Primärsinnlichkeit (vgl. ebd., § 676, S. 258f., hier S. 258: „caro“, das „Fleisch“) als auch mit der affektinduzierten Sinnlichkeit (vgl. ebd., § 677, S. 258: „stimuli“, „instinctus“, „fuga“ – sinnliche Triebfedern, blinder Trieb, blinder Abscheu) unterstreicht. Vgl. Meier: AsW I, § 35, S. 59. Während in Kliches begriffsgeschichtlichem Zugriff auf die ‚Pathologische Ästhetik‘ eben dieser Zusammenhang nicht gekennzeichnet ist (vgl. ders.: Pathologische Ästhetik, bes. S. 203f.), hat die ältere Baumgartenforschung nicht nur das Konzept der vita cognitionis in der Baumgartenschen Ästhetik als einschlägiges Begründungselement einer affekttheoretischen Ergänzung der cognitio sensitiva wahrgenommen, sondern in derselben auch emphatisch weit im Vorfeld übrigens der von der neueren anthropologischen Aufklärungsforschung forcierten Rehabilitation der Sinnlichkeit (oder: des ‚Dunklen‘, oder: der Emotionen, des Affekts) den „interessanteste[n]“ Ansatz der Baumgartenschen Ästhetik gewürdigt (vgl. Bergmann: Begründung der deutschen Ästhetik, S. 166). Dass Baeumler hingegen Bergmanns diesbezügliche Spekulationen über eine Affekt-Ästhetik Baumgartens schroff zurückwies, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Folgeprobleme, die sich aus einer Ästhetikhistoriographie am Maßstab des urteilstheoretischen Problems bzw. dezidiert Kantischer Fragestellungen in der Ästhetik ergeben. Die anthropologisch motivierten Impulse in der ästhetischen Theorie des 18. Jahrhunderts erscheinen in einer solchen Perspektive nachgerade als Reinheitsverlust voneinander zu unterscheidender und zu trennender Vermögensbereiche: als Ausdruck unzulässiger Sphärenvermischung (zwischen Urteil und Affekt, Erkenntnis- und Begehrungsvermögen), nicht neuer Komplexitäts- und Integritätszuwächse der Seelentätigkeiten untereinander (vgl. Baeumler: Irrationalitätsproblem, S. 124: mit der Etablierung der affektaffinen Ästhetik drohe die „Ansteckung durch das Begehrungsvermögen“).
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Krankheitsgründen, verwehrt.78 Gleichwohl lässt sich dem Wenigen Bedeutsames für das theoriegeschichtliche Verständnis affektbezogener Ästhetik entnehmen: der Sachverhalt nämlich, dass mit dem „Leben der Erkenntnis“ nicht lediglich ein weiteres Kriterium der ästhetischen Gegenstandsauffassung im Modus der Bestimmung seiner sinnlich-anschaulichen Merkmale benannt ist, sondern vielmehr ein der praktischen Philosophie entlehnter Terminus zur Bezeichnung der motivationalen Grundlagen der Erkennens im Modus des Überzeugens und Überredens. Sowohl die Berücksichtigung des 1) begründungsgeschichtlichen Kontextes dieser Kategorie bei Wolff als auch der 2) werkgeschichtlichen Bezüge bei Baumgarten lassen sich hierfür als Belege anführen. Diese systematischen Bestimmungen bedürfen der genaueren Rekonstruktion, sollen die Gemeinsamkeiten und Abweichungen zwischen Baumgartens affekttheoretischem Ansatz und so die These der nachfolgenden Argumentation Meiers affektpathologischer Überbietung des Baumgartenschen Pathologieentwurfs, als konzeptuell eigenständige Variante anthropologisch-ästhetischer Theoriebildung kenntlich werden. 1.2.2 Lebendige Erkenntnis: logisch (Wolff) und rhetorisch (Gottsched) In dezidiert schönheitstheoretischem Zusammenhang hat Baumgarten die vita cognitionis in der Aesthetica systematisch verortet: Als Ergänzungsbestimmung des bereits erwähnten allgemeinen Schönheitsbegriffs der sinnlichen Erkenntnis: Aus dem Reichtum, der Größe, der Wahrheit, der Klarheit und Gewißheit, der lebendigen Bewegtheit der Erkenntnis [Hervorh. E.S.] erwächst die Vollkommenheit jeder Erkenntnis. Dies gilt, soweit diese Qualitäten in einer Vorstellung und unter sich harmonieren [...]. Wenn diese Qualitäten in Erscheinung treten, bringen sie die Schönheit der sinnlichen Erkenntnis hervor, und zwar die allgemeingültige, vor allem der Sachen und Gedanken, in denen uns erfreut die Fülle, die edle Art, das Licht der bewegten Wahrheit.79
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Die Begriffskombination der „Vita cognitionis aesthetica“ führt die tabellarische Synopsis im ersten Band der Aesthetica als letzte der sechs genannten ästhetischen Kriterien auf (vgl. Baumgarten: Aesthetica, „Synposis“ [unpag.]), doch endet der fragmentarisch gebliebene zweite Teil der Baumgartenschen Ästhetik exakt mit den Ausführungen zur fünften ästhetischen Kategorie, der Persuasio aesthetica. Vermutlich ist es diese Leerstelle im ästhetischen System Baumgartens, die dazu geführt hat, dass der Baumgartenforschung die Aufmerksamkeit auf den Ästhetikbegründer als ‚pathologischem‘ Ästhetiker bis heute weitestgehend entgangen ist. Zumal der älteren, am voridealistischen Kunstbegriff orientierten Ästhetikforschung sind die affekttheoretischen Ansätze des Disziplinbegründers gleichsam nichtexistent (vgl. beispielsweise Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten. Wiesbaden 1972). „Ubertas, magnitudo, veritas, claritas, certitudo et vita cognitionis, quatenus consentiunt in una perceptione et inter se […] dant omnis cognitionis perfectionem, phaenomena sensitivae pulchritudinem universalem, praesertim rerum et cogitationum in quibus iuvat copia, nobilitas, veri lux certa moventis.“ Vgl. Baumgarten: TÄ, § 22, S. 12–15. Noch die pragmatische Vernunftlehre der späten Aufklärung wird diese Baumgartensche Topik der Vollkommenheit der sinnli-
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Es sind Wolffs Begriffsbestimmungen der „lebendige[n] Erkäntniß“ in der Deutschen Ethik, die für Baumgarten ersichtlich den kategorialen Rahmen für die eigene Definition bildeten und auf den, erst bei Meier wieder evident gemachten, Bestimmungszusammenhang zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen verweisen. Die lebendige Erkenntnis, so Wolff, gibt „einen Bewegungsgrund des Willens [ab], entweder das Gute zu vollbringen, oder das Böse zu lassen“; die lebendige Erkenntnis kommt jedoch nur unter der Voraussetzung zustande, dass sie entweder eine Überführung oder wenigstens eine Überredung mit sich führet: wie wohl da in dem letzten Falle der Mensch erkennen kann, dass er noch nicht überführet ist; so höret nachdem auch diese Erkäntniß auf ein Bewegungs-Grund des Willens zu seyn, und dannenhero bleibet sie nicht lebendig.80
Erkenntnistheoretisch gestützter Wahrheitsanspruch (Logik) und sittlich bzw. eudämonistisch perspektiviertes Kommunikations- bzw. Vermittlungsziel (Ethik) verbinden sich für Wolff, so belegen auch die weiteren, hier nicht näher zu verfolgenden Referenzstellen, in der Kategorie der lebendigen Erkenntnis.81 Entscheidend für die Wolffsche Begriffsgebung ist dabei, dass die lebendige Erkenntnis vordergründig nicht als Psychologisierung des Erkennens fungiert (bezogen also auf die Art und Weise, wie im Element der diskursiven Aufklärung über „wahr“ und „falsch“ der Zustand des subjektiven Überzeugtseins, des Fürwahrhaltens von etwas erzeugt wird), sondern einen Ansatz zur Erörterung der motivationalen Dynamiken des Handelns liefert. Über die bloße Veranschaulichungsfunktion hinaus fungiert die lebendige Erkenntnis dementsprechend als das Kontaktmedium zwischen Kognition und jener Sphäre des höheren, des rational vermittelten Begehrens (Wille), auf der sie das Bedürfnis zum guten Handeln allererst freisetzt. Im ethi-
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chen Erkenntnis nicht als ästhetischen, sondern logisch relevanten Kriterienkatalog der Vollkommenheitsmerkmale sinnengeleiteter Erkenntnis verwenden, vgl. etwa Gotthilf Samuel Steinbart: Gemeinnützige Anleitung des Verstandes zum regelmässigen Selbstdenken. Züllichau ³1793, § 16, S. 23f. („Von den Vollkommenheiten der Erkenntniß überhaupt“): „Reichthum, Würde, Wahrheit, Licht, Gründlichkeit und practisch Leben Muß Empfindung, Unterricht, und Vernunft der Kenntniß geben.“ Wolff: Deutsche Ethik, § 169, S. 102f., hier S. 102. Zum Stichwort „Wahrheitsanspruch“: Die (von Wolff im Erklärungsparagraphen der lebendigen Erkenntnis als Referenzparagraphen angezeigten) Paragraphen 1 und 13 seiner Logik thematisieren die Differenz von „Überreden“ und „Überführen“ (Überzeugen) und konturieren mithin den objektivistischen Kern des ‚lebendigen‘ Erkenntnismodells: Erkenntnis vorurteilsfrei zu übermitteln (vgl. Christan Wolff: Vernünfftige Gedancken von den Kräften des menschlichen Vestandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkänntniss der Wahrheit. Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet von Christian Freyherrn von Wolff [= Deutsche Logik]. [1. Abt., Bd. 1] Hildesheim u.a. 1978, §§ 1, 13, S. 231, 235f.). Das pragmatisch ausgerichtete Vermittlungsziel ergibt sich in Wolffs Ethik hingegen aus dem eudämonistischen Bestimmungskontext: Die lebendige Erkenntnis ist Vermittlungsmodalität der „Art und Weise, das höchste Gut zu erlangen“; das Ziel der Überführung ist demnach die nachhaltige Bekehrung zum guten Handeln (vgl. ders.: Deutsche Ethik, § 170, S. 103).
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schen Sinn ist sie daher so unerlässlich wie die durch Beispiele verbildlichende „anschauende Erkäntniß“.82 Konturiert Wolff aus epistemologischer Perspektive den logischen Aspekt der argumentatio als „Überreden“, so weist die Begriffsverwendung der lebendigen Erkenntnis in Gottscheds Rhetorik hingegen die Gewinnung von Verstand und Willen eindeutig als wirkungsästhetisches Ziel der rhetorischen persuasio aus. Mit Bezug auf die Beredsamkeit, so Gottsched, müssen wir auf die Mittel sehen, wodurch die Ueberredung der Zuhörer bewerkstelligt werden kann. Diese haben, als Menschen, Verstand und Willen: und beyde muß ein Redner gewinnen können, wenn er dieselben zum Beyfalle bewegen, oder überreden will.83
Wie für Wolff nimmt für Gottsched die lebendige Erkenntnis die zentrale Funktion ein, die Vermittlung zwischen der bloßen Verstandesgewissheit (aus logischen Argumenten) und jenen „Vorstellungen des Guten und Bösen“ herzustellen, die als „Bewegungsgründe“ Überredung auf der Ebene des Willens zu leisten vermögen. Ohne diese doppelte Affizierung sind weder Verstand noch Wille „recht davon [von der Wahrheit des Gesagten, E.S.] versichert, und folglich ist das Erkenntniß von solchen Wahrheiten nicht lebendig“.84 1.2.3 Von der Vita cognitionis aesthetica zur „rührenden Erkenntnis“ Während logischer und ethischer Diskurs mit mehr oder weniger Nachdrücklichkeit auf das pragmatische Bestimmungsmoment der vita cognitionis verweisen noch die spätaufklärerische Vernunftlehre wird die Kategorie als Inbegriff der „praktischen“ im Unterschied zur „blos speculativ[en]“ Erkenntnis definieren85 , zeich82
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Die lebendige Erkenntnis, so geht aus Wolffs Ausführungen in der Ethik hervor, bildet den Entsprechungsbegriff zur anschauenden Erkenntnis: Beide Vermittlungsformen der persuasio gehören in den Funktionskontext der versinnlichenden Erkenntnis bzw. Darstellung, wobei Wolff freilich auf der latenten Rückversicherung bei „Verstand und Vernunfft“ insistiert ein Konvergenzmodell von Sinnlichkeit und Rationalität, das, wie nachfolgend zu sehen, in dieser instrumentellen Ausrichtung von Baumgarten nicht mehr geteilt wird. (vgl. Wolff: Deutsche Ethik, § 167, S. 100f.). Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst. Erster, allgemeiner Theil, in: ders.: Ausgewählte Werke, hg. von P. M. Mitchell, Siebenter Band, Erster Teil, bearbeitet von Rosemary Scholl, Berlin, New York 1975 [nach der 5. Aufl., Leipzig 1759], Das I. Hauptstück. Was die Redekunst sey, imgleichen von der Beredsamkeit und Wohlredenheit überhaupt, §§ 1–16, S. 86–101, hier § 6, S. 91. Ebd. Vgl. Steinbart: Gemeinnützige Anleitung, § 24, S. 37f. („Vom Leben der Erkenntniß“). Die dominant pragmatischen und eudämonistischen Konnotationen, die Steinbart in das Bestimmungsmoment der „lebendigen Erkenntnis“ hineinträgt und zur eigentlichen Domäne der Kategorie des „Lebens der Erkenntnis“ ausbaut (vgl. ebd., §§ 69–81, S. 100–124), sind im Rahmen der dezidiert ästhetischen Thematisierung dieser Kategorie weder von Baumgarten noch von Meier in dieser Deutlichkeit artikuliert worden, gleichwohl jedoch durchaus mit zu lesen.
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net sich der ästhetische Gebrauch zwar nicht durch das strikte „Verschweigen“86 der Handlungsrelevanz der Kategorie aus, jedoch bleiben die Begriffsauslegungen eindeutig an der Qualifizierung des psychologischen Wirkungsmoments orientiert. Baumgartens spärlichen Auslegungen der vita cognitionis aesthetica, dem Paragraphen 36 der Aesthetica zu Folge die „Schönheit im eigentlichen Sinne“87 (!), ist nicht nur der Anschluss an den bei Wolff grundgelegten Nexus von logischem und handlungsbezogenem Moment abzulesen. Bezeichnenderweise übrigens innerhalb des Abschnitts zur „ästhetischen Wahrheit“, wird die Kategorie in herausgehobener Weise in einem Zusammenhang mit der wirkungsästhetischen Absicht der „erfreuende[n] und erschütternde[n] Wirkung auf den Hörer“ erwähnt.88 Schließlich lassen sich die entscheidenden Anhaltspunkte dafür, dass Baumgarten neben der epistemologischen Fundierung der sinnengeleiteten Erkenntnis systematisch Anschluss an die wirkungsästhetisch unverzichtbare Sphäre der emotionalen Affektivität gesucht hat und mithin auch bereits die Pionierschrift der ästhetischen Disziplin einen rührungsästhetischen Ansatz für die philosophische Theorie der cognitio sensitva enthält, sowohl Baumgartens Aesthetica als auch der Nachschrift des Baumgartenschen Ästhetikkollegs selbst entnehmen. So führt die Aesthetica als argumentative Referenzstelle für die Kriteriendefinition der ästhetischen Erkenntnis nicht den logisch-erkenntnistheoretischen, sondern einen appetenztheoretischen Definitionskontext an89 und verweist damit auf eben jene Kategorie, die die emotionalistische Ästhetik von Dubos bis Sulzer als Inbegriff der gemütsaffizierenden Funktion ästhetischer Erfahrung etablieren wird: die rührende Erkenntnis (Rührung).90 Darüber hinaus belegt die Vorlesungsnachschrift die Existenz rüh-
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Vgl. ebd., S. 38: „Da der letzte Endzweck aller unsrer Bemühungen nach Erkenntnissen darinn zu setzen ist, dass wir dadurch weiser werden, oder unser Leben besser benutzen lernen wollen, so erhellet, was für eine wichtige Vollkommenheit des Erkenntnisses die practische Beschaffenheit und das Leben desselben sey.“ Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung, S. 144. Vgl. Baumgarten: TÄ, § 36, S. 23. Ebd., § 565, S. 151: Die ästhetische Themenbehandlung soll gekennzeichnet sein durch die „gedrängte, aber fein abgerundete Fülle, die bald absolute, bald relative anmutige Würde, die materiale Vollkommenheit der Wahrheit selbst, die geschmackvolle Lebhaftigkeit und de[n] für das schöne Denken unerläßliche Glanz, die ins Innere dringende Überzeugungskraft, vor allem auch die Lebendigkeit und die erfreuende und erschütternde Wirkung auf den Hörer.“ Der entsprechende Referenzparagraph in Baumgartens Metaphysica, auf den der Abschnitt zum ästhetischen Vorhersehungsvermögen verweist, führt das Schema der ästhetischen Vollkommenheitskriterien als Gesetz der „facultas appetitiva“ an, mit der Besonderheit, dass Baumgarten hier „viva“ durch „ardentior“ ersetzt, den Terminus des ‚Lebens‘ hingegen bezeichnenderweise zur Erläuterung der „cognitio movens (afficiens, tangens, ardens, pragmatica, practica & viua latius“) und selbst (seit der 4. Auflage der lateinischen Textfassung beigefügt) mit „rührende, bewegende, thätige, wircksame Kenntniß“ übersetzt hat: („[...] quo vastior, quo nobilior, quo verior, quo clarior, hinc viuidior vel distinctior, quo certior, quo ardentior cognitio est, hoc maior est.“ (Baumgarten: MPa, § 669, S. 251f., hier S. 252). In Meiers Übersetzung dieses Paragraphen erscheint nicht nur Gottscheds Terminus des Beweggrundes (hier: „Triebfedern“) nunmehr transformiert in den Vermögensbereich des ‚unteren‘, des sinnlichen Begehrens – wieder. Auch terminologisch wird die Verklammerung
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rungsästhetischer Begründungsansätze in der Baumgartenschen Ästhetik, indem sie Baumgartens tatsächlich appetenztheoretisch zurückgebundenen Paragraphen zur ästhetischen „Fähigkeit, Zukünftiges vorauszusehen“ auf der Basis der vita cognitionis91 nunmehr vollends ins Vokabular der Rührungsästhetik übersetzt: „Denn was schön sein soll, muß bewegen, dies ist eine Eigenschaft der schönen Erkenntnis. Was mich bewegen soll, muß Begierden in mir hervorbringen [...].“92 Im Unterschied zur rhetorikästhetischen Traditionslinie, so lässt sich zusammenfassen, geht es Baumgarten mit der Kategorie des „Lebens“ letztlich auch trotz des Festhaltens am wirkungsästhetischen Telos der persuasio, nicht um ein diskursiv gestütztes Überzeugen,93 sondern um die ästhetiktheoretische Nutzbarmachung der Kategorie des ästhetischen Lebens von der Seite ihres affektiv-sinnlichen Wirkungspotentials her. Es ist, so ließe sich Baumgartens anthropologisch-affektästhetische Einsicht in der philosophischen Ästhetik paraphrasieren, nicht die Sphäre der rational zurückgebundenen Appetenz, des Willens, auf die die vita cognitionis zurückwirken soll (und ihr entsprechend lediglich instrumentellen Charakter verleihen würde), sondern es ist dezidiert der Vermögensbereich des sinnlichen Begehrens zwischen Lust- und Unlusterfahrung und Begierde bzw. Abscheu in der die Theorie der cognitio sensitiva: Theorie der sinnlichen Erkenntnis, ihre systematische Konturierung als Theorie der sinnlich-ästhetischen Affizierung: Theorie der ‚pathetischen‘ Erfahrung, erfährt. Damit aber, so muss geschlussfolgert
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von sinnlicher Vorstellungstheorie und dem Vermögensbereich der Appetenz offenkundig (hier zur Verdeutlichung in der Übersetzung Meiers): „Eine Erkenntniß, in so ferne sie Triebfedern des Gemüths enthält, ist eine rührende (cognitio mouens, afficiens, tangens, ardens, pragmatica, practica et viua latius) [...]“ (vgl. Georg Friedrich Meier: Alexander Gottlieb Baumgartens [...] Metaphysik. Neue vermehrte Auflage. Halle 1783, § 493, S. 242, Hervorh. E.S.). Baeumlers Warnung, in diesen affekttheoretischen Bezugnahmen Baumgartens nicht sogleich einen persistenten Psychologismus zu unterstellen, findet Bestätigung durch den Sachverhalt, dass Baumgarten das genannte Schema für den ästhetischen Kriterienkatalog auch in seiner Logik für die Definition der Merkmale der „cognitio [...] philosophica“ verwendet hat (vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Acroasis Logica. Aucta, et in systema redacta [11761]. Halae Magdeburgicae 1773, § 5, S. 2; vgl. § 6, S. 2: „Uberior, nobilior, verior, clarior, certior, ardentior cognitio ad vitam felicem est utilis [...].“). Der universelle, für logische und ästhetische Erkenntnisformen verbindliche Geltungscharakter des ästhetischen Vorstellungsschemas ist somit eindeutig. Vgl. Baumgarten: TÄ, § 36, S. 23. Vgl. Bernhard Poppe: A. G. Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant. Borna-Leipzig 1907, § 31, S. 87. Die Geltung des Rührungsthemas bestätigt der Paragraph 36, der das Thema noch einmal aufgreift und als Grundvoraussetzung des „schönen Geistes“ (felix aestheticus) die Fähigkeit, „die Sprache des Herzens [zu] reden, das ist [zu] rühren [...]“, benennt. Denn der Schöngeist „kann nicht rühren, wann er nicht Begierden erregt, und er kann nicht Begierden erregen, wann der Gegenstand derselben nicht zukünftig ist.“ (ebd., § 36, S. 89f.). Im Unterschied zu Baumgartens Absicht einer ästhetischen Gewinnung der Sphäre des Begehrens bleibt die lebendige Erkenntnis für den rationalistischen Ethiker Wolff ein Instrument der diskursiven Affektbeherrschung: sie muss „über den gegenwärtigen Affect die Oberhand [behalten]“, und daher „muß alles so deutlich und handgreiflich [d.h. auf diskursivem Wege, E.S.] vorgerechnet werden.“ (vgl. Wolff: Deutsche Ethik, § 240, S. 156).
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werden, ist der Status der ästhetisch relevanten Sinnlichkeit gleichsam mit doppelter Sicherung von den Anwürfen aus dem Lager der cartesianischen Auffassung des Sinnlichen befreit, wonach die Beschäftigung mit den sinnlichen Empfindungen, den Gefühlen und Leidenschaften für den Philosophen unwürdig bzw. nutzlos sei, weil diese aufgrund ihrer Sinnenhaftigkeit nicht zur deutlichen Erkenntnis führen könnten.94 Denn für Baumgarten ergibt sich aus der Einsicht in die ästhetische Unverzichtbarkeit der affektiv-emotionalen Gegenstandskonstitution im Begriff der „lebendigen Erkenntnis“ nicht schlechthin der Beweis, dass die Komplexität der menschlichen Sinnennatur sich per definitionem nicht in deutliche Erkenntnis überführen bzw. gar auflösen lässt. Sie enthält vielmehr zugleich den Nachweis, dass das anthropologische Erkenntnisideal, soll es denn Geist und Gemüt, Kopf (Seele) und Herz gleichermaßen der Vollkommenheit der sinnlichen Erfassungsleistungen zuführen, auf die kognitiven wie die affektiv-emotionalen Potenzen der menschlichen Sinnlichkeit gleichermaßen bezogen bleiben muss.
2. Ästhetische Pathologie. Anthropologie der Leidenschaften und Ästhetik des Begehrens bei G. F. Meier Meier gilt immer noch als „Dogmatiker der Baumgartenschen Schule“ bis in die jüngsten Untersuchungen hinein hat sich die von der älteren Ästhetikhistoriographie kolportierte Einschätzung vom epigonalen und lediglich popularisierenden Charakter der Meierschen Begründungsleistungen für die Ästhetik offenkundig halten können.95 Auch im Einfallswinkel einer anthropologiegeschichtlich motivierten Suchbewegung im Feld ästhetischer Theorie lassen sich Meiers Erörterungen zur Ästhetik aus dem Kernschatten der Baumgartenschen Ästhetik nur schwerlich herauslösen. So übernimmt Meier nicht nur den Baumgartenschen Definitionsbegriff der philosophischen Ästhetik als einer Theorie der sinnlichen respektive schönen Erkenntnis und der Bezeichnung derselben96 sowie die wissenschaftssystematische Fundierung der ästhetischen Theorie durch die „Anthropologische Wissenschaft“ der Psychologie.97 Er adaptiert auch den von Baumgarten in 94
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Nach Cassirer ergibt sich aus dieser Konstellation die Gefahr, dass die ästhetische Episteme letztlich „die Wissenschaft in den Kreis der Sinnlichkeit (hinabziehen)“ könnte, wie Cassirer paraphrasierte, vgl. Ernst Cassirer: Grundprobleme der Ästhetik. Schriften zur Kunsttheorie. Bd. 5. Berlin 1989, S. 73. Cassirer bezieht sich auf die Baumgartenschen Prolegomena der Aesthetica (vgl. Baumgarten: TÄ, §§ 3ff.). Vgl. exemplarisch Robert Sommer: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Aesthetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller. Würzburg 1892, S. 26; Tanja van Hoorn: Affektenlehre rhetorisch und medizinisch. Zur Entstehung der Anthropologie um 1750 in Halle, in: Rhetorik 23 (2004), S. 81–94, hier S. 83, Anm. 13: Meier der „Schüler, Nachfolger und Popularisierer Baumgartens“. Vgl. Meier: AsW I, Einleitung, §§ 2–5, S. 3–9, hier S. 3, S. 7. Wie für die spätaufklärerische, durch Erfahrungsseelenkunde und empirische Anthropologie befruchtete ästhetische Theorie, setzt Meier die Psychologie als Basiswissenschaft der Ästhetik
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die philosophische Ästhetik eingeführten Ansatz einer an den natürlichen Dispositionen des Menschen entwickelten ästhetischen Anthropologie im Modellbegriff des felix aestheticus (Schöngeistes).98 Gleichwohl, so lässt sich zeigen, dokumentieren seine ästhetiktheoretischen Stellungnahmen im disziplingeschichtlichen Dreieck von philosophischer Affekttheorie, Erkenntnistheorie (Metaphysik) und Ästhetik die Kontinuität eines ästhetischen Denkens, das sowohl der Sache als auch dem Begriff nach im affektivemotionalen, im pathologischen Begründungsmoment von Ästhetik99 die vermögenstheoretische Basis der ästhetisch relevanten Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen identifiziert, ohne freilich auf das begriffliche Inventar der schulphilosophischen Vorstellungs- und Vollkommenheitsdoktrin zu verzichten.100 ein. Weit im Vorfeld übrigens der Disziplin-Neugründung Anthropologie (durch Ernst Platner im Jahre 1772) wird sie hierbei ausdrücklich als Kerndisziplin der „Anthropologischen Wissenschaften“ ausgewiesen, „welche die Kentnis der menschlichen Natur befördern“, dem schönen Geist zur „Selbsterkentnis“ verhelfen und ihm „die Zugänge des menschlichen Herzens“ öffne, vgl. Meier: AsW I, § 234, S. 549–552, hier S. 550. Die systematische Begründung dieser disziplingeschichtlichen Zuweisung zu formulieren ist für ihn freilich noch Aufgabe der Philosophie als Metaphysik, vgl. Meier: Metaphysik. Dritter Theil [=Die Psychologie]. Zweyte Auflage. Halle 1765, § 477, S. 14–15: „[...] Die Psychologie [ist] deswegen eine so nützliche Wissenschaft, weil sie die ersten Gründe aller schönen Künste und Wissenschaften enthält. [...] Die ganze Theorie der schönen Künste und Wissenschaften hanget [...] von der Einsicht in die Natur der untern Kräfte der Seele ab; und, die ganze Ausübung derselben, von dem rechten Gebrauche dieser Kräfte. Wer die wahren Regeln der schönen Künste und Wissenschaften entdecken, erklären und erweisen will, der muß die Natur der untern oder sinnlichen Kräfte der Seele verstehen; und wer diese Regeln recht beobachten will, der muß die untern Kräfte der Seele, in dem gehörigen Grade der Vollkommenheit besitzen. Da wir nun durch die Psychologie, diese Kräfte der Seele, ihre Natur und Vollkommenheit, kennen lernen: so beruhen alle schöne Künste und Wissenschaften, so wohl der Theorie als auch der Ausübung nach, auf der Psychologie.“ 98 Meier baut die von Baumgarten systematisch konturierte, jedoch nicht separat thematisierte Kategorie des felix aestheticus in dem Schlussabschnitt des ersten Teils seiner Ästhetik in umfassender Weise aus (vgl. Meier: AsW I, §§ 213–252, S. 506–602: „Von dem schönen Geiste“) ein Modell, das noch für Eberhard gut dreißig Jahre später verbindlich ist, in der Genieperiode des Sturm und Drang freilich nicht mehr im Rahmen einer anthropologisch-ästhetischen Theorie des schön „Denkenden“, sondern als ästhetische Theorie der anthropologischen Dispositionen des Genies (vgl. Eberhard, Theorie der schönen Wissenschaften ²1786, §§ 107–114, S. 137–148 (Fünfter Abschnitt: Von dem ästhetischen Genie). 99 Auf Baumgartens Begriffskopplung pathologia aesthetica nimmt Meier bereits in seiner philosophischen Hauptschrift zur Theorie der menschlichen Affekte Bezug unter dem eindeutschenden Titel einer „Aesthetische[n] [...] Lehre von den Gemüthsbewegungen“ (vgl. ders.: LGÜ, Einleitung, § 6, S. 7). Baumgartens thematisch analogen Paragraphen in der Metaphysica ebenso verpflichtet ist Meiers programmatische Adaption des Pathologie-Begriffs für die ästhetische Theorie in seiner systematischen Ästhetik unter dem Titel der „ästhetische[n] Pathologie (pathologia aesthetica)“, vgl. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Zweiter Theil. Halle 1749 [Sigle: AsW II], S. 421. 100 Von gelegentlichen Hinweisen abgesehen, kann mit Bezug auf die älteren Forschungsbeiträge zu Meier als Ästhetiker nicht davon gesprochen werden, dass sein Beitrag zum Verständnis der affektiv-emotionalen Grundlagen des Ästhetischen in einer gebührenden Weise (unter interdisziplinärer Einbeziehung der affekttheoretischen Texte) in den Blick genommen wurde, auch wenn Meiers neue theoretische Aufgeschlossenheit für die Sphäre der Emotionalität und des
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Ästhetische Theorie also als Konzept einer an der Affektivität und Emotionalität, am Begehrensmoment der Wahrnehmung orientierten Rehabilitation der Sinnlichkeit Meier, der zeitlebens konsequente Repräsentant des schulphilosophischen Rationalismus und erster Theoretiker eines lebenswissenschaftlich orientierten Modells der Philosophie als Weltweisheit101 hat keinen Zweifel daran gelassen, dass die theoriegeschichtlich von Baumgarten initiierte Aufwertung der Aisthesis primär nicht der ästhetischen Subjektivität als solcher, der selbstzweckhaften Lust am Schönen (im „Lebensgefühl“) huldigen sollte, sondern den exponierten Bestandteil eines epistemologisch ausgerichteten und um den Vollkommenheitsgedanken zentrierten Wissenschaftsprogramms bildete.102 Das Ziel der Ästhetik als, so Meiers synonyme Titulierung, Theorie des „schönen Denkens“, liegt in der Vervollkommnung der Erkenntnisvermögen, in der Aus- und Verbesserung „alle[r] unsere[r] sinlichen Kräfte der Seele“, die der Funktion der „grössern Ausbesserung unserer gantzen Erkentnis“ untergeordnet sind.103 Hat Meiers ästhetische Anthropologie ihr begründungstheoretisches Zentrum entsprechend in dem Korrekturbedürfnis einer intellektualistisch vereinseitigten Rationalität,104 im Rückgang auf
Begehrens seit Bergmann immer wieder hervorgehoben wurde (vgl. Bergmann: Begründung der deutschen Ästhetik, S. 166ff.; Hans Böhm: Das Schönheitsproblem bei G. F. Meier, in: Archiv für die gesamte Psychologie 56 (1926), S.177–252, S. 198ff.; Ferdinand Wiebecke: Die Poetik Georg Friedrich Meiers. Ein Beitrag zur Geschichte der Dichtungstheorie im 18. Jahrhundert. Göttingen 1965). Hingegen hat die Aufmerksamkeit der neueren Aufklärungsforschung auf die anthropologiegeschichtlichen Entstehungskontexte ästhetischer Kategorien wie Einbildungskraft und Geschmack (vgl. Dürbeck. Einbildungskraft; Wilhelm Amann: „Die stille Arbeit des Geschmacks“. Die Kategorie des Geschmacks in der Ästhetik Schillers und in den Debatten der Aufklärung. Würzburg 1999) auch in der Begriffsgeschichte des Ästhetischen das Suchfeld bezüglich anthropologischer Begründungsmuster in der ästhetischen Theorie des 18. Jahrhunderts offenkundig beträchtlich erweitert. So berücksichtigt Kliche in seinem begriffsgeschichtlichen Abriss „ästhetischer Pathologie“ nicht nur die gängige Einflusslinie der Rhetorik für die Herausbildung eines affektgrundierten Ästhetikverständnisses, sondern auch den humoralpathologischen und affekttheoretischen Entstehungskontext um die Mitte des 18. Jahrhunderts (vgl. Kliche: Ästhetische Pathologie, S. 197–229). 101 Vgl. Georg Friedrich Meier: Abbildung eines wahren Weltweisen. Halle 1745, §§ 3ff., S. 16ff. Zu der neueren Bewertung Meiers als Wegbereiter der spätaufklärerischen Popularphilosophie und deren Repräsentant avant la lettre vgl. Böhr: Philosophie für die Welt, S. 50ff. 102 Kant: KdU, § 1, S. 115. Hier liegt eine der Basisdifferenzen zwischen Aufklärungsästhetik und Ästhetik der Moderne. Erst letzterer gilt als unhintergehbar, dass „die reale ästhetische Lust am Schönen [...] immer nur Lust und nichts als Lust [ist].“ (vgl. Eduard von Hartmann: System der Philosophie im Grundriß. Bd. 8: Grundriß der Ästhetik. Bad Sachsa 1909, S. 22). 103 Vgl. Meier: AsW I, Einleitung, §§ 1–22, S. 1–37, hier § 15, S. 24, § 18, S. 30. 104 Vgl. ebd., § 15, S. 25: „Die schönen Wissenschaften [die Ästhetik, E.S.] beleben den ganzen Menschen. Sie hindern die Gelehrsamkeit nicht, sondern machen sie menschlicher. Sie durchweichen das Herz, und machen den Geist beugsamer, gelenker und reitzender. Ein Gelehrter wird dadurch artig [...].“ Es ist theoriegeschichtlich aufschlussreich, dass Meier die solchermaßen anthropologische Fundierung der ästhetischen Theorie durch den Verweis auf die antike Dichtung zu legitimieren sucht: „Die schöne Wissenschaft [...] / Erweicht die harte Brust, das rauhe Wesen flieht“ (Ovid). Vgl. ebd., Übersetzung Meiers.
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den fundus animae105 so ist ungeachtet dessen deren leitender Impetus an die Vervollkommnungsansprüche der logisch-begrifflichen Rationalität zurückgebunden: „Die Aesthetick räumt den Kopf auf, und sie macht die Wege eben, worauf die Wahrheit [Hervorh. E.S.] in die Seele ihren Einzug halten kann.“106 Dass Meiers Rückgriff auf Leibnizsche wie Wolffsche Systematisierungsleistungen im Theoriefeld von Psychologie und Ästhetik gleichwohl alles andere als Ausdruck regressiver Tendenzen bzw. der unselbständigen Abhängigkeit des Popularphilosophen vom schulphilosophischen Rationalismus ist, sondern im Gegenteil: Ausdruck einer offensiven Affirmation der zeitgenössischen Ansätze zu einer Empirisierung der traditionellen Metaphysik, dokumentiert sich sachlich am entschiedensten in seiner dezidiert anthropologischen Positionierung der ästhetisch relevanten Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen: Keineswegs durch das Erkenntnisvermögen der menschlichen Seele allein, sondern paritätisch durch „ihre ander[e] Helfte“, den „Inbegriff aller ihrer Begehrungsvermögen“,107 wird der Gesamtumfang des ästhetisch relevanten Erfahrungsbereichs konstituiert. Noch Meiers – gelegentlich bereits fühlbar emotionalistisch geprägtes Vokabularium in der ästhetischen Theorie108 steht darüber hinaus für Psychologisierungstendenzen 105
Aus den dunklen Vorstellungen und den dazugehörigen aktiven Konstitutionsleistungen der vis repraesentativa, nicht aus der empirischen Sinnennatur des Menschen, leitet Meier im Anschluss an den genetischen Erkenntnisbegriff Leibniz’ den Bestimmungsgrund aller psychischen Aktivität ab: „Die dunckeln Vorstellungen machen den Grund der Seele aus, sie sind das Chaos, welches die Seele bearbeitet, und daraus, die klaren Begriffe und Bilder von dieser Welt, in sich durch eine Art der Schöpffung hervorbringet.“ (vgl. Meier: LGÜ , § 49, S. 56f.). Zum theoriegeschichtlichen Kontext vgl. grundlegend Hans Adler: Fundus Animae – der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung, in: DVjs 62 (1988), S. 197– 220. 106 Vgl. Meier: AsW I, § 15, S. 27. Meiers anthropologische Bewertung der Aisthesis geht gleichermaßen von der Notwendigkeit wie von der der Möglichkeit ihrer Verbesserung aus, was besagt, dass nur im verbesserten Zustand der sinnlichen Kräfte sich die Korrektivfunktion gegenüber dem Rationalen ergibt. Vgl. ebd., § 15, S. 26f.: „Man thue noch hinzu, dass die verwilderten sinnlichen Kräfte der Seele, den höhern Wissenschaften, gewaltige Hindernisse in den Weg legen. Der Verstand ist zu schwach, diesen Rebellen mit Nachdruck zu widerstehen, er mus der Gewalt des Pöbels in der Seele weichen, und ein Kopf, der ein unvolkommene untere Erkentniskraft besitzt, kann von der Wahrheit gar nicht überredet werden.“ 107 Vgl. Meier: Metaphysik [Dritter Teil], § 647, S. 279. Meier löst die ambivalente Platzierung des Schönheitsbegriffs in der Baumgartenschen Metaphysik und Ästhetik auf, indem er sie unter Anschluss an Wolffs Zuordnung in der Erfahrungspsychologie (vgl. Christian Wolff: Psychologia empirica, methodo scientifica pertractata. Hildesheim u.a. 1968 [Nachdruck der Ausg. Frankfurt/M. 21738], §§ 543–546, S. 420–421) wieder als eindeutigen Gegenstandsbereich der oberen und unteren Begehrungsvermögen der menschlichen Seele, im Zustandsmodus ihrer Lust- und Unlustempfindungen, ausweist (vgl. ebd., Von dem Vergnügen und Mißvergnügen, §§ 651–660, S. 286–301, hier § 659, S. 299f.). 108 Meier setzt erstmals innerhalb der philosophischen Ästhetik den Terminus der ästhetischen „Rührung“ respektive der „rührenden Erkenntnis“ als begriffliches Komplement des ästhetischen Erkenntnisideals der „lebendigen Erkenntnis“ ein (vgl. unten, Abschnitt 2.1.2.). Darin dokumentiert sich nicht allein sein gegenüber Baumgarten deutlicher artikuliertes Anschlussbedürfnis an die Psychologisierungstendenzen des zeitgenössischen Geschmacks- und
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im Geist der einsetzenden Rührungsästhetik der deutschen Spätaufklärung und mithin für die theoretische Progression jener anthropologisch verfassten Ästhetik, die den kognitiven und appetitiv-voluntativen Potenzen der menschlichen Seele in gleicher Weise Rechnung zu tragen sucht. Es ist eben dieser Versuch, das Begriffsverständnis des Ästhetischen auf die Bezugnahme zur Vermögensebene des Begehrens zu verpflichten, der Meiers ästhetische Theorie relevant für den hier verfolgten Problemzusammenhang von anthropologischer und ästhetischer Reflexion macht. Die beachtliche theoriegeschichtliche Kontinuität, mit der Meier von seinen frühesten Schriften an im interdisziplinären Zusammenspiel von erkenntnistheoretischer Psychologie, philosophischer Ästhetik und Affekttheorie diesen Begründungsansatz verfolgt und geltend macht, bildet im folgenden den Anlass, seiner ästhetischen Theorie mit gebührendem Interesse für die theoriegeschichtlich relevanten Alternativakzente genauer nachzugehen. 2.1 Philosophische Psychologie und Affektästhetik in der Theoretischen Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (1744)109 Meiers früher Theorie der menschlichen Affekte kommt im Zusammenhang der hier verfolgten Fragestellungen unter historischen wie systematischen Gesichtspunkten Bedeutung zu. Sie veranschaulicht nicht nur, welchen Grad der anthropologischen Schätzung menschlicher Leidenschaften die philosophische Reflexion der menschlichen Sinnlichkeit im Spannungsfeld von schulphilosophisch-rationalistischer Begrifflichkeit und erfahrungswissenschaftlicher Öffnung des Wissenschaftsdiskurses zwischen mittlerer und später Aufklärung erreicht. Meiers Theorie der Leidenschaften, das erste historische Dokument einer systematischen Korrelation von Affektphilosophie und Ästhetikdiskurs, philosophisch-psychologischer
Psychologiediskurses, sondern vielmehr zugleich eine symptomatische Identität von logischem und ästhetischem Gebrauch des Empfindungs- bzw. Gefühlsbegriffs, die sich durch seine gesamten Schriften verfolgen lässt, vgl. etwa Meier, Metaphysik [Dritter Teil], § 659, S. 299: „[...] Man nennt eine Vollkommenheit nicht eher schön, bis man sie nicht sinnlich sich vorstelt [sic!], und eine verworrene innerliche Empfindung [Hervorh. E.S.] davon hat.“; ders.: LGÜ, § 42, S. 49: „Das Gefühl entscheidet hier [anstelle eines unumstößlichen Beweises, E.S.] die Sache am besten [...]“. 109 Es spricht für die Reputation der schulphilosophischen Affekttheorie bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein (Meier hatte die erste Ausgabe seiner philosophischen Gemütstheorie bezeichnenderweise seinem Lehrer und „Hochgeneigte[n] Gönner!“ Christian Wolff dediziert, vgl. ebd., Widmungsblatt und Dedikationsschreiben, unpag.), dass eine zweite, stark vermehrte Auflage dieser Schrift noch 1759 erschien. Tatsächlich ist diese Frühschrift Meiers zu den Affekten noch im erfahrungsseelenkundlich orientierten Seelendiskurs der Anthropologie der späten Aufklärung in Deutschland breit rezipiert worden, wie etwa das späte Beispiel des Halleschen Nachfolgers auf dem Philosophielehrstuhl Eberhards, J. G. E. Maass, belegt (Johann Gebhard Ehrenreich Maass: Versuch über die Leidenschaften. Theoretisch und practisch. Erster oder allgemeiner Theil. Halle, Leipzig 1805, S. 34).
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und ästhetischer Pathologie,110 demonstriert zugleich die theoretischen Anschlussbedürfnisse der frühen philosophischen Ästhetik an die Anthropologie der menschlichen Sinnennatur. Beide aufeinander verweisenden Bedeutungsstränge, der anthropologische und der ästhetische, bleiben eingehender zu verfolgen, sollen die im Nachfolgenden problematisierten Verschiebungen in der ästhetischen Bewertung der Affektsphäre auch von anthropologiegeschichtlicher Warte aus fassbar werden.111 2.1.1 Zwischen Erkennen und Begehren. Meiers Anthropologie der Leidenschaften Aufwertung der Leidenschaften als Äußerungsform des Begehrungsvermögens der menschlichen Seele, und die Zurückbindung der Affekte an die subjektiven Voll-
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Ganz analog zu Baumgartens systematischem Grundriss einer Pathologia (vgl. ders.: MPa, § 678, S. 141) gliedert Meier den „theoretische[n] Theil der Lehre von den Gemüthsbewegungen“ in a) den „Psychologische[n]“ Teil – als „Wissenschaft der Theorie der Leidenschaften“, ihres „Wesen[s]“ und ihrer „Eigenschaften“ – sowie in b) die „Aesthetische“ Pathologie – als „Wissenschaft der Gemüthsbewegungen, in Absicht auf den sinnlichen Vortrag“, vgl. Meier: LGÜ, §§ 6–7, S. 6–8, hier S. 7, S. 8. Beide Teile deklariert Meier in der Folge explizit als Untersuchungsgegenstand seiner Abhandlung (vgl. ebd., § 10, S. 10–12). Psychologische und ästhetische Affekttheorie sind darüber hinaus, so bleibt festzuhalten, als empirisch gestützte Wissenschaftszweige ausgewiesen (Beobachtungswissen „durch die Erfahrung“, vgl. § 6, S. 7), und sowohl vom medizinischen Verständnis (Pathologie als Leidens-Lehre) abgegrenzt wie von der „practischen Lehre von den Gemüthsbewegungen“, die „die Leidenschaften der Vernunft [unterwirft]“ – vgl. ebd., § 5, S. 5–6, hier S. 6. Meiers, nicht zufällig in seiner systematischen Ästhetik geäußerten Verweis auf seine Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen insonderheit darf man im übrigen als sehr ernstgemeinte Absichtserklärung nehmen, die Theorie der Leidenschaften vollständig, d.h. auch unter dem Gesichtspunkt aller „besondern Arten der Leidenschaften“ abzuhandeln und für die ästhetische Theorie fruchtbar zu machen ein Vorhaben, das bekanntlich unausgeführt blieb (vgl. Meier: AsW I, § 193, S. 461). 111 Ansätze in dieser Richtung sind in der neueren Forschungsliteratur im Kreuzungsbereich von Anthropologie und Ästhetik zu erkennen und verdeutlichen im Übrigen einmal mehr, dass Meiers vielfältige Einmischungen in den philosophisch-systematischen und den erfahrungswissenschaftlichen Wissenschaftsdiskurs seiner Zeit jenseits der Frage nach der Originalität bzw. Unselbständigkeit seines Denkens ernst genommen werden müssen und als aufschlussreiche Indikatoren des theoriegeschichtlichen Wandels in der Wissenschaftslandschaft um die Mitte des 18. Jahrhunderts gelten können. Während Dürbecks Studie zur Einbildungskraft der Aufklärung Meiers affekttheoretischen Beitrag im Kontext der medizinisch-philosophischen Pathologie (E. A. Nicolai) rekontextualisiert und die Theoretische Lehre auf Muster zur vernünftigen Konditionierung der Affektsphäre qua Einbildung hin untersucht (vgl. Dürbeck: Einbildungskraft, S. 129ff., S. 184ff.), wurde Meiers Theoretische Lehre in einer Studie zum anthropologisch-ästhetischen Rührungsbegriff der Aufklärung jüngst unter Auswertung der ästhetischanthropologischen Leitmetaphorik als Beitrag zu einer (Leibnizianisch geprägten) Theorie der Kraft und der Prägnanz thematisiert (vgl. Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung, S. 209–220). Auch Kliches Studie zum Pathologiebegriff des 18. Jahrhunderts rekonstruiert die Meiersche Affekttheorie aus dezidiert disziplinübergreifender Perspektive und macht im Ergebnis einmal mehr deutlich, aus welcher Vielzahl heterogener Theorieensembles der wissenschaftliche Diskurs der ästhetisch relevanten Sinnlichkeit zwischen anthropologischer, affektrhetorischer, medizinisch-pathologischer und physiologischer Reflexion seine Impulse empfängt (vgl. Kliche: Ästhetische Pathologie, S. 197–229).
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zugsleistungen der menschlichen Seele, ihre Vorstellungskraft, auf diese beiden Grundbestimmungen lässt sich Meiers Hauptstoßrichtung in seiner philosophischen Theorie der menschlichen Affektnatur bringen. Denn mit dem vorstellungstheoretischen Ansatz Wolffs und Baumgartens, und gegen Descartes’ physiologischen Ansatz, unternimmt Meier den Versuch, die Affekte erfahrungswissenschaftlich als empirische „Gemüthsbewegungen in dem Menschen“ aufzufassen und zu beschreiben, um sie als wesentlichen Bestandteil der menschlichen Sinnennatur zugleich transempirisch zu erklären, bzw., so Meier in der Diktion der rationalen Psychologie Wolffs sie „aus gewissen und unumstößlichen Gründen richtig her[zu]leiten“.112 Bringt Meier seine Affektenlehre offenkundig zwar in eine methodologisch begründete Nähe zur empiristischen Erfahrungspsychologie,113 so lässt sowohl der theoriegeschichtliche Ansatz als im besonderen die im weiteren Verlauf der Argumentation kenntlich werdende Separation der leiblichen Vorgänge aus dem seelentheoretischen Untersuchungsansatz das Paradigma einer Anthropologie des Affekts von ‚oben‘ erkennen. Sinnliche Natur ist demnach konzeptualisiert als Modalität der Vorstellungs- und Erkenntniskraft der menschlichen Seele; Vorstellungen bilden die Brücke zwischen Körper und Geist.114 112
Meier: LGÜ, § 3, S. 3. Vgl. Wolff: DM, § 727, S. 453f. („Von dem Wesen der Seele und eines Geistes überhaupt“). 113 Prämissen der empiristischen Erkenntnistheorie sind nicht zu übersehen, wenn es heißt: „Der gantze Begriff von den Gemüthsbewegungen kann aus der Erfahrung hergeleitet werden, und ich hab nur erst nöthig die Beschaffenheit der Begierden und Verabscheuungen überhaupt zu untersuchen.“ (Meier: LGÜ, § 17, S. 20). Wie für die „Geisterlehre“ (Pneumatologie) der rationalistischen Schulphilosophie gilt auch für Meiers vorstellungstheoretischen Ansatz, dass die leibseelischen Erfahrungstatsachen nicht Substrat der philosophischen Theoriebildung sind, sondern lediglich ihr Legitimationskriterium: „Wir haben es, in der Lehre von unser [!] Seele, noch nicht [Hervorh. E.S.] so weit gebracht [...], dass wir alles von derselben beweisen könnten, ohne zur Erfahrung unsere Zuflucht zu nehmen.“ (ebd., § 3, S. 4). 114 Unter Zugrundelegung des Leibnizschen Modells der prästabilierten Harmonie von Leib und Seele (vgl. Leibniz: Prinzipien der Philosophie, § 78, S. 475: „Die Seele folgt ihren eigenen Gesetzen und der Körper ebenso den seinen; und sie treffen sich vermöge der prästabilierten Harmonie zwischen allen Substanzen [...]“) begründet Meier seine folgenreiche Entscheidung, die somatologisch-physiologischen Komponenten der Affekterfahrung auszublenden und der Theorie der Leidenschaften gleichsam ihren Körper zu entziehen. Vgl. Meier: LGÜ, § 18, S. 20f.: „Wer die Natur der Seele aus dem Grunde will kennen lernen, der muß sie erst an sich selbst betrachten, ehe er ihr Verhältniß gegen ihren Körper untersuchen will. Es ist demnach eine Grundregel [...], dass man bey einer jeden Würckung der Seele, dasjenige, was dabey in ihr allein vorgeht, sorgfältig von demjenigen absondern müsse, so mit derselben Würckung in den Körper übereinstimmt.“ Der daran anschließenden Forderung, „des Körpers auf ein paar Augenblicke [zu vergessen]“ (ebd., S. 21), folgt Meier konsequent: Die die Theoretische Lehre beschließende physiologische Betrachtung der Affekte gerät tatsächlich zum Appendix (vgl. ebd., §§ 220–231, S. 390–407). Gemäß des durch Leibniz etablierten Commercium-Modells der prästabilierten Harmonie sind alle körperlichen Vorgänge nicht als Resultat eines physiologisch autonomisierten Funktionsystems zu erklären, sondern als parallel ablaufende extrapsychische Zustandsänderungen: Korrespondenzphänomen der psychischen Aktivitäten der vorstellenden Seele. (Vgl. zum Commerciummodell des psychophysischen Parallelismus Günter Mensching: Vernunft und Selbstbehauptung. Zum Begriff der Seele in der europäischen Aufklärung, in: Gerd Jüttemann, Michael Sonntag, Christian Wulf (Hg.): Die Seele. Ihre Ge-
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Meiers affekttheoretischer Erklärungsansatz definiert die Leidenschaften entsprechend als Intensitätsgröße des vorstellungsvermittelten Begehrens der Seele, als Inbegriff der „dunklen“ respektive „verworrenen“ Repräsentationsleistungen des Psychischen: „Ich sage eine Gemüthsbewegung ist eine heftigere verworrene Begierde oder Verabscheuung. Oder, eine grössere sinnliche Begierde und Verabscheuung, die aus verworrener Erkenntniß entsteht.“115 Bewegt sich Meier bis hierhin nahezu vollständig im begrifflichen Fahrwasser der (Wolff wie Baumgarten gleichermaßen verpflichteten) rationalistischen Sinnlichkeitskonzeption,116 so offerieren seine in der Folge formulierten Anschlussbestimmungen die Impulse für eine anthropologisch und ästhetiktheoretisch motivierte Revision der rationalistischen Konfundierung von Erkennen und Begehren im Vorstellungsbegriff der Seele, und eben hierin dokumentieren sich in der Tat innovatorische, anthropologiegeschichtlich symptomatische Züge. Denn die soeben behauptete Identität von Vorstellen und Begehren hebt Meier in der Folge programmatisch wieder auf, indem er die dynamische, integrative und identifikatorische Funktion des Affekts als dessen anthropologische Eigentümlichkeit gegenüber der Vorstellungs- und Erkenntniskraft ausweist. Die „Erkenntnißkraft des Menschen“, so Meier nun mit schichte im Abendland. Weinheim 1991, S. 217–235, bes. S. 223f., sowie, unter ausführlicher Berücksichtigung des Cartesischen Substanzendualismus, Wilhelm Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte. München 1975, S. 32ff.). In seiner zu Beginn seiner philosophischen Laufbahn veröffentlichen Verteidigungsschrift dieser Lehre hatte sich Meier genauer als Vertreter des „Harmonismus“ positioniert, in der vergeblichen Hoffnung, dem kausalistischen Erklärungsmodell des Influxionismus auf philosophischem Wege den Wind aus den Segeln zu nehmen (vgl. Georg Friedrich Meier: Beweis der vorherbestimmten Uebereinstimmung. Halle 1743). Denn die erfahrungswissenschaftlichen Erklärungsansätze etwa aus dem Umkreis der „Halleschen Psychomediziner“ (Krüger, Unzer, Nicolai, Bolten u.a., zum programmatischen Kontext siehe Carsten Zelle (Hg.): Vernünftige Ärzte. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001) etablierten zur selben Zeit Ansätze, die, diametral zur schulphilosophischen Vermögenstheorie des Psychischen, die affektiven Veränderungen der Seele als Resultate eines nach dem Kausalismus zu interpretierenden Wechselwirkungszusammenhangs zwischen Psyche und Physis zu erklären suchten und den somatologischen Prozessabläufen die maßgebliche Rolle in der Ätiologie der Krankheiten einräumten. Auch diesbezüglich ist die bereits oben erwähnte medizinische Pathologie Nicolais exemplarisch, gemäß der alle affekt-pathologischen Veränderungen des Psychischen aus der „lebendige[n] Kraft des Menschen oder des lebendigen Körpers“ herzuleiten sind (Nicolai: Pathologie oder Wissenschaft von Krankheiten, § 4, S. 22). 115 Meier: LGÜ, § 27, S. 30. Vgl. § 25, S. 28: Wolffs vorstellungstheoretischer Typologie der sinnlichen Begierde folgend (vgl. Wolff: DM, §§ 434ff., S. 266ff.), definiert Meier die „drey Arten der Begierden, und Verabscheuungen. Die ersten entstehen aus bloß dunckeler Erkenntniß. Die andern aus verworrenen, und also zugleich aus dunckeln Vorstellungen. [...] Die beyden ersten zusammen genommen heißen sinnliche Begierden und Verabscheuungen.“ 116 Auch in der philosophischen Erklärung des Affekts folgt Meier Wolffs Erfahrungspsychologie (vgl. Wolff: DM, §§ 439ff., S. 269ff.; vgl. auch ders.: Psychologia empirica, § 603), klammert jedoch den von Wolff als Zusatzbestimmung der vorstellungstheoretischen Affektdeduktion eingeführten Sachverhalt der „ausserordentlichen Bewegung des Geblütes, und sonderlich der flüßigen Materie in den Nerven“ (vgl. Wolff: DM, § 444, S. 271; vgl. auch § 882, S. 547) zunächst konsequent aus.
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dezidiertem Rekurs auf „Rede- und Dichtkunst“ und damit auf eine ästhetisch relevante Erfahrungssphäre, soll zur „Ueberredung“ der Rezipienten führen; „die Bewegung [movere, E.S.] aber geht auf die Begehrungskraft des Menschen“117 und – so Meier mit ironischem à part an den Leser – man sage doch, ob die Bewegung118 mehr Ähnlichkeit mit den Vorstellungen besitze, oder nicht vielmehr auf die Begierden selbst verweise: Woher rührt die Wuth der Seele in den Leidenschaften? Wenn diese keine Begierden sind. Eine Seele, die von den Leidenschaften recht ergriffen wird, ist einem gewaltigen Strome ähnliche, der mit einer Heftigkeit einherrauscht, die alles mit sich fortreißt. [...]. Die Seele samlet in den Leidenschaften gleichsam alle ihre Kräfte, sie faßt sie zusammen, und zeigt sich in ihrer gantzen Stärcke.119
Die hier vollzogene anthropologische Anerkennung der affektbestimmten Seele, genauer, ihre Auszeichnung als einer in höchstem Maß integrativen Seelen-Kraft, wird noch bei Sulzer wieder begegnen und bezeichnet einen der theoriegeschichtlich frühesten Einsatzpunkte für eine Emanzipation der affektiv-emotionalen Sinnlichkeit aus dem Paradigma der Repräsentation.120 Für das weitere Verständnis des Meierschen Ansatzes ist indes nicht allein entscheidend, dass der philosophische Pathostheoretiker seinen Affekt gegen die bloß als Erkenntnispotenz gefasste „halbe Seele“121 zur generellen theoriegeschichtlichen Pieke gegen den Cartesischen Physiologismus in der Affekttheorie dramatisiert,122 sondern Descartes’ Erklärungsmodell für den Leib-Seele-Zusammenhang qua neuronaler Aktivität, Lebensgeister- und Blutzirkulation darüber hinaus auch zum Anlass nimmt, die Leibniz-Wolffsche Prämisse von der Seele als aktiver Grundkraft (vis activa)123 zu 117 118
Meier: LGÜ, § 30, S.33f. Die im zitierten Beispiel gut zu identifizierende (rhetorisch-anthropologische) Doppelverwendung des Terminus der Bewegung ist Meiers originelle Zusammenführung zeitgenössisch parallel bestehender Verwendungsweisen. Meier selbst verweist auf Descartes’ Affektdefinition als „perceptiones aut sensus aut commotiones“ (vgl. Descartes: Tr, § 27, S. 47: „[...] des perceptions, ou des sentimens, ou des émotions de l’âme“). 119 Meier: LGÜ, § 29, S. 33. 120 Zu Sulzer vgl. oben, Kap. VI. Zu den Grundbestimmungen des Repräsentationsmodells vgl. erhellend David E. Wellbery: Lessing’s „Laocoon“. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge 1984. 121 Meier: LGÜ, § 31, S. 36. 122 Im Unterschied zu Descartes ergeben sich Meiers positive Akzentuierungen der gemütsumfassenden bzw. -ergreifenden Wirkungen der Leidenschaften (auf der Basis des psychophysischen Parallelismus) gerade nicht aufgrund der affizierten Sinnlichkeit, des erregten Temperaments und Geblüts, sondern, so ja die metaphysisch-erkenntnistheoretische Prämisse der Theoretischen Lehre, aufgrund der intensivierten Beschäftigung von Erkenntnis- und Begehrungskraft: „In den Leidenschaften ist, bey nahe die gantze untere Begehrungskraft in Bewegung, und die soll [!] doch immer den Würckungen der ersten [Erkenntniskraft, E.S.] gleich sein.“ (vgl. Meier, LGÜ, § 66, S. 80). 123 Wolffs Begriff der Grundkraft der Seele als einer „einigen würckenden Kraft“ (vgl. Wolff: DM, § 747, S. 466) geht zurück auf Leibniz’ Grundbestimmungen des inneren Prinzips der Seele, das durch die Dynamik einer von Vorstellung zu Vorstellung übergehenden Appetenz (der Monaden) gekennzeichnet ist (vgl. Leibniz: Prinzipien der Philosophie, § 15, S. 445).
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revitalisieren und, damit ineins, seinen soeben formulierten begehrungstheoretischen Ansatzes in gewichtiger Weise wieder abzuschwächen. Affekterfahrung nämlich, so Meier sachlich gegen Descartes124 und mit Leibniz,125 ist nicht Leiden, sondern Handeln der Seele, und daher, so Meier am Ende einer weitläufig geführten Argumentation, ist jede Leidenschaft zwar an die Dynamis des (selbstbezüglichen) Begehrens gebunden, ursächlich jedoch ein vorstellungskonstituiertes Erkennen, das dem Paradigma der rationalistischen Repräsentation unterliegt.126 Durch die genetische Fundamentierung der Begierde im Vorstellungsbegriff, ja die Parallelisierung der Wirkungsstrukturen von Affekt und Erkenntnis („die Leidenschaften [sind] allezeit der Erkenntniß gleich“),127 werden die Leidenschaften zwar als Gegenbegriff des diskursiven Erkennens etabliert,128 nicht jedoch als das anthropologisch und psychologisch besehen Andere des Vernünftigen, Begrifflichen. Den verderbten Affekt, so Meier, heilt demgemäß allenfalls die bessere Vorstellung.129 So konvergieren letztlich in Meiers Abwehr des Cartesischen Psychophysiologismus in der Affekttheorie (der Sache nach der Widerlegungsversuch der Cartesischen Materialisierung des Psychischen130 und damit ineins: der materialistischen
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Descartes etabliert zwar den Psychophysiologismus als das zentrale Erklärungsprinzip für die affektiv-emotionalen Seelenaktivitäten. Gleichwohl reduziert er das Seelenleben als solches nicht auf den Interaktionszusammenhang neurophysiologischer Prozessabläufe, sondern gesteht der Seele ausdrücklich die Fähigkeit einer intrapsychisch verursachten Selbstaffizierung zu („innere Erregungen [‚emotions intérieures‘], die in der Seele nur durch sie selbst erregt werden“), von der Wohl und Übel in einer grundsätzlichen Weise abhängen (vgl. Descartes: Tr, Art. 147, S. 229f.). 125 Die Bestimmung Leibniz’, die gleichermaßen der erkenntnistheoretischen wie der anthropologischen Abwertung des Erleidens (im Sinn der passio) Vorschub geleistet hat und die noch Eberhard in seiner Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens (1776) zitieren wird, lautet: „Man sagt von dem Geschöpf, dass es nach außen handele, insoweit es Vollkommenheit besitzt, und von einem anderen etwas erleidet, insoweit es unvollkommen ist. So schreibt man Handlung der Monade zu, insoweit sie deutliche, und Leiden, insoweit sie verworrene Perzeptionen hat.“ Leibniz: Prinzipien der Philosophie, § 49, S. 461. 126 Tatsächlich gelangt Meier bereits im zweiten, der Genese der Leidenschaften gewidmeten, Hauptstück seiner Theoretischen Lehre (vgl. ebd., §§ 45–77, S. 52–103) zur Relativierung der begehrungstheoretischen Fundierung des Affekts und im Weiteren zu einem offenkundigen begründungstheoretischen Dilemma, vgl. LGÜ, § 58, S. 69: Die Leidenschaft „muß eine überaus lebhafte, sinnlich gewisse, und grosse anschauende Erkenntniß, einer oder mehrerer Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten, seyn.“ sowie ebd., § 72, S. 91: „Da nun die Leidenschaften Begierden und Verabscheuungen sind und die letztern in Bestimmungen der Kraft bestehen Vorstellungen zu würcken, so müssen die Gemüthsbewegungen, Bestimmungen oder Anstrengungen der Vorstellungskraft der Seele seyn. [...] Es sind demnach alle natürlichen Leidenschaften Würckungen der Vorstellungskraft der Seele.“ 127 Meier: LGÜ § 87, S. 121; vgl. ebd. § 108, S. 160. 128 Ebd., § 90, S. 127: „In den Leidenschaften ruht die gantze obere Erkenntnißkraft, Verstand und Vernunft [...], weil die deutlichen und vernünftigen Vorstellungen von anderer Art sind als diejenigen, die das Gemüth bewegen.“ 129 Vgl. LGÜ, § 87, S. 121. 130 Vgl. zu Meiers Kritik an Descartes’ Körperfundierung des Affekts (sowie der Zirbeldrüsentheorie): LGÜ, § 76, S. 99–101.
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„Physiologisierung der Psychologie“)131 die epistemologischen und sittlichen Autonomieforderungen des Rationalisten mit der Erfahrungserkenntnis des Anthropologen und Ästhetikers.132 Indem Meier das pathetische Moment des Affekts – Dynamik und Bewegung – wieder dem Schema der aktivistischen Repräsentation einpasst, werden die Eigenständigkeitsmerkmale des sinnlichen Begehrens der Sache nach entscheidend nivelliert, ist der Eigensinn von Pathos ebenso sehr von der (‚passiven‘) Leiblichkeit der Sinneserfahrung entfernt wie von einer konsequenten Psychologisierung im Element der objektivierenden Vorstellungstheorie.133 2.1.2 Vom ‚Pathos‘ zur ästhetischen Kompetenz. „Lebendige Erkenntnis“ als affektästhetische Kategorie Vor dem Hintergrund der vorstehend entwickelten Problemkonstellationen erscheint die Frage nach theoriegeschichtlich relevanten Ansätzen zu einer pathosgegründeten, respektive affektpsychologisch fundierten Theorie des Ästhetischen in Meiers früher Affekttheorie wenig aussichtsreich. Dennoch, so die im folgenden zu belegende These, lässt gerade Meiers frühe Affektreflexion die systematischen Ansätze zu einer Identifikation von philosophisch-psychologischer Leidenschaftslehre, rhetorischer Pathostheorie und ästhetischer Wirkungsästhetik erkennen, verweist doch die Suche nach den ästhetiktheoretischen Implikationen der Theoretischen Lehre auf eine theoriegeschichtlich signifikante Korrelation von ästhetischer Erkenntnislehre, affektrhetorischer Psychologie und Lusttheorie des Begehrens im Inkubationsfeld der philosophischen Ästhetik.
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Wolfgang Riedel (vgl. ders.: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung, S. 108) hat diesen Sachverhalt m.E. zutreffend bereits für die naturwissenschaftlich inspirierten Ansätze der „vernünftigen Ärzte“ (C. Zelle) der mittleren Aufklärung (Krüger und Unzer in der Nachfolge Hallers) diagnostiziert ein Befund, der durch die neuere Arbeit Nowitzkis nunmehr auch im Detailzusammenhang des physiologischen Anthropologiediskurses der späten Aufklärung (auf der Zitierlinie Krüger, Unzer, Platner, Wezel) Bestätigung findet (vgl. Nowitzki: Aufklärungsanthropologien). 132 In zugespitzter Formulierung: Meier opfert seinem philosophischen Systematisierungsanspruch den Standpunkt des empirischen Anthropologen, der die Leidenschaften als Äußerungsformen des „thierischen Theil[s] unserer Seele“ (vgl. ebd., § 37, S. 42) wahrnimmt und sie als solche gelten lässt. 133 Meiers Abwehr des (Cartesischen) Erklärungsmodells leib-seelischer Interaktivität zugunsten des Modells der Prästabilierten Harmonie und der mit ihr verbundenen Annahme, dass „die Bewegungen des Körpers die Leidenschaften durch einen idealischen [Hervorh. E.S.] Einfluß des Körpers in die Seele würcken, niemals aber durch einen physischen“ (vgl. LGÜ, § 222, S. 395; vgl. § 33, S. 37f.), wertet in der Tat Descartes zum Vertreter einer empirischen Anthropologie avant la lettre auf und zeigt, wie weit die Anthropologie der frühen Aufklärung noch von dem ‚ganzheitlichen‘ Erfassungsanspruch entfernt ist, der den Impetus der Anthropologie von Spätaufklärung und Frühromantik bildet.
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Die Hinweise für den eigentlich pathologischen Ausgangspunkt seiner Affektenlehre und, damit ineins, die pathologische Aufwertung der ästhetischen Erfassungsleistungen, waren von Meier im Eingang seiner Theoretischen Lehre bereits selbst explizit formuliert worden. Denn der auf einer „genauere[n] Erkenntniß der menschlichen Seele, ja, des gantzen Menschen überhaupt“134 beruhende anthropologische Nutzeffekt der Affekttheorie war von Meier nicht lediglich aus einer polemischen Oppositionshaltung gegen die „auf die gäntzliche Ausrottung“ der Affekte drängenden Leidenschaftsverächter (die modernen „Stoicker“) begründet worden.135 Es sind vielmehr „die oratorische Begeisterung oder Enthusiasmus bey einem Redner, und die poetische Wuth eines Dichters“, die das wahre Potential der menschlichen Affektsphäre freilegen und so allererst auch den tieferen Blick in „die menschliche Natur überhaupt“ erlauben.136 Meiers anthropologische Hochschätzung der Leidenschaften, seine programmatischen Konvergenzbestimmungen von Ästhetik und Pathologie,137 leiten sich ersichtlich aus der Reflexion rhetorischer und poetischer Erfahrungsmuster ab. Sie zielen zugleich auf eine affekttheoretische Fundierung der traditionell in der Rhetorik als beschließendes Element der wirkungsästhetischen persuasio behandelten Theorie von der „Erregung der Affecten“.138 Nimmt Meier diesen im Paradigma der Rhetorik gewonnenen ‚patho134 135 136
Meier: LGÜ, Einleitung, § 12, S. 13f., hier S. 13. Vgl. ebd., § 11, S. 12f., hier S. 12. Vgl. ebd., § 12, S. 13: „[...] Ein Mensch handelt niemals ungezwungener und unverstelter, als wenn er durch eine Gemüthsbewegung begeistert worden. Mitten in der Wuth der Leidenschaften entdecken sich die geheimesten [sic!] Triebfedern und Neigungen der Seele.“ 137 Vgl. ebd., § 7, S. 7f.: „Da nun die Leidenschaften, einen starcken Einfluß auf die sinnliche Erkenntniß, und den Vortrag derselben [d.h. auf die Ästhetik, E.S.] haben; so wird die Aesthetik auch, ihren Theil an der Lehre von den Gemüthsbewegungen mit Recht fodern können.“ Mit seiner allgemeinen Affektenlehre beabsichtigt Meier demnach ganz offenkundig, nicht nur eine weitere Psychologie der Gemütsbewegungen, wie sie von Wolff und Baumgarten geleistet worden war, abzuhandeln. Begründungsziel ist vielmehr eine ästhetische Pathologie, die die von Baumgarten ausgewiesene Lücke im System von Poetik und Rhetorik zu schließen vermag, vgl. ebd., Vorrede (unpag.): „Ich fand, dass die vornehmsten Bücher, in welchen die Rede- und Dichtkunst abgehandelt wird, in dem Capitel noch sehr mangelhaft sind, in welchem von der Bewegung der Gemüther gehandelt werden soll. [...] Und deswegen bin ich bewogen worden, einen Versuch zu thun, ob ich den Lehrern der Rede- und Dichtkunst ein Mittel zeigen könne, wodurch sie ihre Regeln, eine Rede pathetisch zu machen [Hervorh. E.S.], vollständiger und ausführlicher machen können.“ Zu dem, für Meier wie Baumgarten gleichermaßen verbindlichen, antiken rhetorischen Traditionszusammenhang vgl. Wolfgang Bender: Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert: Baumgarten, Meier und Breitinger, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 99 (1980), S. 481–506; zum begründungsgeschichtlichen Zusammenhang von disziplinärer Ästhetik und Affektenlehre in Anknüpfung an die überlieferte Rhetoriktradition vgl. Uwe Möller: Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert. Studien zu Gottsched, Breitinger und G. Fr. Meier. München 1983, S. 83–88. 138 Meier gibt an keiner Stelle seiner Abhandlung einen Hinweis auf Gottsched. Wie der weitere Verlauf der Argumentation kenntlich macht, ist es allerdings Gottscheds Rhetorik, die neben Wolffs und Baumgartens Metaphysik Meiers Hauptreferenzquelle für die Theorie der Affekte darstellt. Gottscheds, erstmals 1729 als Grundriß zu einer Vernunfftmäßigen Redekunst veröffentlichte, ab 1736 zur Ausführlichen Redekunst erweiterte Rhetorik, stellt die umfangreichste Abhandlung zur Beredsamkeit der Aufklärung dar, in der sowohl die antike Rhetoriktradition
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logischen‘ Gesichtspunkt des movere zum ästhetiktheoretischen Ausgangspunkt einer affektrhetorisch fundierten Ästhetik als Theorie des „entflammten“ Begehrens, der „wüthende[n]“ Leidenschaft?139 Was Meier in dem zweiten Hauptstück seiner Theoretischen Lehre: „Wie die Gemüthsbewegungen entstehen“140 entwickelt, lässt sich in der Tat als das Kunststück einer affekttheoretischen Transposition der rationalistischen Vorstellungslehre in eine Theorie des Begehrens nach affektrhetorischem Muster rekonstruieren, mit der das Subjekt nicht mehr nur logisch, d.h. als Kraft der Repräsentation141 bestimmt ist, sondern ästhetisch und wahrnehmungsanalytisch: als eine Instanz, die im Begehren und Verabscheuen durch die lustvolle Wahrnehmung des selbsteigenen Zustands charakterisiert ist. Es bedarf des eingehenderen Nachvollzugs der Meierschen Argumentation, um diese Pointe plausibel zu machen. Konsequent zum skizzierten vorstellungstheoretischen Ansatz in der Affekttheorie (die Fundierung des Begehrens in der Erkenntniskraft der Seele) führt Meier die Genese der Gemütsbewegungen zunächst auf die „vier Hauptvollkommenheiten der Erkenntniß überhaupt“ zurück: Aus der Klarheit, der Lebhaftigkeit, der Gewissheit und der Lebendigkeit der Vorstellungen142 sollen die Gemütsbewegungen erklärt werden.143 Während die ersten drei (Cicero, Quintilian) einschließlich der rhetorischen Affektenlehre des Aristoteles als auch die zeitgenössischen internationalen Texte zur Eloquenz, Rhetorik und Logik (Rapin, Fénelon, Lamy, Bouhours) verarbeitet sind. Insbesondere Gottscheds affekttheoretische Rekurse des elften Hauptstücks unter dem Titel „Von Erregung und Dämpfung der Gemüthsbewegungen, und dem Beschlusse“ kommen dabei als einschlägige Vorlagen für Meiers Argumentation in näheren Betracht (vgl. Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst. Erster, allgemeiner Theil, in: ders.: Ausgewählte Werke, hg. von P. M. Mitchell, Siebenter Band, Erster Teil, bearbeitet von Rosemary Scholl, Berlin, New York 1975 [nach der 5. Aufl., Leipzig 1759], Das IX. Hauptstück. (§§ 1–21, S. 221–256). Zum theoriegeschichtlichen Zusammenhang von Rhetorik und Poetik für die Begründung der Ästhetik bei Meier vgl. ausführlich Möller: Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie, 83ff., 101f. 139 Meiers hier einschlägige Metaphorik (vgl. LGÜ, § 13, S. 14f.: „gewaltige Redner und feurige Dichter“; „erregen und entflammen“; „in Feuer und Flammen setzen“ etc.) weist, in gemütstheoretische Terminologie gebracht, exakt in die Richtung der als „heftigere Begierde“ bestimmten Definition des Affekts (vgl. ebd., § 27, S. 30f.; § 71, S. 87, pass.). 140 Meier: LGÜ §§ 45–77, S. 52–103. 141 Seine zentrale (mit Wolff formulierte und gegen Descartes gerichtete) affekttheoretische Prämisse, wonach die Gemütsbewegungen „keine reellen Leiden, sondern Handlungen der Seele seyn“ (LGÜ, § 45, S. 52), begründet Meier in dieser Passage explizit durch den Rückgriff auf die rationalistische Doktrin der Seele als einer „Kraft [...] sich die Welt nach der Lage ihres Körpers [vorzustellen]“ (vgl. ebd., S. 52). 142 Ebd., § 47, S. 54. 143 Die genannten Distinktionen folgen Baumgartens logischen Kriterien der Gegenstandserkenntnis (vgl. Baumgarten: MPa, § 393, S. 179f.), die der Autor im Begründungskontext der aistetike episteme zum Kriterienkatalog der ästhetischen Erkenntnis transponieren wird (vgl. Baumgarten, TÄ, § 22, S. 13). Vermutlich gelangt Meier erst im Zuge des Studiums der (zu diesem Zeitpunkt nur als Vorlesungsmanuskript vorhandenen) Aesthetica Baumgartens dazu, die genannten vier Kriterien zu den „sechs Hauptvollkommenheiten“ der ästhetischen Erkenntnis auszubauen (vgl. ders., AsW I, §§ 30–35, S. 48–61).
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Kategorien logisch-ästhetischer Repräsentation von Meier jedoch nur hinsichtlich der Qualität ihrer Zusammensetzung als sinnengeleitete Vorstellungen gekennzeichnet werden (Ausdehnung, Menge, Größe, Gewißheitsgrade etc.)144 und dementsprechend lediglich als (erkenntnisaffine bzw. dem Erkennen analoge) Muster einer gegenständlichen Merkmalsrepräsentation Berücksichtigung finden,145 reintegriert der Philosoph mit der vierten ‚gemütsbewegenden‘ Kategorie dem „Leben der Erkenntniß“ den Vermögensbereich des Begehrens in die Theorie des Affekts.146 Eine Erkenntniß wird lebendig genennet, in so fern sie Begierden und Verabscheuungen verursacht. Wenn sie gar keinen, oder wenigstens unmercklichen Einfluß, in die Begehrungskraft hat, so ist sie todt. Die Leidenschaften sind Begierden und Verabscheuungen. Folglich muß die Erkenntniß, welche Leidenschaften verursachen soll, Begierden und Verabscheuungen würcken, und also lebendig seyn.147
Lebendige Erkenntnis als, so Meier in Vorformulierung eines Grundgedankens seiner systematischen Ästhetik, „wichtigste [...] Eigenschaft in der Lehre von den Leidenschaften“,148 ja als eigentliche Vermittlungskategorie zwischen Vorstellen und Begehren der menschlichen Seele! Tatsächlich löst Meier mit dieser Kategorie nunmehr ein, was von ihm bereits in den einleitenden Paragraphen der Theoretischen Lehre als Konstituens des Begehrens definiert worden war und als das eigentlich psychologische Moment der affektaffinen Wahrnehmungs- und Erkenntnisleistungen der menschlichen Seele gekennzeichnet werden kann. Denn Begehren und Verabscheuen, so hatte Meier hier in Übereinstimmung mit der schulphilosophischen Doktrin definiert, setzen nicht nur die Bezogenheit auf „zukünftige Veränderungen der Seele“ voraus.149 Sie erfordern insbesondere sowohl, „dass die Seele erkennt, sie werde vermögend seyn, dieselbe [Vorstellung, E.S.] durch ihre Bemühung, durch die Anstrengung ihrer Kraft, hervorzubringen“,150 als auch „daß 144 145
Vgl. Meier: LGÜ, §§ 47–53, S. 54–64. Insbesondere die Kategorie der Gewissheit unterstreicht den Logisierungscharakter des Meierschen Ableitungsverfahrens, denn zu allen Begierden wird erfordert, „dass wir uns die Wahrheit des Gegenstandes [!] klar vorstellen.“ (ebd., § 53, S. 63). 146 Meiers konzeptuelle Ausformulierung der von Wolff und Baumgarten grundgelegten Theorie der vita cognitionis setzt also bereits hier ein, am Ursprungsort der Reflexion auf die affektivemotionalen Komponenten der Sinneserfahrung und nicht erst im Kontext der systematischen Überlegungen zur philosophisch-ästhetischen Theorie (vgl. hierzu abweichend Mattenklott, Metaphorologie der Rührung, S. 144ff.). 147 Ebd., § 54, S. 64. 148 Ebd. 149 Ebd., § 20, S. 22, § 54, S. 23: „Alles was die Seele begehrt muß, in so fern sie es begehrt, etwas zukünftiges seyn, so sie vorher sieht.“ Der Vergleich mit der Parallelstelle in Wolffs Erfahrungspsychologie, in der das Begehren über die Einbildungskraft vermittelt wird, zeigt Meiers Bestreben, die appetitiven Vermögen über einen integrativen Seelenbegriff zu konzeptualisieren (vgl. Wolff, DM, § 435, S. 266f.). 150 Ebd., § 22, S. 25, § 23, S. 25. Meiers Betonung gilt in dieser Passage offenkundig weniger denjenigen Kräften der Seele, die jedes Begehren notwendig freisetzt, sondern erstens auf dem Tätigkeitscharakter der vorstellenden Seele, der ihr gleichsam Leben einhaucht, sowie zweitens
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der Seele die begehrte Vorstellung wohlgefallen müsse.“ (Hervorh. E.S.) Nicht der Gegenstandsbezug des Erkennens, so erhellen diese Bestimmungen, sondern 1) Aktivitätscharakter (Dynamisierung),151 2) Selbstbezüglichkeit und 3) Lustcharakter sind demnach die wesentlichen Eigenschaftsmerkmale, die die Wahrnehmungserfahrung der durch das Begehren affizierten Seele charakterisieren – Bestimmungen, die, wie noch ausführlicher zu demonstrieren, im Theoriefeld der psychologischen Ästhetik der späten Aufklärung die zentralen Parameter der ästhetischen Erfahrung bilden werden. Im Rekurs auf eben diese Eigenschaftsbestimmungen nun kann Meier das Proprium der lebendigen Erkenntnis formulieren: „Triebfedern“ zu enthalten, die im Kern auf eine subjektive Zustandserfahrung des Subjekts, die der Lust und Unlust, verweisen: Ich setze [...] zum Grunde, dass wir nichts begehren als was uns gefält, und in so fern es uns gefält [...]. Die Triebfedern des Gemüths sind also, das Gefallen und Mißfallen, die Lust oder Unlust. Eine Erkenntniß also, die Triebfedern enthalten soll, oder welche lebendig seyn soll, muß Lust und Unlust in sich einschliessen. Denn ich halte es für überflüßig darzuthun, dass je grösser die Lust oder Unlust ist, desto grösser das Leben der Erkenntniß sey, und ein solches Leben ist es eben, so zu den Leidenschaften erfodert wird.152
Im Unterschied zu den drei erstgenannten Vorstellungsarten also, die für unterschiedliche Deutlichkeitsgrade repräsentierter Gegenstandsmerkmale stehen, gehört nach Meier somit zum Alleinstellungsmerkmal der lebendigen Erkenntnis, dass sie durch subjektgemäße Vorstellungen konstituiert wird, die sie affizieren, das Wahrgenommene als ein subjektiv Angemessenes und Lustvolles zu begehren. Lebendige Erkenntnis als leidenschaftlich-lustvolle Vorstellung der Seele, damit ist, so die theoretische Pointe des Meierschen Neuansatzes in der anthropologischen Ästhetik gegenüber Baumgarten, das Begehren zwar als Tätigkeitsmodalität der erkennenden (vorstellenden) Seele begriffen, die affektive Erfahrung jedoch – und hier liegen in der Tat die ersten prägnanten Motive vollzugstheoretisch definierter ästhetischer Erfahrung auf der Subjektbezüglichkeit des Begehrens, die sich durch das (logisch verifizierbare) Gelingen ausweist: „Allein die Wahrheit der Vorstellungen, kommt hier in keine Betrachtung. Eine Begierde die mißlingt, bleibt doch eine Begierde, und es gibt Leute, die in ihren Begierden sich niemals selbst einzuholen vermögend sind.“ (ebd., S. 25). Vgl. ebd., § 60, S. 71: Die begehrenden Vorstellungen enthalten den Grund, warum die Seele sich bemüht [Hervorh. E.S.]“, etwas „zu würcken oder zu hintertreiben“. 151 Meiers dynamistische Konzeption des Seelenbegriffs (noch Sulzer wird dieser folgen) ist ein Paradebeispiel für die um die Mitte des 18. Jahrhunderts unternommenen Versuche, den rationalistischen Inbegriff des Seelischen: „Kraft“, als gleichsam seelengemäße Kategorie innerhalb der Erkenntnistheorie zu etablieren auf dem Umweg der Quantifizierung der Vorstellungen. So leitet Meier aus dem quantitativen Gesichtspunkt (dem permanenten, im Begehren gesteigerten Erzeugen „unzälige[r] Vorstellungen in der Kraft der Seele“) den psychischen Qualitätsumschlag ab, „der da erfodert wird, wenn eine gewisse neue Vorstellung in der Seele zur Würcklichkeit gebracht, oder [...] eine Empfindung werden soll“: ihr spezifischer „Schwung, oder Hang“, das für die Erfahrung des Begehrens konstitutive „Neigen der Seele“ (vgl. ebd., §§ 19–20, S. 22f.). 152 Ebd., § 56, S. 66f.
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zugleich ein durch seine vorstellungsdynamischen und subjektbezüglichen Vollzugsmerkmale eigenständig qualifizierter Erfahrungsbereich der menschlichen Seele. Dass das dynamische Moment dieser Konzeption auf Erkenntnis- und Begehrenskraft durchschlägt, letztere dabei auch noch mit den Affekten identifizierend,153 ist – dem skizzierten Ansatz entsprechend nur logisch konsequent für Meier freilich Anlass, den anthropologischen Effekt seiner Theorie schließlich auch noch mit dem subjektivistischen Vollkommenheitsbegriff Descartes zu verklammern: Weil die Seele in den Leidenschaften „bey nahe die gantze untere Erkenntniß- und Begehrungskraft“ in Beschäftigung hält, „empfindet die Seele also, in den Gemüthsbewegungen, die Stärcke ihrer Kräfte, das ist ihre Vollkommenheit.154 Sie muß sich demnach nothwendig über ihre eigene Stärcke vergnügen.“155 2.1.3 Geschmack. Anthropologisch und ästhetisch Lässt Meier am Schluss dieser Passagen seiner Theoretischen Lehre zwar die engeren ästhetiktheoretischen Konsequenzen dieses Ansatzes noch weitgehend offen, indem er den Lustcharakter des Begehrens hier nicht explizit als konstitutives Merkmal der spezifisch ästhetischen Wahrnehmung ausweist, so erhellt doch die unmittelbar darauf folgende Positionierung des ästhetischen Geschmacks als zentralem Organon der affektiven Erfahrung nicht nur die ästhetiktheoretische Stoßrichtung der für die allgemeine Struktur des Affekts systematisierten Merkmale, sondern eine überraschende vermögenstheoretische Pointe. Denn, so Meier nunmehr in deutlicher Abgrenzung vom rhetorischen Begründungsmuster: Ist irgends ein Erkenntnißvermögen zur Erzeugung der Leidenschaften nothwendig, so ist es der Geschmack. Und man kan sagen, dass eine Seele, die gar keinen Geschmack hat, gar keiner Gemüthsbewegung fähig sey. Kan denn eine Leidenschaft ohne Lust und Unlust entstehen? Was ist aber die Lust und Unlust anders, als eine Würckung des Geschmacks? [...] Der Geschmack ist die Quelle des Lebens aller sinnlichen Vorstellungen. [...] [Er] mischt unter alle
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Die spätere, erfahrungswissenschaftlich erweiterte popularphilosophische Ästhetik wird hier, unter Zuhilfenahme des Terminus der „Empfindnisse“, eine grundlegende Differenzierung zwischen starkem (rührendem) und schwachem (sanftem) Affekt herbeiführen. Begehren und Verabscheuen werden „eigentlich nur zur Leidenschaft“, so J. A. Eberhard in seinem Ästhetikkompendium, wenn sie „im höhern Grade stark“ sind. „Um aber auch die geringern zu bezeichnen, bedient man sich des Wortes Empfindungen oder, mit einigen [anderen Autoren, E.S.] Empfindnisse, und verstehet darunter die Art der innern Empfindungen, welche in der lebhaften Vorstellung des Guten und Bösen bestehen.“ (vgl. Johann August Eberhard: Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Zum Gebrauche seiner Vorlesungen. Herausgegeben von Johann August Eberhard [11783]. Dritte verbesserte Auflage. Halle 1790. [Sigle: TSKW], S. 85). 154 Die subjektivierenden, metaphorisch auf die menschliche Vitalität verweisenden Akzente, die Meier hier in die Definition der affektaffinen Emotionen legt, werden ersichtlich, führt man sich Wolffs kognitivistisch orientierte Bestimmung der Vollkommenheit als einer Modalität der „anschauenden Erkäntniß“ vor Augen (vgl. Wolff: DM, § 404, S. 247f.). 155 Meier: LGÜ, § 89, S. 124.
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Vorstellungen, welche die Einbildung, Sinne, Vorhersehen usw. würcken, die Triebfedern und gibt ihnen also die Kräfte das Gemüth zu erschüttern.156
Geschmack als affektrelevantes Erkenntnisvermögen, als katalysatorisches Prinzip der gemütsaffizierenden Wahrnehmungs- und Erfassungstätigkeiten der menschlichen Seele am Übergang von Erkenntnis zu Begehren und mithin als Vermittlungskompetenz zwischen merkmalsbestimmter Gegenstandswahrnehmung und lustbestimmter Subjekterfahrung mit dieser Korrelation der selbstbezüglichen und lustbegleiteten Affekterfahrung mit dem zentralen ästhetischen Wahrnehmungsvermögen des Geschmacks in der Theoretischen Lehre sind theoriegeschichtlich die Grundlagen für eine transdisziplinäre157 Etablierung der affektaffinen Emotionalität im dynamisierten Erkenntnisbegriff gelegt.158 156
Meier: LGÜ, § 65, S. 79f. Der Vergleich des Meierschen (ästhetisch-pathologischen) Vermögenskatalogs mit dem Gottschedschen (rhetorischen) ist aufschlussreich für die Differenzen zwischen ästhetischem und rhetorischem Wirkungs- und Vermittlungsanspruch. Während Gottsched die wichtigsten Seelenkompetenzen des Redners zentral aus der oberen Erkenntnisfakultät der Scharfsinnigkeit ableitet (welcher Einbildungskraft, lebhafter Witz, Gedächtnis und „unerschrockenes Gemüth“ zur Seite stehen sollen, vgl. Gottsched: Ausführliche Redekunst, §§ 8–11, S. 109–112), promoviert Meier den Geschmack als Zentrum der Affektkonstitution ‚von unten‘ her, über die sinnlichen Empfindungen, die Einbildungskraft, die Dichtungskraft sowie den Witz (vgl. LGÜ, §§ 61–64, S. 72–79). 157 Bereits 1751 hatte der zum engeren Kreis der „Hallischen Psychomediziner“ respektive „vernünftigen Ärzte“ gehörende Mediziner Johann Christian Bolten (zu Terminus und Forschungsprogramm vgl. Carsten Zelle: Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie um 1750, in: ders.: Vernünftige Ärzte, S. 5–24) explizit Meiers pathologischen Geschmacksbegriff aufgegriffen, um ihn für sein therapeutisches Konzept der „philosophischen Pathologie“, d.h. der „Wissenschaft derer Gemüthsbewegungen“ fungibel zu machen (vgl. Johann Christian Bolten: Gedancken von psychologischen Curen. Halle 1751, § 50, S. 86). Meiers Definition der ästhetischen Wissenschaft vollständig von ihren schönheitstheoretischen Implikationen loslösend und auf eine Wissenschaft der Gesetze und Regeln der sinnlichen Seelenkräfte restringierend (vgl. ebd., § 32, S. 59f.), erweitert Bolten Meiers pathologischen Ansatz in der Geschmackstheorie zu einem medizinischen Modell der Gemütsheilung durch Geschmacksverbesserung. Stütze man sich nur auf die „ästhetischen Regeln“, so Bolten mit Bezug auf sein Fallbeispiel, einen melancholischen Patienten, d.h. verbessere man nur „vorerst“ dessen Geschmack und gewöhne man den Gemütskranken nur daran, „sich auch die schöne Seite derer Dinge vorzustellen“, so könne man einen Wandel in seiner Gemüthsart herbeiführen. Die geschmacksvermittelten „Triebfedern“, so Bolten in direkter Adaption der Meierschen Vorstellungstheorie, „sind ja die einzigen Triebfedern zu angenehmen Leidenschaften.“ (vgl. ebd., § 43, S. 76). Die diätetische Funktion einer durch ästhetische Regeln geleiteten Einbildungskraft ergibt sich nach Maßgabe dieser Bestimmungen aus der anthropologisch-erkenntnistheoretischen Prämisse, dass von willkürlichen Vorstellungen aus jederzeit ein positiv wirksamer Einfluss auf die physische Natur ausübbar ist, wie Dürbeck im Kontext der philosophischen Pathologiekonzepte um 1750 am Beispiel Nicolais expliziert hat (vgl. Dürbeck: Einbildungskraft, S. 129ff.). 158 Meier sucht mit dieser frühen Geschmacksdefinition offenkundig nicht den Anschluss an die im zeitgenössischen Geschmacksdiskurs (König, Gottsched, Bodmer, Breitinger) etablierte Definition als „unteres Beurteilungsvermögen“ bzw. „Beurteilungskraft“ (vgl. Wilhelm Amann: „Die stille Arbeit des Geschmacks“. Die Kategorie des Geschmacks in der Ästhetik Schillers und in den Debatten der Aufklärung. Würzburg 1999, S. 254ff.), sondern greift die ältere Traditionslinie des metaphorischen Geschmacksbegriffs auf, wonach der Sinn des Geschmacks nicht primär als Erfassungs- und Beurteilungsinstanz ästhetischer und moralischer Gegenstände
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Meiers pathologische Validierung des ästhetischen Geschmacks, so lässt sich zusammenfassen, reiht sich einerseits in den Baumgartenschen Versuch ein, die ästhetischen Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen in der anthropologischen Vollständigkeit von Kognition und Emotion, Erkenntnis- und Begehrungskräften zu konzipieren: Es ist die anthropologische Relevanz der affektiv-emotionalen Erfahrung, sinnengeleitetes Erkennen und Begehren gleichermaßen in Tätigkeit zu halten.159 Und sie bezeugt andererseits zugleich den Versuch einer theoriegeschichtlichen Überbietung des Baumgartenschen Ansatzes durch die Radikalisierung des affektdynamischen Moments der sinnlichen (ästhetischen) Gegenstandswahrnehmung und -Erkenntnis. Indem Lust und Unlust, als die maßgeblichen Konstituenten des Geschmacks, zur Basis eines gleichermaßen anthropologischen wie ästhetischen Erfahrungsmusters erhoben werden, leitet Meier eine (affektanthropologisch motivierte) Revision des epistemologischen Paradigmas der Ästhetik ein, die der Tendenz nach deren Ausrichtung auf die selbstbezüglichen und psychologischen Momente der ästhetisch relevanten Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen implizieren. Meiers noch in der Theoretischen Lehre vorgenommene Identifikation von Affekterfahrung und Vollkommenheitsbewusstsein im gilt, sondern, wie im moralästhetischen Geschmacksbegriffs Gracians, als allgemeine Potenz einer transsensuellen Sensibilität, Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit (vgl. Johann Andreas Fabricius: Philosophische Oratorie, das ist: Vernünftige Anleitung zur gelehrten und galanten Beredsamkeit [...]. Leipzig 1724, S. 9: Der Geschmack ist „ein je ne sais quoi, ein pathetisches wesen, eine glückliche kühnheit, ein ich weiß nicht was.“). Geschmack ist somit für Meier alles andere als identisch mit affektgebundenen Erfahrungs- bzw. Beurteilungsformen, sondern er ist Inbegriff der lebendigen Erkenntnis als Voraussetzung der Gemütsaffizierung, vgl. Meier: LGÜ, § 65, S. 79: „Man nehme alle untere Erkenntnißkräfte der Seele zusammen, man lasse sie sich gantz erschöpfen, sie werden freylich durch ihre vereinigte Macht, eine ungeheure grosse Vorstellung würcken, die aber gantz todt mat ohmächtig [sic !] ist, wenn der Geschmack dabey nicht würcksam gewesen.“ Wenn Meier die hier vorgenommene emphatische Aufwertung des Geschmacks zum Organon der affektiv-ästhetischen Wahrnehmung in seiner systematischen Ästhetik wenig später wieder zurücknehmen wird, so ist darin nicht lediglich eine begründungstheoretische Reserve gegenüber der früheren affekttheoretischen Erhöhung zu erkennen, sondern auch die Absicht, im Rahmen einer auf die sensitive Erkenntnis ausgerichteten Ästhetik den Beurteilungsfunktionen des Geschmacksvermögens stärker Rechnung zu tragen: Geschmack wird zur Befähigung des schönen Geistes, „die Schönheiten der Gedanken zu erreichen“, zur ästhetischen Instanz der „Beurtheilung einer Sache (diiudicatio)“ als „Erkenntniß ihrer Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten“ vgl. Meier: AsW II, §§ 466–479, S. 503–536, hier § 467, S. 504). 159 Wie die von Meier hier entwickelte Anthropologisierung des ästhetischen Geschmacksbegriffs im popularphilosophischen Ästhetikdiskurs des späten 18. Jahrhunderts als Bindeglied zwischen ästhetischer und ethischer Funktion ästhetischer Theorie fungibel gemacht wird, demonstrieren die durchaus programmatischen Konturierungen dieser Kategorie etwa bei J. A. Eberhard. Den Nutzeffekt der Ästhetik als Wissenschaft der „Verbesserung der untern Erkenntnißvermögen“ bezieht der Popularphilosoph ausdrücklich auch auf die Verbesserung der appetitiven respektive voluntativen Vermögen und das heißt letztlich: auf die „Beförderung der Tugend.“ Bildung des Geschmacks, einschließlich des „Genies“, wird zur Voraussetzung, „das Begehrungsvermögen empfindlicher, feiner und richtiger nicht allein für das sittlich Schöne, sondern auch für die Schönheiten der Natur“ zu machen (vgl. Eberhard: TSW II, § 25 „Nutzen der Aesthetik“, S. 32f.)
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vitalistisch konnotierten Terminus der „Stärke“ legt diese Deutung zumindest nahe: Weil in den Leidenschaften „bey nahe der gantze untere Theil der Seele beschäftiget“ ist, empfindet die Seele in den Gemütsbewegungen umso mehr „die Stärcke ihrer Kräfte, das ist ihre Vollkommenheit. Sie muß sich demnach nothwendig über ihre eigene Stärcke vergnügen.“160 2.2 Von der Anthropologie zur Ästhetik des Begehrens. Anthropologische Poesiekonzeption und ästhetische Pathologie Übernimmt Meier den über Wolff und Baumgarten vermittelten vorstellungstheoretischen Erklärungsansatz der Gemütsbewegungen für seine ästhetische Theorie der affektiven Emotionalität, oder gelingt es ihm, über Baumgartens Ansatz hinausgehend, seine frühe Einsicht in die notwendige Affektaffinität ästhetischer Erfahrung für eine psychologisch begründete und wirkungsästhetisch ausgerichtete Konzeption der ästhetischen Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen zu transformieren? Wie steht es in diesem Zusammenhang, um eine einschlägige, bereits von der älteren Ästhetikhistoriographie kontrovers diskutierte Hypothese wieder aufzugreifen, um die theoretischen Voraussetzungen für die „Andeutung einer Ästhetik auf Grund der unteren Begehrungskraft“,161 um die Ansätze also einer theoriegeschichtlich signifikanten Verschiebung von einer ästhetischen Theorie der sinnlichen Erkenntnisleistungen hin zu einer Theorie der ästhetisch vermittelten Emotions- bzw. Affekterregung? 2.2.1 Exkurs: Naturgemäße Poesie. Meiers frühes Konzeptmodell einer Ästhetik der Rührung Meiers gemeinsam mit seinem Freund S. G. Lange verfasstes, von der bisherigen Ästhetikforschung übersehenes, früh formuliertes anthropologisch-ästhetisches Credo, „daß das Wesen der Dichtkunst in unserer Natur gegründet sei“ und die 160
Vgl. Meier: LGÜ, § 89, S. 124. Indifferenz, so wird es Meier wenig später auch in seiner Ästhetik formulieren, ist daher das Kennzeichen des schlechten Geschmacks, dem Vollkommenheits- und Lustgefühl gleichermaßen abgehen: „Alle Gleichgültigkeit gegen eine Sache [...] ist ein Fehler des Geschmacks, weil sie beweiset, dass wir entweder ihre Schönheiten und Häßlichkeiten gar nicht erkennen, oder doch nicht auf eine rührende Art. Wer also bey einer Sache ganz, oder in Absicht auf diese oder jene Schönheit und Häßlichkeit derselben, unempfindlich ist, und weder ein Vergnügen noch einen Verdruß empfindet, der hat einen schlechten Geschmack.“ (Vgl. Meier: AsW, II, § 472, S. 515f.) J. A. Eberhard nimmt 1776 offenkundig auf die oben genannte Erklärung Meiers, ebenfalls mit somatologischer Konnotation, Bezug: die „Stärke“ der Erkenntnis liegt in ihrer Fähigkeit, „die Begehrungskräfte und den Körper in Bewegung [zu] setzen“ (vgl. Johann August Eberhard: Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens. Eine Abhandlung, welche den von der Königl.[ichen] Akademie der Wissenschaften in Berlin auf das Jahr 1776 ausgesetzten Preis erhalten hat. Berlin 1776. [Sigle: ATDE], S. 63). 161 Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik, S. 167.
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Natur dieser poetisch vermittelten Erfahrung auf die Sphäre der „Empfindungen“, der „Affecte“ verweise, bildet für die Beantwortung der skizzierten Fragestellungen in der Tat aufschlussreiche Fingerzeige und dient zugleich dazu, auf die Impulse für die Entwicklung anthropologischer Begründungen ästhetischer Erfahrungen außerhalb bzw. parallel zu den systematischen Theoriebildungen philosophischer Ästhetik in der späten Aufklärung aufmerksam zu machen.162 Der Kern der kurzen Abhandlung enthält, so die hier vertretene These, den Grundriss jener anthropologischen Ästhetik, wie sie im Rahmen des disziplinären und systematischen Diskurses erst im Verlauf des letzten Drittels des 18. Jahrhundert entwickelt werden sollte. Die Poesie ist die Sprache der Leidenschaften und Empfindungen, sie erfordert ein gerührtes Herz und ein bewegtes Blut. Da uns nun die Leidenschaften, die Empfindungen und die Sinlichkeit [!], natürlich sind, so ist selbst das Wesen der Dichtkunst in unserer Natur gegründet. Wir können aus diesem Satz die Gesetze der wahren Dichtkunst am besten herleiten, ja sie müssen daraus hergeholet werden, wenn sie richtig seyn sollen.163
Prägnanter lässt sich das hier entworfene Modell einer anthropologisch-affektaffinen Ästhetik als Konvergenz von naturgemäßer Poesie und ästhetisch kommensurabler Natur des Menschen wohl kaum formulieren. Aus der ästhetischen Prämisse der Affektbezogenheit der Poesie schlussfolgern die Autoren in der Form einer logischen Schlussfigur auf die ästhetische Disposition der menschlichen Sinnennatur und im Anschluss daran, auf die Reziprozität von dynamisch konstituierter ‚Physis‘ („Leidenschaften und Empfindungen“) und ästhetischer Norm. Natur als Begründungsfundament ästhetischer Norm, die Konsequenz, mit der hier argumentiert wird, ist beachtlich und veranschaulicht, wie parallel zum disziplingebundenen Diskurs des Ästhetischen Argumentationsmuster anthropologisch begründeter Ästhetik entstehen und für eine breite Öffentlichkeit popularisiert werden, die ihre Legitimation nicht aus einem metaphysisch begründeten Ver-
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Der gleichnamige Aufsatz ist abgedruckt in der von den beiden Hallischen Freunden und anakreontischen Dichterkollegen S. G. Lange und G. F. Meier zwischen 1751 und 1756 gemeinsam herausgegebenen Moralischen Wochenschrift „Der Mensch“ (Dass das Wesen der Dichtkunst in unserer Natur gegründet sei, in: Der Mensch, eine moralische Wochenschrift. Erster Theil. Halle, 1751. Das 31. Stück, S. 273–279 [Sigle: WDK]). Ungeachtet der nicht durchgängig für Meier typischen Diktion der Abhandlung sowie der nicht eindeutig nachweisbaren Autorschaft Meiers (für den mit „C.6.“ unterzeichneten Text), kann die Autorisierung des Aufsatzes durch Meier in seiner Eigenschaft als Koautor der Wochenschriftenbeiträge als gesichert gelten (vgl. diesbezüglich das Nachwort von Hans-Joachim Kertscher und Günter Schenk in: dies.: Georg Friedrich Meier. Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen. Teil 3. Philosophische Ästhetik – Literaturtheorie – Neue Deutsche Literatur, Halle 2002, S. 221f., S. 228). Indizien für die genannte Vermutung liefert im Besonderen die wiederholte Verwendung des Begriffs der „lebendigen Erkenntnis“, Meiers Schlüsselterminus in seiner knapp drei Jahre zuvor erschienenen Ästhetik. 163 WDK, S. 273.
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ständnis des Vollkommenheits- und Schönheitsbegriffs ziehen, sondern aus dem empirischen Wissen von der menschlichen Natur:164 Wir wollen uns bemühen, die Gesetze des Schönen und der Dichtkunst aus den ersten Triebfedern der Natur, und gleichsam aus dem Eingeweide des Menschen herzuholen. Ich bitte daher die Leser, alles genau zu überlegen, ehe sie etwas tadeln; denn es könte seyn, dass sie selbst die menschliche Natur nicht so genau kenneten.165
Die hier eingeschlagene induktive Ableitungsrichtung ästhetischer Anthropologie bestätigt auch in ihrem weiteren Verlauf, dass der Kern der kurzen Abhandlung auf nicht weniger hinausläuft als auf den programmatischen Versuch, die Umrisse einer emotionalistischen, affektgegründeten Ästhetik zu entwerfen. Die theoretischen Voraussetzungen hierfür liegen, wie nachfolgend in nuce zu rekonstruieren, in einer folgenreichen appetenztheoretischen Dynamisierung des rationalistischen Seelenbegriffs. Abweichend vom schulphilosophisch-rationalistischen Konstitutionsmuster des Psychischen Seele als vis repraesentativa, als tätige Vorstellungskraft – wird in der Abhandlung die Grundform der psychischen Aktivität als Junktim von kognitiver Erfassungsleistung und rezeptiver Wahrnehmungsfähigkeit entwickelt: „Unsere Seele ist mit einem Vermögen und Bestreben ausgerüstet, so viel einzusehen, als möglich ist, und so viel zu empfinden, als ihre Natur zulässet.“166 Im begrifflich-diskursiven Erkennen, so die Verfasser, ist dieses Gleichgewicht zwischen subjektivem Erfassungsvermögen und zu erfassenden Gegenständen realisiert, nicht hingegen im Element der ästhetischen Sinneserfahrung, der Aisthesis, wo die Seele „auf einmal mit zu viel Sachen und Begriffen überhäufet“ wird, und sie „keine Sachen deutlich“ zu erkennen vermag.167 Und an eben diesem Punkt der Erkenntnisüberforderung, so der entscheidende Zusatz der Verfasser, entzündet sich in der Seele ein Zustand der Affektivität, der gleichermaßen das Resultat des Aufbegehrens gegen die intellektuelle Überforderung als auch des Begehrens, einen der Seele gemäßen Zustand zu erreichen bzw. aufrechtzuerhalten, konzipiert wird: 164
Die längere Begründung Meiers für den hier praktizierten begründungstheoretischen Neuzugriff dokumentiert anschaulich, wie wenig eingebürgert ästhetiktheoretische Argumentationen vom empirischen Standpunkt – im Vorfeld der populäreren Breitenwirkung von Erfahrungsseelenlehre und Menschenkunde in der deutschen Spätaufklärung – für das gebildete Wochenschriftenpublikum um 1750 offenkundig noch waren. Der anthropologische Ästhetiker (lediglich auf Baumgartens soeben erschienene Ästhetik verweist mit hoher Wahrscheinlichkeit die Ergänzung im nachfolgenden Zitat) steht in Deutschland um die Mitte des 18. Jahrhunderts noch auf vorgeschobenem Posten: „Wir haben ein Feld vor uns, darinnen noch wenige gearbeitet haben, und wir werden genöthiget, verschiedene Gedanken zu eröfnen, die man wo nicht ganz, doch ziemlich neu nennen kan. Wir schreiben auch diese Abhandlung mit einiger Besorgniß, denn es ist schwer, ihren Inhalt so einzurichten, dass er allen Lesern deutlich und begreiflich werde, und dennoch beständig richtig sey, [...] die Critik eines Kenners und scharfen Kunstrichters aushalten könne.“ (WDK, S. 273f.). 165 Ebd., S. 274. 166 Ebd. 167 Ebd., S. 274f.
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Sobald sich uns nun etwas darstellet, das zu groß für unsere Fähigkeit ist, es auf einmal zu fassen [...] bleibt [die Seele] wegen ihres Feuers168 nicht gleichgültig bey dergleichen Vorstellungen, sondern sie greift sich an, sie strenget ihre Kräfte an, Herr darüber zu werden. Der natürliche Trieb, das Gute zu besitzen, und vor dem Unangenehmen sich zu bewahren, komt hierin der Seele zu Hülfe. Sie wird angereizet, und mit einer heftigen Begierde entzündet, das Gute, oder was sie sich als gut vorstellet, zu geniessen [...].169
Der durch die ästhetische Affizierung verursachte Kompetenzverlust der kognitiv tätigen Seele, so die hier mit erkenntnistheoretischen wie psychologischem Akzent gesetzte theoretische Pointe (mit deutlichem Vorverweischarakter im übrigen auf Sulzers einschlägige Reflexionen zum selben Zeitpunkt), führt nun allerdings genauer besehen nicht in die Aporie eines erkenntnistheoretisch gefassten je ne sais quoi,170 sondern zu einem dynamischen Richtungsumschlag der seelischen Erfassungsleistungen: Vom pathosfreien Gegenstands-Erkennen zum emotional wie affektiv geprägten Seelen-Empfinden: „Die Art und Weise, wie sich unsere Seele hiebey fühlet, machen die verschiedenen Arten der Empfindungen, und die Art und Weise ihrer [...] starken oder schwachen Bestrebungen, daher die Affecten oder Leidenschaften entstehen, aus.“171 Die hiermit geleistete Konzeption der Emotions- und Affektaffinität als konstitutiven Bedingungen der ästhetischen Erfahrung sowie die theoretische Deutung der ästhetischen Sinneserfahrung als selbstreferenzieller („nicht gleichgültig[er]“) Form der subjektiven Wahrnehmungserfahrung mit diesen beiden grundlegenden Erklärungsprinzipien der ästhetischen Sinneserfahrung ist ein Modell formuliert, das die Struktur der ästhetischen Erfassungsleistungen in der Tat von der Seite ihres anthropologisch relevanten Affizierungspotentials erfasst. Wo dem kognitiv ausgerichteten Subjekt „gleichsam seine Truppen entzogen werden“,172 wird eine Dynamik des Begehrens frei, die das Subjekt aus der Gegenstandsorientierung bindet und mit dem selbsteigenen Zustand ihren gleichermaßen aktiv begehrenden wie „geniessen[den]“ (s.o.) Kräften konfrontiert. 168
Hält man die hier verwendete Formel von der Seele, die „wegen ihres Feuers nicht gleichgültig bey dergleichen [nicht adäquaten, E.S.] Vorstellungen“ bleiben kann, mit der bereits genannten Vokabel von „dem Eingeweide des Menschen“ zusammen, tritt der kompilatorische Charakter des Aufsatzes deutlich zu Tage, der rationalistische Vorstellungstheorie und die somatologischen Aspekte der affektgeleiteten Wahrnehmung zusammenzuführen sucht. In Descartes’ Psychophysiologie der Emotionen war „die beständige Wärme in unserem Herzen [...], die eine Art Feuer darstellt“, als „das körperliche Prinzip aller Bewegungen unserer Glieder“ angenommen worden (vgl. Descartes: Tr, Art. 8, S. 15). 169 WDK, S. 274. 170 An die in der französischen „goût“-Theorie entfaltete Reflexion der ästhetischen Erfahrung knüpfen die Autoren hier offenkundig an, gehen zugleich aber über dieselbe hinaus, wenn sie die Erfahrung des ‚ich weiß nicht was‘ letztlich auf eine affektgeladene Kompensationsreaktion der überlasteten Seele hinauslaufen lassen: „Wenn sich der Seele auf einmal mehr vorstellet, als sie übersehen und durchsehen kan, so [...] weiß [sie] nicht recht was das ist, das sie siehet, oder wie es in einzelnen Theilen beschaffen ist: daher hoffet oder fürchtet, verabscheuet oder begehret sie gleichsam ins Gelag hinein.“ Vgl. ebd., S. 275. 171 Ebd., S. 274f. 172 Ebd., S. 275.
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So gehört auch das eine anthropologiegeschichtlich relevante Implikation dieser kurzen Abhandlung zur Eigenart der ästhetisch erzeugten Selbstbezüglichkeit, dass sie nicht nur auf den moralischen Trieb der Selbsterhaltung bzw. Selbstvervollkommnung, sondern auch auf das subjektive Selbstgefühl, genauer: dessen erhöhtes Existenzbewusstsein qua potenzierter Affektivität, positiv zurückwirkt, ein Argument, das noch in der Theorie des Selbstgefühls als Zusammenhang von anthropologischer und ästhetischer Bedeutungsseite der Emotionen verfolgbar ist: Die Selbstliebe, und der Trieb unser [!] Erhaltung, die Begierde, vollkomner [!] zu werden, die uns wesentlich ist, machen, dass alle Dinge, die sich auf uns selbst, auf unsern Nutzen oder Schaden beziehen, unsern Geist erregen [...]. Wir fangen alsdenn an aufzuwachen, und uns selbst zu fühlen [Hervorh. E.S.], und mit den Kräften der Seele zu arbeiten, jeder nach der Beschaffenheit seines Gemüths, und nach der Denkungs- und Empfindungsart, zu welcher er am meisten aufgelegt ist.173
Anthropologie- und ästhetikgeschichtlich gleichermaßen bemerkenswert ist des weiteren, dass die Autoren hier weit im Vorfeld der empfindungspsychologischen Vertiefung der Emotionen als Vermögen nicht nur den Terminus der „Empfindungen“ als Abgrenzungsbegriff zur Sphäre des philosophischen Erkennens bzw. zum Begriff des „Verstand[es]“ verwenden, sondern, wenngleich ohne exzeptionelle Ausweisung als eigenständiger Vermögenskategorie der menschlichen Seele, die Kategorie der „Empfindungskraft“ als Vermögenstitel für affektaffine Emotionen verwenden: „Weil uns die Empfindungskraft natürlich ist, so muß die Art, Empfindungen zu erregen, auch nach den Regeln der Natur eingerichtet seyn.“174 Theoriegeschichtlich bedeutsam freilich, so bleibt abschließend festzuhalten, sind nicht nur die in der Abhandlung dokumentierten Verweise auf die Theorie der lebendigen Erkenntnis,175 sondern ist im besonderen die Tatsache, dass die hier 173 174
WDK, S. 276. Ebd., S. 278. Man beachte, wie der Phänomenbereich der Emotionen hier noch nicht in der gegenüber dem Erkennen und Begehren autonomisierten Empfindungssphäre selber (des Gefühls), sondern im vermögenspsychologischen Doppel der sinnlichen „Kräfte des Geistes [Hervorh. E.S.]“ und der Affekte des Herzens (ebd., S. 276, S. 278) verortet wird. Aus der verstärkten Seelenaktivität resultiere, so die Verfasser, die größere Bewegtheit der Seele, „und daraus entstehet eine lebendige Erkentnis, nemlich eine Erkentnis, die die Kräfte des Geistes in Uebung bringet, und dabey die Seele sich [!] angreift.“ (WDK, S. 276.) Abermals wird die Verschränkung von theoretischer Ästhetik, Affekttheorie und Rhetorik terminologisch kenntlich. Während Meier im Rahmen seiner affekttheoretisch fundierten Vorstellungstheorie in der Theoretischen Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt mit Bezug auf die „Lebhaftigkeit der Erkenntniß“ davon spricht, dass diese „das Gemüth durch die Menge [der vorgestellten Merkmale, E.S.] überhäuffen, und durch unzälig vereinigte Kräfte die Seele angreiffen [muß].“ (vgl. LGÜ, § 48, S. 56), erklärt Gottsched zur Grundvoraussetzung der rhetorischen Überredung, dass der Redner „nothwendig den Verstand und Willen seiner Zuhörer kennen, und auf die gehörige Art anzugreiffen wissen“ müsse (vgl. Gottsched: Ausführliche Redekunst, 2. Hauptstück, § 3, S. 104). 175 Unter ästhetiktheoretischem Gesichtspunkt bleibt die Verwendung des Begriffs der „lebendigen Erkenntnis“ aufschlussreich, mit dem die Verfasser hier den ästhetisch induzierten Nexus
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vorgenommene affekttheoretische Promotion der vis appetitiva zur ästhetischen Modellerfahrung einen pathetischen Poesiebegriff etabliert: Im ästhetischen Paradigma der gesteigerten Affizierung qua Affekt „wenn wir [...] stark beweget und gerührt werden176 erfüllt sich das „innere Wesen der Dichtkunst“, „im Affect, der den Affect erregen kann, in Vorstellungen, die unserer Phantasie lebhafte Bilder eindrücken, und auf das Herz wirken, und Leidenschaften erregen.“177 Anders als im Modell der ästhetischen Kontemplation, wie es Sulzer und andere entwerfen werden, geht die ästhetische Wahrnehmungserfahrung in diesem ‚pathologischen‘ Modell nicht in der ruhigen, emotionsbegleiteten Erfahrung auf, sondern zehrt vom inneren Unruhezustand des Subjekts. Die Fortsetzung der Analysen hat zu zeigen, inwiefern Meier innerhalb seiner systematischen Schriften zur Ästhetik an diese Einsichten anzuschließen vermag. 2.3 „Begehrungskraft“ in ästhetischer Hinsicht: Affekttheoretische Impulse in Meiers Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften (1748/1749) Vielleicht werden sich einige Leser wundern, dass ich in der Aesthetik, einer Wissenschaft, die von der sinnlichen Erkenntniß und dem Vortrage derselben handelt, von der Begehrungskraft reden will. Allein wer da bedenkt, dass zu einem ästhetischen Vortrage, nicht nur ein schöner Geist, sondern auch ein edles Herz erfodert werde, der wird diese Abhandlung vor ganz unentbehrlich halten.178
Vor dem Hintergrund der im vorstehenden Abschnitt rekonstruierten Geltungsbestimmungen der Affektivität sind Meiers im Rahmen seiner systematischen Ästhetik formulierte Unverzichtbarkeitserklärungen der appetitiven Kräfte der Seele wohl alles andere als erstaunlich. Impliziert Meiers leitmotivisch wiederkehrende Formulierung von der Notwendigkeit einer umfassenden „Ausbesserung der Begehrungskraft“179 jedoch, wie nachfolgend mit Bezug auf die leitende Fragestellung der Untersuchung nach dem Begründungszusammenhang von anthropologischer und ästhetischer Reflexion zu erörtern ist, tatsächlich einen theoretisch nachhaltigen appetenztheoretischen Richtungswechsel für die theoretische Differenzierung des Modells einer (affekt-) ästhetischen Erfahrung, oder müssen Meiers einschlägige Bestimmungen vielmehr als extensivierende Beschreibungen bzw. popularisierende Ausformulierungen des anthropologischen Arguments der Baumgartenschen Aesthetica (im Begriff des felix aestheticus) gelesen werden, wonach Kopf und Herz als zusammengehörige Vermögenskompetenzen der menschlichen Seele definiert sind? Die Beantwortung dieser Fragestellung im nachfolgenden
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der Vermögen des Erkennens und Begehrens erklären auch das nicht zuletzt ein nachdrücklicher Hinweis auf Meiers Verfasser- bzw. Koautorenschaft. WDK, S. 277. Ebd., S. 278. Meier: AsW II, § 529, S. 637f. Ebd., S. 638. Vgl. hierzu Meiers analoge Bestimmungen (AsW I, §§ 217, 221, 239).
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Bezug auf das Konzept einer ästhetischen Pathologie stellt einmal mehr Meiers theoriegeschichtliche Ambivalenz zwischen Schülerschaft und Innovationsleistung unter Beweis, indem sie zeigt, dass Meiers Bestimmungen in der systematischen Ästhetik in der Tat Anhaltspunkte für beide Tendenzen bieten.
2.3.1 Vita cognitionis aesthetica. Pathologische Ästhetik als Theorie des „ästhetischen Lebens“ Die empfindliche Lücke im Fragment gebliebenen System der Baumgartenschen „Aesthetica“ die Theorie der „vita cognitionis“ in einer Weise ausgefüllt zu haben, dass mit ihr die systematischen Konturen einer pathologischen Ästhetik kenntlich werden, die bis in die ästhetische Theorie der späten Aufklärung ihre Wirkung nicht verfehlen sollten, muss wohl als Meiers bedeutendstes Verdienst innerhalb der frühen ästhetischen Theoriebildung angesehen werden. Mit der im siebenten Abschnitt seiner Ästhetik formulierten Theorie vom „sinlichen [sic!] Leben der Gedanken“ respektive der „lebendigen Erkentnis“180 schließt sich der Kreis der vielfältigen Bemühungen des Baumgartenschülers, in die Theorie der Aisthesis das Moment der Affektivität, des movere einzuschreiben und als Dynamisierungsgröße für den konzeptuell an der Theorie der sensitiven Erkenntnis, des ästhetischen „Gedankens“ aufgehängten ästhetiktheoretischen Ansatz fungibel zu machen.181 Wie die direkte Gegenüberstellung von Meiers sechs Hauptkriterien der ästhetischen Vollkommenheit der Erkenntnis mit denen Baumgartens deutlich macht, übernimmt Meier in seiner Ästhetik zunächst sowohl den Kernbestand der leitenden Begrifflichkeiten des Baumgartenschen Dispositionsschematas als auch ihre Reihenfolge. Die Erörterung der „Schönheiten der schönen Erkentnis überhaupt“182 180
In den thematisch einschlägigen Abschnitten seiner Ästhetik I) innerhalb der Ausführungen zu den „Schönheiten der sinlichen Erkentnis [sic!] überhaupt“ sowie II) in dem der ausführlichen Erörterung der Kategorie gewidmeten Abschnitt „Von dem sinlichen Leben der Gedanken“ verwendet Meier, synonym zu den bereits genannten Termini, auch den Begriff des „aesthetische[n] Lebens der Erkentnis“, vgl. Meier: AsW I, § 35, S. 59–61 sowie §§ 178–212, S. 420–505, hier S. 420f. 181 Ungeachtet der kallistischen Signierung seiner Ästhetik („schöne Wissenschaft“) und der auf einem Fehlverständnis beruhenden etymologischen Ableitung des Wissenschaftsnamens „Ästhetik“ durch „aisthe ich schmecke“ (vgl. ebd., Einleitung, §§ 1–22, S. 1–37, hier § 2, S. 3) teilt Meiers Ästhetikbegriff eindeutig den epistemologischen Ausgangsgedanken der ästhetischen Theorie seines Lehrers Baumgarten als Wissenschaft der „Regeln des schönen Denkens“, der „schöne[n] Erkentnis [sic!]“ und „der Bezeichnung derselben“ (vgl. ebd., § 4, S. 7; § 40, S. 69, pass.) Zu den Parallelbestimmungen Baumgartens vgl. ders.:, TÄ, § 1, S. 4: In Baumgartens hybrider Begriffsbestimmung des Wissenschaftsnamens der „Ästhetik“ dominieren die epistemologischen Nominalbestimmungen eindeutig die kunsttheoretischen Bestimmungen: „untere Erkenntnislehre“; „Kunst des schönen Denkens“; „Kunst des der Vernunft analogen Denkens“: „Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis“. 182 Vgl. Meier: AsW I, §§ 23–40, S. 38–69.
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muss, so Meier, die folgenden Abschnitte umfassen: „[…] 2) von dem Reichthum der Gedanken; 3) von der Grösse der Gedanken; 4) von der Wahrscheinlichkeit; 5) von der Lebhaftigkeit; 6) von der sinlichen Gewißheit; 7) von dem sinlichen Leben der Erkentnis; 8) von dem schönen Geiste.“183 Neben der Hinzufügung des Abschnitts zum „schönen Geist (bel esprit)“184 als eigenständigem Abschnitt der theoretischen Ästhetik auch das ein Ausdruck für Meiers Hochschätzung des anthropologischen Ansatzes Baumgartens in der Aesthetica185 bietet der augenscheinliche Vergleich, von der Ersetzung der Baumgartenschen Kategorie der claritas (durch „Lebhaftigkeit“) abgesehen, in der Tat zunächst keinen erkennbaren Anhalt für eine affekttheoretische (pathologische) Erweiterung des epistemologisch-ästhetischen Vollkommenheitskatalogs Baumgartens durch Meier. Gleichwohl: Meiers theoretische Bemühungen um eine über Baumgartens Ansätze hinausgehende ästhetiktheoretische Auszeichnung des Begriffs der lebendigen Erkenntnis sind unübersehbar und dokumentieren, wie nachfolgend zu zeigen, eine theoriegeschichtlich folgenreiche Verschiebung in der Hierarchisierung der Vollkommenheitsmerkmale der sinnlichen Erkenntnis. Schönheit im Modus der Affekterregung nämlich, so pointiert Meier die ästhetischen Implikationen seines anthropologischen Ansatzes bereits im einleitenden Paragraphen zur vita cognitionis aesthetica, ist nicht wie im Baumgartenschen Modell der Vollkommenheiten sinnlicher Erkenntnis ästhetisches Bestimmungselement unter anderen, sondern anthropologisch ausgezeichnetes und ästhetisch letztbegründendes Merkmal der schönen Erkenntnis: Denn in der lebendigen Erkentnis ist einmal mehr Mannigfaltigkeit, weil sie eine anschauende Vorstellung des guten und bösen enthält, welche in der todten Erkentnis nicht angetroffen wird; und zum andern eine grössere Uebereinstimmung, weil die Theile derselben, den hinreichenden Grund der Bewegung der Begehrungskraft, enthalten.186 183 184 185
Ebd., § 9, S. 14. Ebd., § 40, S. 68. Meiers umfangreicher Schlussabschnitt seiner Ästhetik „Von dem schönen Geiste“ (vgl. ders.: AsW I, §§ 213–252, S. 506–602) stellt die Ausformulierung des von Baumgarten auf wenige Paragraphen eingeschränkten Leitbildes des „ästhetischen Denkers“ dar (vgl. Baumgarten: TÄ, §§ 28ff., S. 17ff.; §§ 47ff., S. 29ff.). Der Baumgarten-Meiersche Modellbegriff des „schönen Geistes“, de facto eine normative und pragmatisch ausgerichtete Theorie der Kultivierungsmöglichkeiten ästhetischen Denkens, ist als das Gegenstück der natürlichen Ästhetik (‚Aesthetica naturalis‘) anzusehen, die als integrative empirisch-psychologische Anthropologie der ästhetisch relevanten Vermögen die mit der anthropologischen Primärausstattung gegebenen Voraussetzungen des schönen Denkens (‚ästhetisches Naturell‘) benennt. Die Theorie des schönen Geistes, im Rahmen derer es nicht nur um die „Vermögen und die Kräfte eines schönen Geistes“ geht, sondern im besonderen um „die Art, wie dieselben erlangt werden“ bzw. „den Gebrauch der [ästhetischen] Kräfte“, ist somit eigentlich eine Bildungstheorie aller ästhetisch relevanten Vermögen der menschlichen Seele: Anleitung zum praktischen Erwerb „aller der Merkmale oder Prädicate oder Bestimmungen, wodurch jemand geschickt gemacht wird, schön zu denken“ (Meier: AsW I, § 214, S. 507; § 216, S. 510). Vgl. zu den einschlägigen Bestimmungen Baumgartens für die Theorie des Schöngeistes ausführlich Gross: Felix Aestheticus, bes. S. 163ff. 186 AsW I, § 35, S. 59.
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Nicht im Gegensatz zur deutlichen Erkenntnis, so wird hiermit nachdrücklich, sondern im Gegensatz zur „todten“, d.h. der nicht auf die Ebene des Begehrens (der appetitiven und voluntativen Kräfte) übergreifenden Erkenntnis, ist für Meier das „Leben“ der Erkenntnis positioniert. Der anthropologische Komplexitätscharakter derselben: erkenntnisübergreifende Potenz der sinnlichen Affizierung der Seele zu sein, ist die Basis der ästhetiktheoretischen Auszeichnung des „Pathetischen der Erkenntnis“187 zur „allergröste[n] Schönheit der Gedanken“,188 ja, so Meier im gleichsam pathetischen Überbietungsgestus gegenüber Baumgarten, zur „Krone des schönen Denkens“:189 Eine Erkentnis, die nicht lebendig ist, nimt nur die halbe Seele, die Erkentniskraft, ein; die lebendige beschäftiget aber zugleich die Begehrungskraft, die andere Helfte der Seele, und sie erfült demnach das ganze Gemüth. Da sie also viel mehrere Wirkungen hervorzubringen im Stande ist, als die todte, so mus sie ohne Zweifel auch um dieser Ursach willen schöner seyn. Diejenigen schönen Gedanken, welche in einem höhern Grade rühren, sind bewegende oder bewegliche Gedanken (cogitatio movens) und wenn sie in dem Grade bewegen, dass dadurch Leidenschaften entstehen, so sind sie pathetisch (cogitatio pathetica).190
Muten Meiers grundsätzliche Positionierungen der Kategorie des ästhetischen Lebens an dieser Stelle seiner ästhetischen Theorie nicht nur wie eine grundsätzlich angelegte ‚pathologische‘ Revision des von Baumgarten übernommenen metaphysischen Schönheitsbegriffs, sondern auch wie die ästhetisch induzierte Verabsolutierung des Schlussmoments affektrhetorischer Wirkungsstrategien an,191 mit der außerdem handlungstheoretische Einsichten der Popularphilosophie vorweggenommen erscheinen,192 so geben die weiteren Ausführungen doch eindeutig zu erkennen, 187 188 189 190 191
Ebd., § 178, S. 421. Ebd., § 35, S. 60. Ebd., § 178, S. 422. Ebd., § 35, S. 60 u. § 178, S. 421. Die affektiv-emotionale Erregung des Zuhörers, so notiert bereits die Quintiliansche Rhetorik, gehört in den Schlussteil der rhetorischen Rede und verdient diesbezüglich der „krönende Abschluss der Rede“ (Epilog bzw. peroratio) genannt zu werden (vgl. Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Herausgegeben und übersetzt von Helmut Rahn. Erster Teil. Buch I–VI. Darmstadt 1995, S. 666–775, hier S. 697). Neben der pointierenden Wiederholung und Zusammenfassung des jeweils bereits Erörterten („Tatsachen“) nämlich geht es zweitens am Schluss jeder auf Überzeugung zielenden Rede vor allem darum, emotionale Wirkungen („Gefühlswirkungen“) bei den Hörern zu erzeugen und sich als Redner der Mittel bewusst zu werden, „in Erregung zu versetzen“ bzw. „Erregung abzulenken“ (vgl. ebd., S. 675, S. 677: „Der Schlußteil der Rede“). Der Erörterung der allgemeinen Funktionen des Redeschlusses schließt sich folgerichtig eine elaborierte Theorie der pathos- und der ethosSeite affektiv-emotionaler Vermittlungsleistungen der Rede an (vgl. ebd., S. 697–715: „Einteilung und Erregung der Gefühlswirkungen“). 192 Tatsächlich lässt sich in der Meierschen Formel von der ästhetischen Notwendigkeit des rührenden Affekts ein Vorverweis auf die von der Popularphilosophie angestrengten Versuche sehen, die Wissensbestände der rhetorischen ‚Pathologie‘ ästhetisch disponibel und das Affizierungspotential der menschlichen Seele handlungstheoretisch nutzbar zu machen. „Wir werden nämlich sehen“, so Sulzer in einer seiner späten Akademieabhandlungen, „dass die Wahrheit, die man bloß begreift, niemals zum Bewegungsgrunde wird, und dass diejenige, die man
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dass sich mit dem Plädoyer für den Geltungsprimat des ästhetisch „Rührenden“193 weder die „Andeutung einer“ Kants ästhetischer Lust- und Unlusttheorie vorgreifenden „Ästhetik auf Grund der unteren Begehrungskraft“ verbindet,194 noch ohne weiteres von einer „Umgewichtung in der Hierarchie der ästhetisch involvierten Vermögen“ vom Erkennen zum Begehren gesprochen werden kann.195 Meiers Ästhetik der rührenden Erkenntnis, so gilt es hier vielmehr in abbreviatorischer Zusammenschau der weit ausholenden Argumentation zu akzentuieren, nimmt zwar die psychologischen Bestimmungsmomente seiner philosophischen Affekttheorie in die Definition des neuen ästhetischen Rührungsbegriffs mit hinein (Lustcharakter, Zukunftscharakter, Subjektgemäßheit)196 und erhebt damit, über Baumgarten in der Tat hinausgehend, ästhetische Rührung zum Ingredienz der Schönheit der Erkenntnis. Deren ästhetische Dignität leitet er jedoch ausdrücklich nicht allein (psychologisch) aus der subjektiven Wahrnehmungserfahrung der lustgeprägten Rührung her, sondern zugleich (rhetorisch) aus der Überzeugungsfähigkeit zum „festen Entschlusse und Vorsatze“, die durch den affizierenden Gegenstand auf den Rezipienten ausgeübt werden sollen: Es ist, so Meiers leitmotivisch wiederholte Forderung, die „Betrachtung der Sache selbst“,197 ja die „Begierde nach dem Gegenstande“,198 wodurch die ästhetische Wahrnehmungserfahrung der rührenden Erkenntnis bestimmt und somit im doppelten Bestimmungsfeld von Wirkungspsychologie und Vollkommenheitstheorie der sinnlichen Erkenntnis charakterisiert wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich plausibilisieren, weshalb Meier nicht die ästhetische Erregung und Steigerung der Leidenschaften zum Inbegriff seiner Rührungsästhetik erhebt, sondern die Dämpfung des ästhetisch induzierten Affekts zum programmatischen Bestandteil der rührungsästhetischen Pathologie macht. Seine im engeren Sinn affektästhetischen Maximen etwa, dass die ungezügelte Affekterregung als solche dem schönen Denken definitiv abträglich sei, wie Meier mit empfindet, Einfluß in unsre Handlungen hat.“ (Johann Georg Sulzer: Psychologische Betrachtungen über den sittlichen Menschen [1769], in: ders.: Vermischte philosophische Schriften, S. 282–306, hier S. 293). Zu den moralphilosophischen Thematisierungsvarianten des psychologischen und ästhetischen Wissens in der Popularphilosophie der späten Aufklärung (mit Schwerpunkt auf Engel und Garve) vgl. Bachmann-Medick: Ästhetische Ordnung, S. 18ff., S. 39ff. 193 Meier: AsW I, § 178, S. 423. 194 Vgl. Bergmann: Begründung der deutschen Ästhetik, S. 167. 195 Torra-Mattenklotts Befund hinsichtlich des Stellenwerts der Kategorie des ästhetischen Lebens, wonach Meier das Begehren „anstelle von Erkenntnis zur grundlegenden Instanz des wirkungsästhetischen Schönheitsbegriffs“ aufwerte (vgl. Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung, S. 142) markiert zwar prägnant den Innovationsanspruch des Meierschen Ansatzes gegenüber Baumgarten, leistet im Ergebnis jedoch eine theoriegeschichtlich unzutreffende Zuordnung des pathologischen Moments in Meiers ästhetischer Theorie, indem sie dasselbe als einen vermögensautonomen Erfahrungsbereich der Seele modelliert. 196 Vgl. Meier: AsW I, § 180, S. 426. 197 Vgl. ebd., § 181, S. 427, 429, pass. 198 Ebd., § 183, S. 432.
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Bezug auf die „aesthetische Begeisterung“ als einem der Hauptkennzeichen des Schöngeistes formuliert,199 bzw. dass die „zu starke“ Gemütserregung die „richtige Beurtheilung“ hindere200 , sind Hinweise auf eine Begrenzung des pathologischen Moments vom außersubjektiven (objektiven) Gegenstand her. Überlegen ist der in seinen Begehrungskräften erhitzte Dichter dem „kriechenden Ungeziefer des Parnaß“ nicht in erster Linie, weil er die ästhetische Begeisterung „in seinem Körper fühlen“ kann,201 sondern aufgrund jener „aesthetischen Großmuth“, d.h. des festen Vorsatzes, „keine andere Gegenstände, als die schlechthin aesthetisch gros und würdig sind, auf eine proportionirte Art schön zu denken.“202 Die Affekterregung, alles andere als ein Geltungsmoment der subjektiven Gegenstandserfahrung bzw. ästhetischer Selbstzweck (des Genusses), erweist sich somit als eine sich aus dem jeweiligen Gegenstandsverhältnis ergebende und zu rechtfertigende ästhetisch mögliche Weise der Gemütsaffizierung.203 Ungeachtet der Tatsache, so lässt sich zu diesem Problemkomplex zusammenfassen, dass sich in Meiers Theorie der ästhetischen Rührung die affektiven Qualitäten als wirkungsästhetisches Charakteristikum gegenüber dem Erkenntnischarakter der cognitio sensitiva zu verselbständigen scheinen, identifiziert Meier tatsächlich statt in der ästhetischen Lust und der Sinnlichkeit der Leidenschaft in der affektvermittelten Erfassung der ästhetischen Gegenstandseigenschaften den Kern der pathosgegründeten Schönheit und damit das ästhetische Letztkriterium. So bleibt, wie gegenüber dem Befund Mattenklotts festzuhalten ist, für Meier das Begehren zwar das Initialmoment der ästhetischen Erfahrung der Rührung, wird 199
Vgl. ebd., § 244, S. 581f.: „Denn gar zu heftige Leidenschaften übertäuben das Gemüth, und verhindern [Hervorh. E.S.] das schöne Denken.“ 200 Vgl. ebd., § 186, S. 449: „Die gar zu starke Erhitzung des Gemüths hindert die richtige Beurtheilung. Bey kälterm Blute kann man die Sachen viel richtiger und besser beurtheilen.“ Vgl. ebd., § 193, S. 460. 201 Man sieht, dass Meiers (auch in den Anfangsgründen affirmiertes) Modell der prästabilierten Harmonie ihn keinesfalls hindert, den ästhetischen Commerz von Leib und Seele als Wechselwirkungszusammenhang anzuerkennen: In der ästhetischen „Wuth“, so Meier ausdrücklich, „mus der Körper und die Säfte desselben in eine sehr starke Bewegung gerathen“ (vgl. AsW I, § 241, S. 571f.) 202 Ebd. 203 In Meiers eindeutig rührungsästhetischer Schlussfolgerung – „Wer rührend denken will, der mus auch die Leidenschaften in Bewegung setzen, wenn es nöthig ist. Man kan dieses nicht jederzeit fodern, weil die rührenden Gedanken ofte eine viel zu stille Gluth hervorbringen müssen, als dass dadurch das brausende Feuer der Leidenschaften solte entstehen können.“ (ebd., § 193, S. 460 – ist das ästhetische Ideal einer auf gleichmäßige Bewegung (Affizierung) zielenden Ästhetik der Gemütsbewegung zu erkennen, in der das rhetorische Erbe der starken (pathetischen, mitreißenden) Affekterregung (als Voraussetzung affektiv-emotionaler Überredung, vgl. Quintilian, Ausbildung des Redners, S. 699, 707, pass.) unter dem Gesichtspunkt der spezifisch ästhetischen Wirkungsabsichten transformiert ist. Meier entfernt sich damit auf eine eigenständige Weise von Baumgartens frühem Plädoyer für den heftigen Affekt in aestheticis (vgl. Baumgarten: PBBG, § 27, S. 27: Es ist „poetischer, stärkere Affekte zu erregen als weniger heftige“) und weist somit bereits in die Richtung einer ästhetischen Thematisierung des gemäßigten Affekts, welche bislang als Eigenheit der späten Aufklärungsästhetik deklariert wurde (vgl. Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung, S. 137).
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der Geltungsgehalt der affektiven Erfahrung letztlich jedoch am Modell des objektivistischen Schönheitsbegriffs bemessen und legitimiert. Meiers rührungsästhetische Demontage des epistemologischen Paradigmas in der philosophischen Ästhetik ist so besehen Revision als affekttheoretische Progression des Ästhetischen und Affirmation der Vervollkommnungstheorie der sinnlichen Erkenntnis zugleich. 2.3.2 Kontextualisierung des Begehrens: epistemologisch, anthropologisch, ästhetisch Meiers anthropologisch-ästhetische Bewertung des Begehrungsvermögens im Rahmen seiner systematischen Ästhetik, so hat der zweite Rekonstruktionsschritt zum pathologischen Begründungsmoment ästhetischer Theorie nunmehr zu zeigen, liefert grosso modo eine Bestätigung der oben stehend erstellten Befunde: In der Reflexion auf das ästhetische Erkenntnisideal der cognitio sensitiva bleibt der anthropologische Geltungswert der appetitiven Vermögen affirmiert, tritt das im engeren Sinn affekttheoretische Potential des starken Begehrens indessen gegenüber dem ästhetischen Postulat der gemäßigten ästhetischen Rührung zurück. De facto spiegelt Meiers ästhetische Theorie der Appetenz im zweiten Teil seiner ästhetischen Vermögenslehre204 sowohl von der Seite der dispositionellen Ordnung der Begehrungsvermögen im ästhetischen Vermögenskatalog als auch unter dem Gesichtspunkt der quantitativen Gewichtung zunächst lediglich den Baumgartenschen Ansatz in der Aesthetica wider.205 Bereits für Baumgarten, so war zu sehen, gehörte die Berücksichtigung der menschlichen Affektivität (als Vermögensbereich der sinnlichen Leidenschaften und als Sphäre der ästhetischen Gemütsfähigkeiten im Unterschied zu den ästhetischen Potenzen des Intellekts respektive Geistes) zum anthropologischen Komplexitätsanspruch der ästhetischen Theorie als Reflexionsform der menschlichen Sinnlichkeit überhaupt,206 wobei sich 204
Vgl. Meier: AsW II, §§ 253, S. 1; §§ 529–540, S. 637–654 („Die theoretische Aesthetik / Von der Erfindung der Gedanken / Das zweyte Hauptstück. Von dem sinnlichen Vermögen / Der vierzehnte Abschnitt: Von der untern Begehrungskraft“). 205 Analog zu Baumgartens Anordnung der ästhetischen Vermögen (vgl. ders.: TÄ, §§ 28–46, S. 17–29) lässt Meier die ästhetische Theorie der sinnlichen Begehrungspotenzen unmittelbar den umfangreichen Erörterungen zu den „sinnlichen Erkenntnisvermögen“ (AsW I, §§ 253– 528) folgen. Beide Bereiche firmieren für Meier als Elemente der ästhetischen Sinnlichkeit überhaupt unter dem Titel des „sinnlichen Vermögen[s]“ der menschlichen Seele (vgl. ebd., § 253, S. 1). 206 Bündigen Aufschluss über die grundsätzliche Geltung der Affektivität gewähren bereits die „Prolegomena“ der Ästhetik, wenn Baumgarten den Kritikern der ästhetischen Wissenschaft entgegenhält, dass „sinnliche Empfindungen, Einbildungen, Erdichtungen, alle die Wirrnisse der Gefühle und Leidenschaften“ der ästhetisch-philosophischen Auseinandersetzung wohl würdig sind, denn: Der philosophische Ästhetiker ist „ein Mensch unter Menschen, und es ist nicht gut, wenn er glaubt, ein so bedeutender Teil der menschlichen Erkenntnis [Hervorh. E.S.] vertrage sich nicht mit seiner Würde“ (vgl. Baumgarten, TÄ, § 6, S. 5). Auf Baumgartens ästhetische Schätzung der Affektivität verweist darüber hinaus die klare Differenzierung zwischen „intellectus“ (Geist“) und „pectus aestheticum“ bzw. „indoles“ (ästhetisches Gemüt).
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die schwächere Gewichtung der sinnlich-appetitiven Vermögen der Seele nicht nur aufgrund der geringer ausgeprägten Binnendifferenzierung des Begehrungsvermögens ergab, sondern auch aus dem zentralen Anspruch der Ästhetik resultierte, der Verbesserung der sinnengeleiteten Erkenntnisvermögen zuzuarbeiten.207 Zwar hat es zunächst wiederum den Anschein, als laufe Meiers Theorie der ästhetischen Appetenz neben der Adaption des leitenden Grundgedankens und der Übernahme des Dispositionsschemas der ästhetischen Vermögen auf eine Überbietung des Baumgartenschen Ansatzes hinaus.208 Denn nicht nur forciert er dessen Gedanken der anthropologischen Zusammengehörigkeit von Kognition und Appetenz in ästhetischer Hinsicht, indem er den Vermögensbereich des Begehrens im Spektrum der Lust-Unlust-Erfahrung („Gefallen“ und „Mißfallen“, „Vergnügen“, „Verdruß“ etc.)209 sowie der affektaffinen „Vorhersehung“ und „Vermuthung“ thematisiert und darüber hinaus „insonderheit den Geschmack, die Vorhersehungskraft, und das Vermögen zu vermuthen“ alle drei Vermögen waren von Baumgarten als affektiv-emotionale Wahrnehmungspotenzen der Seele deklariert worden210 als Fähigkeiten herausstellt, die „den nächsten Einfluß in die Begehrungskraft“ haben.211 Er schließt von der in diesem Zusammenhang formulierten vermögenstheoretischen Interdependenz von Kognition und Emotion (Appetenz) explizit auch auf die konstitutive Rolle der Affektivität bei der ästhetischen Gegenstandswahrnehmung und -erkenntnis: „Die Hervorbringung der schönen Gedanken selbst“, so heißt es ausdrücklich im zentralen Einleitungsparagraphen zur Theorie des ästhetischen Begehrens, „rührt von dieser Kraft [der unteren Begehrungskraft, E.S.] her.“212 Während Baumgarten ersteres als ingenium venustum elegans connatum – auf den Vermögenskomplex der unteren Erkenntnisvermögen bezieht (vgl. ebd., § 29, S. 16f.), bringt er den Terminus des Gemüts begrifflich in Zusammenhang mit dem „temperamentum aestheticum“: der Sphäre des Affekts (vgl. ebd., § 44, S. 27; vgl. auch ebd., § 63, S. 41). 207 Vgl. § 44, S. 27: „Zum geborenen Ästhetiker gehört die Fähigkeit des Gemüts, derjenigen Erkenntnis, die ihm wertvoll erscheint und durch die es sich bewegen lässt, besonders gern nachzugehen, und ebenso dasjenige Verhältnis der Begehrungsvermögen, durch das es leichter zur schönen Erkenntnis geführt wird. Wir meinen damit das angeborene ästhetische Temperament.“ 208 Vgl. Meier: AsW II, § 530, S. 638f. Baumgartens Thematisierung der Vermögenssphäre des Begehrens in der Aesthetica erfolgt sowohl im Hinblick auf die allgemeinen anthropologischen Voraussetzungen des felix aestheticus (Schöngeistes) mit der Beschränkung auf die Erörterung des „angeborene[n] ästhetische[n] Temperament[s]“ (vgl. Baumgarten: TÄ, §§ 44–46, S. 27–29, hier S. 27) – als auch im Hinblick auf die ästhetische Praxis (Übung), die „Exercitatio aesthetica“, für die er das Zusammenwirken von Geist und Gemüt fordert (vgl. ebd., §§ 47– 61, S. 28–38, hier § 50, S. 31). Zur Funktion der ästhetischen Übung mit Blick auf die Genese ästhetischer Selbstreflexivität (Dubos, Hume, Baumgarten) vgl. Christoph Menke: Wahrnehmung, Tätigkeit, Selbstreflexion. Zu Genese und Dialektik der Ästhetik, in: Andrea Kern, Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik. Frankfurt/M. 2002, S. 19–48, hier S. 26ff. 209 Vgl. Meier: AsW II, § 530, S. 638. 210 Vgl. Baumgarten: TÄ, § 36, S. 23. 211 Vgl. ebd., § 531, S. 639, S. 640. 212 Ebd., § 529, S. 638.
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Näher besehen löst Meier jedoch das auf diese Weise Angekündigte die Transformation einer anthropologischen Prämisse zum Begründungselement einer appetenztheoretisch fundierten Theorie der ästhetischen Wahrnehmung und Erkenntnis hier nicht ein, vielmehr fällt er, gleichermaßen moralisch wie kunstästhetisch motiviert, hinter Baumgarten zurück.213 Während im Dispositionsschema der Baumgartenschen Ästhetik kognitive und appetitive Sphäre im ästhetischen Erkenntnisbegriff als gleichwertige und interaktive Konstituenten der cognitio sensitiva konzipiert sind, reinstalliert Meier im rationalistischen Stufenleitermodell der Erkenntnisgrade eine hierarchische Vermögensinterdependenz, die die Appetenz als bloße Vollzugsgehilfen der vis repraesentativa einsetzt: Die Begehrungskraft ist ein blinder Unterthan der Erkenntniskraft, sie vollziehet die Entwürfe der letztern, und, überhaupt davon zu reden, kann sie nicht besser seyn als die Erkenntniskraft, sie wird aber nothwendig gebessert durch die Ausbesserung der Erkenntniskraft.214
„Lebendige Erkenntniß“, so der von Meier in diesem Zusammenhang erneut ins Spiel gebrachte Terminus, ist damit eindeutig nicht Konkurrenzbegriff für die kognitiven Vollzüge der ästhetischen Gegenstandserfassung, sondern ihr ästhetisch wünschenswertes Supplement: Durch keine Erkenntniß, die nicht lebendig ist, können Begierden und Verabscheuungen erweckt werden. Folglich hängen alle Begierden und Verabscheuungen, alle ihre Beschaffenheiten, ihre Güte und ihre Grösse, von der lebendigen Erkenntniß, von ihrer Beschaffenheit, ihrer Güte und ihrer Grösse ab.215
Mit Blick auf die theoriegeschichtlich markanten Positionen dieses Ansatzes bleibt abschließend zu resümieren: Aus der dem Modell der rationalistischen Theorie der Sinnlichkeit216 verpflichteten Delegation des Begehrens an die Erkenntniskraft der menschlichen Seele als ihrem genetischen Bestimmungsgrund folgt erstens, dass die ästhetischen Vervollkommnungsbestrebungen für Meier unbedingt von den Vermögen der cognitio sensitiva ihren Ausgangspunkt nehmen müssen analog wie die Erkenntniskraft konzipiert, gibt es für die Sphäre des Affekts keine
213
Meier greift in diesem Teil seiner Ästhetik weder sachlich noch wörtlich auf die oben zitierten Bestimmungen zurück in der Tat ging die Abhandlung von 1751 diesbezüglich wesentlich weiter. 214 Meier: AsW II, § 531, S. 640. 215 Ebd. 216 Meier, so zeigt das nachfolgende Beispiel, überträgt das Gradationsmodell der rationalistischen Erkenntnistheorie (die cognitio sensitiva als Modalität verminderter Deutlichkeit von Vorstellungen auf der abnehmenden Skala „undeutlich“ „dunkel“ „verworren“ „klar“, vgl. AsW I, § 27, S. 44–46; § 33, S. 55–58) auch auf die Sphäre des menschlichen Begehrens und bindet seinen ästhetischen Anthropologismus damit in die epistemologische Hierarchie zurück, vgl. AsW II, § 534, S. 644f.: „Je besser und ästhetischwürdiger der Gegenstand ist, durch eine desto bessere Begierde muß man ihn begehren. Nun sind alle Begierden aus klarer Erkenntniß besser, als diejenigen, die aus blos dunkeler Erkenntnis entstehen; die Leidenschaften sind besser als die natürlichen Triebe.“
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spezifischen Vervollkommnungsregeln.217 Aus dieser Verhältnisbestimmung folgt zweitens aber eine grundsätzliche Relativierung affektiv begründeter Ästhetik im Namen des moralphilosophischen wie kunstästhetischen Rückversicherungsbegehrens intellektueller Autonomie gegenüber der Sinnennatur.218 Im Vorfeld von Baumgartens Warnung, den unteren Erkenntnisvermögen „keine Gewaltherrschaft, sondern eine sichere Führung“ angedeihen zu lassen,219 macht der anthropologische Ästhetiker Meier die im Modell der vis repraesentativa gedachte Einheit von Erkenntnis- und Begehrenssphäre für die Zwecke des rational kontrollierenden Zugriffs auf die unvernünftige Sinnlichkeit fungibel: Bey der ganzen Ausbesserung der untern Begehrungskraft muß man sich wohl in Acht nehmen, dass sie nicht gar zu stark werde. Sonst fallen wir in den viehischen Zustand, und in die moralische Sclaverey. [...] Man verbessere demnach die untere Begehrungskraft nur in so weit, dass es unserer Vernunft, und Freyheit immer möglich bleibt, ihren Gebrauch zu lenken [...]. Die ganze Sinnlichkeit muß unter der Herrschaft der Vernunft stehen, widrigenfalls entsteht gleich-
217
Vgl. AsW II, § 535, S. 647: „Wer also dieselbe [die Begehrungskraft, E.S.] erhalten will, der muß erstlich alle seine Erkenntniß [...] ausbessern [d.h. gemäß sämtlicher Kriterien der ästhetischen Gegenstandserkenntnis: Reichtum, Grösse, Wahrscheinlichkeit, Lebhaftigkeit, Gewissheit, sinnliches Leben vervollkommnen, E.S.], und folglich muß er auch seine gesamte Erkenntniskraft [d.h. den Gesamtkomplex der cognitio sensitiva, E.S.] ausbessern. [...] Es ist also unnöthig, dass ich die Regeln der formellen Ausbesserung der Begehrungskraft besonders ausführe, weil sie in der That schon in dem vorhergehenden [Abschnitt von den Erkenntisvermögen, E.S.] angetroffen worden.“ Auch diese Grundsatzerklärung findet sich, in nahezu wörtlicher Formulierung, in Meiers philosophischer Sittenlehre wieder (vgl. Georg Friedrich Meier: Philosophische Sittenlehre, Dritter Theil. Halle 1756, §§ 626ff., S. 286f. („Von der Verbesserung der untern Begehrungskraft“). 218 Freilich: Nicht Rückführung des affektiv-emotionalen Sinnlichen auf moralische Norm ist hiermit gemeint Meiers anthropologische Einsichten in das sittlich relevante Konditionierungspotential der affektiv-emotionalen Sinnlichkeit stehen quer zu dem Versuch, das ästhetisch Relevante vom Außerästhetischen her regressiv zu bestimmen. Der von Schulte-Sasse bemerkte Umschlagpunkt in der Literarästhetik und ästhetischen Theorie um 1750 von der Repression zur ästhetisch-literarischen Gewinnung des ‚Außerrationalen‘ (Emotion, Affekt) mit der Aufwertung sinnlich-ästhetischer Vermögenskategorien als Indikator lässt sich so besehen auch für Meier verifizieren: „[...] nicht die Moralität der Literatur selbst, sondern ihre konkrete Füllung und ästhetische Qualität sind im 18. Jahrhundert umstritten. Der Moralbegriff verliert spätestens von den fünfziger Jahren an in ästhetischen Zusammenhängen seinen Rationalitätsbezug. Die Moralität von Literatur meint nun nicht mehr einseitig die Repression von Affekten, sondern gerade auch das ästhetische ‚Einspielen‘ von guten Verhaltensweisen durch Affekte. [...] Der aufklärerische Moralbegriff, wie er im ästhetischen Zusammenhang gebraucht wird, hängt also sehr eng mit dem Geschmacksbegriff sowie mit dem Begriff der anschauenden Erkenntnis zusammen.“ Jochen Schulte-Sasse: Poetik und Ästhetik Lessings und seiner Zeitgenossen, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur Bd. 3. Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789. Hg. v. Rolf Grimminger, München, Wien 1980, S. 304–326, hier S. 304. 219 Vgl. Baumgarten: TÄ, § 12, S. 7. Baumgarten setzt sich mit dieser Positionierung gegen die „tyrannis“, für das „imperium“ gegen den (fingierten) Einwand an die Adresse der ästhetischen Wissenschaft zur Wehr, wonach „die unteren Erkenntnisvermögen, die Sinnlichkeit, [...] eher zu bekämpfen als zu wecken und zu stärken“ seien (ebd.).
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sam in der Seele eine Anarchie, welche zum Verderben des ganzen Menschen nothwendig gereichen muß.220
So markiert der Schlussabschnitt der Meierschen Theorie der ästhetischen Vermögen letztlich die Einschränkung der sachlich gleichwohl eröffneten Möglichkeiten einer ästhetischen Pathologie, indem die affektiv-emotionale Vermögensnatur des Menschen global dem Unbeherrschbarkeitsverdacht unterstellt wird und mithin der anthropologischen Restriktion unterliegt nicht wie die spätaufklärerische Ästhetik des Tragischen im Namen kunstästhetischer Autonomieforderungen (als Sublimierungsforderung der Intellekt-Natur des Menschen auf der Basis ihrer Gebundenheit ans Sinnliche),221 sondern im moralpädagogischen Interesse am Hoheitsbedürfnis der sittlichen Vernunft gegenüber der menschlich-sinnlichen (Affekt-)Natur.222 Meiers ‚pathologische‘ Akzentsetzungen in der Ästhetik, deren theoriegeschichtlicher Stellenwert für die Theorie des Ästhetischen sich nur im Kontext seiner hierarchischen, logozentrisch gepolten Anthropologie der Sinnlichkeit und vor dem Hintergrund der Konvergenz von logischer und ästhetischer 220 221
Meier: AsW, II, § 540, S. 654. „Darstellung des Leidens – als bloßen Leidens – ist niemals Zweck der Kunst, aber als Mittel zu ihrem Zweck ist sie derselben äußerst wichtig. Der letzte Zweck der Kunst ist die Darstellung des Uebersinnlichen und die tragische Kunst insbesondere bewerkstelligt dieses dadurch, dass sie uns die moralische Independenz von Naturgesetzen im Zustand des Affekts versinnlicht. Nur der Widerstand, den es gegen die Gewalt der Gefühle äußert, macht das freye Princip in uns kenntlich [...]. Soll sich also die Intelligenz im Menschen als eine, von der Natur unabhängige, Kraft offenbaren, so muß die Natur ihre ganze Macht erst vor unsern Augen bewiesen haben. Das Sinnenwesen muß tief und heftig leiden; Pathos muß da seyn, damit das Vernunftwesen seine Unabhängigkeit kund thun und sich handelnd darstellen könne.“ Friedrich Schiller: Ueber das Pathetische, in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Zwanzigster Band. Philosophische Schriften. Erster Teil, unter Mitwirkung von Helmut Koopmann herausgegeben von Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 196–221, hier S. 196. 222 Dürbecks Befund zur Meierschen Phantasieästhetik, wonach dessen ästhetische Sanktionierung der Sinnlichkeit darauf hinauslaufe, „den physischen Determinationen des Menschen Rechnung zu tragen und den sinnlichen Vermögen selbst die regulierenden Mittel über die Sinnlichkeit zuzuordnen“ (vgl. Dürbeck: Einbildungskraft, S. 306), geht an dem Sachverhalt vorbei, dass für Meier die sinnlichen Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen nur im Status ihrer Kultivierung, der ästhetischen Übung, ästhetische Validität besitzen, nicht jedoch schon auf der Ebene der anthropologischen Primärausstattung als autoregulative Potenzen der ästhetischen Sinnlichkeit gelten. Man vergleiche diesbezüglich, wie Meier im Zusammenhang mit der nötigen „Ausbesserung des Begehrungsvermögens“ im Rahmen seiner Philosophischen Sittenlehre den Souveränitätsgedanken thematisiert und etwa im Begriff der „Herrschaft über uns selbst“ (der „Kräfte unserer Seele und unseres Körpers“) als Forderung nach menschlicher Selbsterhaltung („Von der Sorge für uns selbst“) untermauert (vgl. Georg Friedrich Meier: Philosophische Sittenlehre. Anderer Theil. Halle 1754, §§ 501–521, S. 651–668, hier S. 667). Darüber hinaus erörtert Meier im Kontext der moralphilosophischen Pflichtenlehre der individuellen Verpflichtung gegenüber Affekt und Trieb (vgl. ders.: Philosophische Sittenlehre, Dritter Theil. Halle 1756, §§ 626–644, S. 286–332 („Von der Verbesserung der untern Begehrungskraft“): Wer „seinen natürlichen Trieben zu sicher [!] folgt“, riskiert „ein erstaunliches moralisches Verderben“ für Meier im Paradebeispiel des Triebs zum „Beyschlaf“ ausgedrückt. Nur im Remedium des ungezügelten Begehrens: ihrer Ausrichtung „auf die rechten [d.h. deutlich und lebendig vorgestellten, E.S.] Gegenstände“ lässt sich das „äußerste Verderben“ von vornherein vermeiden (vgl. ebd., §§ 628f., S. 296f.).
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Sinnlichkeit effektiv ermessen lassen,223 dokumentieren ebenso sehr den avancierten Stand affekttheoretischer Progression in der Ästhetik um die Jahrhundertmitte, wie sie den Umfang der emotionalistischen Reserven in der ästhetischen Anthropologie für die kommende Phase der Theoriebildung ankündigen.
223
Für den Empiristen Meier ist die menschliche Sinnennatur epistemologisch, anthropologisch und ästhetisch unentbehrlich, da sie die Voraussetzung der nichtsinnlichen Erkenntniskräfte Verstand und Vernunft bildet. Ihre Rechtfertigung erhält sie jedoch nicht als anthropologisch gegebene Potenz des Menschen als Sinnenwesen, sondern als kultivierte (‚ausgebesserte‘) Fähigkeit der menschlichen Seele. Vgl. Meier, AsW I, § 220, S. 518: „Die Schönheit des Geistes und die Stärke der untern Erkentniskraft widerspricht einem grossen Verstande und einer starken Vernunft, so wenig, dass man vielmehr sagen mus, ein grosser Verstand und eine starke Vernunft könne, ohne grosse sinnliche Erkentniskräfte, nicht stat finden.“ sowie ebd., § 219, S. 516: „[...] Der Verstand und die Vernunft [müssen] die untern Erkentniskräfte im schönen Denken, leiten, regieren und mäßigen. Wenn man der untern Erkentniskraft den Zügel schießen läßt, so kann sie sich für Ausschweifungen nicht in acht nehmen. Die sinlichen Erkentniskräfte sind gleichsam der Pöbel der Seele, welcher sich selbst nicht in den gehörigen Schranken halten kann [...].“
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V Psychologie und Erkenntnistheorie der Emotionen. Ästhetiktheoretische Implikationen der philosophischen Erfahrungspsychologie und Vorstellungstheorie (Eberhard, Tetens) Der engen transdisziplinären Verzahnung von philosophischer Erkenntnistheorie, Anthropologie und Ästhetik entsprechend, spiegeln sich im Theoriebereich der philosophischen Psychologie der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts, wie hier gezeigt werden soll, die mit der ästhetischen Theorie der Sinnlichkeit, der Aisthesis, thematisierten Problembestände der rationalistischen Philosophie zur Gänze wider. In methodologischer Hinsicht musste die Erweiterung des erfahrungsseelenkundlichen Wissens in der späten Aufklärung im Besonderen das Problem verschärfen, welcher Geltungsrang den empirischen Beobachtungstatsachen des Psychischen gegenüber den philosophischen Prämissen zukommen sollte. Damit war für die deutsche Theoriebildung, im Unterschied zu den konsequent empiristisch (materialistisch sive sensualistisch sive physiologisch) orientierten Forschungsprogrammen der französischen und englischsprachigen Philosophie und Psychologie allerdings das grundsätzlichere Problem verbunden, in welcher Weise die zunehmend materialistisch beeinflussten Auffassungen über das Verhältnis von Körper und Seele1 in den philosophischen Theoriezusammenhang der rationalistischen Epistemologie integriert werden konnten, ohne den substantiellen Seelenbegriff und die mit ihm verbundenen Gewährleistungen philosophiehistorisch notwendiger 1
Von einer materialistischen Anthropologie und Psychologie im deutschen Sprachraum kann, von den vereinzelten Impulsen aus dem Umkreis der Halleschen Ärzte-Anthropologien um die Jahrhundertmitte (J. G. Krüger, J. A. Unzer) abgesehen, vor Mitte der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts nicht wirklich gesprochen werden. So läßt das Pionierwerk der wissenschaftlichen Menschenlehre als autonomer Textgattung (vgl. Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Leipzig 1772) zwar eine intensive Materialismusrezeption erkennen (die für den deutschsprachigen Anthropologiediskurs bedeutsamen Schriften C. Bonnets erschienen allerdings erst relativ spät. (Vgl. Charles Bonnet: Analytischer Versuch über die Seelenkräfte, 2 Bde., übersetzt von Christian Gottfried Schütz, Bremen, Leipzig 1770/7; [ders.]: Des Hrn. Karl Bonnet psychologischer Versuch als eine Einleitung zu seinen philosophischen Schriften. Aus dem Französischen übersetzt und mit einigen Anmerkungen begleitet von C. W. Dohm. Lemgo 1773). Was es bedeutet, wenn der Diskurs über die Vermögensnatur des Menschen und das Leistungspotential des Psychischen nicht mehr nach Maßgabe der vis repraesentativa, sondern gemäß den natürlichen Ausstattungsmerkmalen der menschlichen „Maschine“ geführt wird, geben allerdings erst die programmatisch am französischen Materialismus und am Physiologismus (LaMettrie u.a.) orientierten Leib-Seele-Systeme der achtziger und frühen neunziger Jahre zu erkennen (vgl. insbesondere Johann Karl Wezel: Versuch über die Kenntniß des Menschen. 2 Bde. Leipzig 1784/85; Michael Hißmann: Psychologische Versuche. Ein Beytrag zur esoterischen Logik. Hannover, Göttingen ²1788; Johann Ith: Versuch einer Anthropologie oder Philosophie des Menschen nach seinen körperlichen Anlagen. Bd. 2. Bern 1795). Zur Umbruchsituation in der wissenschaftlichen Menschenlehre der späten Aufklärung im Einflussfeld von empiristischer Methodologie, Materialismusrezeption und medizinisch-philosophischer Commerciumdiskussion vgl. insgesamt J. Heinz: Wissen vom Menschen, S. 25ff.
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Basisannahmen uneingeschränkt der Gefahr seiner Depotenzierung auszusetzen.2 In diesem Zusammenhang war namentlich die relativ früh erhobene, für die ästhetische Problemstellung höchst bedeutsame Fragestellung, ob „es denn in der Seele, in dieser Kraft sich die Welt vorzustellen, noch etwas anders geben [sollte] als Gedanken, als Vorstellungen? Warum nicht?“,3 auch im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts noch nicht durch eine konsistente Theorie hinreichend beantwortet worden, harrte doch die erkenntnistheoretische und die anthropologisch-ästhetische Differenzierung der emotionsbasierten psychischen Leistungen gegenüber den Vorstellungen und den voluntativen Vermögen noch immer ihrer Realisierung. Den genannten Hauptproblemstellungen konnte in sehr unterschiedlicher Weise Rechnung getragen werden, und es gehört zum Charakteristikum der Philosophie und Anthropologie der späten Aufklärung, dass in ihr nicht nur die Antriebe zur „Sprengung der traditionellen Metaphysik“, sondern ebenso auch die zu ihrer Beibehaltung, ja (empiristisch modifizierten) Wiederbelebung in philosophiehistorisch bedeutsamen Entwürfen Gestalt annahmen: einerseits im Rahmen einer programmatischen Konsolidierung des empiristischen Wissenschaftsansatzes in Psychologie und Anthropologie, andererseits unter Beibehaltung der epistemologischen Basis des philosophischen Rationalismus im Rahmen einer metaphysischen Psychologie der substantiellen Seele andererseits.4 Die hier vertretene These besagt: Beide Theorievarianten der späten Aufklärung, in denen die Erkenntnisleistungen von zeitgenössischer Erfahrungspsycholo2
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Das Festhalten an der Seele als dem basalen Konstitutionsbegriff des Psychischen, letztlich an der Geltungsdominanz der rationalistischen Bewusstseinstheorie (Descartes, Leibniz, Wolff) im Begriff der Seele als einer Vorstellungskraft, gehört zum Eigenständigkeitsmerkmal der deutschsprachigen Theoriebildung gegenüber der französischen und englischsprachigen auf den Gebieten der philosophischen Erkenntnistheorie, Psychologie und Ästhetik und wurde allgemein als Merkmal nationaler Überlegenheit reklamiert. Anonymos: Versuch über die Empfindungen, in: Vermischte Beyträge zur Philosophie und den schönen Wissenschaften. Hg. von Samuel Benjamin Klose. Ersten Bandes erstes Stück. Breslau 1762, S. 116–147, hier S. 120. Vgl. Hans Adler: Aisthesis, steinernes Herz und geschmeidige Sinne. Zur Bedeutung der Ästhetik-Diskussion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart, Weimar 1994, S. 96–111, hier S. 99. Wenn Adler hinsichtlich des Befunds zuzustimmen ist, dass dieser Entwicklungsprozess in der philosophischen Theoriebildung „nicht in simpler Verdrängung der Spekulation durch Empirie“ besteht, sondern in einer empiristisch fundierten Neuordnung der Verhältnisbeziehungen beider (vgl. ebd.), so bedeutete die Auffassung, im transdisziplinären Empirisierungsschub des späten 18. Jahrhunderts artikuliere sich lediglich ein methodologischer Paradigmawechsel („die cognitio philosophica wird [...] vom Kopf auf die Füße gestellt“, ebd.), eine sachliche Verkürzung der anthropologisch motivierten Theoriesituation. Die ab der Jahrhundertmitte angestrengte Problematisierung der sinnlichen Natur des Menschen, der „in dem Innersten der Seele verborgenen Angelegenheiten“ (Sulzer), relativiert den fundamentalen Geltungsanspruch des spekulativen Wissens vielmehr selber, insofern der Frage nach der Leistungsfähigkeit der kognitiven Potenzen des Menschen gleichwertig die nach seinen sensitiven und emotiven, den ästhetisch relevanten an die Seite gestellt wird.
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gie, empirischer Anthropologie und Ästhetik als empiristische Perspektivierungen des anthropologischen und ästhetischen Wissens permanent präsent gehalten werden, bilden die Grundlage für die ästhetiktheoretische Validierung der Vermögenssphäre der Emotionen. Ihnen ist eine Theoriekomplexität inhärent, wie sie im Kontext der dezidiert ästhetiktheoretischen Reflexion der achtziger und neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts zur Entfaltung gebracht wird. Sie als eigenständige Typisierungen des Phänomenbereichs der Emotionen zunächst ernst zu nehmen, ist demnach die Voraussetzung für eine präzise Standortbestimmung der ästhetischen Reflexion in der popularphilosophischen und psychologischen Ästhetik der späten Aufklärung und soll nachfolgend am Gegenstand zweier zeitgenössisch einflussreichster und annähernd synchron erschienener theoretischer Entwürfe exemplarisch rekonstruiert werden: zum ersten in der Variante einer vorstellungstheoretischen Deduktion des Empfindungsgeschehens am Beispiel von Johann August Eberhards Allgemeiner Theorie des Denkens und Empfindens (1776); zum zweiten als emotionstheoretischer Begründungsentwurf des Empfindungsvermögens der menschlichen Seele von der Basis eines erfahrungspsychologisch-anthropologisch revidierten Erkenntnisbegriffs ausgehend in Johann Nikolaus Tetens’ Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwickelung (1777).5
1. Emotion als Vorstellung. Psychologie der Empfindungen im Deutungsschema der rationalistischen Vorstellungstheorie (J. A. Eberhard) Es gehört zum theoriegeschichtlichen Charakteristikum der popularphilosophisch orientierten Autoren der deutschen Spätaufklärung, dass der Mehrzahl ihrer philosophischen Theoretiker der Versuch, den Phänomenbereich der affektiven Emotio5
Die Bedeutsamkeit beider renommierten Referenztexte im Psychologiediskurs des späten 18. Jahrhunderts ist am wenigsten der psychologischen Geschichtsschreibung verborgen geblieben (vgl. Dessoir: Geschichte der neueren deutschen Psychologie, S. 176–179, hier S. 177: Eberhard als „der letzte wissenschaftliche Vertreter der Wolffischen Philosophie“; zu Tetens’ Philosophischen Versuchen vgl. S. 333–356, hier S. 355f.: „Die rein wissenschaftliche Psychologie des 18. Jahrhunderts gipfelt thatsächlich in diesem Buch.“) Das Breitenspektrum der Thematisierungsvarianten sowohl der Eberhardschen als auch der Tetensschen Theorie der Emotionen innerhalb der neueren anthropologischen Aufklärungsforschung macht indessen einmal mehr auf die Spannweite aufmerksam, mit der innerhalb des historischen Philosophie-, Anthropologie- und Psychologiediskurses die transdisziplinäre Verortung des Empfindungsgeschehens erfolgte. Vgl. besonders J. Heinz: Wissen vom Menschen, S. 66ff. (zu Eberhards Konzept einer „Mathematik der Seele“) sowie S. 31ff. (Tetenssche Psychologie als „schulphilosophische Gegenreaktion“ und neue Anthropologie) und Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch, S. 226ff., 235ff. (zu Tetens’ anthropologischer Methodologie) sowie Christian Hauser: Selbstbewußtsein und personale Identität. Positionen und Aporien ihrer vorkantischen Geschichte. Locke, Leibniz, Hume und Tetens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 124ff. (Selbstbewusstseinstheorie und empiristisch-rationalistischer Seelenbegriff bei Tetens).
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nalität psychologisch, anthropologisch und ästhetisch auf den Begriff zu bringen, nicht anders als durch die Restauration des rationalistischen Grundbegriffs der Seele realisierbar erschien. Die die Epoche bewegende Frage nach der Natur der Emotionen sollte auf dem Boden einer Psychologie der Empfindungen ihre Beantwortung finden, die, so die Einschätzung eines der berühmtesten Kombattanten in dieser Diskussion, „alles von Innen“,6 aus dem Begriff der Seele als einer Vorstellungskraft, zu erklären suchte, und die entsprechend alles, was als Spezifikum des Empfindens, des Phänomenbereichs der Emotionalität gelten muss, aus der Identitäts- und Differenzbestimmung gegenüber dem Kognitiven und das heißt aus der Sphäre der intellektbestimmten Vorstellungen der Seele abzuleiten versuchen musste.7 Kaum eine andere zeitgenössische Auseinandersetzung scheint geeigneter, ein symptomatisches Licht auf eben diese Verständnisweise der Natur der Emotionen zu werfen, als die theoretischen Ausarbeitungen des Problemzusammenhangs vom kognitiven und emotiven Vermögen der menschlichen Seele, die im Jahr 1776 als Antworten auf die von der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin ausgestellte Preisfrage zum nämlichen Thema erscheinen.8 Anders als Herder, der 6
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So Herder in der 1774er Fassung seiner Abhandlung Vom Erkennen und Empfinden, in: Johann Gottfried Herder: Frühe Schriften 1764–1772. Herausgegeben von Ulrich Gaier. Frankfurt/M. 1985, S. 1086. Herders Formel charakterisiert in nuce, was als erfahrungsseelenkundlich transformierter Essentialismus des Psychischen Erkenntnistheorie, Seelenlehre und Anthropologie der popularphilosophischen Autoren der deutschsprachigen Spätaufklärung grundlegend bestimmt: Das auf Leibniz’ Philosophie der Monaden zurückgehende „principe interne“ („qu’on peut appeler force active“) als universales Ableitungsprinzip des gesamten Seelengeschehens (vgl. Leibniz: Prinzipien der Philosophie, S. 439–482, hier § 11, S. 442; vgl. auch ebd., Anm. 2). Nicht nur Eberhards, sondern im Besonderen auch J. H. Campes philosophische Thematisierung des Empfindungsgeschehens im Rahmen seiner eigenständigen Empfindungsschrift (vgl. Joachim Heinrich Campe: Die Empfindungs- und Erkenntnißkraft der menschlichen Seele. Leipzig 1776) deklariert sich selbst zugleich als anthropologisch-somatologische, der leiblichen Erfahrung verhaftete Reflexionsform des Psychischen: Unabhängig vom philosophischen Erklärungsanspruch, den Phänomenbereich des Physischen als einen wesenhaft psychisch konstituierten durch Vorstellungen Vermittelten zu konzipieren: Hier wie dort gilt als Leitmotiv: Den „ganzen Menschen zum Gegenstande unserer Beobachtung aufzustellen, und nicht blos auf dasjenige, was in der Seele, sondern auch auf dasjenige, was während einer Empfindung in dem ihr beygesellten Körper sich ereignet [Hervorh. E.S.]“, die Aufmerksamkeit des psychologischen Blicks zu richten. (Campe: Empfindungs- und Erkenntnißkraft, S. 31). Noch bis nach der Jahrhundertwende ist die Kenntnis der Preisschriften J. H. Campes, J. A. Eberhards sowie J. G. Herders obligatorischer Bestandteil der ästhetischen Wissensbildung, wie das Ästhetikkompendium J. J. Eschenburgs in seiner vierten Auflage belegt (vgl. Johann Joachim Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Redekünste. Zur Grundlage bei Vorlesungen. Vierte, abgeänderte und vermehrte Ausgabe, Berlin und Stettin 1817, § 15, S. 11f., Anm. Neben diesen Beiträgern und ihren alsbald renommierten Positionierungen bewarb sich auch Friedrich Christoph Oetinger bereits 1775 (erfolglos) um Anerkennung bei der Philosophischen Klasse der Berliner Akademie, wie der Titel seiner Abhandlung mit einer dritten Erklärungsvariante zum Kraft-Begriff der Seele zeigt: ders.: Gedanken von den zwo Fähigkeiten zu empfinden und zu erkennen, und dem daraus zu bestimmenden Unterschiede der Genien. Frankfurt 1775 (Zu Oetinger vgl. Marion Heinz: Sensualistischer Idealis-
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zum Kreis der renommierteren Diskutanten in dieser Debatte zählte, unternehmen es sowohl J. A. Eberhard als auch J. H. Campe, Aufklärung über die Natur der Emotionen im Wesentlichen unter Rückgriff auf die Philosophie Leibniz’ zu erzielen eine Klärungsanstrengung, die im Licht der vorstehend rekonstruierten Verflechtungen von erfahrungspsychologischer Analysis und anthropologiehistorischer Programmatik (Tetens) nachgerade als alternativer, nämlich konservativer Begründungsentwurf erscheinen muss.9 Freilich, die Revitalisierung erkenntnistheoretischer Prämissen Leibniz’ im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts lässt sich nicht auf den Bereich der Epistemologie einschränken, aus dem noch in der Phase des nachhaltigen Geltungsverlustes rationalistischer Metaphysik die entschiedenste Frontstellung gegen die Transzendentalphilosophie Kantischer Prägung erwächst.10 Johann August Eberhards anthropologisch-psychologische Theorie der Emotionen ist vielmehr ein Beispiel dafür, wie durch die Integration von Kernelementen der Leibnizschen Gnoseologie die Verhältnisbestimmungen zwischen einer empiristisch verfassten Anthropologie und Psychologie einerseits und den Ansprüchen auf transempirische Geltungsbegründungen systematischer Philosophie andererseits grundlegend modifiziert werden konnten.
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mus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie des jungen Herder (1763–1778). Hamburg 1994, S. 112). Die Antworten der Diskutanten sind in der bisherigen Forschung in unterschiedlichem Umfang beachtet worden. Während Campes Abhandlung von Psychologie- und Ästhetikhistorie vollständig ignoriert wurde, avancierte Eberhards Allgemeine Theorie zum einen innerhalb der Herder-Forschung zu einer viel zitierten Bezugsquelle respektive Gegenfolie zum Herderschen Ansatz (vgl. Ulrich Gaier: Anmerkungen zu „Vom Erkennen und Empfinden“, in: J. G. Herder: Frühe Schriften 1764–1772. Herausgegeben von Ulrich Gaier. Frankfurt/M. 1985, S. 1005ff.). Zum anderen erlangte Eberhards Beitrag im Zusammenhang der gesteigerten Aufmerksamkeit auf das Commercium-Problem innerhalb der anthropologiehistorisch ausgerichteten Germanistik zuletzt annähernd gebührende Aufmerksamkeit (vgl. Heinz: Wissen vom Menschen, S. 66– 68; S. 79f.). Eine ausführliche Rekonstruktion und theoriegeschichtliche Würdigung der Herderschen Abhandlung in ihren drei Fassungen [„Vom Erkennen und Empfinden der Menschlichen Seele“ [1774]; „Vom Erkennen und Empfinden, den zwo Hauptkräften der Menschlichen Seele“ [1775]; „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume [1778] liegt vor (vgl.: M. Heinz: Sensualistischer Idealismus, S. 118–173) und entbindet hier von einer erneuten Darstellung. Mit den von ihm herausgegebenen philosophischen Journalen Philosophisches Magazin (1788–1792) sowie Philosophisches Archiv (1792–1795) unternimmt Eberhard den publizistisch weit ausholenden Versuch einer öffentlichen Apologetik der Leibnizschen Philosophie gegenüber der Kantischen Transzendentalphilosophie und seinen Verteidigern – ein Unterfangen, das von relativ kurzer Dauer war und dem die intendierte Wirkung (die philosophiehistorische Diskreditierung des Kantischen Kritizismus) bekanntlich versagt blieb (zu den philosophiehistorischen Implikationen der Auseinandersetzung vgl. eingehend Manfred Gawlina: Das Medusenhaupt der Kritik. Die Kontroverse zwischen Immanuel Kant und Johann August Eberhard. Berlin 1996).
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Eberhards erkenntnistheoretischem und anthropologischem Hauptwerk Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens,11 das als Beantwortung einer von Sulzer formulierten Preisaufgabe der Berliner Akademie entsteht, gebührt in diesem Zusammenhang die zentrale Aufmerksamkeit. In ihm bündeln sich nicht nur eine Reihe symptomatischer Befunde zum Stellenwert des spätaufklärerischen Gefühlsbegriffs. Die Schrift stellt zugleich den letzten geschlossenen Versuch einer systemphilosophischen Erklärung der Emotionen unter Rückgriff auf die Prämissen der Leibnizschen Philosophie der Vorstellungen dar.12 Als Popularphilosoph teilt Eberhard mit Sulzer die Auffassung der Verwandtschaft des Schönen mit dem Guten, wonach die ästhetische „Empfindlichkeit“ der Seele von ihrer sittlichen13 nicht ablösbar ist bzw. wonach die ästhetische und psychologische Theorie der Emotionen auf die „intellektuelle und moralische Bildung des Menschen“ gleichermaßen zielen muss, ja in der „Belebung und Lenkung seiner moralischen Kräfte“ ihr programmatisches Telos hat.14 Eberhards immer wieder auf die Position eines offensiven „Subjektivismus“ verkürzter ästhetischer Emotionalismus wird,15 wie im folgenden zu demonstrieren ist, nur vor dem Hintergrund verständlich, dass die Legitimation der ästhetischen Erfahrung sich nicht allein aus dem anthropologischen Bedürfnis der sinnengeleiteten Lusterfahrung ableiten lässt, sondern per definitionem an den sittlich-moralischen (allgemeinen) Bestimmungsgrund des ästhetisch genießenden Subjekts zurückgebunden ist. Die „Würde und Brauchbarkeit“ der schönen Künste, so Eberhard, setzt voraus, dass „die Blume des Ergötzens“ und die „Frucht der Nutzbarkeit“ als Einheit begriffen werden.16 Beide Perspektiven – theoretische Deduktion der Emotionen und praktische Bezugsetzung der emotionalen Vermögenssphäre – hält Eberhard in seiner Abhandlung in enger argumentativer Verschränkung. Gelingt es ihm, im Anschluss an die Prämissen Sulzers das von diesem für den Empfindungsbegriff geltend gemachte anthropologisch-lusttheoretische Potenzial der Emotionen in seinem Ansatz 11
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Johann August Eberhard: Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens. Eine Abhandlung, welche den von der Königl[ichen] Akademie der Wissenschaften in Berlin auf das Jahr 1776 ausgesetzten Preis erhalten hat. Berlin 1776 [²1786] [Sigle: ATDE]. Die Auffassung vom manifesten Leibnizianismus Eberhards hat sich spätestens seit den Untersuchungen R. Sommers (vgl. Sommer: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie, S. 232f., pass.) durchgesetzt und gilt nach allgemeiner Ansicht als Spezifikum des Eberhardschen Philosophiebegriffs. Zu den Grundzügen der Vorstellungstheorie Eberhards im Kontext der Neubestimmung von Empfindung und Denken und vor dem Hintergrund von Eberhards Geselligkeitsethik siehe die scharfsinnige Rekonstruktion von Bernd Oberdorfer: Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799. Berlin, New York 1995, S. 124ff. Vgl. ATDE, S. 10. Ebd., S. 13. Dieser Standpunkt findet sich am offensivsten vertreten bei Sommer: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie, S. 250f. („vollständiger Subjektivismus“ der psychologischen Ästhetik Eberhards). Vgl. ATDE, S. 10.
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zu übernehmen respektive auszubauen und für die begriffliche Differenzierung von Kognition und Emotion, von Vorstellungs- und Empfindungsbegriff der menschlichen Seele fruchtbar zu machen? Und gelingt es ihm darüber hinaus, das von Sulzer für die ästhetische Affektpsychologie etablierte Modell einer am Wahrnehmungsvorgang ansetzenden Qualifizierung ästhetischer Leistungen für eine innovative Erklärung der Emotionalität als „Empfindlichkeit der Seele zur Liebe des Schönen“17 umzusetzen? Was ist für die Konzeption der Spezifika des ästhetischen Wahrnehmens in der Ära der prosperierenden Erfahrungsseelenkunde und empirischen Anthropologie von einem philosophischen Ansatz zu erwarten, der die Arbeit am Begriff der Emotionen maßgeblich als den Versuch einer essentialistischen Reduktion der Seelenkräfte und – vermögen auf ihre singulare Grundkraft (vis repraesentativa) als Aufgabe einer „transcendentalen Psychologie“18 begreift? 1.1 Erkenntnistheorie der Emotionen als „Mathematik der Seele“. Vorstellungstheoretische Revisionen des Psychischen in J. A. Eberhards Allgemeiner Theorie des Denkens und Empfindens (1776) 1.1.1 Kognition und Emotion im transzendentalen Indifferenzpunkt: „Urkraft“ Mit einem philosophiehistorisch gerichteten und emotionstheoretisch fokussierten Rückblick auf die Leistungen der anthropologisch-psychologischen Metaphysikkritik der europäischen Spätaufklärung setzt Eberhard in seiner Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens ein. Die spekulative Philosophie habe lange Zeit den Bereich der „untern Seelenkräfte“ mit Geringschätzung behandelt und durch die tendenzielle Ausblendung dieser Potentiale des Psychischen eine verhängnisvolle „Gegeneinandersetzung der Wissenschaft der Schule und des Lebens“ etabliert. Erst dadurch, dass auf philosophischem Wege begonnen wurde, die Natur der äußeren (Empfindungswahrnehmungen) und der inneren (moralischen) Emotionen zu erforschen,19 konnte jene „glückliche“ interdisziplinäre Allianz von Philosophie 17 18
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Eberhard: ATDE, Einleitung, S. 10. Vgl. ATDE, S. 19. Mit dem zu diesem Zeitpunkt noch nicht durch die Kantische Transzendentalphilosophie instrumentalisierten Terminus bezeichnet Eberhard hier prospektiv eine noch zu realisierende philosophische Wissenschaft des Psychischen, deren „höchste Vollkommenheit“ in der Anwendung des Prinzips der „Einfachheit der Seele“ auf die „Einheit ihrer Kraft“ (ebd.) liege: ein Projekt, von dem sich der Philosoph (vergeblich) erhoffte, auf substanzphilosophischem Wege den zeitgenössischen Tendenzen zur Etablierung eines hier noch bezeichnenderweise von ihm beargwöhnten triadischen Vermögensbegriffs der Seele wirksam entgegentreten zu können. Hinter den beiden von Eberhard genannten Einflussfaktoren für den „bessern Anbau der Theorie der Empfindungen“ (ebd., S. 8) verbergen sich eine epistemologische sowie eine pragmatische Legitimation der philosophischen Auseinandersetzung mit den Emotionen. Die durch die Farbentheorie Newtons und Lockes philosophisch ausgebaute Entdeckung der so genannten abgeleiteten Eigenschaften (qualitates secundariae), aus der hervorging, dass der sensitiven Gegenstandswahrnehmung (Aisthesis) nichts „in den Gegenständen [...] Wirkliches und Selb-
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und Ästhetik entstehen, die im Ergebnis die traditionelle anthropologische Hintansetzung des Empfindungsvermögens zu überwinden half. Die Entdeckung der ursprünglichen Affinität von ästhetischer und moralischer „Empfindlichkeit [der] Seele“ musste daher zwangsläufig zur Anerkennung des innigen Nexus zwischen Erkenntnistheorie, philosophischer Psychologie und der Wissenschaft des Schönen führen und vice versa: zu einer philosophiehistorisch überfälligen anthropologischen Aufwertung der Vermögenssphäre der Emotionen von der Seite der ästhetischen Theorie her.20 Was hier als Inbegriff popularphilosophischen Philosophierens auf die Formel gebracht scheint die Öffnung des Bereichs der metaphysischen Spekulation auf den empirischen Phänomenbereich der menschlichen Sinnennatur21 legitimiert sich in der Folge allerdings weniger durch die Absicht einer erfahrungsanalytischen Fundierung des Empfindungsgeschehens und der verschiedenen Modi der Wirklichkeitswahrnehmung der Seele. Vielmehr offeriert die Allgemeine Theorie den Versuch einer systematischen Fortführung der „ersten Grundlinien einer Empfindungstheorie“ im Zeichen einer prinzipientheoretischen Grundlegung des kognitiven und emotionalen Seelengeschehens in der Basiskategorie rationalistischen Philosophierens: der Seele als vis repraesentativa.22 Nicht Erfahrungsseelenkunde im Sinn einer Wirkungsanalyse des Psychischen also, sondern der prinzipienphilosophisch geführte Nachweis eines fundamentalen Identitätsgesichtspunktes von Kognition und Emotion, der begrifflichen Verflechtung beider Tätigkeitsmodifikationen im Begriff der Vorstellungskraft der menschlichen Seele, ist damit bereits im Auftakt der Schrift als Beweisziel fokussiert; die Allgemeine Theorie weist sich mithin bereits von ihren Voraussetzungen her als eine Form des theoretischen
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ständiges“ entspricht, sondern dass sie als „sinnliche Eindrücke“, also vorstellungsgeleitete Wahrnehmungsqualitäten der menschlichen Seele aufzufassen seien (vgl. ATDE, S. 8), ist nach Eberhard eine der Hauptursachen der philosophischen Rehabilitation der Emotionen: eine Entdeckung, die der Leibnizianer Eberhard denkrichtig als erheblichen Gewinn für die „Psychologie“ verbucht. Der andere Einflussfaktor betrifft die Wertigkeit der Emotionen für die Theorie der schönen Künste, jenes Feld also, auf dem „nicht nur die Blume des Ergötzens, sondern auch die Frucht der Nutzbarkeit“ kultiviert werden kann und soll (ebd., S. 10). Vgl. ADTE, S. 10, S. 12. Die Theorie der Empfindungen der Seele, so Eberhard, stellt den „erste[n] und vorteilhafteste[n] Schritt [dar], [...] die Weltweisheit aus dem Himmel der Schulen herabzuziehen, und in die menschliche Gesellschaft einzuführen“ (ATDE, S. 4). Zu dieser Formulierung als Programmformel der popularphilosophischen Aufklärung (als Anthropologie) vgl. Wolfgang Proß: Herder und die Anthropologie der Aufklärung, in: ders. (Hg.): Herder und die Anthropologie der Aufklärung. München 1987, S. 1128–1216, hier S. 1128f. ATDE, S. 12. Eberhard weist sich bereits hier eindeutig als Leibnizianer aus: Seine Konzeption der Vorstellungskraft der Seele folgt Leibniz’ substanzontologischen Prämissen in der Psychologie, die den Kraft-Begriff zum universellen Ableitungsprinzip des Psychischen erklärt (vgl. G. W. Leibniz: Das neue System, in: ders.: Kleine Schriften zur Metaphysik. Philosophische Schriften Band 1, Herausgegeben und übersetzt von Hans Heinz Holz. Frankfurt/M. 1996, S. 191–319, hier S. 198f.
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Reduktionismus,23 als eine einheitliche philosophisch begründete Theorie des Psychischen über den Begriff der vorstellenden Seele respektive die Kategorie der „übersinnlichen Wahrheiten“.24 Kann von ihr, so muss gefragt werden, eine nichtreduktionistische Reflexion des Emotionalen der menschlichen Sinnennatur überhaupt erwartet werden? Die mit Beginn der eigentlichen Abhandlung getroffenen philosophischen Grundentscheidungen Eberhards bieten, jedenfalls vom propositionalen Gehalt her betrachtet, zunächst nichts anderes als eine identische Reformulierung der mit der Preisaufgabe formulierten Prämissen.25 Denn sie weisen erkennbar nicht in die 23
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Buchstäblich spricht Eberhard diesbezüglich vom principium reductionis, das ermöglichen solle, „die verschiedenen allgemeinen Bestimmungen [aufzusuchen], worin das Empfinden sich mit dem Denken unter ein Prädikament bringen läßt“ (ATDE, S. 11). Es ist wichtig, hier zu sehen, dass Eberhard den Geltungsbeweis einer systematischen Theorie des Psychischen zwar mit empiristischen Argumenten zu stützen, sachlich jedoch die Legitimation über ontologische Argumente sucht: Das unterscheidet ihn, wie ein Blick auf seine nur wenig später erschienene philosophische Antrittsvorlesung kenntlich macht, von den beobachtungsanalytischen Seelenkundlern vom Schlage eines Home, Hutcheson oder Sulzer und ist insgesamt bezeichnend für den ungebrochenen Hegemonialanspruch der Philosophie als Metaphysik auch bzw. gerade im Zeitalter der Hochkonjunktur von Metaphysikkritik und Empirisierungsbestrebungen in der erfahrungswissenschaftlich orientierten späten Aufklärung (vgl. Johann August Eberhard: Von dem Begriffe der Philosophie und ihren Theilen. Ein Versuch womit beym Antritt des von Seiner Königlichen Majestät Allgergnädigst ihm anvertraueten Amts eines öffentlichen Lehrers der Philosophie auf der Königl. Friedrichs=Universität zu Halle, seine Vorlesungen ankündigt Johann August Eberhard, Mag. der Philosophie. Berlin 1778, S. 40: „Die Anwendung der Ontologie auf das, was wir in uns beobachten [Hervorh. E.S.], würde die eigentliche wissenschaftliche Psychologie ausmachen, von der man noch die bloße empyrische beobachtende Psychologie unterscheiden müßte. Wollte man dann diesen genauen Unterschied durchgehends recht treu befolgen; so müßte die letztere sich bloß auf eigentliche Beobachtung der verschiedenen Arten der Erscheinungen in der Seele einschränken, diese sorgfältig sammlen und ordnen, ohne dabey auf ihre Quelle in dem Wesen der Seele, welches nicht anders als mit Hülfe ontologischer Grundsätze kann entdeckt werden, zurückzugehen; sie müßte eine bloße Naturgeschichte der Seele seyn.“ Vgl. ebd., S. 39f., pass. Der voraussetzungsreiche, im Übrigen deutlich auf Sulzer als den Urheber der Fragestellung verweisende Wortlaut der französisch formulierten Aufgabenstellung der Berliner Akademie (Eberhard selbst gibt lediglich eine thesenhafte Zusammenfassung), macht den Umfang der bereits in den Prämissen der Preisfrage mitgelieferten Vorformulierungen des Problems deutlich: ein Sachverhalt, der den Stürmer und Dränger Herder geradezu herausfordern musste, seine Darlegung des zur Debatte stehenden Problemzusammenhangs mit der Infragestellung der von der Akademie formulierten Voraussetzungen zu beginnen, um das argumentative Korsett für einen eigenen Neuansatz zu sprengen (vgl. M. Heinz: Sensualistischer Idealismus, S. 111, S. 118f.). Campes Übersetzung lautet wie folgt: „Die Seele hat ein zweyfaches ursprüngliches Vermögen, aus welchem alle ihre Eigenschaften und Wirkungen herzuleiten sind, nämlich die Erkenntniß- und Empfindungskraft. […] Beym Gebrauch der erstern ist die Seele mit einem Gegenstande beschäfftiget, den sie als ausser ihr befindlich ansiehet, und für welchen sie eine Art von Neugier heget: ihre Wirksamkeit scheint alsdann nur dahin zu streben, daß sie den Gegenstand richtig erkenne. Bey dem Gebrauch der letztern hat sie es mit sich und mit ihrem Zustande zu thun, und fühlet entweder etwas angenehmes, oder etwas unangenehmes. Alsdann scheint ihre Wirksamkeit nur dahin zu gehen, daß sie ihren Zustand ändere, wenn sie nämlich etwas unangenehmes fühlt, oder daß sie desselben genieße, wenn er angenehme Empfindungen in ihr veranlasset.“ Auf der Basis dieser Voraussetzungen sollen von den Beiträgern erstens die
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Richtung einer phänomenalen Analyse des Sinnesdatums der Empfindungen, sondern umgekehrt in die der Bekräftigung eben jenes bewusstseinstheoretischen Zugriffs auf die menschliche Vermögensnatur, dessen Bedenklichkeit Eberhard zum Ausgangspunkt seines angeführten philosophiehistorischen Resümees gemacht hatte. Nur unter der metaphysischen Voraussetzung der „genauesten Einfachheit der Seele“26 können, so der Philosoph, alle Erklärungsschwierigkeiten bezüglich der funktionellen Eigentümlichkeiten der kognitiven und der emotionalen Vermögen (Denk- und Empfindungskraft)27 sowie ihres spezifischen Verhältnisses zueinander einer zufriedenstellenden Lösung zugeführt werden. Die faktische wechselseitige Beeinflussung von Denkkraft und Empfindungskraft erfordert als deren Möglichkeitsbedingung die Annahme einer fundamentalen Gemeinsamkeit beider: Aus der „Urkraft“ der Seele, ihrer „genauesten Einfachheit“,28 so Eberhard im Rahmen einer polemischen Kritik an der vermögenstheoretischen Diversifizierung des Psychischen durch das Postulat vielfacher Kräfte,29 ist das theoretische Potential der anthropologisch als Einheit von Erkenntnis und Empfindung gedachten Seelenäußerungen denknotwendig zu konzipieren. Empfindungs- und Denkkraft, so Eberhards erste philosophische Leitprämisse, sind als bloße Derivate der „allgemeinen Urkraft x“30 aufzufassen, als Modifikationen eines dem empirischen Seelengeschehen vorausliegenden, sich in Vorstellungen aktualisierenden
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„ursprünglichen Bedingungen dieser zwiefachen Kraft der Seele und zugleich die allgemeinen Gesetze derselben“ geklärt werden, zweitens die funktionelle Interdependenz beider Seelenkräfte sowie drittens die Grundsätze der Beurteilung von „Geistes-Fähigkeit [Genie] und sittlicher Gemüthsart [Charakter]“ zur Aufklärung gebracht werden (vgl. Campe: Empfindungsund Erkenntnißkraft, S. 4–6). ATDE, S. 18. Eberhards Formulierungen übernehmen kritiklos die terminologisch vagen bzw. schulphilosophisch gesehen inkonsistenten Bezeichnungen Sulzers für die Seelenvermögen (vgl. etwa: „zwiefache Kraft der Seele“, „beyde Kräfte der Seele“ – ebd., S. 14) „Erkenntniß- und Empfindungskraft“ – ebd., S. 31). Allerdings eben nicht in der von Sulzer gewünschten Absicht, die Selbständigkeit von zwei unkoordinierten psychischen Potenzen anzuzeigen, sondern umgekehrt: ihren Identitätsgesichtspunkt herauszuarbeiten. Wolffs Unterscheidung zwischen „Vermögen“ und „Fähigkeit“, die hier Eindeutigkeit hätte schaffen können, greift Eberhard, in diesem Punkt Sulzer folgend, bezeichnenderweise nicht auf (vgl. Wolff: DM, § 117, S. 61f., hier S. 61: „Es muß aber die Kraft nicht mit einem blossen Vermögen vermenget werden: denn das Vermögen ist nur eine Möglichkeit etwas zu thun: hingegen da die Kraft eine Quelle der Veränderungen ist, muß bey ihr eine Bemühung etwas zu thun anzutreffen seyn.“). ATDE, S. 18. Vgl. ATDE, S. 19 f.: „Wenn es mit der Einfachheit der Seele bestehen kann, daß sie aus drey Kräften zusammengesetzt sey, so kann sie eben so gut, nach einigen neuern Platonikern, sieben, oder neune [...] haben.“ Wenn Eberhard in diesem Zusammenhang geradezu sarkastisch von den „unphilosophisch[en]“ (nämlich empirisch, beobachtungsanalytisch etc. geprägten) Versuchen spricht, die Seelenvermögen zu vervielfältigen (der Tonfall selbst ist auch ein Affekt gegen den von der empirischen Anthropologie maßgeblich initiierten Kompetenzverlust der Philosophie als Metaphysik der Seele), kommt der für die popularphilosophische Spätaufklärung symptomatische Spannungsgegensatz zwischen philosophisch-metaphysischem (‚von oben‘) und empirisch-anthropologischem (‚von unten‘) Erklärungsanspruch bezüglich der menschlichen Vermögensnatur und ihrer Leistungen zum Ausdruck. Ebd., S. 24.
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Prinzips der einheitlichen Wirklichkeitsauffassung. Grundlage beider psychischen Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen sind damit Repräsentationen, denn die „Grundkraft der menschlichen Seele kann also nichts anders seyn als das Bestreben, Vorstellungen zu haben.“.31 Die zugrunde liegende Denkfigur dieser Argumentation die Komplexitätsreduktion auf das Einfache der Vorstellkraft, die Eberhard mit Descartes und Malebranche dezidiert als Potenz des Denkens konzipiert32 ist unübersehbar. Mit Kognition und Emotion als Vorstellungsarten33 lassen sich bereits die zwei basalen Intentionen genuin philosophischer Prägung identifizieren, die den Verlauf der Argumentation bestimmen werden: erstens tritt die Absicht zutage, die Vielfalt (und das heißt in der Sprache der Vorstellungstheorie: die Undeutlichkeit) empirisch-sinnlicher Daten so zu behandeln, dass sie als präzise beschriebene Modifikationen einheitlicher Gesetze des Psychischen beschrieben und klassifiziert wer-
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Ebd., S. 33. Das Modell des vorstellungstheoretischen Reduktionismus der psychischen Phänomene auf Modifikationen der als Substanz gesetzten Seele ist präfiguriert bei dem in der zeitgenössischen Diskussion der Seelenkräfte, im Besonderen der Einbildungskraft, viel beachteten Nicolas Malebranche (1674–1678), auf den Eberhard in einer Fußnote in Verbindung mit Descartes verweist. (Eine deutsche Übersetzung der philosophischen Hauptschrift N. Malebranches De la recherche de la vérité [frz. 1684], die ausführlich die Hauptvermögen der menschlichen Seele im dualen Schema von Kognition und Volition erörtert, erschien in der Hochphase der erfahrungsseelenkundlichen Analysis unter dem Titel: Von der Wahrheit, Oder von der Natur des menschlichen Geistes und dem Gebrauch seiner Fähigkeiten, um Irrthümer in Wissenschaften zu vermeiden. Halle 1776–1780.) Malebranche konzipiert sowohl die Empfindungen als auch die Fähigkeit der Begriffsbildung als „des manières d’être de l’esprit“. „Leur être n’enferme point de rapport nécessaire avec les corps qui semblent les causer, comme on le prouvera ailleurs; et elles ne sont rien autre chose que l’âme modifiée d’une telle ou telle façon; de sorte qu’elles sont proprement les modifications de l’âme.“ Nicolas Malebranche: De la Recherche de la vérité. Paris 1991, Livre premier: Des sens. Chapitre premier („De la nature et des propriétés de l’entendement“), S. 14f. Zur ausführlichen Analyse von Malebranches physiologischer Ätiologie der Einbildungskraft im Kontext der kontemporären Konkurrenz- und Parallelansätze (J. F. Budde, J. G. Walch, F. Hoffmann, G. H. Richerz, C. F. Pockels u.a.) vgl. Dürbeck: Einbildungskraft, S. 86ff. „La pensée toute seule [Hervor. E.S.] est donc proprement ce qui constitue l’essence de l’esprit, et les différentes manières de penser; comme sentir et imaginer ne sont que les modifications dont il est capable, et dont il n’est pas toujours modifié […].“ Malebranche: Recherche [=Livre troisième: De L’entendement, ou de l’esprit pur], S. 352. Von einem ‚Malebranchismus‘ Eberhards kann ungeachtet dessen keine Rede sein: Nicht nur ist für den französischen Philosophen der Verstand selbst [l’entendement] Inbegriff der „faculté passive de l’âme par laquelle elle reçoit toutes les différentes modifications dont elle est capable“ [Hervorh. E.S.] (vgl. ebd., Livre premier, S. 15); alle apperzeptiven Funktionen der Sinne wie der Einbildungskraft sind nach gut physiologischem Erklärungsmodell auch an die „organes du corps“ zurückgebunden (vgl. ebd., S. 16). Genau genommen wäre – terminologisch macht Eberhard diese Differenz innerhalb seiner Ausführungen natürlich nicht durchgehend kenntlich – nicht vom Empfinden und Begehren als eigenständigen „Kräften“ zu sprechen, sondern von „Empfindungsvorstellungen“ und „Erkenntnisvorstellungen“. Tetens ist hier wesentlich präziser, wenn er die „Empfindungen, oder eigentlich Empfindungsvorstellungen“ als den „letze[n] Stoff aller Gedanken, und aller Kenntnisse“ bezeichnet (vgl. Tetens: Philosophische Versuche, S. 336).
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den können;34 zweitens der Versuch, den Funktionsbereich des sinnlichen Wahrnehmens und Empfindens nicht als Abfolge körperlicher Vorgänge, sondern im exakt gegenteiligen Sinn als Resultat der Wirkungskomplexionen der nichtsinnlichen Vorstellungskraft zu beschreiben. Aller genuin empirisch-vermögenstheoretischen Analysis des sinnengeleiteten Wahrnehmungsdatums der Empfindungen ist mit der Postulierung eines präempirischen Einheitsprinzips für Denken und Empfindungen durch den strukturanalogen Vorstellungsbegriff gleichsam der Boden entzogen. Weder die empirisch-psychologische Differenz der Eigenschaftsmerkmale kognitiver und emotionaler Wirklichkeitswahrnehmung bildet hier demnach den theoretischen Konstruktionsgesichtspunkt noch kann genau genommen überhaupt von einem als anthropologische Notwendigkeit behaupteten Nexus von Denken und Empfinden gesprochen werden. Im Gegenteil: Eberhards Wiederbelebung der substanzontologischen Prämissen der rationalistischen Philosophie bekräftigt zwar die ebenso für die empirische Anthropologie verbindliche Hypothese der theoretischen Einheit von Denkund Empfindungskraft. Sie setzt jedoch die Abstraktion vom materiellen, vom sinnlichen Gehalt der Emotionen voraus und zwingt in Kontraposition zu allen kausalistischen respektive physiologischen Ableitungsverfahren35 zu einer Quantifizierung des Psychischen, genauer: seiner Atomisierung36 im Begriff des Vorstellens. Dem von der Leibnizschen Konzeption der appetitiven Monade her theoriegeschichtlich möglichen, bereits in Sulzers früher Lusttheorie des Psychischen in die rationalistische Vorstellungstheorie hineingetragenen Dynamismus des
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Es ist Campe, der in seiner Preisschrift notorisch darauf hinweist, dass der intellektualistische Reduktionismus, der sich mit dem skizzierten Ansatz verbindet, nicht anthropologisch („nicht wirklich“), sondern nur theoretisch als Ausdruck eines denknotwendigen Systematisierungsbedürfnisses, zu verstehen sei; eine Erklärung, die überflüssig wäre, wenn ihr sachlich nicht das Gegenteil korrespondierte (vgl. Campe: Empfindungs- und Erkenntnißkraft, S. 7, S. 178). Vgl. etwa ATDE, S. 54. Jedweder physiologischer Psychologie wird von Eberhard eine klare Absage erteilt: Gemäß des deduktiven vorstellungstheoretischen Ansatzes muss jede Berücksichtigung des Körpers dazu führen, „der Seele selbst auf die Spur zu kommen“. Dergleichen jedoch, so Eberhard, ist nur über die Heranziehung genuin vorstellungspsychologischer Gesetze (Assoziationsgesetz u.a.) realisierbar. Eberhards beachtenswerte, mechanistisch-physikalistische Psycho-Metaphorik spiegelt die angeführte Fundiertheit des philosophisch-psychologischen Essentialismus in den Erklärungsverfahren der Naturwissenschaften (Physik) und im ontologischen Begründungsrahmen: Mehr einem Automaten als einem leibseelischen Organismus ähnlich, ist die Seele ein „Triebwerk“ (ATDE, S. 29), dessen „verwickelte Erscheinungen“ sich „in ihre ersten Bestandtheile [auflösen]“ lassen (ebd., S. 32), in ihren „gemeinschaftlichen Urstoff“ (S. 34f.). Bis zur Handgreiflichkeit spitzt hingegen Campe den Physikalismus der Metaphorologie zu: Die Empfindungsvorstellung gilt ihm als „eine mehr oder weniger zusammengesetzte Vorstellung, welche aus einer Menge zusammengepreßter [Hervorh. E.S.] gleichzeitiger Begriffe von vielen Merkmalen einer Sache, und deren Beziehung auf uns besteht.“ (Campe: Empfindungs- und Erkenntnißkraft, S. 28f.)
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Begehrens wird in Eberhards Modell ganz offenkundig schon im Ansatz die argumentative Basis entzogen.37 1.1.2 Omnipotenzverlust der erkennenden Seele und „Verwechselung unserer selbst“: Passivitätsstruktur und Identifikationspotential der Emotionen Wie Eberhard die Aufgabe, Empfindungs- und Erkenntniskraft als Modifikation der substantiellen Seele (Grundkraft) zu erklären, im Einzelnen durch eine Reihe von vorstellungstheoretischen Distinktionen löst, durch die das Leibnizsche Schema der unterschiedlichen Deutlichkeitsgrade des Erkennens für die Erklärung des Empfindungsgeschehens transponiert wird,38 bedarf im Kontext der hier verfolgten Leitfrage nach der anthropologisch-ästhetischen Promotion der Empfindungen nicht der detaillierten Darstellung. Vielmehr bleibt anhand der anthropologisch-ästhetischen Leitunterscheidungen bezüglich der Differenzmerkmale von Erkenntnis und Empfindung herauszustellen, in welcher Weise das Leistungsvermögen der affektiv-emotionalen Sinnlichkeit gegenüber den kognitiven Akten der Wirklichkeitswahrnehmung zur Geltung gebracht und profiliert wird: Hält mit anderen Worten die Allgemeine Theorie für die Frage nach dem anthropologischästhetischen Potential der Emotionen nichts als eine Verlustrechnung bereit? In der Tat, so ist in einem doppelten Rekonstruktionsschritt zu zeigen, überführt Eberhards vorstellungstheoretische Verklammerung von Denk- und Empfindungskräften den empirischen Fundierungszusammenhang beider Potenzen des Psychischen in jenes Erklärungsmodell rationalistischer Provenienz, wonach die anthropologische Wertigkeit der jeweiligen Seelenvermögen sich am Maßstab der höher bewerteten gedanklichen Erfassungsleistungen bemisst. Den philosophiegeschichtlich älteren anthropologischen Dualismus von Aktivität und Passivität der Seele unter Umbildung des Malebrancheschen Erklärungsmodells der psychi37
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Von Eberhards quantitativem Erklärungsansatz des Psychischen unterscheidet sich Leibniz’ Dynamisierung des Vorstellungsbegriffs (Perzeption) dadurch, dass die vorstellende Substanz (Monade) als eine quasi organismische Funktionseinheit erklärt wird. Derselben inhäriert das Bedürfnis, von einer Perzeption zur nächstfolgenden überzugehen gemäß jenes „inneren Prinzips“, das „Strebung (appetitus)“ genannt werden kann. „Es ist wahr, daß der Appetitus nicht immer ganz und gar zu der Perzeption gelangen kann, auf die er angelegt ist, aber er erlangt immer irgend etwas und dringt zu neuen Perzeptionen vor.“ (Gottfried Wilhelm Leibniz: Kleine Schriften zur Metaphysik. Philosophische Schriften. Band 1. Französisch und deutsch. Hg. u. übers. v. Hans Heinz Holz. Frankfurt/M. 1996, § 15, S. 445 („Die Prinzipien der Philosophie oder die Monadologie“); vgl. auch ebd., § 2, S. 415 („In der Vernunft begründete Prinzipien der Natur und Gnade“): Die „Perzeptionen“ und die „Strebungen“ (das heißt ihr [der Monaden, E.S.] Tendieren von einer Perzeption zur anderen) […] sind die Prinzipien der Veränderung.“ Zu Sulzers Transformation des Begehrungsmoments im Begriff der Vorstellungen vgl. unten, Abschnitt VI. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Meditationes de cognitione, veritate et ideis. Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen, in: ders.: Kleine Schriften zur Metaphysik I, S. 33–35.
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schen Vermögen39 nämlich reinstallierend, etabliert Eberhard erstens die Gegensätzlichkeit von „leidend[er]“ und „thätig[er]“ Seele zum basalen Differenzmerkmal zwischen Emotionen und Erkenntnisleistungen der menschlichen Seele.40 Während sich die Seele im Zustand des Denkens, und das heißt unter Aktualisierung jener deutlichen Vorstellungen, bei denen sie „sich genau bewußt [ist], wie eine Vorstellung aus der andern in ihr entstanden“ ist,41 als eine willkürlich apperzipierende und Distinktionen treffende erfährt,42 charakterisiert sich nach Eberhard der Zustand des Empfindens (innere und äußere Emotionen) im Gegensatz hierzu gerade durch die Disjunktion von Vorstellungstätigkeit (Übergang von einer deutlich unterscheidbaren Idee zu einer anderen) und dem subjektiven Tätigkeitsbewusstsein als Gelingen dieses Vorstellens (das Fühlen dieser Vollzugstätigkeit). Im Fühlen ist das „Bewußtseyn unsere[r] eigenen Thätigkeit“ durch die Undeutlichkeit der Vorstellungen gleichsam verdunkelt.43 Emotionen sind gemäß dieser Definition ein gleichsam doppelt defizitärer Modus des Vorstellens: Von epistemologischer Warte aus als Inbegriff diskontinuierlicher Repräsentation44 sowie unter ethischem Aspekt als Verkörperung des Verlusts subjektiver Verfügbarkeit im Zustand der Passionen geht das Subjekt nachgerade des freiheitlichen Zugriffs auf seine Selbstbestimmung verlustig. Dass Eberhard im Rahmen dieser Ausführungen tendenziell die anthropologische Depravation der Affekte legitimiert, vermag vollends zu verdeutlichen, dass in seiner Radikalisierung des bewusstseinstheoretischen Ansatzes Wolffs letztlich nicht eine Anthropologie der Seelenvermögen konzipiert wird, die auf das empirische Subjekt verweist, sondern der Distinktionsgrad des von der Seele Vorgestellten zur Basis einer vermögenstheoretischen Unterscheidung wird, die den gleichsam körperfreien Aktionsraum der Seele zum Indiz ihrer Vollkommenheit erhebt.45 39
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In seiner erwähnten philosophischen Hauptschrift geht Malebranche von einem Kräftedualismus der einheitlichen Seele aus, der durch Verstand [entendement] und Willen [mouvement naturel / volonté] konstituiert wird. Während der Verstand als Vermögen der Begriffsbildung als ein nur leidendes, passiv perzipierendes Vermögen definiert ist („entièrement passive et ne renferme aucune action“), wird das Willensvermögen als „force“, „mouvement naturel qui nous porte vers le bien indéterminé et en général“ bestimmt, vgl. Malebranche: Recherche, Livre premier, S. 15, S. 18. Vgl. ATDE, S. 35. Ebd. Ebd., S. 36: „[…] Auf dem Gefühl dieser Willkühr beruht allein das Gefühl der Thätigkeit.“ Den Souveränitätscharakter, der sich mit diesem Zustand verbindet (eine weitere Validierung des Kognitiven!), verknüpft der Popularphilosoph gewichtig mit dem Bewusstsein der Freiheit als Grundlage des sittlichen Handelns (vgl. ebd., S. 36f.). Ebd., S. 37f. Da im Empfindungsmodus der vorstellenden Seele, so Eberhard, „die Mittelideen gänzlich fehlen“ (ATDE, S. 38), wird das für die rationalistische Vorstellungstheorie leitende Grundgesetz der „Stätigkeit“ verletzt, wonach „eine jede Perception durch alle [...] unmerklichen Stufen [muß] gegangen seyn, wenn sie von der niedrigern zur höhern kommen, aus dunkel klar, und aus klar deutlichen werden soll“ (vgl. ebd., S. 71). Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die epistemologisch und ontologisch imprägnierte Emotionstheorie der auf Leibniz zurückgehenden Psychologie der siebziger Jahre (mit Eberhard
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Im Unterschied hierzu lassen sich anhand von Eberhards zweitem Distinktionsmerkmal zwischen kognitiven und emotiven Vorstellungsakten der Seele die Ansätze zu einer theoretischen Aufwertung des Empfindungsgeschehens sowohl für die Erkenntnistätigkeiten der Seele als auch für ihre sittlichen Antriebe feststellen – eine Argumentation, die die Schwierigkeiten einer theoretisch konsistenten Vermittlung zwischen ästhetischer und moralischer Validität der Empfindungen offenkundig werden lässt. Die von Sulzer vorgegebene Leitunterscheidung zwischen gegenstandsbezogener (Denken) und selbst- bzw. zustandsbezogener Vorstellungstätigkeit der Seele (Empfinden), „daß die Seele bey dem Denken den Gegenstand, womit sie sich beschäftigt, als außer sich befindlich ansieht; hingegen bey dem Gebrauch der Empfindungskraft mit ihrem eigenen Zustande zu thun zu haben glaubt“46 (Hervorh. E.S.), hebt Eberhard zunächst zwar der Sache nach auf, indem er den von Sulzer behaupteten Selbstbezüglichkeitscharakter der affektivemotionalen Gegenstandswahrnehmung als bloße „psychologische Täuschung“47 nachzuweisen sucht.48 Gleichwohl wird der für das Empfinden49 charakteristische
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und Campe als repräsentativen Vertretern), wenn die Empfindungsfakultäten der menschlichen Seele als Vermögen „auf der niedrigsten Stufe ihrer Vollkommenheit“ eingestuft werden bzw. die „Vollkommenheit“ des Menschen „mehr [dem] Zustande des Denkens als des Empfindens“ attestiert wird (vgl. Campe: Empfindungs- und Erkenntnißkraft, S. 18; Eberhard: ATDE, S. 44). Sowohl Campe wie Eberhard, das zeigt der Bestimmungskontext bei Leibniz, übernehmen somit für die spätaufklärerische Erfahrungspsychologie die theozentrischen Implikationen der Leibnizschen Monadologie: Die anthropologische Zurückstellung der menschlichen Sinnennatur (Emotion, Affekt) ergibt sich nicht allein aus ihrer kognitiven Ungeeignetheit (zum deutlichen Vorstellen bzw. Identifizieren deutlicher Merkmale), sondern aus ihrer ontologischen Subordinationsstellung gegenüber der vollkommenen Entität Gottes (vgl. Leibniz: Prinzipien der Philosophie, §§ 38ff., S. 455ff.). In seiner Studie zu medizinisch-anthropologischen Konzepten der deutschen Spätaufklärung hat R. Bezold die Struktur dieser schulphilosophisch motivierten Einschränkung des empirischen Leib-Seelezusammenhangs für den Theoriesektor der Erfahrungsseelenkunde (Mendelssohn-Umkreis, Marcus Herz, Karl Philipp Moritz) nachgewiesen und in die Deutungsperspektive einer „zunehmenden Entsomatisierung der Seelenlehre“ gestellt (vgl. Raimund Bezold: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz. Würzburg 1984, S. 129f.). Vgl. ATDE, S. 45. Ebd., S. 45. Vgl. ebd., S. 45f. Während im Zustand des Denkens „das Subjekt, und die Gegenstände der Gedanken, die mich beschäftigen“ als voneinander verschieden gedachte Einheiten wahrgenommen werden, erscheinen im Zustand des Empfindens Selbstwahrnehmung und Gegenstandswahrnehmung aufgrund der enormen „Menge und Stärke der Vorstellungen“ als miteinander konfundiert: das Ich verfügt nicht über „die Zeit und Freyheit des Zerlegens und Unterscheidens“, um sich selbst als subjectum inhaesionis von den Vorstellungen zu unterscheiden. Erst zum Ende seiner Abhandlung liefert Eberhard eine konzise Erklärung seines integrativen Emotionsbegriffs, die die intensive Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Problematisierungen der emotionalen Wahrnehmung belegt. Empfindung, so Eberhard mit Bezug auf die erstmals von Thomas Abbt terminologisch für den deutschen Sprachraum fixierte Differenz von sensuellem und transsensuellem Empfindungsbegriff, ist Inbegriff sowohl der ‚äußeren‘ Emotion (als „gefühlter Vollkommenheit des Körpers“: „Empfindung“) als auch der ‚inneren‘ Emotion (als Wahrnehmung der der Seele eigenen Vollkommenheit und Unvollkommenheit: „Empfindniß“), vgl. ATDE, S. 169f. Zu Abbts innovativer, bereits 1765 formulierter Grundunterscheidung zwischen Empfindungen „vermittelst der Sinne“ und „vermittelst der Einbil-
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Zustand des Ineinanderschmelzens verworrener Vorstellungen gerade nicht (mangels deutlicher Vorstellungen) als ein insuffizienter gekennzeichnet. Unter Hervorhebung des Erlebnischarakters dieses ‚dunklen‘ Seelenzustands wird der Zustand des Empfindens nun vielmehr als anthropologisch auszeichnendes Merkmal deklariert, das die Sittlichkeit spontaner Gefühlsregungen garantieren kann: In der durch das Empfinden verursachten „Verwechselung unserer selbst mit den Gegenständen“ liegen nach Eberhard die Voraussetzungen für eine subjektiv als „Verschmelzung unseres eigenen Vergnügens mit dem außer uns an andern zu wirkenden Vergnügen“50 (Hervorh., E.S.) – eine Identifikationsleistung explizit sittlicher Qualität.51 Dass unter dem Gesichtspunkt dieser Differenzbestimmung die stratifikatorische Systematisierung des Psychischen auf der Basis vorstellungstheoretischer Distinktionen als „Mathematik der Seele“52 nicht konsistent durchzuhalten ist, bestätigt sich, wenn von Eberhard in diesem Zusammenhang die Körpergebundenheit der Emotionen nun wiederum als deren Spezifikum ausgewiesen wird. Denn über das Merkmal des Deutlichkeitsverlustes hinaus charakterisiert den Zustand des Empfindens die Prädominanz zahlreicher und lebhafter Vorstellungen, die sich „der Seele bemächtigend“ und das Denken vollends zu vernichten drohend jene körperlichen Symptome erzeugen, die alle Emotionen fortwährend begleiten.53 Wenn in dem Zustande des Denkens nur einige Nerven des Kopfes geschäftig sind: so ist hingegen in dem Zustande starker Empfindungen die Erschütterung der Nerven so stark, daß sie sich dem ganzen System mittheilt, die Adern erweitert oder zusammenzieht [...] und den so bewegten Menschen entweder in Furcht erbleichen oder in Scham und Zorn erröthen läßt [...].54
Sittliche und ästhetische Auszeichnung der Empfindungen, so lassen sich Eberhards Distinktionen bis zu diesem Punkt resmümieren, konkurrieren in dem greifbar popularphilosophischen Merkmalskatalog der Empfindungen entscheidend hinsichtlich des Erlebnischarakters als solchem bzw. der sinnengeleiteten Selbstund Lusterfahrung. Im Unterschied zu Sulzers am ästhetischen Empfindungsbegriff geltend gemachtem Selbstbezüglichkeitscharakter der sinnengeleiteten Wahrnehmung55 kommt Eberhards vorstellungstheoretischer Differenzierungsansatz zu
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dung“ durch den Neologismus „Empfindniß“, der ausdrücklich die „Organisation des Körpers“ berücksichtigte, vgl. ders.: Die Abhandlung vom Verdienste, in: [Abbt, Thomas:] Vermischte Werke. 1. Theil. Berlin und Stettin 1772, bes. S. 114–121, S. 128. Ebd., S. 48f. „Der größte Grad der Innigkeit dieser Vermischung beweiset nichts, als den größten Grad der Lebhaftigkeit der Empfindung fremdes Wohls. Heil dieser göttlichen Begeisterung! Heil jedem Herzen, das ihr fähig ist“ (ATDE, S. 49). Ebd., S. 67. Vgl. ebd., S. 50. Ebd., S. 52f. Vgl. zu Sulzer die Ausführungen oben, Abschnitt VI.
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gegensätzlichen Einschätzungen der Konstitutionsprinzipien empfindungsgeleiteter Wirklichkeitswahrnehmung. Das Abhandenkommen der deutlichen Apperzeption in der emotionalen Selbstwahrnehmung wird zur Voraussetzung der lustvollen Gegenstandswahrnehmung genau dadurch, dass Vorstellungsgegenstand und Vorstellungssubjekt bis zur Ununterscheidbarkeit konvergieren, die Differenzmerkmale zwischen Subjekt und Objekt mithin eingeebnet werden. Dass Eberhard eben dieses Qualitätsmerkmal der feineren, der inneren Empfindungen für die sittliche Emotion reserviert, ist die entscheidende Pointe gegenüber dem Ansatz Sulzers, die sich unter theoriegeschichtlichem Blickwinkel für die Ästhetik kaum als Progression bewerten lässt. Denn zwar dokumentiert die vorstellungstheoretische Deduktion der Empfindungswahrnehmung die Tendenz einer anthropologisch relevanten Aufwertung des Empfindungsgeschehens sowohl für den ästhetischen Bereich (‚angenehme Emotionen‘) als auch für die moralische Sphäre (sittliches Gefühl, das „Daseyn geselliger Empfindungen“).56 Die Chancen, das ästhetische Gefühl als ästhetisches sicherzustellen – als eine eigenständige Unterart im komplexen Empfindungsbegriff – sind hier indes zunächst vergeben.57 Die von Eberhard in der zweiten Auflage seiner Ästhetik vorgenommene Ausgliederung der „undeutlichern Sinne“ aus dem Gegenstandsbereich der Ästhetik58 muss vor dem skizzierten Hintergrund der frühen – ästhetisch-moralischen – Empfindungstheorie des Popularphilosophen geradezu als Ausgliederung des Gefühlssinns (als undeutlicherem Sinn) aus der Skala der ästhetischen Erfahrungsmodi bewertet werden, soll man diesbezüglich nicht von einem blinden Fleck, einer klaffenden Lücke im System der ästhetischen Empfindungstheorie bei den Vertretern der Leibniz-Wolffschen Schule ausgehen.59 Zugleich wird damit einmal mehr deutlich, worauf es dem Regelästhetiker Eberhard ankommt: auf die Disponibilität des Aisthetischen für eine objektivierbare „Wissenschaft der Regeln der Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntniß“.60
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Vgl. ATDE, S. 46ff. Vgl. ATDE, S. 48f. Eberhards hier vorgenommene Unterscheidung zwischen Empfindungsakt und Empfindungsgegenstand korreliert mit einer Basisdifferenzierung im Rahmen seines Ästhetiklehrbuchs, das die nicht „im engeren Sinn“ ästhetischen Wahrnehmungsmodi der „undeutlichern Sinne“ (Geruchs-, Geschmacks- und Gefühlssinn) von den „Gegenstände[n] der deutlichern Sinne“ (optischer und akustischer Sinn) kategorial absetzt (vgl. TSW I, § 6, S. 6). TSW II, § 6, S. 5. Wie das Beispiel eines anderen namhaften Popularphilosophen – J. J. Engel – zeigt, ließen die zeitgenössischen Theorieangebote durchaus eine innovative Binnenunterscheidung im Empfindungs- bzw. Gefühlsbegriff zu. Das von Feder einsichtig herausgestellte Defizit der schulphilosophischen Vermögenspsychologie, die ästhetischen Validitäten des „Gefühlssinns“ glatt mit den „gröberen“ (Geruch, Geschmack, Gefühl) zu verrechnen, führt in der Konsequenz zur Etablierung eines dritten „feineren“ (neben Gehör- und Gesichtssinn) und damit insgesamt sechsten Sinnes – des „Getasts“ (vgl. Johann Jakob Engel: Ueber einige Eigenheiten des Gefühlssinnes, in: ders.: Schriften. 9. Bd.: Philosophische Schriften. Erster Theil. Berlin 1844, S. 100–111, hier S. 110). TSW I, § 5, S. 4, Hervorh. E.S.
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1.2 Psychophysischer Commerz als Korrespondenzphänomen. Übergangskonzeptionen (Leib-Seele; Denken-Empfinden) Es ist nun allerdings für das Verständnis der grundlegenden Charakterisierungsabsichten Eberhards wesentlich zu berücksichtigen, dass im Rahmen der systematischen Überlegungen zum anthropologischen Stellenwert des Empfindungsgeschehens zwar die somatologische Charakteristik erneut dem bewusstseinstheoretischen Distinktionsmuster aufgeopfert wird, im doppelten Rückgriff auf Leibniz’ Konzeption des Psychischen (die menschliche Seele als einer „eingeschränkten“ Kraft) und des Commercium-Modells der prästabilierten Harmonie61 der Phänomenbereich der Empfindungen jedoch auch von der Seite seiner anthropologischen Implikationen zur theoretischen Erfassung gelangt. In einer doppelten Hinsicht nimmt dabei die sinnliche Wahrnehmung qua Empfindung einen ausgezeichneten Differenzstandpunkt gegenüber dem Erkennen ein, den Eberhard zunächst direkt aus dem Leibniz-Wolffschen Theorem der eingeschränkten Natur der menschlichen Seele folgert und unmittelbar für die vorstellungstheoretische bzw. transzendental-psychologische Charakterisierung ihrer (von der Phänomenebene her gesehen) sinnlichen Eigenschaften operationalisiert.62 Aufgrund ihrer eingeschränkten Fähigkeit, die Einzelvorstellungen in ihren Merkmalen zu erfassen und mit Deutlichkeit zu unterscheiden, sowie aufgrund der indirekten Proportionalität von jeweils vorgestellter Mannigfaltigkeit („Menge“) und der zur Verfügung stehenden Zeit,63 folgt als erstes vorstellungstheoretisches Empfindungsgesetz der eingeschränkten Seele, dass die in der empirischen Anschauung gegebene unkoordinierte Menge an Partialvorstellungen von der Seele zu einer einzigen Totalrepräsentation verdichtet und mit der solchermaßen erreichten Potenzierung der „Stärke“ und „Lebhaftigkeit“ der Emotion selbst64 sowohl der Zu61 62
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Vgl. Leibniz: Das neue System, §§ 12ff., S. 217ff.; ders.: Prinzipien der Philosophie, §§ 78ff., S. 475ff. Die Formel von der eingeschränkten Natur der menschlichen Seele, auf die Wolff in schulphilosophischer Prägnanz den Leibnizschen Gedanken der menschlichen Unvollkommenheit bringt (vgl. Leibniz: Prinzipien der Philosophie, § 41, S. 457: Nur „da, wo es keine Schranken gibt, das heißt in Gott, ist die Vollkommenheit absolut unendlich“), benennt die spezifisch anthropologische Gebundenheit des menschlichen Wahrnehmens und Erkennens durch raumzeitliche Determiniertheit und vor allem: die Bindung alles psychischen Geschehens an den menschlichen Körper: Der „Grund der Einschränckung bestehet in dem Stande des Cörpers in der Welt, und weil er veränderlich ist, in allen seinen Veränderungen.“ (vgl. Wolff: DM, § 784, S. 489). Vgl. ATDE, S. 54f. Für das Verständnis des mit der vorstellungstheoretischen Deduktion verbundenen Reduktionismus gegenüber der phänomenalen Gegebenheit des Sinnesdatums der Empfindungen ist es wichtig festzuhalten, dass Eberhard den gegenstandsbezogenen Inhalt der Empfindungsvorstellungen und den kognitiv nicht erfassbaren Konstitutionscharakter der Vorstellungen selbst nicht auseinander hält, sondern als konvergierende Merkmale dieser unterschiedlichen Gegebenheitsweisen von Empfindungsvorstellungen permanent ineinander blendet, wie im oben genannten Merkmal evident wird: die Stärke und Lebhaftigkeit der Emotionen selbst konvergiert mit der Merkmalsfülle dessen, was in den Vorstellungen als Gegenstandsbereich der Emotio-
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stand des Denkens als auch die Wahrnehmung anderer Teilempfindungen verdrängt wird.65 Im Zustand des Empfindens ist für Eberhard demnach die Selbstreflexivität der sinnlich wahrnehmenden Seele prinzipiell eingeschränkt, da die Erfassungsleistungen der auf deutliche Merkmalsunterscheidung ausgerichteten kognitiven Seele gleichsam absorbiert sind.66 Zugleich wird durch die Auflistung der Unterscheidungskriterien beider Vorstellungsmodi bereits die Interdependenz von Denken und Empfinden in Ansätzen erkennbar, wobei in besonderem Maß auffällig ist, dass Eberhard diese wechselseitige Abhängigkeit nach empiristischem Muster von den Empfindungen aus entwickelt. Denn ist einerseits das Denken als Tätigkeit bestimmt, die von einer gegebenen Mannigfaltigkeit der Empfindungen durch Abstraktion allgemeinere Strukturen abhebt, so ist es eben dadurch, wie Eberhard an späterer Stelle ganz im Locke’schem Sinn kenntlich macht, vom Gegebensein der Empfindungen abhängig: Die Gedanken sind in den Empfindungen „eingewickelt.“67 Die umgekehrte Abhängigkeitsrelation wird von Eberhard hingegen nur ex negativo gekennzeichnet: als latenter Bedingungszusammenhang des koordinierenden Erfassens (Empfindung) mit dem Abstraktionsvermögen des Erkennens, das nicht nur die kategoriale Zuordnung von Teil-Ganze-Zusammenhängen leistet,68 sondern auch für das Subjekt zum Bewusstsein bringt, dass es im Wahrnehmen sich als ein von dem Wahrgenommenen unterscheidbares respektive aktiv perzipierendes zu reflektieren vermag.69 Die aus diesem Grundgesetz abgeleitete Haupteigenschaft der Empfindungen – Repräsentation des Mannigfaltigen gegebener Wahrnehmungsdaten durch Koordination der Partialimpressionen70 – systematisiert Eberhard nun zum einen vorstellungstheoretisch über das zweite Axiom der eingeschränkten Seele, die „Vereinigung vieler kleine[r] Vorstellungen zu Einer größern“ (ebd., S. 62).71 Zum anderen
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nen (die „größere oder kleinere Menge von einzelnen Vorstellungen“, ebd., S. 54) präsentiert wird. Zur Veranschaulichung führt Eberhard das empirische Beispiel einer Wahrnehmungstäuschung an – ein im Kreis gedrehtes Vieleck, das auf jeder Seite eine der sieben Hauptfarben aufweist, erscheint dem Auge in der Rotation als weißer Totaleindruck: Die Seele, so die Erklärung, muss alle ‚Zwischenmerkmale‘ fallen lassen, die sie sich nicht klar vorstellen kann, und die sekundären Qualitäten zu einer ihr gemäßen Form der aisthetischen Gegenstandskonstitution ‚bündeln‘ (vgl. ATDE, S. 55f., S. 57). Vgl. ebd., S. 58: Die eingeschränkte Vorstellungskraft ist offenkundig nicht nur numerisch konzipierte Entität, sondern erschöpft sich organismisch in den Empfindungen derart, dass „alle übrigen Vorstellungen verschlungen werden, und keine Kraft mehr übrig bleibt, deutlich zu denken, und durch eine Rückkehr auf sich selbst, sich ihrer selbst bewußt zu seyn.“ Ebd., S. 184. Vgl. ebd., S. 34ff. Ebd., S. 45f. Vgl. ebd., S. 58f. Vgl. für die Denktätigkeiten: Repräsentation der pluralen Einzelmerkmale „ineinander“ und als Erfassen ihrer „Einheit“; Subordination des Mannigfaltigen (ebd., S. 58f., Hervorh. E.S.). Abermals steht Leibniz Pate für Eberhards Versuch, die Dynamik der Vorstellungsempfindung auf dem Wege einer numerisch konzeptualisierten Theorie der psychischen Repräsentation abzuleiten. Die Rede ist von Leibniz’ für die gesamte spätaufklärerische Psychologie des Vor-
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bindet er diesen Merkmalskomplex dezidiert in den Verknüpfungszusammenhang des psychophysischen Parallelismus ein. Vermöge des „genauen Bandes zwischen Leib und Seele“72 korrespondiert allen psychischen Repräsentationen der vorstellenden Seele eine Bewegung unseres Körpers ein leibseelischer Entsprechungszusammenhang, der allein auf dem Weg der verworrenen Repräsentationen, des Empfindens zustande kommt.73 Und nur über die Summation der vielen Einzelperzeptionen in der verworrenen Empfindungsvorstellung, so die theoriegeschichtlich markante Schlussfolgerung des Philosophen, ist es möglich, „das große Geheimnis aufzuschließen, und uns den Uebergang des Denkens in das Wollen und
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und Unbewussten bedeutsamer Theorie der „petites perceptions“, die seit 1765, dem Jahr ihrer Wiederentdeckung (durch die Übersetzung J. H. F. Ulrichs), mit außerordentlicher Wirkungsmächtigkeit vor allem auf die popularphilosophischen Konzepte der ‚dunklen Seele‘ einwirkte (besonders auf Campe, Feder, Mendelssohn, Eberhard), ja zu einer ‚zweiten Leibnizrezeption‘ der deutschen Spätaufklärung beitrug, deren Impulse noch in Platners Philosophischen Aphorismen (²1784) mit Deutlichkeit zu greifen sind (zu diesem psychologisch-ästhetischen Leitbegriff vgl. Dessoir: Geschichte der neueren deutschen Psychologie, S. 38ff.; Martino: Geschichte der dramatischen Theorien, S. 80ff.). Mit der Konzeption einer den bewussten Wahrnehmungs- und Erkenntnisakten vorausliegenden kontinuierlichen Tätigkeit des Psychischen in Gestalt „kleiner Eindrücke“ [petites perceptions], die „alle unsere ohne ausdrücklichen Entschluß ausgeführten Handlungen“ bestimmen, „selbst unsere Gewohnheiten und Leidenschaften“ inbegriffen der dunklen „Neigungen“ der Seele, legt Leibniz die theoretischen Grundlagen für eine genetische Erklärung der psychischen Aktivität der Seele: Der im Cartesischen Rationalismus postulierte Gegensatz von Deutlichkeit und Undeutlichkeit in der vorstellungsgeleiteten Wirklichkeitswahrnehmung macht damit der Auffassung von der kontinuierlichen, nur graduell verschiedenen Einheit psychischer Repräsentation Platz, die Deutlichkeit und Undeutlichkeit ebenso wie Kognition und Volition als nur graduell verschiedene Modifikationen des vorstellenden Bewusstseins theoretisch zu erfassen erlaubt Eberhard ist einer der ersten, der die Konsequenzen dieses Modells für die empirisch-psychologische und ästhetische Erklärung des Empfindungsgeschehens auszuloten sucht (vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Philosophische Schriften Band 3.1. Französisch und deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Wolf von Engelhardt und Hans Heinz Holz. Frankfurt/M. 1996, §§ 15ff., S. 113ff., hier S. 113). Ebd., S. 59, 62. Es ist ein Indiz für Eberhards philosophischen ‚Konservatismus‘, gleichwohl aus systematischen Gründen folgerichtig, wenn er hier nicht auf das zeitgenössisch bereits durchgesetzte Commerciummodell des Influxus physicus zurückgreift, sondern auf Leibniz’ Theorem der Prästabilierten Harmonie. Diesem zufolge sind psychische und physische Geschehensabläufe keine interagierenden und kausal bestimmten Wirkungskomplexe, sondern unabhängig voneinander agierende Funktionsreihen, die „Seele und Körper so zusammen gehören [lassen], daß sie Einen Menschen ausmachen“ (vgl. ATDE, S. 130). Im Unterschied zu dieser (im wesentlichen an den Gewährsmännern Descartes, Leibniz, Malebranche) orientierten Argumentation demonstriert Campes Ansatz mit Nachdrücklichkeit, dass die vorstellungstheoretische Ableitung der Emotionen durchaus mit der Reflexion auf die körperaffinen Aspekte der empfindungsgeleiteten Wahrnehmung kompatibel ist: Seine sinnesund neurophysiologische Thematisierung des Empfindungsgeschehens (bezeichnenderweise an Malebranches und Bonnets Physiologismus orientiert), leitet er entsprechend offensiv als anthropologische Reflexion her: Als Notwendigkeit, „den ganzen Menschen zum Gegenstande unserer Beobachtung aufzustellen, und nicht blos auf dasjenige, was in der Seele, sondern auch auf dasjenige, was während einer Empfindung in dem ihr beygesellten Körper sich ereignet“, die Aufmerksamkeit des psychologischen Blicks zu richten. (Campe: Empfindungs- und Erkenntnißkraft, S. 31).
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Handeln zu entdecken. Die Erfahrung lehrt, daß dieser Uebergang allemal durch das Gebiet des Empfindens geschehen müsse.“74 Die Schlussfolgerung ist eindeutig: Es gibt mithin weder Willensbestimmung noch Handlungsvollzug außerhalb des Empfindens. Gemäß der Leibnizschen Korrespondenzhypothese von psychischen und physischen Wirkungskomplexionen setzen die körperlichen Bewegungen „unendlich viele Triebräder“ allein dann in Bewegung, wenn analog innerpsychisch „eine gleiche unabsehliche Anzahl von Vorstellungen“75 aktiviert wird: Als Passierstelle zwischen Kognition und Volition wird die Empfindungsvorstellung mithin genau dadurch irreduzibel, dass sie, entsprechend des zweiten Empfindungsgesetzes, die Akkumulation der vorbewussten (dunklen) Einzelperzeptionen „Elementarvorstellungen“ respektive petites perceptions leistet.76 Abermals zeigt sich so, wie die kategoriale Gleichheit von Denk- und Empfindungskraft als Vorstellungsarten bzw. numerisch identischen Modifikationen des als Einheit gesetzten Psychischen in der Herausarbeitung ihrer spezifischen Wahrnehmungs- und Erfassungspotentiale zu aporetischen Bestimmungen führt. Denn die Zuordnung der Vorstellungsmerkmale zum Empfindungskomplex im Übergangsbereich von Empfinden und Begehren (Volition) nimmt Eberhard nun nicht mehr über den Begriff des „Vorstellens“ vor, sondern über den der „Vollkommenheit der Erkenntnis“.77 Je mehr kleine Vorstellungen nämlich in einer größeren vereinigt werden, desto größer ist deren „Wärme“; ihre „Stärke“ hingegen resultiert aus der Fähigkeit, „die Begehrungskräfte und den Körper in Bewegung“ zu setzen; ihr „Licht“ heißt hingegen ihr „höher[er] Grad an Klarheit“.78 Folgt man diesen 74 75 76
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Ebd., S. 61f. ATDE, S. 62. Offenkundig motiviert Eberhards genuin popularphilosophisches Interesse an einer genetischen Verknüpfung zwischen theoretischem und praktischem Philosophiebegriff den Anschluss von Leibniz’ Theorie der „kleinen Perzeptionen“ (vgl. Leibniz, Neue Abhandlungen, S. 113f.) an einen selbständigen Empfindungsbegriff; über den zeitgenössischen rein erkenntnistheoretischen Kontext geht das deutlich hinaus (vgl. etwa Louis de Beausobre: Bemerkungen über die Natur und über die Nothwendigkeit dunkler Ideen, in: Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte 5. (1782), S. 145–160. Ebd., S. 63. Ebd. Eberhards Verwendung des Begriffs der Klarheit in seiner Zuordnung zur Deutlichkeit, darauf bleibt an dieser Stelle zu verweisen, ist nicht konsistent und ist Indiz für die offenkundig unüberwindbaren Schwierigkeiten, die Homogenisierung vermögenstheoretisch gesehen heterogener Potenzen des Psychischen in der Einheit des Vorstellungsbegriffs zu leisten. So steht die Kategorie der Klarheit an der betreffenden Stelle (ATDE, S. 62) zum ersten synonym für Deutlichkeit im Sinn der Cartesischen Tradition, die „klar und deutlich respective distinkt“ ineins setzt, wohingegen aus einem späteren Passus hervorgeht, dass Klarheit als Lebhaftigkeit der Empfindung in einen Gegensatz zur Deutlichkeit tritt (vgl. ebd., S. 173–180). Letztere kategoriale Zuordnung gilt schließlich auch für den Versuch, Klarheit und Deutlichkeit unter funktionalem Aspekt zu korrelieren (vgl. ebd., S. 54): „Klar“ ist die lebhafte Empfindung einer Fülle distinkt [!] wahrgenommener Vorstellungen in einer bestimmten Zeiteinheit. Da die Seele aufgrund ihrer begrenzten Kraft nicht „alle die Partialvorstellungen mit ihren Merkmahlen, und also besonders zu denken [sic!]“ vermag, geht die Klarheit verloren, „fallen die Bestandtheile
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Bestimmungen, so leuchtet zwar zunächst ein, dass die Klarheit der Vorstellungen die Voraussetzung für das „Richtighandeln“ (und das heißt für die Ausrichtung der Tätigkeitsstrukturen des Handelns nach einem vorgesetzten Ziel) darstellt, Wärme und Stärke als Korrespondenzbegriffe für die Kategorie der Menge und damit die Lebhaftigkeit der Vorstellungen hingegen die grundlegenden Bedingungen dafür bilden, dass affektiv-emotionale Handlungsimpulse überhaupt entstehen und die Seele „gleich den Winden, welche das Schiff forttreiben [...] in Bewegung“ setzen.79 Doch lässt Eberhard völlig unbestimmt, wie seine Voraussetzung der strikten Korrespondenz von Körper und Seele sich mit dem Gedanken vereinbaren lässt, dass eine Vorstellung aufgrund ihrer Stärke Handlungen verursacht, dass also die Seele den Körper beeinflusst. Eberhard verbirgt das damit gegebene Problem, indem er den problematischen Überschritt schlicht in die Definition der Stärke hineinzieht und die Empfindungsvorstellungen nachgerade als Schaltstelle zwischen den Vermögen der Seele etabliert. Es bleibt mithin bei der Herausstellung der Handlungs- und Affektrelevanz der Empfindungen, die dadurch geleistet wird, dass im Empfinden eine größere Menge kleinerer Partialvorstellungen in eine Totalvorstellung zusammengedrängt wird. Ihre Auszeichnung gegenüber den Erkenntnisvorstellungen ergibt sich daraus, dass in ihr die Zusammengehörigkeit von Verworrenheit und Lebhaftigkeit gewährleistet ist und hier am nachdrücklichsten das „Gesetz der Seelenoperationen“ zur Veranschaulichung gelangt, wonach „bey einem eingeschränkten Wesen [...] in eben dem Verhältniß, worinn das Mannigfaltige, die Wärme und Stärke, in einer Totalvorstellung zunimmt, die Intensität der Einheit oder die Deutlichkeit abnehmen [muß]“, et vice versa,80 eine Merkmalsbasis, die Eberhard in der Folge unmittelbar für die Charakterisierung des Affekts einsetzen wird.81
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einer Empfindung in Eins zusammen“, und diese wird dunkel bzw. verworren. Die Motive dieser inkonsistenten Verschränkungen sind, wie angedeutet, unverkennbar: Die Ausweisung der Vorstellungsleistungen in der Permanenz des Doppelaspekts von vorstellungs- (empfindungs-) und erkenntniskonstituierten Repräsentationen des als Einheit konzipierten Psychischen (vgl. auch ebd., S. 63f.). Ebd., S. 63. In ihrer Analyse der handlungskonstitutiven Momente einer „ästhetischen Ordnung des Handelns“ hat D. Bachmann-Medick zwar den theoriegeschichtlichen Zusammenhang zwischen popularphilosophischer Handlungstheorie und Leibnizschem Dynamismus in der lex continui der Perzeptionstätigkeit der menschlichen Seele nicht quellengeschichtlich (über Leibniz) hergeleitet, gleichwohl die moralästhetischen Implikationen prägnant herausgearbeitet, die aus einer an der Quantität lebhafter Vorstellungen und ihrer dazugehörigen motivationalen Impulse orientierten Handlungstheorie hervorgehen. Neben Eberhard, so Bachmann-Medick, erarbeiten Autoren wie Sulzer, Campe, Garve oder auch Cochius auf dieser Grundlage „wichtige Voraussetzungen für eine ästhetische Überwindung der dichotomischen Grenzziehungen zwischen ‚Erkennen‘ und ‚Empfinden‘, ‚Pflicht‘ und ‚Neigung‘, ‚Vernunft‘ und ‚Gefühl‘.“ (vgl. Bachmann-Medick: Ästhetische Ordnung des Handelns, S. 34ff., hier S. 37). Ebd., S. 77. Vgl. ebd., S. 124, S. 149. Dessoir hat in dieser Konzeption auf der Begriffsbasis der „Stärke“ das einzige innovatorische Element der Eberhardschen Empfindungstheorie gesehen, während man nach seiner Ansicht „von der Entwicklung der Psychologie in den vorausgegangenen vier-
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1.3 „Leichtes Anschauen des Mannigfaltigem zu Einem“: Revitalisierung de Pouillyscher Prämissen 1.3.1 Logisierung des Psychischen Von einer anthropologischen Höherbewertung der empfindungsgeleiteten Vorstellungen wird man in der Allgemeinen Theorie dennoch mit Bezug auf den Sachverhalt sprechen können, dass Eberhard aus dem Gesetz der eingeschränkten Natur der Seele die Frage nach dem Lustcharakter der Vorstellungstätigkeit zwar dezidiert unter dem Aspekt der Übergängigkeit von Denken und Empfinden thematisiert, die mit der Empfindungsvorstellung verbundenen Merkmale der Subjektbezüglichkeit respektive Vollzugsorientiertheit jedoch ausschließlich für die Charakterisierung der letzteren reserviert.82 Unter Voraussetzung der eingeschränkten Natur der Seele wird nämlich in einer Anschlussbestimmung der Unterschiedenheit der Merkmalsklassen von Kognition (Klarheit) und Emotion (Menge)83 die Fähigkeit, „die mannichfaltigen einzelnen Vorstellungen unter Eine Hauptvorstellung“ zusammenzufassen, als Bedingung einer Vorstellungstätigkeit eingeführt, die der Seele als „angenehm“ erscheinen können muss:84 „Der Seele ist ein jedes Gefühl ihrer Realitäten ohne das Gefühl ihrer Einschränkungen, also die leichte Uebung ihrer Kraft, angenehm.“85 Die mit diesem Begründungsschritt vollzogene Zuweisung eines dem Empfindungsgeschehen als solchem notwendig zukommenden Ordnungsbedürfnisses hinsichtlich der Merkmalsfülle anschaulich gegebener Sachverhalte86 deklariert Eberhard freilich nicht als empirisch-psychologisches Bedürfnis gemäß de Pouillys Theorem der leichten Beschäftigung der Seelenkräfte,87 sondern über die Bestimmung eines im Empfinden jeweils zu erlangenden Bewusstseins der Einheit der Wahrnehmung, das auf dem Weg einer anstrengungsarmen Tätigkeit der vorstellenden Seele zustande kommen soll. Der über den Umkehrschluss aus der einge-
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zig Jahren […] nur gelegentlich einen Hauch“ [sic!] verspüre (vgl. Dessoir: Geschichte der neueren deutschen Psychologie, S. 178). In diesem Zusammenhang ist es wichtig festzuhalten, dass Eberhard den Übergang vom Empfinden in das Denken nicht primär dadurch charakterisiert, dass durch diesen ein Wechsel der Gegenstandsbereiche ermöglicht wird (d.h. von sinnlichen auf nichtsinnliche Gegenstände der Wahrnehmung bzw. umgekehrt), sondern durch den Sachverhalt, dass gemäß des rationalistischen Gradationsmodells der Vorstellungen ein Übergang von Vorstellungen jedes Gegenstandsbereiches aus dem Zustand der Verworrenheit in den Zustand der Deutlichkeit prinzipiell möglich ist (vgl. Leibniz: Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen, S. 33–35). Vgl. ATDE, S. 66–70. Ebd., S. 70. Ebd., S. 76. Vgl. Eberhard: ATDE, S. 76: Es ist ausdrücklich die „eingeschränkte Natur“ der Seele, die es ihr „nun sogleich nothwendig mach[t], daß sie die Menge der Partialvorstellungen in Eine Hauptvorstellung zusammenfasse.“ Vgl. die Ausführungen oben, Abschnitt III.3.
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schränkten Natur der Seele erbrachte Qualifizierungszuwachs hinsichtlich des Spezifikums der Empfindungsvorstellungen ist bemerkenswert und vom Autor selbst als ein „Pfad“ ausgewiesen, auf dem man dem Differenzmerkmal von Kognition und Emotion „immer näher [kommt]“.88 Die Pointe dieser Bestimmung, aus der Eberhard in der Tat nicht weniger als einen fundamentalen Neuansatz zur Erklärung der Lustempfindungen der menschlichen Seele im Phänomenspektrum von Sinnenlust, Erhabenheitserfahrung, dem Schönen, Guten und Wahren zu gewinnen sucht (das „leichte Anschauen des Mannichfaltigen vermittelst der Vereinigung zu Einer Totalvorstellung zu genießen, [ist] die einzige Ursache des Vergnügens aller Art“),89 erschließt sich freilich erst über das mit der angezeigten Bedürfnisstruktur verbundene Gesetz, wonach der Doppelaspekt von Merkmalsvorstellung (in ihrer anschaulichen Menge) und Eindrucksordnung (im Repräsentieren von Klarheit) nun als Erfassungsverhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit konzeptualisiert und als das vermögenübergreifende „Gesetz der Seelenoperationen“ deklariert wird.90 Wieder ist der Versuch einer für Kognition und Emotion verbindlichen Merkmalszuweisung erkennbar, da die Partizipation an Einheits- und Mannigfaltigkeitserfassen für beide Seelenmodifikationen ausgewiesen worden war (s. oben, S. 58f.). Genau deshalb jedoch, weil nach dem Gesetz der Seelenoperationen die Zunahme der Wärme und Stärke in der Mannigfaltigkeit der Einzelperzeptionen indirekt proportional zur Einheit respektive Deutlichkeit der Merkmalserfassung steht,91 und weil die Repräsentationen der Einheit und Mannigfaltigkeit für Empfindungsvorstellung und Erkenntnisvorstellung als unterschiedliche Distinktionsstufen zugleich unterscheidbar bleiben müssen, postuliert Eberhard für die Repräsentationsform der „verwirrten“ Vorstellungsart (Empfinden) den „Schein“-Charakter bezüglich des Erfassens des Mannigfaltigen, durch das dasselbe „in der Seele zu Einem zusammenfließt“.92 Welche kategoriale Unterscheidung im Vorstellungsgeschehen damit akzentuiert ist, zeigt das Spektrum lustaffiner Erfassungsleistungen, die Eberhard sämtlich als Phänomene des „eigentlichen Schönen“ begreift und vom „Gebiet des Guten“ kategorial absetzt.93 Die Empfindungsvorstellung wird dabei für die geringen Abstraktheitsgrade reserviert, in der nicht das objektivierbare Erfassen von MittelZweck-Relationen leitend ist, sondern das subjektive Bestreben, die Vergegenwär88 89 90 91
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Ebd., S. 76. Vgl. ebd., S. 77. Ebd. Vgl. ebd., S. 78. Der diesbezüglich konstatierte gegenseitige ‚Verdrängungscharakter‘ der unterschiedlichen Seelenzustände (Mannigfaltigkeit, Fülle, Wärme und Stärke der Vorstellungen als Empfinden einerseits, Einheitscharakter bzw. Deutlichkeitsmerkmale der Vorstellungen als Erkennen andererseits) findet seine schärfste Ausprägung in der von Eberhard behaupteten Unverträglichkeit von Denken und Empfinden unter lebensweltlichem Gesichtspunkt: „Der Zustand des Empfindens löscht den Zustand des Denkens aus.“ (vgl. ATDE, S. 138). Ebd., S. 77. Vgl. ebd., S. 79–89.
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tigung von mannigfaltigen Partialvorstellungen als eine der subjektiv erfahrenen Vorstellungsleistung gemäße zu realisieren. So wird etwa an den sinnlichen Empfindungen, die übrig bleiben, wenn nach einer großen inneren Erregung („Zustand des Erstaunens und des Schauderns“) das Gefälle von „Thätigkeit“ und „Anstrengung“ sich einseitig der Seite der Anstrengung zuneigt, durch Exponierung einzelner Wahrnehmungsimpressionen und gleichzeitige Verdunkelung der zahlreichen anderen sich die Seele „Licht zu verschaffen such[en]“;94 desgleichen erhält die bloße Vorstellung von „Kontinuitäten“ (Fixierung der Wahrnehmung auf das Übereinstimmende der Merkmale) das subjektive Gefühl der Einheitserfassung (vgl. das Beispiel der Erhabenheitserfahrung),95 während es im Fall der Empfindungsvorstellung von Figur und Farbe die Konzentration auf die „Regelmäßigkeit“ der perzipierten Merkmalsbestände ist, die nach Auffassung des Philosophen für die subjektive Erfahrung eines Wahrnehmungskontinuums sorgen soll.96 Aus allen diesen Bestimmungen, so bleibt hier zusammenführend festzuhalten, erhellt nun augenscheinlich die Absicht einer Konzeptualisierung des Empfindungsgeschehens über die Differenz von Anstrengung und Tätigkeit, eine vorstellungstheoretische Gegenstandskonstitution also nach dem Muster einer die Merkmalsordnung erleichternden Koordination von Partialvorstellungen zu den Teilen eines jeweiligen Ganzen. Das ist genau besehen nicht eine Fortführung, sondern Umkehrung des Sulzerschen Ausgangsgedankens in der Wahrnehmungs- und Lustpsychologie.97 Die Vorstellung des Mannigfaltigen wird dabei stets in dem Maße dunkler, wie die Vorstellung der Einheit respektive die Deutlichkeit der Perzeptionen zunehmen.98 Empfinden ist koordinierendes Erfassen von Übereinstimmungsverhältnissen, dessen subjektiver Faktor dadurch bestimmt ist, dass die Erfassungstätigkeiten sich jeweils nach den verschiedenen Einschränkun-
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Ebd., S. 79f. Ebd., S. 81. Ebd., S. 82f. Wenn Baeumler resümiert, Eberhard gebe diesbezüglich den „Dogmatiker der Entdeckung Sulzers“ ab, die „Tatsache, daß wir im Zustand des Empfindens vom Gegenstand nichts erkennen“ suche dieser „zu erklären“ (Baeumler: Irrationalitätsproblem, S. 135) – ist Entscheidendes der Differenz abgeblendet. Denn mit der Prämisse, dass die Seele im Zustand des Empfindens sich „als leidend, in dem Zustand des Denkens aber als thätig ansieht“, verbindet sich für Eberhard die Annahme, dass die Seele sich nur im Zustand des deutlichen Vorstellens ein kontinuierliches Bewusstsein ihrer Modifikationen bilden kann, eine Möglichkeit, die den Empfindungen als dunklen Vorstellungen per definitionem verwehrt ist: Tätigkeitsbewusstsein (als Selbstreflexivität) kommt, so die Schlussfolgerung des Philosophen, nur dem Denken zu, da hingegen „dieses Bewußtseyn unsere[r] eigenen Thätigkeit [...] uns bey dem Empfinden ganz“ fehlt (vgl. ATDE, S. 38). Vgl. ebd., S. 86. Empfindungen bleiben die unter Kategorien wie Kontinuität / Diskontinuität; Ähnlichkeit / Unähnlichkeit sowie „Proportion“ / Disproportionalität (vgl. ebd., S. 97) erfassten Vorstellungen unter anderem auch deshalb, weil sie sich relativ mühe- und zwanglos einstellen und daher nur eine geringe Anstrengung der ‚Abwehr‘ des Mannigfaltigen verlangen (vgl. ebd., S. 87).
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gen und Modifikationen des empfindenden Subjekts richten.99 Dass Eberhard die Erfassung des Guten schließlich nicht an den Empfindungsbegriff zurückbindet, sondern diese einer höherstufigen Abstraktionsleistung vorbehält,100 macht den Subjektivitätscharakter der Einheitskonstitution im Empfinden noch einmal deutlich. Das Gute ist eine an den deutlich repräsentierten (gegenständlichen) Merkmalen sich ausweisende Erkenntnisvorstellung, die als nicht aisthetisch-phänomenales, sondern höherstufiges ‚essentialistisches‘ Erfassen gleichsam zum Kern der Dinge dringt, verbunden mit einem gesteigerten Bewusstsein der Selbsttätigkeit der Erkenntnisvorstellung. Der Empfindung hingegen entgeht stets ein beträchtlicher Theil des Gegenstandes, derjenige nämlich, der nur von dem denkenden Verstande kann bemerket werden. Denn nur von diesem kann man vermittelst der Zergliederung und der Abstraktion das Wesentliche, seine innere Kraft und Tüchtigkeit [sic!] erkennen. Mithin liegt dieses alles außer dem Horizonte der Empfindung; und die Empfindung kann nicht der oberste und letzte Richter des Guten seyn.101
1.3.2 Ich-Dissoziation in der ästhetischen Zustandserfahrung Wie Eberhard schließlich die aisthetische Erfahrung auf der Basis der Empfindungsvorstellungen modelliert, lässt den Schluss zu, dass für den Popularphilosophen die erkenntnisgeleiteten Prozesse der Ordnung der sinnlich angeschauten Mannigfaltigkeiten trotz ihrer fehlenden Zugriffsmöglichkeiten auf die dunklen Elementarvorstellungen den Inbegriff für die komplexere Form der Sinneswahrnehmung bilden, dass mit anderen Worten die Logisierung der Sinneserfahrung im Paradigma des Denkens den Geltungsmaßstab der Sinneswahrnehmung qua Empfinden bildet. Anders als in der synthetischen Apperzeption des Mannigfaltigen durch Subordination (Denken) bleiben die Erfassungsleistungen der Seele im Empfinden auf einem prinzipiell geringeren Grad der Selbstreflexivität.102 Weil im Zustand des Empfindens die Seele „zu dem Nachdenken über ihre Veränderungen untüchtig“ ist,103 dissoziiert die angeblich nur noch unter Zuhilfenahme des Erinnerns akkumulativ rekonstruierbare Einheit der aisthetischen Wahrnehmung: „Es bleibt der Seele also nichts übrig, als daß sie die zerstreuten Stücke ihres Empfin99 100 101
Ebd., S. 93. Vgl. ebd., S. 89ff. Ebd., S. 91. Stärke und Lebhaftigkeit als Merkmale der Empfindungsvorstellung taugen also nicht zu einer im Gefühlsbegriff sich gegenüber der Verstandeserkenntnis etablierenden Wahrnehmungs- und Beurteilungskompetenz damit unterstreicht Eberhard nichts anderes als die Gültigkeit der Wolffschen Vorbehalte: Der bloßen „Empfindlichkeit“, dem „blinden Empfindungsvermögen [muß] ein erleuchteter und scharfsichtiger Richter vorgehen, [...] das Gefühl hat keinen anderen Führer [...]“ (vgl. ATDE, S. 104); vgl. auch die Geltungsrelativierung bezüglich der Empfindung des Guten (‚moralisches Gefühl‘): ebd., S. 184f. Die ‚Überwachungs‘und Korrekturbedürftigkeit der Empfindungs- durch die Erkenntniskraft betont allerdings auch Campe: Empfindungs- und Erkenntnißkraft, S. 102, 104ff. 102 Vgl. ebd., S. 98. 103 Ebd.
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dungszustandes durch die Erinnerung wieder zusammensammle, und aus diesen gesammelten Beobachtungen [!] nach und nach [...] zusammensetze.“104 Gerade hieran zeigt sich nochmals eindrücklich die mit der vorstellungstheoretischen Deduktion verbundene Unmöglichkeit, die emotionale Zustandsbezogenheit anders denn als einen defizitären Modus der kognitiven Gegenstandsbezogenheit zu konzeptualisieren: Die affektiv-emotionale Wahrnehmungserfahrung, weit entfernt davon, das empfindende Subjekt in einer authentischen Weise zu sich selbst zu bringen, lässt demselben lediglich für „das Gefühl ihrer selbst Kraft übrig“, ja entführt es im Ergebnis eines Leerlaufs selbstaffizierender Gemütskräfte schließlich sich selbst ein „Zustand [...], der sich gar bald selbst zerstört.“105 Prägnanter könnte die systematisch im Vorstellungsbegriff gefasste Antithese zu einer rührungsästhetischen Aufwertung der Emotionen wohl kaum formuliert werden. Wäre es insgesamt jedoch verzerrend, von einer generellen anthropologischen Zurückstellung der Vermögenssphäre der Emotionen gegenüber der Erkenntnis zu sprechen der Schlussabschnitt der Allgemeinen Theorie hebt eindeutig den paritätischen Bildungswert beider Seelenmodifikationen hervor106 so kann auf der anderen Seite kaum davon die Rede sein, dass Eberhard das Potential der affektiven Sinnlichkeit – und mithin das der ästhetischen Selbstreflexivität (qua emotional vermittelter Selbstbezüglichkeit respektive Vollzugslust – in einer über die zeitgenössische empirische Psychologie innovativ hinausgreifenden Weise in Geltung gesetzt hat. Mit dem reichen Raster, über das Eberhard zur Erfassung der Differenz der Vorstellungsarten Empfinden und Denken verfügt, geht der Versuch einher, die psychische Wirklichkeitskonstitution in der Einheit des Vorstellungsbegriffs zu leisten und für eine differenzierte Klassifikation des Empfindungsgeschehens fungibel zu machen.107 Wird hierbei deutlich, dass die Empfindungsvorstellung damit 104 105 106
Ebd., S. 99. Ebd., S. 117. Vgl. ebd., S. 168ff.: „Von der Bildung des Verstandes und der Herzens durch die Erkenntnißund Empfindungskraft“. Mit den beiden als Hauptgesetzen der Vermögensbildung deklarierten Regelbestimmungen („beyde Kräfte, die Erkentniß- und Empfindungskraft, müssen mit verhältnißmäßigem Fleiße geübt und angebauet werden“, vgl. S. 170–194; „die Empfindungskraft muß durch einen verhältnißmäßigen Genuß der verschiedenen Empfindungsarten angebauet werden“, vgl. S. 194–208) leistet Eberhard die Kritik einseitiger Charakterausprägungen, wie sie parallel von der zeitgenössischen Ästhetik und Pädagogik vertreten werden: Wie im ästhetischen Leitbild des felix aestheticus affirmiert die philosophische Psychologie damit den durch allseitige Vermögensentfaltung beförderten Entwicklungstypus menschlicher Individualität, der die unter Anleitung der Vernunft (vgl. ebd., S. 195) zu erlangende Harmonie der Seelenvermögen voraussetzt. Zur Funktion dieser durch regelmäßige Übung zu unterstützenden Kultivierung der sinnengeleiteten Wahrnehmungs- und Erfassungsvermögen im Kontext der ästhetischen Theoriebildung siehe Menke: Wahrnehmung, Tätigkeit, Selbstreflexion, S. 24ff. 107 Es sind nicht zuletzt die umfangreichen Klassifizierungsversuche der einzelnen Arten bzw. Phänomenklassen von Empfindungen (vgl. ATDE, S. 151ff.), die verdeutlichen, dass das Hauptgewicht der Analysen in der Allgemeinen Theorie Eberhards in dem Versuch besteht, die zeitgenössischen Tendenzen einer emotionalistischen Auffassung des Psychischen im Element
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zu einer gegenüber der Denkvorstellung abgehobenen Koordination von Einzelmerkmalen prädestiniert ist auf der niedrigsten Abstraktionsstufe als Wahrnehmungsmodus des Unbewussten, der dunklen Vorstellungen (petites perceptions), und in ihrer höchsten als Perzeption des Schönen zeigen sich auf der empirischpsychologischen bzw. phänomenanalytischen Gegenseite zugleich nachdrücklich die Folgelasten dieses genau genommen der Substanzphilosophie, nicht der empiristischen Seelenkunde verpflichteten Ansatzes, wonach im Paradigma eines primär bewusstseinstheoretischen Bewertungsmaßstabs die Empfindungen stets das Abgeleitete einer vorempirischen Seelenpotenz (Vorstellungserzeugung) sind. Die Möglichkeiten zu einer theoretischen Hervorhebung der (anthropologisch-psychologischen) Eigenständigkeit des Empfindens als Vermögenspotenz des Psychischen (Emotion als Empfindungsvermögen respektive „Gefühl“)108 sind im Rahmen der Allgemeinen Theorie folgerichtig ebenso eingeschränkt wie die zu einer sich im Empfinden realisierenden (aisthetisch und ästhetisch relevanten) Selbstreflexivität, die nicht mehr nach dem Modell der Gegenstandserkenntnis strukturiert wäre.109 Die begrenzte Anschlussfähigkeit der frühen Empfindungstheorie Eberhards im zeitgenössischen Debattenkontext über die Natur der Seelenvermögen110 sowie die der philosophischen Seelenlehre fortzusetzen und für ein wahrnehmungspsychologisches Verständnis der alltäglichen wie der kunstvermittelten Wirklichkeitswahrnehmung fruchtbar zu machen (vgl. etwa den in kunsttheoretischer Hinsicht aufschlussreichen Versuch einer Anwendung der verschiedenen Empfindungsarten auf die Theorie der Oper als Komplexgattung heterogener Empfindungsarten, ebd., S. 156ff.). 108 Wie weit Eberhards Ansatz sich in der Tat aus dem zeitgenössischen empirisch-anthropologischen Theoriezusammenhang herausnimmt, der die Impulse für die vermögenstheoretische Unterscheidung des Gefühls gegenüber den etablierten Seelenvermögen (Erkennen und Begehren) nicht nur ‚innerphilosophisch‘ (wie nachfolgend an Tetens zu demonstrieren), sondern durch Assimilation Lockescher Theoreme und neurophysiologischer Erklärungsansätze des Psychischen gewinnt, lässt sich exemplarisch am Feder-Schüler Michael Hißmann demonstrieren, der die vorstellungstheoretische Deduktion des emotionalen Psychischen durch einen konsequent materialistischen Ansatz demontiert und entsprechend auch eine andere Terminologie präsentiert: „Diese innere Organe des Gehirns, die der Grund und die Werkstätte von den ideas of reflexion sind, heißen der innere Sinn, und die verschiedenen Veränderungen dieser Organe heißen innere Gefühle und innere Empfindungen. [...] Die gleichgültigen Veränderungen des inneren Sinnes nennen sie [die zeitgenössischen Erfahrungspsychologen, E.S.] innere Gefühle, und diejenigen Modifikationen dieser inneren Organe, die mit einem merklichen Grad von Vergnügen oder Mißvergnügen vergesellschaftet sind, innere Empfindungen.“ Hißmann: Psychologische Versuche, S. 98. 109 Ersteres gilt, da auf parallelen Prämissen beruhend, auch für die Abhandlung Campes. Die von diesem, ausgerechnet im ästhetischen Definitionszusammenhang vorgenommene Einbettung der Emotionen in den Vermögensbegriff („Schönheit [ist] nichts anders als sinnliche Vollkommenheit, mithin auch nur durch ein sinnliches Empfindungsvermögen“ erkennbar, vgl. Campe: Empfindungs- und Erkenntnißkraft, S. 70), stellt tatsächlich nur eine terminologische Ungenauigkeit dar. Campes Leitbestimmung ist wie für Eberhard die „Empfindungskraft“ als Derivat der seelischen Vorstellungskraft (vgl. ebd., S. 20ff.). 110 Vgl. Ernst Platner: Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Anderer Theil, Leipzig 1782, § 92, S. 31 (Anm.). Platner verweist auf Eberhards und auf Campes Preisschriften im Rahmen seiner längeren Einlassungen über die Unterschiede des „Erkenntniß- und Empfindungsvermögens“ [Hervorh. E.S.], entwickelt seine eigene Posi-
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korregierende Reformulierung seines eigenen Ansatzes anderthalb Dezennien später111 sind Fingerzeige darauf, dass das Innovationspotential einer „transzendentalen“ Psychologie vom Boden der Wolff-Baumgartenschen Vermögenspsychologie aus in der anthropologisch orientierten Wissenschaftslandschaft der deutschen Spätaufklärung erheblich eingeschränkt war bzw. derartige Ansätze schon bald zu den theoretischen Auslaufmodellen gehörten.112
2. Emotion als Vermögen. Phänomenologie, Erkenntnistheorie und Psychologie des Gefühls in J. N. Tetens’ Philosophischen Versuchen (1777) Aus der Verbindung von Prämissen der rationalistischen Vorstellungstheorie mit der Akklamation eines erfahrungsanalytischen Beobachtungsprogramms à la Locke konnte im Einflussfeld der spätaufklärerischen Erfahrungsseelenkunde jedoch auch eine andere theoriegeschichtlich bedeutsame Deutungsvariante der emotionalen Vermögen der menschlichen Seele im Rahmen einer triadischen Klassifikation des Psychischen und seiner Wirkungen erwachsen. Psychologie- wie Ästhetikgeschichtsschreibung haben von alters her in diesem Zusammenhang auf die Philosophischen Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung113 des Kieler Philosophie- und Mathematikprofessor Johann Nikolaus Tetens (1736– 1807) verwiesen und sie als Geburtsstunde der so genannten „Dreivermögenspsychologie“ definiert.114 Die in diesem Hauptwerk des Philosophen geleistete Diftion indes – die veränderte Terminologie kündigt es bereits an – nicht in erkennbarer Auseinandersetzung mit den Genannten, sondern im Wesentlichen unter Bezug auf die Theorie des moral sense (Shaftesbury, Hutcheson) einschließlich seiner deutschen Spielart (Feder). 111 Vgl. die Ausführungen unten, Abschnitt VII. 112 Zu Eberhards subjektiv-psychologischem Neuansatz in der anthropologisch-ästhetischen Emotionstheorie, der die in der Allgemeinen Theorie formulierte Hoffnung (auf eine transzendentale Psychologie als vorstellungstheoretisch deduzierte „Mathematik der Seele“) definitiv verabschiedet, vgl. die Ausführungen unten, Abschnitt VII. 113 Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Leipzig 1777, 2 Bde. Nachdruck von Bd. 1, herausgegeben von der Kantgesellschaft, besorgt von Wilhelm Uebele, Berlin 1913 [Sigle: PhV]. 114 Kants Hochachtung Tetens’ als eines selbständigen Philosophen, der „in seinen Philosophischen Versuchen so viel scharfsinniges gesagt“ habe (vgl. Immanuel Kant: Brief an Marcus Herz (April 1778), in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften [Sigle: AA]. Bd. X, 2. Abteilung. Briefwechsel. Bd. 1. Berlin 1900, S. 214–216, hier S. 215, vgl. auch ebd., S. 252f, S. 319, S. 325), ist im historischen Urteil vielfältig kolportiert worden und hat dennoch bis heute nicht dazu beigetragen, dem Philosophen und Psychologen eine die Einzelaspekte seines Philosophierens umfassende Anerkennung zukommen zu lassen. Bis auf die neuere Darstellung von C. Hauser (vgl. unten) kommen alle umfangreicheren Würdigungen bezeichnenderweise von der Psychologie (vgl. Dessoir: Geschichte der neueren Psychologie, S. 333–356; Allesch: Geschichte der psychologischen Ästhetik, S. 186ff.). Sommers gewiss überzogene Wertschätzung der Tetensschen Theorie („Es ist unbestritten, daß von allen deutschen Denkern, welche eine Stelle zwischen den beiden geistigen Centralisationspunkten Leibniz und Kant einnehmen, Tetens am meisten Beachtung ver-
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ferenzierungsarbeit auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie und empirischen Psychologie galt noch der Kompendienliteratur der Ästhetik um und nach 1800 als vorbildliche Referenzquelle.115 Allerdings nicht nur, weil die Ansätze zu einem mittleren Seelenvermögen zwischen Kognition und Volition wie gezeigt bereits im Lustdiskurs um die Jahrhundertmitte theoretisch zur Tragfähigkeit gediehen waren (Merian, Sulzer), sondern ebenso sehr vor dem Hintergrund der Eberhardschen Begründungsentscheidungen erfordert die hier zentral interessierende Frage nach den konstitutiven Zusammenhängen von anthropologischer und ästhetischer Theorie eine genauere Rekonstruktion des Tetensschen Ansatzes. Tetens, philosophiehistorisch am Übergang von empirisch begründeter Seelenlehre zu kritischer Transzendentalphilosophie stehend, gebührt im Fragezusammenhang der Untersuchung Aufmerksamkeit aufgrund seiner philosophiehistorischen Mittelstellung zwischen beiden Auffassungsweisen, seiner vorkritischen Vermittlerrolle zwischen den Positionen des philosophischen Rationalismus und des Empirismus. Löst, so ist im Folgenden erstens zu fragen, Tetens’ Versuch, die Eigenständigkeit des Psychischen vom Boden eines reflektierten Empirismus aus zu begründen, die Schwierigkeiten der vermögenstheoretischen Sicherstellung des Emotionalen gegenüber den anderen Seelenpotenzen? Und zweitens: Welche Bedeutung erlangen die anthropologisch-psychologischen Differenzierungen im Emotionsbegriff für die Vertiefung des Verständnisses der Natur ästhetischer Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen?
dient.“ vgl. Sommer: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie, S. 280f.) ist von der neueren anthropologischen Aufklärungsforschung noch nicht wieder einlässlich am Quellenmaterial revidiert worden. Abgesehen von R. Campes Exkursen (vgl. Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990, S. 383–388) sowie G. Sauders Ausführungen zu Tetens’ Einbildungskraft in den Philosophischen Versuchen (vgl. Sauder: Empfindsamkeit, S. 164ff.) ist Tetens’ Beitrag zur Begründung und Differenzierung des emotionalen Psychischen bislang nur von der Warte der philosophischen Bewusstseinstheorie – unter vergleichender Perspektive auf Kants Kritik der Urteilskraft – rekonstruiert worden (vgl. neben der einschlägigen älteren Arbeit von Wilhelm Uebele: J. N. Tetens nach seiner Gesamtentwicklung betrachtet mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zu Kant. Berlin 1911 jetzt auch Christian Hauser: Selbstbewußtsein und personale Identität. Positionen und Aporien ihrer vorkantischen Geschichte. Stuttgart 1994, S. 124ff., mit einer Übersicht über die Sekundärliteratur zu Tetens ebd., S. 188f.). 115 Das lässt zumindest das am häufigsten aufgelegte und ergänzte Ästhetikkompendium der deutschsprachigen Lehrbuchliteratur von J. J. Eschenburg in aller Deutlichkeit erkennen. Eschenburg nennt noch vor den Beiträgern der Akademiepreisfrage von 1776 (Campe, Eberhard, Herder) sowie Herders Kalligone die Tetensschen „Phil.[osophischen] Versuche“ (Bd. 1, S. 166ff.) als Hauptreferenzquelle für die philosophischen Differenzbestimmungen zwischen „Empfindungs“- und „Erkenntnis“-Akten der menschlichen Seele (vgl. Johann Joachim Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Redekünste. Zur Grundlage bei Vorlesungen. Vierte, abgeänderte und vermehrte Ausgabe. Berlin und Stettin 1817, § 15, S. 11f., Anm).
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2.1 Unmittelbare Beobachtung und aufklärende Vernunft versus anthropologische Methodologie. Tetens’ Physiologismuskritik in psychologischer Absicht Mit der von Tetens programmatisch akzentuierten Gegenüberstellung von „beobachtender“ versus „anthropologischer“ Methode in der Seelenlehre und der Favorisierung ersterer als eines für die Bewältigung der zeitgenössischen psychologischen Probleme adäquaten Untersuchungsverfahrens verbindet sich keineswegs eine Abwehr der zeitgenössischen Tendenzen zur Empirisierung der Psychologie, wohl aber diesbezüglich sind die Parallelen zu Eberhard nicht zu verkennen die Zurückweisung einer Seelenlehre auf materialistischer Basis und mit spekulativmetaphysischem Begründungshorizont. Nach der so genannten anthropologischen Methode nämlich, so Tetens’ Kritik der britischen und französischen Assoziationsund Sensualismustheorien (D. Hartley, J. Priestley, C. Bonnet),116 löse sich Psychologie gleichsam in Physiologie auf: „Man betrachtet die Seelenveränderungen von der Seite, da sie etwas in dem Gehirn, als dem innern Organ der Seele sind, und sucht sie als (Hervorh. E.S.) solche Gehirnsbeschaffenheiten und Veränderungen zu erklären“.117 Diesem Physiologismus des Psychischen auf der einen Seite, wonach das psychologische Verstehen von Vorstellung, Bewusstsein, Fühlen, Denken, Lust und Unlust auf die Lokalisierung psychischer Leistungen „in Veränderungen und Beschaffenheiten“ der materiellen Seele eingeschränkt wird, entspricht nach Tetens’ Einschätzung auf der anderen Seite eine Spiritualisierung des „Denkorgans“ Seele zu einer „metaphysischen“ Instanz der neuronalen Steuerung des
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Die genannten Vertreter eines anthropologischen Materialismus, die Tetens hier meint (Assoziationspsychologie à la John Locke, David Hume, David Hartley, Joseph Priestley; Theorie der „materiellen Ideen“ in der Schottischen Schule), teilen die Auffassung von der Erklärbarkeit kognitiv-intellektueller Leistungen durch neurophysiologische Funktionsverhältnisse, ohne damit einem vollständigen Physiologismus in Bezug auf die Gesamtheit der psychischen Phänomene das Wort zu reden. Neben Hartley und seinem Schüler Joseph Priestley folgte von französischer Seite namentlich auch der im deutschen Diskussionskontext vielfach präsente Charles Bonnet dem Epoche machenden materialistischen Ansatz Julien Offray de La Mettries (1709–1751), der im Nervenursprung die Quelle aller kognitiven und affektiv-emotionalen Seelenäußerungen identifizierte und die Seele auf ein „principe de mouvement, ou une Partie matérielle sensible du Cerveau“ reduzierte (vgl. ders.: L’homme machine. Die Maschine Mensch. Hamburg 1990, S. 110f.). Für den Überblick über die englische Assoziationspsychologie in Entgegensetzung zu den Ansätzen einer materialistisch-sensualistischen Psychophysiologie in Frankreich vgl. Galle: Entstehung der Psychologie, S. 314–326; zur Rezeption der materialistischen Theorien im Umkreis der Göttinger Feder-Schule (M. Hißmann, C. Meiners) nach wie vor einschlägig: Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Hg. von O. A. Elissen. 2 Bde., Leipzig 1906, sowie Otto Finger: Von der Materialität der Seele. Beitrag zur Geschichte des Materialismus und Atheismus im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Berlin 1961, S. 30ff. Zu Tetens’ Verhältnis zur Schottischen Schule siehe ausführlich: Manfred Kuehn: Scottish Common Sense in Germany 1768–1800. A Contribution to the History of Critical Philosophy. Kingston, Montreal 1987, S. 119ff. 117 PhV, S. IV.
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Psychischen, die mit einem „immateriellen Ich als wirkende[r] und bewegende[r] Kraft verbunden“ ist.118 Demgegenüber geht die im Versuch zugrunde gelegte erfahrungswissenschaftlich-„beobachtende“, Lockes Verfahren im Essay concerning human understanding verpflichtete Methode zunächst generell von den empirischen Modifikationen der Seelenaktivität aus, um in einem zweiten Schritt der analytischen Deutung und des Vergleichs des Beobachtungsmaterials „die einfachsten Vermögen und Wirkungsarten und deren Beziehung auf einander auf[zu]suchen“ sie wird begriffen als ein der Naturlehre analoges Verfahren, das den Anspruch, nichtkonjekturales Wissen über die Natur der Seele („als des Subjekts der beobachteten Kraftäußerungen“) zu gewinnen, durch die konsequente Beschränkung auf die Analyse der psychischen Wirkungen119 und den Verzicht auf jede Form monistischer Ableitung zu sichern trachtet. Die typologisch orientierte Gegenüberstellung, die Tetens hier im Rahmen einer methodologischen Grundlegung der Psychologie vornimmt, ist symptomatisch für die philosophisch fundierte wissenschaftliche Seelenlehre der späten Aufklärung und die verschiedenartigen Versuche in der nachwolffschen Vermögenspsychologie, rationalistische Systeminteressen und empiristisches Methodenideal zu der Einheit eines Wissenschaftsansatzes zu verbinden und die (wohlgemerkt: behauptete) Selbstevidenz von erfahrungs- und beobachtungsgeleiteter Erkenntnis zur Basis der Kritik an materialistischen Erklärungstheorien des Psychischen zu erheben.120 Gegenüber der beobachtenden Methode, so lässt sich Tetens’ Kritik zusammenfassen, muss das anthropologische Untersuchungsverfahren in der Psychologie in dreifacher Weise als verfehlt angesehen werden. Die Inthronisierung des Außerpsychischen (Körperprozesse, Gehirn) zur Erklärungsbasis des Psychischen verkehrt erstens die anthropologisch und erkenntnistheoretisch gänzlich unbezweifelbare Korrelation von leiblichen und seelischen Abläufen, indem sie die neuronalen Prozessabläufe als solche verabsolutiert.121 Zweitens wird mit der Hypostase der
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Ebd. S. V. Ebd. S. IV. Dass Tetens hier mit nicht zu übersehender Schärfe eine Polarität zwischen materialistischer und nichtmaterialistischer Auffassung der Psychologie innerhalb der zeitgenössischen Methodendiskussion etabliert, kann nicht darüber hinweg täuschen, dass Tetens hier durchaus eine Mischform zwischen empiristischer Methodologie und schulphilosophisch-rationalistischer Systematisierung anstrebt. Diesbezüglich ist Bezolds Befunden zuzustimmen, dass man „schon die Gegensätze Deduktion vs. Empirie und natürlich das metaphysische Problem idealtypisch pointieren [muss], um von einem strengen Gegeneinander der Schulphilosophie und der Anthropologie sprechen zu können“ (vgl. Bezold: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde, S. 123). 121 Vgl. ebd., S. VI: „Es ist ein alter, und nun durch die Uebereinstimmung der Erfahrungen bestätigter Grundssatz, daß der Körper, und noch näher das Gehirn, zu allen Seelenveränderungen, zu ihren Thätigkeiten und Leidenheiten [sic!] beywirke, und so unentbehrlich dazu sey [...]. [...] Aber es ist eine neue Voraussetzung, wenn man annimmt, daß diese Gehirnsbeschaffenheiten das ausmachen, was wir Vorstellungen nennen [...].“
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körpergeleiteten Konstitutionsmomente psychischer Aktivität (einschließlich ihrer metaphysischen Erhöhung in einem der überprüfenden Beobachtung unzugänglichen metaphysischen „Seelenwesen“) die Bedeutung eines außerhalb der Grenzen des Beobachtbaren Existierenden für gültig beansprucht und mithin konstruiert, was sich in den Augen des Philosophen nur durch eine „Erfahrungskenntniß von den Grundvermögen“122 als wissenschaftlicher Sachverhalt rechtfertigen kann. Drittens schließlich enthebt die (physiologische) Materialisierung des Psychischen die Seele ihrer Rolle als zentraler Koordinationsinstanz aller Seelenmodifikationen; diese erscheint vielmehr als Gegenstand der willkürlichen Zuschreibungen einer im Kern mechanistischen Psychologie123 genau als dasjenige also, was die beobachtende Psychologie auf dem Wege einer durchweg genetischen Herleitung aller seelischen Leistungen von unten prinzipiell zu vermeiden sucht.124 So weitet Tetens’ Materialismuskritik auf dem Gebiet des Seelischen die Vorbehalte Eberhards gegen eine Erklärung des Psychischen vom Leibe her125 zunächst zur Antithese von ‚erfahrungswissenschaftlicher‘ und ‚physiologistischer‘ Psychologie aus, um sich mit einer Erneuerung des Geltungsanspruchs der Vorstellungspsychologie des Wolffianismus zu verbinden.126 Es ist allerdings offenkundig,
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Ebd., S. XII. Als theoriegeschichtliche Variante der „Mechanische[n] Psychologie“ bezeichnet wörtlich Michael Hißmann, einer der besten Kenner der sensualistisch-materialistischen Szene des späten 18. Jahrhunderts, die verschiedenartigen Versuche, die Seelenkompetenzen aus zerebralen Strukturverhältnissen begreiflich zu machen auf der Zitierlinie Aristoteles, Malebranche, Hartley, Bonnet (vgl. Michael Hißmann: Geschichte der Lehre von der Association der Ideen, nebst einem Anhang vom Unterschied unter associirten und zusammengesetzten Begriffen, und den Ideenreyhen. Göttingen 1777, S. 63f.). Tetens’ diesbezügliche Metaphorik muss als Zuspitzung der Materialismuskritik gelesen werden: Im Modell des Psychophysiologismus (hier gemäß der anthropologischen Ableitungsmethode à la Bonnet) ist das „Denkorgan“ eine „Maschine, wozu die Seele die bewegende Kraft ist.“ Die „Einrichtung der Denkmaschine würde auf diese Art der Entwickelung des ganzen organisirten Körpers ähnlich und gleichartig seyn [...].“ vgl. PhV, S. V, S. X. 124 Tetens’ Prioritätensetzung auf das beobachtungsanalytische Moment als Basis der Seelenlehre bezeichnet den deutlichen Unterschied zur vorstellungstheoretischen Deduktion der psychischen Funktionen und ihrer Leistungen im Modell Eberhards: Die Reihenfolge der phänomenalen Analyse ist eindeutig: Die psychischen Modifikationen „sorgfältig wiederholt, und mit Abänderung der Umstände gewahrnehmen, beobachten, ihre Entstehungsart und die Wirkungsgesetze der Kräfte, die sie hervorbringen, bemerken; alsdenn die Beobachtungen vergleichen, auflösen […].“ PhV, S. IV. 125 Vgl. Eberhard: ATDE, S. 6. 126 Nicht anders als die Grundkrafttheoretiker der rationalistischen Schulphilosophie, die „systematischen Seelenlehrer“ im engeren Sinn (PhV, S. 3), bestimmt Tetens das Wesen des Psychischen als „Kraft-Aeußerung aus dem innern thätigen Princip der Seele“. Gegenüber der Mehrzahl der an der Leibniz-Wolffschen Vermögenspsychologie orientierten Autoren („Alles entsteht aus Einer Grundkraft; diese wirket überall auf einerley Art und nach einerley Gesetzen. Dieß ist ein Grundsaz fast bey allen.“ vgl. PhV, Erster Versuch. Ueber die Natur der Vorstellungen. S. 1, S. 3) zieht Tetens jedoch, wie nachfolgend näher zu sehen, andere Konsequenzen.
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dass die von Tetens behauptete Selbstevidenz der „Beobachtungskenntnisse“127 die Objektivität des solchermaßen gewonnenen psychologischen Wissens eben nur behaupten und voraussetzen, nicht jedoch argumentativ sichern kann. Denn weder ergibt sich aus der Analogie zur Naturlehre ein für die psychologische Beobachtung eindeutiger Geltungsmaßstab für die Richtigkeit der „psychologischen Analysis der Seele, die auf Erfahrungen beruhet“,128 noch kann Tetens’ Insistieren auf „Reflexionen und Schlüsse“, die alle Beobachtung begleiten sollen,129 den Objektivitätsanspruch der beobachtenden Methode im eigentlichen Sinn unter Beweis stellen. Im Gegenteil: die Berufung auf das „Selbstgefühl“130 als Wahrnehmungs- bzw. Beobachtungsinstanz der psychischen Phänomene und die Restauration der „Vernunft“ als Beglaubigungsinstanz für das durch Beobachtung gewonnene Wissen weist die erfahrungsseelenkundliche Analyse als eine definitiv subjektabhängige Konstruktionsleistung aus.131 Die Opposition des Tetensschen Methodenmodells zum esprit de système,132 so wird schließlich deutlich, ergibt sich demnach aus dem methodischen Bemühen, den induktiven Prozess (Erfahrung, Beobachtung, Reflexion, Schluss) in eine differenzierte Theorie der „einfachsten Vermögen“ des Psychischen übergehen zu lassen (eine Option also auf rationale Psychologie!), um die Antithese von materialistischer (Gehirn) und metaphysischer (Seele) Gegenstandskonstitution zu umgehen.133 Einmal mehr zeigt sich darin, dass 127 128 129 130
Vgl. Tetens: PhV, S. XII. Ebd., S. IV. Ebd., S. XXIV. Tetens’ Formel für die empiristische Beobachtungsanalytik: „die Modifikationen der Seele so nehmen, wie sie durch das Selbstgefühl erkannt werden“ [Hervorh. E.S.], PhV, S. IIIf., gibt de facto keine konsistente Erörterung der maßgeblichen Beurteilungsinstanz für die Beobachtungsanalytik, sondern ist lediglich eine Evidenzbehauptung für „das Gefühl jedweder Art von innern Zuständen und Veränderungen für sich betrachtet, so wie sie für sich in uns vorhanden sind“ (vgl. ebd., S. 184). In der zeitgenössischen Diskussion war der nicht zum schulphilosophischen Inventar gehörende Terminus „Selbstgefühl“, als Pendant des ‚inneren Sinns’, explizit erstmals von Schmidt 1772 thematisiert worden (vgl. Michael Ignaz Schmidt: Die Geschichte des Selbstgefühls. Frankfurt / Leipzig 1772). Manfred Frank hat indes darauf hingewiesen, dass die deutsche Begriffsdefinition einen langen theoriegeschichtlichen Vorlauf in der bewusstseins- und vermögenstheoretischen Diskussion namentlich im Umkreis der Berliner Akademie (J. B. Merian, Main de Biran u.a.) hat; Tetens kannte nachweislich Merians einschlägige Schriften aus den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts (vgl. Manfred Frank: Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung. Frankfurt/M. 2002, S. 86, S. 254 [zu Merian], S. 199ff. [zu Tetens]). Zu Sulzers Merian-Rezeption vgl. die Ausführung in Abschnitt VI, 2.3.2). 131 Es ist die erklärte Absicht der empirisch-analytischen Verfahren in der Erfahrungspsychologie, „auf nichts zu fußen, als was entweder unmittelbare Beobachtung selbst ist, oder evidente und durch die Uebereinstimmung der Beobachtung bestätigte Vernunft“, vgl. PhV, S. XXIV. 132 Da Tetens den „Geist des Systems“ nicht als Inbegriff des Psychophysiologismus, sondern als generellen Fehlansatz in der Seelenanalytik ansieht (er „verleitet [...] eben so sehr, als die Phantasie“, zu falschen Schlussfolgerungen, vgl. PhV, S. XXIV), trifft die damit gemeinte Kritik der „metaphysischen Psychologie“ (ebd., S. XII) letztlich alle grundsatzphilosophischen Ansätze des Psychischen. 133 Gemäß dieses Modells geht es um eine philosophisch tragfähige Verbindung zwischen rationalistischer, nach den sukzessiven Deutlichkeitsstufen geordneter Vorstellungstheorie und
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der anthropologische Impetus der psychologischen Theorie sich weder auf eine Kritik der Prädominanz intellektualistischer Ableitungsprinzipien in der Seelenlehre verengen lässt noch mit einer schroffen Zurückweisung leiborientierter (physiologischer) Erklärungsansätze identisch ist. Was Tetens’ Methodologie programmatisch konturiert, ist im Kern Reduktionismuskritik vom Standpunkt des empirisch-anthropologischen Komplexitätsanspruchs.134 2.2 „Innere Empfindung“. Emotion als Seelenäußerung und psychische Grundkompetenz 2.2.1 Basiskategorie Gefühl. Terminologische Positionierungen im zeitgenössischen Kontext Bildet Tetens’ Methodendiskussion eine signifikante Belegstelle für die Rezeption britischer und französischer Sensualismus- und Assoziationstheorien im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, aus denen gleichermaßen die Impulse für eine erfahrungswissenschaftliche Revision des schulphilosophischen Vorstellungstheorems (Leibniz, Wolff) wie für die Bekräftigung des Prinzipiengedankens in der wissenschaftlich-philosophischen Psychologie erwachsen, so bleibt nunmehr mit Blick auf die Problematik der Empfindungen zu verfolgen, inwiefern es Tetens gelingt, die an die materialistischen Theorien des Psychischen gerichtete Reduktionismuskritik auf das vorstellungstheoretische Deduktionsmodell der rationalistischen Schulphilosophie zu übertragen und mit der Theorie der Emotionen den Totalitätsanspruch der vorstellungstheoretischen Deduktion der Seelenkräfte zu relativieren. Die Wörter Gefühl und Fühlen haben jetzo beynahe einen so ausgedehnten Umfang erhalten, als die Wörter: Empfindung und Empfinden. Aber doch scheinet noch einiger Unterschied zwischen ihnen statt zu finden. Fühlen gehet mehr auf den Aktus des Empfindens, als auf den Gegenstand desselben, und Gefühle, den Empfindungen entgegen gesetzt, sind solche, wo bloß eine Veränderung oder ein Eindruck in uns und auf uns gefühlet wird, ohne daß wir das Objekt durch diesen Eindruck erkennen, welches solche bewirket hat. Empfinden zeiget auf einen Gegenstand hin, den wir mittelst des sinnlichen Eindrucks in uns fühlen, und gleichsam vorfinden.135
dem physikalistischen Naturbegriff („Die Natur suchet Stufenverschiedenheiten.“, PhV, S. IX). Tetens’ Rückgriff auf den Wesensbegriff der Seele (nach dem Wolffschen Modell der Psychologia rationalis) im zweiten Teil der Philosophischen Versuche erfolgt nicht zuletzt aufgrund dieser Zielstellung (vgl. zu diesem Komplex Hauser: Selbstbewußtsein und personale Identität, S. 149ff.). 134 Zu der hier nicht berücksichtigten Funktion der Analogie als heuristisches Instrument einer empirisch fundierten Seelenanalyse (Tetens und Herder) vgl. J. Heinz: Wissen vom Menschen, S. 33–35. 135 Tentens: PhV, S. 162f. Das hier kenntliche Insistieren auf dem Begriff des Eindrucks gehört in die junge Tradition der Konzeptualisierung des Emotionsbegriffs, wie sie nicht nur etwa in Sulzers frühen Akademieabhandlungen aus den fünfziger Jahren (vgl. nachfolgend, Abschnitt 6), sondern auch bei den zeitgenössischen Autoren der sogenannten zweiten oder dritten Reihe
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Bereits anhand dieser Binnenunterscheidung im Gefühlsbegriff zu Beginn der umfangreichen emotionstheoretischen Passagen innerhalb der Philosophischen Versuche136 wird das analytische Potential kenntlich, das aus der vermögenstheoretischen Relativierung des rationalistischen Vorstellungstheorems in Verbindung mit einer weitestgehenden Beschränkung auf das Charakteristische psychischer Wirkungsäußerungen entstehen konnte. In der Leitunterscheidung zwischen vollzugsorientierter Wahrnehmungserfahrung ohne Gegenstandsbestimmung (Fühlen / Gefühl) einerseits und gegenstandsorientierter Sinneswahrnehmung (Empfinden) andererseits sind die emotionstheoretischen Distinktionen der frühen Popularphilosophie erstmals auf den Begriff einer vom vorstellungstheoretischen Beschreibungsmodell losgelösten Phänomenologie der Emotionen gebracht: „Die gefühlten Modifikationes von uns [Hervorh. E.S.] heißen darum Gefühle, Empfindungen oder auch Empfindnisse, weil das Vermögen zu Fühlen und zu Empfinden [...] am vorzüglichsten bey ihnen beschäftiget ist.“137 Tetens’ Unterscheidung zwischen sensuellem und transsensuellem Emotionsbegriff stützt sich auf die von Thomas Abbt bereits 1772 definierte und im popularphilosophischen Ästhetik- und Anthropologiediskurs (Eberhard, Campe, Mendelssohn, Feder) rasch zur Verbreitung gelangte Differenz zwischen „Empfindung“ und „Empfindniß“.138 Mit diesem, von Tetens hier bereits als geläufige Bestimmung vorausgesetzten Begriffspaar hatte Abbt (im engen Dialog mit Mendelssohn)139 die in der französischen Psychologie maßgebliche Unterscheidung zwischen „Sensation“ und „Sentiment“ für den deutschen Sprachraum erschlossen: „Empfindung mag für Sensation gelten, und für Sentiment Empfindniß. [...] Die Empfindung beziehet lebhaft, aber verworren eine Sache auf uns, vermittelst der Sinne; das Empfindniß beziehet sie auf ähnliche Art vermittelst der Einbildung.“140 innerhalb der philosophisch-essayistischen Journalliteratur zu finden ist. Vgl. Anonymos: Versuch über die Empfindungen, S. 123f.: Empfindung als „Eindruck in der Seele von völlig bestimmten Dingen in ihrem Verhältnisse“ an sich selbst und zum perzipierenden Subjekt. 136 Ebd., „Zweeter Versuch. Ueber das Gefühl, über Empfindungen und Empfindnisse“, S. 161– 254. 137 Ebd., S. 164. 138 Zu den theoriegeschichtlichen Voraussetzungen der im Kreuzungsfeld von empiristischer Erkenntnistheorie, Erfahrungsseelenkunde und philosophischer Ästhetik entwickelten Entgegensetzung beider Termini vgl. Sauder: Empfindsamkeit, S. 177ff. 139 Sauder hat auf Abbts regen Briefwechsel mit Mendelssohn verwiesen, der maßgeblich zur Begriffsfindung beigetragen hat (vgl. ebd., S. 179f.). 140 Abbt: Abhandlung vom Verdienste, S. 116. Trotz der erwähnten autorenübergreifenden Präsenz des Terminus der „Empfindniß“ im zeitgenössischen Psychologie- und Ästhetikdiskurs (zum Breitenspektrum der quellengeschichtlichen Einzelnachweise vgl. Sauder: Empfindsamkeit, S. 179, S. 288, Anm.) bleibt auffällig, dass sich der Begriff nur vorübergehend etablieren konnte; im Zuge der Kantischen Neudefinition der Differenz von „Empfindung“ und „Gefühl“ wird bereits seine Historisierung herbeigeführt (vgl. Kant: KdU, § 3, S. 118f.). An diesem Sachverhalt änderten auch die diversen Versuche von Seiten der philosophisch orientierten Wörterbuchautoren, den Terminus als philosophiehistorisch bedeutsamen Begriff und als lexikographisch wichtigen Bestandteil des Deutschen auszuweisen, nichts Entscheidendes (vgl. exemplarisch Johann Christoph Adelung: Art. „Empfindniß“, in: ders.: Versuch eines vollstän-
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Wesentliches für das Verständnis des Empfindungsgeschehens war mit diesen elementaren Unterscheidungen im Emotionsbegriff geleistet: Die Kennzeichnung der Zusammengehörigkeit von innerer und äußerer Emotion durch den Rückgriff auf einen gemeinsamen Wortstamm; die Herausstellung der Subjektbezüglichkeit der sinnesgeleiteten Wahrnehmungserfahrung qua Emotion; schließlich die Auslegung der inneren Emotion („Empfindniß“) als einer mit dem unteren Erkenntnisvermögen der Einbildungskraft korrelierten Wahrnehmungsform.141 Theoriegeschichtlich noch bedeutsamer ist freilich, dass Abbt und zwar nicht zufällig innerhalb eines ästhetischen Beispielzusammenhangs den Umschlagpunkt zwischen primärer Sinneserfahrung („Empfindung“) und phantasiegeleiteter Emotion („Empfindniß“) erstens dezidiert als den Übergang zu einer „der fühlenden Seele eigen[en]“ Emotion, die „sich auf ihr Ich“ bezieht, gekennzeichnet142 und zweitens den Angemessenheits- und Lustcharakter der inneren, zumal ästhetischen Empfindungen an die Verfügbarkeit der Einbildungskraft über den unmittelbaren Sinneseindruck, die sensuelle Aisthesis, gebunden hatte: Der Qualitätsumschlag vom ästhetischen Pathos zum ästhetischen Genuss ist demnach an die Freiheit der ästhetischen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsvollzüge gebunden.143
digen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen [1774–1786]. Theil 1, Leipzig ²1793, Sp. 1800; Johann Christian Lossius: Art. „Empfindniß. Psychologie“, in: ders.: Neues philosophisches allgemeines Real-Lexikon oder Wörterbuch der gesammten philosophischen Wissenschaften in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artikeln. Aus verschiedenen Schriftstellern gezogen. Bd. 2. Erfurt 1804, S. 172–175, hier S. 174). 141 Wie im besonderen Platners empfindungstheoretische Eudämonismustheorien im zweiten Teil seiner Philosophischen Aphorismen veranschaulichen (Platner verkündet hier gar die Existenz eines eigenen „Empfindnißvermögens“, vgl. ders.: Philosophische Aphorismen II, S. 12f.), war die Kategorie der „Empfindnis“ offenkundig nicht nur für die popularphilosophischen Autoren der deutschen Spätaufklärung prädestiniert, auch in moralphilosophischen Begründungskontexten Verwendung zu finden. Zur zeitgenössischen Diskussion des Emotionsbegriffs („Empfindung“, „Empfindniß“) im Kontext der popularphilosophischen Handlungstheorie vgl. Bachmann-Medick: Ästhetische Ordnung des Handelns, S. 25f. 142 Vgl. Abbt: Abhandlung vom Verdienste, S. 117. Das Moment der emotionalen Affizierung ist unübersehbar: Wenn die Empfindung dem Empfindnisse weicht, sobald die Phantasie den äußeren Sinneseindruck dominiert, „wallt“ selbiges „in der Seele auf; überfließt in ihr, und überströmt sie mit seinen [durch das phantastische Bild bewirkten, E.S.] Freuden.“ 143 In Abbts Betonung des Verfügen-Könnens über die (ästhetische) Sinneswahrnehmung wird exemplarisch die Tendenz der erfahrungspsychologischen Ästhetik der späten Aufklärung deutlich, den ästhetischen Kern der sinnengeleiteten Wahrnehmung über die Zurückstellung der sensuellen Aisthesis zu definieren: Das Angenehme ist das Subjektgemäße als ungehinderte Vollzugstätigkeit. Vgl. ebd., S. 118f.: „Wir wissen, daß jedes Empfindniß etwas angenehmes hat [...]: weil das Empfindniß nur durch die Einbildungskraft läuft. Denn eben dasselbe Bild, das durch diese eingedrücket wird, ist schwächer, als wenn es durch die Sinne wäre eingedrücket worden. Daher entstehet bey uns kein eigentliches Leiden, weil der Grad desselben, indem wir ein Bild der Fantasey bald stärker bald schwächer machen können, einigermaßen von uns abhänget.“
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Wenn Tetens’ terminologische Vorklärungen der emotionsbasierten Seelenäußerungen zunächst vordergründig die Verschiedenheiten im Sprachgebrauch aufgreifen, ohne die Absicht, definitive Festlegungen zu treffen,144 so ist mit der vorab getroffenen Zuweisung des „Gefühls“ als Kollektivsingular für den Vermögenskomplex Empfinden / Fühlen respektive Empfindung / „Empfindniß“145 doch die klare Zuordnung zu den nächst dem Vorstellungsvermögen „einfachsten Grundäußerungen der Seele“146 deutlich vollzogen und mithin auch die bei Abbt kenntlich gewordene Autonomisierungstendenz des Empfindens gegenüber dem Vorstellen beibehalten. Indem Tetens den Phänomenbereich der Empfindungen als Äußerungsform des Psychischen und sei es in Gestalt einer wesentlichen „Grundkraft“ begreift und von der Seite seiner Wirkungen her zu erschließen sucht, ist die substanzontologische Geltung der Seele als ein ‚monolithisch‘ durch Vorstellungen bestimmtes Konstitutionsprinzip des Psychischen zurückgenommen bzw. zugunsten einer erfahrungsseelenkundlichen Analysis der verschiedenen Äußerungsformen des Psychischen relativiert. Die Natur, so Tetens mit deutlicher Absage an alle aus einem Prinzip argumentierenden Erklärungsprinzipien des Psychischen, ist „ohne Zweifel in ihrem Innern einfach; aber auch nur in ihrem Innern, in ihrem Mittelpunkt [...].“147 2.2.2 Innere Empfindungen als Verhältnißgefühle Dass das Gefühl gemäß vorstehender Bestimmungen als ein irreduzibler Sachverhalt des Psychischen zu gelten hat „einfache [d.h. nicht weiter ableitbare, E.S.] Seelenäußerung“148 , hindert Tetens freilich nicht daran, seinen Beitrag zu einer empirisch fundierten Phänomenologie der Emotionen auf die Analyse der diversen subjektiven und außersubjektiven, leiblichen und intrapsychischen Konstitutionsfaktoren derselben zu orientieren.149 Tetens’ vorkritische Empfindungsana-
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Tetens’ terminologische Sorglosigkeit, auch das ein Charakteristikum der nachwolffianischen und vorkantischen Periode, ist Programm: „Es kommt nicht auf Namen an; eine gewisse Unbestimmtheit in der Bedeutung der Worte hat vielleicht gar ihr Angenehmes.“ (PhV, S. 163). 145 Für die skizzierte Verschiebung im theoretischen Verständnis ist das Zurücktreten des (ontologischen) Kraft-Begriffs zugunsten des Begriffs der Vermögen bzw. Fakultäten bezeichnend, vgl. PhV, S. 164: „[...] Das Vermögen zu Fühlen und zu Empfinden“ heißt „mit Einem Wort Gefühl“ [...], [e]s mögen mehrere Seelenfähigkeiten [Hervorh. E.S.] bey jeder einzelnen Empfindung wirksam seyn [...].“ 146 Tentens: PhV, S. 161. 147 Ebd., S. 4. Tetens formuliert seine empiristische Programmatik in der Seelenlehre denn auch nicht ohne Affekt gegen die „luftigen Systemenmacher“ (PhV, S. XIII), die im Feld der Vorstellungspsychologie den „Hang zum einförmigen System“ auf das Konzept der „Einartigkeit der Seelenaeußerungen“ ummünzen eine Reduktion, die sich der entschieden auf Phänomenbezug und Beobachtung setzende Philosoph selbst nicht vergeben würde (vgl. ebd., S. 4). 148 Ebd., S. 165. 149 Zu dem hier nicht eingehender zu verfolgenden Stellenwert der Empfindungsvorstellung des Gefühls als genetisch erstem Element des Bewusstseins thematischer Gegenstand des „ersten
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lyse,150 deren wesentliche Ergebnisse hier in Hinsicht auf ihre anthropologischen und ästhetiktheoretischen Valenzen in nuce zu rekonstruieren sind, berührt im Rahmen des skizzierten empirisch-psychologischen Forschungsprogramms in der Tat grundlegende Fragen der ästhetischen Theoriebildung. Zur Debatte stehen weder – und das unterscheidet die Tetenssche Gefühlsanalyse sowohl von der vollkommenheitstheoretischen Ästhetik im engeren wie der popularphilosophischen Psychologie und Ästhetik im weiteren Sinn die Konvergenzen zwischen Erkenntnisbegriff und Vollkommenheitsbegriff einerseits noch die zwischen theoretischem Gefühlsbegriff und pragmatischem Bildungsbegriff andererseits. Tetens unternimmt vielmehr den Versuch, traditionelle Gegensatzpaare der philosophischen Erkenntnistheorie für die empirische Analyse des anthropologischen Grunddatums der Emotionen fungibel zu machen und auf dem Boden eines vom ontologischen Begriffsrahmen der vis repraesentativa losgelösten Fragezusammenhangs zu verhandeln. Zwei grundsätzlichen Problemstellungen gebührt hierbei eine besondere Aufmerksamkeit: Zum ersten Tetens’ Behandlung des grundlegenden Verhältnisses von Aktivität und Passivität der Seele in der affektiv-emotionalen Wahrnehmung (Emotion als „Empfindnis“). Und zum zweiten die nach der Differenz zwischen Objekt- und Subjektbezogenheit dieses Wahrnehmungstypus. 2.2.3 Der Gegenstandsbezug des Gefühls. Rezeptivität Die Eigenart der emotionalen Wirklichkeitswahrnehmung im Unterschied zur psychischen Repräsentation qua Vorstellung besteht, so Tetens’ erstes beobachtungsanalytisches Merkmal zum Gefühl, in ihrem Aktualitätscharakter: Wir „fühlen und empfinden (nichts), als was gegenwärtig ist“.151 Das scheinbar Triviale dieser Festlegung macht erneut Tetens’ Anspruch auf eine kategoriale Sicherstellung des Gefühls, sowohl vom Vorstellen als auch vom Begehren, kenntlich, denn mit ihr ist sowohl der im schulphilosophischen Vorstellungsbegriff fundierte Erkenntnischarakter als auch das Moment des Begehrens (Appetenz), das Wolff dem Leibnizschen Konzept der Monade entnommen hatte, um die Einheit von Denkund Begehrungssphäre in der seelischen Vorstellungskraft zu begründen, phänomenanalytisch zurückgenommen.152 Das Gefühl, so Tetens’ entscheidende begrünVersuchs“ in den Philosophischen Versuchen vgl. Hauser: Selbstbewußtsein und personale Identität, S. 139ff. 150 Vgl. Kant: Reflexionen zur Metaphysik Nr. 4901, in: ders.: AA, Bd. XVIII, 3. Abteilung. Handschriftlicher Nachlaß. Bd. 5. Berlin, Leipzig 1928, S. 23: „Tetens untersucht die Begriffe der reinen Vernunft blos subiectiv (Menschliche Natur), ich obiectiv. Jene analysis ist empirisch, diese transcendental.“ 151 Tentens: PhV, S. 165. 152 Wolffs für die Konzeption der empirischen Psychologie maßgebliche Prämisse, wonach die singulare Grundkraft der Seele das Einheitsprinzip aller psychischen Vermögensäußerungen (obere und untere Erkenntnis- und Begehrungsvermögen) darstellt, durch die man „nicht durch einen Sprung, sondern durch Stuffen [kommet]“ (vgl. Christian Wolff: Von dem Nutzen und
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dungsgeschichtliche Pointe, ist damit erstmals nicht mehr als intentionaler Akt des Vorstellungen produzierenden Bewusstseins der vis activa gefasst, denn „es gehet nicht über das Gegenwärtige hinaus [und] bestehet […] in keinem Bestreben, in keinem Ansatz, eine neue Veränderung zu bewirken“.153 Die Eigenart der Gefühlswahrnehmung wird nun vielmehr durch ein Moment selbstreflexiver Rezeptivität bestimmt, das Tetens pointiert über die Begriffe „Reaktion“ und „Rückwirken“ geltend macht. Fühlen als Bezogensein auf ein „gegenwärtiges Objekt“ ist im eigentlichen Sinn eine Form des sinnengeleiteten Gewahrwerdens von etwas als eines gegenwärtigen Wahrnehmungseindrucks und nicht Perzeptionsform eines bestimmten Wahrnehmungsinhalts,154 – ein Sachverhalt, den der Philosoph hier zwar nicht unmittelbar für die Erklärung der Lustwahrnehmung konzeptualisiert, der in den einschlägigen Diskussionszusammenhängen bezüglich der wahren Natur der sinnlich-ästhetischen Gegenstandskonstitution gleichwohl als theoriegeschichtlich markanter Umschlagpunkt wahrgenommen wird.155
der Lehrart in der erfahrenden Lehre von der Seele, in: ders.: Gesammlete kleine philosophische Schriften. Dritter Theil. Halle 1737, S. 233; vgl. a. ders.: DM, § 745, S. 464), folgt sachlich Leibniz’ substanztheoretischer Konzeption der Seele als einer Kraft, die Vorstellungen erzeugt, in diesem Vorstellen jedoch immer schon auf den Bereich des Begehrens und des Handelns bezogen ist („ein Mittleres zwischen dem Vermögen zu handeln und der Handlung selbst, [die] ein Streben [einschließt]“ (vgl. Leibniz: Das neue System, S. 199). 153 Tentens: PhV, S. 166. 154 In Tetens’ beispielhaften Erläuterungen wird deutlich, inwiefern in der Gefühlswahrnehmung Selbstbezüglichkeit des Wahrnehmens (wir fühlen etwas) und der Gegenstandsbezug als einander bedingende Korrelate fungieren und mithin keinesfalls als bloße Modifikationen des vorstellenden Bewusstseins bestimmbar sind: „Wir fühlen die Gemüthsbewegung, in der die Vorstellung des Vergangenen enthalten ist, oder durch die sie wiedererweckt wird, aber nur so, wie sie jetzo wiederum gegenwärtig ist.“ (PhV, S. 167). 155 Die Tragweite der Tetensschen, unmittelbar am Gefühlsphänomen ansetzenden Bestimmungen vermag ein vergleichender Blick auf die Debatte über die Natur der angenehmen Emotionen zu illustrieren, die noch zu Beginn der neunziger Jahre zwar über den Vorstellungsbegriff geführt wird, in der Sache jedoch ebenso auf eine theoretische Verständigung der Emotionen über den Begriff des Wahrnehmens, der Rezeptivität zielt. So führt der Reinhold-Schüler Georg Dreves in seiner systematischen Kritik der aufklärerischen Lusttheorie (auf der Zitierlinie Dubos, Wolff, Mendelssohn, Helvétius, Sulzer, Platner, Villaume, Abicht, Reinhold) gegen die ‚subjektivistischen‘ Begründungen der angenehmen Emotionen ins Feld, dass durch die einseitige Betonung des Tätigkeitscharakters der vorstellenden Seele im Ergebnis der doppelte Konstitutionscharakter der Empfindungswahrnehmung verfehlt würde. Gegen Sulzers angebliche Unangemessenheit im Verständnis der angenehmen Emotionen wendet Dreves ein, dass die psychischen Aktivitäten in der Empfindungswahrnehmung „nicht bloss aus Thätigkeit [bestehen], sondern auch aus Empfänglichkeit. Empfänglichkeit aber ist ein sich leidend, nicht thätig verhaltendes Vermögen. […] Was wäre denn die Thätigkeit des Geistes bei der Geschlechtslust?“ (Dreves: Resultate der philosophirenden Vernunft, S. 30f.).
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2.2.4 „Leidentliche“ Wahrnehmung. Selbstbezüglichkeit und Affizierungsgehalt des Gefühls Der Sachverhalt der Gefühlswahrnehmung, so Tetens’ zweite theoriegeschichtliche Pointe gegenüber dem vorstellungstheoretischen Konzept der Emotionen, muss als „etwas leidentliches, eine passive Modifikation der Seele“ aufgefasst werden und kann mithin nicht mehr als Vollzugsmodalität der gleichsam körperfrei agierenden vorstellenden Seele gelten, sondern als ein Wechselwirkungszusammenhang zwischen wahrnehmender Seele und wahrgenommenem Gegenstand. Statt bloß ideeller Konstitutionszusammenhang und darin Ausdruck der „Thaten der Seele“,156 ist in der Gefühlswahrnehmung nach Tetens „das, was wir in uns fühlen, als eine Passion in uns vorhanden“: Gegenstand eines der selbsttätigen Kraft der Seele immer schon vorausliegenden Wahrnehmungseindrucks.157 Das unmittelbar Gefühlte ist mithin objektverursachtes Wahrnehmen einer innerpsychischen Veränderung, der ein leiblicher respektive neurophysiologischer Vorgang in den „innern Organen im Gehirn“ korreliert158 bzw. eine „aus dem Körper durch die Organe“ kommende Veränderung.159 Dass Tetens mit diesen – ausdrücklich am Phänomen der Gefühlswahrnehmung entwickelten – Begründungsentscheidungen im wesentlichen antithetische Bestimmungen zur vorstellungstheoretischen Deduktion des Empfindungsgeschehens trifft, die nachgerade auf die theoretische Fundamentierung des Gefühls als eigenständiger Vermögenssphäre des Psychischen hinauslaufen, machen die Anschlussdefinitionen deutlich, mit denen der Philosoph die vermögenstheoretische Verklammerung von „Empfindniß“ und „rührend[er]“ Emotion im Begriff des Gefühls leistet. Gefühl als innere Emotion160 unterscheidet vom Empfinden (als Erfassen von Objektrelationen)161 demgemäß erstens die Selbstbezüglichkeit (Subjektrela156
Obgleich Wolff die Gebundenheit der Empfindungen an den Leib, ja die Leidenschaften nicht unterschlägt (vgl. Wolff: DM, § 818, S. 507), gibt der Tätigkeitscharakter der vis repraesentativa für ihn das wesentliche Definitionskriterium für den Empfindungsbegriff ab: „In der That […] erweiset sich die Seele bey allen Empfindungen als ein thätiges Wesen, indem sie von der Seele durch ihre eigene Kraft hervorgebracht werden und daher den Grund, warum sie entstehen, in der Seele haben und solchergestalt nicht anders als für Thaten der Seele können gehalten werden.“ (ebd., § 821, S. 509f.; Hervorh. E.S.). 157 „Es ist niemals die Thätigkeit selbst, nie das Bestreben selbst, welches wir unmittelbar fühlen; es ist eine bleibende Folge von etwas, das von unserer selbstthätigen Kraft nun nicht hervorgebracht wird, sondern schon hervorgebracht worden ist, wenn es ein Objekt des Gefühls ist […].“ PhV, S. 168f. (Hervorh. Tetens). 158 Ebd., S. 168. 159 Ebd., S. 176. 160 Tetens formuliert terminologisch vage, aber sachlich entschieden: Die „inneren Modifikationen der Seele [d.i. Gefühle, E.S.] [gehören] zu der Klasse der innern Empfindungen“ (PhV, S. 178f.). 161 Im Rückgriff auf den „Verhältnis“-Begriff Charles Bonnets (vgl. Bonnet: Analytischer Versuch über die Seelenkräfte I, S. 234ff., pass.) sowie in Differenzierung der Kategorie des äußeren Sinnes der Wolff-Baumgartenschen Erfahrungspsychologie (vgl. Baumgarten: Mph, § 396, S. 182 [„Von dem Sinne“]) gilt für die äußeren Empfindungen, ein „Gewahrnehmen der Ver-
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tion) des Wahrnehmungseindrucks „auf die gegenwärtige Beschaffenheit der Seele, [...] ihre Vermögen und Kräfte“ bzw. auf den „dermaligen Seelenzustand“.162 Zweitens ist der Affizierungsgehalt, der die im Gefühl präsent gehaltene SubjektObjekt-Relation als lustaffine Wahrnehmungserfahrungen des Subjekts ausweist, Charakteristikum der subjektbezüglichen inneren Emotion. Dass Tetens an dieser Stelle der Argumentation auf die terminologischen Äquivalente „afficirende Empfindungen“, „Empfindniß“ und „Rührung“ zurückgreift,163 darf als begriffliche Untermauerung einer inhaltlichen Akzentsetzung verstanden werden. „Gefühl“ (innere Emotion, ‚Empfindnis‘) wird hier zur eigentlich psychologischen Kategorie mit anthropologisch-ästhetischer Relevanz dadurch, dass in ihm das Verhältnis auf den gesamten „Seelenzustand“, d.h. das Gemüt, erfahren wird, wie Tetens in der Folge am Beispiel des ästhetischen Gefallens veranschaulicht: Dieses erregt „die dazu passenden Reihen von Vorstellungen in der Phantasie; und von da geht die Wirkung weiter in die Vorstellungskraft über und in den Verstand, und durch diesen Weg auf das Gemüth“.164 Im Gefühl als einer Modalität der inneren Empfindung, so die Quintessenz der Tetensschen Basisbestimmungen, bezieht sich das Subjekt auf seinen eigenen Zustand nicht im Modus einer – schulphilosophisch gesprochen – undeutlichen respektive konfusen Vorstellung (als Erkennen), sondern im Modus eines im Kern ‚pathetischen‘ (leidentlichen) Wahrnehmens respektive Fühlens: Gefühle „thun uns, so zu sagen, etwas an“.165 2.2.5 Interesselosigkeit und Genuss. Ästhetische Differenzen im Gefühlsbegriff Theoriegeschichtliche Relevanz gewinnt Tetens’ erfahrungsanalytischer Neuzugriff auf die Emotionen – die primäre Erfassung des Phänomenbereichs der Emotionen von seinen Wirkungen, nicht von seinen Leistungen her – im Besonderen nunmehr dadurch, dass der Gefühlsbegriff als ästhetische Kategorie gefasst und für eine ästhetiktheoretisch bedeutsame Binnendifferenzierung zwischen genuin hältnisse in den gegenwärtigen Dingen“ zu sein, – d.h. eine außeremotionale Wahrnehmungsleistung ohne Affizierungsqualitäten (vgl. PhV, S. 178). 162 Tentens: PhV, S. 179. 163 Ebd. 164 Vgl. ebd., S. 203. 165 Ebd., S. 179. Noch in der als akademisches Standardwerk kursierenden Erfahrungspsychologie des Halleschen Professors Ludwig Heinrich Jakob (1759–1827) erscheint Tetens’ Unterscheidung zwischen subjekt- und objektbezogenen Gefühlen – pointiert als Gegensatz von Kognition und Emotion. Den „merkwürdigen Unterschied unter den Empfindungen“ bestimmt Jakob dahingehend, „daß durch einige der Zustand des Subjects, durch andere aber Objecte oder Dinge empfunden werden. Man kann daher jene subjective, diese objective Empfindungen nennen. Die subjektiven Empfindungen können auch Gefühle schlechthin, die objectiven aber Erkenntniß-Empfindungen genannt werden. Denn durch die letztern kann man etwas erkennen, durch die erstern nicht.“ Ludwig Heinrich Jakob: Grundriß der Erfahrungs-Seelenlehre [1791]. Halle 41810, § 50, S. 28f.
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ästhetischer (‚uninteressierter‘) und anthropologisch-sensueller (‚interessierter‘) Wahrnehmung nutzbar gemacht wird. Tetens identifiziert die im Gefühl realisierte Wahrnehmungserfahrung sowohl wahrnehmungspsychologisch (Emotion des „Angenehmen oder Unangenehmen“) als auch ästhetiktheoretisch (Emotion als „Gefühl des Schönen“ –)166 und überblendet damit zunächst scheinbar die Differenz zwischen der Erfahrung des Angenehmen und der des Schönen. Näher besehen leitet seine wahrnehmungs- und wirkungspsychologische Unterscheidung der Gefühlsphänomene167 gleichwohl exakt auf jene Leitbestimmung in der ästhetischen Theorie der späten Aufklärung, aus der Kant im Konzeptbegriff des interesse- und begierdefreien Wohlgefallens das Hauptkriterium der ästhetischen Erfahrung konzeptualisieren wird.168 In der ästhetischen Gefühlswahrnehmung nämlich als eines auf die emotionalen Eindruckswirkungen bezogenen „innere[n] Verhältnißgefühl[s]“, so Tetens, bleibt die Wahrnehmungserfahrung des „Gefallens und Mißfallens“ zwar im Kern der Klasse der „afficirenden Empfindungen“ zugehörig.169 166 167
Tentens: PhV, S. 181, S. 185. Um deutlich zu machen, dass es sich mit Bezug auf die (ästhetisch affinen) Emotionen als „subjektivischen Verhältnissen“ der Gegenstandswahrnehmung stets um eine zwischen Subjekt und Objekt vermittelnde Wahrnehmungsform handelt, spricht Tetens konsequent von den „Verhältnißgefühlen“ als „Wirkungen auf uns“ (vgl. PhV, S. 181, S. 202f., pass.). 168 Kant unterscheidet in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft drei „spezifisch verschiedene Arten des Wohlgefallens“ (das Angenehme, das Schöne, das Gute) und definiert als Spezifikum des ästhetischen Wohlgefallens – den Geschmack am Schönen – „einzig und allein ein uninteressiertes und freies Wohlgefallen“ zu sein, dem kein Interesse oder Bedürfnis als Bestimmungsgrund zugrunde liegt. Der ästhetische Geschmack ist Beurteilungskompetenz auf der Basis von „Wohlgefallen, oder Mißfallen, ohne alles Interesse.“ Vgl. Kant: KdU, AA Bd. X, § 5, S. 122, S. 124. Es muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben zu klären, ob Tetens’ auf den Terminus des „Interesses“ zurückgreifende Theorie der „inneren Verhältnißgefühle“ die Definitionsmuster aufgreift, die der Kompendienautor Friedrich Justus Riedel (1742–1785) mit seiner im spätaufklärerischen Ästhetikdiskurs viel zitierten und mehrfach aufgelegten Theorie der schönen Künste und Wissenschaften 1767 erstmals in die philosophische Debatte über die Natur der ästhetischen Wahrnehmung eingebracht hatte. Nicht zuletzt die analogen Terminologien beider Autoren, das dokumentiert das nachfolgende Zitat, berechtigen dazu, einen unmittelbaren Rezeptionszusammenhang zu unterstellen: „Schön ist also, was ohne intereßirte Absicht sinnlich gefallen und auch dann gefallen kann, wenn wir es nicht besitzen; Häßlich, was auch dann misfällt, wenn wir uns nicht vor dem Besitze desselben fürchten.“; „So gut wir für das gesammte Begehrungs-Vermögen einen Grundtrieb zur Vollkommenheit annehmen dürfen, um in diesen die letzten sonst unauflöslichen Würkungen unserer wollenden Kraft aufzulösen; so gut sind wir berechtiget, einen ähnlichen Grundtrieb für die Empfindung des Schönen zu behaupten. Je mehr etwas mit diesem Triebe, dem ein dunkles Gefühl der Schönheit zu Hülfe kommt, übereinstimmet; desto mehr gefällt es uns.“ Der „Trieb des Wohlgefallens gründet sich […] auf die allgemeinen Gesetze unserer Empfindung“ (Friedrich Just[us] Riedel: Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Ein Auszug aus den Werken verschiedener Schriftsteller [1767]. Neue Auflage. Wien und Jena ²1774, S. 11, S. 13). 169 Ebd., S. 182. Es ist theoriegeschichtlich gesehen bemerkenswert, dass sich die mit diesem Begründungsschritt vollzogene wirkungspsychologische Bestimmung des Emotionsbegriffs bereits in einer anonymen Publikation zu Beginn der sechziger Jahre – unter Verwendung des „Eindrucks“-Begriffs – findet (vgl. Anonymos: Versuch über die Empfindungen, in: Vermischte Beyträge zur Philosophie und den schönen Wissenschaften. Hg. von Samuel Benjamin Klose. Ersten Bandes erstes Stück, Breslau 1762, S. 116–147). Der philosophisch gut geschulte
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Ihr grundlegendes Bestimmungsmoment ist jedoch ausdrücklich nicht affektivischer Natur, sondern formaler Inbegriff einer ausgewogenen, je individuellen und mithin subjektgemäßen Beschäftigung der Vermögen der Seele.170 Wie das Gefühl des Guten und Wahren findet die ästhetische Emotion für Tetens im Gleichgewicht von gefallendem Objektbezug und im genießenden Subjektbezug „ohne ein weiteres Interesse“ ihre Erfüllung. Ästhetisches Gefühl ist mithin – und diesbezüglich greifen Tetens’ Analysen den Befunden der späteren dezidiert psychologischen Ästhetik der Sache nach voraus171 – eine Weise des selbstbezüglichen und vollzugsorientierten Genusses einer gegenständlich zugeordneten Wirklichkeitswahrnehmung, „auf nichts weiter gerichtet […] als auf das, was sie [die Seele, Hervorh. E.S.] fühlet“.172 Nicht allein die hier – wohlgemerkt ohne Rückgriff auf die Vollkommenheitskategorie – geleistete Reflexion auf das Verhältnis von Gegenstands- und Subjektwahrnehmung (Gefühl) im Medium des Genusses173 bleibt theoriegeAutor konstatiert zunächst offensiv, dass „ein wirklicher Unterschied zwischen der Empfindung und der Vorstellung“ besteht („denn die erste hat Bestimmungen, die der letzten nicht zukommen. Die Empfindung ist demnach eine gewisse Veränderung der Seele, die man weder einen Gedanken noch eine Vorstellung nennen kann.“, ebd., S. 122), um in einem zweiten Schritt die Emotionen im offenen Gegensatz zur „Vorstellung“ – als „Eindruck in der Seele“ – zu definieren (vgl. ebd., S. 123–125, hier S. 124). 170 Vgl. PhV, S. 185: „[…] Wir fühlen […] die subjektivischen Verhältnisse und Beziehungen der Gegenstände und der Veränderungen auf unsern jetzigen Zustand, oder eigentlich, wir empfinden die Dinge mit ihren Wirkungen und Eindrücken in uns, die sie in Gemäßheit ihrer Beziehungen auf uns hervorbringen.“ 171 Die in Theodor Lipps’ systematischer Klassifikation der „drei Richtungen des Genusses“ geprägte Formel vom (ästhetischen) Selbstgenuss im Gegenstands- bzw. Fremdgenuss qua „Einfühlung“ hat in Tetens’ primär gefühlspsychologischer Analyse der Emotion zwar keine direkte begriffliche Entsprechung, verweist jedoch auf die Anschlussfähigkeit der Tetensschen Erläuterungen des „inneren Verhältnißgefühls“ für moderne Erklärungsansätze gefühlsgeleiteter ästhetischer Erfahrung. Zwischen den beiden Möglichkeiten der ‚äußeren‘ Gegenstandswahrnehmung und der ‚inneren‘ Selbstwahrnehmung, so Lipps, „steht, beide in eigenartiger Weise verbindend, die dritte: Ich genieße mich selbst in einem von mir unterschiedenen sinnlichen Gegenstand. Dieser Art ist der ästhetische Genuß. Er ist objektivierter Selbstgenuß.“ Theodor Lipps: Einfühlung und ästhetischer Genuß [1906], in: Emil Utitz: Aesthetik. Berlin 1923, S. 152–167, hier S. 152. 172 Tentens: PhV, S. 183. 173 Tetens’ konsequente Ausklammerung des vollkommenheitstheoretischen Gesichtspunkts aus der Analyse des Genussgefühls bedeutet im Kern eine weitere Stufe der Empirisierung metaphysischer Prämissen im Theoriefeld der Wahrnehmungs- und Lustpsychologie der Aufklärung, – die Deduktion der Wesenseigenschaften der Seele wird zugunsten der methodischen Beobachtung phänomenaler Wahrnehmungsmuster und der analytischen Beurteilung der mit ihnen verbundenen psychischen Wirkungen zurückgestellt. Mendelssohn, um ein prominentes Beispiel als Kontrastfolie dieses Ansatzes zu zitieren, hatte demgegenüber noch in der die Briefe Über die Empfindungen (1755) ergänzenden Rhapsodie (1761) die Genusserfahrung der empfindenden Seele („angenehme Empfindung“) essentialistisch „auf den ursprünglichen Trieb zur Vollkommenheit“ zurückgeführt: Im „klare[n], aber undeutliche[n] Anschauen der Vollkommenheit […] genießt die Seele“ leibliche Zustandserfahrungen – ein Erklärungsansatz, den Mendelssohn in der Konsequenz sowohl in ästhetiktheoretischer wie moralphilosophischer Hinsicht ausformuliert (vgl. Moses Mendelssohn: Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über
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schichtlich bemerkenswert, sondern ebenso die Entschiedenheit, mit der Tetens die mit diesen Bestimmungen verbundenen Klärungen der spezifisch ästhetischen Gegenstandskonstitution von jener Wahrnehmungserfahrung absetzt, die im Theoriefeld der ästhetischen Pathologie als integraler Bestandteil des Ästhetischen konzipiert worden waren: Wohlgefallen als gerichtetes Begehren und Gemütserregung. Denn es gehört, so Tetens ausdrücklich und abermals im Vorverweis auf eine Kantische Unterscheidung, zum Eigenständigkeitsmerkmal des ästhetischen Gefühls, im Genuss der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmungserfahrung affiziert zu sein, ohne den wahrgenommenen Gegenstand zu begehren bzw. das Interesse an der Genusssteigerung als „Reizung des Begehrungs- oder Verabscheuungsvermögens“ zu erfahren:174 […] Sobald der Trieb aufsteiget, die Blume, die Ursache der jetzigen Lust, zu besitzen, um das Vergnügen aus ihrem Anschauen nach Willkühr öfters und länger genießen zu können, so fühlen wir rege Bestrebungen, die auf andere Handlungen und Anwendungen unserer Vermögen hinausgehen, als die sind, die in jenem Anschauen beschäftiget waren. Es entstehet ein neues Interesse, welches den schönen und angenehmen Gegenständen, in so fern sie blos Empfindnisse sind, nicht zukommt. Die Seele wird erreget, gereizet, getrieben zu neuen Thätigkeiten.175
Mit dieser deutlichen Abgrenzung von emotionaler Affizierung auf der Ebene des Begehrungsvermögens („Herz“)176 und dem ästhetischen „Gefühl der Lust oder Unlust“177 respektive der ästhetischen „Empfindniß“178 verbindet Tetens schließdie Empfindungen, in: ders.: Ästhetische Schriften, S. 127–165, hier S. 147; zur ausführlichen Analyse der Mendelssohnschen Begründungsentscheidungen in den Briefen und in der Rhapsodie vgl. Altmann: Mendelssohns Frühschriften, bes. S. 110ff.). Zu den systematischen Aspekten der Genusstheorie zwischen Psychologie, Erkenntnistheorie und Ästhetik vgl. neuerdings Cordula Hufnagel: Art. „Genuß / Vergnügen“, in: ÄGB II, S. 709–730, bes. S. 715f., S. 719ff. 174 Vgl. Kant: KdU, § 13, S. 138 („Das reine Geschmacksurteil ist von Reiz und Rührung unabhängig“): „Der Geschmack ist jederzeit noch barbarisch, wo er die [sic!] Beimischung der Reize und Rührungen zum Wohlgefallen bedarf, ja wohl gar diese zum Maßstabe seines Beifalls macht.“ Die Charakterisierung des ästhetischen Genusszustands als selbstzweckhafter Erfahrung unter explizitem Rückgriff auf den Interesse-Begriff scheint sich innerhalb der ästhetischen Kompendienliteratur dieser Jahre immer konsequenter durchzusetzen, wie das Beispiel Karl Heinrich Heydenreichs (1790) belegt: Die ästhetische Erfahrung beruhe auf einer „ursprüngliche[n] Fähigkeit [...], mit freyer Selbstthätigkeit, gewisse Zustände des Begehrungsvermögens und Gefühls hervor zu bringen, welche sie wegen ihrer selbst interessiren, und denen sie mit einer solche Liebe anhängen, daß sie keinen höhern Zweck kennen, als den, sie zu unterhalten, und, wie sie sind, darzustellen“ (Heydenreich: System der Aesthetik, Vorrede, S. XXXIV). 175 Tentens: PhV, S. 183. 176 Allen interessierenden Emotionen muss „eine das Herz bewegende Kraft zugeschrieben“ werden, vgl. PhV, S. 184. 177 Sowohl der Eigenständigkeitsstatus eines Lust- oder Unlustvermögens, den Tetens hier deklariert, als auch die dezidiert ästhetische Verwendung dieser Vermögenskompetenz der menschlichen Seele sind alles andere als gängige Münze in der anthropologisch-ästhetischen Vermögensdiskussion; in der Wolffschen Vermögenspsychologie bezeichnete „Lust“ stets nur eine Modalität der begehrenden Seele, die genetisch an den Erkenntnisbegriff der vis repraesentativa zurückgebunden war (vgl. Wolff: DM, §§ 404ff., S. 247ff.). Kants vorkritische Analytik
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lich noch ein drittes Unterscheidungsmerkmal im ästhetischen Emotionsbegriff, mit dem zugleich die Differenz zum Vorstellungsbegriff noch einmal konturiert wird. Dominiert nämlich im ästhetischen Gefühl die Wahrnehmungserfahrung des selbsteigenen Zustands, so kennzeichnet die gereizte Emotion (Interesse, Begehren) die Affizierung der „selbstthätigen Kraft“.179 Im Übergang vom ästhetischen zum interessierten Gefühl fixiert Tetens somit einen vermögensanthropologisch relevanten Umschlagpunkt im Komplex der emotionalen Wirklichkeitswahrnehmung: von der rezeptiven Seite des ästhetischen Genusses – als Zustand in sich ausgeglichener „befriedigter“ Vermögen – zum Zustand der „Reizbarkeit“, mit dem sich der Übergang von der Emotion (als „Empfindniß“) zur Sphäre des Begehrens und der im Kern affektaffinen Gemütsbewegung vollzieht.180 2.2.6 „Grundvermögen der Seele“. Aspekte der anthropologisch-ästhetischen Progression des Gefühls (Tetens und die Folgen) Tetens’ anthropologisch-psychologischer Neuzugriff auf den Phänomenbereich der ästhetischen Emotionen, so lässt sich zusammenfassen, stellt einen theoriegeschichtlich innovativen Versuch dar, die Eigenständigkeit der emotionsbasierten (ästhetischen) Wahrnehmungserfahrung sowohl gegenüber dem kognitiven Vorstellen als auch gegenüber dem Begehrungsvermögen systematisch zu profilieren und – terminologisch verbindlich als „innere Emotion“ oder „Empfindniß“ oder „Gefühl“ im Unterschied zu Empfindung181 – als ästhetisch affine Selbstbezüglichkeit auszuweisen. Der Sache nach eine Theorie der Emotionen, die diese als eine eigenständige Klasse sinnengeleiteter Wahrnehmung behandelt, positioniert sich
des ästhetischen Gefühls in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) zählt hingegen zu den wenigen vor Tetens’ Philosophischen Versuchen erschienenen Abhandlungen, in denen „das jedem Menschen eigene Gefühl, […] mit Lust oder Unlust gerührt zu werden“, bereits in ästhetiktheoretischem Zusammenhang und unter den Aspekten seiner vermögenstheoretischen Selbständigkeit bzw. Sonderstellung problematisiert wird (vgl. Immanuel Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, in: ders.: Vorkritische Schriften bis 1768. Hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. II, S. 825– 884, hier S. 825). 178 Vgl. Tentens: PhV, S. 185, S. 196, pass. 179 Ebd., S. 185. Mit dem erst im „zehnten Versuch“ näher erläuterten Terminus der „Thätigkeitskraft“ (vgl. PhV, S. 612f.) konzipiert Tetens eine allgemeine vermögenübergreifende Fähigkeit des menschlichen Gemüts, selbsttätig Zustandsänderungen zu bewirken, wie etwa den Übergang von schwächeren Emotionen „zum Unwillen und Zorn“ (vgl. PhV, S. 184, S. 185). Vermutlich hat Johann August Eberhard diese Kategorie der Tätigkeitskraft – als begrifflicher Alternative zur Leitkategorie des schulphilosophischen Rationalismus Wolff-Baumgartenscher Prägung, der vis repraesentativa (Vorstellungskraft) – zur Grundlage für seine späte Theorie des allgemeinen Thätigkeitsgefühls der Seele gedient (vgl. Eberhard: VPÄ, S. 9f., pass.; vgl. a. Abschnitt VII, 2). 180 Ebd., S. 182, S. 185. 181 Vgl. neben den zitierten Passagen PhV, S. 210: Die inneren Emotionen („Empfindnisse“) sind „das was sie sind, nur in so ferne als sie Gefühle sind, nicht in so ferne sie Empfindungen sind.“
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der gefühlstheoretische Ansatz in den Philosophischen Versuchen alternativ zwischen den verbreiteten zeitgenössischen Versuchen, den Gegenstandsbereich der Emotionen einerseits unter Revitalisierung der vorstellungstheoretischen Prämissen für die anthropologisch erweiterte Erfahrungspsychologie zu konzeptualisieren (neben Eberhard oder Campe eben auch Autoren wie L. Cochius und D. Tiedemann)182 bzw. andererseits die Spezifika der Gefühlswahrnehmung im Rekurs auf den Phänomenbereich der appetitiven respektive affektbestimmten Seelenvermögen herauszuarbeiten.183 Dass Tetens’ emotionstheoretische Differenzierungen im Verlauf der Argumentation schließlich in das theoretische Unterfangen münden, das duale Vermögensschema der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie (vorstellungsgeleitetes Erkennen und Begehren) durch die Etablierung einer autonomen (‚dritten‘) Vermögenssphäre der Emotionen zu erweitern,184 erscheint angesichts der rekonstruierten Bemühungen des Autors, die Eigengesetzlichkeit und Eigenartigkeit des emotionalen Psychischen gegenüber den materialistischen Reduktionis182
Sowohl Leonhard Cochius’ (1718–1779) preisgekrönte Akademieabhandlung über die Neigungen im Begriffsfeld der „Empfindungen“ und des „Vergnügens“ etwa (vgl. ders.: Untersuchung über die Neigungen, welche den von der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin für das Jahr 1767 gesetzten Preis erhalten hat. Berlin 1769) als auch Dietrich Tiedemanns (1748–1803) für die philosophisch orientierte Erfahrungspsychologie der deutschen Spätaufklärung einflussreiche Anthropologie (vgl. ders.: Untersuchungen über den Menschen. 3 Bände. Leipzig 1777–1778) stellen Versuche dar, auf die Herausforderungen der neuen Erfahrungs- und Beobachtungsanalytik im Gebiet der empirischen Psychologie (inbegriffen die physiologisch-materialistischen Deutungsangebote durch die französische Assoziationspsychologie) durch eine modifizierende Beibehaltung der metaphysischen Prämissen rationalistischer Seelenkunde zu reagieren. Das in diesen Schriften zu beobachtende zähe Festhalten an den Grundbegriffen der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie (namentlich am Vorstellungsund Vollkommenheitstheorem der Seele), letztlich an der ontologisch zurückgebundenen Autonomie des Psychischen (siehe Eberhard!), stellt ein markantes Indiz für die Schwierigkeiten der rationalistisch imprägnierten Philosophie der deutschen Aufklärung dar, die Frage nach den Funktionsprinzipien des Seelengeschehens von der nach ihrem ideellen ‚Wesen‘ konsequent zu sondern. Mit der mittlerweile gängigen Formel von der „Empirisierung der Psychologie“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (vgl. Galle: Entstehung der Psychologie, bes. S. 326–335, hier S. 331; Riedel: Erster Psychologismus, S. 17) ist konkret besehen tatsächlich nur ein Bruchteil des komplexen Umbruchgeschehens in den anthropologischen Wissenschaftszweigen der späten Aufklärung abgebildet. 183 Anschauliche Beispiele hierfür lassen sich bis in die sogenannte zweite und dritte Reihe der anthropologischen Seelenkundler und Ästhetiker der späten Aufklärung verfolgen. So artikuliert der bereits erwähnte anonyme Autor des Versuchs über die Empfindungen (1762) sein Ungenügen an der vorstellungstheoretischen Deduktion des Empfindungsgeschehens wie gezeigt zunächst durch die entschiedene Abgrenzung der emotionalen Wahrnehmungserfahrung vom kognitiven Vorstellungsprozess (vgl. ebd., S. 122). Die Definition des Eindruckscharakters der Emotionen läuft jedoch nicht auf die vermögenstheoretische Sicherstellung einer eigengesetzlichen Sphäre des Gefühls, sondern auf die Zuordnung der Empfindungen zu den „Begierden“, zum Affekt hinaus; der Vermögensdualismus des Psychischen – „Erkenntnißvermögen“ (Vorstellungen); „Begehrungsvermögen“ (Empfindungen) – bleibt folgerichtig unverändert erhalten (vgl. ebd., S. 122f.). 184 Vgl. hierzu im Besonderen „Neunter Versuch. Über das Grundprincip des Empfindens, des Vorstellens und des Denkens“ (PhV, S. 578–605) sowie „Zehnter Versuch. Über die Beziehung der Vorstellungskraft auf die übrigen thätigen Seelenvermögen“ (ebd., S. 606–715).
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men geltend zu machen,185 nur folgerichtig und unterstreicht einmal mehr die synergetischen Kopplungseffekte anthropologisch-psychologischer und ästhetischer Reflexion in der Ära der vorkritischen philosophischen Psychologie.186 Denn Gefühl, so Tetens’ conclusio unter anthropologisch-vermögenstheoretischem Gesichtspunkt, ist „Grundfähigkeit“ bzw. „Grundvermögen der Seele“, das, von der „vorstellenden Kraft“ (Verstand) ebenso wie von der „Thätigkeitskraft“ (Wille) unterschieden, die rezeptiven Komponenten der psychischen Vermögensdispositionen vertritt.187 Leibniz’ seelischer Grundkraft als force active188 ist damit kein schlechthin passives Vermögen an die Seite gestellt, sondern ein neues Muster der Wirklichkeitswahrnehmung der Seele im Modus ihrer sensuell (aisthetisch) zurückgebundenen „Empfänglichkeit“,189 der Rezeptivität. – Eine Begründungsleis-
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Expressis verbis gegen die Assoziationspsychologen Helvétius, Search und Hartley hält Tetens fest, dass die inneren Emotionen nicht „abgeleitete“ Phänomene des Psychischen darstellen, sondern, je nach dem individuellen Entwicklungsstand der „Empfindsamkeit“, „für sich ursprüngliche Empfindnisse, eigene Quellen von Lust und Unlust“ verkörpern (vgl. PhV, S. 233, S. 236). 186 Abzüglich ihrer emphatischen Verengung auf ein diffuses ästhetisches Ideal ist Sommers Pointierung der Tetensschen Gefühlslehre in ästhetischer Hinsicht: „Das Einsetzen der psychologischen Dreiteilung Verstand, Gefühl, Wille für die alte Zweiteilung bedeutet eine philosophische Anerkennung der aesthetischen Weltauffassung.“ (Sommer: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie, S. 439) unabgegolten. Tetens’ hier nicht gesondert zu verfolgende Begründungsleistungen hinsichtlich des so genannten „dritten“ Seelenvermögens, nach allgemeiner Einschätzung der „bedeutendste Anstoß“ für eine Neuorientierung auf dem Gebiet der anthropologisch-ästhetischen Erfahrungspsychologie zwischen Merian, Sulzer, Mendelssohn und Kant (vgl. Allesch: Geschichte der psychologischen Ästhetik, S. 188; vgl. auch Baeumler: Irrationalitätsproblem, S. 134ff., bes. S. 137), sind seit Wundt insbesondere von der Psychologiehistorie wiederholt ausführlich rekonstruiert worden und bedürften hier nicht erneuter Rekapitulation (vgl. etwa Wilhelm Wundt: Grundzüge der physiologischen Psychologie. Bd. 1, Leipzig 1874, S. 355; Anton Palme: J. G. Sulzers Psychologie und die Anfänge der Dreivermögenslehre. Berlin 1905, S. 53ff.; zur systematischen Sondierung der neuen Vermögenslehre in psychologisch-ästhetiktheoretischer Hinsicht vgl. nach wie vor: Dessoir: Geschichte der neueren deutschen Psychologie, S. 377ff., S. 558ff.). Zur Theorie des Gefühls von genuin lustpsychologischer und ästhetiktheoretischer Warte aus und mit Blick auf Sulzer vgl. hingegen nachfolgend besonders Abschnitt VI. 187 Ebd., S. 609, 613. Gegen die, von älterer wie neuerer Ästhetik- und Anthropologieforschung wiederholt vertretene These, Tetens’ philosophiehistorische Bedeutung liege in der Begründung der „Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Gefühls gegenüber den intellektuellen Vermögen“ (vgl. M. Heinz: Sensualistischer Idealismus, S. 114 [Anmerkung]) bleibt hervorzuheben, dass Tetens seine Phänomenologie der Emotionen als integralen Bestandteil einer anthropologischen Gemütstheorie und philosophischen Erkenntnistheorie entwickelt hat. Unverzichtbares Datum des Psychischen sind die Emotionen demzufolge nicht nur für die komplexen Prozesse der auf das Gemüt bezogenen ästhetischen Wahrnehmungserfahrung – etwa im vermögenstheoretischen Verbund mit der Einbildungskraft (vgl. Sauder: Empfindsamkeit, S. 164ff.). Sie bilden, gut empiristisch verstanden, zugleich die Voraussetzung des kognitiv gerichteten „Gewahrnehmens“ bzw. „Gedankens“ (vgl. Hauser: Selbstbewußtsein und personale Identität, S. 141ff.). 188 Leibniz: Prinzipien der Philosophie, § 11, S. 442 (Anm.). Zur Identifikation von „Empfänglichkeit“ und „Gefühl“ vgl. PhV, S. 609. 189 Ebd., S. 609.
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tung, die in der Tat mehr darstellt als nur die „Vorarbeit für das Gefühlsvermögen“.190 Die ästhetiktheoretisch innovativen Züge der Tetensschen Emotionstheorie treten weniger deutlich hervor und sind entsprechend schwieriger zu bewerten. Die im psychologischen Ästhetikdiskurs seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vieldiskutierte Frage, ob die ästhetische Erfahrung nun objektivischer oder subjektivischer Natur sei, kann Tetens im Rahmen seiner beobachtungsanalytischen Bestimmungen der emotionalen Wirkungskomplexionen jedenfalls nicht einer grundsätzlichen Klärung zuführen. Unter Verweis auf den Sachverhalt, dass ästhetische Empfindnis „inneres Verhältnißgefühl“191 ist und die emotionale Gegenstandswahrnehmung generell einem doppelten Konstitutionscharakter unterliegt, wird die Entscheidbarkeit über die objektivische oder subjektivische Natur der ästhetischen Gegenstandskonstitution von Tetens problematisiert.192 – Allen Versuchen der theoretischen Ästhetik, einen Begriff des absoluten Schönen193 zu begründen, muss nach der Überzeugung des Autors von anthropologischer Warte aus ohnehin eine Absage erteilt werden.194 Ästhetische Erfahrung, wie Tetens sie vom Begriff des emotional basierten Psychischen und seiner „absoluten Wirkungen“195 aus exemplarisch für die spätaufklärerische Theorie der Aisthesis bestimmt, ist letztlich eindeutig nicht Wahrnehmung des Sinnlichen als Erkenntnisform noch Modalität eines bloß sensuellen Auffassens gegenständlich gegebener Merkmale, sondern sinnengeleitete, transsensuelle Wahrnehmung eines anschaulich Gegebenen im Modus ihrer Wirkungen auf das Gemüt: In den ästhetischen Emotionen ist es das Absolute in ihnen, dessen Gefühl Gefallen und Mißfallen hervorbringet. Nicht die Harmonie der Töne also, sondern die Wirkung der harmonischen Töne, die sie eben dieser Harmonie wegen auf die Seele hervorbringen, ist es, dessen Gefühl, als ein Gefühl des thätigen Daseyns, angenehm ist, und das wir ein Gefühl der Harmonie nennen, in uns ausmachet.196 (Hervorh. E.S.)
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Vgl. Baeumler: Irrationalitätsproblem, S. 137. Tentens: PhV, S. 180. Vgl. PhV, S. 201: Das „Objektivische [ist], so zu sagen, nur die eine Hälfte von der ganzen Ursache der erfolgenden Gemüthsrührung [in der Erfahrung des Schönen, E.S.], die andere Hälfte aber subjektivisch, in den natürlichen Anlagen, in den Fähigkeiten und in den dermaligen Beschaffenheiten des empfindlichen Wesens enthalten […].“ 193 Ebd., S. 201: „absolute objektivische Schönheiten“. 194 Die Annahme überindividuell gültiger („absoluter“) Muster des Ästhetischen beweist für Tetens – hier argumentiert er auf der Höhe der zeitgenössischen anthropologischen Ästhetiker – „nichts mehr, als daß die Einrichtung der Seele, die Anlage, die bestimmte Beschaffenheit der Empfindungs- und Vorstellungsvermögen, worauf solche Gegenstände auf eine angemessene Art wirken können, zu den gemeinschaftlichen Zügen der Menschheit gehören“ (vgl. ebd., S. 201). 195 Ebd., S. 203. 196 Ebd., S. 204.
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Vor dem Hintergrund dieser Begründungsleistungen ist es umso erstaunlicher, dass die Anschlussfähigkeit von Tetens’ anthropologisch-ästhetischen Distinktionen im Gefühlsbegriff nicht schon bei den tonangebenden Vertretern der anthropologischen Ästhetik der achtziger Jahre, etwa bei den Kompendienautoren zur Ästhetik, sichtbar wurden,197 sondern erst, als in der Hochphase der transdisziplinären Wechselwirkungen zwischen den Wissenschaftszweigen Anthropologie, Erfahrungspsychologie und Ästhetik sowie unter dem Einfluss der Kantischen Systematisierung der Seelenvermögen die anthropologische und ästhetische Anerkennung des Gefühlsvermögens gleichsam unausweichlich wurde.198 Es ist dem nächsten Rekon197
Bei aller methodologischen Konvergenz und dem gemeinsamen autorenübergreifenden Festhalten am Anspruch einer ganzheitlichen Erfassung der menschlichen Vermögensnatur gingen anthropologisch-psychologische und ästhetische Theoriebildung noch bis zum Ende der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts diesbezüglich augenscheinlich durchaus getrennte Wege, lassen sich die theoretischen Effekte des interdisziplinären Wissenstransfers häufig nur über langwierige und vermittelte Rezeptionsprozesse rekonstruieren. So hat die Kompendienliteratur zur theoretischen Ästhetik Tetens’ anthropologisch-ästhetische Gefühlstheorie zwar rezipiert und in der überwiegenden Mehrheit den ähnlich gelagerten Bemühungen von Seiten der ästhetischen Anthropologie (Sulzer, Mendelssohn) gleichberechtigt zur Seite gestellt. Vgl. beispielhaft Christian Friedrich Daniel Schubart: Kurzgefaßtes Lehrbuch der schönen Wissenschaften. Zwote ganz umgearbeitete und vermehrte Auflage. Münster, Osnabrück, Hamm 1781, S. 17 (zu Tetens’ Nachahmungstheorie mit Blick auf die „Empfindnisse“); Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur, S. 14 sowie Steinbart: Grundbegriffe zur Philosophie über den Geschmack, S. 69 (jeweils zum „zweiten Versuch“ der Tetensschen Empfindungstheorie). Vor Beginn der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts entwickelten sich hieraus jedoch keine konsistenten Ansätze zu einer Autonomisierung der einschlägigen ästhetischen Gemütskompetenzen (Geschmack, innerer Sinn etc.) unter der Zuständigkeit des Gefühlsvermögens. 198 Die erste systematische Ausformulierung der Tetensschen Gefühlsphänomenologie im triadischen Schema der Gemütskompetenzen der menschlichen Seele findet sich im wohl elaboriertesten Standardwerk der Erfahrungsseelenkunde des späten 18. Jahrhunderts, der Empirischen Psychologie des Jenaer Philosophieprofessors Carl Christian Erhard Schmid (vgl. ders.: Empirische Psychologie. Erster Theil. Einleitung zur Psychologie überhaupt und Generelle empirische Psychologie [Jena 1791]. Zweyte verbesserte Auflage, Jena 1796, S. 147ff.: „Ueber das Gefühlvermögen oder die Empfänglichkeit für Lust und Unlust“). Schmid, der Schüler Karl Leonhard Reinholds und Verfasser des ersten Kantlexikons, hat freilich nicht nur Tetens’ emotionstheoretische Distinktionen vermögenspsychologisch systematisiert, sondern konnte sich auch auf Kants Neuordnung der Gemütsvermögen (Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust, Begehrungsvermögen) in der Kritik der Urteilskraft stützen (vgl. Kant: KdU, Einleitung, Abschnitt 9, S. 106–110, B LIII–LVIII; zur systematischen Analyse des Kantischen Vermögensbegriffs im Begründungskontext der Konzepte Wolffs sowie C. A. Crusius’ vgl. jetzt Stefan Heßbrüggen-Walter: Die Seele und ihre Vermögen. Kants Metaphysik des Mentalen in der „Kritik der reinen Vernunft“. Paderborn 2004, bes. S. 55ff., S. 126ff.). Zwar bleibt auch für die Phase um 1790 die Vermögenspsychologie alles andere als einheitlich dem Dreivermögensschema verpflichtet, wie das Beispiel des Halleschen Philosophen und Psychologen Johann Gebhard Ehrenreich Maass zeigt, der noch 1792 neben dem Erkenntnisvermögen als „andre Hauptkraft der Seele“ nur das Begehrungsvermögen anerkennen will, um den alten Vermögensdualismus auch in aestheticis zu restaurieren (vgl. Johann Gebhard Ehrenreich Maass: Versuch über die Einbildungskraft. Halle 1792). Mit leichter Verspätung (1793) entwickeln dann in parallelen Ansätzen die dezidiert emotionstheoretischen bzw. psychologischen Ästhetiker Heinrich Zschokke (1771–1848) sowie Johann Heinrich Abicht (1762–1816) eine Theorie der ästhetischen Emotionen auf der anthropologischen Basis des Empfindungs- respektive Gefühlsvermögens und zeigen nachgerade den Durchbruch zu einer emotionalistischen Ästhetik
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struktionsschritt dieser Untersuchung vorbehalten, durch erneute Zuwendung zu einem spezifisch ästhetiktheoretischen Differenzierungsansatz nachzuvollziehen, welchen Niederschlag die phänomenologisch fundierte Kritik am Vorstellungstheorem der Wolffschen Vermögenspsychologie für das anthropologische Neuverständnis des Phänomenbereichs der Emotionen findet: unter wahrnehmungstheoretischem Gesichtspunkt als Frage nach der Natur der ästhetischen Sinneswahrnehmung, der Aisthesis; lusttheoretisch als Frage nach dem Stellenwert der Emotionen für eine anthropologisch begründete Theorie der ästhetischen Erfahrung.
an. Ästhetik, so Zschokke, ist „eigentlich Empfindungslehre“, und die psychologische Ästhetik eine Theorie des „Empfindungsvermögens“ (vgl. Zschokke, Ideen zur psychologischen Ästhetik, § 10, S. 25, § 78, S. 235; Johann Heinrich Abicht: Kritische Briefe über die Möglichkeit einer wahren wissenschaftlichen Moral, Theologie, Rechtslehre, empirischen Psychologie und Geschmackslehre mit prüfender Hinsicht auf die Kantische Begründung dieser Lehre. Nürnberg 1793. 15. Brief, S. 584–637).
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VI Erkenntnistheorie der Lust, Psychologie des ästhetischen Zustands, Ästhetik des Geschmacks. Anthropologie und Ästhetik der Emotionen bei Johann Georg Sulzer
1.
Emotionalistisches Paradigma – nach Baumgarten und vor Kant. Entwicklungstendenzen der spätaufklärerischen Ästhetiktheorie
Es gehört zu den von der bisherigen Ästhetikhistoriographie weitgehend unthematisierten Sachverhalten, dass die von Baumgarten und Meier im Modell einer Wissenschaft des sinnlichen Erkennens (scientia cognitionis sensitivae) entwickelten Ansätze zu einer anthropologisch begründeten Theorie des Ästhetischen von den nachfolgenden Theoretikern zwar im Grundsätzlichen übernommen, die Reflexion auf das Potential der affektiv-emotionalen Sinnlichkeit jedoch in einen deutlich anders gelagerten Bestimmungskontext überführt wird.1 Ästhetik als Wissenschaft der Empfindungen und Theorie des Geschmacks, geknüpft an substantielle Umformungen des anthropologischen Stellenwerts der sinnlich-ästhetischen Wahrnehmung (Aisthesis), so lautet die Kurzformel, auf die sich die nachbaumgartensche anthropologisch orientierte und popularphilosophisch geprägte Theoriesituation der Ästhetik in ihren allgemeinen Grundzügen bringen lässt.2 1
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Alfred Baeumlers Standarduntersuchung zur Aufklärungsästhetik kann, auch als breit angelegter Zugriff auf ästhetische Emotionstheorie, Geschmacksbegriff und Urteilskraftproblematik, dem transdisziplinären Begründungskontext ästhetischer Theorie und den theoriegeschichtlichen Verschiebungen zur anthropologisch begründeten (psychologischen) Ästhetik der späten Aufklärung nur in Ansätzen Rechnung tragen. Die Ausrichtung seiner theoriegeschichtlichen Rekonstruktionsperspektive an Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft verengt den Blick auf die Genese ästhetischer Theorie als Geschichte der „Logisierung des Geschmacksproblems“ (vgl. Baeumler: Irrationalitätsproblem, S. 94). Von einer systematischen Berücksichtigung des komplexen Theoriefelds der wissenschaftlichen Ästhetik der späten Aufklärung – zwischen Disziplinbegründung (1750) und transzendentalphilosophischer Neuausrichtung (1781/1790) – kann allerdings auch mit Blick auf die neueren Rekonstruktionen aufklärerischer Ästhetiktheorie innerhalb der philosophischen Ästhetikgeschichtsschreibung kaum gesprochen werden. Dieses, sich immerhin über einen gut vierzigjährigen (!) Zeitraum erstreckende Theorieintervall verkürzt sich nach wie vor auf die Zitierlinie Baumgarten – Kant – Schiller, mit der entsprechenden Fixierung auf die kognitiven Relevanzen der Aisthesis (Ästhetik als ‚Erkenntnislehre‘) bzw. des ästhetischen Geschmacksurteils (Ästhetik als ‚Kritik der ästhetischen Urteilskraft‘); vom psychologischen Begründungszusammenhang fehlt gleichsam jede Spur (vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Einführung in die Ästhetik. München 1995; Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik). Neuere Oberbegriffe wie „Institutionalisierung der Ästhetik“ für die Theoriespanne zwischen Baumgarten und Zschokke bilden zwar ein wichtiges Moment der Selbstorientierung ästhetischer Reflexion in der Aufklärungsästhetik ab. Sie sind gleichwohl wenig geeignet, auf die Problemverschiebungen im ‚Inneren‘ der ästhetischen Theoriebildung aufmerksam zu machen und die nicht auf Systematisierung der Disziplin Ästhetik gerichteten Innovationen ästhetischen Grundverständnisses (etwa von seiten der Psychologie!) in ihrer theoriegeschichtlichen
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Sulzers enzyklopädisches Inventar des zeitgenössischen ästhetischen Wissens, die 1772 veröffentlichte Allgemeine Theorie der Schönen Künste, macht die wesentlichsten Akzentverschiebungen der spätaufklärerischen Ästhetik in nuce offenkundig.3 Im Spiegel der etymologischen Auslegung des Ästhetischen wird eine wahrnehmungs- und empfindungstheoretische Progression der Aisthesis bemerkbar, die das Ästhetische primär nicht als Erkenntnisform, sondern als Gegenstandsbereich der ästhetischen Erfahrung des Subjekts identifiziert. „Aesthetik“ bezeichnet nunmehr die Philosophie der schönen Künste, oder die Wissenschaft, welche sowol die allgemeine Theorie, als die Regeln der schönen Künste aus der Natur des Geschmaks herleitet. Das Wort bedeutet eigentlich die Wissenschaft der Empfindungen, welche in der griechischen Sprache $LVTKVL9 genennet werden. Die Hauptabsicht der schönen Künste geht auf die Erwekung eines lebhaften Gefühls des Wahren und des Guten, also muß die Theorie derselben auf die Theorie der undeutlichen Erkenntniß und der Empfindungen gegründet seyn.4
Die zielgerichtete Verschränkung von empirisch-anthropologischen, erkenntnispsychologischen und affekttheoretischen Gesichtspunkten, die mit gleichsam selbstverständlichem Gestus vorgenommene doppelte Ableitung ästhetischer Phänomene aus den Einzelvermögen Geschmack und Gefühl („Empfindung“) und schließlich die dezidierte Supplementierung des ästhetischen Erkenntnisbegriffs durch das Vermögensdatum der Emotionen sind Indizien für einen theoriegeschichtlichen Umbruch der philosophischen Ästhetik in der deutschen Spätaufklärung: Ästheti-
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Bedeutung präsent zu halten (vgl. Barck, Heininger, Kliche: „Ästhetik / ästhetisch“, in: ÄGB I Bd. 1, S. 308–400, hier S. 321–336). Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einanderfolgenden Artikeln abgehandelt. [11771–74] 4 Bände [=2., unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1792] (Sigle: ATSK), Bd. 1 mit einer Einleitung von Giorgio Tonelli, Hildesheim u.a. 1994. Die transdisziplinäre Komplexität von Sulzers ästhetischer Enzyklopädie ist im zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurs nicht nur innerhalb der Ästhetikdiskussion, namentlich durch die ab den 80er Jahren sprunghaft anwachsende Lehrbuchliteratur der Poetik, Rhetorik und Ästhetik belegt, die nicht selten ‚ganz nach Sulzer‘ konzipiert wurde (vgl. etwa Steinbart: Grundbegriffe zur Philosophie; Albrecht Kirchmayer: Johann Georg Sulzers Theorie der Dichtkunst. Zum Gebrauch der Studirenden bearbeitet. Erster Theil, München 1788). Auch für die junge Wissenschaftsgattung der Anthropologie bildet das Sulzersche Kompendium bis weit in das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts hinein die maßgebliche Bezugsquelle (vgl. Georg Simon Klügel: Die Aesthetik, in: ders.: Encyclopädie, oder zusammenhängender Vortrag der gemeinnützigsten Kenntnisse. Teil 1. Berlin, Stettin 1782, S. 469–498, hier S. 469ff.). Sulzer: ATSK, Bd. 1, Art. Aesthetik, S. 47–59, hier S. 49. Platner wird, für das Verständnis des Modellbegriffs anthropologischer Ästhetik außerordentlich symptomatisch, den hier von Sulzer akzentuierten Komplexitätsgewinn im Wahrnehmungsbegriff aufgreifen und etymologisch auf den pathos-Begriff zurückführen: „Was wir in der Sprache der modernen Philosophie Empfindung nennen, das heißt bey den Alten nicht aLVTKVL9, sondern aLVTKTΓ9, wie denn auch selbst Cartes und andere vor Leibnitzen das Wort Passio noch in dieser weitern Bedeutung nehmen. $LVTKVL9 heißt auch eigentlich nicht einmal die sinnliche Vorstellung, sondern nur die körperliche Rührung der Organen.“ Ernst Platner: Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philsophischen Geschichte. Anderer Theil. Leipzig 1782, § 92, S. 30 (Anm.).
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sche Theorie avanciert zur Theorie des emotionsgeleiteten Wahrnehmens und Erlebens und löst damit die Prädominanz der scientia cognitionis sensitivae ab.5 Die genannten Zentralvektoren ästhetischer Theorie charakterisieren nicht allein Sulzers konzeptionelle Schwerpunkte in Sachen Ästhetik. Symptomatisch bildet die zitierte Passage den transdisziplinär ausgreifenden anthropologischen Perspektivenwechsel wissenschaftlicher Theoriebildung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ab die Orientierung am Leitbild des ‚ganzen‘ (leibseelisch bedingten) Menschen als Subjekt der empirischen Lebenswelt.6 Noch die bis in den Wortlaut dem Baumgartenschen Ästhetikmodell verpflichteten Autoren der wissenschaftlichen Ästhetik dokumentieren dieses deutlich gewandelte Verständnis.7 „Das Prinzip der sinnlich vollkommnen Erkenntniß“, so notiert beispielsweise Karl Heinrich Heydenreich 1791 in seinem kritischen Resümee der vorkantischen Ästhetiktheorie, „reichte bey der fruchtbarsten Deutung nicht zu, die schwebenden Probleme über Geschmack und Schönheit zu fixieren“.8 Nachgerade im Begriff des Ästhetischen, so scheint es also, machen sich die einsetzenden Interessenverschiebungen der anthropologischen Spätaufklärung – in der Konjunkturphase erfahrungsseelen- und menschenkundlich ausgerichteter empirischer Forschungsprogramme im Zeitalter von Empfindsamkeit, Popularphilosophie und Genietheorie – geltend.9 Der angesprochene Perspektivenwechsel in
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Sulzers emotionalistische Ausrichtung der Etymologie von „Ästhetik“ greift nicht nur die dezidiert psychologische Ästhetik der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts auf, wenn sie „Aesthetik, dem Wortsinne nach“, als „Empfindungslehre“ definiert (vgl. Zschokke: Ideen zur psychologischen Ästhetik, § 10, S. 25). Auch in der frühen Geschichtsschreibung der Ästhetik bürgert sich das Begriffsverständnis von „aisthesis“ durch „aisthanomai (ich empfinde)“ [sic!] ein (vgl. Joseph Koller: Entwurf zur Geschichte und Literatur der Ästhetik, von Baumgarten bis auf die neueste Zeit. Regensburg 1799, S. 25, Anm.). Dieser Zusatz zum gängigen Bedeutungsverständnis von „Anthropologie“ in der deutschen Spätaufklärung erscheint mir wichtig, insofern er das Moment raumzeitlicher Bedingtheit menschlicher Natur durch geographische und nationale Situierung – Klima, Milieu etc. – sowie das für die Popularphilosophie signifikante Interesse am Handlungsbegriff und den lebenspraktischen Bezügen mit in den Blick nimmt. Für den Überblick über das Entwicklungsspektrum der ‚anthropologischen Spätaufklärung‘ vgl. Riedel: Anthropologie und Literatur, S. 93– 157. Im Kontext einer auf Baumgarten bezogenen Erörterung heißt es bei Gottfried Schlegel: „Die sinnlichste Vollkommenheit wird also diejenige seyn, welche durch die gebührende Anwendung der untern Kräfte der Seele, der Sinne, des Witzes, der Scharfsinnigkeit, der Einbildungskraft, des Dichtungsvermögens und der Gemüthsbewegungen erreicht werden kann“ (Gottlieb Schlegel: Abhandlung von den ersten Grundsätzen in der Weltweisheit und den schönen Wissenschaften, mit einer Vorrede über das Studium der Weltweisheit. Riga 1770, S. 111). Karl Heinrich Heydenreich: Ueber den Werth der Beobachtung für die Theorie des Schönen. Eine Vorlesung, in einer Privatgesellschaft der Philosophie und schönen Künste gehalten 1791, in: Deutsche Monatsschrift (April 1798), S. 307–321, hier S. 308. Zu den ideen- und disziplingeschichtlichen Konturen der ‚erfahrungspsychologischen Ära‘ der deutschen Spätaufklärung vgl. Wolfgang Riedel: Influxus physicus und Seelenstärke. Empirische Psychologie und moralische Erzählung in der deutschen Spätaufklärung und bei Jacob Friedrich Abel, in: Jürgen Barkhoff, Eda Sagarra (Hg.): Anthropologie und Literatur um 1800. München 1992, S. 24–52.
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der ‚nach-Baumgartenschen‘ respektive ‚vor-Kantischen‘ Aufklärungsästhetik ist epochal und bildet sich, wie es zu unterstreichen gilt, nicht nur bei den Kronzeugen der popularphilosophischen Ästhetik wie Sulzer, Mendelssohn oder Engel und Garve ab, sondern ebenso innerhalb der ab den 1770er Jahren expandierenden Lehrbuch- und Kompendienliteratur der jungen Wissenschaftsgattung.10 Spätestens hier wird im Breitenspektrum manifest, was die zeitgenössische Ästhetikhistoriographie am Jahrhundertende prägnant als „Anfangspunkt der subjectiven Aesthetik“ diagnostizieren wird.11 Die Radikalisierung der Empirisierungstendenzen im 10
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Man kann ohne Übertreibung konstatieren, dass die Lehrbuch- und Kompendienliteratur der Aufklärungsästhetik innerhalb der Ästhetikhistoriographie bis heute keine wirkliche Beachtung gefunden hat. Erhebt man die Kriterien der konzeptuellen Selbständigkeit, der systematischen Anschlussfähigkeit und der historischen Wirkungsmächtigkeit nicht zum ausschließlichen Maßstab ihrer Bewertung, erscheinen die Dokumente dieser Textgattung als überaus aufschlussreiche Indikatoren zeitgenössischer Entwicklungsverläufe. Schon die Präsenz der selbständigen Textgattung innerhalb des Ästhetikdiskurses spricht für sich, wie etwa Blankenburgs umfangreiche bibliographische Ergänzungen der Quellentexte zur Aufklärungsästhetik (für den Zeitraum zwischen Baumgarten und den 1790er Jahren) veranschaulichen (vgl. Friedrich von Blankenburg: Art. „Aesthetik“, in: ders.: Litterarische Zusätze zu Johann George Sulzers allgemeiner Theorie der schönen Künste. Teil 1, Leipzig 1796, S. 27–40). Darüber hinaus verdient der hohe Publikationsausstoß Aufmerksamkeit. Allein Joseph Kollers umfangreiches Quellenkompendium zur Ästhetik des 18. Jahrhunderts, weniger „erste Ästhetikgeschichte“ (C. Zelle) denn eine unvollständige und weithin beliebig auswählende Zusammenstellung der selbständigen Publikationen zur theoretischen Ästhetik der Aufklärung (mit Titeln wie: „Kurzer Inbegriff der Aesthetik, Redekunst, und Dichtkunst“, „Geschichte und Grundsätze der schönen Künste und Wissenschaften“, „Lehrbuch zur Bildung des Verstands, und des Geschmacks“ etc.), zählt zwischen 1771 (Johann Gotthelf Lindner) und 1790 (Kant) 25 monographische Veröffentlichungen. Von mindestens der doppelten Anzahl allerdings muss, die Neuauflagen mitgezählt, ausgegangen werden (vgl. Koller: Entwurf zur Geschichte und Literatur, S. 33–64). Mit Grimminger ist bezüglich der Quantität der hierher gehörigen Quellentexte erstens darauf zu verweisen, dass „ihre Häufigkeit bereits ihre Wichtigkeit als historische Dokumente für den Stellenwert von Kunst und ästhetischer Erfahrung im Zivilisationsprozeß der Aufklärung“ enthüllt (vgl. Rolf Grimminger: Die Utopie der vernünftigen Lust. Sozialphilosophische Skizze zur Ästhetik des 18. Jahrhunderts bis Kant, in: Christa Bürger, Peter Bürger, Jochen SchulteSasse (Hg.): Aufklärung und literarische Öffentlichkeit. Frankfurt/M. 1980, S. 116–132, hier S. 117). Schließlich bleibt festzuhalten, dass Kompendienliteratur nicht mit bloßer Kompilation gleichzusetzen ist. Wie die Beispiele Johann Christoph Königs, Andreas Heinrich Schotts oder Heinrich Zschokkes demonstrieren, beschränken sich die Verfasser der in der Regel für akademische Vorlesungen eingerichteten Grundlagentexte zur Ästhetik nicht selten keineswegs auf die bloße Deskription (das ‚Ausschreiben‘) ästhetiktheoretischer Standardtopoi der ‚originären‘ Autoren, sondern bieten teilweise eigenständige Erklärungsansätze, ergänzende Begriffsdifferenzierungen etc. Johann Gottfried Gruber: Revision der Aesthetik in den letzten Decennien des verflossenen Jahrhunderts, in: Revision der Literatur in den drey letzten Quinquennien des achtzehnten Jahrhunderts in Ergänzungsblättern zur Allgemeinen Literatur-Zeitung dieses Zeitraums. 5. Jahrgang. Zweyter Band. Halle und Leipzig 1805, Sp. 65–124, hier Sp. 74. Grubers quellenreiche Rekonstruktion der ästhetischen Theoriebildung von Baumgarten bis zur Kunstphilosophie J. G. Fichtes und F. W. J. Schellings, die erste systematische Theoriegeschichte der wissenschaftlichen Ästhetik, führt den ästhetiktheoretischen Wandel auf die Zunahme der „Welt- und Menschenkunde“, daneben jedoch auch auf die Breitengeltung des empiristischen Erkenntnisparadigmas („das Lockesche System“) zurück (vgl. ebd., Sp. 73f.). Mit selbigem sei verdeutlicht worden, „daß wir die Welt nicht so erkennen, wie sie ist, sondern nur wie sie unsre Or-
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‚außerästhetischen‘ Diskussionsfeld der anthropologischen Spätaufklärung (philosophische Erkenntnistheorie, Erfahrungspsychologie, psychophysische Anthropologie) schlägt sich, so die hier vertretene und nachfolgend an den anthropologischästhetischen Reflexionen Sulzers exemplifizierte These, im Innern der ästhetischen Theoriebildung als eine Form der Subjektivierung des Ästhetischen nieder, und zwar in doppeltem Sinn.12 Erstens im Sinn der Umkehrung der Bezugsrichtung der sinnlich-ästhetischen Wahrnehmungsleistungen vom Erkenntnisgegenstand hin auf das Wahrnehmungssubjekt (respektive dessen Lust oder Vergnügen), durch die die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis in die Wissenschaft der sinnlich-ästhetischen Erfahrung und die anthropologische Ästhetik mithin in ihr zweites Stadium, das ihrer Subjektivierung, überführt wird. Und zweitens, von diesem Sachverhalt unablösbar, im Sinn einer dezidiert anthropologischen Aufwertung der affektivemotionalen Seelenvermögen im Gebiet des Ästhetischen (Empfindung, Gefühl), durch die im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Umbau der scientia cognitionis sensitivae – als Wissenschaft der sinnlich-ästhetischen Erkenntnisvermögen – zur Theorie der dezidiert ästhetischen Erfahrungsweisen – als Wissenschaft des Gefühls, der ästhetischen Lust- und Unlusterfahrung, des Geschmacks – initiiert und im Ansatz vollzogen wird.13 Beide, um die begriffliche Verständigung über die Natur und Eigenart der affektiv-emotionalen Sinnennatur des Subjekts zentrierten Aspekte, lassen sich aus dem komplexen Entwicklungsgefüge des anthropologischen Ästhetikdiskurses der späten Aufklärung herauslösen und begrifflich voneinander isolieren; sie greifen, auch wenn von Autor zu Autor unterschiedlich akzentuiert, als Momente des umfassenden und autorenübergreifenden Empirisierungsprozesses im Theoriefeld von Anthropologie und Ästhetik gleichwohl stets ineinander.
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gane afficirt. Der ganzen Philosophie stand hiemit eine grosse Reform bevor, und der Aesthetik mit ihr. Von nun an war die Frage weniger nach den Gegenständen selbst, als nach unsern Vermögen dieselben aufzufassen. In der Aesthetik namentlich musste die Frage entstehen: welche Organe und Kräfte hat der Mensch, mittelst deren er die Schönheit der Objecte percipiren kann?“ (ebd., Sp. 74). Die diversen Ansätze zu einer Psychologisierung des Ästhetischen in der vorkantischen Ästhetiktheorie der deutschen Aufklärung, die hier gemeint sind, bleiben – weil bis zur ersten programmatisch „psychologischen Aesthetik“ des späten 18. Jahrhunderts von Heinrich Zschokke (vgl. ders.: Ideen zur psychologischen Ästhetik, § 76, S. 230) der Trias von theoretischer, moralischer und sinnlicher Vernunft verpflichtet – abzusetzen von jener „radikale[n] Subjektivierung der Ästhetik“, die Gadamer mit dem Einsatzpunkt der „transzendentalen Rechtfertigung der ästhetischen Urteilskraft“ bezeichnet hat. Dieselbe begründe die „Autonomie des ästhetischen Bewußtseins, aus der auch das historische Bewußtsein seine Legitimation ableiten sollte“ (Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 61990, S. 47). Zur Kritik des Gadamerschen (an Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft dingfest gemachten) Subjektivismus-Theorems vgl. Hartmut Scheible: Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter. Bern, München 1983, S. 101–107. Zur emotionalistischen und affektpsychologischen Grundierung der ästhetischen Theorie im Bereich der Kompendienliteratur (unter Verwendung des Begriffs des „Empfindungsvermögens“) vgl. exemplarisch Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur, bes. §§ 1, 2, 9, 20, S. 1f, 8f., 14f.
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Die maßgeblichen Ansätze für den skizzierten Wandel im Begriff des Ästhetischen sind dabei innerhalb der neuen Erfahrungspsychologie der fünfziger Jahre zu beobachten, in der das Verhältnis zwischen Anthropologie und Ästhetik erstmals im Problemfeld sinnlich-ästhetischer Wahrnehmung, Selbstwahrnehmung und Lust, und das heißt in dezidiert psychologischem Zugriff, reflektiert wird.14 Sulzer, anthropologischer Ästhetiker der ersten Stunde, nach Herder im Übrigen der „Hauptautor der Aesthetik“,15 ist hier die maßgebliche Schlüsselfigur.16 Am Leitfaden ausgewählter Beiträge aus seiner psychologisch begründeten Ästhetik lässt sich die Ausweitung der ästhetischen Fragestellung auf die Vollzugsaspekte der sinnlichen Wahrnehmung sowie die programmatische Aufwertung des Gefühlsbegriffs zur ästhetischen Fundamentalkategorie nachvollziehen und mit der Theorieentwicklung des ästhetischen Denkens der späten Aufklärung exemplarisch in Bezug setzen.17 Ästhetisches Wahrnehmen und Erkennen avancieren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu Formen der subjektiven Selbstwahrnehmung bzw. 14
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Nur unter dieser Einschränkung erscheint es mir sinnvoll, die erfahrungspsychologisch orientierten Popularphilosophen Sulzer oder Mendelssohn von denjenigen Ästhetikern abzugrenzen, die (im Rückgriff auf die Leibniz-Wolffsche Vorstellungstheorie) Ansätze zu einer affektdynamischen Konzeption des Ästhetischen unter Zentralstellung des Begriffs der ‚Rührung‘ entwickeln, diese aber im wesentlichen für die Zwecke einer ästhetischen Erkenntniswissenschaft (scientia cognitionis sensitivae) bzw. des ‚schönen Denkens‘ funktionalisieren. Zu Baumgartens und Meiers Konzept der vita cognitionis (lebendige Erkenntnis), dem ästhetikhistorisch frühesten und bedeutsamsten Ansatz einer ästhetischen Affektpsychologie, vgl. die Ausführungen oben (Abschnitt IV.1.2, IV. 2.3). Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder. Oder Betrachtungen über die Wißenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen, über Riedels Theorie der schönen Künste, in: Herders Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 4, Berlin 1878, S. 1–198, hier S. 43. Mit vergleichbar hoher Wertschätzung spricht auch Tetens von „von unserm scharfsinnigen Hr. Sulzer“ mit Bezug auf dessen Vorarbeiten für die Etablierung des psychologischen Gefühlsbegriffs (vgl. Tetens: Philosophische Versuche I, S. 200). Die nachfolgend an diskursiven Beiträgen Sulzers entwickelten Konturen eines neuen Ansatzes in der ästhetischen Theoriebildung lassen sich in vergleichbarer Weise auch an den frühen Positionen Mendelssohns aus den fünfziger Jahren exemplarisch rekonstruieren, wie Christoph Menke kürzlich demonstriert hat. Mendelssohns Theorie der Empfindungen entwickelt im Zuge der kritischen Auseinandersetzung mit Edmund Burkes Theorie des Erhabenen eine, so Menke, „eigentümliche Gestalt der Selbstreflexion des Sinnlichen“, in der der „Zusammenhang mit den sinnlichen Vollzügen und ihrer Grundbestimmung […] in das Schöne selbst eingetragen“ wird (vgl. Christoph Menke: Wahrnehmung, Tätigkeit, Selbstreflexion. Zu Genese und Dialektik der Ästhetik, in: Andrea Kern, Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik. Frankfurt/M. 2002, S. 19–48, bes. S. 40– 45, hier S. 40). In Ursula Frankes Darstellung zum ästhetiktheoretischen Gefühlsbegriff Baumgartens, der bislang einzigen Detailstudie zum Gefühlsbegriff der vorkantischen Aufklärungsästhetik, wird die (hier fokussierte) Differenz zwischen Baumgartenschem und Sulzerschem Gefühlsbegriff überblendet, wenn bereits Baumgarten die Betonung einer „der Kunst und Dichtung eigene[n], dem Gefühl allein verpflichtete[n], ästhetische[n] Wahrheit“ [Hervorh. E.S.] unterstellt wird (vgl. Ursula Franke: Ein Komplement der Vernunft. Zur Bestimmung des Gefühls im 18. Jahrhundert, in: Ingrid Craemer-Ruegenberg (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl. Philosophische Beiträge. Freiburg i.Br., München 1981, S. 131–148, hier S. 140).
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Selbstvergegenwärtigung; ästhetische Gegenstandskonstitution im Element von Empfindung und Rührung erweist sich als Artikulationsform des „Lebensgefühls“.18 Im Schritt vom ästhetischen Konzeptbegriff der cognitio sensitiva zu Sulzers anthropologischer Ästhetik, so die hier zugrunde gelegte These, vollzieht sich eine für die vorkantische Ästhetikdiskussion folgenreiche Schwerpunktverlagerung: Von der Theorie der sinnengeleiteten ästhetischen Gegenstandserkenntnis Sinnlichkeit als Form ästhetischer Erkenntnis zur Theorie sinnlich-ästhetischer Selbstwahrnehmung Sinnlichkeit als Form ästhetischer Erfahrung. Im Rekurs auf Sulzers zentrale Begründungsentscheidungen im Theoriefeld von Lustpsychologie, Emotionsästhetik und Affektpsychologie gilt es im Nachfolgenden erstens, grundlegende Argumentationsstrukturen anthropologisch begründeter Ästhetik genauer zu situieren und zu verfolgen, wie es im Vorfeld der Kantischen Transzendentalästhetik zu einer Differenzierung der ästhetischen gegenüber sinnlichen und kognitiven Vollzugstätigkeiten und damit zu Modellierungen ästhetisch eigenwertiger Formen der Wahrnehmung, der Erfahrung, des Erlebens kommt. Zum zweiten gilt es, die sachlichen wie terminologischen Konvergenzen zu den in den Ästhetiken Baumgartens und Meiers (Abschnitt IV) sowie den von der philosophischen Erfahrungspsychologie (Abschnitt V) entwickelten Ansätzen zu emotionsbasierten Theorien des ästhetisch relevanten Psychischen respektive Sinnlichen zu überprüfen.
2. Anthropologische und ästhetische Progression der Emotionen. Sulzers Akademieschriften von 1751/52 und 1763 im zeitgenössischen Kontext 2.1 Aisthesis im emotionalistischen Paradigma. Popularphilosophischer Impetus und empiristische Methodologie Johann Georg Sulzers Bedeutung als maßgeblicher Wegbereiter eines psychologischen Wahrnehmungs- und Ästhetikbegriffs zwischen mittlerer und später Aufklärung ist nach allgemeiner Einschätzung inzwischen unbestritten.19 Als Schüler 18
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Vgl. Kant: KdU, § 1, S. 115 („Das Geschmacksurteil ist ästhetisch“): Bei der „Empfindung des Wohlgefallens“ wird „die Vorstellung gänzlich auf das Subject und zwar auf das Lebensgefühl desselben unter dem Namen des Gefühls der Lust oder Unlust bezogen [...].“ Zu den anthropologischen Hypotheken der (durch Kants urteilslogische Konzeption des Geschmacksbegriffs entstandenen) „intellektualistischen Konzeption der ästhetischen Erfahrung“ vgl. Ferdinand Fellmann: Der Geltungsanspruch des ästhetischen Urteils. Zur Metapsychologie der ästhetischen Erfahrung, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 34/2 (1989), S. 155–173, bes. S. 156, S. 162. Über Sulzers Bedeutung als maßgeblichem Vertreter des popularphilosophischen Psychologie-, Ästhetik- und Anthroplogiediskurses der Spätaufklärung herrscht mittlerweile Konsens sowohl innerhalb der germanistischen Aufklärungsforschung als auch in der neueren Psychologiegeschichtsschreibung (vgl. Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Ach-
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Wolffs konsequent am Modell der ‚Physik der Seele‘20 orientiert und dessen empiristisches Methodenpostulat durch individuelle Introspektion zugleich überbietend sowie mit Baumgarten den philosophischen Ausgangspunkt in der „Theorie der Sinnlichkeit“21 teilend, entwickelt Sulzer sein Verständnis des Ästhetischen gut popularphilosophisch in der Verschränkung von ästhetischer und ethischer Fragestellung.22 Die anthropologische Aufwertung der ästhetischen Wahrnehmungs- und Erkenntnismöglichkeiten inbegriffen der theoretischen Etablierung der Affizierungsfunktion der ästhetischen Sinnlichkeit erfolgt nicht zum ausschließlichen
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sendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer, in: Schings, Hans-Jürgen: (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart, Weimar 1994, S. 410–439, hier S. 411; Christian G. Allesch: Geschichte der psychologischen Ästhetik. Untersuchungen zur historischen Entwicklung eines psychologischen Verständnisses ästhetischer Probleme. Göttingen u.a. 1987, S. 184f.; Galle: Entstehung der Psychologie, S. 330f.). Durch diese Arbeiten, die wesentliche Impulse der breit angelegten und gründlichen Studie A. Tumarkins verdanken (vgl. Anna Tumarkin: Der Ästhetiker Johann Georg Sulzer. Frauenfeld, Leipzig 1933), wird die teilweise eklatante Gegensätzlichkeit in der historischen Bewertung von Sulzers ästhetischen Begründungsleistungen innerhalb der älteren Forschungsliteratur spürbar relativiert und einer sachlicheren Einschätzung zugeführt (vgl. etwa Sommer: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie, S. 195: „Sulzers Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Ästhetik ist viel grösser gewesen, als man gewöhnlich annimmt.“ – und dagegen – Friedrich Braitmaier: Geschichte der poetischen Theorie und Kritik von den Diskursen der Maler bis auf Lessing. Teil 2. Frauenfeld 1889, S. 55: Sulzer habe Locke „noch entschiedener und kritikloser als Bodmer mit dem Leibnizschen Idealismus äußerlich zu kombinieren [ge]sucht; er ist ein ganz unsystematischer Kopf und oberflächlicher Denker, der aber viel und vielerley gelesen hat.“ Mit Wolff teilt Sulzer das empiristisch fundierte Grundverständnis der Psychologie im Allgemeinen und das der Erfahrungspsychologie als einer „Experimentalphysik der Seele“ im Besonderen (vgl. Christian Wolff: Discursus praeliminaris de philosophia in genere. Einleitende Abhandlungen über Philosophie im allgemeinen. Historisch-kritische Ausgabe. Übersetzt, eingeleitet und herausgegeben von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. StuttgartBad Cannstatt 1996, § 111, S. 121: „Es erhellt […], daß die empirische Psychologie der experimentellen Physik entspricht und daher zur experimentellen Philosophie gehört.“) Vgl. Sulzer: Kurzer Begriff aller Wißenschaften, § 204, S. 157: „Man verfährt hiebey [in der empirischen Psychologie, E.S.], wie in der Physik mit den körperlichen Dingen, welche man durch Erfahrungen und Versuche kennen lernt. Man könnte also diesen Theil der Psychologie die Experimentalphysik der Seele nennen.“ Hervorh. E.S.). In der Zentralstellung der psychologischen Introspektion geht Sulzer freilich einen entscheidenden, deutlich phänomenologischer ausgerichteten Schritt über Wolff hinaus. Denn vordergründig handelt es sich für Sulzer nicht mehr darum, eine systematische Theorie der menschlichen Seelenvermögen und ihrer (kognitiven) Leistungsfähigkeit zu entwickeln. Sulzers Seelenanalyse, sein neuer Psychologiebegriff zeigt es, widmet die „genaueste Aufmerksamkeit“ stattdessen dem weiten Bezirk der psychischen Wirkungen, auf die „dunkeln Gegenden der Seele“ (vgl. ebd., §§ 204–210, S. 157–163, hier S. 159). Zum Sulzerschen Forschungsprogramm einer psycho-analytischen Theorie der präreflexiven Seele vgl. Riedel: Erkennen und Empfinden, S. 412ff.). Als „ohne Zweifel der schwerste Theil der Philosophie“, so Sulzer in seiner wichtigsten kunsttheoretischen Abhandlung (1772), firmiere Ästhetik – begriffen als eine „Theorie der Sinnlichkeit“ (vgl. Johann Georg Sulzer: Die schönen Künste, in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung betrachtet. Leipzig 1772, S. 72). Vgl. zum paradigmatischen Zusammenhang von Ethik und Ästhetik in der deutschen Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts Bachmann-Medick: Ästhetische Ordnung des Handelns, S. 28ff., S. 44ff.
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Zweck der Autonomisierung kunstästhetischer Erfahrungsgehalte, sondern resultiert aus einem moralphilosophischen Zweckgedanken – dem Interesse an einer Instrumentalisierung des Ästhetischen, welches die Insuffizienz des Logischen gegenüber dem Ästhetischen im Mangel an sinnlicher Wirksamkeit entdeckt.23 Die von Sulzer vorgetragenen Begründungsansätze zu einer umfassenden Theorie des ästhetischen Wissens dokumentieren daher eine genuin philosophische Ästhetik, die nicht allein auf die Einheit von Kultur der Sinnlichkeit und Kultur des Intellekts (Baumgartens Modell der anthropologisch erweiterten ‚sinnlichen‘ Erkenntnislehre) zielt, sondern – in der platonischen Trias des Wahren, Guten und Schönen – programmatisch zugleich die Einheit von sinnlichem und sittlichem Menschen projektiert.24 In der kunsttheoretischen Bestimmung des anthropologischen Potentials ästhetischer Erfahrung als Grundelement der „Glückseligkeit“25 vollenden sich für Sulzer letztlich „die Absichten der Weltweisheit und der Sittenlehre“.26
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Sulzers grundlegende Einsicht, die ihn direkt zur Analyse der wirkungsästhetischen Potentiale der ästhetischen Sinnlichkeit führen wird – „daß die Wahrheit, die man bloß begreift, niemals zum Bewegungsgrunde wird, und daß diejenige, die man empfindet, Einfluß in unsre Handlungen hat“, bzw. dass „der Verstand […] der Seele gar keine thätige Kraft [verleihet]“ (vgl. Sulzer: VPS, S. 293, S. 132f.) – gehorcht nicht genuin ästhetischen und spätaufklärerischen Begründungsimpulsen, sondern ist traditioneller Bestandteil der von der Moralphilosophie der Aufklärung reflektierten Möglichkeiten, den Wahrheitsgehalt des Sittlichen (ethische Norm) anschaulich zu vermitteln bzw. dem menschlichen Gemüt glaubhaft aufzuschließen. So notiert etwa Walch unter dem Lemma „Sinne“: „Was äusserlich in die Sinne und zwar in die Augen fällt, bewegt das Gemüth weit hefftiger, als dasjenige, was man nicht vor Augen hat, worinnen man der Affecten wegen Vorsichtigkeit zu brauchen; daß man über seine Sinnen die Herrschaft erlange und dadurch die Affecten zurück halte. Wie nun dieses Dinge sind, welche zum Verderben und Unruhe des Gemüths viel beitragen, also hat man hingegen zu sehen, daß man dasjenige, was an einer Sachen wirklich gut, oder böse ist, innerlich empfinde, damit dadurch der Mensch angereizet werde, das gute zu erlangen od. zu erhalten, das böse hingegen wegzuschaffen, und der Glückseligkeit, welche auf die angenehme Empfindung des Guten [folgt], theilhafftig zu werden.“ (Johann Georg Walch: Art. „Sinnen“, in: ders., Justus Christian Hennings (Hg.): Johann Georg Walchs philosophisches Lexicon [...], [11726] mit vielen neuen Zusätzen und Artikeln vermehret, und bis auf gegenwärtige Zeiten fortgesetzet von Justus Christian Hennigs. Vierte Auflage in zween Theilen. Leipzig 1775, Sp. 2378). Im „guten Geschmack“, in der „Vernunft“, in der „gründliche[n] Kenntniß des sittlichen Menschen“ sowie in der „Redlichkeit, seine Talente auf das Beste anzuwenden“, sind die Fundamente der schönen Künste zu suchen (vgl. Sulzer: Die schönen Künste, S. 85). „[...] Die Staatskunst, die Philosophie und die schönen Künste [...] [sind] alle drey gleich nothwendig zur Glückseligkeit.“, vgl. Johann Georg Sulzer: Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste, in: ders.: VPS, S. 122–145, hier S. 122f. Sulzer: ATSK, Bd. 1. Artikel „Aesthetik“ [im Folg. Zit. als ATSK: Aesthetik], S. 47–59, hier S. 49. Sulzers ästhetiktheoretisch gewendeten Platonismus im Kontext der neuplatonischen Tradition (More, Cudworth), die in vergleichbarer Weise die „Einheit zwischen Vernunft, Herz und Leib über den Begriff des einigen Prinzips der Natur zu begründen“ suchen, hat Angelica Baum in ihrer Studie zur angelsächsischen Theorie des inneren Sinns eingehender verfolgt (vgl. Angelica Baum: Selbstgefühl und reflektierte Neigung. Ethik und Ästhetik bei Shaftesbury. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, hier S. 118). Mit solchen Nachweisen des engen Begründungszusammenhangs zwischen Ethik und Ästhetik (sinnfällig im moral sense-Begriff Shaftesburys und Hutchesons) wird deutlich, dass popularphilosophische Konzepte von Ästhetik sich den (bloß im Paradigma der philosophischen Erkenntnistheorie gefassten) Antithesen wie
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Unabhängig von der Frage allerdings, inwieweit Sulzers theoriegeschichtlichen Impulsen für eine anthropologische Ästhetik ein außerästhetischer Impetus zugrunde liegt, erweisen sich seine ästhetiktheoretischen Reflexionen, publiziert zwischen dem Ende der vierziger und dem Beginn der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts,27 als ebenso grundlegende wie eigenständige Beiträge zur Erweiterung des ästhetischen Wissens zwischen mittlerer und später Aufklärung. Ihnen gehen umfangreiche Untersuchungen insbesondere auf den Feldern der philosophischen Erkenntnistheorie und empirischen Seelenkunde voraus. Die vergleichsweise späte Fokussierung spezifisch ästhetischer und kunsttheoretischer Problemstellungen im Begriff der Emotionen, auch darin repräsentiert Sulzer die Theoriesituation der späten Aufklärung, lässt die ästhetische Theorie gleichsam als Geburt aus dem Geist der Anthropologie erscheinen.28 Die ästhetiktheoretischen Innovationsleistungen des Popularphilosophen – schon Baeumler hat hierin eine Zäsur in der ästhetischen Theoriebildung gegenüber Baumgarten gesehen29 – erschließen sich vor dem Hintergrund sowohl der ungebrochenen Geltung rationalistischer Metaphysik und Vorstellungstheorie als auch des wachsenden Innovationsbedürfnisses spätaufklärerischer Theoriebildung auf den Feldern der empirischen Seelenlehre, Ästhetik und Anthropologie.30
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etwa der von „Rationalisierung“ versus „Emotionalisierung des Ästhetischen“ von Grund auf entziehen (vgl. Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik, S. 43f.). Das noch von Riedel beklagte Desiderat einer umfassenden Sulzer-Bibliographie (vgl. Riedel: Erkennen und Empfinden, S. 411, Anm. 3) ist von Giorgio Tonelli mittlerweile behoben worden (vgl. dessen Bibliographie, in: Sulzer: ATSK, Bd. 1, S. VII*–XVI*). Mehr noch als die Ästhetikkonzeption Baumgartens bedarf die Rekonstruktion der Sulzerschen Theoriebildung einer Berücksichtigung ihrer Entwicklungsstufen. An die Phase der erkenntnistheoretisch-psychologischen Ausarbeitung der Empfindungstheorie in den fünfziger und sechziger Jahren schließt sich hier fehlen bislang präzisierende Untersuchungen eine Phase ihrer funktionellen Ausarbeitung für die ästhetisch zu erwerbende Sittlichkeit (ästhetische Erziehung und Bildung) im Rahmen der Theorie der schönen Künste an, vgl. Sulzer: ATSK, Bd. 2, Artikel „Empfindung. (Schöne Künste.)“ [im Folg. Zit. als ATSK: Empfindung], S. 53–59. Vgl. Baeumler: Irrationalitätsproblem, S. 128: „Der wirkliche Nachfolger Baumgartens in der Geschichte der Ästhetik ist nicht Meier oder Mendelssohn […], sondern Sulzer […]. Sulzer bildet in allem den Gegensatz zu Baumgarten.“ Während die ältere Psychologie- und Ästhetikforschung stets zentral die Frage thematisierte, inwiefern Sulzer als ‚Vordenker‘ der Kantischen Disposition der Gemütsvermögen in das „Erkenntnisvermögen“, das „Gefühl der Lust und Unlust“ sowie das „Begehrungsvermögen“ in Betracht komme (vgl. Palme: Sulzers Psychologie; Friedrich Springorum: Über das Sittliche in der Ästhetik Johann Georg Sulzers, in: Archiv für die gesamte Psychologie 72 (1929), S. 1–42; Tumarkin: Johann Georg Sulzer), hat sich in den neueren Arbeiten der germanistischen Forschung zunehmend das Interesse am Theoretiker des Vor- und Unbewussten, des Schmerzes, der ästhetischen Sinnlichkeit durchgesetzt (vgl. Riedel: Erkennen und Empfinden; Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung, bes. S. 264ff., S. 284ff.). Die nach wie vor kontroverse Beurteilung des ästhetisch-psychologischen Empfindungsbegriffs bei Sulzer im Spannungsfeld von philosophischem Rationalismus (Descartes, Leibniz, Wolff), Dubosschem Emotionalismus und psychophysischer Anthropologie macht indes einmal mehr auf das Fehlen einer eingehenden monographischen Untersuchung der Begründungsleistungen Sulzers, dem frühesten Ver-
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Entfaltet wird mit ihnen die Theorie der inneren und äußeren Sinnlichkeit, und hier liegt eine der maßgeblichen Verschiebungen gegenüber Baumgarten, in der Bezugnahme auf eminent lebenspraktische Wahrnehmungserfahrungen wie Lust und Vergnügen, Unlust und Schmerz – die Vielzahl ‚un‘- bzw. vorbewusster Zustände der empfindenden Seele. Das Charakteristikum ästhetischer Wahrnehmung und Erfahrung bestimmt Sulzer folgerichtig nicht nach Maßgabe sinnengeleiteter „Wahrheit“ und „Wahrscheinlichkeit“, sondern durch die Fähigkeit ästhetischer Phänomene, „ein lebhaftes Gefühl für das Schöne und Gute, und eine starke Abneigung gegen das Häßliche und Böse zu erwecken.“31 Die Basis dieser wirkungsästhetischen Programmatik entwickelt Sulzer im Element empfindungstheoretischer Reflexion, die der philosophisch orientierte Autor streng empiristisch durch minutiöse Selbstbeobachtung fundiert.32 In verschiedenen Zusammenhängen thematisiert, führen Sulzers anthropologisch-ästhetische Reflexionen im Begriff der Empfindungen seit Beginn der sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts33 zu einer folgenreichen Neukonzeption des Ästhetischen oder genauer noch, zu einem Umbau der kognitiv und epistemologisch orientierten Ästhetik Baumgartens zur empirisch-psychologischen „Wissenschaft der Empfindungen“.34 Ausgebaut im ästhetischen Bildungskonzept der ‚Empfindsamkeit des Herzens‘ nehmen die Emotionen in Sulzers ästhetischem Lexikon schließlich eine Schlüsselrolle ein: Dem Popularphilosophen avancieren sie zum unersetzlichen Kernstück einer lebensweltlich ausgerichteten Anthropologie und Ästhetik, mit der die Vervollkommnung und Versittlichung des Menschen als Einheit begriffen und konzi-
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treter und Wegbereiter des popularphilosophischen Anthropologie- und Ästhetikdiskurses der deutschen Spätaufklärung, aufmerksam. Sulzer: ATSK, Bd. 1. Vorrede zu der ersten Ausgabe, S. XIII. Bei Sulzer erhält die psychologische Selbstanalyse den Status eines wissenschaftlichen Legitimationskriteriums innerhalb der philosophischen Theoriebildung. In seiner ersten empfindungstheoretischen Arbeit vermerkt der Autor, „daß ich seit etwa sechs Jahren auf alles, was bey einer angenehmen Empfindung über irgend einen Gegenstand in meiner Seele vorging, die genaueste Aufmerksamkeit gewandt und immer befunden habe, daß es auf das, was ich vorgetragen, hinauslief.“ Johann Georg Sulzer: Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen, in: ders.: Vermischte philosophische Schriften, S. 1–98, hier S. 90f. Sulzers hier zu rekonstruierende Verschränkung von Sinneswahrnehmung, Affektivität und Emotionalität im Empfindungsbegriff berechtigt dazu (in Übereinstimmung mit aktuellen lexikographischen Bestimmungen wie mit dem alltagssprachlichen Gebrauch), den Begriff der „Emotion“ nachfolgend als Sammelbegriff für die Sinnesempfindung wie für den Bereich des affektiv-emotionalen Erlebens (Emotion, Affekt / Pathos, Gefühl) zu verwenden. Zum Begriffsfeld und Bedeutungsumfang der Vermögenssphäre der ‚Emotionen‘ vgl. (unter Einbeziehung französischsprachiger Verwendungen) Eugen Lerch: „Passion“ und „Gefühl“, in: Archivum Romanicum 22 (1938), S. 320–349; Hans Hermsen: Art. „Emotion / Gefühl“, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, hg. v. Hansjörg Sandkühler u.a., Bd. 1, Hamburg 1990, S. 661–682. Vgl. ATSK: Aesthetik, S. 47.
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piert werden.35 Die von Sulzer initiierte Erweiterung der Baumgartenschen Theorie der sinnlichen Erkenntnis um den Gesichtspunkt der ästhetischen Wirkung (Vergnügen, Genuss, Rührung) vielfach ‚ausgeschrieben‘ in den popularphilosophischen Ästhetiken Johann August Eberhards [1783], Johann Joachim Eschenburgs [1783], Gotthilf Samuel Steinbarts [1785] und anderer muss, so die hier vertretene These, nicht nur als eine mögliche, sondern folgerichtige Konsequenz aus der kognitiven und epistemologischen Engführung ästhetischer Theoriebildung bei Baumgarten gelesen werden. Sulzers Positionierungen in Sachen Ästhetik sind das Ergebnis langjähriger psychologischer und erkenntnistheoretischer Untersuchungen, die er seit Beginn der fünfziger Jahre in wissenschaftlichen Abhandlungen ausformulierte und dem philosophisch geschulten Plenum der Mitglieder der Berliner Akademie der Wissenschaften regelmäßig öffentlich vortrug.36 In mehreren Ansätzen entwickelt Sulzer im Rahmen dieser Akademieabhandlungen seinen ästhetiktheoretischen Standpunktwechsel, den erst seine ästhetische Enzyklopädie, die Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771–1774), ausformulieren und kunsttheoretisch untermauern wird. Zwei Schlüsselstudien Sulzers von (1751/52 und 1763, an denen sich grundlegende Merkmale der genannten theoriegeschichtlichen Verschiebung im Denken des Anthropologen, Psychologen und Ästhetiktheoretikers exemplarisch abbilden, sind Gegenstand der nachfolgenden Interpretationen. Am Leitfaden der Fragestellung nach dem Begründungszusammenhang von anthropologischer und ästhetischer Reflexion gilt es an ihnen zu verfolgen, wie Sulzer im Reflexionsbegriff der Emotionen das Themenfeld der sinnlich-ästhetischen Wahrnehmung aus dem Schema der vorstellungstheoretischen Deduktion der Sinnlichkeit (sinnengeleitete Wahrnehmung, sinnengeleitete Lust, sinnengeleitete Empfindung / Gefühl) herauslöst und prototypisch für eine ästhetische Theorie der Emotionen, der ästhetischen Rührung in Anschlag bringt. Indem Sulzer, so die hier zugrunde gelegte These, den 35
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Vgl. ATSK: Empfindung, S. 55. Zu Sulzers Selbstpositionierung als Ästhetiker in seinem Kurzabriss der europäischen Aufklärungsästhetik vgl. ATSK: Aesthetik, S. 48. Von der „Empfindsamkeit für die höhern Schönheiten, die über alle sinnliche Antriebe herrscht“, ist im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, z.T. unter direkter Anlehnung an Sulzers Ästhetik und Psychologie, auch im popularphilosophischen Ethikdiskurs die Rede (vgl. Johann Georg Heinrich Feder: Über das moralische Gefühl (aus dem Deutschen Museum 1776 abgedruckt). Kopenhagen, Leipzig 1792, S. 160). Das für die Popularphilosophie vielfach verwendete Synonym ‚Philosophie für die Welt‘ (nach J. J. Engels gleichnamigem Philosophischen Magazin) relativiert sich in der Tat erheblich angesichts der Tatsache, dass nicht der psychologisch interessierte kunstliebende Laie, sondern das akademisch gebildete Fachpublikum (die Berliner Akademie) den vornehmlichen Adressatenkreis der Sulzerschen Abhandlungen darstellt. Zum Wissenschaftsprogramm der scientific community der Berliner Akademie vgl. umfassend Adolf Harnack: Geschichte der königlich preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 3 Bde., Berlin 1900. Eine aufschlussreiche Übersicht über die zwischen 1747 und 1779 von der Akademie gestellten Preisaufgaben und die dazu erschienenen Schriften bietet Hauser: Selbstbewußtsein und personale Identität, S. 169–172.
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Komplex der sinnlich-ästhetischen Wahrnehmung (Aisthesis) nicht mehr epistemologisch, gegenstandstheoretisch und vorstellungszentriert, sondern eminent wirkungspsychologisch, subjekttheoretisch und empfindungszentriert konzipiert, leitet er maßgeblich die skizzierte theoriegeschichtliche Verschiebung im spätaufklärerischen (vorkantischen) Ästhetikbegriff ein: Die Transformation der Theorie des ästhetischen Erkennens (der sinnlich-ästhetischen Repräsentation) in eine Theorie der sinnlich-ästhetischen Selbstbezüglichkeit, der ästhetischen Erfahrung. 2.2 Lustpsychologie ohne Emotionsbegriff. Sulzers Theorie der angenehmen Empfindungen (1751/1752) 2.2.1 Anthropologische Universalisierung der Vorstellungskraft. Sulzer versus Wolff Bereits das Thema von Sulzers erster akademischer Abhandlung Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen (1751/52)37 weist in eine neue Richtung des Problemverständnisses sinnlicher Wahrnehmung und Erfahrung um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Nicht ein der Logik analoges Modell der objektiven Gegenstandserkenntnis steht zur Debatte,38 sondern Grundprinzipien psychischer Aktivität im Feld der sinnlichen Wahrnehmung, Empfindung und Lust. Der damit verbundene Perspektivenwechsel innerhalb der seelenkundlichen Analyse, so gilt es im Folgenden zu zeigen, ist grundsätzlicher Art; auch wenn Sulzer die Verschiebung des Standpunkts hier noch im wesentlichen unter konzeptionellem Anschluss an den philosophischen Rationalismus à la Descartes, Leibniz und Wolff bestreitet.39 37
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Erschienen in: Sulzer: VPS, S. 1–98. Sulzers erste Akademieabhandlung gehört zu den einflussreichsten Referenztexten des anthropologischen Psychologie- und Ästhetikdiskurses und ist als Basistext lusttheoretischer Reflexion noch in der nachkantischen respektive vorromantischen Anthropologie nachweisbar (vgl. etwa Johann Ith: Versuch einer Anthropologie oder Philosophie des Menschen nach seinen körperlichen Anlagen. Bd. 2, Bern 1795, S. 59, pass.). Die Liste der neueren Forschungsbeiträge ist umfangreich (vgl. zuletzt Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung, S. 134–139 [Psychophysiologie der Einbildungskraft]; M. Heinz: Sensualistischer Idealismus, S. 113–117 [Sulzers Lusttheorie im Kontext von Herders erkenntnistheoretischen Frühschriften]; Riedel: Erkennen und Empfinden, S. 412ff. [Sulzers früher Wolffianismus]; Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung, S. 264–278 [Psychologie und Metaphorik der Schmerzempfindungen]). Zum gnoseologischen Fundament der Baumgartenschen Aesthetica: der ästhetischen Wahrheitstheorie, die sich „in ihrer wesentlichen Bedeutung [als] Wahrscheinlichkeit“ ausweist, vgl. Baumgarten: TÄ, §§ 423–444, S. 53–74 [Veritas aesthetica]; vgl. ebd., §§ 478–504, S. 109–137 [Versimilitudo aesthetica], hier § 483, S. 115. Während W. Riedel: in Sulzers Abhandlung „den Geist der scholastischen Philosophie“ verkörpert sieht, die keinen erkennbaren Anhalt für die Neukonzeption des rationalistischen Empfindungsbegriffs biete (vgl. Riedel, Erkennen und Empfinden, S. 414f.), hat Torra-Mattenklott die Ergiebigkeit der Abhandlung für eine ästhetische Theorie der Rührung – anhand der Leitbegriffe „Bewegung“ und „Tätigkeit“ – unter Beweis gestellt (vgl. dies.: Metaphorologie, S. 118–123).
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Die Integration seines neuen Gesichtspunkts in die Theorie der sinnlich-ästhetischen Wahrnehmung und Lust (und vice versa der Unlust) beginnt scheinbar unspektakulär und konventionell, denn Sulzers Ausgangspunkt ist Wolffs Basistheorem der Seele als einer Vorstellungskraft, deren „natürliche Thätigkeit“, so der Autor mit Wolff, „in Hervorbringung von Ideen [besteht]“. Der demonstrativ und mit Verve vorgetragene Überbietungsanspruch gegenüber Wolff verspricht jedoch eine innovatorische Ausweitung des Geltungsumfangs der Grundkraft der Seele: Jedermann weiß, auf welche Art der Herr von Wolff alle intellektuellen Fähigkeiten der Seele daraus [ihrer selbständigen Kraft zur Ideenerzeugung, E.S.] hergeleitet hat. Ich meines Theils werde hier diesen Grundtrieb, als den Ursprung aller angenehmen und unangenehmen Empfindungen, betrachten, die gleichsam der Saame der Leidenschaften oder vielmehr der Funke sind, daraus ihr Feuer entspringt. Denn ich gestehe, daß mir in der Theorie des Vergnügens weder Wolff noch Cartesius Genüge leisten.40
Ungeachtet der inkorrekten Beurteilung der Wolffschen Seelenkonzeption ist Sulzers Stoßrichtung deutlich markiert: Sämtliche Spielarten der Lust- bzw. Unlustempfindungen intellektuelle, sinnliche und moralische wird Sulzer im weiteren Verlauf der Abhandlung thematisieren41 sollen vollständig aus der „intellektuellen Fähigkeit der Seele“ abgeleitet werden;42 offenkundig eine Theorie der Lust40
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Sulzer: Untersuchung, S. 11. Worum es Sulzer geht, ist die Begründung einer dritten Position, die die Polarisierung von Cartesischem und Wolffschem Lustbegriff endgültig überwindet. Älterer wie neuerer Forschung ist allerdings entgangen, dass Sulzers Ansatz in dieser Abhandlung eine direkte Vorlage in einem kurzen Aufsatz hat, den sein Freund und Kollege in der Berliner Akademie, Abraham Gotthelf Kaestner (1719–1800), bereits 1749 verfasst und 1751 zur Veröffentlichung gebracht hatte: Réflexions sur l’Origine du plaisir, où l’on tâche de prouver l’idée de Des-Cartes: Qu’il naît toujours du sentiment de la perfection de nous-mêmes, in: Histoire de l’academie Royale des Sciences et Belles Lettres. Année MDCCXLIX. [=Classe de Philosophie speculative], Berlin 1751, S. 478–488. Kaestner führt hier eine kritische Auseinandersetzung mit Wolffs und Descartes’ Lusttheorie und versucht (unter Zuspitzung beider Ansätze auf kontradiktorische Positionen), Descartes’ subjektivistische Erklärung der Lust („un sentiment de la perfection de nous-mêmes“, ebd., S. 482, pass.) gegen Wolffs primär gegenstandstheoretische Erklärung der Lust („le sentiment de la perfection du portrait“, ebd., S. 482) auszuspielen. Wie Sulzers obige Positionierung zeigt, hielt er Kaestners Ansatz offensichtlich für unzureichend, um das Thema der Lust auf philosophischem Wege neu anzugehen und den veränderten anthropologischen Prämissen anzupassen, um stattdessen die subjektiven Qualitäten der sinnlich-ästhetischen Gegenstandswahrnehmung gegenüber dem Erkenntnismoment geltend zu machen (vgl. die folgenden Abschnitte, besonders 2.3). Sulzer: Untersuchung, S. 25. Dem ambitionierten Beweisziel der Abhandlung entsprechend, thematisiert Sulzer nach einem ersten grundlegenden Abschnitt („Allgemeine Theorie des Vergnügens“, S. 2–23) zweitens die „Theorie der intellektuellen Vergnügungen“ (S. 23–50), im Abschnitt drei die „Vergnügungen der Sinne“ (S. 50–77), im Schlussabschnitt der deutschen Ausgabe schließlich die „moralischen Vergnügungen“ (S. 77–98). Wie Kaestner muss auch Sulzer Wolffs Ansatz in der Seelenlehre vereinseitigend interpretieren, um sich eine Angriffsfläche für seinen konzeptionellen Neuzugriff zu schaffen. Denn bereits Wolff definiert im Abschnitt der rationalen Psychologie seiner Metaphysik („Von dem Wesen der Seele und eines Geistes überhaupt“): Weil „in der Seele nur eine einige Kraft [ist], von der alle ihre Veränderungen herkommen“, muss diese „bald Empfindungen, bald Einbildungen, bald deutliche Begriffe, bald Vernunftschlüsse, bald Begierden, bald Wollen und nicht Wollen, bald noch andere Veränderungen hervorbringen.“ Vgl. Wolff: DM, § 745, S. 464; §
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Unlustempfindungen auf radikal anaisthetischer Erklärungsbasis verbunden mit einer Aufwertung des gnoseologischen Moments in der Theorie der Sinnlichkeit. Enthält sie mehr als lediglich einen Rückschritt hinter Baumgartens Errungenschaften auf dem Feld der cognitio sensitiva? Prima facie exponiert Sulzers emotionstheoretische Frühschrift einen intellektualistischen Reduktionismus, der in seiner Radikalität gleichermaßen über Wolffs wie auch Baumgartens systematische Logisierung der Sinneserfahrung hinausgeht.43 Das „Vermögen zu denken“ als „das wahre Salz“ aller Erscheinungsformen der Lust – Sinnlichkeit als Modalität der vis repraesentativa, der geistigen Vorstellungstätigkeit der Seele konsequenter ließe sich der Anspruch auf eine monistische Ableitung sämtlicher mit Lust verbundener Wahrnehmungsphänomene in der Tat nicht formulieren.44 Wie die weiteren Differenzierungen im Fortgang der Argumentation verdeutlichen, beschränkt sich Sulzers Konzeptualisierung der Seele und ihrer Vermögen jedoch nicht auf die, vom Ansatz her cartesianisch motivierte Zuspitzung der Wolffschen Prämissen. Denn nicht primär Wolff, sondern Grundannahmen der Leibnizschen Philosophie sowie der Lusttheorie Dubos’ verbindet Sulzer für seine neuartige vorstellungsdynamische Konzeption der Seele, wonach, wie im Folgenden zu rekonstruieren, der Erkenntnisvorgang zugleich auf den Bereich des Begehrens, der Appetenz45 ausgeweitet wird.
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747, S. 465f. (vgl. auch § 878, S. 544.). Noch deutlicher kommt das Leibnizsche Fundament der Wolffschen Vermögenspsychologie in seinen Anmerkungen zur Metaphysik zur Geltung: „Denn durch die Krafft, wovon die Empfindungen herrühren, kommet auch alles übrige in der Seele her; und da das übrige von den Empfindungen herrühret, so muß sich auch aus dieser vorstellenden Kraft der Seele das übrige herleiten lassen, nemlich vermöge der Gesetze, nach welchen diese Krafft sowohl in Ansehung der Erkäntnis [!], als des Appetites würcket.“ (Wolff: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt-Weisheit ans Licht gestellet, in: ders.: Gesammelte Werke, 1. Abt. Bd. 9, Hildesheim u.a. 1986, § 98, S. 275). Die „Seele von den Sinnen abzuführen“ bezeichnet Wolff als das „vornehmste“ Ziel seiner theoretischen Philosophie, vgl. Wolff: Der vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. Anderer Theil, bestehend in ausführlichen Anmerckungen. Mit einer Einleitung und einem kritischen Apparat von Charles A. Corr, Hildesheim u.a. 1983, S. 164, § 92. Das hindert ihn indessen nicht, die Theorie der Lust nicht als Gegenstandsbereich des Erkenntnis-, sondern des Begehrungsvermögens (facultas appetitiva) auszuweisen (vgl. ders.: Ausführliche Nachricht, § 94, S. 260–262). Vgl. Sulzer: Untersuchung, S. 8. „Appetenz“ ist der adäquate Terminus für Sulzers hier entwickeltes Konzept, Wahrnehmen vollständig als intellektgebundenen Tätigkeitsmodus, d.h. auf der Perzeptionsebene der oberen Erkenntnisvermögen der Seele, zu konzeptualisieren (im deutlichen Unterschied zum dezidiert sinnlichen Vorstellen im Modus der sinnlichen Begierde, des Affekts). Zur Verwendung des Appetenzbegriffs bei Leibniz vgl. nachfolgend.
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2.2.2 Dynamisierung der vis repraesentativa und Progression des Begehrens. Revitalisierung Leibnizscher Prämissen Den begrifflichen Ausgangspunkt für Sulzers Dynamisierung des Wolffschen Seelenmodells bildet die systemtragende Kategorie der Leibnizschen Erkenntnistheorie, der Begriff der „Kraft“. Dieselbe zeige, so Sulzer, ein ohnablässiges Bestreben an, das gleichsam alles zur Hervorbringung von Ideen in Bewegung setzt. [...] In dem gewöhnlichen ruhigern Zustande der Seele bleibt diese wesentliche Kraft einerley, nur daß sie mit weniger Stärke wirkt; sie erregt allemal, in stärkerm oder in schwächerm Grade, Bewegungen, die mit den Erschütterungen der Leidenschaften übereinkommen.46
Mit dieser starken Betonung des Begehrens, des Appetenzcharakters der Vorstellungstätigkeit der Sache nach eine Revitalisierung substanzphilosophischer Prämissen der Leibnizschen Monadologie47 schafft Sulzer die Voraussetzungen für einen dynamistischen und subjektzentrierten Seelenbegriff, der mehr als nur das kognitive Potential lustgeprägter Wahrnehmung, Empfindung und Erkenntnis zu charakterisieren erlaubt. Denn der Inbegriff der Seele als einer „Kraft zu denken“ konstituiert sich für Sulzer hier in gut Leibnizschem Verständnis nicht allein durch ihre „Erkenntnißfähigkeit“ als solche, sondern durch das selbsttätige Streben nach fortgesetzter Ideenerzeugung und -bearbeitung, d.h. eine Form des unsinnlichen Begehrens.48 Einem dahinströmenden Fluss gleichend, so Sulzer, äußert die im Erkennen begehrende Seele in ungehemmter Tätigkeit – d.h., wenn „ihre ursprüngliche Vorstellungskraft zu einer lebhaften Wirksamkeit gereizt“ wird – Lust; umgekehrt bei gehemmter Tätigkeit – d.h., wenn sie ein „Hinderniß, sich zu entwickeln [findet], oder [...] die Wirkung nicht der Größe ihres Bestrebens [entspricht]“ – Unlust.49 Sulzers ausformulierte Erklärung der Lust schließlich macht die 46
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Vgl. Sulzer: Untersuchung, S. 9f. Auch der, in dieser frühen Abhandlung häufiger verwendete, Begriff der „Idee“ (im Unterschied zu Wolffs „Vorstellungen“) lässt sich als Indiz für Sulzers eingehende Beschäftigung mit Leibniz’ dynamistischer Erkenntnistheorie werten, – ein Schlüsselterminus im übrigen der sogenannten ‚zweiten Leibnizrezeption‘ der deutschen Spätaufklärung, die mit der Rezeption der erst 1765 veröffentlichten Nouveaux essais des Philosophen (hg. von R. E. Raspe; erste dt. Übersetzung 1778–1780) auf breiter Linie einsetzt (vgl. Leibniz: Neue Abhandlungen, S. 97ff. (Zweites Buch: Von den Ideen [Des Idées]). In Leibniz’ Philosophie der Substanz („Monadologie“) bezeichnet „Kraft“ den Inbegriff der „Einzelsubstanz“ Seele. Im Unterschied zur deutschen Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts (Wolff, Baumgarten) betont Leibniz den eigenständigen („principe interne“) und kontinuierlichen („changement continuel“) Tätigkeitscharakter der Seele, lässt er ihre Grundeigenschaften Perzeption und Appetition aus durchgängig dynamischen Konstitutionsprinzipien hervorgehen. Die Definition der „Appetition“ (‚Begehrung‘, ‚Streben‘) als einer „Tätigkeit des inneren Prinzips […], den Übergang von einer Perzeption zur anderen Reihe [zu] bewirk[en]“, ist die axiomatische Basisformulierung für die integrative Verknüpfung von Erkennen und Begehren unter psychologisch-erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten. Vgl. Leibniz: Prinzipien der Philosophie, § 15, S. 445. Sulzer: Untersuchung, S. 7. Vgl. ebd., S. 11f., S. 18.
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Differenzen zum Wolffschen Ansatz vollends deutlich. Jede Lustempfindung entspringe einer erhöhten „Wirksamkeit der Seele“; dieselbe hält nicht mehr ihren gewöhnlichen Lauf; sie wird eine Menge von Dingen gewahr, die sie mit mehr Leichtigkeit und Schnelligkeit bearbeiten kann [...]. So muß nothwendig die Thätigkeit der Seele bey der Vorstellung eines Gegenstandes beschaffen seyn, aus welchem, wie aus einer reichen Quelle, eine Menge besonderer Ideen entspringen, die sie [...] schon von weitem gewahr wird. Sie merkt, daß sie Arbeit haben wird, und dieses Vorhersehen einer reichlichen Nahrung [...] erweckt in ihr die Begierde, sich auf diesen Gegenstand zu heften.50
Der zoologischen Metaphorik51 liegt die integrative Verschränkung von Erkennen und Begehren bzw. genauer, die Erklärung der Vorstellungstätigkeit nach dem Modus der Affekttheorie, zugrunde.52 Der mit dieser Konstruktion dem Erkenntnisvorgang unterlegte dynamische Strebecharakter führt in der Tendenz zu einer Vorrangstellung des subjektiven Betätigungscharakters als solchem („Vorhersehen“, ‚Draufzustürzen‘), zu einer Prädominanz der Art und Weise des Erkenntnisvorgangs bzw. des subjektiven Lustgewinns gegenüber dem Erkennen als Repräsentationsform gegenständlich gegebener, an die „allgemeinen Regeln der Vollkommenheit“ zurückgebundener Merkmale.53 Die Cartesisch-Wolffsche Erklärung des Lusteffekts durch einen gegenstandsgebunden, gleichsam ‚statischen‘ Vollkommen50 51
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Ebd., S. 13. Im Abschnitt zur Theorie des Schönen heißt es sogar, die Seele betrachte diesen „als eine Beute, die ihren wesentlichen Geschmack befriediget und stürzt mit voller Begierde darauf zu“ (ebd., S. 38, Hervorh. E.S.). Es erscheint mir wichtig, an dieser Differenzierung (parallel zu der von Appetenz und Affekt) für diese frühe Abhandlung Sulzers festzuhalten, denn erst in den folgenden Abhandlungen wird Sulzer die entschiedene Verankerung der psychologischen Wirkungen im Begehrungsvermögen vornehmen (vgl. Gliederungspunkt 2.3 dieses Abschnitts). Wenn Campe etwa in seiner gut 25 Jahre später verfassten Abhandlung zur Differenz von Kognition und Emotionen den hier thematisierten Gehalt auf die Formel von der „dunkle[n] Vorempfindung von einem Vergnügen“ bringt, die einen „in unser Herz [!] gepflanzten“ „unsichtbaren Zauber“ beinhalte, dokumentiert sich nicht nur der fortgeschrittene Stand der durch spätaufklärerische Erfahrungsseelenlehre vorangetriebenen psychologischen Terminologie („Vorempfindung“ ist für Campe „Grundempfindung“ der menschlichen Seele), sondern zugleich auch eine deutlich veränderte Akzentsetzung auf dem präreflexiven Moment der vorstellungsgeleiteten Lusterfahrung, das der Pädagoge in der Folge psycho-analytisch, durch genetischen Rekurs auf die „frühesten Empfindungen“ der Kindheitserfahrung, abzuleiten versucht (vgl. Campe: Die Empfindungsund Erkenntnißkraft, S. 160ff., hier S. 161, S. 164, S. 182). Wolff anders geartete Positionierungen bleiben hier abermals anzuzeigen. Zum ersten erschöpft sich die subjektive Lusterfahrung für Wolff in der Zurückführung wahrgenommener Gegenstandsmerkmale auf eine allgemein anerkannte und verbindliche Norm; es ist die Gewissheit von der „Richtigkeit der Regeln“, mit denen ein betrachteter Gegenstand übereinstimmt, der die Lust des Betrachtens vergrößert. Vgl. Wolff: DM, §§ 404ff., S. 247ff.; vgl. auch § 152, S. 78f. Zum zweiten zielt Wolffs Lusttheorie primär nicht auf die Charakterisierung des Wahrnehmungsprozesses als solchem, sondern auf die Kennzeichnung der Voraussetzungen dafür, die „Beständigkeit“ der Lust zu erreichen und habituell verfügbar zu halten. Die zentrale Rolle, die in Wolffs Lustdefinition das „Einsehen“ der Gründe der Vollkommenheit sowie das demonstrationsfähige [!] Wissen um die „Vollkommenheit einer Sache“ (Regeln) einnimmt, lässt sich hieraus erklären (vgl. ebd., §§ 408–410, S. 249f.). Zu Sulzers Kritik am Konzept der ästhetischen Regel vgl. ATSK, Bd. 4, Art. „Regeln; Kunstregeln. (Schöne Künste.)“, S. 73–80.
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heitsbegriff – Lust sei „nichts anderes [...] als ein Anschauen der Vollkommenheit“ auf der Basis der „mehrere[n] Gewißheit von der Vollkommenheit der Sache“54 – ist mit dieser quantitativen Erklärung der Lust vom Ansatz her überwunden.55 Über den lusttheoretischen Gesichtspunkt hinaus, der hier nicht eingehender verfolgt zu werden braucht, verdienen vor allem die empfindungs- und ästhetiktheoretischen Implikationen des Sulzerschen Neuansatzes Beachtung.56 Mit seinem dynamisch konstituierten Seelenmodell im Übergangsbereich von Erkennen und Begehren geht es Sulzer im Effekt um die Parallelisierung des intellektuellen Erkenntnisprozesses mit einer das gesamte Gemüt betreffenden, der Qualität nach emotiven bzw. affektaffinen Wahrnehmungsqualität. Denn der von ihm beschriebene Erkenntnisvorgang begreift eine Form des subjektiven Erlebens, des Selbstgenusses genau insofern mit ein, als er sich nicht allein auf die Fähigkeit der erkennenden Seele zur Erfassung objektiver Gegenstandsqualitäten (Objekterkenntnis auf der Basis deutlicher bzw. undeutlicher Merkmalsunterscheidung) bezieht, sondern zugleich auf die Fähigkeit der Seele, sich lebhafter Vorstellungen gleichsam zu vergewissern und sich von ihnen affizieren zu lassen (Objekterkenntnis auf der Basis gemütserregender Perzeptionen, subjektiv bedingter Vorstellungsquantität).57 Damit aber gehört Sulzers appetenztheoretischer Ansatz erstens in den systematischen Zusammenhang von sinnlich-ästhetischer Wahrnehmung (Aisthesis) und ästhetischer Vollzugsorientiertheit.58 Gradmesser für die sinnlich-ästhetische Lust nämlich ist nach Sulzer einzig der „glückliche Erfolg der Wirksamkeit der Seele [...]. Sobald [...] alles so geht, wie sie es gewünscht hatte, so fährt die Thätigkeit der Seele mit Lebhaftigkeit zu, um die Ideen so, wie sie es verlangt hat, zu entwickeln: und dieses macht ihr Vergnügen.“59
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Wolff: DM, § 414, S. 247; § 414, S. 250. Die Tendenz zur Quantifizierung des Psychischen die mechanistische Metaphorik im soeben angeführten Beispiel ist gleichsam das Supplement der organischen („Menge von Dingen“, „Menge besonderer Ideen“; „reiche Quelle“, „reichliche Nahrung“) ist nicht zu übersehen. Zur systematischen Verankerung der Wolffschen Lust-Unlusttheorie vgl. die differenzierte Untersuchung von Schwaiger: Problem des Glücks, S. 52ff. Zur Diskussion des Sulzerschen Lustbegriffs im Deutungsfeld der philosophisch orientierten Psychophysiologie vgl. Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung, S. 133ff., S. 195ff. Als „Funktionslust des vorstellungsmäßigen Verknüpfens“ wird diese „intellektuelle Seite des ästhetischen Genusses“ die psychologische Ästhetiktheorie anderthalb Jahrhunderte später, wenngleich ohne direkten Anschluss an Sulzers Vorformulierungen dieses Sachverhalts, beschreiben. Vgl. Johannes Volkelt: System der Ästhetik. Erster Band: Grundlegung der Ästhetik. München 1905, S. 348 ff., hier S. 349 (und Anmerkung). Zu den Grundzügen eines über die Aisthesis definierten und entsprechend erweiterten Ästhetikbegriffs (vgl. Seel: Ästhetik und Aisthetik, S. 48ff.) siehe die Erörterung der Einleitung. Sulzer: Untersuchung, S. 20f. Sulzers Referenzen an de Pouilly, seinen lusttheoretischen Leitsatz von der „Leichtigkeit“ der Beschäftigung, sind in der galanten Formulierung des Popularphilosophen auffällig (vgl. de Pouilly, TaE, S. 14f.). Es ist Altmanns Verdienst (unter Anlehnung an die Mendelssohnsche Interpretation der Sulzerschen Akademieabhandlung) Sulzers Adaption des de Pouillyschen Theorems erstmals rekonstruiert zu haben (vgl. Altmann: Mendelssohns Frühschriften, S. 92–100, hier S. 99).
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Insofern der lustvolle Wahrnehmungs- und Erkenntnisvorgang stets zugleich eine zustandsspezifische Selbstwahrnehmung der zur Wirksamkeit gereizten Seele einschließt, weist Sulzer ihm zweitens auch Selbstbezüglichkeit60 zu. Bis in die selbstreflexiven Formulierungen hinein wird dieser Sachverhalt deutlich. Zugespitzt ließe sich mit Blick auf die gesamte Abhandlung von einer Doppelkonzeption von Vorstellungs- und Wirkungspsychologie sprechen. Im Unterschied zu Baumgarten präsentiert sich Sulzers Variante einer ästhetischen Selbstreflexivität freilich nicht mehr im Vokabular der Bewusstseinsphilosophie, sondern in der Sprache der empfindsamen Subjektivität: Es ist stets die Seele selbst, die „einen merklichen Grad der angenehmen Empfindung fühlen soll“.61 Die Eigenschaften gegebener Objekte, von Sulzer sachlich als Erkenntnis-Gegenstände thematisiert, erweisen sich, so zeigt es die Terminologie unmissverständlich an, stets zugleich als Eigenschaften des wahrnehmendes Subjekts: der „sie [die Seele, E.S.] rührenden Gegenstände“.62 Es ist dieser Sachverhalt, den die popularphilosophische Ästhetik im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in dezidiert ästhetiktheoretischer und psychologischer Wendung zu einer Theorie des ästhetischen „Interesses“ ausbauen wird.63 Sulzer, so lässt sich bis zu diesem Punkt der Argumentation festhalten, überbietet mit diesem Ansatz in der Tat den intellektualistischen Ansatz des Wolffschen Vorstellungs- und Lustbegriffs, ohne, so die entscheidende Einschränkung, die psychische Aktivität als passive (pathologische) Affizierung durch den wahrgenommenen Gegenstand zu entwerfen. Denn die Konzeptualisierung des empfindungsgebundenen Wahrnehmungsprozesses nach dem dynamistisch orientierten Schema des Begehrens erlaubt es zwar einerseits, die psychische Aktivität nicht mehr nur schlechthin als Tätigkeitsform der erkennenden Seele zu erfassen – ein Modell, das Wolffs epistemologische Prämisse vom Aktivitätscharakter der
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Vgl. Seel: Ästhetik und Aisthetik, S. 51–55. Sulzer: Untersuchung, S. 18; vgl. auch ebd., S. 43: „[…] Unser Geist hat einen nothwendigen Hang, sich von jeder Art der Schönheit rühren zu lassen“; S. 22: bei der angenehmen Empfindung sieht die Seele voraus, dass sie „Nahrung für ihren ursprünglichen Geschmack [Hervorh. E.S.] finden“ werde (ebd., S. 22). Ebd., S. 23, Hervorh. E.S. Im doppelten Bezug auf de Pouillys Theorem der „leichten Beschäftigung unserer Seelenkräfte“ sowie auf Garves allgemeine Theorie des Interesses (vgl. Christian Garve: Einige Gedanken über das Intereßirende, in: ders.: Popularphilosophische Schriften. Bd. 1, S. 161–347) transformiert Johann August Eberhard mit der Kategorie des „Interesses“ die hier von Sulzer als Erkenntnispsychologie formulierten Gedanken in ein rezeptionsästhetisches Erklärungsmodell der Lust am Schönen („schöne Werke“) und weitet sie vermögenspsychologisch auf: „Alles dasjenige, aus dessen Vorstellung wir Vergnügen erwarten, intereßirt uns [...] da wir [...] unsere Kräfte zur Hervorbringung der Vorstellungen nicht bestimmen können, als wenn wir von diesen Vorstellungen Vergnügen oder sinnliche Vorstellung der Vollkommenheit erwarten.“ Die „interessante Vorstellung ist entweder eine Erkenntniß des Verstandes oder eine Empfindung des Herzens [...].“ vgl. Eberhard: TSW II, § 29, S. 40–42, hier S. 41, Anm. 2.
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menschlichen Seele sachlich nicht zuließ.64 Auf der anderen Seite wird jedoch zugleich kenntlich, wie sehr Sulzers Entwurf einer eigentümlichen Doppelstruktur der ästhetischen Perzeption hier noch dem rationalistischen Muster der durch ihre Aktivität und Spontaneität bestimmten und mithin affekt-souveränen Seele verpflichtet bleibt. Das genuin rezeptive Moment der seelischen Vorstellungstätigkeit ebenso wie die somatologischen Aspekte der sinnlich-ästhetischen Wahrnehmung erscheinen als nachgerade nicht existent.65 2.2.3 Betätigungszwang und Lebhaftigkeit. Dubossche Prämissen Bei der lusttheoretischen Dynamisierung und Subjektivierung des Wolffschen Seelenbegriffs im Begründungszusammenhang der rationalistischen Erkenntnisphilosophie lässt es Sulzer jedoch nicht bewenden. Vielmehr bettet er seinen seelentheoretischen Ansatz, darin von Leibniz gleichermaßen wie von Wolff abweichend, in eine dezidiert anthropologische Argumentation ein und situiert die Seelenfakultäten des Erkennens und Begehrens in der natürlichen Bedürfnisstruktur des Menschen. Denn, so Sulzers erstes anthropologisches Argument im Rückgriff auf seinen anderen Hauptgewährsmann – Dubos66 – und zugleich in der Absicht einer rationalistischen Transposition von dessen sensualistischem Ansatz: Der Zwang zur unausgesetzten Betätigung der Seelenkraft, gleichsam als angeborener 64
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Im Unterschied zu Sulzers leibnizianischem Seelenbegriff ist Wolffs intellektualistisches Verständnis der menschlichen Affektsphäre durch die erkenntnistheoretische Voraussetzung gekennzeichnet, dass die Vorstellungskraft Grundlage sowohl der kognitiven als auch der affektiven Vermögensleistungen der Seele ist: Noch die pathetische Emotion ist demgemäß nicht passives Erleiden, sondern vorstellungsbestimmtes Abbilden eines seelischen Strebeprozesses. Affekt und Emotion (als starke Begierde oder Abneigung) richten sich auf zukünftige Vorstellungen, und werden durch das Vermögen der menschlichen Seele bestimmt, von einer Vorstellung zur nächsten überzugehen (vgl. Christian Wolff: Psychologia rationalis, methodo scientifica pertractata. Hildesheim u.a. 1994 [Nachdruck der Ausg. Frankfurt, Leipzig 21740], §§ 495–498; §§ 504ff.). Dieser Befund deckt sich in der Sache mit den zeitgenössischen Einschätzungen der Sulzerschen Lustpsychologie. So ordnet etwa der Kant-Schüler Karl Leonhard Reinhold Sulzers Ansatz weder den Theorien aus dem bloß „subjectiven Gesichtspunkte“ (für Reinhold sind das Dubos und de Pouilly) noch denen aus dem „objectiven Gesichtspunkte“ (Wolff, Mendelssohn) zu, macht gegen Sulzers Konzeption des Lustgeschehens jedoch zugleich den systematischen Einwand geltend, dass Sulzers Vorstellungsbegriff einseitig aktivistisch ausgerichtet sei: „Die Thätigkeit der Seele (das Vermögen Vorstellungen hervorzubringen) ist ohne Empfänglichkeit (Vermögen afficirt zu werden) bey jedem Wesen […] ein Unding.“ (Karl Leonhard Reinhold: Ueber die Natur des Vergnügens, in: Teutscher Merkur 1788 (Okt.), S. 61–79; ebd., 1788 (Nov.), S. 144–167; ebd., 1789 (Jan.), S. 37–52, hier S. 61, S. 158). Sulzers Rückgriff auf die Ästhetik Jean Baptiste Dubos’, trotz Martinos grundlegender Untersuchung (vgl. Martino: Geschichte der dramatischen Theorien) von der neueren Aufklärungsforschung geflissentlich übersehen (vgl. Riedel: Erkennen und Empfinden; Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung, S. 118), ist für die zeitgenössische Kritik leicht ersichtlich gewesen (vgl. z.B. Johann Christian Lossius: Neues philosophisches allgemeines Real-Lexikon oder Wörterbuch der gesammten philosophischen Wissenschaften. Erster Band. Erfurt 1803, S. 151).
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Selbstschutz gegen die vernichtende Langeweile, ist ihr wahrer „Grundtrieb“, das „ursprüngliche Bedürfniß unserer Seele [...].Nur vergebens würde man sich vorsetzen, unthätig zu bleiben; auch wider unsern Willen würde man von dieser Kraft seiner Seele gezwungen werden, Ideen hervorzubringen und zu vergleichen.“67 Auch Sulzers zweites von Dubos entlehntes Argument zielt auf eine anthropologische Abstützung der These, wonach im Empfindungsbegriff der erkennenden Seele Vorstellungs- und Begehrungssphäre bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander verschränkt seien. Dem Erkenntnistrieb der Seele, so der Autor weiter, eigne nicht nur die „Fertigkeit zu denken“, sondern zugleich eine spezifische „Lebhaftigkeit des Geistes“: die „lebhaftesten Temperamente sind auch die empfindlichsten, und am meisten zu großen Leidenschaften, großem Vergnügen und großem Verdrusse aufgelegt.“68 Nicht zuletzt die Nähe dieser Passage zur affekttheoretischen Begründung der Erkenntnis in der Wolff verpflichteten empirischen Vermögenspsychologie Baumgartens und Meiers Theorie der „rührenden Erkenntnis“69 vermag auf die begründungstheoretische Tragweite des Sulzerschen Ansatzes aufmerksam zu machen. Nicht die adäquate Repräsentation sinnlich gegebener Gegenstände bildet den Fluchtpunkt der Sulzerschen Argumentation, sondern die Wirkungen, unter denen das Subjekt sinnlich gegebene Gegenstände als für seine Lustinteressen geeignet hält. Der Grund für eine neue, empirisch-psychologisch begründete Theorie der ästhetischen Erfahrung für eine Ästhetik der Rührung ist der Sache nach damit gelegt.70 67
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Vgl. Sulzer: Untersuchung, S. 6f., S. 8, S. 10. „Bedürfnis“ ist, wie oben gezeigt, der Schlüsselbegriff in Dubos’ Analyse der Lustempfindung, die anthropologische Antithese zur Langeweile. „Unsere Seele hat ihre Bedürfnisse so gut, als unser Körper, und die Nothwendigkeit, die Seele zu beschäfftigen, ist eine der größten bey den Menschen.“ Vgl. Dubos: Kritische Betrachtungen, S. 6. (= „Erster Abschnitt: Von der Nothwendigkeit, beschäfftigt zu seyn [...]“). Dubos’ dezidiert sensualistische Ableitung des Empfindens zu übernehmen („die Seele überläßt sich [...] den Eindrückungen, welche die äusserlichen Gegenstände in sie machen“, vgl. ebd.), verbietet sich Sulzer freilich aufgrund seines eigenen, Wolffs Erkenntnistheorie und Psychologie verpflichteten Erklärungsansatzes: Emotionen sind Tätigkeiten der Seele. Sulzer: Untersuchung, S. 19. Im Abschnitt zu den sinnlichen Vergnügungen (S. 50ff.) weitet Sulzer dieses Argument zur Erklärung der Verschiedenheit des Geschmacks auf der Basis der temperamentbedingten Konstitution aus (vgl. bes. S. 59ff.) Vgl. Baumgarten: Metaphysik. Neue vermehrte Auflage. [Hrsg. von Johann August Eberhard.] Halle 1783 [Sigle: Mph], § 491, S. 240 (= „Der 16. Abschnitt. Von dem Begehrungsvermögen“): „Das Gesetz des Begehrungsvermögens ist: ich bestrebe mich hervorzubringen was mir gefällt, was ich zugleich vorhersehe [Hervorh. E.S.], und wovon ich erwarte, daß es durch mein Bestreben werde würklich werden [...]“. Vgl. ebd., § 439, S. 241f.: Vorstellungen auf der Basis des Begehrens („Triebfedern des Gemüths“) „bestehen also in dem Vergnügen und Mißvergnügen über den Gegenstand, nicht nur in so ferne er an sich betrachtet gefällt und mißfällt, sondern in so ferne er auch in den Umständen, in welchen er vorhergesehen wird, und in Betrachtung der Kräfte gefällt und mißfällt, von welchen man erwartet, daß sie zureichend seyn werden, ihn hervorzubringen und zu verhindern. Eine Erkenntniß, in so ferne sie Triebfedern des Gemüths enthält, ist eine rührende.“ Es bleibt hier also nicht bei der bloßen Quantifizierung des Psychischen, jenem Modell einer vorstellungstheoretischen Deduktion der Wirklichkeitswahrnehmung, das Eberhard in seiner
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2.2.4 Rückversicherungen in der Schönheitsmetaphysik Sulzer ist in seiner ästhetisch-psychologischen Frühstudie jedoch zunächst andere, im Ganzen betrachtet, konventionellere Wege gegangen. Im Zentrum der weiteren Ausführungen, der „Theorie der intellektuellen Vergnügungen“, steht der Nachweis, dass „der Geschmack für das Sinnliche, der Geschmack für das Schöne, die Empfindung für das Gute [...] von einerley Ursache herrühren“, d.h. sich der intellektuell tätigen Seele verdanken.71 Die Synthese aus traditioneller Kunsttheorie bzw. Schönheitsmetaphysik und dem eigenen appetenztheoretischen Seelenmodell bildet in den Folgeabschnitten hierfür das Grundgerüst. So erklärt Sulzer die „Wirkung des Schönen auf uns“, gegenstands- und subjektbezogene Argumentation dabei zusammenführend, durch die Verbindung einer philosophischen Deduktion des „Wesen[s] der Schönheit“72 mit der erkenntnispsychologischen Reflexion der „Art und Weise [...], wie es [das Schöne, E.S.] die angenehme Empfindung in der Seele hervorbringt.“73 Das von Sulzer auch in diesem Abschnitt herangezogene appetenztheoretische Seelenmodell und die mit demselben geleistete Subjektivierung der Wahrnehmungs- und Erkenntnisleistungen (der schöne Gegenstand als Beute der vorstellenden bzw. begehrenden Seele als Gegensatz interesselosen Wohlgefallens) wird durch den objektivierenden Zugriff ‚von oben‘ gleichsam wieder eingeholt:74 Erst recht die Lust am Schönen ist Erkenntnislust.75 Dass Sulzer weder die Empfindungen noch den Geschmack, sondern Verstand und Einbildungskraft hier zu den
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Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens (siehe oben, Abschnitt V.1) wiederbeleben sollte. Sulzer: Untersuchung, S. 91. Ebd., S. 25. Sulzer greift – hierauf hatte Baeumler bereits hingewiesen (vgl. Baeumler: Irrationalitätsproblem, S. 43f.) – auf den erstmals von Crousaz in den ästhetischen Diskussionszusammenhang eingebrachten und mit Leibniz’ Theorem der Einheit in der Vielheit kompatiblen metaphysischen Schönheitsbegriff zurück, der im zeitgenössischen Ästhetikdiskurs die gängige Formel für die objektivistische Definition des Ästhetischen (‚von oben‘) bildete. Schönheit ist demgemäß definiert als „die Einheit im Mannichfaltigen, oder das Mannichfaltige auf Einheit zurückgebracht“. Sulzers Rückversicherung in der Schönheitsmetaphysik komplementiert damit den aisthetischen Definitionszugang (‚von unten‘) durch die Reinstallation desjenigen Begriffs, der die Basis der metaphysischen Schönheitsformel bildet: Vollkommenheit. Zu den Grundkoordinaten der Vollkommenheitskategorie des 18. Jahrhunderts vgl. jetzt (unter Berücksichtigung der internationalen Verwendungskontexte): Josef Früchtl, Sibille Mischer: Art. „Vollkommenheit“, in: ÄGB VI, S. 367–397, bes. S. 374ff. Sulzer: Untersuchung, S. 37ff. Vgl. ebd., S. 38. Sulzers Unterstreichung der Subjektbezüglichkeit auch der Urteilsfunktion des Geschmacks hat die zeitgenössische Diskussion nicht durchgängig gelten lassen. Wie das Beispiel des philosophischen Lehrers Schillers, J. F. Abel zeigt, konnte im engeren philosophiehistorischen Diskussionkontext durchaus auch noch die Auffassung vom ästhetischen Geschmack als Affizierung von „Vergnügen und Misvergnügen durch [...] blosse Vorstellung, ohne eigenthumliche Beziehung der Gegenstände auf uns“ dominieren (vgl. Jacob Friedrich Abel: Aesthetische Säze. Von dem Geschmak überhaupt [1777], zitiert nach Wolfgang Riedel: Influxus physicus und Seelenstärke. Empirische Psychologie und moralische Erzählung in der deutschen Spätaufklärung und bei Jacob Friedrich Abel, in: Jürgen Barkhoff, Eda Sagarra (Hg.): Anthropologie und Literatur um 1800. München 1992, S. 24–52, hier S. 39).
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für die Perzeption des Schönen zuständigen Vermögen der vorstellenden Grundkraft erklärt, kann nach diesem Schritt nicht mehr verwundern.76 Mit seinen generellen ästhetiktheoretischen Schlussfolgerungen – demonstriert am Geschmacksbegriff – bewegt sich Sulzer schließlich auf einer Höhe mit den streng rationalistischen Kritikern der französischen sentiment-Theorie.77 Ästhetische Wahrnehmungs- und Erkenntnisvollzüge werden entsprechend als kenntnis- und wissensgebundene Leistungen des Subjekts deklariert; sie sind prinzipiell auf gegenstandsbezogene Merkmale zurückführbar. Die dem richtigen, d.h. singulären und demonstrierbaren (d.i. guten) Geschmack entsprechende Erfahrung des Schönen ist, so Sulzers Fazit, „eine nothwendige Folge der Erkenntniß und Einsicht“, „wenn das Schöne seine Wirkung thun soll, [muß] man es kennen“.78 Von einer anthropologischen Sicherstellung des Geschmacksvermögens als autonomer ästhetischer Kompetenz des Psychischen wird man hier weniger sprechen können denn von einem bemühten Anschluss an die Geschmacks-Bildungs-Thematik. Es kennzeichnet den ambivalenten Grundcharakter dieser Abhandlung und ihre historische Stellung, dass der in ihr unternommene Versuch einer homogenen Erklärung des Sinnlichen durch die Leistungen des Intellekts dem ungeachtet nicht auf einer Geringschätzung der menschlichen Sinnennatur basiert, sondern im Gegenteil, auf ihrer anthropologischen Hochschätzung. In dem eigenständigen Abschnitt zu den „Vergnügungen der Sinne“, der Sache nach eine Theorie der sinnlichen Empfindungen, ihrer neuro- und sinnesphysiologischen Funktions- und Wirkungsgesetze, formuliert Sulzer denn auch alles andere als eine generelle Absage an die Sinnlichkeit der äußeren Sinne. Mit dem expliziten Nachweis ihrer anthropologischen und wirkungspsychologischen Geltung79 steuert Sulzer vielmehr abermals auf eine Ästhetik auf der Basis der Emotionen, der sinnlichen Rührung zu 76 77
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Vgl. Sulzer: Untersuchung, ebd., S. 25ff. Neben Gottsched vertreten in den dreißiger Jahren am entschiedensten Bodmer und Breitinger die Auffassung von der ‚Rationalität‘ (Demonstrierbarkeit) des Geschmacks, seiner Zurückführbarkeit auf begriffliche (Verstandes-) Erkenntnis, und verteidigen diese Position noch 1736 im Brief-Wechsel Von der Natur des Poetischen Geschmackes (mit dem italienischen Philosophen Pietro de Calepio) vehement gegen dessen Auffassung, die Urteilskompetenz der ästhetischen Geschmackserfahrung sei in der sinnlichen Natur des Subjekts gegründet (vgl. zum Problemgehalt des Briefwechsels ausführlich: Martino: Geschichte der dramatischen Theorien, S. 56ff.; zum Geschmacksbegriff der Schweizer vgl. zuletzt: Wilhelm Amann: ‚Die stille Arbeit des Geschmacks‘. Die Kategorie des Geschmacks in der Ästhetik Schillers und in den Debatten der Aufklärung. Würzburg 1999, S. 254ff.). Sulzer: Untersuchung, S. 46f. Bildungs- und kulturanthropologischem Eurozentrismus leistet Sulzer im Rahmen dieser Argumentation Vorschub, wenn er mit Blick auf die „Verschiedenheit des Geschmacks“ attestiert, dass sie „nur bei Unwissenden und Halbkennern [stattfinde]“ (S. 47). Die Intellektkultur des aufgeklärten Europa ist ihm zufolge freilich auch die Möglichkeitsbedingung anthropologisch umfassender Vergnügungsformen: „nur die gesitteten und aufgeklärten [Völker] schwimmen [...] in einem Meere von Vergnügungen umher“, welche sinnlichen und intellektuellen Fähigkeiten in gleicher Weise Rechnung tragen (S. 49). Ihrer anthropologischen Stellung nach gehören die Sinnesempfindungen nach Sulzer zu den „Triebfeder[n] der Handlungen“ (vgl. ebd., S. 52); zugleich interessieren sie „in Absicht der Lebhaftigkeit der Empfindungen, die sie erregen“ (S. 60).
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um am Ende der komplexen Argumentation den Empfindungen eine anthropologische und ästhetische Führungsrolle schließlich dennoch abzusprechen. So hält der bemerkenswerte Befund über den Stellenwert der Sinnesempfindungen am Ende des Abschnitts fest, dass sie den intellektuellen Lustempfindungen sowohl in allgemein anthropologischer als auch in Hinsicht auf ihre sinnlich-ästhetische Wirksamkeit überlegen sind: Als Ausdruck des „thierischen Theil[s] unserer Natur [...], vertreten [sie] die Stelle des Räsonnements, wo sich dieses nicht anbringen läßt.“80 In dieser Eigenschaft erwecken sie, wie Sulzer gestützt auf die zeitgenössische Sinnes- und Neurophysiologie wie etwa die Johann Gottlob Krügers formulieren kann, erstens „eine stärkre Empfindung“ als jene; zweitens sind sie ohne vorausgehendes deutliches Erkennen genießbar.81 Dieser offenkundigen Affirmation der anthropologischen Basisgeltung sinnengeleiteter Erfahrung Sinnesempfindungen verkörpern, so Sulzer ausdrücklich, das „Interesse der menschlichen Natur“82 opponiert indessen ihre prompte Zurückweisung von der Warte der sittlichen Geltung aus. Denn nicht dass sie die Emotionen der Wahrnehmungsakte von der Sinnennatur aus positiv stimulieren, sondern dass sie „starke und gefährliche Leidenschaften erwecken“83 und mithin den tierischen Teil der menschlichen Natur dominieren lassen, kennzeichnet die sinnliche Lust und lässt sie in einer entscheidenden Hinsicht gegenüber den intel-
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Ebd., S. 75. Vgl. ebd., S. 74f. Im Unterschied zu den hier akzentuierten Schwerpunkten der Sulzerschen Argumentation hat Wolfgang Proß in Sulzers psychophysiologischem Erklärungsansatz („Physiologisierung“) den Hauptfluchtpunkt der Argumentation gesehen und – unter Rekurs auf die physiologisch-naturwissenschaftlichen Theorien der Schule G. E. Stahls und J. G. Krügers – als die maßgebliche theoretische Innovationsleistung der Abhandlung zu untermauern versucht (vgl. Wolfgang Proß: ‚Meine einzige Absicht ist, etwas mehr Licht über die Physik der Seele zu verbreiten‘. Johann Georg Sulzer (1720–1779), in: Hellmut Thomke, Martin Bircher und W. Proß (Hg.): Helvetien und Deutschland. Kulturelle Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 1770–1830. Amsterdam, Atlanta 1994, S. 133–148, bes. S. 141, S. 148). Wie Nowitzkis erschöpfende Studie zum Interaktionsfeld von philosophischer und physiologischer Wahrnehmungs- und Empfindungstheorie in der vordisziplinären deutschsprachigen Aufklärungsanthropologie (Krüger, Unzer) zuletzt gezeigt hat, bot Krügers physiologische Theorie der Empfindungen für Sulzer de facto eine Reihe von Anschlussmöglichkeiten, das Problem der sinnlichen Wahrnehmung von naturwissenschaftlicher Seite aus zu stützen (vgl. Nowitzki: Aufklärungsanthropologien, bes. S. 33ff.). Angesichts der Pluralität der von Sulzer hier erprobten Ansätze zur Sprengung des traditionellen Vorstellungsparadigmas in der Wahrnehmungs- und Lusttheorie und namentlich in Anbetracht von Sulzers offenkundigen Schwierigkeiten, den sinnesphysiologischen Ansatz in schlüssigen Zusammenhang mit der vorstellungstheoretischen Deduktion der Eingangspassagen der Abhandlung zu bringen, scheint eine alle Aspekte des Sulzerschen Neuansatzes homogenisierende Rekonstruktion in der Tat wenig wünschenswert bzw. sinnvoll. (Zu dem damit verbundenen Problem einer konsistenten Bewertung des moralphilosophisch argumentierenden Schlussabschnitts der Sulzerschen Untersuchung vgl. Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung, S. 197, Anm.). Sulzer: Untersuchung, S. 74. Daraus folgt, so Sulzer abermals mit Blickrichtung auf eine Theorie der sinnlichen Rührung, dass „die größten Vergnügungen auch die begehrungswürdigsten seyn müssen“ (ebd.). Ebd., S. 74f.
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lektuellen Vergnügungen zurücktreten. Der der Seele drohende Autonomieverlust durch die sinnengeleiteten Erfahrungsformen, nach Einschätzung des Popularphilosophen im übrigen auch ein Resultat der mangelnden Reproduzierbarkeit sinnlich-ästhetischer Lustimpressionen,84 wiegt in der Summe höher als die Empfindungsintensität der Sinnenlust. Gegen den drohenden Kontrollverlust einer im affektiv-emotionalen Sinneseindruck schwelgenden ästhetischen Erfahrung setzt Sulzer die Hoheitsforderung des die Sinneserfahrung reflektierenden und geistig genießenden Subjekts, das sich noch im Ästhetischen intellektuell relevanter „Güter“ zu vergewissern trachtet.85 Die Unentschiedenheit hinsichtlich der Ausmittelung einer tragfähigen Verhältnisbestimmung sinnlicher und intellektueller, aisthetischer und anaisthetischer Erfahrungsformen löst sich damit auf: Wahrhaftige Lust ist intellekt-, nicht sinnenbestimmt. Deren Wirkungspotential, so formuliert Sulzer nunmehr bereits als Fürsprecher einer ethisch respektive eudämonistisch orientierten Ästhetik, realisiert sich in der ästhetischen Praxis eines unschuldig vergnügten, seine Vorstellungen stets gleichmäßig reproduzierenden Verstandes.86 Das höchste Vorrecht der intellektuellen Lustempfindung dokumentiert sich im Zusammentreffen von appetitivem Selbstgenuss und geistiger Selbstvervollkommnung.87 Ethische Zwecksetzungen (Vervollkommnung in geistig-moralischer Hinsicht) als Voraussetzung der Gültigkeit der ästhetischen Erfahrung: Mit der Bestätigung des pejorativen Vorurteils über die Schädlichkeit intensiver leidenschaftlicher Sinnesempfindungen pendelt Sulzers anthropologische Affirmation der Sinneswahrnehmung in seiner frühen Untersuchung zur Lust gleichsam aus. Als Mittel der bloßen Selbst-„Erhaltung“ wird die Aisthesis letztlich dem Begehren des Begrifflichen, des Intellekts unterstellt: „Ich schließe also aus dem allen, daß die intellektuellen Vergnügungen den sinnlichen vorstehen müssen.“88 Allein von dieser Basis aus, so die genuin popularphilosophische Conclusio dieser Argumentation, ist „unsre Natur der Vollkommenheit zu nähern, in welcher das höchste Gut besteht.“89 84 85
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Vgl. ebd., S. 75f. Vgl. ebd., S. 76: Einzig die „intellektuellen Gegenstände sind Güter, die wir in unserm völligen Besitze haben, die in dem Grunde der Seele Wurzel schlagen und ihr niemals entrissen werden.“ Vgl. ebd., S. 75f., hier S. 75: Die „sanftern, [...] die unschuldigern Vergnügungen des Verstandes ertheilen der Seele eher Stille und Ruhe, als daß sie Leidenschaften in ihr erwecken sollten, die sie zu schändlichen Ausschweifungen erniedrigten.“ Ebd., S. 76: Man kann intellektuelle Lust „nämlich nicht genießen, ohne zugleich seine intellektuelle Fähigkeit vollkommner zu machen“. Ebd., S. 77. Gut 25 Jahre später hat der Pädagoge J. H. Campe (im Rahmen seiner Beantwortung der von Sulzer reformulierten Frage nach dem Differenzpunkt von Erkenntnis- und Empfindungsvermögen der menschlichen Seele, vgl. oben, Abschnitt V.) in Sulzers Plädoyer für eine Prädominanz des Intellektuellen gegenüber dem Sinnlichen eine unzulässige Hierarchisierung der sinnlichen Empfindungen unter moralischen Gesichtspunkten erkannt und in direkter Bezugnahme auf Sulzers entsprechende Passagen als anthropologisch ungerechtfertigte und historisch überholte Position erklärt. „Wir haben“, so hält Campe mit Nachdruck fest, „bey weitem nicht Ur-
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Von den sinnlichen Empfindungen, der sensuellen Aisthesis aus, so lässt sich mit Blick auf die hier verfolgte Fragestellung zusammenfassen, führt in Sulzers früher Lusttheorie kein direkter Weg zu einer Ästhetik der Sinneserfahrung. Als anthropologisches Basisdatum bzw. Element der tierisch-menschlichen Triebnatur zwar in grundsätzlicher Weise anerkannt, eignet sich die lustvolle sinnengeleitete Wahrnehmung gleichwohl nicht zur ästhetischen Sublimierung. Auch wenn Sulzers Ansätze für eine Aufwertung der inneren Sinnlichkeit hier nicht zu übersehen sind, kommt dieselbe – als eine dem kognitiven Vorstellen gegenüber autonomisierte Form ästhetisch relevanter Sinneswahrnehmung – konzeptionell nicht wirklich in Betracht. Sulzers ästhetisch-psychologische Frühschrift bleibt damit insgesamt noch weitestgehend in den Bahnen einer Ästhetik der Vorstellungen. Von Baumgartens Ästhetikkonzept durch die Art der anthropologischen Zurückbindung des Erkennens an den Dynamismus des Begehrens unterschieden – Leibniz und Dubos vertreten bei Sulzer die Stelle der Baumgarten-Meierschen vita cognitionis – stimmen Sulzers ästhetisch-psychologische Überlegungen mit dem Ästhetikbegriff des Disziplinbegründers gleichwohl in der anaisthetischen Ausgangskonzeption überein: hinsichtlich der Bewertung der rezeptiven Tätigkeiten als aktiven Vorstellungsleistungen des Subjekts. Das mag im historischen Abstand als begründungstheoretische Reserve dieser Frühschrift popularphilosophischer Ästhetik erscheinen; für die Zeitgenossen Herder war einer der ersten bot Sulzers empfindungstheoretischer Ansatz gleichwohl vielversprechendes Material genug, um die Ansätze zu einer „künftigen Ästhetik“ wahrzunehmen.90
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sach, uns der sinnlichen Empfindungen, die sich zur Vervollkommnung unserer geistigen Natur so wohlthätig erweisen, zu schämen, ohngeachtet wir sie mit unsern verachteten Nebengeschöpfen, den Thieren gemein haben.“ Über den anthropologischen Wert der Lustarten entscheidet vielmehr die jeweilige Lebensform, der spezifische Gebrauch der Kräfte, wonach „Uebermaaß der intellectuellen Vergnügungen“ ebenso eine Form des Mißbrauchs der Seelenvermögen darstellen kann (vgl. Campe, Empfindungs- und Erkenntnißkraft, S. 68, Anm., S. 69). Die Rehabilitation der Sinnlichkeit, die sich hier auf das Nachdrücklichste im Feld der pädagogischen Anthropologie artikuliert, dokumentiert sich wenige Jahre später schließlich auch unmittelbar im moralphilosophischen Reflexionszusammenhang: als philosophiehistorische Schelte auf das moralisch falsch verstandene sinnliche Vergnügen im Kontext der Bestimmung des Menschen (vgl. Platner: Philosophische Aphorismen, S. 41ff., Anm.). Die längere Würdigung der Sulzerschen Abhandlung durch Herder, die freilich auch Kritisches anmeldet, lautet im Detail: „Sulzers Theorie der Empfindungen [...] ist [...] ein kleines Monument in Deutschland, das unter so vielem Ästhetischen Schutte dasteht, der Hand eines Leibniz und Wolfs würdig. Alles fließt in ihr aus einem Einfachen und so Mannichfaltigen, immer regen, immer würksamen Principium der Menschlichen Seele [...]. [...] Dem ganzen formellen Teil nach ist dies kleine Werk seinem kleinsten Teil nach eine Metaphysische Basis zu einer künftigen Ästhetik.“ (Herder: Sämmtliche Werke IV, S. 144).
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2.3 Von der anthropologischen Vermögenstheorie zur Psychologie des ästhetischen Zustands. Sulzers Theorie des Gefühls (1763) Sulzer hat die Tragfähigkeit seines ästhetikgeschichtlich bedeutsamen Ansatzes – die Thematisierung des Zusammenhangs von Kognition und Emotion, Gegenstandserkenntnis und Selbstwahrnehmung – bereits gut zehn Jahre später in einer weiteren Akademieabhandlung unter Beweis gestellt: den Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen, und des Vermögens zu empfinden, befindet (1763).91 Wie die Ausgangsformulierungen einschließlich des Titels anzeigen, ist der seelentheoretische Ausgangspunkt gegenüber der früheren Abhandlung substantiell verändert, die Hegemonialstellung des Erkenntnisvermögens scheint zugunsten eines paritätischen Vermögensmodells aufgehoben. Näher besehen lässt sich darüber hinaus von einer anthropologisch-ästhetischen Doppelthematisierung der Wahrnehmungsleistungen Erkennen und Empfinden sprechen. In anthropologischer Hinsicht handelt es sich (Stichwort „Vermögen“) zunächst um eine genauere Bestimmung der vermögenspsychologischen Grundlagen kognitiver und emotiver Wahrnehmungen, mithin auch um die Differenzbestimmung zwischen jenen beiden Vermögen, welche die Quellen aller ihrer [der Seele, E.S.] Bestimmungen und Veränderungen sind: Das eine ist das Vermögen, sich etwas vorzustellen, oder die Beschaffenheiten der Dinge zu erkennen; das andere, das Vermögen zu empfinden, oder auf eine angenehme oder unangenehme Art gerührt zu werden.92
Über dieses Thema hinaus gelangt bereits mit der Titelformulierung (Stichwort „Zustand“) ein weiterer, psychologisch-ästhetischer Problemzusammenhang in das Blickfeld. Sulzer geht es um die Frage nach den Spezifika des je „verschiedenen Zustand[s]“, in welchem sich die Seele bei der Inanspruchnahme ihrer beiden Grundvermögen befindet. Der Problemkomplex der früheren Abhandlung, die 91
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Enthalten in: Sulzer: VPS, S. 225–243. Die vielfältige Berücksichtigung von Sulzers Studie innerhalb der philosophie-, ästhetik- und anthropologiehistorischen Forschung erübrigt eine umfassende Rekonstruktion der Einzelargumentation (vgl. insbes. Riedel: Erkennen und Empfinden, S. 415–419; M. Heinz: Sensualistischer Idealismus, S. 113–117 sowie zur kritischen Würdigung vorliegender Deutungen Torra-Mattenklott, Metaphorologie der Rührung, S. 267, Anm. 106). Die hier vollzogene Deklaration psychischer Erfassungsleistungen zu autonomen Gebieten der psychischen Wahrnehmungs- und Tätigkeitssphäre („Vermögen“) ist neu, wenngleich ohne die Entschiedenheit des hier vorliegenden Zugriffs in einer zwei Jahre zuvor veröffentlichten Akademieabhandlung Sulzers in ihren Grundlinien präfiguriert: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: Daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe handelt und urtheilt (enthalten in: Sulzer: VPS, S. 99–121.) Sulzer etabliert in dieser Schrift das Modell der Subjektgerichtetheit der Vorstellungen, als ein vom vorstellenden „Verstand“ ablösbares Korrelat der dunklen Vorstellungen der Seele: Das Empfinden der Seele wird damit tendenziell gegenüber den kognitiven Seelentätigkeiten verselbständigt.
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Eigentümlichkeit der kognitiven und sinnlich-ästhetischen Selbstwahrnehmung, ist offenkundig wieder aufgegriffen. Beide Argumentationsstränge, so die im Folgenden zu belegende These, konvergieren in einer Psychologie des ästhetischen Zustands, mit der Sulzer zu einer differenzierenden Verhältnisbestimmung von Gegenstandswahrnehmung und Selbstwahrnehmung gelangt.93 Theoretische Grundannahmen der früheren Abhandlung erfahren dabei eine differenzierende Fortentwicklung und werden einer prinzipiellen Revision unterzogen. 2.3.1 Selbstbezüglichkeit ohne Erkenntnischarakter. Der Neuansatz zu einer Anthropologie der Emotionen Sulzers mit selbstverständlichem Gestus vorgetragener begründungstheoretischer Neuansatz ist, wie in der Forschung hervorgehoben wurde, radikal: die Dichotomisierung der Seele in die beiden grundverschiedenen Vermögen Erkenntnis und Empfindung bei der Ausübung beider Vermögen „scheint die Seele [...] verschieden von ihr selbst zu sein“94 sprengt das intellektualistische Paradigma (Seele als vis repraesentativa, Inbegriff der kognitiven Vermögen) gleichsam an der Wurzel.95 Schon die veränderten anthropologischen Vorentscheidungen verdeutlichen das Ausmaß der theoretischen Neuakzentuierung: Denken und Empfinden gelten jetzt als gleichwertige Modi seelischer Tätigkeit.96 Ebenso fallengelassen ist der ursprünglich vorstellungsdynamische Ansatz, der auf eine Konvergenz von Erkenntnis und Appetenz im Vorstellungsbegriff (auf der Ebene der Erkenntnisvermögen) zielte. Dessen affektiv-emotionales Potential wird jetzt, wie zu zeigen, von einem eigenen Vermögensbegriff, den „Empfindungen“, getragen.
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Die Zusammengehörigkeit der beiden Fragestellungen nach ‚Zustand‘ und ‚Vermögen‘ ist evident – ein Sachverhalt, den Sulzer durch die notorischen terminologischen Inkonsistenzen selbst anschaulich belegt. Einen dritten Problemkreis neben den bereits genannten bildet der Zusammenhang von (sinnnlich-emotiver) Determination und Freiheit, Triebnatur und Vollkommenheit Sulzers dezidiert ethische Problematisierung der Empfindungen am Ende der Abhandlung (vgl. Anmerkungen, S. 241ff.). Ebd., S. 225. Am pointiertesten vgl. Riedel: Erkennen und Empfinden, S. 415ff. Dass Sulzer hier allerdings nicht „das Phänomen der Spaltung in zwei Seelen“ im Auge hat (vgl. M. Heinz: Sensualistischer Idealismus, S. 116), und das heißt, die Kohärenzierungsleistungen der Seele gerade nicht demontiert, zeigt der weitere Gang der Argumentation zur Genüge. Der Vergleich mit den analogen Passagen der Sulzerschen Untersuchung (1751/52) verdeutlicht die neuen Akzentsetzungen. Dort hieß es noch, dass die „Hervorbringung von Ideen“ bzw. „das standhafte Bestreben [...], seinen Geist oder seine Einbildungskraft mit Gegenständen zu unterhalten, die ihm Materie zum Denken geben“, den Inbegriff der spezifisch menschlichen Tätigkeit bilde, vgl. Sulzer: Untersuchung, S. 6.
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2.3.2 Philosophiehistorische Vorlagen. Johann Bernhard Merians Rationalismus- und Sensualismuskritik Für die Beurteilung der Sulzerschen Begründungsleistungen bezüglich des anthropologisch-ästhetischen Neuzugriffs auf die Seelenvermögen ist an dieser Stelle nicht nur der Hinweis auf den breiten Fundus philosophiehistorisch älterer Theorieangebote unerlässlich, auf den der philosophisch gebildete Popularphilosoph zurückgreifen konnte,97 sondern im Besonderen auch der auf Johann Bernhard Merians ebenfalls als Akademieschrift erschienene Abhandlung über die Dichotomie von Empfindungen und Vorstellungen: Parallele der beiden Prinzipien der Psychologie, der Empfindungs- und der Vorstellungskraft (1757), aus welcher Sulzer mit hoher Wahrscheinlichkeit die wichtigsten Anregungen für eine Revision seines emotionstheoretischen Erstansatzes empfangen hat.98 Im Rahmen eines weit ausholenden philosophiehistorischen Rekurses hatte Merian in dieser Akademieschrift eine Kritik an der Einseitigkeit rationalistischer und sensualistischer Erkenntnisprinzipien formuliert, wonach „alle Seelenvermögen und alle Operationen des menschlichen Verstandes“ entweder (wie in Condillacs Sensualismus als Radikalisierung des Lockeschen Empirismus) auf das „Empfindungsvermögen“ bzw. die „Sensation“ zurückzuführen seien, oder (wie in Leibniz’ Rationalismus) auf das Prinzip der „Vorstellungskraft“ bzw. auf die „Repräsentation“.99 Merians Kritik etablierter systemphilosophischer Grundprinzipien 97
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Sulzer verweist im Aufsatz selbst auf „die Meynung der alten Philosophen, daß es zwo Seelen in dem Menschen gebe, eine vernünftige und eine empfindende [...]“ (ebd., S. 225). Die dichotomische Zuspitzung des Gegensatzes von Rationalität und Sinnlichkeit, menschlicher Geistund Triebnatur in der Vermögenspsychologie des 18. Jahrhunderts sie wird am offensichtlichsten in Wolffs Unterscheidung in obere und untere Begehrungsvermögen (vgl. Wolff: Ausführliche Anmerkungen, § 141, S. 227–231) findet sich sowohl in der Platonischen Seelenlehre (als Unterscheidung zwischen unvernünftiger (‚sterblicher‘) Organisation und vernünftiger (‚unsterblicher‘) Seelentätigkeit als auch in der Aristotelischen Psychologie, in der die Dreiteilung der Seele in anima vegetativa, sensitiva und rationalis üblich war. Darüber hinaus kannte auch die Augustinische Psychologie die Differenz zwischen anima rationalis (Sitz des Geistes und Willens) und anima irrationalis (Trieb, sinnliche Wahrnehmung und Gedächtnis). Alle diese, hier als unmittelbare Quellen für Sulzers vermögenspsychologischen Neuzugriff nicht näherhin zu verifizierenden historischen Theorievorlagen kommen als mögliche Einflussfaktoren in Betracht und werden – sowohl Zedlers Erörterungen zum Problemfeld wie Platners kritische Exkurse zu den historischen Konzeptionen von Erkenntnis- und Willensvermögen belegen das – im zeitgenössischen Kontext präsent gehalten (vgl. Johann Georg Heinrich Zedler: Grosses Vollständiges Universal=Lexicon aller Wissenschaften und Künste, 36. Bd., Leipzig und Halle 1743, Art. „Beschaffenheit der Seele“, Sp. 1060–1087; Platner: Philosophische Aphorismen. Anderer Theil, Leipzig 1782, § 384, S. 162–170). Johann Bernhard Merian: Parallele der beiden Prinzipien der Psychologie, der Empfindungsund der Vorstellungskraft, in: Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte, Hg. von Michael Hissmann, Göttingen, Lemgo 1783, 6. Bd., S. 177–204. Merian: Parallele der beiden Prinzipien, S. 178f. Der Schweizer J. B. Merian (1729–1807) gehörte wie Sulzer zu den ersten Mitgliedern der Klasse der spekulativen Philosophie an der Berliner Akademie und veröffentlichte, wenngleich deutlich stärker als Sulzer an erkenntnistheoretischen Fragestellungen arbeitend, auch zu psychologischen Themenstellungen wie etwa über das Phänomen des Verlangens (Sur le désir). Manfred Frank hat zuletzt Merians bewusst-
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erschöpft sich allerdings nicht in dem Einwand gegen die Spielarten rationalistischer bzw. sensualistischer Verabsolutierung gegensätzlicher Seelenkompetenzen (Sinneswahrnehmung versus Apperzeption),100 sondern benennt in einem ersten Schritt einen blinden Fleck dieser Ansätze mit Bezug auf die wahre Vermögenskomplexität des „natürlichen Menschen“,101 um von diesem – anthropologischlusttheoretischen – Argument aus in einem zweiten Schritt genau ins Zentrum der Frage nach einem psychologisch autonomen Vermögensbegriff, den Empfindungen, zu zielen. Denn „was […] eine Empfindung angenehm oder unangenehm“ macht, wodurch mit anderen Worten ihre Eindrucksqualitäten mit Bezug auf das wahrnehmende Subjekt bestimmt werden, kann nach Merian auf der Basis der genannten Prinzipien nicht beantwortet werden und geht im Begriff der sensation keinesfalls auf.102 Die zum Schluss der Abhandlung aufgeworfene Frage, die die Parallelität mit der Sulzerschen Problemstellung vollends evident macht, geht allerdings über die bloße Benennung der konstatierten Aporie innerhalb der zeitgenössischen Theorieangebote nicht hinaus und bleibt eine schlüssige Stellungnahme schuldig: seinstheoretische Ansätze in den Akademie-Abhandlungen in den Kontext der frühen Selbstgefühls-Theorien um die Mitte des 18. Jahrhunderts gestellt und auf einer breiten Autorenlinie bis zu Tetens, Platner, Hissmann und anderen verfolgt (vgl. Frank: Selbstgefühl, S. 86, S. 154ff.). Zu Merians Publikationen im Rahmen seiner Akademietätigkeiten vgl. die Übersicht bei Harnack: Geschichte der königlich preussischen Akademie, Bd. 1, S. 468; zur philosophiehistorischen Stellung Merians als Eklektiker siehe Friedrich Ueberweg: Grundriß der Geschichte der Philosophie der Neuzeit bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts. 9. Auflage. Hg. von Max Heinze. Berlin 1901, S. 223f. 100 Das grundsätzliche Dilemma seines traditionskritischen Ansatzes vermag Merian indes nicht aufzulösen. Denn mit seiner überwiegend prinzipientheoretisch geführten Diskussion, die die Vermögen des Psychischen unter ein singulares Prinzip zu subordinieren sucht, verstellt er sich geradewegs den Zugang zu jener vermögens-psychologischen Auffassung des Vermögensproblems, die seine Kritik namentlich an Condillac der Sache nach intendiert, – und auf die die Argumentation am Ende der Abhandlung schließlich direkt zusteuern wird: „Unsre Seele empfindet; unsre Seele räsonniret. Durch die Erfahrung entdecken wir diese beiden Vermögen in der Seele. Aber welches von beiden ist der anderen untergeordnet? Ist das Empfinden eine Art von Räsonnement? Oder aber ist das Räsonniren einer Art von Empfinden? Die ganze Frage kann unter diesen Gesichtspunkt gebracht werden.“ (ebd., S. 188). „Wenn aber das Vergnügen und der Schmerz nicht die Sensation selbst sind, welche gefällt oder mißfällt: so müssen Vergnügen und Mißvergnügen besondere innere Empfindungen seyn, die sich […] zu den Operationen unserer Seele gesellen.“ (ebd., S. 201f.). 101 Merian: Parallele der beiden Prinzipien, S. 178. 102 Ebd., S. 201. Was Merian hier namentlich gegenüber Condillacs soeben erschienenem Traité des systèmes (1749) einklagt, löst Condillac mit seinem Traité des Sensations (1754) allerdings mit systematischem Erklärungsanspruch ein. Condillac unternimmt in dieser Abhandlung bekanntlich nicht nur den Versuch, den Erkenntnisinhalt genetisch aus den Sinnen (sensations) abzuleiten, sondern schreibt der von ihm als Erklärungsmodell verwendeten Marmorstatue auch ein anthropologisches Prinzip zu, das Lust und Schmerz zu den Basismotivierungen aller Seelentätigkeiten bestimmt (vgl. Etienne Bonnot de Condillac: Abhandlung über die Empfindungen. Hg. von Lothar Kreimendahl. Hamburg 1983, § 4, S. 3). Kreimendahl hat (im Anschluss an Cassirer) dieses Motiv der nichtsensualistischen Dynamisierung des Psychischen theoriegeschichtlich überzeugend Lockes Theorie der uneaesiness [‚Unruhe‘] zugeordnet (vgl. Kreimendahl: Einleitung, ebd., S. XXXIII, bes. S. XXXVIIf.).
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Was soll man aus dem Vergnügen und aus dem Schmerz machen? Soll man ein eignes Empfindungsvermögen, einen eignen Sinn für sie annehmen, den man den innern nennen könnte, um ihn von den Sinnen zu unterscheiden, welche die körperlichen Organen in Thätigkeit setzen?103
2.3.3 Entwertung des Erkenntnisparadigmas. Die affekttheoretische Einbettung der Emotionen Sulzer greift offenkundig (die fast wörtlich identische Formulierung an zentraler Stelle seiner Schrift bildet nur den handgreiflichsten Hinweis auf eine direkte Beeinflussung)104 Merians anthropologisches Argument gegen die erkenntnistheoretisch induzierte Vereinseitigung der Wahrnehmungs- und Erkenntnispotenzen des ‚inneren Menschen‘ unmittelbar auf und setzt damit die Relativierung des logozentrischen Gesichtspunkts in die Richtung einer vorsichtigen Psychologisierung fort. Entscheidend für die Frage nach den anthropologischen Implikationen des Sulzerschen Neuansatzes ist dabei, wie der Popularphilosoph aus dem Breitenspektrum dieser heterogenen Einflüsse eine im Ganzen eklektische, sachlich gleichwohl innovative Adaption der heterogenen Theorieangebote zur Gliederung der Seelenvermögen entwickelt, mit der die epistemologischen Aspekte der quellengeschichtlichen Vorlagen nunmehr in dezidiert anthropologisch-vermögenstheoretische Fragestellungen überführt werden. Das Neue des Sulzerschen Vermögensdualismus, so lässt sich gegenüber Merians Ansatz konturieren, ist erstens in der entschiedeneren Fokussierung auf die Merkmale des Wahrnehmungsvorgangs als solchem zu sehen, zweitens in der konsequent vermögenstheoretischen Neukonzeption der Empfindungen als einer Kategorie der Affektivität – Element des sinnlichen Begehrens. Denn Empfindungen, so lautet nun Sulzers Grundbestimmung, die über die bloß erkenntnistheoretische Auszeichnung der sensation als „Quelle der Erkenntnis“ respektive Ursprungsort „aller unserer Ideen“ hinausgeht,105 sind keine kognitiv bestimmten, nur ‚innerseelisch‘ affizierenden Vorstellungskomplexe. Auf die Verfasstheit des Psychischen selbst bezogen, äußern sie sich als „angenehm oder unangenehm“ bzw. „Verlangen oder Abscheu“ hervorbringend.106 Die bei Merian lediglich angedeutete, konzeptionell unausgeführt gebliebene Lokalisation des psychologischen 103 104
Merian: Parallele der beiden Prinzipien, S. 203. Mit Sulzers oben genannter Formulierung von der Existenz scheinbar entgegengesetzter Vermögensprinzipien der menschlichen Seele (vgl. Sulzer: Anmerkungen, S. 225) korrespondiert in augenfälliger Weise unmittelbar Merians Feststellung, dass „beym ersten Anblick eine solche Verschiedenheit unter ihnen [Wahrnehmungs- und Erkenntnisprinzipien der Seele, E.S.] wahrzunehmen ist, daß sie einander ganz entgegengesetzt zu seyn scheinen. Sie sind auf zwo Operationen der Seele gegründet, die die Weltweisen allemal sorgfältig von einander unterschieden haben.“, vgl. Merian: Parallele der beiden Prinzipien, S. 188. 105 Vgl. John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Hg. von Carl Winckler, Leipzig 1913 (Erster Band. Zweites Buch: 1. Kap.: Die Ideen im allgemeinen und ihr Ursprung), S. 101ff. 106 Sulzer: Untersuchung, S. 229.
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Moments der Sinneswahrnehmung (sensation) im Empfindungsbegriff ist damit vollzogen und aus dem epistemologischen Begründungskontext gelöst. Signifikant für diese theoriegeschichtlichen Verschiebungen ist, dass Sulzers neuer Empfindungsbegriff Lust- und Unlustphänomene gleichermaßen wie alle intensiveren Formen der Gemütsbewegung integriert und damit faktisch jenes Modell der Seelenvermögen wieder aufgreift, das für die Baumgarten-Meiersche Konzeption des ästhetischen Vorstellungsakts – als affektaffine Kategorie des „ästhetischen Lebens“ (vita cognitionis) – leitend gewesen war.107 Bei aller Übereinstimmung mit Wolff in den Ausgangsbestimmungen der Zuordnung der Emotionen zu den „Leidenschaften“108 zeigt sich einmal mehr, dass die Richtung ihrer Thematisierung für den Ästhetiker im Ergebnis eine grundlegend andere ist. Die anthropologisch-ästhetische Reflexion des Affektiven, das allein ist der maßgebliche Gegenstand der Sulzerschen Vermögensanalytik in dieser Abhandlung, zielt auf die Erfassung nicht des kognitiven, sondern des sinnlich-ästhetischen Wirkungspotenzials der Emotionen für das wahrnehmende Subjekt. Auch das weitere anthropologische Grundmerkmal der Empfindungen, ihr Körperbezug, hat seinen Ursprung bekanntlich in der Theorie des Affekts.109 Während des Nachdenkens geht in dem Körper nichts vor, das die Idee von uns selbst in uns erwecken könnte [...]; da hingegen der Zustand des Empfindens allemal mit irgend einer sinnlichen Empfindung vergesellschaftet ist. [...] Es gehen merkliche Veränderungen in dem Kreislaufe des Blutes und in den Nerven der Gedärme vor, wenn die Seele eine nur einigermaßen starke Empfindung hat [...]. Bey der Gemüthsbewegung ist die Erschütterung der Nerven zuweilen so groß, daß sie sich dem ganzen Systeme mittheilet.110
Emotionen als Scharnierstelle inter mentem et corpus indem Sulzer Empfindungs- und Leidenschaftsbegriff unter einem Vermögenstitel firmieren lässt und die Emotionen somit einerseits als affektaffine Vermögensform der Seele deklariert, andererseits kategorisch gegenüber den kognitiv bestimmten Vorstellungs107 108
Siehe die Ausführungen oben, Abschnitt IV. „Ich schließe [...], daß die Empfindungen und ihre unmittelbaren Folgen unwillkührliche Handlungen der Seele sind. Man hat sie also mit Rechte Leidenschaften genannt“ (Sulzer: Anmerkungen, S. 242). Wolffs Parallelbestimmung in der rationalen Seelenlehre seiner Metaphysik hebt, nach erfolgter Zuordnung der Empfindungen zu den Leidenschaften, sogleich auf ihren Aktivitätscharakter ab: in ihnen „erweiset sich [...] die Seele als ein thätiges Wesen“, vgl. Wolff: DM, § 818, S. 507f., hier S. 508. 109 Die Thematisierung der somatologischen Aspekte ‚leidenschaftlicher‘ Wahrnehmungserfahrung ist klassischer Bestandteil der Affektenlehre und der ästhetischen Reflexion, wie Aristoteles’ Psychologie, Rhetorik und poetologische Katharsislehre exemplarisch veranschaulichen; vgl. Hartmut Grimm: Art. „Affekt“, in: ÄGB I, S. 16–49, hier S. 19f. 110 Sulzer: Anmerkungen, S. 232f. Abermals zeigt sich, wie Sulzer bis in die Formulierungen hinein Wolff verpflichtet bleibt, vgl. Wolff: DM, § 882, S. 547: „Die Bemühung gewisse Empfindungen hervorzubringen, oder sie auch zu hindern, ist im Leibe mit einer Bemühung gewisse Gliedmassen zu bewegen vergesellschaftet [Hervorh. E.S.]“, vgl. auch ebd., § 444, S. 271.
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leistungen der Seele abgrenzt, legt er die Grundlagen für einen anthropologisch erweiterten Begriff der menschlichen Wahrnehmung auf der Basis sinnlich-ästhetischer Wirkung, der ästhetischen Rührung. Sulzers neuer Ansatz, die Etablierung der Sonderstellung der Empfindungen als eigenwertigen Vermögen der Seele und damit ineins, die Herausstellung ihrer Affektrelevanz, erweist sich als bedeutsam für die Grundorientierung ästhetischer Reflexion.111 Die vordergründige Fixierung der frühen ästhetischen Theorie auf die bloß vorstellungstheoretisch unterschiedenen sinnlichen Wahrnehmungsvollzüge, und damit ineins, die Konzeptualisierung der ästhetischen Erfahrung nach Maßgabe der Möglichkeiten sinnengeleiteter Gegenstandserkenntnis, ist damit folgenreich aufgebrochen. An die Stelle der cognitio sensitiva tritt die sensatio sensitiva, tritt das über den Empfindungsbegriff vermittelte Potenzial sinnengeleiteter Wahrnehmung, „einen angenehmen oder unangenehmen Eindruck auf uns [zu] mach[en], oder […] auf unsere Begehrungskräfte [zu] wirk[en]“, wie Sulzer für die Emotion als ästhetische Kategorie mit Entschiedenheit kenntlich macht.112 Indem Sulzer die emotionale Wirklichkeitswahrnehmung von der Vermögenssphäre des Begehrens, des Affekts aus entwirft, weist er ihre ästhetisch relevante Leistungsfähigkeit als subjektbezügliche Form der Aisthesis aus und damit als Potenzial einer sich zentral über ihre psychischen Wirkungen artikulierenden subjektiven Wahrnehmungserfahrung. Die „wahren Bewegungskräfte der Seele“, so Sulzer unter Herausstellung des psychologischen Moments der empfindungsgeleiteten Wahrnehmungserfahrung, zielen auf eine Rührung des Herzens; sie lassen sich nicht mehr auf lebhafte Vorstellungen, und seien es diejenigen, welche dem Anschauen eines Vollkommenen entspringen, reduzieren.113 Sulzers im Emotionsbegriff geleistete anthropologische Promotion der Sinneserfahrung und mit dieser: der rezeptiven Seelentätigkeiten, überwindet somit die Fixierung der frühen Ästhetiktheorie auf die Erkenntnisqualitäten der ästhetischen Sinneswahrnehmung. Die gegenüber dem Erkennen markierte Eigengeltung des ästhetischen Erfahrungsbezirks beruht demnach auf dessen Eigenschaft, die Vorstellungs- und Begehrungsfakultäten der menschlichen Seele zu affizieren und
111
Vgl. neben den bereits angeführten einschlägigen Artikeln des Sulzerschen Ästhetikwörterbuchs die Ausführungen zum ästhetischen Leitbegriff der Rührung in Sulzer: ATSK, Bd. 4, Art. „Rührend. (Schöne Künste)“, S. 121–123. 112 Sulzer: ATSK: Empfindung, S. 53. 113 Vgl. Sulzer: Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste, in: ders., VPS, S. 122–145, hier S. 136. Zugespitzt formuliert, vollendet Sulzer in diesem Akademieaufsatz von 1765 seine triebtheoretische Wende auf dem Gebiet der Psychologie und Ästhetiktheorie – die Fundierung der ästhetischen Aisthesis im sinnlichen Begehrungsvermögen der menschlichen Seele. Die drei Modi der ästhetischen Energie („reizend“, „rührend“, „bewegend“) werden auf der anthropologischen Grundlage, dass „das Verlangen und der Abscheu die beyden ersten Triebfedern der Seele sind“, als Steigerungsformen der spezifisch ästhetischen Wahrnehmung (Rührung) entwickelt (vgl. ebd., S. 124ff., S. 127ff., S. 137ff. sowie im folgenden, Abschnitt 2.4.1).
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in der Gegenstandserfahrung zugleich spezifische Formen der Selbsterfahrung (Rührung, Emotion, angenehme Empfindung etc.) zu ermöglichen.114 2.4 Selbstbezüglichkeit als Rührung. Sulzers Psychologie des ästhetischen Zustands Die Begründung der Möglichkeiten einer ästhetischen Gegenstandserkenntnis bzw. einer bloß im Element der Sinnlichkeit gefassten Erkenntnismodalität des Psychischen kann, soviel lässt sich aus Sulzers vorstehend rekonstruierten Ansätzen zu einer emotionstheoretischen Fundierung der ästhetisch relevanten Wahrnehmung entnehmen, nicht Inhalt einer anthropologisch begründeten Theorie der Sinnlichkeit sein. Im Hinblick auf Sulzers einschlägige Bestimmungen des „Zustand[s] der Empfindung“ und ihre ästhetiktheoretischen Implikationen spitzen sich die Unterschiede zwischen Sulzers affekttheoretischer Transposition der Empfindungen und dem Baumgartenschen Projekt der ‚ästhetischen Erkenntnis‘ nachgerade auf Gegensätze zu: Die Empfindung ist also eine Handlung der Seele, die mit dem Gegenstande, der sie hervorbringt oder veranlasset, nichts gemein hat. [...] Nicht den Gegenstand empfindet man, sondern sich selbst. Bey dem Nachdenken ist der Verstand mit einer Sache beschäfftiget, die er als ausser sich betrachtet; bey der Empfindung ist die Seele bloß mit sich selbst beschäfftiget.115
Die von Sulzer mit diesem Begründungsschritt vollzogene Basisunterscheidung zwischen Kognition und Emotion – Gegenstandsbezüglichkeit der Erkenntnis versus Subjekt- bzw. Selbstbezüglichkeit der Empfindung – bildet nicht weniger als den Einsatzpunkt ästhetischer Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen, der es mit der Frage nach der Natur der Emotionen um die umfassende Einbeziehung des Affizierungspotenzials sinnlich-ästhetischer Wahrnehmung geht. Gegenüber Sulzers früheren Bestimmungen der ästhetisch relevanten Selbstbezüglichkeit – auf der Basis der Appetenz, des kognitiv induzierten Begehrens – fällt in der Vermögensabhandlung von 1763 eine doppelte Schwerpunktverlagerung auf. Erstens die Aufwertung der Subjektzentriertheit der Wahrnehmungserfahrung qua Empfindung, die Sulzer nun nicht mehr intellektuell (als die Vollzugslust der Reflexion), sondern anthropologisch (als sinnengeleitete Betätigungsform des Selbst, der Seele) konzipiert. Beruht nach Sulzer der Zustand der Kognition auf einem „Vergessen seiner selbst, welches allem was die Aufmerksamkeit von ihrem Gegenstande abziehen könnte, den Zugang zu der Seele verschließt“, wird sich die
114
Vgl. ATSK, Bd. 3, Art. „Künste. (Schöne Künste)“, S. 72–95, hier S. 93: „Der Künstler wähle Gegenstände, die auf die Vorstellungs- und Begehrungskräfte einen vorteilhaften Einfluß haben; denn nur diese verdienen uns stark zu rühren und unvergeßlich gefaßt zu werden, alles andre kann vorübergehend sein.“ 115 Sulzer: Anmerkungen, S. 229f.
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Seele im Zustand des Empfindens „ihre[s] eigenen Zustand[s] deutlich gewahr“.116 Selbst-Empfindung als ästhetisch-psychologisches Letztbegründungskriterium, das Proprium sinnengeleiteter Wahrnehmungserfahrung: Sulzer wird auf der Basis dieser Einsicht sukzessive seine Theorie der ästhetischen Erfahrung ausformulieren, derzufolge die wahrhafte ästhetische Erfahrung für den Popularphilosophen von der Vermittlung sittlicher Wahrheit unablösbar ein gerührtes Subjekt voraussetzt.117 Zweitens ist über diese Affizierungsfunktion des Empfindens hinaus ein ästhetikgeschichtlicher Gesichtspunkt bedeutsam. Indem Sulzer die Selbstbezüglichkeit in der Bedeutung von Selbst-Gefühl zum leitenden Bestimmungsmerkmal der Empfindungswahrnehmung erhebt („eigentlich interessirt uns nichts, als was in uns selbst ist“),118 und vice versa der Kognition Selbstbezüglichkeit aberkennt, kann er die Empfindungen aus der Verpflichtung zur kognitiven Gegenstandspräsentation (auf der Basis erkannter Merkmale) lösen. Gegenstandserkenntnis ist Sache der Kognition; das Empfinden aber, so Sulzer in Vorformulierung eines erst später von Kant für Geschmack und Emotion auf den Begriff gebrachten Sachverhalts, gewährt keine Erkenntnis eines Gegenstands.119 Es läßt die Seele „bloß ihren eigenen Zustand deutlich gewahr“ werden.120
116
Ebd., S. 228, S. 230. Die Gegensätzlichkeit dieser Bestimmungen zu Eberhards Konzeptualisierung des spezifisch ästhetischen Wahrnehmungsprozesses (vgl. oben, Abschnitt V. 1.3.2) könnte nicht deutlicher sein und macht darauf aufmerksam, wie wenig die Entwicklung ästhetischer Erfahrungsmuster auch in der anthropologischen Spätaufklärung auf den Nenner einer linearen Entwicklung gebracht werden kann. 117 Zu einer ersten tragfähigen Konzeptualisierung dieser hier erstformulierten Einsicht, der Sulzer in seiner ästhetischen Enzyklopädie schließlich ihre endgültige Gestalt gibt, gelangt der Popularphilosoph bereits wenige Jahre später: „Die Wahrheit, die man empfinden will, muß die Seele gleichsam berühren, und sich ihr einverleiben [...]“; „[...] Die Wahrheit, die man bloß begreift, [wird] niemals zum Bewegungsgrunde, und [...] diejenige, die man empfindet, [hat] Einfluß in unsre Handlungen“, vgl. ders.: Psychologische Betrachtungen über den sittlichen Menschen, in: Sulzer: VPS, S. 282–306, hier S. 293, S. 295. 118 Sulzer: Anmerkungen, S. 234. 119 Vgl. Kant: KdU, § 1, S. 115: „Das Geschmacksurtheil ist also kein Erkenntnißurtheil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjectiv sein kann.“ Vgl. ebd., § 3, S. 118f.: „Gefühl“ ist, im Unterschied zur „Empfindung“ als „objektive[r] Vorstellung der Sinne“, dasjenige, „was jederzeit bloß subjektiv bleiben muß und schlechterdings keine Vorstellung eines Gegenstandes ausmachen kann“. Zu Sulzers Parallelkonzeption im Begriff des Schönen (Art. „Schön (Schöne Künste)“, in: ATSK, Bd. 4, S. 305–327) vgl. auch unten, 2.5.2. In Umkehrung der Bedeutungsrichtung der Kantischen Terminologie und im direkten Anschluss an Sulzers Differenzierung des Ästhetischen von der Sinneswahrnehmung aus wird 1793 der psychologische Ästhetiker H. Zschokke „Empfindung“ und „Gefühl“ definieren. Gefühle sind mit Lust oder Unlust begleitete Gegenstandswahrnehmungen; Empfindungen hingegen sind Inbegriff der im „Empfindungsvermögen“ gründenden subjektiven Lust-Unlust-Erfahrung selbst (vgl. Zschokke: Ideen zur psychologischen Ästhetik, §§ 48–50, S. 121–127; § 81, S. 240–243). 120 Sulzer: Anmerkungen, S. 230.
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Spätestens mit diesen Formulierungen wird, wie hier in Hinsicht auf Sulzers theoriegeschichtliche Positionierungen präzisierend zu ergänzen ist, deutlich, dass der Popularphilosoph hier noch, aller Nähe zur Sinnlichkeit von Trieb- und Affektnatur ungeachtet, an der Leibniz-Wolffschen Psychologie der Vorstellungen (im Stufenleitermodell der Erkenntnis) festhält.121 Anders als im Modell des Sentimentalismus Dubos’ und der Theoretiker des internal sense122 bedarf nach Auffassung Sulzers die emotionale Wirklichkeitswahrnehmung durchaus der Vorstellungstätigkeit der Seele, ist sie weder bloße Perzeption eines äußeren Sinnesdatums noch eine schlechthin angeborene, von der Tätigkeit des Subjekts ablösbare Auffassungsform.123 Sinnliche Wahrnehmung ist vielmehr stets Inbegriff sinnlich vermittelter Erfahrung. Mit dieser Positionierung bleibt Sulzer entschieden Baumgartens Modell der Aisthesis verpflichtet, das die Einheit der sinnlichen Wahrnehmung „in Analogie zur Erkenntnismächtigkeit der Vernunft“124 konzipierte und die Identifikation der aisthetike episteme mit einer Theorie der sensatio, den „Sinneswahrnehmungen“, stets vermieden hatte.125 Das Entscheidende von Sulzers affekttheoretischer Neukonzeption des Wahrnehmungs- und Empfindungsgeschehens liegt so besehen nicht in der (empiristisch-sensualistischen) Aushebelung des Vorstellungskonzepts und der Konzeption des Empfindungsgeschehens als eines begrifflich uneinholbaren anthropologischen Basisdatums (Vorstellen versus Empfinden), sondern in der Polarisierung des Vorstellungsbegriffs in zwei gegenläufige Repräsentationsmodi: nach ‚außen‘
121
Sulzer bedient sich der rationalistischen Vorstellungstheorie nicht nur zur Charakterisierung der Emotionen als „Vorstellungen“ (vgl. ebd., S. 229, S. 230f., S. 233f., pass.: „Idee“!), sondern auch zur Intensitätsbeschreibung der Empfindungen: Die Empfindung hat „nur in dem Zustande verworrener Vorstellungen Platz [...]. Man kann sogar sagen, daß die Stärke der Empfindung allemal dem Grade der Verwirrung, die in den Vorstellungen herrschet, gemäß ist.“ (ebd., S. 230). 122 Die Rekonstruktion der Rezeption und Transformation der moralästhetischen Schlüsselbegriffe der britischen bzw. schottischen Moralphilosophie – des Moral Sense und des sentiment – durch die deutsche popularphilosophische Ästhetik und Anthropologie bedürfte einer eingehenden Untersuchung. Diesbezügliche Rekonstruktionsansätze liegen bislang vor allem für den Bereich der ethischen Diskussion und Glückseligkeitsdebatte von deutscher Seite aus vor, vgl. Jürgen Sprute: Der Begriff des Moral sense bei Shaftesbury und Hutcheson, in: Kant-Studien 71 (1980), S. 221–237; Baum: Selbstgefühl und reflektierte Neigung, bes. S. 157ff.; Jan Engbers: Der ‚Moral-Sense‘ bei Gellert, Lessing und Wieland. Zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland. Heidelberg 2001, bes. S. 11ff., Bachmann-Medick: Ästhetische Ordnung, S. 18ff. 123 In einer weiteren Akademieabhandlung wird Sulzer Bacons Leitmodell für die empirienahe, jedoch nicht reflexionsfreie Erkenntnisgewinnung (in der Metapher der Biene) aufgreifen, um Redner und Dichter als die Sublimierer der primären Sinnlichkeit zu charakterisieren: Dieselben stellen „uns die Dinge nicht nur so vor, wie sie den Sinnen vorkommen, sondern so, wie sie seine lebhafte Einbildungskraft und sein gefühlvolles Herz wahrgenommen und empfunden haben“, vgl. Sulzer: Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste, S. 141. 124 Ehrenspeck: Aisthesis und Ästhetik, S. 215. 125 Vgl. Baumgarten: PBBG, § 116, S. 85–87, hier S. 87.
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gerichtete Erkenntnis versus nach ‚innen‘ gerichtete Empfindung.126 Beide Zustände der Seele, darin liegt Sulzers innovative Begründungsleistung, sind somit nicht mehr nur über die Deutlichkeit oder Undeutlichkeit des außersubjektiven Gegenstandsbezugs charakterisiert, sondern genauer besehen durch den Doppelbezug von Gegenstands- und Selbstwahrnehmung: Die „Gemüthsbewegung [...], womit jede Empfindung vergesellschaftet ist“, wird „durch die verworrene Idee unsers Gegenstandes und durch die klare Idee unsrer selbst hervorgebracht.“127 Selbstwahrnehmung, die Wahrnehmung des eigenen Zustands jedoch, so Sulzers aisthetische Pointe in Selbstwiderlegung seines früheren Ansatzes, ist mit Genuss an und in der Wahrnehmung identisch.128 Dieselbe ist nicht mehr kognitiver Natur, durch die lustvolle Anstrengung des Erkennens geprägt. Lust ist vielmehr, hier liegt abermals ein prinzipieller Vorgriff auf Kant, Eindrucks-Lust im ‚Außerhalb‘ bzw. ‚Nach‘ des Erkennens. Als eine Form nichtreflexiver Selbstvergegenwärtigung ist sie demgemäß zugleich Ausdruck von „Lebensgefühl“.129 2.4.1 Ästhetische Kontemplation Wenngleich also nicht kategorial vom Vorstellungsbegriff gelöst,130 ist in Sulzers Abhandlung die Basis der Emotionen nunmehr auf einen anthropologischen Nenner gebracht: die Selbstbezüglichkeit des Subjekts in der sinnlich-ästhetischen Wahrnehmungserfahrung.131 Was der Autor zum „Zustand der Betrachtung (con126
Sulzers ästhetisch-psychologische Innovationsleistung dieser Abhandlung beurteile ich damit in deutlich anderer Akzentsetzung als W. Riedel, der Sulzers „Bruch“ mit den Prämissen der ersten Akademieabhandlung in der Aufkündigung des vorstellungstheoretischen Universalismus der singularen Grundkraft der Seele sieht („Die Basishypothese der einen seelischen Grundkraft ist aufgegeben“; Empfinden sei nunmehr „etwas, dem mit dem Vorstellungsbegriff schlechterdings nicht mehr beizukommen ist“, vgl. Riedel: Erkennen und Empfinden, S. 415f.). 127 Sulzer: Anmerkungen, S. 234f.; vgl. ebd., S. 230f.: Es stehe außer Zweifel, dass „die Seele bey der Empfindung bloß ihren eigenen Zustand deutlich gewahr wird [bei gleichzeitig verworrenen Vorstellungen in Bezug auf den Gegenstand, E.S.], und daß sie den Gegenstand, der diesen Zustand hervorbringt, kaum bemerket; da hingegen bey dem Nachdenken die Seele ihrer selbst kaum bewußt ist, und sich bloß an den Gegenstand hält, der ausser ihr zu seyn scheint.“ 128 Zu Sulzers expliziter Umdeutung seines früheren Lustkonzepts vgl. ebd., S. 233f. 129 Kant: KdU, § 1, S. 115. 130 Dass Sulzer die erkennende Gegenstandswahrnehmung aus seinem Begriff der ästhetischen Selbstbezüglichkeit (hier: Selbstreflexivität) nicht eliminiert (das Vergnügen „geschieht in den Augenblicken, da die Seele, nachdem sie den Gegenstand eingesehen hat, wieder an sich selbst zurückdenket“, ebd., S. 234), hebt die Gültigkeit des Befunds in der Sache nicht auf, sondern macht auf Sulzers vorkritischen Begriff der sinnlichen Wahrnehmung aufmerksam. Nur auf dieser Basis, das zeigt Sulzers spätere Kunsttheorie prägnant, kann der Bereich des Ästhetischen als ein sämtliche Vermögenskräfte der Seele beanspruchender entworfen werden. Ästhetische Gegenstände sind diejenigen, die „auf Vorstellungs- und Begehrungskräfte [Hervorh. E.S.] einen vortheilhaften Einfluß haben; denn nur diese verdienen uns stark zu rühren und unvergeßlich gefaßt zu werden“ (Sulzer: Künste. Schöne Künste, in: ASKW, Bd. 3, S. 72–95, hier S. 93). 131 Die nach wie vor gängige Einschätzung, die philosophiegeschichtliche Bedeutsamkeit der Sulzerschen Theorie der Emotionen liege in der Etablierung der „Unabhängigkeit und Selb-
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templation)“,132 dem ‚mittleren‘ Zustand zwischen Kognition und Emotion, Gegenstands- und Selbstwahrnehmung, an Überlegungen vorbringt, löst diese Konzeption der Aisthesis im Entwurf einer Psychologie des ästhetischen Zustands ein.133 Die Betrachtung einer schönen Landschaft, Sulzers Beispiel für die Haltung der ästhetischen Einstellung, beschreibt der Autor von der Seite ihrer Wirkung auf das wahrnehmende Subjekt: Man „bemerket […] bey sich selbst den Eindruck, den er [der betrachtete Gegenstand, E.S.] auf uns machet.“134 Im ästhetischen Genuss des wahrgenommenen Gegenstands artikuliert sich zugleich Selbstgenuss, der sich, wie Sulzer nunmehr mit de Pouilly formulieren kann, „ohne Anstrengung“ erhält.135 Da das Subjekt bei dieser genießenden Wahrnehmungserfahrung von der Merkmalsbestimmung des anschaulich Gegebenen entlastet ist, entsteht eine behagliche Form des Selbstverhältnisses, dominiert zugleich die Lust am Vollzug der Wahrnehmung: [...] Das Auge [...] verweilt sich einen Augenblick bey einem jeden [Gegenstand] derselben, ohne ihn näher zu untersuchen; und der Geist, der sich so jeden Theil insbesondere vorstellet, genießt auf einen Augenblick des angenehmen Eindrucks, den dieser Gegenstand auf ihn machet. Alles geschieht ohne Anstrengung; die Eindrücke berühren die Seele nur obenhin; man befriediget sich mit verworrenen Ideen, und verlanget nicht, sie ganz deutlich zu machen.136
Im Zwischenraum der beiden äußersten Zustände von Denken und Empfinden, der kontemplativ gerichteten Aisthesis, scheint eine Ästhetik der ruhigen und sanften Emotionen auf, die den solchermaßen ästhetisierten Vorstellungstrieb der Seele gleichsam auf Genuss verpflichtet.137 – Ein Erklärungsansatz des Ästhetischen vom ständigkeit des Gefühls gegenüber den intellektuellen Vermögen begründet“, lässt sich von diesem Befund aus sowohl präzisieren wie einschränken (vgl. M. Heinz: Sensualistischer Idealismus, S. 114). 132 Vgl. Sulzer: Anmerkungen, S. 236ff. 133 Vgl. Sulzer: Anmerkungen, S. 238. Sulzer positioniert den Zustand der ästhetisch affinen contemplatio als „dritten“ Zustand zwischen den „beyden am weitesten von einander abgehenden Zustände[n] der Seele“, dem „Zustand des Nachdenkens und dem Zustand des Empfindens.“ 134 Ebd., S. 237. 135 Ebd. 136 Ebd. 137 Dass Sulzer die dynamisch-affekttheoretische Basis seines Wahrnehmungsmodells auch im Verlauf der fortgesetzten Reflexion keinesfalls verlässt und die oben notierten Befunde sich somit bestätigen lassen, zeigen seine differenzierenden Zusätze zu diesem Modellansatz in dem bereits erwähnten, wenige Jahre später veröffentlichten Akademieaufsatz über die Arten ästhetischer Energie (Sulzer: Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste, S. 122– 145). In diesem Aufsatz setzt Sulzer die 1762 begonnene Typologisierung psychischer Zustände fort und reformuliert die sinnlich-ästhetischen Zustandserfahrungen für alle Phänomene, „die zum Geschmacke gehören“, nunmehr als „verschiedene Arten der Energie“ (vgl. ebd., S. 122, S. 124). Der vom „Zustand der Bewegung (emotion)“ ebenso wie vom „Zustand des Nachdenkens“ typologisch abgegrenzte „Zustand der Betrachtung (contemplation)“ nimmt dabei die mittlere Stellung zwischen vorstellungsbestimmter ästhetischer Sinneswahrnehmung (als „schnelle Unterbrechung der Folge unserer Vorstellungen“) einerseits und affektbestimmter Aisthesis (als „merklicher Reiz von einer Sache, die sich unmittelbar auf unsre Gesinnun-
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Vollzugscharakter der sinnlich-ästhetischen Wahrnehmung her, den noch die ästhetische Wahrnehmungstheorie des frühen 20. Jahrhunderts in vergleichbarer Weise fassen wird: In der ästhetischen Kontemplation nimmt sich das Subjekt in Situationen wahr, „in denen uns die Wahrnehmung als solche fesselt, beschäftigt, befriedigt, in denen sie eigenbedeutsam ist.“138 Sulzers psychologische Ausrichtung der Wahrnehmung, die ihr Fundament im „Eindruck“ gegebener Gegenstände hat, ist damit auch als Ansatz einer Ästhetik von unten her kenntlich, in der sowohl die anthropologischen Voraussetzungen ästhetischer Wahrnehmung als das Genussmoment des ästhetischen Wahrnehmungsvollzugs – unabhängig von ihren Bindungen an Schönheits- und Vollkommenheitskategorie – reflektiert sind. Zwar wird die ästhetische Wahrnehmung als solche nicht von den kognitiven Erfassungsleistungen des Subjekts kategorisch abgelöst; die Qualifizierung des kontemplativen Seelenzustands erfolgt jedoch zentral unter Bezug auf die anthropologisch-lebensweltlichen Aspekte der Selbstbezüglichkeit des Subjekts, die Art und Weise der wahrgenommenen Wirkungen. Mit der Einschreibung des Emotionalen in die Kategorie der ästhetischen Aisthesis sind die kognitiven Erfassungsleistungen – „der Geist […] genießt“ – zugunsten der ästhetischen Erfahrungs- und Erlebnisqualitäten nachhaltig depotenziert. 2.5 Wissenschaft der Emotionen als Ästhetik des Geschmacks. Der Nexus von Anthropologie und Ästhetik in Sulzers Wörterbuch der Ästhetik (1771/1774) Wie Sulzer nach Maßgabe der genannten Entwicklungsvektoren die psychologisch-ästhetische Etablierung des Gefühlsbegriffs im Rahmen seines ästhetischen Wörterbuchs, der Allgemeinen Theorie der schönen Künste und Wissenschaften (1771–1774) realisiert, bleibt abschließend in den Blick zu nehmen – sowohl in Hinsicht auf die Leitfrage nach dem Verhältnis von anthropologischer und ästhetischer Argumentation als auch unter Berücksichtigung derjenigen Akzentsetzungen, die Sulzer den skizzierten Verschiebungen im ästhetischen Wahrnehmungs- respektive Emotionsbegriff von genuin ästhetischer Warte aus hinzufügt.
gen und Leidenschaften bezieht“) andererseits ein (vgl. ebd., S. 124). Für den Zustand der Kontemplation wird das oben geltend gemachte Genussmoment qua ‚Eigenbedeutsamkeit des Wahrnehmens‘ (vgl. Richard Hamann: Ästhetik. Leipzig 1911) vollständig übernommen und differenziert: Von der Schönheit eines Schauplatzes gerührt, überlässt sich die Seele der Betrachtung. „Auf die erste Rührung folget nach und nach eine vollkommene mit Heiterkeit verbundene Stille, und daraus entstehet eine angenehme Träumerey, ein Zustand, welcher gefällt und in welchem man gerne bleiben möchte […].“ (ebd., S. 127). Baeumler hatte in diesen Definitionsbemühungen Sulzers – im Spannungsfeld einer Theorie des Angenehmen und einer Reflexion des spezifisch Ästhetischen – den theoriegeschichtlichen Wink für die Kantische „Lösung des Geschmacksproblems“ gesehen (vgl. Baeumler: Irrationalitätsproblem, S. 131ff.). 138 Hamann: Ästhetik, S. 10f.
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2.5.1 Allgemeine Theorie der schönen Künste. Artikel Empfindung Die Gültigkeit der an der frühen Lust- und Emotionstheorie Sulzers gewonnenen Befunde scheint sich anhand der einschlägigen Artikel seines Wörterbuchs: Empfindung, Geschmack, ästhetisch uneingeschränkt verifizieren zu lassen.139 Sulzer entwirft mit dem ästhetiktheoretisch ausformulierten Begriff der „Empfindung“ nicht nur das anthropologische Korrelat des oben rekonstruierten lusttheoretisch und genussästhetisch (Kontemplation) abgestellten neuen Zweckbegriffs der Ästhetik, aus dem die Eigenartigkeit gegenüber dem Erkennen erwächst – die Emotion erzeugt „einen angenehmen oder unangenehmen Eindruk auf uns“.140 Im Definitionskontext der Allgemeinen Theorie wird die psychologische Kategorie der Empfindungen von ihm erstmals dezidiert auch als das maßgebliche Stimulans einer vom Vorstellen respektive Erkennen unterschiedenen – affektdynamischen – Vermögenssphäre gefasst und hinsichtlich ihrer anthropologischen Tragweite gekennzeichnet: Die Erzeugung des Lust-Unlust-Gefühls wird nun als eine mit der Wirkung „auf unsere Begehrungskräfte [...], oder in so fern sie die Begriffe des Guten oder Bösen, des Angenehmen oder Widrigen erwekt“ gleichursprüngliche ästhetische Wahrnehmungserfahrung gekennzeichnet.141 Insofern ist noch einmal kenntlich gemacht, dass das ästhetisch relevante Empfinden für Sulzer nicht nur als Vermittlungsbegriff zur Sphäre des Affekts fungiert, sondern zugleich eine mit dieser gleichsam identische Vermögensleistung ist. Als solches aber kann es zugleich kein auf objektive Merkmale gerichtetes Erkennen mehr sein: Es ist „der deutlichen Erkenntniß entgegen gesetzt“.142 Die grundsätzliche Gegensätzlichkeit zum erkennenden Vorstellen, die Sulzer hier mit einem psychologischen Argument begründet, liegt in der Inkommensurabilität zwischen bloßen Vorstellungseigenschaften bezüglich der wahrgenommenen Objekte („hell oder dunkel, deutlich und ausführlich“ etc.)143 und denjenigen Zustandseigenschaften des Subjekts, die sich per se nur nach subjektiv-individuellen Wirkungsintensitäten („lebhaft oder schwach, angenehm oder unangenehm“)144 bemessen lassen. Fähigkeit zur Affizierung der sinnlichen Natur des Subjekts – mit dieser auf den sinnlichen Vollzugscharakter bezogenen Bestimmung der Empfindungen kennzeichnet Sulzer zugleich die entscheidende anthropologische Implikation der ästhetischen Selbstbezüglichkeit auf der Basis der Emotionen. In diesem psychologischen Paradigma der ästhetischen Gegenstandskonstitution (sensitive Affizierung ist ästhetisches Kriterium) ist das Subjekt nicht mehr als ein bloß vorstellendes und 139
Vgl. ATSK: Empfindung, S. 53–59; Sulzer: Art. „Geschmack (Schöne Künste)“, in: ebd., Bd. 2, S. 371–385 [Sigle: ATSK: Geschmack]; ders.: Art. „Aesthetisch (Schöne Künste)“, in: ebd., Bd. 1, S. 59–60 [Sigle: ATSK: Aesthetisch]. 140 ATSK: Empfindung, S. 53. 141 Ebd. 142 Ebd. 143 Ebd., S. 54. 144 Ebd.
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repräsentierendes beschreibbar, dem, wie bei Baumgarten, die den ästhetischen „Kopf“ ergänzenden Eigenschaften des „Gemüts“ (Herz) bloß supplementär zugeordnet sind. Die subjektive, situativ bedingte Wahrnehmungs- und Zustandserfahrung der ästhetischen Affizierung selbst, das ist der von Sulzer namhaft gemachte entscheidende theoriegeschichtliche Wendepunkt, wird zur Konstitutionsbedingung des Ästhetischen. Die ästhetische Valenz der Emotionen lässt sich damit nicht mehr darauf einschränken, Komplement eines aisthetisch organisierten und tätigkeitsbestimmten Wahrnehmungsvorgangs zu sein. Ästhetische Valenz gewinnt die Subjektivität des Gefallens und Missfallens im Medium der Empfindung, und hier liegt Sulzers ästhetiktheoretische Pointe, einzig als sinnengeleitete Affizierung des gesammten Gemüts, für alles dasjenige also, „was vermögend ist, eine die Aufmerksamkeit der Seele an sich ziehende Empfindung hervor zu bringen“.145 2.5.2 Artikel Geschmack; Schön Die ästhetiktheoretische Umsetzung dieser Konzeption vollzieht Sulzer nun in einer für die Begründungsverfahren anthropologischer Ästhetik signifikanten Weise, indem der Geschmack gleichzeitig als ästhetiktheoretisches Pendant des (anthropologischen) Empfindungsbegriffs konzipiert und aus dem (ästhetiktheoretischen) Schönheitsbegriff abgeleitet wird.146 Der einschlägige Artikel des ästhetischen Wörterbuchs definiert den Geschmack zunächst hinsichtlich seiner anthropologischen Irreduzibilität: als Seelenvermögen. Analog zu der gegenüber dem Erkennen autonomisierten Empfindung,147 kommt dem Geschmack als einer eigenständigen Vermögenssphäre des Psychischen originär die Eigenschaft zu, die ästhetische Urteilsleistung auf der Ebene der subjektiven Sinneswahrnehmung mit der lustvollen Affizierung der Gegenstandswahrnehmung zu einer Einheit zu verknüpfen. Geschmack, so Sulzer unmissverständlich, ist ein „in der Seele wirklich vorhandenes und von jedem andern unterschiedenes Vermögen, nämlich das Vermögen, das Schöne anschauend zu erkennen, und vermittelst dieser Kenntniß Vergnügen daran zu empfinden.“148 Ästhetisch irreduzibel wird die Geschmackskategorie für Sulzer darüber hinaus dadurch, dass sie den (anthropologischen) Entsprechungsbegriff zur Schönheit bildet. Schön145
Vgl. ATSK: Aesthetisch, S. 59; ders.: Art. „Schön (Schöne Künste)“, in: ebd., Bd. 4, S. 305– 327 [Sigle: ATSK: Schön]. 146 Vgl. ATSK: Geschmack, S. 371–385. 147 In der längeren Anmerkung zum ästhetischen Empfindungsbegriff der Allgemeinen Theorie hatte Sulzer die Identifikation von Emotions- und Geschmacksbegriff und die Autonomisierung beider gegenüber dem Erkenntnismoment partiell bereits vorweggenommen, wenn er der Empfindung erstens attestierte, „bisweilen“ der Erkenntnis widersprechen zu können (lies: zu müssen; vgl. ATSK: Geschmack, S. 371, Anm.), und wenn er ihr zweitens – mit Dubos und mit König – zugesteht, über das zu „entscheide[n] […], was gefällt oder mißfällt.“ (ebd., S. 371, Anm., Hervorh. E.S.). 148 ATSK: Geschmack, S. 371.
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heitstheoretisch ist Geschmack daher zugleich „das Vermögen das Schöne zu empfinden“ respektive „anschauend zu erkennen“, und zwar im Unterschied sowohl zur Vernunft als auch zum sittlichen Gefühl.149 Mit dieser doppelten Begründung der ästhetischen Geschmackskategorie: anthropologisch und schönheitsmetaphysisch, so bleibt gegen die These von der „Emotionalisierung des Ästhetischen“150 und gleichwohl mit der Behauptung von der „Subjektivität des Schönen“ festzuhalten,151 verhindert Sulzer zum einen die Reduktion des ästhetischen Phänomenbereichs auf einen nur subjektiv bestimmbaren Bezirk ästhetischer Wahrnehmungserfahrung. Zum anderen trägt die anthropologische Begründung der Geschmackskategorie – und zwar ungeachtet der deduktiven Einführung des Geschmacks im Rahmen der schönheitstheoretischen Argumentation152 – zu einer Empirisierung des metaphysischen Schönheitsbegriffs bei: Das Tertium von anthropologischer und schönheitsmetaphysischer Begründung bestimmt Sulzer nicht objektivistisch und gegenstandstheoretisch, sondern subjektiv und wahrnehmungspsychologisch als Genuss. Die Empfindung des Schönen im Geschmack ist auch als anschauendes Erkennen des Schönen das Vermögen, in dieser Wahrnehmungserfahrung „Vergnügen zu empfinden“.153 Ästhetische Theorie auf der Basis einer empirischen Psychologie der Emotionen – die Eigentümlichkeit der Sulzerschen Konzeption zu den kontemporären Verständnisweisen der ästhetischen Geschmackskategorie (als einer sinnlichen Beurteilungskraft, die die verstandesunabhängige Evaluation ästhetisch affiner Gegenstände leistet) ist augenfällig.154 Während in jenem die Erfassungsleistungen des sinnlichen Urteils vollständig auf die evaluativen Vollzüge, das Bewerten der ästhetischen Gegenstände als vollkommenen bzw. unvollkommenen ausgerichtet sind, befestigt Sulzer im Geschmacksbegriff die Reziprozität von sinnengeleiteter Gegenstandserfassung respektive Beurteilung („das Schöne anschauend zu erkennen“), subjektiv-genießender Gegenstandswahrnehmung („weil es sich in einer 149 150 151
Ebd., S. 371. Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik, S. 43f. Vgl. Nivelle: Sulzer als Neuerer, S. 283: Der „Fund“ Sulzers beruhe in der Klarstellung, dass die „Wahrnehmung des Schönen […] jedweder Form der Erkenntnis, auch der sinnlichen, wesensfremd“ sei. 152 Die Notwendigkeit eines eigenständigen Geschmacksvermögens der menschlichen Seele leitet Sulzer aus der vorgängigen Existenzbehauptung eines übersubjektiv gültigen Wahren, Guten und Schönen ab; die Wahrnehmung des Schönen bedarf eines von der Vernunft und vom sittlichen Gefühl unterschiedenen Vermögens: „Wenn die Schönheit [...] etwas Wirkliches ist [...], so ist auch der Geschmack ein in der Seele wirklich vorhandenes und von jedem andern unterschiedenes Vermögen“ (ATSK: Geschmack, S. 371). 153 Ebd., S. 371. 154 Vgl. Baumgarten: Mph, § 452, S. 213: „Das Gesetz des Beurtheilungsvermögens ist: wenn das Mannigfaltige einer Sache entweder als zusammenstimmend oder als nicht zusammenstimmend erkannt wird, so wird ihre Vollkommenheit oder Unvollkommenheit erkannt. Da nun dieses entweder deutlich, oder sinnlich geschieht: so ist das Beurtheilungsvermögen entweder ein sinnliches, oder ein verständiges. Die Fertigkeit sinnlich zu beurtheilen ist der Geschmack in der weitern Bedeutung.“
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gefälligen, angenehmen Gestalt zeiget“) und ästhetisch vermittelter Selbstbezüglichkeit („vermittelst dieser Kenntniß [des Schönen, E.S.] Vergnügen daran zu empfinden“).155 Nicht nur Sulzers Anspruch auf eine Autonomisierung der ästhetischen Funktion des Empfindens im Bereich des ästhetischen Wahrnehmens und Beurteilens ist mit dieser Konzeption unterstrichen. Sie belegt umgekehrt zugleich das nachhaltige Interesse des Ästhetikers an einer anthropologischen Aufwertung und funktionellen Spezifizierung des Emotionalen gegenüber den anderen Vermögenskompetenzen des Psychischen – für Sulzer als Pionier einer emotionalistischen Ästhetik ohnehin die Geltungsbasis des Ästhetischen.156 Für das Verständnis der eingangs notierten Merkmale popularphilosophischer Ästhetik – und hierin berühren sich Sulzers dezidiert vermögenspsychologische Akzentsetzungen mit den Modellen einer vorstellungstheoretischen Deduktion der emotionalen Wirklichkeitswahrnehmung wie etwa Eberhards – bleibt im Rahmen dieser Rekonstruktionen allerdings ein weiterer begründungsgeschichtlich symptomatischer Sachverhalt zu berücksichtigen: die Tatsache nämlich, dass Sulzer die affektdynamische Autonomisierung der Emotionen mit der sittlichen Funktion der Gefühlssphäre unmittelbar korreliert und programmatisch auf die Sublimierungsmöglichkeiten der emotionalen Sinneserfahrung bezieht. Denn während, wie zu sehen war, auf der einen Seite die Abgrenzung der affektiv-emotionalen Sinneswahrnehmung (Subjektbezug des Empfindens) von den gegenstandsbezogenen Erfassungsleistungen (Objektbezug des Erkennens) im Begriff des Schönen von Sulzer ausdrücklich fortgeführt und der autonome Charakter der emotionalen Erfassungsleistungen in ästhetischer Hinsicht somit prinzipiell unterstrichen wird,157 konzipiert Sulzer auf der anderen Seite für die Emotionen eine ‚Rückversicherung‘ bei der Vernunft und dem sittlichen Gefühl, löst er die Sphäre der Affektivität, trotz seiner späten Annäherung an den Vermögensbegriff des „innere[n] Sinn[es]“,158 nicht aus dem Verbund mit den kognitiven Vermögen der Seele.159 155 156
Alle Zitate in ATSK: Geschmack, S. 371f. „Das Wort [Ästhetik] bedeutet eigentlich die Wissenschaft der Empfindungen [...]. Die Hauptabsicht der schönen Künste geht auf die Erwekung eines lebhaften Gefühls des Wahren und des Guten, also muß die Theorie derselben auf die Theorie der undeutlichen Erkenntniß und der Empfindungen gegründet seyn.“ (ATSK: Aesthetik, S. 47). 157 Vgl. ATSK: Empfindung, S. 53 (Anmerkung). Im Geschmacksbegriff wird die Wahrnehmungsfunktion des Empfindens mit seiner ästhetischen Bewertungsfunktion systematisch korreliert. Die Emotionen, so Sulzers letztgültige Formulierung im ästhetischen Wörterbuch, vermögen der Kognition zu „widersprechen“; sie „entscheiden über das, was gefällt, oder mißfällt“ [Hervorh. E.S.]. 158 ATSK, Geschmack, S. 371. Im Unterschied zu den Theoretikern des Moral Sense, die den inneren Sinn als intuitiv verfahrende Beurteilungsinstanz konzeptualisieren (vgl. Baum: Selbstgefühl und reflektierte Neigung, S. 99f., 157f.), fasst Sulzer die Kategorie von ihrer genussvermittelnden Funktion her: Geschmack ist der „innere Sinn, wodurch wir diese Annehmlichkeit [das Schöne mit Wohlgefallen aufzufassen, E.S.] genießen“ (ebd., S. 371, Hervorh. E.S.). 159 Ebd., S. 371.
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Die für Sulzer paradigmatisch in der Erfahrung des Kunstschönen verwirklichte sublimierte Sinnlichkeit liegt „dergestalt zwischen dem Guten und dem Vollkommenen, daß es an beyde gränzet.“160 Unter dem Aspekt der kunsttheoretischen Funktion der emotionalen Vermögenssphäre hat Sulzer der sinnengeleiteten Wahrnehmung (im Begriff der Empfindungen) ihren Platz letztlich folgerichtig sowohl neben als auch nach den moralischen Gefühlen zugewiesen: Die „unmittelbare Wirkung“ der schönen Künste ist, „Empfindung im psychologischen Sinn zu erweken; ihr letzter Endzweck aber geht auf moralische Empfindungen, wodurch der Mensch seinen sittlichen Werth bekommt.“161 Theoriegeschichtlich bemerkenswert bleibt vor dem Hintergrund dieser Befunde, wie Sulzer in einer für die Theoriesituation der späten Aufklärung exemplarischen Weise demonstriert, dass eine spannungsfreie Vermittlung der Ansprüche von Rationalität und Sinnlichkeit, sittlicher Norm und ästhetischem Interesse vom Boden einer bloß dem ‚angenehmen Eindruck‘, der gefallenden Sensation verpflichteten Ästhetik aus nicht möglich ist. Sulzers wirkungsästhetische Konsequenzen aus dieser Einsicht führen folgerichtig zur Aufwertung der Emotionen als der maßgeblichen Vermittlungspotenz zwischen sittlicher Wahrheitsforderung und ästhetischem Identifikationsbedürfnis.162 Und sie führen, wie es seine ästhetische Enzyklopädie formuliert, zum Modell einer sympathetischen Identifikation von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem auf der Basis eines gerührten Herzens.163 Im Kern läuft seine anthropologisch begründete Theorie der ästhetischen Erfahrung somit zugleich auf eine normative Theorie der ästhetischen Wahrnehmungs- und Erkenntnisvollzüge hinaus, ist sie anthropologische Ästhetik und Modell einer ästhetischen Bildung und Erziehung zu leidenschaftlich-emotionaler Anteilnahme. Hinter Sulzers ästhetiktheoretischem Credo: Ästhetische Erfahrung ist ohne die systematische Verknüpfung von aisthetischer und ethischer Perspek-
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ATSK: Empfindung, S. 55; vgl. ebd.: Schön, S. 307. ATSK: Empfindung, S. 54. In seinem späten Akademieaufsatz Psychologische Betrachtungen über den sittlichen Menschen aus dem Jahr 1769 (enthalten in Sulzer: VPS, S. 282–306) entwirft Sulzer nach gut rhetorischem Muster eine Theorie der emotional basierten identifikatorischen Aneignung („Einverleibung“): „Die Wahrheit, die man empfinden will, muß die Seele gleichsam berühren, und sich ihr einverleiben […]“ (vgl. ebd., S. 295, Hervorh. E.S.). Vgl. zum gleichen Passus mit dezidiertem Bezug auf rhetorische Zweckbestimmungen den Artikel „Lehrende Rede“, in: ATSK, Bd. 3, S. 166–171, bes. S. 168. 163 Der Dichter „öffnet sein Herz, daß wir die lebhafteste Wirksamkeit der Empfindung darin sehen, und wir legen unser eigenes Herz an das seinige, damit es von derselben Empfindung gerührt und von demselben Feuer entflammt werde.“ (ATSK: Empfindung, S. 57).
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tive nicht sinnvoll zu denken, verbarg sich für die progressivsten Geister des Sturm und Drang denn auch ein obsoleter ästhetischer Konservatismus.164 Seine anthropologisch-ästhetische Validierung der sinnengeleiteten Wahrnehmung im Element des Empfindens erwies sich gleichwohl für die popularphilosophische wie die psychologische Ästhetik im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts von Eberhards später Empfindungstheorie über Herder bis zu Abichts „Lehre der Gefühlskunst“ als außerordentlich wirkungsmächtig.165 Im Anschluss an Sulzer avancieren die für die überwiegende Mehrheit der Autoren der theoretischen Ästhetik strukturell und funktionell konvergierenden Begriffe des Geschmacks und des Gefühls zu den Basiskategorien der ästhetischen Theoriebildung. Mit ihnen gilt es, den Inbegriff des begrifflich Unbestimmbaren (‚je ne sais quoi‘) zu identifizieren, und an ihnen nach dem Ästhetischen als einem dezidiert anthropologischen Bedürfnis zu fragen – dem Bedürfnis nach der Wahrnehmung und Erzeugung der subjektiven Zustandserfahrungen von Lust und Unlust, dem Angenehmen und Unangenehmen der sinnengeleiteten Wahrnehmung.166 Tendenziell erscheint die ästhetische Geschmackslehre im ausgehenden 18. Jahrhundert – die Umbenennung von ästhetischer Geschmacks- in Gefühls-Lehre zeigt es an167 – als eine spezifi164
Sulzers literarästhetischen Konservativismus, seine Reserve gegenüber dem Sturm und Drang und sein Unverständnis gegenüber Shakespeare quittierte neben Goethe auch Wieland nur mit Geringschätzung, vgl. Christoph Martin Wieland: Teutscher Merkur. 1781, Bd. 2, S. 30–35. 165 Zu Eberhard vgl. im folgenden (Abschnitt VII). J. H. Abichts (1762–1804) weniger systematisch gehaltene Reflexionen zur Ästhetik (vgl. Johann Heinrich Abicht: Kritische Briefe über die Möglichkeit einer wahren wissenschaftlichen Moral, Theologie, Rechtslehre, empirischen Psychologie und Geschmackslehre mit prüfender Hinsicht auf die Kantische Begründung dieser Lehre. Nürnberg 1793) können als später Reflex der Sulzerschen psychologischen Ästhetik und Kunsttheorie angesehen werden und zählen, etwa neben Heinrich Zschokkes im gleichen Jahr publizierter, dezidiert gegen Kant gerichteter psychologischer Ästhetik (vgl. Zschokke: Ideen zur psychologischen Ästhetik), zu den bedeutsamsten Entwürfen der spätaufklärerischen nichttranszendentalen Ästhetik vom anthropologischen Fundamentalbegriff der Emotionen aus. Abicht definiert Ästhetik als „Lehre der Gefühlkunst“ („wie wir auf das sicherste durch Kunstwerke Gefühle erweken können, unabgesehen, wohin diese Gefühle weiter führen mögen“) und leitet die Bestimmung des kunstästhetischen Ideals über die anthropologische Disposition („Verfassung des Herzens“) ab: Ohne eine „genaue Hinsicht auf die Beschaffenheiten des Genießenden“ ist keine wahre Bestimmung der „ästhetischen Eigenheiten der Kunstwerke“ möglich. (vgl. ebd., 15. Brief, S. 584–637, hier S. 587, S. 589ff.). Abichts Würdigung als Theoretiker einer psychologisch-anthropologischen Ästhetik im Übergang zum 19. Jahrhundert, so sei an dieser Stelle angemerkt, steht noch aus. Weder ältere (Dessoir: Geschichte der neueren deutschen Psychologie) noch neuere Ästhetikgeschichtsschreibung (vgl. Allesch: Geschichte der psychologischen Ästhetik) haben auf seine ästhetisch-psychologischen Entwürfe Bezug genommen. 166 „Das subjektive Vermögen zur Lust und Unlust, die Quelle der Empfindungen, nennen wir das Empfindungsvermögen.“ (Zschokke: Ideen zur psychologischen Ästhetik, S. 235). 167 Abicht schlägt vor, „Aesthetik, neuerdings auch Geschmakslehre genannt“ in „die Lehre der Gefühlkunst“ umzubenennen, „weil mir dieser Name am passendsten und unzweydeutigsten zu seyn scheint“ (vgl. Abicht: Kritische Briefe, S. 587). Dass der Begriff des Geschmacks im weiteren Verlauf der Abhandlung folgerichtig auch nicht einmal mehr mit dem Namen auftaucht, darf zugleich als gewollte begriffliche Absetzung von der kontemporären, stark vom Kantianismus geprägten Geschmacksurteilsdiskussion gewertet werden.
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zierte Theorie des Gefühls,168 und zwar auch dort, wo die Rückbezüglichkeiten zum Erkenntnisvermögen und seiner Bewertungsfunktion gewahrt bleiben.169 Im Zentrum des ästhetisch-anthropologischen Interesses steht denn auch nicht die theoretische Analyse eines „auf Gründen a priori“ beruhenden „reinen Geschmacksurteils“,170 sondern die Untersuchung des ästhetischen Wirkungspotenzials der Emotionen.171 2.6 Ästhetik der Emotionen als Prototyp einer Theorie der ästhetischen Erfahrung. Konklusionen mit Blick auf einen erweiterten Ästhetikbegriff Bevor abschließend zu diesen Untersuchungen eine weitere Station anthropologisch-ästhetischer Theoriebildung der späten Aufklärung auf die Tragfähigkeit eines im Emotionsbegriff systematisierten Ästhetikverständnisses zu prüfen ist, gilt es, die zentralen Ergebnisse des Sulzerschen Neuansatzes unter Einbeziehung des in der Einleitung exponierten erweiterten Ästhetikbegriffes noch einmal in den Blick zu nehmen. a) Alle Vorstellungsleistungen des Psychischen sind, so Sulzers früher emotionstheoretischer Ausgangspunkt (1751/52), lustaffine Formen der sinnlich-ästhetischen Gegenstandserfassung auf der Basis eines sich ungehindert artikulierenden Tätigkeitstriebes der Seele; alle psychischen Erfassungsleistungen sind mithin vollzugsorientierte Äußerungsformen der Seele. Sinnlich-ästhetische Wahrnehmung zeichnet sich durch das Fehlen deutlicher Unterscheidungsmerkmale an einem Gegenstand (Objekt) und das Vorhandensein subjektiver Erlebnisqualitäten (d.h. Zustandserfahrungen des Subjekts) aus; gegenüber der Gegen168
Neben den genannten Vertretern der dezidiert psychologischen Ästhetik lässt sich dieser Austausch der ästhetiktheoretischen Leitbegriffe im ausgehenden 18. Jahrhundert auch in den weniger beachteten Seitensträngen der Theoriebildung beobachten. So plädiert etwa der Ästhetiker K. G. Horstig im Rahmen einer ästhetischen Empfindungstheorie (1793) für eine „sichre Theorie des Geschmacks“, die von der Prämisse ausgeht, „daß wir das Schöne angenehm finden“, insofern „[…] schöne Empfindungen […] eine besondre Gattung von angenehmen Empfindungen [sind]“ – und schließt: die „Theorie der Geschmackslehre würde also zuförderst die Grundgesetze der Schönheit einfacher Empfindungen vortragen.“ Vgl. Karl Gottlieb Horstig: Ueber die Natur und das Wesen schöner Empfindungen, in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste. Bd. 49. 2. Stück. Leipzig 1793, S. 195–228, hier S. 195, S. 205. 169 „Dieses Gefühl, verbunden mit einer Fertigkeit, die Gründe seines Wohlgefallens oder Misfallens über Kunstwerke anzugeben, nennen wir den Geschmack. Die Lehre vom Geschmack stehet mit Recht zwischen der Theorie des Erkenntnisvermögens, und jener des Empfindungsvermögens in der Mitte; denn sie umfasset beide. Gefühl ist nicht Beurtheilungskraft; Geschmack ist weder Gefühl allein, noch Beurtheilungskraft allein; sondern etwas, das aus beiden zusammenfließt.“ Eulogius Schneider: Die ersten Grundsätze der schönen Künste überhaupt, und der schönen Schreibart insbesondere. Bonn 1790, § 28, S. 31f. 170 Kant: KdU, §§ 10ff., S. 134ff. 171 Vgl. Zschokke: Ideen zur psychologischen Ästhetik, Vorbericht, S. XI: Zum ästhetischen Grundprinzip der „Kritik des Geschmaks“ wird die „Formel: freie Mittheilung schöner Empfindungen.“
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standsbezüglichkeit des Erkennens kann die spezifische Differenz des Empfindens daher durch die Selbstbezüglichkeit der sinnlich-ästhetischen Erfahrung charakterisiert werden. Die ästhetiktheoretische Bedeutsamkeit dieser im Kern emotionalistischen Konzeption ästhetischer Wahrnehmung und Lust ist in erster Linie darin zu sehen, dass die sinnlich-ästhetische Gegenstandswahrnehmung nun nicht mehr als Modalität eines nach Deutlichkeitsgraden unterscheidenden Vorstellens respektive Erkennens von Gegenständen, sondern als subjektive Wirkungsintensität sinnlich-ästhetischer Wahrnehmungserfahrungen – im Spannungsfeld also der subjektiven Zustände der Lust bzw. Unlust – gefasst ist. Dem Verlust der kognitiven Unterscheidungsfähigkeit von Merkmalen entspricht die Steigerung des Selbstbezugs in der sinnlich-ästhetischen Wahrnehmung. Bereits hier also ist konzeptuell etabliert, was Kant im Rahmen der transzendentalphilosophischen Kritik des rationalistischen Sinnlichkeitsbegriffs als Eigenart des ästhetischen Erfassens reklamieren wird: Im Phänomenbereich des Schönen wird nicht erkannt.172 Denn als ‚sensatio sensitiva‘ rechtfertigt sich die solchermaßen als ästhetische Erfahrungsweise konzipierte Aisthesis nicht durch ihre kognitiven Valenzen, d.h. ihre ‚Zulieferfunktion‘ für das sinnengeleitete Erkennen, sondern durch ihre emotiv bestimmten Wirkungen. In umgekehrter Richtung formuliert: Die lustbegleitete Sinneserfahrung kann, insofern die Verworrenheit der Vorstellungen ja gerade ihre Grundvoraussetzung bildet, nicht Inhalt einer kognitiven Leistung sein.173 b) Mit dem Zurückdrängen des Primats der Gegenstandserkenntnis wird zweitens der Weg frei für sinnengeleitete Formen der Selbstbezüglichkeit (Selbstreflexivität), und das heißt mit Kant formuliert: die Beziehung „auf das Subjekt, und zwar auf das Lebensgefühl desselben“.174 Vergnügen und ästhetische Lust, die sinnlich vermittelte Intensität angenehmer und unangenehmer Empfindungen sind leibnahe Erfahrungsformen und als solche Eigenschaftsmerkmale subjektiven Erlebens. Die von Sulzer vorgenommene Neuverankerung der Eigenart des Ästhetischen in den subjektiven Qualitäten der sensitiven Wahrnehmungserfahrung (‚angenehm‘, ‚unangenehm‘) manifestiert so betrachtet nicht weniger als die Neuzentrierung der ästhetischen Erfassungsleistungen durch ein genuin lebensweltlich bestimmtes Bedürfnis: das des sinnengeleiteten Genusses.175 Die
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Kant: KdU, § 1, S. 115. Vgl. Sulzer: Anmerkungen, S. 229f. Bei der „Empfindung des Wohlgefallens“ wird „die Vorstellung gänzlich auf das Subject und zwar auf das Lebensgefühl desselben unter dem Namen des Gefühls der Lust oder Unlust bezogen“ (ebd.). 175 Zum Genuss in ästhetischer Hinsicht – ästhetische „Aisthesis verstanden als genießendes Verweilen in der Gegenwart einer vollkommenen Erscheinung“ – vgl. im besonderen Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt/M. 1982, S. 132ff. sowie ders.: Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung. Konstanz 1972, bes. S. 71–90,
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ästhetische Rechtfertigung aisthetischer Erfahrung erfolgt folgerichtig nicht mehr durch ihren Beitrag zur Erkenntnis, sondern durch die mit der sinnlichen Wahrnehmung selbst verbundenen Weisen sinnlich-ästhetischer Affizierung, die lustvollen Qualitäten der Selbstwahrnehmung. c) Drittens schließlich liegt in der Konsequenz des Sulzerschen Neuzugriffs, und das kennzeichnet ihn als Prototyp anthropologischer Ästhetik, dass die Natur des Ästhetischen weder vordergründig noch ausschließlich über einen vorgängig definierten Schönheitsbegriff bestimmt wird, das Ästhetische der Wahrnehmung sich nicht wesentlich durch den Bezug auf den schönen Gegenstand qualifiziert. Es sind vielmehr die Erlebnisqualitäten der (aisthetischen) Sinneserfahrung selber, an der die Qualifizierung ästhetisch relevanter Erfahrung ihren Ausgangspunkt nehmen muss. Sulzers hier nicht weiter zu verfolgende ästhetiktheoretische Innovationsleistungen erweisen sich demnach in zwei Richtungen als anschlussfähig für neuere Systematisierungen der ästhetischen Wahrnehmung (Aisthesis). Zum einen an M. Seels Differenzierungsmodell der ästhetischen Aisthesis, wonach Selbstbezüglichkeit und Vollzugsorientiertheit der sensitiven Erfassungsleistungen des Subjekts den Maßstab ästhetischer Wahrnehmung (ästhetischer Gegenstandskonstitution ohne Fixierung auf ‚schöne‘ Objekte) bilden. Zum anderen ergeben sich – und dies, so bleibt festzuhalten, gerade auch eingedenk dessen, dass Sulzers allemal ‚vorkritische‘ Positionen aus ihren Bindungen an die rationalistisch-vorstellungstheoretische Tradition nicht zu lösen sind – Affinitäten zur Theorie der ästhetischen Erfahrung, wie sie in der Nachfolge von H. R. Jauß oder R. Bubner entwickelt wurde.176 Mit seinem wahrnehmungspsychologisch orientierten Neuzugang zur Theorie der Aisthesis hat Sulzer jedenfalls den epistemologischen und szientifischen Begründungscharakter der anthropologischen Ästhetik Baumgartens verlassen. In der damit verbundenen „Emotionalisierung des Ästhetischen“ lediglich eine „schlechte Alternative“ zur rationalistischen Tradition der Depravierung der Sinnlichkeit zu S. 125–165. Als Überblicksdarstellung in systematischer und historischer Hinsicht vgl. jetzt auch Cordula Hufnagel: Art. „Genuß / Vergnügen“, in: ÄGB II, S. 709–730. 176 Problemorientierte Aufrisse zum nach wie vor kontrovers diskutierten Konzeptbegriff der ästhetischen Erfahrung liefert Werner Henckmann: Artikel „Ästhetik“, in: ders., Konrad Lotter (Hg.): Lexikon der Ästhetik. München 1992, S. 20–24, bes. S. 21f.; ders.: Aspekte der ästhetischen Erfahrung, in: Anodos. Festschrift für Helmut Kuhn. Hrsg. von Rupert Hofmann. Weinheim 1989, S. 55–75. Vgl. neuerdings auch (mit einschlägigen Literaturangaben) Georg Maag: Artikel „Erfahrung“, in: ÄGB II, S. 260–275. Wenn Henckmann in seiner Kritik an Jauß’ Theorie der ästhetischen Erfahrung den Einwand geltend macht, dass ästhetische Erfahrung heute vor allem „eine Theorie von den Grenzen der ästhetischen Erfahrung sein“ müsse (Henckmann: Aspekte der ästhetischen Erfahrung, S. 57), ist für das 18. Jahrhundert wohl eher der entgegengesetzte Befund festzuhalten. Im Rahmen der gezielten Entgrenzung des – metaphysisch und erkenntnistheoretisch verengten – Begriffs des Ästhetischen entwickelt die anthropologische Ästhetik der Aufklärung, was sich im Ergebnis als neuer Stellenwert der sinnlich-ästhetischen Wahrnehmung für das wahrnehmende und genießende Subjekt abzeichnet.
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sehen und mithin einen Rückschritt hinter Baumgartens Konzept des Ästhetischen als analogon rationis, würde voraussetzen, die kognitive Rehabilitation der Sinnlichkeit zum Maßstab des ästhetischen Diskurses der Sinnlichkeit im 18. Jahrhundert zu erheben.177 Sulzers ästhetische Theorie hingegen etabliert eine ästhetischund anthropologiegeschichtlich relevante Pointe – die Theorie der ästhetischen Aisthesis ist fortan für die Vermögenssphäre der Emotionalität geöffnet.
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Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik, S. 43f. Scheer referiert in der Sache nichts anderes als Baeumlers Position (vgl. dieser Abschnitt, Anm. 1), wenn sie den Problemgehalt des Ästhetischen auf den Dualismus von emotionsbasierter und rationalitätsbasierter Aisthesistheorie reduziert und den Erfinder der philosophischen Ästhetik als theoriegeschichtlichen Überwinder der ästhetischen Probleme der späten Aufklärung einsetzt: Baumgarten „versuchte dieser schlechten Alternative – nämlich Rationalisierung des Ästhetischen auf der einen Seite [Descartes, Leibniz, E.S.], Emotionalisierung des Ästhetischen auf der anderen – zu entgehen, indem er zwar eine eigenständige sensitive Erkenntnisweise reklamiert, deren Erkenntnisanspruch jedoch durch Analogie zur rationalen Erkenntnis gewahrt wissen möchte.“ (ebd., S. 43f.).
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VII Von der Lustpsychologie zur Kunsttheorie der Emotionen. J. A. Eberhards Versuch eines Plans zu einer praktischen Aesthetik (1790)
Dass Entwicklungsverläufe geistiger Positionierungen dort an theoriegeschichtlicher Brisanz gewinnen, wo sie widerrufen oder in grundsätzlicher Weise revidiert werden, lässt sich auch im Theoriefeld der anthropologischen Ästhetik der deutschen Spätaufklärung bestätigen. Der Befund, mit dem Johann August Eberhard in der Hochphase transdisziplinärer Kooperationen von empirischer Psychologie, Erfahrungsseelenkunde und Anthropologie zu einer grundsätzlichen Kritik der bisherigen Ästhetik der Baumgartenschen Schule ansetzt, ist eine solche Revision und geeignet, eine Reihe paradigmatischer Wandlungen in der Theoriesituation der anthropologischen Ästhetik zum Ende des 18. Jahrhunderts vor Augen zu führen. Wie die Selbstkritik seiner noch gut 15 Jahre zuvor in der Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens (1776)1 formulierten Überzeugung, wonach alle im Feld der empirischen und einzelwissenschaftlichen Analyse entstehenden Irritationen über die Natur des Emotionalen allein durch den Rückgang auf ihr metaphysisches Substrat (den rationalistischen Begriff der Kraft und damit die Kategorie der Seele als vorstellendem Bewusstsein) befriedigende Aufklärung finden könnten, mutet in der Tat Eberhards neuerliche Feststellung an: Wenn die Aesthetik das wäre, was sie seyn soll [...], wenn ihre ersten Grundwahrheiten alle Urtheile des Geschmacks, bis auf die speciellesten, erreichen, wenn die Theorie auch für die besondersten Eindrücke auf das Gefühl des Schönen, soll Grund angeben können: so muß die Wissenschaft zwischen beyden keine Lücke lassen, so muß sie beyde in den einleuchtendsten Zusammenhang bringen; das Gefühl muß sich durch die nächsten Gesetze des Geschmacks rechtfertigen, und diese nächsten Gesetze müssen aus den ersten und allgemeinsten hergeleitet seyn.2
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Siehe die Ausführungen oben, Abschnitt V.1. Johann August Eberhard: Versuch eines Plans zu einer praktischen Aesthetik. Den philosophischen Kunstrichtern zur Prüfung vorgelegt, in: ders. (Hg.): Philosophisches Magazin. Dritter Band. Erstes Stück, Halle 1790, S. 1–54 [Sigle: VPÄ]. Mit Ausnahme der referierend gehaltenen Dissertation von Georg Draeger (vgl. ders.: Johann August Eberhards Psychologie und Ästhetik. Halle-Wittenberg 1914, S. 39–46) ist Eberhards später Aufsatz zur philosophischen Ästhetik von der bisherigen Ästhetikhistoriographie bislang nicht ausgewertet worden. Dabei ist der Stellenwert der Abhandlung für das Verständnis des Eberhardschen Ästhetikbegriffs von kaum zu unterschätzender Bedeutung und alles andere als ein Seitenstück der theoretischen Auseinandersetzung des Popularphilosophen im Spannungsfeld von Erfahrungspsychologie und empirischer Anthropologie einerseits sowie Kantischer Transzendentalphilosophie andererseits. Zeitgleich mit der dritten Auflage seines Ästhetiklehrbuchs veröffentlicht (Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Zum Gebrauche seiner Vorlesungen. Dritte verbesserte Auflage, Halle 1790) entfaltet der Versuch in zusammenhängender Argumentation, was im Ästhetikkompendium lediglich in paragraphierter Ordnung entwickelt und teilweise mit
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Die „Eindrücke“ und das „Gefühl des Schönen“ korrelierten mit dem „Geschmack“ der hier fixierte terminologische Rahmen, wie zu zeigen, markanter Ausdruck eines gesteigerten Psychologisierungsbedürfnisses vom Boden des rationalistischen Vorstellungsbegriffs aus, lässt sich in der Tat als Tribut des von Leibniz’ Systemphilosophie geprägten Popularphilosophen an die zeitgenössischen Empirisierungstendenzen der späten Aufklärung im Theoriefeld von Geschmackskritik, empirischer Psychologie und Anthropologie rekonstruieren.3 Freilich, das Programm einer Empirisierung des Psychischen in ästhetischer Hinsicht war von Eberhard bereits mehrfach als unerlässliche Bedingung für eine zeitgemäße Theorie des ästhetischen Wissens festgestellt und eingeklagt worden.4 Der neue Gesichtspunkt des Versuchs hingegen, und das macht denselben zu einem exemplarischen Zeugnis der Theoriesituation spätaufklärerischer Ästhetik, positioniert ästhetische Theorie nunmehr explizit und programmatisch als Reflexionsforum der Wahrnehmungs- und Erkenntnispotenzen der menschlichen Seele im wirkungsästhetischen Begriff der Emotionen.
1. Praktische Ästhetik: Ästhetik ‚von unten‘ und ‚von oben‘ Anders als im oben rekonstruierten Versuch einer vorstellungstheoretischen Deduktion der Emotionen in der Allgemeinen Theorie bestimmen in Eberhards Entwurf einer praktischen Ästhetik denn auch deutlich veränderte Ausgangsdiagnosen bezüglich des Stellenwerts der philosophischen Ästhetik die Richtung der Argumentation. Kritik an der Abstraktheit der ästhetischen Theorie und der philosophischen Psychologie, durch die, so Eberhard, der „einleuchtendste Zusammenhang“ zwischen der allgemeinen Geschmacks- und Schönheitstheorie und den besonderen Gesetzen im Feld der ästhetischen Erfahrung bislang verhindert wor-
3
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Zusatzbestimmungen versehen war. Der im Versuch ausformulierte Theorieabschnitt „Praktische Aesthetik“ bildet im Vorlesungskompendium das Brückenglied zwischen allgemeiner theoretischer (Erster Teil) und der auf Dichtkunst bzw. Poetik angewendeten Ästhetik (Dritter Teil), vgl. Theorie der schönen Künste, Vorbericht zur dritten Ausgabe, S. XIII; Zweyter Theil. Praktische Aesthetik, §§ 115–141, S. 145–160. Die zeitgenössische Ästhetiktheorie hat im übrigen nicht Eberhards ambitionierten Versuch gewürdigt, sondern ihre Kritik an den Paragraphen zur „Praktischen Aesthetik“ in der synchron erschienenen Theorie der schönen Künste und Wissenschaften festgemacht (vgl. Allgemeine Literatur-Zeitung, 1790, Nr. 384, 385). Neben den zeitgenössischen ästhetischen Periodika (Bibliothek der neuen Wissenschaften; Briefe über die neueste Literatur) macht Eberhard die britische Moralphilosophie (Hutcheson) und Ästhetik (Burke) sowie Mendelssohn und Sulzer – als gleichsam ‚vollendende‘ Grundsatzphilosophen für die Fortschritte bei der „genaue[n] Zergliederung der Empfindungen“ verantwortlich (vgl. VPÄ, S. 6f.). Henry Home (Lord Kames) fehlt in der ausführlichen Aufzählung bezeichnenderweise ebenso wie die Vertreter des französischen Emotionalismus. Vgl. neben den einschlägigen Formulierungen in der Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens (s.o.) Eberhards wissenschaftssystematischen Grundriss der Ästhetik als philosophischer Disziplin in ders.: Von dem Begriffe der Philosophie, bes. S. 51ff. („Wissenschaften, die der Psychologie untergeordnet sind“: Logik und Ästhetik).
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den sei, sind ihre maßgeblichen Parameter. Denn, so heißt es nun mit offensiver Kritik am ästhetischen Universalismus Baumgartens und Meiers: Also die Aesthetik war zu einseitig, sie war nicht allgemein anwendbar, nicht vielumfassend genug. Allein dieses war nicht ihr einziger Mangel; sie war auch zu abstrakt; sie ging blos von den ersten Grundsätzen aus, ohne die angenehmen und unangenehmen Eindrücke, welche die Werke der Natur und der Kunst auf das bloße Gefühl machen, gehörig zu beobachten, diese Gefühle zu zergliedern, und ihre Zergliederung so weit fortzusetzen, daß sie sich mit den Vernunftwahrheiten der reinsten Theorie begegnen konnten.5
Verschränkung von empirischer, am wirkungsästhetischen Potential der Emotionen6 ausgerichteter Analyse der psychischen Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen (die in jenem „so einfachen Zweck, als das Vergnügen ist“, ihre anthropologische Basis haben)7 mit einer grundsatzphilosophisch orientierten Reflexion, es ist diese Kombination, von der sich Eberhard die nachhaltigste Erneuerung der Wissenschaft des Ästhetischen und demgemäß sowohl die Vermeidung des bisherigen Reduktionismus in der ästhetischen Theorie (zu einer „Wissenschaft der Regeln der Vollkommenheit der untern Erkenntnißkräfte“ [Hervorh. E.S.])8 als auch die Entschärfung des Hiatus zwischen spekulativem und auf die Praxis der Kunst bezogenem ästhetischen Wissen verspricht. Eberhards in diesem Zusammenhang lancierte Baumgarten-Kritik, als grundsätzlicher Einwand gegen die genannte Restriktion ästhetischer Theorie, ist mithin doppelt: epistemologischer Einspruch gegen die Konzeption ästhetischer Theorie als Logik-analoger Wissenschaft („von einem so abstrakten Gesichtspunkte“)9 und anthropologischer Einwand gegen die Einengung auf die ästhetischen Vollkommenheitsmerkmale der Erkenntniskräfte, d.h. gegen die Ausblendung der ästhetischen Potentiale der außerkognitiven Wahrnehmungen „bloßen Gefühls“.10 5 6
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Eberhard: VPÄ, S. 4. Das „bloße Gefühl“ als Platzhalter für die nichtrationalen Seelenfakultäten („diese Gefühle“!). – Man sieht, wie weit Eberhard hier in Abweichung von der schulphilosophischen Terminologie dem zeitgenössischen Bedürfnis nach einer terminologischen Fixierung ästhetisch relevanter Seelentätigkeiten durch den Emotionsbegriff entgegenzukommen versucht. Eberhard: VPÄ, S. 3. Ebd., S. 5. Ebd. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, dass die Motive für dieses Revisionsbedürfnis zugleich über die zeitgenössische Kritik vermittelt sind, die die Praxisferne der ästhetischen Theorie zunehmend beklagte und als grundlegenden Makel der deutschen Ästhetik seit Baumgarten diagnostizierte. „Alle Nationen, die in den schönen Wissenschaften etwas leisteten“, so der anonyme Rezensent der soeben (1783) erschienenen Ästhetiken Eberhards, Engels und Eschenburgs, „schrieben erst Muster, und dann Theorien; nur die Deutschen kehrten die Ordnung um, und fingen bey den Theorien an. [...] Während daß unsere Litteratur von einer Stufe der Vollkommenheit zur andern [...] fortging, eilten ihr Theorie und Kritik mit Riesenschritten zuvor [...]. Man kann daher sagen, daß unsere schöne Litteratur eigentlich auf Universitäten, in Disputationssälen, aus Kompendien, Vorlesungen, Theorien und Kritiken aufgewachsen ist.“ [Anonymus]: Sammelrezension zur Theorie der schönen Wissenschaften [Eberhard; Engel; Eschenburg], in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften, 29. Bd., 2. Stück, Leipzig 1783, S. 267–290, hier S. 267ff.
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Die hier hervorzuhebenden terminologischen wie sachlichen Parallelen des Eberhardschen Wissenschaftsprogramms für die Ästhetik zu dem Fechnerschen Typologisierungsschema der zwei Weisen systematischer Wissenskonstitution resp. Erkenntnis („von Oben“, „von Unten“) bieten theoriegeschichtlich wertvolle Hinweise darauf, mit welchem Differenzierungsgrad die spätaufklärerische Ästhetik den Versuch unternimmt, die Theorie des ästhetischen Wissens im Konstitutionsfeld immer komplexer werdender heterogener Begründungszugänge anzusiedeln.11 Denn auf der einen Seite „von unten an[zu]fangen“ bedeute, so Eberhard, nichts anderes als „durch eine vollständige Zergliederung der Mittel einer jeden Kunst, die Elemente ihrer Schönheit auf[zu]suchen, ihre ästhetischmöglichen [!] Zusammensetzungen [zu] erforschen, [...] so wie die Arten und Grade der ästhetischen Vollkommenheit des Ganzen zu bestimmen“12 und unter dem Gesichtspunkt der jeweils konkreten Realisierungsvarianten zu reflektieren.13 Auf der anderen Seite komme es, so Eberhard in fast identischer Terminologie wie der Psychologe des 19. Jahrhunderts, darauf an, „nun auch mit den obersten Theilen herunter[zu] gehen“, d.h. die „erste Quelle des Vergnügens, das uns die Werke der schönen Künste gewähren, bis zu ihren allerbesondersten Abtheilungen herab[zu] leiten“,14 um zu zeigen, durch welche „besondersten Gründe“15 das Wohlgefallen am Schönen im Breitenspektrum aller kunstästhetischen Möglichkeiten jeweils konstituiert wird. Im Unterschied zu Fechners, als methodologische Disjunktion von induktiver (‚von unten‘) und deduktiver (‚von oben‘) philosophischer Wissenskonstitution angelegtem Typologisierungsschema, modelliert Eberhard mit dem hier entwickelten Aufriss einer systematischen Theorie des Schönen im Doppelzugriff eines kunstästhetisch differenzierten Schönheits- und Lustbegriffs die unterschiedlichen Begründungsverfahren als komplementäre Weisen der ästhetischen Theoriebildung. Philosophische Ästhetik, soviel wird damit deutlich, hat auch als anthropologisch im Begriff des Wohlgefallens, der Lust begründete, nicht im empirischen und einzelwissenschaftlichen Zugriff auf den ästhetischen Phänomenbereich ihr 11
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Um die direkten Parallelen kenntlich zu machen, sei Fechners Typologie der ästhetischen Begründungsmuster (vgl. auch oben, Abschnitt 1) hier ausführlicher zitiert: „Man behandelt sie [die menschliche Erkenntnis in Gestalt des ästhetischen Wissens, E.S.] nach einem kurzen Ausdrucke von Oben herab, indem man von allgemeinsten Ideen und Begriffen ausgehend zum Einzelnen absteigt, von Unten herauf, indem man vom Einzelnen zum Allgemeinen aufsteigt. Dort ordnet man das ästhetische Erfahrungsgebiet einem, von obersten Gesichtspuncten aus construirten, ideellen Rahmen nur ein und unter; hier baut man die ganze Ästhetik auf Grund ästhetischer Thatsachen und Gesetze von Unten an auf. Dort handelt es sich in erster und zugleich höchster Instanz um die Ideen und Begriffe der Schönheit, der Kunst […]. Aus der reinen Höhe solcher Allgemeinheiten steigt man dann in das irdisch-empirische Gebiet des einzelnen, des zeitlich und örtlich Schönen herab, und misst alles Einzelne am Massstabe des Allgemeinen.“ (Gustav Theodor Fechner: Vorschule der Ästhetik. Bd. 1. Leipzig 1876, S. 1f.). Eberhard: VPÄ, S. 8. Vgl. Eberhard: TSKW, §§ 16–22, S. 16–27 (für die Anwendungsfelder Rhetorik, Dichtkunst, Baukunst, Mimik, Bildhauerkunst, Malerei, Musik). Eberhard: VPÄ, S. 8f. Ebd., S. 9.
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ästhetisches Letztkriterium, so wie sie umgekehrt nicht bloß eine im ästhetischen Reflexionsmoment realisierte Form der Metaphysikkritik darstellt. Ihr leitender ‚praktischer‘ Impetus rekrutiert sich aus der Bemühung um eine asymptotische Annäherung der „speciellesten Kritik“ mit der „abstraktesten Aesthetik“16 eine Forderung, die Eberhard nunmehr in Ergänzungsabsicht der Vorarbeiten insbesondere Hutchesons und Burkes, Mendelssohns und Sulzers erstens über die doppelte Differenzierung des ästhetischen Wissens: anthropologisch und ästhetisch, und zweitens über die Zentralstellung des wirkungsästhetischen Gesichtspunkts in der ästhetischen Theorie, zu realisieren sucht.17
2. Das „Gefühl unserer Kräfte“: Eberhards anthropologische Ästhetik der Emotionen Vor dem Hintergrund dieser wissenschaftsgeschichtlichen Positionierung der ästhetischen Theorie ist nicht erstaunlich, dass Eberhard den noch in seiner Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens leitenden Gesichtspunkt einer konsequent vorstellungstheoretischen Konzeption der Seele nunmehr zurückstellt und einen ästhetiktheoretisch-anthropologischen Neuansatz etabliert, der auf eine anthropologische Differenzierung der „Kräfte“ (!) der Seele zielt, auf eine „Zerspaltung der Gefühle“18 als Versuch einer wirkungspsychologischen Differenzierung der lustvollen Wahrnehmung und Betätigung des ästhetisch empfindenden Subjekts: Der letzte Grund alles Vergnügens ist Thätigkeitsgefühl [Hervorh. E.S.], oder das Gefühl der angemessenen Beschäfftigung, welches uns ein Gegenstand vermittelst der Vorstellungen giebt, die er in unserer Seele erregt; also Gefühl unserer Kräfte. Allein dieser Kräfte sind mehrere in unserer Seele.19
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Ebd., S. 7. Die Aufgabe der Ästhetik als theoretischer Vermittlungsinstanz zwischen spekulativem Ästhetikbegriff und konkreter kunstästhetischer Praxis hatte Eberhard bereits früh gesehen und, über die einschlägigen Positionierungen in der Allgemeinen Theorie hinaus sowie im Anschluss an Sulzer, an ein beobachtungsanalytisches Untersuchungsprogramm über die Empfindungen geknüpft (vgl. ders.: Von dem Begriffe der Philosophie, S. 53: „Die Aesthetik hat bisher nur immer vorzüglich die allgemeinsten Regeln für die untere Erkenntnißkraft enthalten; die nämlich, die aus ihrer Definition hergeleitet waren. Sie erwartet noch häufigere und genauere Beobachtungen über die Empfindungen, ihren Gang, ihre Erregung und Lenkung, ihre Aeußerungen und Ausdruck, um den Virtuosen in seiner Arbeit zu leiten, ihn die Gattungen seiner Kunstwerke kennen zu lehren, und ihn mit ihren Mitteln, ihrer Behandlungsart und Wirkung bekannt zu machen.“) So besehen artikuliert sich im späteren Versuch in der Tat auch ein Kontinuitätsmoment im psychologischen Ansatz, nunmehr freilich weniger mit Blickrichtung auf eine empirische Analytik der emotional geleiteten Sinneserfahrung, als im dezidierten Bezug auf ihre wahrnehmungs- und lustpsychologischen Implikationen. Eberhard: VPÄ, S. 20. Ebd., S. 9.
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Die hier unstrittig auf de Pouilly verweisende anthropologisch-psychologische Ausgangsprämisse des Versuchs benennt augenscheinlich keine mit einer metaphysischen „Urkraft“ korrelierende abstrakte Potenz des Psychischen mehr,20 sondern eine auf die subjektiven Wahrnehmungseindrücke bezogene Fähigkeit der psychischen Affizierung ohne ein vermögenspsychologisch eindeutig identifizierbares Korrelat.21 Bereits in den ersten beiden Auflagen seiner Ästhetik hatte Eberhard diese Anschauung als den lusttheoretischen Angelpunkt in der ästhetischen Theorie deklariert: „Angenehme Empfindungen“, so lautete hier der Titel für den Inbegriff der ästhetischen Wahrnehmungen und zugleich die vermögenübergreifende „letzte Quelle des Vergnügens“.22 Aus ihnen ließ sich eine Subjektivierung des ästhetischen Wahrnehmungsbegriffs herleiten, die sowohl den metaphysischen Schönheitsbegriff wie den objektiven Vollkommenheitsbegriff über die anthropologische Disposition der Seele, ihre Kraft zu beschäftigen und Vergnügen an dieser Betätigung zu finden, reflektierte.23 Die noch in der Allgemeinen Theorie maßgebliche Ableitung der Seelentätigkeiten nach dem Gradationsmodell der unterschiedlichen Vorstellungsgrade und damit: über das rationalistische Paradigma der Repräsentation24 ist damit aufgesprengt, genauer, sie tritt auf der Differenzierungsebene der Lust-Unlust-Emotionen tendenziell zurück. An deren Stelle etabliert Eberhard nun, wie im folgenden zu rekonstruieren, einen dreistufigen Differenzierungsansatz des (als vermögensübergreifend ausgewiesenen) Thätigkeits- bzw. Beschäftigungsgefühls, mit dem nichts weniger als eine anthropologische Binnenunterscheidung der emotionalen Seelenleistungen in ästhetischer Differenzierungsabsicht intendiert ist.25 20 21
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Vgl. dagegen ATDE, S. 17, S. 24. Vergnügen, daran hält Eberhard als Wolffianer und Leibnizianer fest, ist nur über die vorstellende Tätigkeit der Seele vermittelbar, ja setzt, nicht anders als das Begehren, Erkenntnis voraus, ohne damit jedoch – so der entscheidende Zusatz – „zum Erkenntnißvermögen [zu] gehören“, d.h. mit den kognitiven Leistungen der Seele identisch zu sein (vgl. Johann August Eberhard: Einige Anmerkungen über die Recension meiner Theorie der schönen Künste und Wissenschaften in der Allg.[emeinen] Litt.[eratur] Zeit.[ung], in: ders. (Hg.): Philosophisches Magazin, Bd. 2, Stück 1, Halle 1791, S. 148–170, hier S. 155). Vgl. Eberhard: TSW II, §§ 11–13, S. 12–15. Der eigentümliche Doppelcharakter des rationalistischen Vollkommenheitsbegriffs in seiner ästhetiktheoretischen Ausrichtung hat hier, in der anthropologischen Auszeichnung der Betätigungslust, seine Wurzeln: „Da sie [die Seele, E.S.] ihre Kraft nicht anders, als durch ihre Handlungen fühlen kann, und in dieser Kraft ihre Vollkommenheit besteht [...] so entsteht wiederum [...] das Vergnügen aus dem Gefühl der Vollkommenheit.“ (vgl. ebd., § 12, S. 14, Anm. 3). Zum gnoseologischen Ansatz der Quantifizierung des Psychischen über den archimedischen Bezugspunkt aller psychischen Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen: die Vorstellungskraft, vgl. die Ausführungen oben, Abschnitt V, bes. 1.1. Es ist die Verschränkung von kunstästhetischer und wahrnehmungsästhetischer (psychologischer) Perspektive, die Eberhard hier zum Desiderat der kontemporären ästhetischen Theoriebildung erklärt und von Sulzers diesbezüglichen Unternehmungen in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste offenkundig nicht eingelöst sieht: „Welchen Antheil hat eine jede [Kraft der Seele, E.S.] an dem Vergnügen, das uns die Werke der Kunst gewähren? Das muß zuerst genauer angegeben werden, und das hat man noch immer anzugeben versäumt.“ (VPÄ, S. 9).
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2.1 Verlangen nach Impressionen. Ästhetische Lust als Eindrucksgefühl Mit dem „Eindrucksgefühl“, so Eberhards Titel für die erste aus dem psychischen „Tätigkeitsgefühl“ abgeleitete ästhetisch affine Emotion, ist die sensitive Seite der ästhetischen Erfahrung gekennzeichnet.26 Die bereits in der Ausgangsprämisse manifeste Identifikation von Lustcharakter und Betätigungscharakter wird damit also zunächst in der Struktur der Sinneserfahrung selbst verankert, und, so die markante Akzentsetzung über die schulphilosophisch korrekte Klassifikation der Sinneserfahrung als Erkenntnisform hinaus, als Korrespondenzemotion eines „Trieb[es] oder eines dunklen Verlangen[s] der Seele nach angenehmen Empfindungen“ bestimmt.27 Demnach gehört die appetitive Disposition der Grund der Seele als Lustbegehren (!) für Eberhard nunmehr zum Grundcharakter der sinnengeleiteten Wahrnehmung selbst.28 Hier deutet sich bereits eine folgenreiche Vermittlung zwischen kognitiven und emotiven Strukturen der sinnengeleiteten ästhetischen Wahrnehmung an. Nicht nur gehören erstes Indiz die Gesetze des Eindruckstriebs der Seele zum „Gesetz des Empfindungsvermögens“.29 Die Spielarten der Lust auf dieser Ebene, von Eberhard unter Verwendung von drei Vollkommenheitskategorien der Baumgartenschen Topik30 charakterisiert, sind jedoch zweites Indiz nicht bloß auf kognitive Leistungen verweisende Wahrnehmungsmodalitäten der sensitiv erkennenden Seele: Zu der „Kraft“, so Eberhard 26
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„Dieses Gefühl wohnt in allen Sinnen, es wird von allen Gegenständen der Natur und der Kunst berührt, und, wenn diese es in eine unserer Erkenntnißkraft angemessene Thätigkeit setzen: so sind sie angenehm.“ (VPÄ, S. 9). Ebd., S. 10. Die hier mit dem Terminus „Trieb“ gegebenen Konnotationen zur psychologischen Willenstheorie sind alles andere als beiläufig und unterstreichen nachhaltig Eberhards Integrationsabsicht von Erkenntnis- und Begehrungsvermögen der Seele im psychologischen Gefühlsbegriff, ein Zusammenhang, der in der für die Spätaufklärung maßgeblichen empirischpsychologischen Willenstheorie eines anderen namhaften Popularphilosophen, J. G. H. Feders, deutlich ausgeprägt ist: Die „mehrern Neigungen des Willens, die auch Triebe, Willenstriebe genannt werden, in so fern Thätigkeit damit verknüpft ist“, so Feder im Abschnitt zur der Interdependenz von Wille und Verstand, sind Elemente der „Willenskraft oder [des] Begehrensvermögen[s]“, und „mit Wohlgefallen oder Mißfallen“ erfüllte Wahrnehmungstätigkeiten der menschlichen Seele (vgl. Johann Georg Heinrich Feder: Untersuchungen über den menschlichen Willen, dessen Naturtriebe, Veränderlichkeit, Verhältniß zur Tugend und Glückseligkeit und die Grundregeln, die menschlichen Gemüther zu erkennen und zu regieren. Erster Theil. Neueste Auflage, Linz 1785, § 1, S. 24f.). Leibniz’ Definition des appetitiven Grundcharakters der Seele (vgl. Leibniz: Prinzipien der Philosophie, § 15, S. 445), die Eberhard in „das Bestreben, Vorstellungen zu haben“, übersetzt (vgl. Eberhard: ATDE, S. 32f.), ist offenkundig nicht zurückgenommen, sondern zum lusttheoretischen Prinzip der psychischen Aktivität transponiert, ein Zugriff, der Eberhard den Prämissen seiner Abhandlung von 1776 gemäß noch verwehrt war. Eberhard: VPÄ, S. 10. Wie sich an seinem Ästhetiklehrbuch, der Theorie der schönen Wissenschaften ablesen lässt, adaptiert Eberhard die Baumgartenschen Hauptkriterien der ästhetischen Vollkommenheit der cognitio sensitiva (Pulchritudo cognitionis) nicht in der Reihenfolge gemäß der Aesthetica (Reichtum, Größe, Wahrheit, Klarheit, Gewißheit, vita cognitionis; vgl. Baumgarten: TÄ, § 22, S. 13), sondern in der Abfolge von „Aesthetische[m] Reichthum, Größe, Klarheit, Wahrheit, Gewißheit, Leben“, vgl. Eberhard: TSW II, S. XV.
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im Rückgriff auf eine der von Sulzer ästhetiktheoretisch etablierten Grundkategorien und mit deutlichem Verweis auf das Moment der ästhetischen Rührung, „gehört die Bewegungskraft [Hervorh. E.S.], die Verstandeskraft, die Größe und Stärke der Seele.“31 2.2 Verlangen nach Emotionen. Ästhetische Lust als Rührungsgefühl Eberhards zweite, aus dem Tätigkeitsgefühl abgeleitete ästhetische Emotion des „Rührungsgefühls“,32 setzt die bemerkten Tendenzen einer vermögenstheoretischen Differenzierung auf dem Weg ästhetischer Reflexion ebenso konsequent fort wie die Absicht, im Rückbezug auf die appetitiven Potenzen der Seele eine theoriegeschichtlich offensive Kritik des Baumgartenschen Ansatzes in der Ästhetik zu leisten: Das Rührungsgefühl, eindeutig als eigenständige Klasse angenehmer Emotionen ausgewiesen, ist der anthropologische Platzhalter für die begehrenden Kräfte der menschlichen Seele:33 „Die Gegenstände können durch ihre freilich oft sehr versteckte Beziehung auf uns [Hervorh. E.S.], angenehme oder unangenehme 31
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Eberhard: VPÄ, S. 11. Eberhard adaptiert explizit Sulzers Theorie der ästhetischen Kraft (als Theorie der Modi ästhetischer „Bewegung“, vgl. Sulzer: Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste, S. 124), wenn er, in Abgrenzung von der „überredenden“ wie der „erleuchtenden“ Kraft der ästhetischen Vorstellungen, als Merkmal der „rührenden“ Kraft definiert, „argumentia moventia“ und „bewegende“ ästhetische Vorstellungen zu enthalten (vgl. TSW II, § 45, S. 60f.). Den eindeutigen Bezug auf die Ebene des Begehrungsvermögens erhellt darüber hinaus ein metaphorisch prägnanter Passus aus Eberhards Allgemeiner Theorie des Denkens und Empfindens: „Wärme“ und „Stärke“ sind notwendig, um das Subjekt „gleich den Winden, welche das Schiff forttreiben, in Bewegung zu setzen.“ (vgl. ATDE., S. 63). Die terminologisch missverständliche Formulierung „Empfindungsvermögen“ als Synonym für das Eindrucksgefühl (S. 10), ist für Eberhard augenscheinlich Sammelbegriff für alle das „Verlangen nach angemessenen Eindrücken“ (ebd.) betreffenden Reize der sinnengeleiteten Wahrnehmung und zeigt, dass sie als vermögenspsychologische Bezeichnung eines eigenständigen dritten Gemütsvermögens im Ästhetikdiskurs dieser Jahre noch nicht etabliert war. Obgleich nicht mit der älteren facultas cognoscendi identisch, ordnet Eberhard das Verlangen in der Hauptsache den unteren Erkenntnisvermögen (schulphilosophisch: dem „Sinne“) zu, womit unmissverständlich ist, dass das Empfindungsvermögen hier nicht als Platzhalter für die inneren Empfindungen (als affektaffine Emotionen respektive „Gefühl“) fungiert bzw. nicht als psychologisch autonome Vermögenssphäre ausgezeichnet wird. Damit ist zugleich etwas über den charakteristischen Unterschied seiner anthropologischen Kunst- und Ästhetiktheorie zu den diversen Anläufen zu einer anthropologisch-vermögenspsychologischen Dreiteilung des Gemüts, wie sie zeitgleich von Platner im Anschluss an Tetens’ Psychologie (Philosophische Versuche, 1777) unternommen werden, gesagt: Nicht auf eine triadische Neuordnung der Seelenvermögen zielt Eberhards Versuch, sondern auf eine ästhetische Ordnung der im allgemeinen Tätigkeitsgefühl der Seele verankerten Spielarten der Lust (vgl. dagegen Draeger: Psychologie und Ästhetik, S. 41). Eberhards emotionalistisch-ästhetischer Neologismus ist eigentlich, so dokumentiert das Folgende, ein Pleonasmus; für den systematischen Bestimmungsrahmen am Leitbegriff des „Thätigkeitsgefühls“ ist er jedoch unvermeidbar. Die von Eberhard erhoffte Einbürgerung dieses „fremdklingende[n] Wort[s]“, vgl. ebd., S. 13) in die ästhetische Theorie blieb indes aus. Vgl. VPÄ, S. 16: „Das Rührungsgefühl vermehrt also die Vergnügen des bloßen Eindrucksgefühls, es ist eine neue Quelle angenehmer Empfindungen [...].“
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Leidenschaften erregen, die wir in ihren unmerklichen Graden Emotionen nennen könnten.“34 Nicht nur die terminologische Sicherstellung des Emotionsbegriffs im Kontext der appetitiv (Begehren) und affektiv (Leidenschaften) konzipierten Lust verdient hier Aufmerksamkeit.35 Indem Eberhard das Rührungsgefühl im Anschluss explizit mit der letzten Kategorie der Baumgartenschen Topik, der vita cognitionis, korreliert und die Baumgartensche Verwendung der Kategorie sachlich als Überdehnung der Analogie von Logik und Ästhetik kritisiert,36 wird das Ausmaß des theoriegeschichtlichen Revisionsanspruchs des Popularphilosophen deutlich: Die selbstbezügliche Struktur der lust- und affektaffinen Emotionen, ihre „Beziehung auf uns“, ist nicht ein die ästhetische Sinneserfahrung lediglich steigerndes bzw. vollendendes Moment, sondern konstitutiver Bestandteil der ästhetischen Erfahrung selber: Die Bewegung der begehrenden Kräfte mag für die wissenschaftliche Erkenntniß die letzte Vollendung ihrer Vollkommenheit seyn; für die sinnliche ist sie es gewis nicht. Schon bloße Eindrücke können angenehme oder unangenehme Emotionen erregen, ehe noch deren viele zu einem harmonischen Ganzen zusammengefaßt sind; und in diesem harmonischen Ganzen muß die Rührungskraft jedes Theiles, dem Zwecke der ganzen Komposition untergeordnet werden. Es ist also natürlich, daß die Vergnügen des Rührungsgefühls unmittelbar nach den Vergnügen des bloßen Eindrucksgefühls in Betrachtung kommen.37
Im Unterschied zur Baumgartenschen (und Meierschen) Konzeption der ästhetischen Aisthesis, so lässt sich formulieren, ist die appetitive Selbstbezüglichkeit der sinnengeleiteten Wahrnehmung nach Eberhard ‚gleichursprünglich‘ mit der sensitiven Seite der sinnlich-ästhetischen Wahrnehmung gegeben, bildet der subjektive Erfahrungsgehalt der die Seele affizierenden (angenehmen wie unangenehmen) Emotionen gleichsam den vermögensübergreifenden Infiltrationsfaktor aller ästhetischen Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen. Für das Feld der kunstästhetischen Erfahrung (wenngleich nicht nur für dieses)38 deklariert Eberhard somit 34 35
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Ebd., S. 13. Die Verwendung der Kategorie im systematischen Zusammenhang mit der ästhetischen Theorie des Begehrens ist theoriegeschichtliches Novum innerhalb der Eberhardschen Ästhetik und zeigt das im Theoriebereich von Anthropologie und Ästhetik gesteigerte Bedürfnis einer auch terminologischen Alleinstellung der Emotionen – als appetitiv und affektiv relevanten ästhetischen Vermögenskompetenzen – an. Vom sanften („unmerklich“!) ästhetischen Begehren spricht Eberhard allerdings bereits in der zweiten Fassung seines Ästhetikkompendiums: Es ist eine „schwache Emotion zu Tanz und Musik“, die den Rezipienten guter Verse „unmerklich anwandelt“ und zu „lebhaften Vorstellungen“ errege (vgl. ders.: TSW II, Einleitung, S. XIIIf.). Vgl. Eberhard: VPÄ, S. 13. Ebd., S. 13f. Eberhards breit gefächerter Katalog der ästhetischen Subvarianten des Rührungsgefühls („Bewunderungsgefühl“, „Schaudergefühl“, „Liebegefühl“, „Freudegefühl“, „Mitleidsgefühl“ etc.) und der jeweiligen Gefühlsobjektivierungen (Erhabenes, Schreckliches, Feierliches, „Genuß des Lebens“ etc.) – die Erfahrung des Schönen fällt wohlgemerkt nicht in die Zuständigkeit des Rührungsgefühls (!), vgl. VPÄ, S. 21f. – manifestiert nachdrücklich die anthropologische Relevanz der ästhetiktheoretischen Unterscheidungen: Eberhards nach ‚unten‘ hin offene Skala der ästhetiktheoretischen Distinktionen lässt erkennbar werden, wie die Feindifferenzierung der
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zum einen die Selbständigkeit des Begehrens (Emotion, Rührung) gegenüber dem Erkennen, insofern im (ästhetisch vermittelten) Rührungsgefühl nicht die Beschäftigung der sensitiven Erfassungsleistungen (Sinne und Phantasie)39 dominiert, sondern die subjektive Erregung der affektiv zurückgebundenen Gemütskräfte. Zum anderen unterläuft Eberhards Modell der Reziprozität von kognitiven und emotiven Erfassungsleistungen der Seele sowohl die für Baumgarten wie Meier selbstverständliche Subordination der ästhetischen Kategorie des Lebens der Erkenntnis (d.i. die Rührung) unter die gegenstandsbezogenen Merkmalsbestimmungen der cognitio sensitiva (Reichtum, Größe, Lebhaftigkeit) als auch die stratifikatorische Ordnung der ästhetischen Gegenstandskonstitution nach dem Muster der Baumgartenschen Topik.40 Ästhetische Rührung ist dementsprechend eine die kunstästhetische Sinneswahrnehmung in jedem ihrer Konstitutionsmomente begleitende und potenzierende Disposition des Gemüts auf affektiv-emotionaler Vermögensbasis.41 Eberhards demonstrativ angelegte Beispiele dienen freilich nicht lediglich der Veranschaulichung des Sachverhalts, dass die ästhetische Lust der Rührung genau genommen bereits auf der Ebene des Sinnenreizes, der sensuellen Aisthesis stattfindet die Sinnenlust des Gaffers gewährt diesem schon auf der Ebene des bloßen Eindrucksgefühls das Erlebnis angenehmer Emotionen , und das ästhetische Geltungsmoment der Aisthesis sonach auch die rezeptive Seite der ästhetischen Erfahrung umfasst.42 Analog zur doppelten Konstitution des Eindrucksgefühls (Betäti-
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menschlichen Gefühlsphänomene bezüglich ihrer lebensweltlichen Prägungen im Allgemeinen und ihrer ästhetischen Relevanz im Besonderen am Ende des 18. Jahrhunderts fortgeschritten ist. Vgl. VPÄ, S. 9. Es bezeichnet einen weiteren Schritt in Richtung auf die ästhetiktheoretische Differenzierung der Vermögenssphäre des Begehrens, wenn Eberhard mit dieser Bestimmung der vita cognitionis die pragmatischen Konturen des Begriffs – seine Vermittlungsfunktion zur Sphäre des begehrten Guts, mithin des Handelns, nunmehr vollständig ausblendet. Eine Verselbständigung der ästhetischen Erfahrung gegenüber dem sittlichen Moment sinnengeleiteter Wahrnehmung und Erkenntnis, die im ethisch untermauerten Empfindungskonzept der Allgemeinen Theorie nicht realisierbar war (vgl. ders.: ATDE, S. 135: Der „Anbau des Empfindungsvermögens“ ist „von der größten Erheblichkeit [...] für die Ausübung der Tugend“, das ästhetisch-psychologische Verständnis der Emotionen soll dem Verständnis des moralischen Handelns zuarbeiten). Zum latent pragmatischen Moment der vita cognitionis bei Baumgarten und Meier siehe die Ausführungen oben, Abschnitt IV. 1.2, 2.1. Vgl. VPÄ, S. 16: „Das Rührungsgefühl vermehrt [...] die Vergnügen des bloßen Eindrucksgefühls; es ist eine neue Quelle angenehmer Empfindungen.“ Eberhards Beispiel des dem Müßiggang frönenden Gaffers (nach zeitgenössischem Vorbild im Übrigen ein Franzose) macht noch einmal auf die theoriegeschichtliche Umdeutung des rationalistischen Vorstellungsparadigmas aufmerksam, die mit der ästhetischen Thematisierung der vorstellenden Seele als Tätigkeitsgefühl verbunden ist. Denn anders als etwa noch bei Sulzer (1751/52) ist die hier als Sinnenlust des Schauens gefasste subjektive Lusterfahrung nun nicht mehr ausschließlich über die psychische Aktivität einer Vorstellungen produzierenden Seele konzeptualisiert, sondern als passiver (rezeptiver) Sinnenreiz legitimiert, das rationalistische Paradigma der qua Vorstellungen aktivitätsbestimmten Seele ist wirkungsästhetisch unterlaufen.
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gungsbewusstsein und Lustbegehren bzw. Trieb)43 bestimmt Eberhard auch das Rührungsgefühl durch die Doppelstruktur von leidenschaftlicher Affiziertheit durch den ästhetischen Gegenstand und jenem anthropologisch fundierten Bedürfnis des ästhetischen Subjekts, das die Lust-Unlust-Erfahrung als die ihm, seiner „Sehnsucht nach Emotionen“ gemäße affirmiert: „So groß ist die Gewalt des Rührungsgefühls! Emotionen! Emotionen! das ist es, wonach wir alle uns sehnen […]“.44 Dubos’ Theorem des angenehmen Grauens wird, wenngleich nicht uneingeschränkt bzw. frei von kritischen Vorbehalten gegenüber den zeitgenössischen Tendenzen ‚verweichlichter‘ Empfindsamkeit, nahezu wörtlich als anthropologisches TriebMoment der ästhetischen Erfahrung bekräftigt.45 Wenn irgendwo, dann hat Eberhards ästhetische Pathologie hier ihren Platz: In der affekttheoretischen Validierung der Rührung für die ästhetische Theorie, in der historisch der Anschluss an Meiers Theorie des ästhetischen Lebens hergestellt ist.46 2.3 Verlangen nach Wohlgefallen. Ästhetische Lust als Schönheitsgefühl Vermittelt Eberhards lusttheoretischer Zugriff auf die ästhetischen Kräfte bis hierhin den Eindruck einer konsequenten Psychologisierung der Baumgartenschen (Meierschen) Kategorien für die ästhetische Gegenstandserkenntnis47 bzw. umgekehrt, der Promotion der vita cognitionis zur ästhetischen Fundamentalkategorie, so verdeutlicht Eberhards dritte Ableitungsform des menschlichen Tätigkeitsge43 44 45
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Vgl. VPÄ, S. 9f. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. ebd.: Der „Sehnsucht nach Emotionen“ korrespondiert der „Trieb [...], sich gern durch das Gefühl des Grausens fesseln zu lassen“. Gemessen an der Tatsache, dass Eberhard sich in seiner Eigenschaft als Theologe und Moralphilosoph noch wenige Jahre zuvor als Kritiker der „neumodische[n] Tugend“ der Empfindsamkeit („eine Thorheit, in welche ohnehin nur immer die schwächsten Seelen verfallen“) hervorgetan hat (vgl. ders.: Nachschrift. Ueber den sittlichen Werth der Empfindsamkeit, in: Johann Christian Friedrich Behrens: Ueber den Werth der Empfindsamkeit besonders in Rücksicht auf die Romane. Halle 1786, S. 117–142, hier S. 117f.), sind die hier formulierten Bekräftigungen der anthropologischen Allgemeinheit des Emotionsverlangens eindrucksvoll und nicht nur aus dem Systemzwang zu erklären: Der Lust am grausamen Schauspiel gehen hier (wie bei Dubos) Pöbel und Gelehrter nach, – die Lust des „Ungläubigsten“ an der gemeinen Gespenstergeschichte wie an Bürgers „Lenore“ kennt keine soziologische Differenz (vgl. VPÄ, S. 15). Zur europäischen Tradition des lustvollen Schauders vgl. Carsten Zelle: ‚Angenehmes Grauen‘. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert. Hamburg 1987. Wie sehr Eberhard hier tatsächlich den theoriegeschichtlichen Anschluss zur Meierschen Theorie des ästhetischen Lebens und dessen Aufwertung zur ästhetischen Fundamentalkategorie im Kriterienkatalog der cognitio sensitiva herstellt, veranschaulichen in der Tat mit Nachdruck seine entsprechenden Ausführungen zu dieser Kategorie im Ästhetikkompendium: Die ästhetisch „belebende Kraft“, terminologisch wie sachlich jetzt identisch mit „Rührung“, ist „ohne Zweifel [...] die vornehmste Vollkommenheit eines schönen Werkes“, insofern es „Leidenschaften erregt.“ (TSW II, § 66, S. 87, Hervorh. E.S.). „Das Vermögen eines schönen Werkes oder einer Vorstellung, eine solche Rührung oder den höchsten Grad der Rührung hervorzubringen, ist das Pathos.“ (ebd., S. 88). Vgl. die Ausführungen oben, Abschnitt IV. 1.1.
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fühls im Begriff des „Schönheitsgefühls“ , dass die ästhetisch-anthropologischen Begründungsinteressen des Popularphilosophen alles andere als in einer Theorie der angenehmen Gefühle, einer bloß psychologisch fundierten Aisthesis als subjektivistischer Theorie des Ästhetischen aufgehen. Denn, so Eberhard jetzt mit deutlichem Perspektivenwechsel von den subjektiv-psychologischen Wahrnehmungs- und Erlebnisdispositionen hin zu den gegenstandsgerichteten Erfassungsleistungen des ästhetisch affizierten Subjekts: Empfinden und begehren sind nicht die einzigen Kräfte in unserer Seele, deren Thätigkeit eine Quelle des Vergnügens werden kann. Wir haben auch einen Verstand, der die Theile in dem Ganzen sondert und ihr Allgemeines denkt; eine Vernunft, die diese Theile in Verbindung zusammenfaßt, und in dem Ganzen Harmonie wahrnimmt; Witz, der in dem Verschiedenen Uebereinstimmung, und Scharfsinn, der in dem Aehnlichen und Gleichen Verschiedenheit wahrnehmen will; das erstere, um die Uebersicht des Verschiedenen zu erleichtern, das letztere, um das Uebereinstimmende durch Abwechslung anziehend zu machen. Alle diese einzelnen erkennenden Kräfte wirken ein gleichartiges Gefühl, über dessen Benennung ich aber in Verlegenheit seyn werde, wenn man sich nicht den Namen des Schönheitsgefühls will gefallen lassen.48
Ist die appetenz- und affekttheoretische Fundierung des bisherigen Ansatzes, mit dem Eberhard sich de facto gänzlich in theoretischer Übereinstimmung mit der Kantischen Begründung der ästhetischen Erfahrung durch die Subjektivität des Lust-Unlust-Gefühls befand, dadurch zurückgenommen, dass die Lust am Schönen jetzt als Lust am kunstästhetischen Gegenstand und darin: als gemeinschaftlich koordiniertes Gefühl der gegenständlich „erkennenden Kräfte“ konzipiert wird?49 Mit der Zuordnung der intellektgebundenen Erfassungsleistungen zum Begriff des Schönen, so hat es den Anschein, gibt Eberhard der bisherigen Ableitungsrichtung seiner ästhetischen Anthropologie, wonach die Ordnung der ästhetisch relevanten Vermögen sich primär nicht aus den Objektivierungsleistungen der wahrnehmenden Seele herleitete, sondern umgekehrt aus den Wirkungen des vermögensübergreifenden Tätigkeitsgefühls der menschlichen Seele, eine entscheidende Wendung. Denn den angegebenen Bestimmungen zufolge leitet sich das Schönheitsgefühl nicht von ‚unten‘, aus den Eigenschaftsmerkmalen der sinnlichästhetischen Wahrnehmung (das Angenehme des sinnlichen Reizes) ab, sondern aus einem objektiven Begriff der Schönheit, dem nach Eberhard die Erfassungsleistungen des Verstandes und der Vernunft korrespondieren. Diese freilich beziehen sich auf die Merkmale des ästhetischen, des schönen Gegenstands in Übernahme der zeitgenössischen Formel des metaphysischen Vollkommenheitsbe48 49
Eberhard: VPÄ, S. 16f. Verstand und Vernunft als obere, Witz und Scharfsinn als Kategorien der unteren Erkenntnisvermögen, deren gemeinschaftliches Zusammenwirken die Basis des ästhetischen Gefühls bildet bei aller theoretischen Verbindlichkeit gegenüber Baumgartens ästhetischer Theorie zeigt sich hier nachdrücklich Eberhards Intention, die psychologische und anthropologische Erweiterung des Begründungsansatzes der Aesthetica durch die Aufsprengung der Einheit der Aisthesis – im analogon rationis – zu realisieren. An seine Stelle tritt das lustästhetische Prinzip der beschäftigten Seelenkräfte: Tätigkeitsgefühl als „Gefühl unserer Kräfte“ (VPÄ, S. 9).
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griffs – für den Popularphilosophen selbstverständlich „Einheit und Mannigfaltigkeit oder Simplicität und Abwechslung“.50 Im Rahmen dieser Konstruktionen ist es folgerichtig, wenn Eberhard jetzt die affektiven und emotional bestimmten Vollzugsleistungen gegenüber den Vorstellungsaktivitäten zurücktreten lässt und den quantifizierenden Ansatz seiner älteren Vorstellungstheorie in den Kriterienkatalog des normativ definierten Schönen reintegriert. Während der Verstand dabei die Gegenstandserfassung „in Theilen“ realisiert und gleichsam auf dem numerischen Weg des Zählens die ästhetische Lust erreicht,51 fungiert die (hier aisthetisch transformierte) „sinnliche Vernunft“52 (!) als synthetisierende Erfassungsgröße der ästhetischen Teil-Ganze-Relation (vgl. ebd., S. 18f.). So entsteht erstens das „Vergnügen aus Vorstellungen, deren Gegenstände der Verstand in Theilen denkt, die blos der Menge und Größe nach verschieden sind“ – „Harmoniegefühl“ als objektivierendes Erfassen des ästhetischen Gegenstandes von seinen Einzelmerkmalen her.53 Und es entsteht zweitens ästhetische Lust „aus der sinnlich vorgestellten Vollkommenheit, die in dem Gegenstande selbst [Hervorh. E.S.] ist“: „Vollkommenheitsgefühl“ als Resultat des sinnengeleiteten Erfassens der ästhetischen Totalität unter Maßgabe des ästhetischen Zweckbegriffs der Vollkommenheit.54
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Ebd., S. 17. Eberhard adaptiert einen Grundgedanken der Leibnizschen Harmonielehre (unbewusstes Mitzählen), wenn er die ästhetischen Erfassungsleistungen des Verstandes als „Ueberzählen“ der Einzelmerkmale (respektive der kleineren ästhetischen Einheiten) des Kunstwerks bezeichnet. Aus der quantitativ ermessenen Proportionalität der Einzelmerkmale, die die Seele „unvermerkt und mit unbegreiflicher Schnelligkeit überrechnet“, resultiere das Angenehme der Empfindungen wie in der Eurhythmie, Symmetrie und musikalischen Harmonie (vgl. ebd., S. 17f. sowie TSW II, § 22, S. 27 [„Musik“]). „Sinnlich“ fungiert hier in der Bedeutung von „undeutlich“ (vgl. Eberhard: Anmerkungen über die Recension, S. 159). Analog zur Kategorie des Verstandes, die Eberhard in seiner Ästhetik im übrigen als conditio sine qua non des „ästhetischen Genies“ definiert (vgl. TSKW, § 113, S. 143), ergibt sich die aisthetische Funktion dieser Kategorie des begrifflichen Erkennens lediglich durch die Entpflichtung vom deutlichen Erkennen, der „Tiefsinnigkeit“, sowie die Verpflichtung, „das Mannigfaltige sehr sinnlich (vorzustellen)“ unter Beibehaltung der Erkenntnisfunktion also – „in dem Werke das Mannigfaltige [...] äußerst schnell zu unterscheiden“ (vgl. ebd., S. 143). Vgl. VPÄ, S. 18, S. 19. Die Tätigkeit des sinnlich operierenden Verstandes denkt Eberhard also offenkundig ganz analog zum logischen Verstandesgebrauch: Das in den „Bildern und Eindrücken“ als pars Vorgestellte ist zugleich das, was auf das ästhetische totum bezogen wird: „in den Tönen Anzahl der Schwingungen, in den Gesichtsgegenständen Schranken der Ausdehnung oder Figur [...]. Aus diesen Theilen muß er [der Verstand, E.S.] sich auf eine leichte Art das Ganze zusammensetzen können.“ (vgl. ebd., S. 17). Zum systematischen Zusammenhang der ästhetischen Teil-Ganze-Lehre mit Blickrichtung auf Baumgarten, Herder, Kant vgl. Hans Adler: Totum confuse – Pars distincte. Die Entstehung der Ästhetik als ReduktionismusKritik, in: Walter A. Koch (Hg.): Das Ganze und seine Teile = The whole and its parts. Internationales und interdisziplinäres Symposium. Bochum 1989, S. 1–20. Vgl. VPÄ, S. 19: „[D]enn die Zusammenstimmung der Beschaffenheiten und Theile desselben [...] zu dem Zwecke des Werks ist Vollkommenheit.“
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Eberhards durchgängig emotionalistische Klassifikation (Schönheits-, Harmonie- und Vollkommenheits-Gefühle) der nach klassizistischer Tradition subjektunabhängig konzipierten Kategorien des (ontologisch) Schönen zeigt deutlich das Bedürfnis an, den Subjektbezug der ästhetisch relevanten Vollzugstätigkeiten konsequent auch auf den Bereich der Schönheitsmetaphysik auszudehnen; die Grundrichtung der – auf den Ebenen des Empfindens (Eindrucksgefühl) und Begehrens (Rührungsgefühl) bereits kenntlich gewordenen – Psychologisierung bleibt gewahrt. Wie dem ‚ästhetischen‘ Verstand das Absondern und Teilen der ästhetischen Gegenstandsmerkmale „gefällt, weil es in den Eindrücken sinnlich ist und mit Leichtigkeit geschiehet“, lässt Eberhard auch der ästhetischen Vernunfttätigkeit das psychologische Moment der Lusterfahrung (à la Lévesque de Pouilly) die „leichte Beschäftigung“ korrespondieren.55 Damit ist zum einen unmissverständlich ausgedrückt und dieser theoriegeschichtlich für die anthropologische Ästhetik der Baumgartenschen Schule wie für die ästhetische Lusttheorie Kants verbindlichen Prämisse verleiht nicht zuletzt auch Eberhard hier systematische Stützung – dass die ästhetische Letztbegründung auf dem Grund der Lust, des affizierten „Gefühl[s] unserer Kräfte“ ruht.56 Gleichwohl, so die weitere theoriegeschichtlich markante Begründungsentscheidung Eberhards im Versuch, die ästhetische Emotion, der „Sinn für Schönheit“,57 gehört zum Erkenntnisvermögen. Statt in eine Anthropologie des ästhetischen Gefühls, eine Theorie des Ästhetischen auf der Basis eines (ästhetisch autonomisierten) Lust-Unlust-Gefühls, schwenkt Eberhards ästhetische Anthropologie im Definitionsbereich des Ästhetischen als des Schönen – und darüber kann auch der ästhetische Psychologismus nicht hinwegtäuschen – hier in die traditionellen Bahnen der dualistischen Vermögenspsychologie zurück.58
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Ebd., S. 18 (Hervorh. E.S.), S. 19. Die aisthetische Komponente der primären Sinneserfahrung und die lustpsychologische Komponente der ästhetischen Wirkungserfahrung wirken dabei koordinativ; wie für die Aesthetica naturalis (Baumgarten) ist der Gesichtspunkt der integrativen Vermögensentfaltung leitend, vgl. VPÄ, S. 26: „Alles, was uns rühret, muß erst auf Sinne und Einbildungskraft, oder auf das Eindrucksgefühl wirken; so wie nichts auf dieses wirken kann, was nicht mit mehr oder weniger bemerklichen Emotionen sollte begleitet seyn.“ Eberhard: Anmerkungen über die Recension, S. 155. Zu den nur wenig später (1793) entwickelten Ansätzen Abichts und Zschokkes, die Eigenart des Ästhetischen über die vermögenstheoretische Bindung an das „Empfindungsvermögen“ zu etablieren (vgl. Abicht, Kritische Briefe; Zschokke, Ideen zu einer psychologischen Ästhetik), vgl. a. oben, Abschnitt VI., 2.6.
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3. „Objective“ versus „subjective“ Methodologie des ästhetischen Wissens. Eberhard contra Kant Was Eberhard in sachlicher Entsprechung zum hier gewählten Begründungsverfahren des Versuchs annähernd zeitgleich an anderer Stelle als Vorgehen rechtfertigen wird, den Geltungsprimat der „unmittelbaren Quelle“ des ästhetischen Wohlgefallens und Vergnügens zugunsten einer „objectiven Methode“ zurückzustellen, verdient in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit, lassen sich doch dadurch nicht allein wesentliche Motive der spätaufklärerischen philosophischen Ästhetik im Einflussfeld von Kants Transzendentalästhetik und Geschmackskritik veranschaulichen, sondern eben auch die theoriegeschichtlichen Konturen der vielzitierten Antithese von popularphilosophischer (sive ‚vollkommenheitstheoretischer‘ sive ‚psychologischer‘) und Kantischer Ästhetikkonzeption im späten 18. Jahrhundert präzisieren.59 In dezidiert theoriegeschichtlicher Oppositionsstellung zum Kantischen Ästhetikkonzept der Kritik der Urteilskraft nämlich und, wie kaum anders zu erwarten, unter entsprechender Bekräftigung der systematischen Geltung des Baumgartenschen und Meierschen Ansatzes in der Ästhetik, verteidigt Eberhard in dieser Stellungnahme sein objektivistisches Begründungsverfahren für die ästhetische Theorie des Schönen, welches „die äußern Gründe [des Wohlgefallens an Kunstwerken, E.S.] in der Beschaffenheit der Werke zu erforschen“ und die Theorie der ästhetischen Lust mithin auch auf die „mittelbaren Quellen oder die gefallenden Gegenstände außer mir“ zu beziehen sucht.60 Im Unterschied zu Kants Begründungsansatz in der ästhetischen Theorie dürfe die philosophische Ästhetik,61 so Eberhard im übrigen ganz ohne despektierlichen oder polemischen Unterton, nicht „bey den subjectiven Gründen des Wohlgefallens an den Werken der Kunst stehen“ bleiben.62 Zum ersten nicht, weil, so Eberhards erstes (gnoseologisches) 59 60 61
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Vgl. etwa Kliche: Ästhetik und Aisthesis, S. 495ff. Eberhard: VPÄ, S. 151, S. 153. Aus Eberhards diesbezüglichen Formulierungen geht hervor, dass nicht Kants Begriff der „transzendentalen Ästhetik“ als Theorie der „Prinzipien der Sinnlichkeit a priori“ (vgl. Kant: KrV, B 35f.), sondern dessen soeben (1790) erschienene Theorie der ästhetischen Urteilskraft (Kritik der Urteilskraft) der Gegenstand der Kritik ist. Denn dem Begriff des Ästhetischen als Vollkommenheitsmodus der cognitio sensitiva vollends entgegengesetzt ist Kants Erklärung des Ästhetischen über den Begriff der „Zweckmäßigkeit“, wonach es weder eine Erkenntnis des ästhetischen Gegenstandes noch ein Begehren nach ihm gibt, sondern nur „das Subjektive“ eines (im freien Spiel von Einbildungskraft und Verstand) sich objektivierenden Gefühls der Lust oder Unlust (vgl. Kant: KdU, Einleitung, S. 99f. [B 43f.]). Eberhard:VPÄ, S. 151. Vgl. auch Eberhard: Anmerkungen über die Recension, S. 151: „Ich tadele diese Methode [die „subjektive Methode“ Kants, E.S.] nicht; ich kann sie aber nicht der objectiven Methode vorziehen [...].“ Wie in der Folge der Argumentation beruft sich Eberhard auch hier auf die Geschmackstheorie seines Freundes Marcus Herz, dem es gleich ihm nicht darum ginge, „gegen die kritische Philosophie Partey zu nehmen“, sondern zu erweisen, dass sich eine „gründliche Geschmackstheorie am besten auf die Baumgartenschen Begriffe“ bauen ließe (vgl. ebd., S. 160). Während Kant die ästhetische Erfahrung vom rationalistischen Voll-
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Gegenargument, die Korrespondenz von subjektiver Gegenstandsperzeption und objektiven Gegenstandseigenschaften dazu berechtige, die Kunsterfahrung als eine objektiv vermittelte anzusehen.63 Mit anderen Worten: Der subjektive Wahrheitsgehalt der ästhetischen Erfahrung im Element der „unausweichlichen und unauflöslichen Illusion“,64 der ästhetischen „Täuschung“ hat nach Ansicht des Philosophen seinen intersubjektiven Geltungsgrund im Wahrheitsgehalt der ästhetisch vermittelten Gegenstände.65 Untermauert Eberhard mit diesem Argument die eine theoriegeschichtliche Konstante der vorkritischen Ästhetik: ihre Bindung an den metaphysisch-objektiven Vollkommenheitsbegriff, so markiert sein Folgeeinwand gegen die lustpsychologische Letztbegründung des ästhetischen Wissens deren zweite: Die Bindung an den subjektiven Vollkommenheitsbegriff und, mit diesem notwendig verbunden, an das pragmatische Legitimationsmoment der vorkritischen Ästhetik der späten Aufklärung.66 Denn bliebe man, so Eberhards zweites Gegenargument zum ästhetischen
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kommenheitsbegriff strikt entkoppelt („Das Geschmacksurteil ist von dem Begriffe der Vollkommenheit gänzlich unabhängig.“, vgl. KdU, § 15, S. 142–146), hatte Herz in seiner Theorie des ästhetischen Geschmacks die vollkommenheitstheoretische Ableitung des Schönheitsbegriffs der Baumgartenschen Schule noch einmal verteidigt und im Rahmen einer generellen Polemik gegen die „Verwechslung des Geschmackes mit dem Gefühl“ das ästhetische Basisvermögen des Geschmacks an den Erkenntnisbegriff zurückgebunden (siehe Marcus Herz: Versuch über den Geschmack und die Ursachen seiner Verschiedenheit. Berlin ²1790, S. 6f.; vgl. bes. S. 55ff., Hervorh. E.S.). Eberhards in diesem Zusammenhang betonte Geltung der ontologischen Prämissen des Leibnizianismus (vgl. etwa ebd., S. 151f.) steht in der deutlichen Absicht, seine ästhetischen Positionen in die polemische Verteidigung des sogenannten „Dogmatismus“ gegenüber dem Kantischen Kritizismus einzubinden, mit anderen Worten: die erkenntnistheoretisch orientierte Kritik der Transzendentalphilosophie vom Boden der ästhetischen Theorie aus zu unterstützen. Zum theoriegeschichtlichen Kontext der Eberhard-Kant-Kontroverse siehe eingehend Manfred Gawlina: Das Medusenhaupt der Kritik. Die Kontroverse zwischen Immanuel Kant und Johann August Eberhard. Berlin 1996. Eberhard: VPÄ, S. 152. Die Stoßrichtung dieser Argumentation verdeutlicht Eberhard in seinem Aufsatz Ueber die ästhetische Täuschung (in: ders., Philosophisches Magazin, Vierter Band, 1. Stück, S. 1–57), wenn er den Erfahrungsgehalt des Ästhetischen an das logische Wahrheitskriterium zurückbindet und damit der ästhetischen Aisthesis, wenngleich unter umgekehrten Vorzeichen, Kommensurabilität mit dem Logischen unterstellt: Das „logisch Falsche“ muss „von der sinnlichen Erkenntniß für wahr gehalten werden, es muß ästhetisch wahr sein. Es müssen also in den Werken der schönen Künste alle Mittel angewandt seyn, wodurch die sinnliche Erkenntniß genöthiget wird, das Falsche für wahr zu halten; das ist, die Werke der schönen Künste müssen täuschen. Diese Täuschung ist diejenige, welche man die ästhetische nennen kann.“ (ebd., S. 1f.). Beide Bedeutungsseiten der Vollkommenheitskategorie, objektive „Vollkommenheit“ und subjektive „Vervollkommnung“ (der cognitio sensitiva), lassen sich im Eberhardschen Ästhetikbegriff unterscheiden und gehören gleichwohl notwendig zusammen. Während der einschlägige Paragraph seines Ästhetikkompendiums zunächst die „sinnliche Vorstellung der Vollkommenheit“ zum „höchsten Gesetz aller schönen Künste und Wissenschaften“ deklariert („die Werke der sch[önen] K[ünste] und W[issenschaften] müssen ästhetisch vollkommen seyn“; vgl. TSW II, § 8, S. 7, S. 8), wird unmittelbar darauf folgend die „künstliche sinnlichvollkommne Vorstellung“ zum „Wesen“ des kunstästhetisch Schönen erklärt (vgl. ebd., § 8, S. 8). Die zen-
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Subjektivismus des Kantischen Ansatzes in der Ästhetik, bei der analytischen Erfassung der ästhetischen Wirkungen auf das Gemüt (das rein subjektiv bestimmte Gefühl der Lust und Unlust)67 und damit bei der „subjektiven Erklärungsmethode“ stehen, wäre der Ästhetik als „Wissenschaft der Regeln der Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntniß“ der Boden entzogen. Das Interesse an „Regeln für die Hervorbringung schöner Werke“ jedoch,68 – dies affirmiert Eberhard unter Anschluss an Baumgarten und Meier als unerlässliche Bedingung philosophischer Ästhetik als einer „organischen Disziplin“69 setzt die Verschränkung von wirkungsästhetischer (-psychologischer) und produktionsästhetischer Untersuchungsperspektive voraus und verlangt prinzipiell, auch auf „die gefallenden Gegenstände außer mir“ zu reflektieren.70 Mit „Solipsismus“, der das Vergnügen der ästhetischen Wahrnehmung nur auf die Irreduzibilität des subjektiven Lustgehalts zu beziehen weiß, ist diese Theorievariante ebenso wenig identisch wie mit der „finalistischen Betrachtung der Kunst“ – als bloßem Mittel des subjektiven ästhetischen Zwecks.71
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trale Bedeutung der subjektiven Vollkommenheitskategorie für die Frage nach dem anthropologischen Impetus der Ästhetik als Theorie der cognitio sensitiva ergibt sich aus ihrer Geltung als Systematik der ästhetischen Vermögensleistungen (ästhetische Topik) für die Konstitution der (kunst-)ästhetischen Erfahrung: für Eberhard nicht anders als für Baumgarten und Meier zentraler Bestandteil einer systematischen Theorie der „ästhetischen Vollkommenheit der Gedanken“, vgl. ebd., §§ 26–78, S. 37–106 [Hervorh. E.S.]. Zur programmatischen Konjunktion beider Bedeutungsseiten vgl. auch ders.: Anmerkungen über die Recension, S. 154. Vgl. Kant, KdU, Einleitung, S. 99 [B XLIII]. Eberhard: VPÄ, S. 152. Die von Eberhard in seinem disziplingeschichtlichen Aufriss der philosophischen Wissenschaftszweige vorgenommene Zuordnung der philosophischen Ästhetik zum „organischen Theil der Philosophie“ macht auf den Doppelcharakter des ‚pragmatischen‘ Elements der anthropologischen Ästhetik der Spätaufklärung aufmerksam: einerseits Wissenschaft in sittlicher Vervollkommnungsabsicht zu sein, andererseits (als Wissenschaft der sinnlichen Potenzen der Seele) stets zugleich auch auf die „Regeln zur Lenkung derselben [sensitiven Erkenntniskraft, E.S.] auf einen gewissen Zweck“ hin zu zielen (vgl. ders.: Von dem Begriffe der Philosophie, S. 51f.). Zum Begriff der „organischen Ästhetik“ (als philosophischer Instrumentalphilosophie) vgl. Baumgarten: TGÄ, S. 69f. Vgl. Eberhard: TSW II, § 25, S. 32 [„Nutzen der Aesthetik“]: Die Ästhetik hat „2. den Nutzen, durch die Regeln, die sie beweist, die Vollkommenheit der Erfindung und Beurtheilung schöner Werke zu befördern.“ (vgl. auch ebd., § 8, S. 7). Im Rahmen seiner Untersuchungen zu Carl Philipp Moritz’ Autonomieästhetik hat A. Costazza Eberhards Konzeption des Ästhetischen als Gegenfolie des Moritzschen Kunstwerkbegriffs (ästhetische Gebilde sind ästhetisch autonom: ‚in sich selbst vollendet‘) ausgewiesen, Eberhards ästhetiktheoretische Positionen im Rahmen dieser Polarisierung jedoch mit der „Richtung eines subjektivistischen Eudämonismus“ schlichtweg gleichgestellt (vgl. Alessandro Costazza: Schönheit und Nützlichkeit. Karl Philipp Moritz und die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Bern 1996, S. 123f.). Vor dem Hintergrund der oben rekonstruierten Versuche Eberhards, subjektivistische und objektivistische Seite der (kunst-)ästhetischen Gegenstandswahrnehmung zusammenzuführen, erscheinen solche Deutungen allerdings als Verzerrung. Nicht die „Degradierung des Kunstwerks zum bloßen Mittel oder Werkzeug eines egoistischen Vergnügens“ (ebd., S. 124) ist Gegenstand der Eberhardschen (lustpsychologischen und kunstwerkästhetischen) Argumentation, sondern die anthropologische Aufwertung des ästhetischen Subjekts in einem Zweckbegriff der Lust (Vergnügen), dessen grundsätzliche Entsprechung zum Kunst-
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4. Kunsttheorie der Emotionen. Mimesiskritik und Psychologie des ästhetischen Zustands vom anthropologischen Standpunkt Auf der Folie der rekonstruierten Theoriesituation gewinnen Eberhards Positionsbestimmungen im Versuch theoriegeschichtlich an Plausibilität. Die Absicht, zwischen der älteren vorstellungstheoretischen (Baumgarten, Meier) und der zeitgenössischen emotionspsychologischen Konzeptualisierung der ästhetischen Wahrnehmung (Zschokke, Abicht) eine mittlere Stellung einzunehmen, bestimmt denn auch den Verlauf der kunsttheoretischen Argumentationen Eberhards. Für die hier verfolgte Frage nach dem Begründungszusammenhang von anthropologischer Vermögenslehre und ästhetischer Theorie des Schönen ist dabei weniger von Belang, wie Eberhard in der Folge, seinem einleitenden Programm gemäß, die vorstehend rekonstruierte Ästhetik von unten von den ästhetischen Kräften und den „innern Quellen des Vergnügens“ her72 in umgekehrter Richtung nach oben verfolgt und aus der vermögenstheoretischen Differenzierung zu einer kunstwerkästhetischen Klassifikation gelangt, die an ihrer Spitze die Oper (als Kunstform mit dem komplexesten Betätigungspotential für die ästhetischen Kräfte) etabliert.73 Vielmehr bleibt abschließend zu verfolgen, wie Eberhard aus einer weiteren kunstästhetischen Hypothese zu einer lustpsychologischen Kritik des ästhetischen Nachahmungstheorems gelangt und, auf dieser Konstruktion aufbauend, zu einer werkästhetischen Umformulierung der (Baumgartenschen) Topik der ästhetischen Gegenstandserkenntnis. Beide theoriegeschichtlich bemerkenswerten Akzentsetzungen sind nachzuvollziehen, bevor Eberhards Transformationsleistungen in der ästhetischen Anthropologie in ihrem vollen Umfang gewürdigt werden können. „Nachahmung“ und „Größe des Genies“, so Eberhard, sind diejenigen zwei „äußeren“, d.h. über die subjektbezüglichen Lustgefühle hinausreichenden Elemente des ästhetischen Wohlgefallens, die bei der Erfahrung des Schönen der Kunst leitend sind und die wesentlichen Merkmale im Bestimmungsrahmen der objektiven Methode bilden.74 Was hier zunächst wie die Egalisierung des klassizistischen Topos
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werkbegriff Eberhard zwar nicht beweist, jedoch als gegeben bzw. möglich voraussetzt (vgl. hierzu auch den folgenden Abschnitt). Vgl. Eberhard: VPÄ, S. 24. Auf der Basis seines weiten ästhetikpsychologischen Ansatzes universalisiert Eberhard das bislang auf die Poetik eingegrenzte Einteilungsprinzip in „beschreibende“, „pathetische“ und „dichtende“ Kunst („Das Werk der beschreibenden Kunst ist ein Gegenstand des Eindrucksgefühls, das Werk der pathetischen Kunst [...] ein Gegenstand des Rührungsgefühls, und das Werk der dichtenden Kunst ein Gegenstand des Harmonie- und Vollkommenheitsgefühls.“ VPÄ, S. 24f.), um im Anschluss die Oper als integrativste Kunstgattung auszuzeichnen: sie „vereinigt in sich alle Kräfte der nachahmenden, bildenden und redenden Künste“ (ebd., S. 48). Das Modell dieser Favorisierung der Oper als Gesamtkunstwerk hatte Sulzer bereits in seinem Energie-Aufsatz (1765) geliefert (siehe Sulzer: Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste, S. 144). Vgl. Eberhard: VPÄ, S. 26.
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der Nachahmung mit der zeitgenössischen Geniekategorie erscheint, meint freilich anderes.75 Denn, so Eberhard zunächst mit Aristoteles (und nicht weniger: mit Wolff),76 sind die durch die ästhetische Mimesis aktivierten Wahrnehmungsvollzüge zwar lustrelevante Formen der ästhetischen Gegenstandskonstitution: Die Lust an der Nachahmung ist demnach Vergnügen an der Vermehrung der Erkenntnis. Die ästhetische Lusterfahrung jedoch auf das Moment der kognitiven Erfassungsleistungen zu restringieren, wird dem Komplexitätsgehalt der ästhetischen Emotionen nach Ansicht des Popularphilosophen nicht gerecht. Denn wenn, wie gezeigt, die ästhetische Erfahrung sich aus dem Wirkungsspektrum der ästhetisch affizierten Kräfte der kognitiven und der appetitiven Seele ergibt (Eindrucksgefühl und Rührungsgefühl), ist das erkenntnisgeleitete Erfassen der Urbild-Abbild-Relation weder notwendige noch hinreichende Bedingung der kunstästhetisch vermittelten Lusterfahrung. Es ist vielmehr, so Eberhard in programmatischer Bekräftigung seiner rührungsästhetischen Ausgangshypothesen, die Ausblendung bzw. der Wegfall des Vergleichsmoments, das die ästhetisch höchstrangige kunstästhetische Erfahrung als Erfahrung der belebenden Kräfte des schönen Werks konstituiert: „Gerade dann, wenn das Werk den höchsten Grad der ästhetischen Vollkommenheit hat, wenn es am rührendsten, am täuschendsten ist, denken wir am wenigsten an ein Urbild, dem es der Virtuose nachgebildet hat.“77 Anders als der von ihm mehrfach zitierte Marcus Herz unterläuft Eberhard das Mimesis-Theorem mithin nicht produktions-, sondern rezeptionsästhetisch.78 In kunsttheoretischer 75
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Mit dem Genietopos greift Eberhard ein gängiges Theorem der zeitgenössischen Diskussion auf, das die von Eberhard verehrten Sulzer wie Mendelssohn ausführlich erörtert hatten. Während Mendelssohn den Begriff im Zusammenhang der Erhabenheitsreflexion thematisiert hatte (vgl. ders.: Ueber das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften, in: ders.: Ästhetische Schriften, S. 207–246), bilden Sulzers Positionierungen den vermögenstheoretischen Wandel der erfahrungspsychologischen Periode ästhetischer Theorie auch im Geniebegriff ab: Die frühe Definition des Genies als Vermögen, „sich aller intellektuellen Fähigkeiten [Hervorh. E.S.] der Seele mit Geschicklichkeit und Leichtigkeit zu bedienen“ (vgl. Sulzer: Entwickelung des Begriffs vom Genie [1757], in: ders.: VPS, S. 307–322, hier S. 309), ergänzt der Artikel seines ästhetischen Wörterbuchs knapp zwanzig Jahre später auffallend verändert durch das Definiens der besonderen „Empfindsamkeit für gewisse Arten von Vorstellungen“ (siehe ders.: ATSK: Genie, S. 364; Hervorh. E.S.). Eberhard bezieht sich auf die in der zeitgenössischen Diskussion gut bekannte Aristotelische Erklärung der Lust an der Mimesis: „Das Lernen bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen (diese haben freilich nur wenig Anteil daran). Sie freuen sich also deshalb über den Anblick von Bildern, weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei.“ (Aristoteles: Poetik, S. 11f. [Kap. 4]). Eberhard: VPÄ, S. 30f. Marcus Herz’ Geschmackstheorie, auf die Eberhard in seiner zeitgleich erschienenen Verteidigung seiner Ästhetik verweist (vgl. ders.: Anmerkungen über die Recension, S. 151, S. 160), hebelt Batteux’ Argumentation im Rückgriff auf den zeitgenössischen Geniediskurs aus: Es sei „gar nicht einzusehen, warum die Nachahmung dasjenige seyn müsste, worauf ihre Einheit [der Kunstwerke, E.S.] abzielen soll? gleichsam als wenn das Nachahmen überhaupt dasjenige wäre, was dem Menschen am meisten gefällt! als wenn schaffen, hervorbringen ihn nicht weit mehr belustigte?“ (vgl. Herz: Versuch über den Geschmack, S. 101).
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Wendung der anthropologisch-ästhetischen Vermögenshierarchie ergibt sich daraus die Reservierung des Mimesis-Grundsatzes für den Phänomenbereich des Eindrucksgefühls: mit diesem sind wohl Stillleben, nicht aber Ramlers Oden oder etwa Wielands „Oberon“ als schöne Kunstwerke ausweisbar.79 Bleibt Eberhard mit dieser rührungsästhetischen Relativierung des Nachahmungsprinzips im Rahmen der anthropologisch-ästhetischen Aufwertung des affektiven Moments kunstwerkästhetischer Gegenstandskonstitution, so unterstreicht er im Rückgriff auf die beiden verbleibenden Kategorien der Baumgartenschen Topik „Wahrheit“ und „Ueberredungskraft“80 den Erkenntnischarakter der ästhetischen Rezeption und Produktion auf lusttheoretischer Grundlage. Wahrheit als ästhetische ist Gegenstand des auf Vergnügen, nicht auf Erkenntnis bedachten „sinnlichen Verstandes“,81 so wie Überredung der wirkungsästhetische Inbegriff jener ästhetischen Täuschung des ästhetischen „Virtuosen“ (Genies)82 ist, die dem Zweckbegriff des Kunstwerks Rechnung zu tragen hat (ästhetische Totalität: „Zweck“), ohne vom subjektiven Lustcharakter der sinnengeleiteten Wahrnehmung („belebende Kraft“) zu abstrahieren.83 Die von Eberhard in diesen Kategorien zusammengefassten Elemente der kunstästhetischen Gegenstandswahrnehmung sind insofern doppelt, als dass sie an die Selbstbezüglichkeit der Lust und die außersubjektive Kategorie des ästhetischen Zwecks zurückgebunden sind. Der in der Eberhardschen Erkenntnistheorie dominierende Ontologismus des ästhetischen Gegenstands ist damit genusspsychologisch durchbrochen: Es ist, so Eberhards Pointe in der Genusstheorie der kunstästhetischen Gegenstandstheorie, mit der de facto die Verschränkung der „subjekti79
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Vgl. Eberhard: VPÄ, S. 31. Die letzte Schlussfolgerung des Philosophen macht deutlich, dass als eigentliche Folie der Eberhardschen Kritik an der ästhetiktheoretischen Dogmatisierung des Mimesis-Postulats nicht der Aristotelische Ansatz dient, sondern dessen normative Universalisierung in Batteux’ klassizistischer Kunsttheorie (vgl. Charles Batteux: Les beaux arts réduits à un mème principe. Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt und mit Abhandlungen begleitet von Johann Adolf Schlegel. Leipzig ³1770). Aristoteles’ Argumentation selbst allerdings verschließt sich den Deutungsmöglichkeiten, wie sie Eberhard hier im Anschluss an den Genie-Begriff versuchsweise unternimmt, keineswegs: „Wenn man indes den dargestellten Gegenstand noch nie erblickt hat, dann bereitet das Werk nicht als Nachahmung Vergnügen, sondern wegen der Ausführung oder der Farbe oder einer anderen derartigen Eigenschaft.“ (Aristoteles: Poetik, S. 13 [Kapitel 4]). „Ueberredungskraft“, Eberhards vorletzte Kategorie in seiner eigenen ästhetischen Topik, ist identisch mit der Baumgartenschen Kategorie der „sinnlichen Gewißheit“ (vgl. Eberhard: TSW II, §§ 58–64, S. 78–86). Eberhard: VPÄ, S. 33f. Eberhard hält hier (wie im Übrigen auch in den Anmerkungen) am Terminus des „Virtuosen“ fest. Sachlich identisch ist, was Eberhard unter dem Titel des „ästhetischen Genies“ in seiner systematisch ausgeführten Ästhetik thematisiert: die allseitig ausgebildeten ästhetischen Vermögenspotentiale des „hervorbringenden“ Künstlers (vgl. TSKW, § 24, S. 29f.). „Die Artisten in den dichtenden Künsten müssen also die Elemente der Schönheit für die sinnliche Vernunft zu einem Werke zusammensetzen, das durch die Einheit des Zwecks oder der belebenden Kraft [Hervorh. E.S.] zu einem Ganzen wird, sie mögen seine Form bereits in der Natur finden oder nicht.“ (VPÄ, S. 33).
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ven“ mit der „objektiven“ Methode geleistet ist, die vollendete Lust im Wahrnehmungsvollzug ästhetisch vollkommener Werke, „das Vergnügen selbst“ (!),84 in welchem sich der Umschlag von (vollkommenheitsgerichteter) Gegenstandsorientierung zu (lustbestimmter) Selbstbezüglichkeit vollzieht und jenen Zustand der ästhetischen Kontemplation erzeugt, der das ästhetische Wohlgefallen gleichsam uninteressiert vollzieht. Wenn das Werk einen so hohen Grad der Schönheit hat, daß es die genießende Seele bis zu einer Art der Entzückung bezaubert [...], wendet sich die Aufmerksamkeit der Seele [...] alsdann ganz mechanisch von den Seiten des Gegenstandes ab, welche sie an ihrem Genusse hindern könnte.85
Relativiert wird die Objektvollkommenheit (Schönheit als Vollkommenheit) im Genuss am ästhetischen Gegenstand dadurch, dass die Wahrnehmungslust als subjektgerichtete Vollzugslust die kognitiven Aspekte der ästhetischen Gegenstandserfassung prädominiert. Die Seele, so Eberhard an anderer Stelle in Ausformulierung dieses Sachverhalts, wird demgemäß alles tun, diese „Magie des Vergnügens“ fortzusetzen und die Sinnlichkeit für die ästhetische Illusion unausgesetzt „willig“ zu halten.86 Ästhetische Wahrheit als Wahrheit der „sinnlichen Vernunft“ hat ihr Fundament im Bedürfnis nach sinnlich vermitteltem Genuss. Das Interesse an der Aufrechterhaltung der Vollzugslust (der ästhetischen Erfassungsleistungen) diktiert die Lust an der ästhetischen Täuschung.
5. Der Schritt von Baumgarten zu Eberhard. Anthropologischästhetische Dispositionsschemata im Vergleich Von diesen Befunden aus lässt sich, wie abschließend in vergleichender Absicht festzuhalten bleibt, der theoriehistorische Schritt Eberhards über die Baumgartensche Bestimmungen der ästhetischen Erkenntnis hinaus genauer positionieren. Wie die nachfolgende Gegenüberstellung der anthropologisch-ästhetischen Dispositionsschemata Baumgartens und Eberhards verdeutlicht, kann Eberhards Revision in der ästhetischen Theorie nicht auf den Versuch einer Psychologisierung der Baumgartenschen Kriterien der ästhetischen Gegenstandserkenntnis (Schönheit als Vollkommenheit der cognitio sensitiva) eingeschränkt werden. Sie muss vielmehr fundamentaler als Versuch einer kunstästhetisch motivierten Neuordnung der ästhetisch relevanten Vermögensleistungen der menschlichen Seele gelesen werden.87 84 85 86
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Ebd., S. 35. Ebd. Das vorstehend Entwickelte hat seine sachlich engsten Parallelen in Eberhards Theorie der „pathetischen Täuschung“: Im Zustand dieser ästhetischen Gemütserregung werden die Vorstellungen des unteren Erkenntnisvermögens gleichsam gesetzmäßig „verdunkelt“, um den ästhetischen Genuss ungeschmälert aufrechterhalten zu können: ein Zustand des (vorzüglich in der Erfahrung des Wunderbaren verkörperten) ästhetischen Entzückens, der der „kalten Vernunft so anstößig ist“. Vgl. ders.: Ueber die ästhetische Täuschung, S. 46ff., hier S. 47f. Vgl. so Draeger: Psychologie und Aesthetik, S. 45.
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A) Baumgarten: Pulchritudo cognitionis sensitivae88 Erkenntnisvermögen Reichtum, Größe, Wahrheit, Klarheit,90 Gewißheit91
Begehrungsvermögen vita cognitionis89
B) Eberhard: Allgemeines Tätigkeitsgefühl
Eindrucksgefühl Verlangen nach Eindrücken
Rührungsgefühl Verlangen nach Emotionen
Schönheitsgefühl Verlangen nach Wohlgefallen
Sinne, Phantasie
Emotionen; angenehme / unangenehme Leidenschaften
Witz, Scharfsinn Harmoniegefühl: Verstand Vollkommenheitsgefühl: Vernunft
Reichtum, Größe, Lebhaftigkeit
Leben
Wahrheit, Überredungskraft
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Vgl. Baumgarten: TÄ, §§ 14ff., S. 11ff., hier § 18, S. 12. Vgl. Eberhard: TSW II, §§ 65–71, S. 87–97 („VI.: Leben“). Wie bei Baumgarten bildet auch für Eberhard die Kategorie des „Lebens“ den Schlussabschnitt der ästhetischen Topik als Sammelbegriff der ästhetischen Kraft im Sinn der ästhetischen „Rührung“ und als anthropologisch-ästhetischer Platzhalter für die angenehmen und unangenehmen Leidenschaften (vgl. ebd., S. 95f.). Vgl. ebd., §§ 42–53, S. 57–73 („III.: Klarheit“). Eberhard ersetzt Baumgartens ästhetisch zentrale Kategorie der Klarheit durch „Lebhaftigkeit“, schließt daran jedoch noch eine komplexe Reihe von Distinktionen, die sich, dem Inhalt der Kategorie entsprechend, sämtlich einer der Optik entlehnten Metaphorik bedienen („Dunkelheit“; „Aesthetisches Licht und Schatten“, „erleuchtende Kraft“ u.a.). Vgl. ebd., §§ 58–64, S. 78–86 („V.: Gewißheit“). Es wirft ein bezeichnendes Licht auf den Stand der Psychologisierung innerhalb der ästhetischen Kategorienbildung der späten Aufklärung, wenn Eberhard den Baumgartenschen Topos zwar als Zweig der logischen Kategorie der Gewissheit anzeigt, sachlich jedoch der Zuständigkeit der ästhetischen „Ueberredung“ unterstellt und, wie damit noch kaum anders zu erwarten, die „ueberredende Kraft“ der ästhetischen Gedanken als „rührende“ („starkes Begehren oder Verabscheuen [bewirkend] und also auf die Leidenschaften wirkend“) ausweist (vgl. ebd., § 60, S. 82). Die gekennzeichnete Interferenz von Eindrucksgefühl und Rührungsgefühl lässt sich also auch im Bereich der ästhetischen Topik Baumgartens nachweisen: kognitive und emotionale Erfassungsleistungen der aisthetischen Seele sind gleichursprüngliche und paritätische Elemente der ästhetischen Gegenstandskonstitution.
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Anthropologie- wie ästhetikgeschichtlich aufschlussreich ist die Umbildung des ästhetischen Kriterienkatalogs nicht in Hinsicht auf die Kriterien selbst, sondern in Hinsicht auf ihre Geltungsebene. Während für Baumgarten die ästhetische Affizierung des Begehrens (vita cognitionis) sowohl das Supplement der aisthetischen Sinneserfahrung darstellt wie ihre (ästhetisch mögliche, aber nicht notwendige) Potenzierung, umfasst Eberhards Validierung der ästhetischen Emotionen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen vom Basisbegriff der subjektiven Wirkung (Tätigkeitsgefühl) aus. Die anthropologisch-lustpsychologische Fundierung der Aisthesis im allgemeinen Tätigkeitsgefühl der menschlichen Seele transponiert den erkenntnistheoretischen Ansatz Baumgartens in eine Vermögenstheorie der ästhetischen Affizierungsweisen im Begriff des Gefühls; Baumgartens normative Problemstellung die Frage nach den objektiven Kriterien der sinnlich-ästhetischen Vollkommenheit wird damit in den psychologischen Zusammenhang von emotiv begleiteter Gegenstandswahrnehmung und kognitiv geleiteter Gegenstandserfassung überführt. Mehr als eine bloße emotionstheoretische Erweiterung der ästhetischen Kriterien der Vorstellungstheorie verlegt Eberhards ästhetische Anthropologie auf diese Weise das ästhetische Geltungskriterium kognitiv wie emotional bestimmter Erfassungsleistungen der Seele vom Vermögensbezirk der Erkenntnis in die vermögensübergreifende Wahrnehmungs- und Vollzugsqualität des Vergnügens. „Gefühl unserer Kräfte“92 ist das anthropologische Apriori der ästhetischen Wahrnehmungserfahrung bzw. dasjenige Eigenschaftsmerkmal der ästhetischen Gegenstandskonstitution, das alle aisthetische Sinneserfahrung begleitet. Im Effekt dieser emotionalistischen Neuordnung wird der Baumgartensche Vermögensdualismus von kognitiver und appetitiver (voluntativer) Vermögenssphäre aufgegeben und in ein triadisches Schema wirkungsästhetisch definierter Kräfte („-Gefühle“) überführt.93 Im Unterschied zu Kants ästhetiktheoretisch epochaler Begründungsentscheidung, die Eigenart des Ästhetischen über die vermögenspsychologische Autonomisierung des Lust-Unlust-Gefühls gegenüber dem Erkenntnisvermögen und Begehrungsvermögen der Seele sicherzustellen, wählt Eberhards Anthropologie des ästhetischen Gefühls die Begründung über die Psychologisierung des ästhetischen Erkennens mit dem Ergebnis einer doppelten (rührungsästhetischen und gegenstandstheoretischen) Begründung der ästhetischen Erfahrung. Zwar verdeutlichte Eberhards Apologie des Rührungsgefühls, dass das Verlangen nach ästhetischen Emotionen theoriegeschichtlich besehen zunächst in den Aufwertungsprozess des 92 93
Eberhard: VPÄ, S. 9. Im Theoriefeld des Ästhetischen, auch das vermag Eberhards späte Ästhetiktheorie zu verdeutlichen, ist der erkenntnistheoretische Gegensatz zwischen bloß passiver (rezeptiv-empfindender) und bloß aktiver (vorstellender respektive erkennender) Seele aufhebbar: Im ästhetischen Genuss sind die „Vorstellungen der Seele die Handlungen [Hervorh. E.S.], wodurch sie beschäftiget wird. Man kann daher sagen, daß Vollkommenheit und Schönheit ihr gefallen, weil sie ihre Kraft beschäftigen.“ Eberhard: TSW II, § 12, S. 14 (Anm. 3).
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Ästhetischen als des Angenehmen, nicht des Schönen, gehört. Gleichwohl demonstriert das Modell für die Erfahrung des Ästhetischen als des Schönen das Schöne des Kunstwerks (Schönheitsgefühl, Harmoniegefühl, Vollkommenheitsgefühl) ausdrücklich die Koexistenz der subjektiven Seite der Aisthesis (affektiv-emotionale Wahrnehmung als ästhetische Rührung) mit ihrer objektiven (Erfassen der ästhetischen Totalität des Kunstwerks). Die Erfahrung des Ästhetischen als des Schönen hat daher weder nur im Begehren ihren theoriegeschichtlichen Ort noch in dem von aller Rührung losgelösten ästhetischen Erkennen. Anders als im Kantischen Begriff der ästhetischen Aisthesis setzt die ästhetische Gegenstandskonstitution für Eberhard jenes ästhetische Interesse voraus, das in der nonkognitiven Wahrnehmungserfahrung von sinnlichem Reiz und Rührung, ja im ästhetisch stimulierten Affekt seinen anthropologischen Grund hat.94 Theoriegeschichtlich markant, so lässt sich zusammenfassen, wird Eberhards Ansatz einer Psychologisierung auf der Basis eines vorstellungstheoretischen Grundsatzprinzips des Psychischen im wesentlichen durch das Bemühen, vorstellungstheoretische Deduktion und wirkungsästhetische Analyse in einem dynamischen Seelenbegriff zusammenzuführen, der dem klassischen Paradigma der Repräsentation folgt, aber zugleich an den Qualitäten des Wahrnehmungsgeschehens der Seele orientiert ist. Hier liegt Eberhards theoretischer Tribut an das Empfindsamkeitszeitalter, dem er unter ästhetischem Gesichtspunkt eher mit kritischer Reserve begegnete.95 Indem Eberhard die anthropologische Lustdisposition der sinnlichen Wahrnehmungserfahrung im Begriffsspektrum der ästhetischen Gefühle (und das heißt sämtlicher ästhetisch möglicher Spielarten von Emotion) als psychologische Grundstruktur der seelischen Tätigkeiten selbst ausdeutet, ist der in seiner Frühschrift (Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens) konstatierte, in die anthropologische Psychologie und Ästhetik hineingetragene Dualismus zwischen Kognition und Emotion nicht im eigentlichen Sinn vermögenspsychologisch aufgehoben, sondern in einer systematisch begründeten Weise lusttheoretisch überbrückt: Der schönheitsmetaphysische Objektivismus (als Ästhetik des Kunstwerks) wird ipse facto vom Subjektivismus des Tätigkeitstriebs der menschlichen Seele gleichsam von innen her begrenzt. Jener für die ästhetische Bedeutungsdimension hier geltend gemachte anthropologische Komplexitätsanspruch, der seit Baumgartens Natürlicher Ästhetik96 die 94
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Im stimulierenden, nicht notwendig im starken Affekt realisieren sich nach Eberhard die ästhetischen Emotionen: „Denn ich nenne einen Gegenstand ganz eigentlich rührend, wenn er Leidenschaften hervorbringt. Ein jeder schöner Gegenstand [Hervorh. E.S.] macht Vergnügen; und wenn dieses Vergnügen groß genug ist, daß er irgend eine Leidenschaft erregt, mittelbar oder unmittelbar, sey es auch nur Bewunderung: so ist er rührend.“ (Eberhard: Anmerkungen über die Recension, S. 162). Vgl. beispielsweise J. A. Eberhard: Nachschrift. Ueber den sittlichen Werth der Empfindsamkeit, in: Johann Christian Friedrich Behrens: Ueber den Werth der Empfindsamkeit besonders in Rücksicht auf die Romane. Halle 1786, S. 117–142. Vgl. Baumgarten: TÄ, §§ 28–46; vgl. Abschnitt I, 1.1.
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theoriegeschichtlichen Konturen der vollkommenheits- und lusttheoretisch fundierten popularphilosophischen Ästhetik der späten Aufklärung bestimmte, zeichnet sich denn auch in Eberhards Ästhetiktheorie exemplarisch – nunmehr emotionstheoretisch formuliert – wieder ab. Nicht in der vermögenspsychologischen Demarkation eines genuin ästhetischen Vermögens gegenüber den aisthetischen Weisen des Wahrnehmens, Beurteilens und Genießens, und ebenso nicht in der ästhetiktheoretischen Promotion des Affektmoments der ästhetischen Erfahrung, sondern in der harmonischen Koordination der sensitiven, appetitiven (voluntativen) und kognitiven Vermögenspotenzen der menschlichen Seele definiert sich die Klimax der ästhetisch gültigen Erfahrung. Das von Eberhard aus diesen Voraussetzungen abgeleitete Modell für die Erfahrung des Schönen sieht entsprechend in der Koordination der einzelnen Gefühlsklassen die Bedingungen für das Gelingen der ästhetischen Erfahrung: Allein die „richtigste Proportion“ der ästhetischen Kräfte ermöglicht die Vereinigung der „verschiedenen Arten der Schönheit“ des Gegenstands und die Intensitäterfahrung der heterogenen ästhetischen Emotionen auf Seiten des ästhetisch perzipierenden Subjekts.97 Inbegriff des Eberhardschen anthropologisch-ästhetischen Ideals auf dem Gebiet der Poesie ist daher folgerichtig nicht das pathetisch-affektvolle Werk, sondern das Drama Shakespeares. In ihm finden Eindrucksgefühl, Rührungsgefühl, Vollkommenheitsgefühl „völligste Genüge; in ihm sind alle erkennenden und begehrenden Kräfte aufs höchste gespannt, in ihm sind Sinne, Einbildungskraft, Herz und Vernunft im höchsten Grade befriedigt.“98 Radikaler Subjektivismus oder gar genussästhetischer Solipsismus ist dies freilich ebenso wenig wie Fortsetzung pathologisch fundierter Ästhetik, sondern zuallererst: ein philosophischer Rettungsversuch regelgeleiteter Ästhetik.99 Das unterscheidet Eberhards ästhetischen Psychologismus einerseits von den Ansätzen zeitgenössischer Autoren, die Theorie des Ästhetischen vollends auf die Emotionen, das subjektive Gefühl der Lust und Unlust zu gründen.100 Im Plädoyer für einen regelgeleiteten ästhetischen Objekti-
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Eberhard veranschaulicht das am Beispiel des Rührungsgefühls (vgl. VPÄ, S. 24): Dessen ästhetische Vollkommenheit ist genau dann gegeben, wenn die „Nebenbegriffe des Eckelhaften und Lächerlichen das Gefühl nicht abhalten, das Schreckliche, Erhabne, Kühne, Naive in seiner ganzen Stärke zu empfinden [...].“ 98 Ebd., S. 51. Vgl. hingegen noch Sulzers Urteil über Shakespeare, das er mit einem Verdikt gegenüber den Stürmern und Drängern verband: Der große Dichter habe sich als Dramatiker „die Mühe nicht […] geben wollen, einfach zu seyn.“ (vgl. ders.: Art. „Drama“, in: ATSK, Bd. 1, S. 707). 99 Die oben angeführte Position von Costazza (ders.: Schönheit und Nützlichkeit, S. 123f.) hatte bereits die ältere Psychologiegeschichtsschreibung formuliert: Eberhard vertrete den Standpunkt der „subjectivistischen Aesthetik“ mit Tendenz zur „Verherrlichung des Leidenschaftlichen“ (vgl. Sommer: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie, S. 254). 100 Zu den Ansätzen namentlich Abichts und Zschokkes, die Eigenart des Ästhetischen über die vermögenstheoretische Bindung an das „Empfindungsvermögen“ zu begründen (vgl. Abicht: Kritische Briefe; Zschokke: Ideen zu einer psychologischen Ästhetik), siehe die Ausführungen oben, Abschnitt VI. 2.6.
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vismus bleibt daher der Eindruck einer theoriegeschichtlichen Reserve des Eberhardschen Ästhetikbegriffs bestimmend – wenn man so will ein ästhetiktheoretischer Konservatismus unter den Vorzeichen der schulphilosophischen Tradition. Gleichwohl sind die hierin eingelagerten Begründungsleistungen für eine anthropologische Theorie des Ästhetischen, die an einer „gesetzgebenden Macht“ für die ästhetische Bildung interessiert ist, unübersehbar: Die ästhetiktheoretische Leitfrage Baumgartens nach dem „Beitrag der Sinne zur menschlichen Erkenntnis“101 ist zum Bestimmungsinteresse des affektiv-emotionalen Potentials ästhetischer Erfahrungsweisen für den Komplex der ästhetischen Erfassungsleistungen der Aisthesis umgeschlagen.
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Vgl. Adler: Aisthesis, steinernes Herz, S. 97: „Die Leitfrage der theoretischen Ästhetik [...] war die nach dem Beitrag der Sinne zur menschlichen Erkenntnis und die nach der Art der Wahrheit dieser der sinnlichen Erkenntnis, der Aisthesis.“
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VIII Schluss
Aus der Perspektive der in den vorangegangenen Kapiteln zusammengetragenen Interpretationsbefunde dürfte deutlich geworden sein, dass die mit der Leithypothese dieser Untersuchung behauptete Reziprozität von anthropologischer und ästhetischer Reflexion im emotionalistischen Paradigma (Abschnitte I, II) weder identisch ist erstens mit einer entschiedenen und theoriegeschichtlich homogen ausgreifenden Umstellung des metaphysisch begründeten Wissens vom Schönen auf empirisch-anthropologisch begründete Ästhetik, noch zweitens mit der vollständigen Preisgabe der epistemologischen Grundsignatur der ästhetischen Sinnlichkeit (Abschnitt IV). Auf ein einziges Bestimmungsmerkmal der theoriegeschichtlichen Entwicklung lässt sich, was im Spektrum disziplinär heterogener und hier als Entwürfe anthropologischer Ästhetik aufgefasster Beiträge zu konturieren versucht wurde, nur mit erheblichen Einschränkungen an Differenzierung bringen. Die Begründung der Eigenart der ästhetischen Aisthesis aus den sinnengeleiteten Wahrnehmungs- und Vorstellungsleistungen des Subjekts, inbegriffen des Affekts (Abschnitt III, IV), die Engführung der komplexen ästhetischen Vermögenslehre (Aesthetica naturalis) auf die Vermögen Geschmack und Gefühl (Abschnitt VI), schließlich die Aufwertung des Genussmoments der ästhetischen Gegenstandskonstitution (Abschnitt VI, VII) lassen sich nach Maßgabe der vorstehend erstellten Befunde als die theoriegeschichtlich markantesten Vektoren der vorkantischen Theorien des ästhetischen Wissens in der späten Aufklärung bewerten. Die theoriegeschichtliche Verschiebung zwischen Baumgarten als Initiator der Ästhetik als philosophischer Disziplin und den popularphilosophischen Theoretikern eines progressiv psychologisch verstandenen Ästhetischen bedeutete demgemäß eine zunehmende Schwerpunktverlagerung: von der gnoseologischen Grundierung der ästhetischen Theorie (als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis) hin zu ihrer psychologischen in Gestalt der philosophischen Reflexion der affektiv-emotionalen Bedeutungsseite ästhetischer Erfahrung, ästhetischer Rezeptivität. Stellt man darüber hinaus die Frage nach dem ausschlaggebenden historisch folgenreichen Gehalt anthropologischer Ästhetik, scheint ein Sachverhalt besonderes Gewicht für sich in Anspruch zu nehmen: der Versuch, die Eigenartigkeit der ästhetischen Sinnlichkeit nicht mehr vordergründig in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit für die erkennende Gegenstandswahrnehmung zu qualifizieren, sondern in Bezug auf ihre Fähigkeit, den „inneren Menschen“ (Merian) in der Vollständigkeit seiner sinnlichen Vermögenspotenziale (sinnliche Wahrnehmung, leibliche Erfah277
rung) theoretisch zur Geltung zu bringen. Ästhetische Theorie in diesem Verständnis, so wurde nationen- und autorenübergreifend zu zeigen versucht, ist daher im Kern nicht Vollkommenheitsästhetik als abstrakte Metaphysik des Schönen (obgleich sie diese auch ist), sondern genuin anthropologische Reflexion auf das Affizierungspotenzial der Sinnennatur des ästhetischen Subjekts – zwischen Wahrheitsanspruch, Vervollkommnungsbegehren und Genussbedürfnis. Ihren maßgeblichen Fluchtpunkt, das konnte noch die erkenntnistheoretische Konzeptualisierung des Empfindungsgeschehens zeigen (Abschnitt V), findet die vorkantische – nichttranszendentale und psychologische – Ästhetik der späten Aufklärung entsprechend nicht in einer bloß theoretisch interessierten Akkumulation des Wissens vom inneren und äußeren Menschen, sondern in der Bestimmung der anthropologischen Voraussetzungen ästhetischer Wirkungsverhältnisse.1 Im Unterschied zur philosophischen Erkenntnistheorie und ihrer Frage nach dem Ursprungspunkt aller Kenntnisse geht es ihr gerade nicht um die Isolierung einer einzelnen Vermögenskompetenz des Psychischen, sondern um die möglichst integrative Einbindung sämtlicher Vermögensbereiche und Einzelfakultäten des menschlichen Gemüts: Kein Vermögen der menschlichen Seele, so hatte Baumgarten mit seiner notorisch vorgebrachten Leitformel in der Aesthetica naturalis eingeklagt, darf vernachlässigt werden noch zu vordergründiger Wirksamkeit gelangen, damit es mit den anderen Fähigkeiten harmoniere (Abschnitt IV). Wenn in den vorstehenden Analysen die Transformation der Ästhetik zur Wissenschaft des Gefühls, ineins mit der vermögenstheoretischen Ausdifferenzierung des Empfindungsvermögens, zentral gestellt wurde, so bleibt ein abschließender Blick auf die theoriegeschichtlich markanten Auslaufstellen des hier geschlagenen historischen Bogens zwischen baumgartenscher und vorkantischer Ästhetik unumgänglich. Hinweise auf die bedeutsamsten Akzentsetzungen müssen hier genügen. In einer theoriegeschichtlich besehen auffälligen Weise verbindet sich innerhalb der systematisch angelegten Ästhetiken der achtziger und neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts die Reflexion auf den Begriff des Schönen progressiv mit der Analyse des psychologischen Empfindungsbegriffs und seiner ästhetischen Affizierungsfunktion im Vermögensbezirk des Begehrens, vollzieht sich die ästhetiktheoretische Engführung von Gefühlssphäre (Empfindungs- bzw. Gefühlsvermögen) und Affektsphäre (Begehrensvermögen) bzw. die Zusammenführung von „psychologische[r] Aesthetik“ und „ästhetische[r] Empfindungslehre“.2 Die ästhetische 1
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Meier hatte diesen Sachverhalt, exemplarisch für die ästhetische Theorie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, bereits früh formuliert: Eine „Sache mag noch so schön seyn, wenn sie uns gar nichts angeht, wenn wir dadurch nicht vollkommener werden, wenn wir dieselbe gar nicht in unsern Besitz bekommen können, und wenn wir von derselben nicht die geringsten Vortheile zu hoffen haben; so denken wir, es kann alles wahr seyn, was geht es aber uns an?“ (Meier: AsW I, S. 433). Vgl. Zschokke: Ideen zur psychologischen Ästhetik, §§ 76–77, S. 230f.
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Schlüsselstellung der Emotionen behauptet sich dabei sowohl in wirkungs- als auch in produktionsästhetischer Hinsicht, mit Bezug also auf rezeptions- und expressionstheoretische Aspekte der ästhetischen Sinneserfahrung. Denn die Bestimmung der Erfahrungs- und Erlebnisqualitäten emotionsvermittelter Wahrnehmung, d.h. der ästhetischen Funktion der Emotionen, als „ästhetische Kraft einen lebhaften Eindruck auf die Seele zu machen“,3 verbindet sich zwangsläufig mit dem Problem ihrer Kommunizierbarkeit. Während Johann Heinrich Abicht beispielsweise im Rahmen seines Entwurfs einer anthropologischen Gefühlsästhetik (1793) zum Grundanliegen des Ästhetikers das Problem erhebt, „wie [...] sich durch Kunstwerke allerley Arten von Gefühlen in den Menschen erweken [lassen]?“,4 verwirft Karl Heinrich Heydenreich das kallistisch orientierte „Vernunftprincip der Einheit in der Mannigfaltigkeit“ zugunsten des anthropologischen Bedürfnisses, in schöner Kunst „die Darstellung eines bestimmten Zustandes der Empfindsamkeit“ zu realisieren. Das Ästhetische beruhe auf dem „nothwendigen Trieb [...], seine Empfindungen darzustellen und mitzutheilen“.5 Im Anschluss an diesen ästhetischen Anthropologismus stellt schließlich Heinrich Zschokke – besagter Kronzeuge der programmatisch psychologischen Ästhetik und zugleich ihr letzter konsequenter Verfechter im ausgehenden 18. Jahrhundert6 – die Theorie des Ästhetischen vollends auf die Analyse des anthropologischen Sinnesdatums der Emotionen, ihrer Erlebnispotenziale wie ihrer expressiven Funktionen – „Mittheilbarkeit und Mittheilung“ – ab. Ästhetik, nunmehr bestimmt als „ästhetische Pathologie“, wird mit „ästhetische[r] Empfindungslehre“ identifiziert.7 Sie lehrt, „wie Empfindungen erweckt, vermehrt, vermindert, unterdrückt und bezeichnet werden müssen“.8 Auf der Basis der anthropologischen Prämisse, dass der „Trieb des Menschen, seine Empfindungen darzustellen“ und „mitzutheilen“, ein objektiv allgemeines Prinzip der Sinnlichkeit darstellt, kann Zschokke das Prinzip der „absichtliche[n] oder freie[n] Mittheilung schöner Empfindungen“ als ästhetiktheoretischen Hauptsatz der psychologischen Ästhetik postulieren.9 Die anthropologischen Begründungsinteressen dieser ,von unten‘ angestrengten Theorie des Schönen münden folgerichtig in eine konsequente Psychologisierung 3 4 5
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Gäng: Aesthetik oder allgemeine Theorie der schönen Künste, § 20, S. 22. Abicht: Kritische Briefe, S. 589. Heydenreich: System der Ästhetik, S. 152: „Der Trieb, seine Empfindungen darzustellen, der gewissermaassen in allen Menschenseelen liegt, ist die gemeinschaftliche Wurzel, aus welcher alle ihre Werke entsprießen; Befriedigung eines edlen Bedürfnisses des Geistes, ihr höchster gemeinschaftlicher Zweck.“ Zu Zschokke als Inaugurator der „psychologischen Ästhetik und ihrer Blütezeit“ in der deutschen Spätaufklärung vgl. Allesch: Geschichte der psychologischen Ästhetik, S. 289–293, hier S. 289. Zu den ersten systematischen Hinweisen auf Zschokkes Ästhetik, als „interessante[m] Versuch der Vermittlung zwischen Baumgarten und Kant“, vgl. Barck: „Ästhetik“, S. 59f. Zschokke: Ideen zur psychologischen Ästhetik, § 77, S. 230. Ebd., S. 231. Ebd., § 26, S. 58f.; § 28, S. 64.
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der Metaphysik des Schönen und ihrer kallistischen Axiome. Was „schön“ ist, beantwortet sich für Zschokke einzig auf (trieb-)psychologischem Wege: einerseits durch die Untersuchung der ästhetischen Wahrnehmungsdispositionen des Subjekts, andererseits durch Berücksichtigung der Eigenschaften jener „schönen Objekte“, die das Empfindungsvermögen „zur hohen Lust [zu] stimmen“ vermögen.10 Der sich in diesen Bestimmungen abzeichnende Komplexitätsgewinn der anthropologischen Ästhetik umfasst mithin einen doppelten Entwicklungsprozess: die Ausweitung der ästhetischen Reflexion auf die Sphäre des Triebs und die Integration des Vermögensbezirks des Begehrens in den Begriff der ästhetisch relevanten Emotion. Alle ästhetische Erfahrung ist demnach Phänomen einer das Empfinden betreffenden Wahrnehmung, die wiederum „von Vorstellungen und Begierden [umschwebt]“ ist.11 Explizit im Begriff der Emotionen setzt Zschokke auf diesem Wege die erstmals von Sulzer realisierte Korrelation von Sinneswahrnehmung, Lusterfahrung und Affektstimulation auf psychologischem Weg konsequent fort. In Zschokkes programmatischem Entwurf einer psychologischen Ästhetik, so lässt sich zusammenfassen, spiegeln sich die Auswirkungen des langjährigen Kommerzes von anthropologischer und ästhetischer Wissenschaft der späten Aufklärung. Mit der Zentralstellung der emotionalistischen Theorie der Sinnlichkeit und der Untersuchung der triebpsychologischen Kräfte der Natur des Menschen in ästhetischer Hinsicht begibt sich die psychologische Ästhetik der späten Aufklärung in kaum zu überbietende Oppositionsstellung zu den Spielarten prinzipienphilosophisch begründeter Ästhetik von oben, in welcher Autoren wie Zschokke oder Abicht im Übrigen ohnehin kein Schlusswort, sondern allenfalls eine Variante ästhetischer Theoriebildung sehen wollten.12 Die Fundierung der ästhetischen Wissensbildung durch die psychologische Theorie der Emotionen erscheint in der Hoch- und zugleich Endphase der anthropologisch und transdisziplinär konstituierten ästhetischen Theorie damit zugleich als Konsequenz einer langwierigen Einsicht: Dass ein System des ästhetischen Wissens „aus unbezweifelten Grundsätzen“13 nur um den Preis der transzendentalen oder idealistischen Abgehobenheit des Ästhetischen vom Aisthetisch-Sinnlichen und vom Sinnlich-Lebensweltlichen konstruiert werden kann. Bei Zschokke sind daher die seit Baumgarten leitenden Ambitionen zur Begründung einer systematisch verfassten ästhetischen Disziplin der Arbeit an den empirisch-anthropologischen Konstitutionsbedingungen des Ästhetischen in Gestalt einer Wissenschaft der Emotionen gewichen. Auf diese Weise hat sich die anth10 11 12
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Ebd., § 87, S. 266. Ebd. Zschokke positioniert die psychologische Ästhetik zwar als Gegenkonzept zur transzendentalen Ästhetik Kants, versteht sie inhaltlich jedoch zugleich als Erweiterung jener von Kant „mit so vielem Glück bearbeite[ten]“ Ästhetik transzendentalphilosophischen Zuschnitts (vgl. Zschokke: Ideen zur psychologischen Ästhetik, Vorbericht, S. IX). Meiners: Revision der Philosophie, S. 228.
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ropologische Ästhetik offenkundig vollends auf die Seite des empirisch bestimmten Subjekts und seiner naturgegebenen Dispositionen geschlagen. Diesbezüglich durchaus eng mit Kants vorkritischer Ästhetiktheorie und Anthropologie verwandt, ist sie damit in der Tat einer ästhetisch ausgerichteten „Erfahrungswissenschaft“ des Menschen immer noch wesentlich näher als einer transzendental begründeten, oder prinzipienfundierten, oder eben spekulativ-idealistischen „Wissenschaft des Schönen“ – ein Wort, so Zschokke, das mit Bezug auf die anthropologisch begründete Ästhetik „wohl nicht im strengen Sinne gelten“ kann.14
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Zschokke: Ideen zur psychologischen Ästhetik, § 10, S. 25, Anm.
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