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German Pages [450] Year 2013
© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-62428-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-62428-0
Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie
Herausgegeben von Lutz Friedrichs, Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier
Band 75
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Lars Charbonnier / Matthias Mader / Birgit Weyel (Hg.)
Religion und Gefühl Praktisch-theologische Perspektiven einer Theorie der Emotionen Festschrift für Wilhelm Gräb zum 65. Geburtstag
Vandenhoeck & Ruprecht
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-62428-9 ISBN 978-3-647-62428-0 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Landeskirchenamts der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover. Ó 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Philosophische und systematische Analysen Roderich Barth Religion und Gefühl. Schleiermacher, Otto und die aktuelle Emotionsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Sabine Döring / Anja Berninger Was sind religiöse Gefühle? Versuch einer Begriffsklärung
49
. . . . . . . .
Volker Gerhardt Glauben: Ein Gefühl, das Wissen trägt und Nichtwissen erträglich macht
65
Hans-Günter Heimbrock Phänomenologie des Gefühls
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
Dietrich Korsch In sich selbst vergnügt. Ein kleiner Versuch über die Freude in der Logik der Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
Martin Kumlehn »Gedanken über den Werth der Gefühle« in Johann Joachim Spaldings religionstheologischer Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Jörg Metelmann Gefühl als Grund und Performanz. Zum Subjekt der Erregung am Beispiel Schleiermacher, Herder, Rousseau, Sade . . . . . . . . . . . . . . 125
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Inhalt
Georg Northoff Religion und Gehirn – Wer beeinflusst wen? . . . . . . . . . . . . . . . . 141
II. Phänomenologische Zugänge in Kultur und Gesellschaft Frank Thomas Brinkmann I will always have my feelings. Zur Inszenierung von Gefühlen in (musikalischen) Popkulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Lars Charbonnier Gefühl für das Leben. Religion und Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Andreas Feldtkeller Die Bedeutung des Gefühls für die teilnehmende Beobachtung von Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Jörg Herrmann Zuflucht für die Seele. Über Kino, Gefühl und Religion
. . . . . . . . . . 203
Hubert Knoblauch / Regine Herbrik Emotion, Wissen und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Matthias Mader Emotionen, radikaler Protest und Religionsdiskurs Kristin Merle Virtual and real: Gefühle im Cyberspace
. . . . . . . . . . . . 233
. . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
Rolf Schieder Die Inauguration des Präsidenten. Gefühlsprotokoll eines zivilreligiösen Rituals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
III. Praktisch-theologische Handlungsfelder Kristian Fechtner Schamgefühle. Zur emotionalen Innenseite der Kasualpraxis . . . . . . . 285 Elisabeth Gräb-Schmidt Leibhaftiges Fühlen. Zur Ambivalenz der Angst und ihrer Überwindung im Abendmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
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Inhalt
Albrecht Grözinger Predigt und Gefühl. Eine homiletische Erkundungsreise . . . . . . . . . . 313 Hans-Martin Gutmann Trauer – das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit
. . . . . . . . . . . . 327
Annette Haußmann Emotionen in der Pflege. Die Rolle von Emotionen im Bewältigungsprozess bei pflegenden Angehörigen. Psychologische und praktisch-theologische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Jan Hermelink Lust und Unlust im Pfarrberuf. Eine Skizze zur Rolle des Gefühls in der Pastoraltheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Martina Kumlehn »Wut des Nicht-Verstehens« – Anmerkungen zur Hermeneutik der Gefühle bei Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Ursula Roth Gottesdienstgefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Thomas Schlag Emotion, Entwicklung und Emergenz. Gemeindeentwicklung in der Spannung zwischen individueller Religion und institutioneller Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Friedrich Schweitzer Gefühl in der Religion von Kindern und Jugendlichen. Perspektiven einer religionspädagogischen Modellbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Birgit Weyel »…im Himmel gefühlt«. Religiöse Gefühle am Beispiel von Jenseitsvorstellungen und Krankheitsbewältigung . . . . . . . . . . . . . 433 Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447
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Einleitung
Gefühle haben Konjunktur. Das Thema Gefühl bzw. Emotion ist ein Querschnittsthema, das in vielen Wissenschaften gegenwärtig eine große Rolle spielt. Das gilt auch für die Wahrnehmung und Beschreibung der Religion. Auf dem religiösen Feld gibt es kaum ein Phänomen von gegenwärtig großer Beachtung, das nicht durch eine herausragende Bedeutung der Dimension der Gefühle gekennzeichnet ist. Dem großen Stellenwert, den Gefühle in den Religionen und öffentlichen Debatten über Religion haben, steht auf religionstheoretischer Seite ein Theoriedefizit entgegen. Zwar gibt es einzelne Ansätze, das Gefühlsthema aufzugreifen, aber nach wie vor dominieren Konzepte in der Systematischen und der Praktischen Theologie, die die kognitive Dimension der Religion im Sinne eines individuellen reflexiven Deutungshandelns in den Mittelpunkt stellen. Damit geraten jedoch zentrale Aspekte religiöser Praxis wie die Gefühlsdimension aus dem Blick. Das vorliegende Buch will daher zur Thematisierung des Gefühls in der Praktischen Theologie und darüber hinaus beitragen. Diese Aufsatzsammlung bietet dazu vielfältige Perspektiven auf das Thema Gefühl, die den Stellenwert des Gefühls für die Religionstheorie anschaulich machen und, so hoffen wir, zur Weiterarbeit anregen. Zentrale Fragen sind, ob ›religiöse Gefühle‹ Gefühle sui generis und damit prinzipiell von anderen Gefühlen zu unterscheiden sind, oder ob Gefühle dann als religiöse zu qualifizieren sind, wenn sie auf Transzendenz bezogen sind bzw. wissenssoziologisch als religiös kommunikativ qualifiziert werden. Es schließen sich damit Fragen zum Begriff und zur Geschichte des Gefühls an. In welchem Verhältnis stehen Konzeptualisierungen von Religion und Gefühl? Wie ist das Verhältnis von Gefühlen und Kognitionen zu bestimmen? In welchem Verhältnis stehen religiöse Inhalte und die, diese begleitenden Gefühle zueinander? Sind die Inhalte den Gefühlen nachgeordnet oder erzeugen die Inhalte spezifische Gefühle? Welche Rolle spielen historische Konstellationen der religiösen Individualisierung und gesellschaftlichen Pluralisierung für die jeweiligen Theoriekonzepte? Ein weiterer Themenkomplex widmet sich der Empirie der Gefühle. Selbstauskünfte über religiöse Gefühle sollen wahrgenommen und beschrieben
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Einleitung
werden. Welche kommunikativen Praktiken verbinden sich mit den Selbstauskünften? Welche Emotionsstile werden durch religiöse Zugehörigkeiten vorgezeichnet? Diese Fragen orientieren zum einen den Aufbau des Buches. Zum anderen aber ziehen sie sich auch als roter Faden durch die einzelnen Beiträge. In einem ersten Teil (philosophische und systematische Analysen) finden sich vorwiegend Beiträge, die grundlegende Ansätze zu einer Theorie der Emotionen bieten. Roderich Barth entfaltet eine Verhältnisbestimmung von Religion und Gefühl, indem er an die Wesensbestimmungen der Religion bei Friedrich Schleiermacher und Rudolf Otto anknüpft, sie historisch rekonstruiert und an die gegenwärtige Emotionsdebatte anschließt. Sabine Döring und Anja Berninger nähern sich der Frage nach dem, was religiöse Gefühle sein können, vor dem Hintergrund der analytischen Philosophie an. Dieser Beitrag versucht einen Brückenschlag zwischen dem philosophischen Emotionsdiskurs und der Religionstheorie. Der Philosoph Volker Gerhardt entwickelt einen Begriff des Glaubens, der diesen wesentlich als Gefühl bestimmt, aber zugleich ins Verhältnis zum Wissen setzt. Günter Heimbrock fächert verschiedene empirische Zugänge zum Gefühl auf und lenkt die Aufmerksamkeit insbesondere auf das Selbst-Gefühl in seinen kulturellen Kontexten als möglichen Ansatzpunkt für eine Theorie des religiösen Gefühls. Dietrich Korsch entfaltet die Bestimmung der Religion als Gefühl nach Friedrich Schleiermacher und akzentuiert im Anschluss an Schleiermacher die Freude als religiöses Grundgefühl. Martin Kumlehn fragt in historischer Perspektive nach der religionstheologischen Bedeutung des Gefühls bei Johann Spalding und dessen Bedeutung für die Anthropologie. Jörg Metelmann rekonstruiert die Subjekttheorien von Schleiermacher, Herder, Rousseau und Sade. Er fragt nach dem Subjekt der Erregung in der Spannung zwischen Selbstgefühl und Objekt-Differenz. Georg Northoff leistet aus neurowissenschaftlicher Perspektive einen Beitrag zur Verhältnisbestimmung von Religion und Gehirn. In einem zweiten Teil finden sich phänomenbezogene Zugänge zum Gefühl in Kultur und Gesellschaft. Die hier rubrizierten Aufsätze sind vor allem als Beiträge zur Religions- und Kulturhermeneutik mit einem Schwerpunkt auf Ausdruck und Vermittlung von Gefühlen zu verstehen. Frank Thomas Brinkmann widmet sich der Popmusik. Lars Charbonnier widmet sich dem Thema »Gefühl fürs Leben« als Phänomen der Beschreibung von Religion im Alter. Andreas Feldtkeller fragt in methodologischer Perspektive nach einem empirischen Feldzugang zum Gefühl. Jörg Herrmann schreibt über das Gefühl im Kinofilm als Beitrag zur Religionshermeneutik. Hubert Knoblauch und Regine Herbrik nähern sich dem Thema Gefühle in wissenssoziologischer Perspektive an. Sie definieren emotionale Stile als situative Verdichtungen kommunikativer Codierungen des Emotionalen, die der Beobachtung und Analyse zugänglich sind und zeigen deren Analysekraft am Beispiel der Inszenierungsstrategien öffent-
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Einleitung
licher Papstauftritte. Matthias Mader analysiert am Beispiel der Anti-AtomProtestbewegung die Bedeutung des Gefühls für politischen Protest und zeigt Parallelen dieses Forschungsbereichs zum religionstheoretischen Diskurs auf. Der Beitrag von Kristin Merle widmet sich den Ausdrucksformen von Gefühlen im Internet und fragt dem Verhältnis von expressiver Medialität und Gefühl. Rolf Schieder beschreibt die Inszenierung der Gefühle am Beispiel der Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten Barack Obama im Jahr 2013 und leistet damit einen Beitrag zum Verständnis von Zivilreligion. Der dritte Teil ist praktisch-theologischen Handlungsfeldern gewidmet. Hier wird die Bedeutung des Gefühls für klassische Disziplinen und Bereiche der Praktischen Theologie reflektiert: die Gottesdienst- und Kasualtheorie, Seelsorgelehre, Religionspädagogik, Kirchentheorie und Diakonik. Kristian Fechtner thematisiert den Zusammenhang von Selbstpräsentation und Schamgefühl in der Kasualpraxis. Elisabeth Gräb-Schmidt trägt zum Thema Körperlichkeit und Gefühl am Beispiel der Angstüberwindung im Abendmahl bei. Albrecht Grözinger befragt die Homiletiken von Augustin, Luther und Schleiermacher auf die rhetorisch-homiletische Verortung des Gefühls und formuliert Ansätze zu einem den Gefühlen angemessenen Sprachstil der Predigt. Hans-Martin Gutmann wendet Schleiermachers Religions- bzw. Gefühlsbegriff auf die Trauer an und veranschaulicht diese als ein Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit. Annette Haußmann verbindet psychologische und seelsorgerliche Perspektiven in der Frage nach der Bedeutung von Emotionen für die Motivation, die Pflege von Angehörigen zu übernehmen und die damit verbundenen Belastungen zu bewältigen. Jan Hermelink skizziert im Anschluss an eine Analyse Schleiermachers die Bedeutung von Lust und Unlust für die Pastoraltheologie. Martina Kumlehn widmet ihren Beitrag dem Thema Demenz und interpretiert die aufbrechenden Gefühle der Betroffenen als Wut des NichtVerstehens. Ursula Roth nimmt den Gottesdienst in den Blick. Sie setzt bei Selbstbeschreibungen des Gottesdiensterlebens an und interpretiert den Gottesdienst in Auseinandersetzung mit theaterwissenschaftlichen Theorien im Anschluss an Schleiermacher als Darstellung der religiösen Gefühle der Gottesdienstteilnehmer. Thomas Schlag thematisiert den Konnex von Gefühl, Emergenz und Gemeindeentwicklung in kirchentheoretischer Perspektive. Friedrich Schweitzer fragt nach dem Gefühl in der religiösen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Birgit Weyel veranschaulicht an zwei Fallbeispielen die Gefühle, die mit unterschiedlichen eschatologischen Konzepten verbunden sind und die auf der Grundlage lebensgeschichtlicher Deutungen im Krankheitsfall gebildet wurden. Während sich in der Theologie weithin eine Orientierung der Interpretation von Religion im Kontext von Sinn- und Deutungsperspektiven gezeigt hat, ist mit der Thematisierung der Gefühle eine ergänzende Perspektive gewonnen.
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Einleitung
Schleiermachers Bestimmung von Religion als schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl kann eine auch für die Religionstheorie wichtige Dimension der Emotionen für die Bestimmung der Religion wieder verstärkt ins Licht rücken. Die Entdeckung des Gefühls als Komponente der Religion kann auch für die Qualifizierung von Rationalität in Anschlag gebracht werden. Wenn Gefühle selbst als mentale Prozesse verstanden werden, wie es die neuere Emotionsforschung nahelegt, dann lässt sich untersuchen, wie Religion auf der einen Seite als emotionale Grundhaltung kognitive und praktische Prozesse ausrichtet und wie auf der anderen Seite Religion als spezifische Emotion selbst im Sinne des Transzendenzgefühls zu verstehen ist. Dieser Band ist Wilhelm Gräb, dem Berliner Praktischen Theologen, aus Anlass seines 65. Geburtstags am 21. August 2013 als Festschrift gewidmet. Er hat in seinem Werk wesentliche Fäden dieser Diskurslagen intensiv verfolgt: die anthropologische Verortung der Religion im Anschluss an Schleiermacher ebenso wie die konstitutive Bedeutung der Gefühle für die gelebte Religion der Individuen, die den religiösen Institutionen und Traditionen vorgeordnet sind. Seine Beiträge zu einer Religionstheorie, zur Religions- und Kulturhermeneutik, zur Wiedergewinnung der Arbeiten Friedrich Schleiermachers können in ihrer Bedeutung für die gegenwärtige Praktische Theologie kaum überschätzt werden. Dies zeigen anschaulich die vielen Verweise auf seine Schriften, die sich auch in den hier versammelten Beiträgen finden lassen. Die Autoren, Autorinnen, die Herausgeber, die Herausgeberin und viele andere fühlen sich Wilhelm Gräb auf je individuelle Weise verbunden: als akademischer Lehrer, als kritischer Gesprächspartner und als ein guter Freund, der seinen Gefühlen auch mal freien Lauf lassen kann. Wir danken den Autorinnen und Autoren, die diese Geburtstagsgabe möglich gemacht haben. Ihre große Bereitschaft, sich wie selbstverständlich auf die Konzeption des Buches einzulassen, ist sehr zu würdigen. Den Herausgebern und der Herausgeberin der Reihe Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, Eberhard Hausschildt, Franz Karl Praßl und Anne Steinmeier, danken wir für die Aufnahme in die Reihe. Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, namentlich Herrn Jörg Persch, sei für die ausgezeichnete Zusammenarbeit gedankt. Ohne die unermüdliche Unterstützung von Herrn JulianChristopher Marx wäre die Arbeit zur Drucklegung nicht zu leisten gewesen. Für großzügige Druckkostenzuschüsse danken wir schließlich der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers und der Evangelischen Landeskirche in Baden. Berlin und Tübingen, im April 2013 Lars Charbonnier, Matthias Mader, Birgit Weyel
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I. Philosophische und systematische Analysen
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Roderich Barth
Religion und Gefühl. Schleiermacher, Otto und die aktuelle Emotionsdebatte
Lange Zeit hatte sie sich bei vielen Gelegenheiten den Satz des Novalis vorgesagt: ›Was kann ich also für meine Seele tun, die wie ein unaufgelöstes Rätsel in mir wohnt? Die dem sichtbaren Menschen die größte Willkür läßt, weil sie ihn auf keine Weise beherrschen kann?‹ Aber das flackernde Licht dieses Satzes erlosch, nachdem es sie rasch wie ein Blitzstrahl erhellt hatte, jedesmal wieder im Dunkel, denn sie glaubte nicht an eine Seele, weil ihr das überheblich und auch für ihre Person viel zu bestimmt vorkam. Sie konnte bloß ebensowenig an das Irdische glauben. Will man das recht verstehen, so braucht man sich nur zu vergegenwärtigen, daß diese Abkehr von der irdischen Ordnung ohne Glauben an eine überirdische etwas zuinnerst Natürliches ist, denn in jedem Kopf macht sich neben dem logischen Denken mit seinen strengen und einfachen Ordnungssinn, der das Spiegelbild der äußeren Verhältnisse ist, ein affektives gelten, dessen Logik, soweit man überhaupt von einer solchen reden darf, den Eigenheiten der Gefühle, Leidenschaften und Stimmungen entspricht, so daß sich die Gesetze dieser beiden ungefähr so zueinander verhalten, wie die eines Holzplatzes, wo Klötze rechteckig behauen und versandbereit aufgestapelt werden, zu den dunkel verschlungenen Gesetzen des Waldes mit ihrem Treiben und Rauschen. Und da die Gegenstände unseres Denkens keineswegs ganz unabhängig von seinen Zuständen sind, vermengen sich nicht nur in jedem Menschen diese beiden Denkweisen, sondern sie können ihm bis zu einem gewissen Grad auch zwei Welten gegenüberstellen, zumindest unmittelbar vor und nach jenem ›ersten geheimnisvollen und unbeschreiblichen Augenblick‹, von dem ein berühmter religiöser Denker behauptet hat, daß er in jeder sinnlichen Wahrnehmung vorkäme, ehe sich Gefühl und Anschauung voneinander trennten und die Plätze einnähmen, an denen man sie zu finden gewohnt sei: als ein Ding im Raum und ein Sinnen, das nun in den Betrachter eingeschlossen ist.1
Die weibliche Person, von der hier die Rede ist und die mit einem Novalis-Wort ihre Sehnsucht nach einem anderen Zustand zu begreifen sucht, sich dann aber doch nicht darin wiederfinden kann, ist Agathe, die Schwester des Manns ohne Eigenschaften aus Robert Musils gleichnamigen Roman. Nach der kurzen Beschreibung dieser Szene wechselt Musil auf eine Metaebene und sucht psychologische Gründe für Agathes unerfüllt bleibende Selbstaufklärung anzugeben. 1 Musil, Mann ohne Eigenschaften, 857.
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Roderich Barth
Dabei unterscheidet er zwei Rationalitätsformen und deren Verhältnis zur Intentionalität. Auf der einen Seite steht eine diskursive Logik, die unser empirisches Bewusstsein formt und der eine gegenständliche Dingwelt entspricht – die gehackten und gestapelten Holzklötze. Auf der anderen Seite, die von Gefühlen, Leidenschaften und Stimmungen bestimmt wird, steht nicht etwa blanke Irrationalität, sondern ein affektives Denken. Diese Denkweise ist jedoch weit weniger bestimmt und gegenständlich – dunkel verschlungene Gesetze des Waldes mit ihrem Treiben und Rauschen –, was zum einen erklärt, dass traditionelle Vorstellungen von Seelen und einer überirdischen Ordnung als inadäquat empfunden werden, ohne dass dadurch jedoch das Irdische einen Wert- ersatz bieten könnte. Zum anderen bleiben die intentionalen Korrelate dieser vom Gefühl bestimmten Denkweise, sofern diese sich aus der Mischung mit dem gewöhnlichen Bewusstsein emanzipiert, in eine Innenwelt gebannt. Musil interessiert sich aber vor allem für die Zustände oder Erlebnisprozesse, in denen diese intentionale Ausdifferenzierung nicht erfolgt und das Gefühl dennoch eine nicht nur begleitend-unthematische Rolle einnimmt – wie etwa in einem »überschwänglichen Augenblick« (ebd.). Es wäre reizvoll, diesen Überlegungen Musils weiter nachzugehen, denn bereits an dieser Stelle bewahrheitet sich Arnold Gehlens treffende Bemerkung zur Interdependenz von Wissenschaft und Kunst: Der moderne Roman vom Schlage Musils habe »eine Reflexionsschärfe, die man manchem Philosophen gönnen möchte«.2 Es kann daher kaum verwundern, dass in der gegenwärtigen Emotionsdebatte immer wieder auch die literarische Verarbeitung der Thematik mit in die philosophische Reflexion einbezogen wird. Man denke etwa an Martha Nussbaum, die ihre Konzeption an Texten von Dante über Klopstock bis Joyce exemplifiziert.3 Explizit und programmatisch auf Musil Bezug nimmt Peter Goldie in seiner wegweisenden Studie über die Emotionen.4 Und auch Sabine Dörings Zugang zur Philosophie der Gefühle verlief über eine intensive Auseinandersetzung mit der im Nachlassband zum ›Mann ohne Eigenschaften‹ enthaltenen Gefühlspsychologie.5 Die Hoffnung ist also nicht unbegründet, 2 Gehlen, Urmensch, 63. Die Erinnerung an dieses Gehlensche Bonmot verdanke ich ClausDieter Osthövener. Darüber hinaus sind aus vielen Gesprächen über die Autoren und Themen dieses Aufsatzes zahlreiche Anregungen hervorgegangen, die sich vereinzelt schwerlich kennzeichnen lassen. Daher in dieser kollektiven Form mein herzlicher Dank. Des Weiteren gilt mein Dank für die Diskussion von Vorfassungen dieses Vortrages den Teilnehmern von zwei Arbeitstagungen, dem Schleiermachers-Symposion 2010 in Wittenberg unter der Leitung von Ulrich Barth sowie dem Workshop ›Religious Feelings‹ im September 2012 an der Universität Tübingen, in Verantwortung von Sabine Döring, Eva-Maria Düringer, Gundula Reinshagen und Birgit Weyel u. a. 3 Nussbaum, Upheavals. 4 Goldie, Emotions. 5 Döring, Ästhetische Erfahrung; vgl. Dies., Philosophie der Gefühle, 9; 15 f.; 37; 228.
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Religion und Gefühl
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dass eine Reminiszenz an Musil als Autoritätsbeweis dafür herhalten kann, sich einmal einigen in der neueren Debatte vollständig unbekannten Traditionen zuzuwenden. Denn hinter dem ›berühmten religiösen Denker‹, auf den Musil in der zitierten Stelle anspielt, verbirgt sich kein geringerer als Friedrich Schleiermacher. Zweifelsohne bezieht sich Musil nämlich auf eine der schwierigsten Stellen aus der zweiten von Schleiermachers ›Reden über die Religion‹, wo es um eben jenen geheimnisvollen Augenblick einer Einheit zwischen Anschauung und Gefühl geht.6 Dass Schleiermachers Gefühlskonzept entgegen seiner Wertschätzung durch Musil in den kulturwissenschaftlich-philosophischen Debatten der Gegenwart keine Resonanz erfährt, liegt neben der Dominanz analytischer Traditionen sicherlich an der dort grundsätzlich anzutreffenden Enthaltsamkeit mit Bezug auf den Bereich religiöser Gefühle. Im Vordergrund stehen vor allem Primärgefühle oder eben Gefühle, die in besagten Traditionen prominent vertreten sind wie etwa das Mitgefühl. Zu diesen Gründen für das Verstummen eines religions- wie gefühlstheoretischen Klassikers kommt verstärkend hinzu, dass man auch in der einschlägigen Fachdisziplin, der akademischen Religionspsychologie, von Schleiermacher und den an ihn anschließenden Denkern nichts mehr wissen will. Diese Traditionen seien unvereinbar mit den Erkenntnissen neuerer, empirisch validierter Forschung auf dem Gebiet religiöser Gefühle – so das mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Urteil. Dieses Schicksal trifft insbesondere auch Rudolf Otto, den wichtigsten Rezipienten und kritischen Fortführer der Schleiermacherschen Theorie des religiösen Gefühls.7 Im Folgenden soll es also – ohne jedes museale Motiv – um den Nachweis gehen, dass die genannten Religions- und Gefühlstheorien des Neuprotestantismus für die gegenwärtige Debatte unabgegoltene Theorieimpulse enthalten. Aus diesem Grund wird nach einer Würdigung Schleiermachers auch Rudolf Ottos Konzeption zur Sprache kommen, womit ich gleichsam wieder in die Zeit Musils, die Zeit der klassischen Moderne zurückkehre. Denn Ottos Theorie religiöser Gefühle – entfaltet in der Blütezeit experimenteller Psychologie und empirischer Religionspsychologie, zugleich versehen mit direkten Bezügen zur Wertphilosophie und Phänomenologie – bietet viele Schnittstellen zur heutigen Emotionsdebatte. Abschließend werde ich vor dem Hintergrund dieser Debatte 6 Schleiermacher, Über die Religion (im Folgenden abgekürzt als KGA), 221/73 – die nach den Schrägstrich angegebene Seitenzahl bezieht sich auf die Originalpaginierung der Ausgabe von 1799. 7 Zur Kritik von Schleiermacher und Otto vgl. Grom, Religiöses Erleben. Vgl. ferner Ders.; Religionspsychologie, v. a. 398 ff. Unbeschadet davon, dass die Einwände nicht überzeugen, sondern vielmehr eigene Theoriedefizite offenlegen, sind Groms empirisch fundierte Studien und sein beherzter Kampf gegen den »antipsychologischen Theologismus« (a. a. O., 370) nachdrücklich zu würdigen, vgl. dazu: Zarnow, Identität, 288 – 297.
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Roderich Barth
einige Thesen zur Gestalt einer zeitgenössischen Theorie religiöser Gefühle formulieren.
1.
Religion und Gefühl bei Schleiermacher
Vor der Aufgabe stehend, Schleiermacher als Theoretiker des religiösen Gefühls zu würdigen, sieht man sich gewiss zunächst an dessen Glaubenslehre aus den Jahren 1821/22 verwiesen, vor allem in der Fassung der zweiten Auflage von 1830/31.8 Denn in deren Einleitung entfaltet Schleiermacher sein berühmtes Verständnis von Religion als ›Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit‹. Das hat Schleiermacher nicht nur den Ruf des Gefühlstheologen par excellence eingebracht, sondern in der Folge von Hegels ebenso ätzender wie dümmlicher Lästerei9 als einen unter Philosophen bis heute nicht wirklich ernst genommenen Denker diskreditiert – und das, obwohl es seine im Hintergrund stehende, allerdings nur in Vorlesungen entfaltete Transzendentalphilosophie durchaus mit den Systementwürfen seiner idealistischen Weggefährten aufnehmen kann, gerade weil jene es sich im Unterschied zu diesen nicht erlaubt hat, leichtfertig über die polizeilichen Grenzen der Kantschen Vernunftkritik spekulativ hinwegzusegeln.10 Im Kontrast zum berüchtigten Ruhm dieser Konzeption des religiösen Bewusstseins steht allerdings der Umstand, dass die Interpretation dieses Herzstücks von Schleiermachers Religionstheorie bis zum heutigen Tage umstritten ist. Und dabei sind es mitnichten nur Adiaphora, über die Uneinigkeit besteht, sondern Grundfragen von enormer Reichweite.11 Ich werde mich jedoch hüten, im Folgenden in das Labyrinth dieser Detailexegese der einschlägigen Paragraphen der Glaubenslehre einzusteigen, um am Ende gar noch eine eigene Interpretation zu präsentieren und so die Kakophonie um eine weitere Stimme zu bereichern. Das ist auch insofern gar nicht nötig, als es für meine Zwecke genügt, auf einige eher unstrittige Aspekte der Theorie des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls Bezug zu nehmen. Denn schon von da aus lässt sich der Rekurs zur frühen, also gut drei Jahrzehnte zuvor entfalteten Religionstheorie der Reden motivieren, die zwar prima facie in Fragen des Gefühls weniger 8 Schleiermacher, Der christliche Glaube; im Folgenden werden nach einen Schrägstrich auch die Seitenzahlen der Originalausgabe angegeben. 9 »Gründet sich die Religion im Menschen nur auf ein Gefühl, so hat solches richtig keine weitere Bestimmung, als das Gefühl seiner Abhängigkeit zu seyn, und so wäre der Hund der beste Christ, denn er trägt dieses am stärksten in sich, und lebt vornehmlich in diesem Gefühle.« Hegel, Vorwort, XVIIIf. 10 Vgl. dazu U. Barth, Letztbegründungsgang. 11 Vgl. z. B. die Debatte zwischen Cramer, Prämissen, U. Barth, Replik und Grove, Deutungen.
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Religion und Gefühl
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einschlägig zu sein scheint, gleichwohl aber zumindest für Rudolf Ottos Überlegungen zum Thema entscheidend war. Entscheidend für mein Beweisziel ist der § 5 der Einleitung. Hier, also nachdem die Explikation des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit im Grunde genommen bereits abgeschlossen ist, wartet Schleiermacher mit einer These auf, die man in ihrer Sprengkraft leicht übersieht, die jedoch bei Lichte besehen die zuvor entwickelte Konzeption in entscheidender Weise relativiert. Ich rekapituliere kurz den Gang der vorausgehenden Paragraphen: Zunächst (§ 3) hatte Schleiermacher erläutert, was er unter dem von kognitiven und voluntativen Einstellungen unterschiedenen und für eine Bewusstseinsfunktion sui generis reservierten Terminus Gefühl verstanden wissen will – wohlgemerkt noch in einem übergreifenden, also nicht nur für das religiöse Gefühl geltenden Sinne. Diese Explikation, deren genaue Lektüre Hegel offensichtlich unterlassen hatte, kreist um den Begriff des unmittelbaren Selbstbewusstseins. Neben dem konstitutiven Aspekt der Selbstbezüglichkeit ist hierbei entscheidend, dass unter Unmittelbarkeit keine vollständige Reflexionslosigkeit verstanden werden darf, sondern lediglich gemeint ist, dass Gefühle eine nicht-gegenständlich vorstellende Form des Selbstbewusstseins sind. Um es in heutiger Theoriesprache zu formulieren: Gefühl ist nach Schleiermacher ein nichtintentionales Selbstverhältnis bzw. ein Zustandsbewusstsein. Schleiermachers Gefühlsbegriff ähnelt also dem, was man in der gegenwärtigen Debatte unter die Klasse der feelings subsumiert, wobei die damit oft verbundene Einschränkung auf bodily feelings für ihn nicht vorausgesetzt werden darf. Diese Bestimmung des Gefühlsbegriffs schließt freilich nicht aus, dass Gefühle als Momente des intentionalen Bewusstseins vorkommen können. Eine übergreifende Eigenschaft dieser emotionalen Selbstverhältnisse besteht nach Schleiermacher darin, dass sie ein »Irgendwohergetroffensein« repräsentieren und somit ein Passivitätsmoment in unserem mentalen Leben vertreten.12 In einem zweiten Schritt (§ 4) versucht Schleiermacher dann die differentia specifica des religiösen Gefühls herauszuarbeiten – und spätestens mit Bezug darauf streiten sich die Gelehrten, was wohl nicht zuletzt daran liegt, dass die entscheidenden Bestimmungen von Schleiermacher mehr oder weniger in einem Halbsatz zusammengedrängt werden.13 Setzt man nun beim dritten Beweisschritt in § 5 ein, so könnte man nicht zuletzt auch einen Erklärungsgrund 12 Schleiermacher, Der christliche Glaube, 34/18. 13 A.a.O., 38/21 f: »Allein eben das unsere gesamte Selbstthätigkeit, also auch, weil diese niemals Null ist, unser ganzes Dasein begleitende, schlechthinnige Freiheit verneinende, Selbstbewußtsein ist schon an und für sich ein Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit, denn es ist das Bewußtsein, daß unsere ganze Selbstthätigkeit eben so von anderwärtsher ist, wie dasjenige ganz von uns her sein müßte, in Bezug worauf wir ein schlechthinniges Freiheitsgefühl haben sollten.«
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für die merkwürdige Einsilbigkeit Schleiermachers bei der Explikation seines Spitzenbegriffs eines Gefühls der schlechthinnigen Abhängigkeit ausmachen. Denn in besagtem Paragraphen erfahren wir, dass das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit rein als solches gar nicht im wirklichen Bewusstsein vorkommt. Sein »wirkliches Vorkommen« – so Schleiermacher – ist notwendig an das empirische Selbstbewusstsein gebunden.14 Der zuvor entfaltete Begriff des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls verdankt sich also einer methodischen Abstraktion.15 Mit anderen Worten und zugespitzt formuliert: Phänomenal gibt es gar kein reines Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit. Suchte man es etwa auf einer Ebene mit konkreten Gefühlen wie Furcht, Angst, Freude oder Hoffnung, so würde man fehl gehen. Das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit ist kein Gefühl im gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern bezieht sich vielmehr auf derartige Gefühle. Ein wesentlicher Grund dafür, dass das sogenannte Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit nur an empirischen Gefühlen bzw. nur im »Bezogensein beider aufeinander« wirklich vorkommen kann,16 liegt in der Distinktheit, die für ein zeitliches Hervortreten im Bewusstseinsleben erforderlich ist. Diese kann aber nach Schleiermacher nur aus der Intentionalität des empirischen Bewusstseins und der damit verbundenen individuellen Bestimmtheit empirischer Gefühle herrühren. Die empirischen Gefühle bestimmen also in irgendeiner Form den Gehalt des religiösen Gefühls. Dies erfolgt jedoch so, dass jene zugleich durch das religiöse Gefühl in einer spezifischen Hinsicht repräsentiert werden. Vermittels des religiösen Gefühls vollzieht sich also eine emotionale Deutung unseres empirischen Zustandsbewusstseins.17 Dabei wird anders als im empirischen Gefühl gerade nicht unsere konkrete Zuständlichkeit als solche reprä14 Vgl. den Leitsatz von § 5, a. a. O., 40 f./24 sowie § 5.3 und 5.4, a. a. O., 45 ff./28 ff. 15 Diese Problematik wird in der Schleiermacherforschung unter der Frage diskutiert, ob es sich bei seiner Bewusstseinstheorie um eine Typen- oder Elemententheorie handelt, vgl. U. Barth, Christentum und Selbstbewußtsein, 42 ff. Diese Frage ist jedoch – gerade wenn man Schleiermacher als Elemententheoretiker bezeichnet – noch einmal von der neueren Debatte um die sogenannten ›Komponententheorien‹ der Emotionen zu unterscheiden. Denn im letzteren Falle handelt es sich bereits um phänomenal selbständige Komponenten, was auf transzendentale Elemente des Bewusstseins gerade nicht zutrifft. 16 Schleiermacher, Der christliche Glaube, 46/29. 17 Peter Grove, Deutungen des Subjekts (s. o. Anm. 11), 580 ff., kommt in seiner Rekonstruktion zu dem Ergebnis, dass die Beziehung zwischen sinnlichem und religiösen Selbstbewusstsein nach der Glaubenslehre »eine rein gefühlsmäßige frei von Deutungen« (582) sei. Damit ist offenbar gemeint, dass im Unterschied zu den ›Reden‹ die intentionale Beziehung auf die Welt bzw. auf etwas in der Welt hier einen abgeleiteten Modus darstellt. Die Beschreibung der Struktur als »Selbstdeutung« (581) lässt er aber gelten. Auf die schwierigen Detailfragen seiner minutiös werkgeschichtlich durchgeführten, daher mit Bezug auf die Glaubenslehre stark an der ersten Auflage orientierten Interpretation kann hier nicht weiter eingegangen werden.
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sentiert, sondern vielmehr eine Ganzheitsperspektive eingenommen: Das religiöse Gefühl bezieht sich auf einen Zustand »nicht von uns als jetzt so und nicht anders seienden Einzelnen, sondern nur von uns als einzelnem endlichen Sein überhaupt, so daß wir uns hier keinem andern einzelnen entgegensezen, vielmehr hierin aller Gegensaz zwischen einem einzelnen und einem anderen aufgehoben ist«.18 Das religiöse Gefühl repräsentiert somit nicht nur »unser ganzes Dasein«,19 sondern lässt auch jegliche Abgrenzung gegenüber der Welt verschwinden.20 Die schwierige Frage, wie sich diese Ganzheitsperspektive als spezifische Leistung der vorgegenständlich-unbestimmten Vorstellungsweise des Gefühls erklären lässt, bleibt dabei unausgeführt. Die Zuständlichkeit jedenfalls, die durch die religiös-emotionale Deutungsperspektive am empirischen Bewusstsein hervorgehoben wird, ist die der generellen Begrenztheit weltlicher Freiheit.21 Das religiöse Gefühl der Abhängigkeit ist also etwa keineswegs deswegen schlechthinnig, weil es jegliches Freiheitsgefühl ausschlösse.22 Vielmehr entsteht es gerade am individuellen Freiheitsbewusstsein, indem es dessen prinzipielle Angewiesenheit auf anderes, dessen »von anderwärtsher« (38/22), repräsentiert. Würde sich dieses Abhängigkeitsgefühl jedoch auf einen konkreten Zustand des individuellen Selbst als solchen beziehen, so wäre es noch kein absolutes, sondern nur ein relatives Abhängigkeitsgefühl, das bloß von anderem in der Welt abhängig wäre. Daher ist ihm – wie bereits angeführt – die Transzendierung aller innerweltlichen Gegensätze eigentümlich: Nicht wir als ›so und nicht anders seiendes Einzelnes‹, sondern die Welt als Ganze wird in ihrer prinzipiellen Endlichkeit bewusst. Im religiösen Gefühl vertritt also »unser Selbstbewußtsein die Endlichkeit des Seins im allgemeinen« – wie Schleiermacher im materialen Teil seiner Glaubenslehre präzisieren kann.23 Daher lässt sich 18 Schleiermacher, Der christliche Glaube, 43/26 (§ 5.1). 19 A.a.O., 38/22 (§ 4.3). 20 A.a.O., 67/49 (§ 8.2): »so sind wir uns unserer, insofern wir […] Bestandtheile der Welt sind, also insofern wir diese ganz in unser Selbstbewußtsein aufnehmen […], als schlechthin abhängig bewußt.« Der Umfang des vom religiösen Gefühl repräsentierten ähnelt also dem Bewusstsein, das Schleiermacher in § 4.2 in einem Gedankenexperiment entwirft und als »Gesammtselbstbewußtsein« (35/19) oder »Bewußtsein unseres Seins in der Welt oder unseres Zusammenseins mit der Welt« (36/19) bezeichnet. Dieses Gedankenexperiment hat zunächst die Funktion sowohl ein Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit als auch ebensolcher Freiheit auszuschließen, bevor dann in § 4.3 aus der Negation letzterer dann das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl gefolgert wird, vgl. dazu das Zitat in Anm. 13. 21 Der Zugang zum religiösen Abhängigkeitsgefühl erfolgt über die Negation eines schlechthinnigen Freiheitsgefühls, d. h. der Erfahrung der Angewiesenheit unserer Freiheit auf Vorgegebenes. Vgl. dazu das Zitat aus Anm. 12 sowie den gesamten § 4.3. 22 38/22: »Ohne alles Freiheitsgefühl aber wäre ein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl nicht möglich.« 23 A.a.O., 205/187 (§ 33); vgl. 66/48 (§ 8.2), demzufolge »der Fromme sich selbst als einen Bestandtheil der Welt und mit dieser zugleich als abhängig sezt«. Vgl. die korrespondierenden Bestimmungen in § 4.3, A.a.O., 38/21: »Wenn nun unser Saz demohngeachtet auf der
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das in den sprachlichen Schöpfungssymbolen auslegende religiöse Bewusstsein förmlich als intentionale Konkretion des religiösen Grundgefühls verstehen. Mit dem letztgenannten Hinweis ist ein mit Bezug auf die neuere Debatte, aber auch auf die Rezeption durch Rudolf Otto entscheidender Punkt angesprochen. Intentionalität im Sinne einer Bezogenheit auf etwas gegenständlich Vorgestelltes schließen Gefühle nach Schleiermacher per definitionem aus – also auch das religiöse Gefühl. Intentionalität setzt nach Schleiermacher vielmehr eine zusätzliche, sprachlich vermittelte Reflexionsleistung voraus, die sich freilich auch auf den Gehalt des religiösen Gefühls beziehen kann und diesen gleichsam vergegenständlicht. In diesem Sinne ist das Gottesbewusstsein die »unmittelbarste Reflexion« oder »Vorstellung« (39/23) des im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl ›mitgesetzten Wohers‹ unseres Daseins. Ihm korrelieren Selbst- und Weltvorstellungen, woraus eine Trias resultiert, die als Strukturprinzip der gesamten Glaubenslehre fungiert.24 Mit der in § 5 entfalteten Korrelation von empirischem und religiösem Gefühl ist aber noch eine weitere Näherbestimmung verbunden, die für unsere Würdigung entscheidend ist. Denn mit der Dimension der Gefühle tritt eine affektive Wertungsdifferenz in das religiöse Bewusstein ein. Bereits unser empirisches Bewusstsein steht immer unter der dem affektiven Gegensatz von Lust und Unlust. Diese Wertungen werden nun zwar nicht einfach auf das religiöse Gefühl übertragen, aber die Differenz wiederholt sich hier gleichsam auf höherer Ebene, wobei sich dabei die Wertung nachgerade umkehren kann: Was empirisch Unlust bereitet, kann Basis für religiöse Freude werden und umgekehrt.25 Aber auch diese Binnendifferenzierung des religiösen Gefühls erfolgt allein aus seiner Verschränkung mit dem empirischen Bewusstsein, insofern dieses nämlich in seiner jeweiligen Bestimmtheit das Auftreten des religiösen Gefühls entweder zu fördern oder zu hemmen vermag.26 anderen Seite ein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl fordert: so kann dies […] auf keine Weise von der Einwirkung eines uns irgendwie zu gebenden Gegenstandes ausgehn, denn auf einen solchen würde immer eine Gegenwirkung statt finden, und auch eine freiwillige Entsagung auf diese würde immer ein Freiheitsgefühl mit einschließen.« 24 Vgl. a. a. O., 193 ff./176 ff. (§ 30). 25 Vgl. schon den Leitsatz von § 5: »Das beschriebene bildet die höchste Stufe des menschlichen Selbstbewußtseins, welche jedoch in ihrem wirklichen Vorkommen von der niederen niemals getrennt ist, und durch die Verbindung mit derselben zur Einheit des Moments auch Antheil bekommt an dem Gegensaz des angenehmen und unangenehmen« (a. a. O., 40 f./24); vgl. dann v. a. 49/32: »Keineswegs also als ob das schon in dem sinnlichen Gefühl gesezte angenehme und unangenehme nun auch dem schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl denselben Charakter mittheilte. Vielmehr zeigt sich oft mit einander verbunden in einem und demselben Moment […] ein Schmerz des niedrigen und eine Freudigkeit des höheren Selbstbewußtsein, wie z. B. überall, wo mit einem Leidensgefühl verbunden ist das Vertrauen auf Gott.« 26 A.a.O., 49/32: »[D]ieser Gegensaz haftet dem höheren Selbsbewußtsein an vermöge seiner
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Mit dem Aspekt der Lust-Unlust-Dichotomie ist nun aber ein Punkt genannt, der eine gewisse Einschränkung der späten Gefühlskonzeption mit sich bringt und daher Anlass geben kann, das Augenmerk auf die frühe Religionstheorie zu richten, die offenbar auch für Musil der in psychologischer Hinsicht interessantere Text zu sein schien. Denn mit dieser Übernahme eines Schemas rationalistischer Psychologie, das affektive Wertungen auf die Differenz von Lebenshemmung- und Förderung zurückführt,27 geht eine nicht unerhebliche Reduktion der Phänomene einher. Empirische Gefühle begegnen in der Glaubenslehre eigentlich nur noch unter dieser abstrakten Perspektive der LustUnlust-Differenz. Aber auch das religiöse Gefühl selbst wird ihr unterworfen, wobei hier die soteriologischen Schemata der traditionellen Dogmatik zur Näherbestimmung dienen, dabei aber zugleich religionspsychologisch umgeformt werden: Die christliche Vorstellung von der Sünde wird verstanden als Hemmung des religiösen Gefühls.28 Ihr korreliert das christologisch vermittelte »Bewußtsein der Gnade« unter der allgemeinen Bestimmung der »Kräftigkeit des Gottesbewußtseins«.29 Selbst wenn man die am Leitfaden des ordo salutis vollzogene Ausdifferenzierung des Erlösungsbewusstseins in Rechnung stellt, so muss man doch sagen, dass die Glaubenslehre mit Blick auf eine konkrete Phänomenologie des religiösen Gefühls erstaunlich arm ist. Denn auch in diesem Lehrstück bilden nicht eigentlich konkrete Gefühle den Ausgangspunkt der Untersuchung, sondern deren hochstufige Rationalisierung durch das System der orthodoxen Dogmatik.30
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Art zeitlich zu werden und zur Erscheinung zu kommen, indem es nämlich in Bezug auf das andere [sc. das empirische Bewusstsein] ein Moment wird. Nämlich wie das Hervortreten überhaupt dieses höheren Selbstbewußtseins Lebenserhöhung ist: so ist das jedesmalige leichte Hervrotreten desselben […] ein leichter Verlauf […] und trägt […] das Gepräge der Freude. Und wie das Verschwinden des höheren Bewußtseins […] Lebensverringerung wäre: so ist das schwierige Hervortreten desselben Annäherung an das Ausbleiben, und kann nur als Hemmung des höheren Lebens empfunden werden.« A.a.O., 48/31: »so daß also jedes von beiden [sc. Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl] sowol Lust sein kann als Unlust, je nachdem dadurch das Leben gefördert wird oder gehemmt.« Zum Hintergrund dieses Schema in der Aufklärungspsychologie vgl. Dessoir, Geschichte, v. a. 386 ff.; 432 – 438. A.a.O., 405 f./396 (§ 66): »Kommt es nun zunächst darauf an das charakteristische in dem Bewußtsein der Sündlichkeit aufzufassen, so dürfen wir dasselbe in dem Gebiet der christlichen Frömmigkeit nicht außerhalb des Verhältnisses zum Gottesbewußtsein suchen; und so bleibt nur übrig, daß wir alles als Sünde sezen, was die freie Entwiklung des Gottesbewußtseins gehemmt hat« (Hvh. R.B.). Schleiermacher, Der christliche Glaube, 13 ff./1 ff. (§§ 86 ff.). Gemeint ist das gegenüber dem traditionellen ordo salutis freilich auch deutlich ausgedünnte Schema von Wiedergeburt und Heiligung, von dem wiederum vor allem die Lehre von der Wiedergeburt noch einmal ausdifferenziert wird (Bekehrung als Buße, d. h. Reue und Sinnesänderung, und Glauben auf der einen, Rechtfertigung als Aufnahme in das von Christus ausgehende Gesamtleben auf der anderen); vgl. a. a. O., 164 – 228/176 – 251 (§§ 106 – 112).
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Wenden wir uns daher der frühen Religionstheorie der Reden zu. Auf sie hat sich nicht nur Musil mit seinen Reflexionen über die Intentionalität der Gefühle bezogen, sondern sie war – wie bereits angedeutet – auch der Referenztext für Rudolf Otto. Gegen den Trend des 19. Jahrhunderts, allein die letzten, zunehmend durch die spätere Konzeption überformten Ausgaben der Reden zu lesen, hat er 1899 zum Jubiläum des einhundertjährigen Erscheinens die Erstauflage herausgegeben und damit eine bis zum heutigen Tage anhaltende rezeptionsgeschichtliche Wende begründet.31 Dass nun in diesem Dokument der Frühromantik ein anderer Geist weht, wird schon deutlich, wenn man einige Spitzenformeln gegenüberstellt: Auf der einen Seite Religion als ›Sinn und Geschmack fürs Unendliche‹, der in freier Geselligkeit kommuniziert werden soll, um sich in individuellen Ausdrucksgestalten darzustellen – auf der anderen Seite das bleierne Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit als Basis kirchlicher Gemeinschaft. Und auch die Gefühlsdimension betreffend zeigt sich ein anderen Befund: Von der ersten bis zur letzten Seite begegnen Gefühle, und zwar eine Vielzahl konkreter Gefühle – von der »heiligen Scheu« (196/17) bis zur »heili- ge [n] Wehmuth« (320/299). Es wäre ein gegenüber der Rekonstruktion der allgemeinen Gefühlstheorie, die Schleiermacher über die religionstheoretischen Anwendungen hinaus in seinen Vorlesungen über die philosophische Ethik, Ästhetik, Psychologie und Dialektik entfaltet hat, methodisch ganz eigener und sicherlich lohnender Zugang zum Thema, einmal diese deskriptive Fülle der Reden auszuwerten. Eine weitere Quelle dafür böten seine Predigten. Doch ich werde mich im Folgenden mit Rücksicht auf den Vergleich mit der Konzeption der Glaubenslehre auf der einen, der Gefühlstheorie Ottos auf der anderen Seite auf den theoretischen Kern seiner Konzeption des religiösen Gefühls in den Reden konzentrieren. Auch in Sachen Religionstheorie springt der Gegensatz zur Glaubenslehre auf den ersten Blick ins Auge: »Ihr Wesen« – so Schleiermacher – »ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl« (211/50). Ist die Abgrenzung der Religion gegenüber theoretischen und praktischen Einstellungen samt ihrer Verortung in einer »eigne[n] Provinz im Gemüte« (204/37), wie die Reden so schön formulieren, noch als eine Gemeinsamkeit mit der Glaubenslehre zu bewerten, so liegt die Differenz darin, dass diese Provinz nicht durch eine einzige psychologische Funktion bestimmt wird, sondern sich aus zwei Elementen zusammensetzt: Anschauung und Gefühl. Das Gefühl ist zufolge dieser Eingangsbestimmung der Reden also ein notwendiges Aufbaumoment des religiösen Bewusstseins. Aber es ist eben auch nur ein Teilmoment desselben, auch 31 Schleiermacher, Über die Religion, hg. u. kommentiert v. R. Otto. Im Folgenden wird nach KGA I, 2, 185 – 326, zitiert. Die Seitenzahlen sowie nach Schrägstrich die der Originalpaginierung werden im Haupttext den Zitaten in Klammern nachgestellt.
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wenn Schleiermacher mitunter vereinfachende Formeln wie »Gefühl des Unendlichen« (217/65) für die Religion insgesamt gebrauchen kann. Fragt man in einem zweiten Schritt nach dem Verhältnis des Gefühls zum ersten Aufbaumoment, der Anschauung, ist vorläufig sicherlich nicht zu viel behauptet, wenn man ihr eine gegenüber dem Gefühl vorgeordnete Funktion innerhalb des religiösen Bewusstseins zuweist. Da hier vornehmlich das Gefühlskonzept von Interesse ist, thematisiere ich den Anschauungsbegriff nur aus dieser Perspektive. Sowohl hinsichtlich der Anschauung als auch hinsichtlich des Gefühls geht Schleiermacher je von einem allgemeinen Begriff aus, der dem Theoriekontext der empirischen Erkenntnis entnommen ist. Vor diesem Hintergrund wird dann erst in einem zweiten Schritt der spezifisch religiöse Sinn beider Funktionen erläutert. Dieser Methode gemäß haben also Gefühl und Anschauung als Momente des religiösen Bewusstseins jeweils eine übertragene Bedeutung. Anders formuliert: Religiöse und andere Gefühle sind nur partiell miteinander vergleichbar. Es besteht eine Analogie zwischen sinnlicher Anschauung und religiöser Anschauung, sinnlichem Gefühl und religiösem Gefühl – aber keine Identität. Was nun zunächst die Grundlinien des Anschauungsbegriffs betrifft, so kann Religion förmlich als »Anschauen des Universums« bestimmt werden (213/55). Mit dieser Fassung des intentionalen Korrelats des religiösen Bewusstseins reagiert Schleiermacher auf die zeitgenössische Krise des Theismus. Religion ist demzufolge nicht notwendig an personale Gottesvorstellungen gebunden. Daher verwendet Schleiermacher den spinozistischen Begriff des Universums, spricht aber auch von Weltgeist (223/78; 224/80), dem Unendlichen (193/10; 197/19; 200/26: »staunendes Anschauen des Unendlichen«), göttlichem Leben (223/77) oder der Gottheit (223/78, 228/88 f.; 243 ff./124 ff.). Personale Gottesvorstellungen sind dagegen als ein sekundäres Produkt unserer Phantasie bzw. Einbildungskraft zu werten.32 Das religiöse Bewusstseins besitzt also eine Intentionalität, die aber gerade nicht als einfache Beziehung auf die Vorstellung eines Einzelgegenstandes zu denken ist, sondern bei der vielmehr eine Totalitätsvorstellung involviert ist. Warum aber Anschauung? Ein Grund für die Verwendung des Anschauungsbegriffs dürfte, gerade wenn man von der Analogie zur sinnlichen Anschauung ausgeht, das Rezeptivitätsmoment sein: Da ist ein ›Handeln auf Uns‹ (241/56), das wir in der Anschauung hinnehmen – sowohl in der sinnlichen wie in der religiösen. Und so kann Schleiermacher formulieren: »das Universum ist 32 »[O]b er [sc. ein Mensch] zu seiner Anschauung einen Gott hat, das hängt ab von der Richtung seiner Fantasie« (245/128 f.); »Wenn Ihr nun nicht läugnen könnt, daß sich die Idee von Gott zu jeder Anschauung des Universums bequemt, so müßt Ihr auch zugeben, daß eine Religion ohne Gott beßer sein kann, als eine andre mit Gott« (244/126).
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in einer ununterbrochenen Thätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblik« (a. a. O.). Aber dieser Passus darf keineswegs – wie mancherorts zu lesen – im Sinne radikaler Passivität oder eines schlichten Offenbarungsrealismus verstanden werden. Denn die Anschauung nimmt nach Schleiermacher nicht nur hin, sondern sie ›fasst auch zusammen‹ und ›begreift‹ (214/55). Und was diese konstruktiven Aspekte der Anschauung betrifft, kann sich Schleiermacher durchaus nachträglich von der modernen Wahrnehmungspsychologie bestätigt sehen. Insbesondere aber im Fall der religiösen Anschauung ist dieses Tätigkeitsmoment zu beachten, denn ihr Gegenstand besteht ja gerade nicht in einem empirischen Einzelding, das mechanisch auf unsere Sinnesorgane wirkt, sondern in einer transempirischen Totalität. Sie ist nur dadurch zu erfassen, dass wir »alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen« (214/56, Hvh. R.B.). Anschauung des Universums ist also, das macht die hermeneutische Partikel als kenntlich, so etwas wie eine Deutung oder Interpretation von Einzelnem als Zeichen für eine umfassende Totalität. Diese Deutung oder Interpretation vollzieht sich freilich nicht im Medium diskursiver Verstandesbegriffe, sondern scheint vielmehr eine intuitive Erkenntnis zu sein. Im Hintergrund von Schleiermachers Begriff religiöser Anschauung steht hier vor allem Spinozas Konzept einer scientia intuitiva – Anschauung des Universums ist das intuitive Erfassen einer Wechselwirkung von individueller Bestimmtheit und universaler Totalität.33 Wenden wir uns vor diesem Hintergrund nun dem Gefühlskonzept zu. Schleiermachers einführende ›Erinnerung‹ (218/66) an den Zusammenhang von Anschauung und Gefühl im Bereich der sinnlichen Erkenntnis, macht zweierlei deutlich: Das Gefühl setzt diesem Modell zufolge Anschauung voraus und es steht für ein mit ›jeder Anschauung‹ verbundenes Selbstverhältnis. Schleiermacher denkt sich diesen seiner Meinung nach unter seinen gebildeten Zeitgenossen unstrittigen Zusammenhang näherhin so: Die Affektion der Sinnlichkeit begründet vermöge der Erregung der Organe nicht nur eine intentionale Beziehung auf denselben, sondern ruft immer auch eine »Veränderung« im »inneren Bewußtsein« (a. a. O.) hervor oder – wie es dann in der Anwendung auf das religiöse Gefühl heißt – eine Veränderung des ›Gemüts‹ oder des eigenen ›Zustands‹ (218/67). Genau damit ist die allgemeine Grundbedeutung des Gefühlsbegriffs ausgesagt: Gefühl ist eine durch Anschauung bzw. durch die dieser zugrundeliegenden Affektion hervorgerufene Veränderung des inneren Zustands. Gefühl ist – ganz im Sinne der Kantischen Rezeption der Aufklärungspsychologie – auf einen subjektiven Zustand bezogen.34 33 Zur Spinozarezeption des jungen Schleiermacher vgl. Ellsiepen, Anschauung. 34 »Wir verstehen aber in der objektiven Erklärung unter dem Worte Empfindung eine objektive Vorstellung der Sinne; und um nicht immer Gefahr zu laufen, mißgedeutet zu werden,
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Hinsichtlich der Frage, inwieweit diese Zustandsveränderung dabei notwendig auch als solche bewusst wird, macht Schleiermacher eine erste Differenz zwischen empirischem und religiösem Gefühl deutlich: Während im ersteren Falle der innere Zustand einerseits »kaum« merklich (»gewahr werden«) bleiben, andererseits aber auch so hervortreten kann, dass gar kein gegenständliches Bewusstsein mehr zustande kommt, so soll im Falle des religiösen Bewusstseins ein »anderes und festeres Verhältniß zwischen Anschauung und Gefühl« (218/67) stattfinden. Zur Plausiblisierung wird eine Analogie zum Gesichtssinn gewählt, den Schleiermacher in seiner Psychologie-Vorlesung gerade als den Sinn auszeichnen wird, der in besonderer Weise das objektive Bewusstsein fördert, das subjektive Gefühl hingegen eher zurücktreten lässt.35 Der religiöse Gegenstand, das Universum, entspricht in seinen Handlungen auf das Gemüt den Wirkungen der Sonne auf den Gesichtssinn. Auch hier sei nämlich der subjektive Zustand, das Geblendetsein, unvermeidlich – selbst für den objektiven Gesichtssinn. Im Vergleich zur empirischen Anschauung wird also das Gefühl in seiner Bedeutung für das religiöse Bewusstsein aufgewertet: keine religiöse Anschauung ohne Wahrnehmung des inneren Zustands. Innerhalb dieser festen Korrelation von Anschauung und Gefühl ist letzteres jedoch für eine Ausdifferenzierung des religiösen Bewusstseins hinsichtlich der Bestimmtheit, Mannigfaltigkeit, Stetigkeit, Ausbreitung, Erregbarkeit und Dominanz (219/68) verantwortlich. Angesichts dieser Näherbestimmung sieht sich Schleiermacher schließlich genötigt, die programmatische Abgrenzung gegenüber der praktischen Einstellung zu präzisieren. Hatte die Exposition des Anschauungsbegriffs Anlass zur Abgrenzung gegenüber dem diskursiven Wissen gegeben, so nötigt offenbar die große Tradition rationalistischer Affektenlehren ebenso wie die Philosophie des moral sense, auf die Schleiermacher ja mit dem Begriff des »religiösen Sinnes« (221/72; 222/76; 225/82) anspielt, zur Grenzziehung gegenüber der moralischen Praxis. Hier macht sich Schleiermacher die von Kant mit aller Konsequenz entfaltete Autonomie der praktischen Vernunft gegenüber religiöser Heteronomie zu eigen: Insbesondere religiöse Gefühle – so die These – sind keine moralisch tragfähigen Handlungsmotivationen (219 f./ 68 – 71)! Gerade vor dem Hintergrund aktueller Erklärungen von Gewalt durch angeblich religiöse Gefühle sollte man diese Differenzierung zumindest nicht vorschnell zugunsten einer Neubewertung der Moralität der Gefühle von der Hand weisen.36 Freilich gilt Schleiermachers Interesse an der Autonomie der Moral zugleich der Autonomie der Religion. wollen wir das, was jederzeit bloß subjektiv bleiben muß und schlechterdings keine Vorstellung eines Gegenstandes ausmachen kann, mit dem sonst üblichen Namen des Gefühls benennen«, Kant, Kritik der Urteilskraft, 51 f. (= AA V 206). 35 Schleiermacher, Psychologie, v. a. 76 ff.; 82 f.; 96 ff. 36 Vgl. zu dieser Debatte: Döring/Mayer (Hg.), Moralität.
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Zu einer tieferen Begründung der Selbständigkeit der Religion führt dann ein weiterer Gedankengang. Mit der Eigenart des intentionalen Korrelats der religiösen Anschauung, dem Universum, hängt nämlich noch eine weitere grundlegende Differenz zwischen empirischem und religiösem Gefühl zusammen. Bei den Wirkungen auf das Gemüt handelt es sich im Falle der Religion nicht um physiologisch vermittelte Vorgänge: Die »ewige Welt [wirkt] auf die Organe unseres Geistes« (219/67 Hvh. R.B.) – so stellt Schleiermacher klipp und klar fest. Mit diesem grundsätzlich geistigen Charakter des religiösen Bewusstseins ist nun aber zum einen die Innerlichkeit und zum anderen die Spontaneität der religiösen Gefühle verbunden. Was zunächst das letztere betrifft, so kann Schleiermacher förmlich der Rezeptivitätssemantik des empirischen Modells entgegen von den Gefühlen als dem ›Selbsttätigen in der Religion‹ (238/112) sprechen. Wie für die Anschauung so gilt also auch für Gefühle das Ineinander von Widerfahrnischarakter und Spontaneität.37 Was das erstere, also die Innerlichkeit betrifft, so sind hier Schleiermachers vorwiegend metaphorische Andeutungen über die Genese der Religion einschlägig, die uns bereits in dem eingangs angeführten Musil-Zitat begegnet waren. Auch hier hält Schleiermacher zunächst die Analogie mit der sinnlichen Anschauung aufrecht. Schon für die sinnliche Wahrnehmung gelte eine ursprüngliche Ungeschiedenheit von subjektiver und objektiver Bestimmtheit, bevor diese beiden Aspekte reflexiv auseinander träten. Entsprechend wird auch für die geistige Genese der Religion eine »innere Handlung des Gemüths« (220/ 72) oder ein »innerste[s] Schaffen des religiösen Sinnes« (221/72) vorausgesetzt, in dem Anschauung und Gefühl »ursprünglich Eins und ungetrennt sind« (221/ 73). Von Innerlichkeit kann man also insofern sprechen, als vor diesem Hintergrund sowohl intentionale Anschauung als auch subjektives Gefühl schon als mentale Verarbeitungen oder Interpretationen zu verstehen sind, die sich auf eine vorgängige Größe beziehen. Es geht nach Schleiermacher hier wie dort um ein »mittheilen« (220 f./72 f.) oder zumindest um ein »zur Oberfläche herauffördern« (221/73) dessen, was nach seiner ursprünglichen Ein- oder wohl präziser Ungeschiedenheit als »Leben« (223/77) beschrieben werden kann – bezeichnender Weise näherbestimmt sowohl als ›inneres‹ wie als ›göttliches Leben‹ (a. a. O.). Dass es sich bei dieser zugrundeliegenden Einheit des geistigen Lebens nicht um eine vollständige Indifferenz handelt, deutet Schleiermachers Beschreibung dieses produktiven, ja ›triebhaften‹ Zentrums als »Fülle des inneren Lebens« (a. a. O.) an. Fragt man nach einem modernen Rekonstruktionstermi37 Seit Descartes kann dies als ein Kennzeichen neuzeitlicher Affektenlehren angesehen werden: Affekte bzw. Gefühle haben phänomenal Widerfahrnischarakter, sind aber als Elemente des mentalen Lebens zugleich durch dessen Tätigkeitscharakter bestimmt: Das Schema aktiv/passiv bildet also keinen exklusiven Gegensatz, vgl. Descartes, Leidenschaften, 2 ff.; 34 f. (Art. 1 u. 19).
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nus, so böte sich der erst im Ausgang des 19. Jahrhunderts profilierte Begriff des Erlebens an.38 Erleben wäre das basale Vorkommnis, das sich sowohl in intentionale Bewusstseinszustände als auch in ein subjektives Zustandsbewusstsein ausdifferenzieren kann. Die ursprüngliche Einheit kommt jedenfalls als solche nicht zu Bewusstsein, da alles Bewusstwerden – so kann Schleiermacher im Anschluss an die Bewusstseinsphilosophie seiner Zeit sagen – bereits ein ›Trennen‹ oder ›Scheiden‹, also ›Reflexion‹ voraussetzt. Mit anderen Worten: Sowohl Anschauung als auch Gefühl sind bereits Thematisierungen oder Ausdrucksgestalten einer vorreflexiven Tätigkeit des mentalen Lebens. Anschauung resultiert aus der Synthese bzw. Bildung eines intentionalen Objekts, während das Gefühl als Resultat einer Konzentration auf den »Mittelpunkt unseres Wesens« (221/72) entsteht. Wie diese Ableitung näherhin vorzustellen ist, wird von Schleiermacher höchstens angedeutet. Jedenfalls besteht hier eine systematische Schnittstelle für die Dimension des Unter- oder besser Vorbewussten. Sprachliche oder gedankliche Mitteilungen, wie »Dogmen und Lehrsäze« (239/115 f.), wiederum stehen bereits auf einer nachgeordneten Ebene des Ausdrucks, die sich zwar ebenfalls einer ›Reflexion‹ verdankt, aber auf eine vorgängige Ausdrucksgestalt bezogen ist. Den Stoff für diskursive Ausdrucksformen bilden die Anschauungen und Gefühle als ursprüngliche Ausdrucksgestalten des religiösen Erlebens. Entscheidend für Schleiermacher ist jedoch vor allem die wechselseitige Irreduziblität von Anschauung und Gefühl, die aus jener bewusstseinstheoretischen Genese folgt. In ihr liegt sowohl ein Kriterium für die Authentizität als auch für die Vollständigkeit hinsichtlich der Explikation des religiösen Bewusstseins. Daher werden auch Schleiermachers religionsgeschichtlich fundierte Konkretionen des religiösen Bewusstseins von dieser Duplizität bestimmt. Ein Überblick über diese Konkretionen soll also die Würdigung der Gefühlskonzeption der ›Reden‹ abschließen, wobei ich nur eine mittlere Konkretionsebene berücksichtigen kann und die deskriptive Gefühlsphänomenologie der ganzen Reden – wie einleitend gesagt – aussparen muss. Gemäß der Zuordnung von Anschauung und Gefühl stehen auch bei den Konkretionen die Anschauungen am Anfang. Schleiermacher unterscheidet zwei grundsätzliche Typen der Anschauung des Universums: Die Anschauung des Universums in der Natur auf der einen, in der Menschheit auf der anderen Seite.39 Auch auf die differenzierte religionsgeschichtliche Entwicklung kann ich hier nicht eingehen. In ihrer reifsten Gestalt beschreibt Schleiermacher jedenfalls den ersten Typus als Betrachtung alles Lebendigen in der Natur als Darstellung »ewige[r] Geseze« der Selbstorganisation (227/86). Für den anderen Typ 38 Vgl. Cramer, Art. Erleben. 39 Vgl. a. a. O., 223/78 – 227/87 (Natur); 227/87 – 236/108 (Menschheit).
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wird der Individualitätsgedanke fruchtbar gemacht: In der Individualität der Menschen bzw. geschichtlich gewendet (232 ff./99 ff.), in der Individualität jeder Geschichtsepoche kommt die Universalität der Menschheit zur Darstellung und so kann der religiöse Sinn hier in jedem Einzelnen das Universum erblicken. Freilich – das wird für die korrelativen Gefühle wichtig – wird hier auch ein Negativitätsmoment eingeführt, insofern das einzelne Individuum gegenüber der universalen Menschheit und ihrer Geschichte auch als beschränkte Partikularität betrachtet werden kann. Was die Anschauungstypen betrifft, so könnte man eine gewisse Ähnlichkeit mit dem dogmatischen Dreierschema der Glaubenslehre, also Schöpfung, Sünde und Erlösung erblicken. Auf der korrelativen Gefühlsebene hingegen erfolgt dann jedoch eine stärkere Ausdifferenzierung. Denn jedem Anschauungstypus korrelieren noch einmal jeweils zwei Grundgefühle, wobei es sich hierbei um konkrete Gefühle handelt. Diese Verdopplung resultiert aus der Umkehr der anschaulichen Intentionalität. Nicht nur die intentionale Richtung auf das Universum ist möglich, sondern auch ein »zurücksehen auf unser Ich« (236/ 108). Die Selbstbezüglichkeit ist also nicht nur für das Gefühl reserviert, sondern kann auch mittels der Anschauungsintentionalität vollzogen werden, der dann ebenfalls noch einmal ein subjektives Zustandsgefühl korreliert. So entspricht dem Gewahren des Selbstorganisationsprinzips in der lebendigen Natur in der objektiven Richtung ein inniges Ehrfurchtsgefühl, nach der subjektiven dagegen eine ›ungekünstelte Demut‹ (236/108 f.). Hinsichtlich der Anschauung der Individualität als Offenbarung der Menschheit entsteht intentione recta das Gefühl der Liebe oder Zuneigung, in intentio obliqua, also mit Blick auf den Beitrag der sich in der Individualität anderer offenbarenden Menschheit für unseren eigenen Bildungsprozess, die Dankbarkeit (236 f./109). Und schließlich erzeugt der Blick auf Schmerz und Leiden, also die Endlichkeit und Partikularität des Einzelnen angesichts der unendlichen Möglichkeiten der Menschheit das »herzlichste Mitleid« (237/110), während dessen subjektive Wendung in uns »das sehnlichste Verlangen« erzeugt, »umzukehren und uns mit allem was uns angehört in jenes heilige Gebiet [sc. der Menschheit] zu retten« (a. a. O.) – kurz: eine Ewigkeitssehnsucht. Um es noch einmal zu sagen: Diese Typologie religiöser Gefühle bildet lediglich ein Grundschema, das sich in der konkreten Deskription des religiösen Erlebens noch einmal in vielerlei Hinsicht variiert und ausdifferenziert. Aber auch eine emotionale Synthesegestalt der Vielfalt religiöser Erfahrung ist nach Schleiermacher denkbar und in religionswissenschaftlicher Sicht sogar entscheidend. Dies zeigt sich vor allem in der fünfte Rede, wo es um die Wesensbestimmung historischer Religionen geht. Historische Religionen – so Schleiermachers These – zeichnen sich durch eine Grundanschauung aus, die alles Einzelne in ihr bestimmen, gleichsam das Organisationsprinzip der religiösen
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Vorstellungswelt bilden. Seinem religionstheoretischen Ansatz entsprechend korreliert auch jenen individuierenden Grundanschauungen jeweils ein Gefühl. Doch dabei handelt es sich dann weniger um ein Einzelgefühl, als vielmehr um eine »Stimmung« (320/299), welche die episodischen Einzelgefühle, die in jeder Religion auftreten, begleitet und in einer eigentümlichen Weise färbt. Für das Christentum ist es die »heilige Wehmuth«, denn – so Schleiermacher – »das ist der einzige Name, den die Sprache mir darbietet – jede Freude und jeder Schmerz, jede Liebe und jede Furcht begleitet sie; ja in seinem Stolz wie in seiner Demuth ist sie der Grundton, auf den sich Alles bezieht« (a. a. O.).
2.
Die Weiterentwicklung der Theorie des religiösen Gefühls bei Rudolf Otto
»Religion fängt mit sich selber an« – so fasst Otto wiederholt ein Grundmotiv seines Denkens zusammen, dem er sowohl methodisch wie sachlich in seinem vielseitigen Œuvre gerecht zu werden suchte.40 Und gerade in jenem Bemühen um die Selbständigkeit der Religion sah er sich in besonderem Maße Schleiermacher als großem Wegbereiter verpflichtet. Freilich haben sich nach einem Jahrhundert die Rahmenbedingungen für ein derartiges Projekt grundlegend geändert. An die Stelle der Herausforderung, vor dem Hintergrund der Aufklärung und des idealistischen-romantischen Zeitgeistes über Religion zu reden, war die Auseinandersetzung mit den Spielarten einer ›naturalistischen Weltansicht‹ getreten.41 Strukturell geht es aber um die gleiche Frage: Ist Religion bloß ein Epiphänomen unseres kulturellen Lebens oder ist sie eine Größe sui generis? Genau aus diesem Grund hat Schleiermacher für Otto paradigmatischen Rang. Zu dieser grundlegenden Gemeinsamkeit kommt noch ein zweiter Punkt. Nicht nur Schleiermachers Bemühen um die Selbständigkeit der Religion war für Otto vorbildlich, sondern auch die Art und Weise wie jener dies durchzuführen suchte: »Er will nicht die Verächter der Religion bekehren, indem er sie von der Wahrheit gewisser Lehrsätze überzeugt,« – so resümiert Otto in seiner Redenedition – »sondern er will zeigen, daß sie in einem eigenen Vermögen des menschlichen Geistes gründe«.42 Und nicht nur dieser Rückgang auf eine eigene Funktion des Geistes war für Otto entscheidend, sondern auch die psychologische Näherbestimmung derselben. Das »Verständnis von Religion […] muß mit Gefühlsanalyse beginnen« (GÜ 24), so kann Otto in seiner Auseinandersetzung 40 Vgl. Otto, Das Heilige (=DH), 160. Vgl. auch Otto, Gefühl des Überweltlichen (=GÜ), 53. 41 Vgl. Otto, Weltansicht. 42 Otto (Hg.): Friedrich Schleiermacher (=R), 208.
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mit Wilhelm Wundts sozialpsychologischer Religionstheorie programmatisch formulieren. Und Schleiermacher stehe eben insbesondere in seinen Reden für die Wiederentdeckung des »sensus numinis«.43 Wie unschwer zu erkennen ist, handelt es sich bei diesem Begriff nicht um einen genuin Schleiermacherschen Terminus: Hier begegnet vielmehr bereits die Grundkategorie von Ottos eigener Religionstheorie. Dabei übersetzt Otto ›sensus‹ jedoch nicht mit Sinn oder Anschauung, was gut zu Schleiermacher passen würde, sondern eben mit Gefühl: sensus numinis, numinoses Gefühl oder Gefühl des Überweltlichen, wie es in dem gleichnamigen Buchtitel Ottos heißt. Der Gefühlsbegriff steht also im Zentrum von Ottos Religionstheorie und gerade hierin sieht er sich in der Nachfolge Schleiermachers. Nun zeigt schon die Überblendung der Schleiermacherdeutung mit der eigenen Theoriesprache, dass hier weitreichende und vor allem kritische Interpretationen im Spiel sind. Im Kern resultieren sie aus einer fundamentalen Differenz im Gefühlsbegriff selbst. Bevor ich aber auf Ottos Schleiermacherkritik eingehen kann, soll zunächst Ottos eigene Gefühlstheorie skizziert werden. Grundlegend für diese Abweichung im Gefühlsbegriff ist eine Unterscheidung, die Otto gleichsam zum Ahnherrn der zeitgenössischen Philosophie der Gefühle macht – freilich ohne, dass diese bisher davon Kenntnis genommen hat. Bevor ich diese steile These begründen möchte, muss ich aber auf zwei Schwierigkeiten hinweisen, die mit der hier einschlägigen Terminologie verbunden sind: Erstens, Otto nimmt, wie wir gleich sehen werden, eine für die neue Emotionsdebatte wesentliche und auch terminologisch fixierte Unterscheidung vorweg, verwendet dafür auch die heute gängigen Termini, jedoch leider in exakt umgekehrter Zuordnung. Zweitens, Otto selbst hat diese terminologische Klärung erst in der Mitte der zwanziger Jahre vollzogen, d. h. also einige Jahre nach seinem zuerst 1917 erschienenen Hauptwerk (DH) entfaltet, das aber zumindest schon die sachliche Differenz voraussetzt. Daraus resultiert die Schwierigkeit, dass die eigentliche Religionstheorie noch mit einem terminologisch unscharfen oder weiten Gefühlsbegriff arbeitet. Doch dazu später. Zunächst zur Grundunterscheidung selbst. Für die neuere Philosophie der Gefühle ist im Zuge einer kognitivistischen Wende die Unterscheidung zwischen feelings auf der einen, emotions auf der anderen Seite fundamental geworden. Im Deutschen wird diese Differenzierung zwar nicht streng durchgehalten, wie schon das Schlagwort ›Philosophie der Gefühle‹ deutlich macht, doch kehrt sie grundsätzlich wieder in der Unterscheidung von Gefühlen im engeren Sinne oder Empfindungen auf der einen Seite, also der mentalen Repräsentation von subjektiven Zuständen, etwa körperlichen Empfindungen oder Lust- und Unlustgefühlen, und Emotionen auf der anderen Seite, also einer spezifischen Form 43 Otto, Sünde und Urschuld, (=SU), 123 ff.
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eines emotionalen Bezogenseins auf die Welt. Genau hier hat die Frage nach der Intentionalität der Emotionen ihren systematischen Ort. Auf diese sachliche Differenz hat nun aber schon Otto gegen den Mainstream der zeitgenössischen Psychologie hingewiesen und sie theoriesprachlich umzusetzen versucht – wie gesagt, allerdings in genau umgekehrter Zuordnung zur heutigen Terminologie. Schauen wir uns also Ottos diesbezügliche Argumentation an: In der Psychologie hätte sich seit Nicolaus Tetens, gemeint sind dessen Philosophische Versuche über die menschliche Natur aus den Jahren 1776 f., eine Dreivermögenslehre eingebürgert, welche den Gefühlen eine vollständig einseitige Bedeutung zuweise. Neben kognitiven und voluntativen Funktionen unterscheide man mit dem Gefühlsbegriff einen dritten Bereich des Seelenlebens und verstehe darunter – so kritisiert Otto – ausschließlich das Phänomen eines subjektiven Zustandsbewusstseins. Otto will nun derartige Vorkommnisse des mentalen Lebens wie Schmerz und Lust gar nicht bestreiten, schlägt aber vor, hier besser von Emotionen satt von Gefühlen zu sprechen.44 Unter letzteren, also den Gefühlen sei dagegen kein subjektives Zustandsbewusstsein, sondern eine spezifische Form der ›Objekterfassung‹ zu verstehen. In Gefühlen – so die einschlägige Grundthese – artikuliert sich »nicht eine bloße subjektive Befindlichkeit« (GÜ 2) sondern eine ›Erkenntnis‹! Freilich sei diese gefühlsmäßige Erkenntnisart oder Objekterfassung von der begrifflich-diskursiven oder reflektierenden zu differenzieren. Otto behält also die prinzipielle Würdigung des Gefühls als einer mentalen Form sui generis bei, wie sie für die klassische Dreivermögenspsychologie, auch für Schleiermacher, einschlägig ist, klagt aber gegen diese Tradition die kognitive Funktion des Gefühls ein. Im Unterschied zu anderen Formen kognitiver Bezugnahme gehe es bei den Gefühlen um ein intuitives Erkennen etwa im Sinne von Spinozas dritter Erkenntnisart. Das Gefühl ist also für Otto ein vorbegriffliches und in diesem Sinne noch unausgewickeltes, aber durchaus der begrifflichen Aufklärung zugängliches ›Ahnen‹, wie er wiederum im Anschluss an Fries sagen kann. Dieses kognitivistische Gefühlsverständnis hat natürlich vor allem religionstheoretische Motive. Otto kann es aber auch unabhängig davon plausibilisieren und beruft sich dabei auf unterschiedlichste Traditionen und Phänomene. Zum einen werde durch unsere Alltagssprache ein intentionales Verständnis von Gefühlen nahegelegt. So sei etwa das Phänomen der Furcht nicht ausreichend beschrieben, wenn man es allein als das Bezogensein auf einen subjektiven Zustand der Furcht verstehe. Vielmehr bezögen wir uns dabei primär auf etwas in der Welt. Emotionale Zustände sind also nach Otto durchaus intentional, d. h. sie weisen einen Objektbezug auf: Wir fürchten uns vor etwas (WÖM 383 ff.). 44 Vgl. dazu die »Schlußbemerkung über ›Gefühl‹« in: GÜ 327 – 333, hier 329 f., sowie den Abschnitt zum Gefühlsbegriff im Anhang zu: Otto, West-Östliche Mystik (=WÖM).
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Und Otto unterscheidet weiter von dieser Intentionalität – wiederum in Vorwegnahme der heutigen Emotionstheorie – eine Wertungsfunktion der Emotionen. Wir sind mit Emotionen wie der Furcht nicht nur auf etwas bezogen, sondern wir bewerten dabei dieses Objekt auch in einer spezifischen Weise. In Ottos Worten: Emotionen sind »begleitende Wertungen« (WÖM 386). Speziell den in derartigen emotionalen Wertungen vorausgesetzten Aspekt der Objekterfassung will Otto nun explizit als den Ursinn des Terminus Gefühl verstanden wissen und erinnert dabei an ältere Traditionen, wie etwa die Sinnes- bzw. Wahrnehmungspsychologie, die förmlich eine begriffsgeschichtliche Wurzel des deutschen Gefühlsbegriffs sei. Wenn dort vom Tastgefühl (tactus) die Rede sei, käme der Ursinn des Wortes Gefühl ebenso zum Vorschein, wie bei der Rede von einem Wahrheitsgefühl. Mit dem Stichwort ›Wahrheitsgefühl‹ ist nun aber noch eine weitere Ebene seiner Gefühlstheorie angesprochen, die auf seine ›Religionsphilosophie‹ aus dem Jahre 1907 zurück verweist.45 Sie wird allgemein unter der Rubrik des Neufrieseanismus verbucht – und da man dieser Tradition kaum Aktualitätswert zumisst, damit in der Regel ad acta gelegt.46 Die Einflüsse von Fries’ Ahndungslehre ›und Gefühlskonzeption sind unbestritten, aber man übersieht dabei leicht, dass Otto hier auch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Kantschen Kritizismus vorgelegt und dadurch seiner Konzeption religiöser Gefühle eine vernunfttheoretische Grundlegung verschafft hat. Das ist insbesondere für die auch aktuell heiß diskutierte Frage nach der Rationalität der Gefühle nicht unerheblich. Im Kern geht es Otto in seiner von Fries inspirierten Kantdeutung darum, die ideierende Funktion der Vernunft vom Makel des Scheins zu befreien. Eine kühne Uminterpretation Kants soll eine bei diesem latent angelegte Engführung der Rationalität aus der Perspektive des empirischen Verstandesgebrauchs überwinden – und genau in diesem Kontext spielt auch der Gefühlsbegriff eine zentrale Rolle. Des Näheren sind dabei vor allem drei Aspekte entscheidend: Zunächst und grundlegend wird der Vernunft von Otto »eine unmittelbare Erkenntnis […], die in ihrem Inneren verborgen, unbewußt und dunkel auf ihrem Grunde liegt und ihrem Eigentümer selber völlig unbewußt ist« (KFR 41) zugewiesen: Genau das meint Otto mit dem Begriff »Wahrheitsgefühl« (KFR 27; 42; 45; 68; 79). Dieses Wahrheitsgefühl ist nach Otto der Geltungsgrund unseres Wertbewusstsein und steht daher auch im inneren Zusammenhang mit seinem kognitivistischen Gefühlsverständnis.47 Sodann ist die ganz unkantsche Aufnahme des Kantschen Schematismusbegriffs zu nennen. Otto sieht im Schematismus nicht etwa wie Kant Versinnlichungen der Ver45 Otto, Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie (=KFR). 46 Vgl. dagegen Buntfuß, Begeisterung. 47 Vgl. GÜ 330.
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standeskategorien, sondern Rationalisierungen, mittels derer der Verstand das dunkle Wahrheitsgefühl der Vernunft auslegt. Durch die Unterscheidung zwischen einem ›zeitlichen‹ und einem ›idealen Schematismus‹ wird dann die Kantsche Restriktionsthese förmlich auf den Kopf gestellt: Die versinnlichten Verstandeskategorien sind Engführungen des im Wahrheitsgefühl verbürgten Realitätsgehaltes, der durch die Vernunftideen, also den ›idealen Schematismus‹ adäquater entfaltet werde (KFR 63 ff.). Damit soll freilich nicht einer polizeilosen Spekulation das Tor geöffnet werden, sondern es bedarf nach Otto – in diesem Sinne wiederum gut Kantisch – einer »praktische[n] Belebung der Ideen« (KFR 73). Hier kommt dann ein dritter Aspekt zum Tragen: Denn im Anschluss an Kants ›Kritik der Urteilskraft‹, Fries’ Ahndungslehre, aber auch Schleiermachers ›Reden‹ wird diese praktische Realisierung der Ideen als ethisch-religiöse und vor allem ästhetisch-religiöse Selbst- und Weltbeurteilung konzipiert. Vor allem hier präzisiert Otto, was ihm vor Augen steht, wenn er von einer gefühlsmäßigen Wertungsfunktion spricht. Mit Gefühlen vollziehen wir eine Beurteilung des Zeitlichen »als Erscheinung des Ewigen« (KFR 83). Das Gefühl ist »nicht Sinn, sondern ein eigentümliches Urteilen über ein sinnlich Gegebenes. Gefühl ist Urteilskraft« (KFR 90). Und in den abschließenden Passagen zur ästhetischen Religiosität wird das Gefühlsurteil noch einmal von anderen Urteilsformen abgegrenzt: »Aber dieses Urteil ist kein logisches, denn im logischen Urteilen ist das beigelegte Prädikat ein bestimmter Begriff, dem das Subjekt subsumiert wird. Sondern es ist ein ästhetisches Urteil. Und die Urteilskraft, die hier in Frage kommt, ist die des Gefühls. […] Fühlen, in diesem engeren Sinne, ist das, was dem Schließen gegenübersteht« (KFR 112). Sieht man einmal von der im Anbetracht der heutigen Terminologie ungewöhnlichen und eben auch werkgeschichtlich erst spät ausgeprägten Festlegung der Begriffe Emotion und Gefühl ab, so bleibt jedenfalls festzuhalten, dass Otto in seiner Gefühlstheorie sowohl den selbstreferentiellen als auch den intentionalen Aspekt zu integrieren sucht und darüber hinaus auf die wesentliche Urteils- und Wertungsfunktion hinweist. In diesem Zusammenhang ist nun noch ein weiterer Begriff zu nennen, den Rudolf Otto seit seiner frühen Lutherstudie verwendet und gerade als einen Rekonstruktionsbegriff für das mentale Vorkommnis vorschlägt, das der intentionalen Ausdifferenzierung vorausliegt, die Schleiermacher in den ›Reden‹ mit Anschauung und Gefühl konzeptionalisiert, Otto jedoch für das Gefühl im umfassenden Sinne reklamiert: den Begriff des Erlebens, auf den wir bereits oben hingewiesen hatten.48 Gerade wenn der Begriff 48 Vgl. bereits Otto, Die Anschauung (=AHG), z. B. 1; 72; 75. Zur Bedeutung der frühen Lutherstudie für Rudolf Ottos Religionstheorie vgl. R. Barth, Das Psychologische; Ders., Systematische Lutherdeutung, 66 – 71. Vgl. sodann R 212: »›Anschauung‹ und ›Gefühl‹ des Universums sind zwei Seiten einer einheitlichen Sache, die man bezeichnen kann als ›gemütvolles Erleben‹.« Vgl. ferner KFR 74; DH 175; 134; 45; 48 u. ö.; SU 131; 43 u. ö.
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des Erlebens für eine Auslegungsvollzügen vorgängige Unmittelbarkeit steht, könnte man ihn auch bereits auf den irrationalen Kern der Vernunft anwenden, nämlich die intuitive oder vorreflexive Bezugnahme auf Wahrheit, Gültigkeit oder Werthaftigkeit als solche. Gefühle im engeren Sinne wären diesem Erleben gegenüber dann bereits als Auslegungsgestalten zu verstehen, vermittels derer wir uns in unserem intentionalen und wertenden Weltumgang dieses dunkle Wahrheitsgefühl zur Darstellung bringen. Die systematisch weitreichende Frage, ob diese geist- oder vernunfttheoretische Grundlage nach Otto für alle Gefühle zu gelten hat, ist schwer zu beantworten. Für moralische, ästhetische und religiöse Gefühle jedenfalls wird man sie bejahen müssen, wie nicht zuletzt aus Ottos Entwürfen zur einer Wertethik zu entnehmen ist.49 Der Hinweis auf unterschiedliche Klassen des Gefühls wirft jedoch die Frage nach der Abgrenzung religiöser Gefühle auf. In dieser Hinsicht ist neben den bisher genannten Traditionen vor allem Ottos kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Religionspsychologie entscheidend. Otto hat die neuere Religionspsychologie etwa eines William James oder Wilhelm Wundt von Beginn an mit großem Interesse und emphatischer Zustimmung verfolgt. Insbesondere aber gegenüber der Durchführung Wundts vollzieht Otto dann eine kritische Wende.50 Dieser habe die Religion nicht nur an das Vorhandensein von personalen Göttervorstellungen gebunden, was durch die religionsgeschichtliche Forschung eindeutig zu widerlegen sei. Sondern er habe Religion auch als ein mithilfe von psychologischen Assoziationsgesetzen aus vorreligiösen Phänomenen ableitbares Phänomen und somit als ein Epiphänomen verstanden. Das führe aber zwangsläufig zu einer reduktionistischen Haltung gegenüber der religiösen Weltansicht im Sinne des zeitgenössischen Naturalismus. Dem könne man nur entgehen, wenn man den »qualitativ völlig eigenartigen aus dem anderen nicht ableitbaren Charakter des religiösen Gefühls« (GÜ 51, Hvh. R.B.) deskriptiv erhebe. Dies habe Schleiermacher in seinen Reden zwar intendiert, aber dann doch nicht konsequent durchgehalten. Mit dieser methodischen 49 Vgl. Otto, Aufsätze zur Ethik. 50 Vgl. R. Barth, Das Psychologische. Ernst Troeltsch kritisiert in seiner viel gelesenen OttoRezension gerade mit Blick auf James und Wundt: »Es wäre freilich hier eine grundsätzlichere Auseinandersetzung wünschenswert gewesen, die auf die Grundfragen der heutigen Psychologie und auf die Bedeutung des Kausalitätsbegriffs in seiner Anwendung auf die historische Welt geführt hätte. Otto hat das unterlassen«, vgl. Troeltsch, Zur Religionsphilosophie. 371. Dieses für die theologische, weitgehend auf das Hauptwerk beschränkte Rezeption Ottos bezeichnende Urteil übersieht, dass Otto sich nicht nur in seiner 1904 erstmals, 1909 in zweiter Auflage erschienen Studie ›Naturalistische und religiöse Weltansicht‹ (s. o. Anm. 41) konstruktiv auf besagte Theorien eingelassen hat, sondern in der Theologischen Rundschau 13 (1910) eine ausführliche Auseinandersetzung mit Wundt vorgelegt hatte (wiederabgedruckt und erweitert in: GÜ 11 – 57). Auch Troeltschs werkgeschichtliche These vom »totalen Frontwechsel« (a. a. O., 380) zwischen Ottos Religionsphilosophie und DH hält einer Überprüfung nicht stand.
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Forderung sind wir nun aber endlich bei seiner Phänomenologie der religiösen Gefühle angekommen, mit deren Skizze ich meine Würdigung Ottos abschließen möchte. Die Analyse des religiösen Gefühls im Hauptwerk (DH) hebt nun aber unmittelbar mit einer weiteren Schleiermacherkritik an. Und diese Kritik betrifft vor allem das späte Konzept der Glaubenslehre, in dessen Zentrum – wie wir gesehen haben – das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit steht. Insgesamt sind es drei Punkte, die Otto moniert, wobei man zwei davon als nebengeordnete Kritik an einem Schleiermacher verborgen gebliebenen Rationalismus in der Gefühlsbeschreibung zusammenfassen kann. Entscheidend ist vor allem der dritte Punkt: Schleiermacher erhebe das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit zur unmittelbaren Bestimmtheit des religiösen Gefühls, während die intentionale Objektbezogenheit als Resultat einer sekundären Reflexion gedacht werde. Gemeint ist Schleiermachers These, dass die Gottesvorstellung eine Vergegenständlichung des unbestimmten ›Wohers‹ im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit sei. »Das ist aber völlig gegen den seelischen Tatbestand. Das ›Kreaturgefühl‹ ist vielmehr selber erst subjektives Begleitmoment und Wirkung, ist gleichsam der Schatten eines anderen Gefühlsmomentes (nämlich der ›Scheu‹), welches selber zweifellos zuerst und unmittelbar auf ein Objekt außer mir geht« (DH 11). In dieser Schleiermacherkritik kommt also die bereits am allgemeinen Gefühlsbegriff Ottos erkennbare Differenzierung zum Tragen. Gefühle – so hatten wir gesehen – sind nach Otto wesentlich intentional verfasst, d. h. sie weisen einen Gegenstandsbezug auf und werden unterbestimmt, wenn man sie allein als subjektives Zustandsbewusstsein, also als feeling im heutigen Sinne versteht. Das gilt nach Otto zuvörderst auch für die religiösen Gefühle. Das ist auch der tiefere Grund dafür, dass Otto die Gefühlskonzeption der Reden derjenigen der Glaubenslehre vorzieht. Denn jene hatte im Begriff der Anschauung des Universums gerade die Intentionalität als primäres Moment des religiösen Bewusstseins ausgewiesen und das subjektive Zustandsbewusstsein allererst als dessen Reflex eingeführt. Dies beides freilich noch unter der terminologischen Differenzierung von Anschauung und Gefühl, die Otto zugunsten einer komplexen Gefühlstheorie einzieht. Was in den Reden als Anschauung firmiert, ist also für Otto das Gefühl in seiner intentionalen Objektbezogenheit, was in den Reden exklusiv als Gefühl firmiert, wird für Otto zum »subjektive[n] Begleitmoment« (DH 11), also das Innewerden eigener Zuständlichkeit. Man kann also sagen, einzig in der exklusiven Verwendung des Gefühlsbegriffs für das religiöse Bewusstsein folgt Otto Schleiermachers Glaubenslehre, während sein eigenes Gefühlskonzept der Sache nach eine Reformulierung der komplexen Struktur der Reden zu entwickeln versucht.
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In der Bewertung dieser auf den ersten Blick einleuchtenden Schleiermacherkritik Ottos wird man jedoch in Rechnung zu stellen haben, dass einerseits in dessen eigener Konzeption des religiösen Bewusstseins mit dem Moment des Wahrheitsgefühls eine Selbstbezüglichkeitsstruktur der Vernunft51 als transzendentale Voraussetzung behauptet wird, auch wenn es sich dabei – mit einer bekannten Selbstcharakteristik Schleiermachers formuliert – um eine Art ›höheren Realismus‹ handelt. Andererseits hatten wir gesehen, dass es sich beim Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, dem von der Theorieebene her am ehesten Ottos Wahrheitsgefühl entspricht, um eine methodische Abstraktion handelt, die in ihrem phänomenalen Vorkommen jedoch mit dem empirischen Bewusstsein verbunden ist und in ihrer sprachlich-intentionalen Reflexionsgestalt gleichursprünglich auf Gott, Welt und Selbst bezogen werden kann.52 Was die Phänomenologie des religiösen Gefühls betrifft, werden die Differenzen also marginal. Ottos Insistieren auf der Intentionalität des religiösen Gefühls, d. h. also einer dem Innewerden subjektiver Zuständlichkeit vorausgehenden Objekterfassung, wird nun aber andererseits oft als Beleg für einen naiven Realismus in seiner Gefühlstheorie angeführt. Damit wird jedoch das intentionalitätstheoretische Niveau unterlaufen, das auch im Hauptwerk klar und deutlich zu erkennen ist. Es geht – wie Otto unter Verwendung eines Grundbegriffs der zeitgenössischen Intentionalitätsforschung formulieren kann – darum, dass »ein Objekt als [etwas] vermeint« wird (DH 7), wobei vollständig unerheblich ist, ob das Objekt, auf welches das Gefühl bezogen wird, »ein wirkliches oder vermeintes Objekt« (DH 11) ist. Um es in der Nomenklatur seiner Gefühlstheorie zu sagen: Es geht an dieser Stelle nicht um Objekterkennen, sondern um Objektbeziehung, also Intentionalität. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum Otto religiöse Gefühle förmlich als »Deutungs- und Bewertungskategorie[n] » (DH 7) bezeichnen kann. Mit dieser Verwendung des Kategorienbegriffs für Gefühle wird ein ganz eigener Zugang zum Verständnis von deren Rationalität möglich: Gefühle sind formative Elemente unseres Bewusstseinslebens. An anderer Stelle kann 51 Bzw. des Geistes, vgl. DH 7: »aus dem Geiste« sowie das Motiv vom »testimonium spiritus sancti internum« (DH 174; 189; 48; 67; 204; KFR 2; AHG 39). 52 Otto hat diese Problematik seiner Schleiermacherkritik in DH zumindest geahnt, wie die Anmerkungen in WÖM 387 belegen. Man würde Schleiermacher »Unrecht tun«, würde man ihm unterstellen, »daß ihm die objektive Basis fehle[…]«. »Gefühl in seinem Sinne ist aber […] Gefühl in dem älteren und echteren Sinne und Erstsinne von Wirklichkeitserfassung« (a. a. O.). In dem Beleg für diese These, bei der zugleich aber auch die Kritik erneuert wird, zeigt sich dann die Missinterpretation Schleiermachers: »Nicht das ist ihm vorzuwerfen, daß er als Gefühlstheologe nicht objektiv sei. […] Sondern das tadeln wir an ihm, daß er von einer (objektiv erfaßten) Selbstbestimmung ausgeht« (a. a. O.) – unmittelbares Selbstbewusstsein ist aber, wie wir gesehen haben, für Schleiermacher gerade kein gegenständliches Bewusstsein im strengen Sinne.
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Otto diese Deutungsstruktur noch präziser beschreiben, wobei auch der von ihm der zeitgenössischen Debatte entnommene Begriff des ›religiösen Apriori‹ in seiner Grundbedeutung erkennbar wird, nämlich als Nichtgegebenheit durch Sinneswahrnehmung: »Wir finden in ihm [sc. dem religiösen Gefühl] Überzeugungen und Gefühle angelegt, die der Art nach verschieden sind von allem, was ›natürliche‹ Sinneswahrnehmung uns zu geben vermag. Sie sind selber nicht Sinneswahrnehmungen, sondern zunächst seltsame Deutungen und Bewertungen von sinneswahrnehmlich Gegebenen und sodann auf höherer Stufe Setzungen von Gegenständen und Wesenheiten, deren Formen zwar offensichtlich Produkte der Phantasie sind, aber mit eigentümlichen Sinngehalten, die selber nicht der sinneswahrnehmlichen Welt entnommen sind, sondern zu dieser und über diese hinzugedacht werden« (DH 138). Fast gegenläufig zu der von ihm betonten Grundbedeutung des Gefühlsbegriffs als ein Objekterfassen, wird an dieser Stelle Objektivität – wie bei Schleiermacher sowohl in den ›Reden‹ als auch der ›Glaubenslehre‹ – förmlich als nachträgliches Reflexionsprodukt beschrieben, das auf einer ursprünglichen emotionalen Deutungsleistung aufruht. Wie aber kann man über Gefühle sprechen, wenn deren begrifflich-diskursive Vorstellungen bereits als nachgängige, höherstufige und viel zu voraussetzungsreiche Auslegungsgestalten ausscheiden? Man muss sie natürlich irgendwie sprachlich zusammenfassen und bezeichnen und genau zu diesem Zweck führt Otto den Terminus ›Ideogramm‹ ein (DH 21 f.; 27 f.; 35; 48; 76 f. u. ö.). Beim Ideogramm oder »Symbol-Namen« (DH 22), wie er auch sagen kann, habe man es »nicht mit einem eigentlichen rationalen ›Begriffe‹ zu tun [… ,] sondern nur mit einem Begriffs-Ähnlichen, mit einem […] reinen Deute-Zeichen eines eigentümlichen Gefühlsmomentes im religiösen Erleben« (DH 21). Streng genommen gibt es also mehrere übereinander gelagerte Deutungsschichten: Die Gefühle deuten im Modus der Weltauslegung das unmittelbare Erleben, die Ideogramme fungieren als sprachliche Auslegungen dieser ursprünglichen Gefühlsdeutungen und schließlich werden sie in diskursive Schematisierungen53 gleichsam auf dritter Ebene weitergehend rationalisiert: Von den anthropomorphen Göttervorstellungen bis hin zu den an Verstandeskategorien orientierten Gottesprädikaten wie Allursächlichkeit oder Allrealität. Die Religionstheorie des Hauptwerks kann man vor diesem Hintergrund als eine Ideogrammatik oder Symbolik der religiösen Gefühle bezeichnen. Mit einer Ausnahme entnimmt nun Otto diese Ideogramme dem religions53 Schemata sind für Otto – wie oben ausgeführt – Rationalisierungen von Gefühlen. Der Begriff des rationalen Schemas kann aber auch schon für Gefühle selbst verwandt werden, insofern sie aus einem nichtreligiösen, etwa dem zwischenmenschlichen Bereich stammen und zur Auslegung des numinosen Gefühls verwandt werden, vgl. dazu SU 6 f., wo Furcht, Dank oder Liebe als ›rationale Schemata‹ der religiösen Scheu bezeichnet werden.
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geschichtlichen Material, wobei ihm neben den jüdisch-christlichen Traditionen vor allem die fernöstlichen Religionen als Schatzkammer und permanenter Vergleichspunkt dienen. Die besagte Ausnahme betrifft sogleich den Namen für den objektiven Gehalt religiöser Gefühle, für den Otto nicht etwa den Begriff des Heiligen verwendet, wie der Buchtitel vermuten ließe. Denn dieser Begriff impliziert aufgrund der abendländischen Kulturgeschichte – man denke etwa an Kants Heiligkeit des Sittengesetzes – bereits sittlich-rationale Konnotationen, von denen Otto methodisch absehen will. Daher bildet er für das religiöse Objekt den Neologismus des »Numinösen« (DH 6) oder Numinosen, muss allerdings später feststellen, dass ihm Zinzendorf mit der Entdeckung desselben bereits vorausgegangen war (GÜ 4 – 10). Auch dieses religiöse Objekt ist freilich in strenger Relation zu einer »numinösen Gemüts-gestimmtheit« (DH 7) zu denken, die dann als Wertungs- oder Deutungskategorie in unserem emotionalen Weltumgang fungieren kann, wenn wir etwas ›als numinös‹ vermeinen. Ist mit dem Numinosen also ein Name für das vermeinte Objekt des religiösen Gefühls gefunden, so bleibt dies ohne die Qualifikationen, die ihm durch seine Auslegung in entsprechenden Gefühlen zuwachsen, ein bloßes ›X‹ (DH 7; 12 f.). Grundlegend für diese Ausdifferenzierung in verschiedene qualitativ eigentümliche Gefühlsgehalte ist eine Spannung zwischen abdrängenden und anziehenden Gefühlsmomenten. Darin hat man im Sinne Ottos eine formale Eigenart religiöser Gefühle zu erblicken. Sie sind niemals einfach, sondern enthalten wesentlich eine »Konstrastharmonie« (DH 42; 56 f.). Zu den abdrängenden Momenten gehören das Moment des tremendum, des Schauervollen, dessen Gefühlsbestimmtheit nur verwandt ist mit der Furcht, aber eben nicht identisch. Religionsgeschichtliche Rationalisierungen bilden die Vorstellung vom Zorn Gottes oder schließlich dessen Gerechtigkeit. Hier ist darauf hinzuweisen, dass Otto derartige religionsgeschichtliche Rationalisierungsprozesse keineswegs als Entfremdung verstanden wissen will, sondern als wertvolle Kultivierung unseres Umgangs mit Gefühlen. Auch hier wird noch einmal deutlich, dass Rudolf Ottos Gebrauch der Formel vom religiösen Apriori nichts mit angeborenen Ideen zu tun hat, sondern lediglich die geistige Grundlage für eine psychologische und historische Ent- oder Auswicklung (DH 141) bezeichnen soll. Entfremdung liegt allein dann vor, wenn jenen Symbolen und rationalen Schemata kein Erlebnis mehr korreliert. Dann werden die religiösen Symbole und Dogmen zu bloßen »Attrappen« (DH 70), wie Otto im kritischen Seitenblick auf die Zeitgenossen der sogenannten ›dialektischen Theologie‹ bemerkt. Sodann wird das Moment der majestas unterschieden, das Erlebnis einer schlechthinnigen Überlegenheit oder Übermacht. Das als Interpretament von Schleiermachers Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit genannte Kreaturgefühl bzw. die religiöse Demut kommt genau hier als subjektives Begleitgefühl
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zu stehen. Für die religionsgeschichtliche Genese einer voluntaristischen Gottesvorstellung wiederum zeichnet das Gefühl des Bedrängtseins verantwortlich. Aus dieser Gefühlsbestimmtheit resultiert das Moment des Energischen oder Dynamischen. Und schließlich zeigt die Religionsgeschichte Phänomene eines mit natürlichem Staunen nur verwandten Sichwunderns bzw. von einem Wunderding-betroffen-seins. Dieses die Entzogenheit und vollständige Irrationalität des numinosen Objekts repräsentierende Moment wird im Ideogramm des Mysterium oder des ›Ganz Anderen‹ festgehalten, dem religionsgeschichtlich die Dämonenvorstellungen ebenso zugeordnet werden können wie die Mystik oder die großen Traditionen einer negativen Theologie. Doch dieser Seite, die Otto auch als Mysterium tremendum zusammenfassen kann, steht die anziehende Dimension des religiösen Erlebens gegenüber. Hier bildet das fascinans das grundlegende Ideogramm. Das religiöse Erleben ist unvollständig beschrieben, wenn es nur nach seiner abdrängenden Seite betrachtet wird. Gerade das irritierende Wunderding hat etwas wundervolles, das uns entzückt oder uns noch im Zurückweichen dazu veranlasst, uns hinzuwenden. In diesem Gefühlsmoment wurzeln die anthropomorphen Vorstellungen von Gottes Mitleid oder von Gott als versöhnender Liebe sowie die Theologoumena von Gnade und Erlösung. Aus diesem Moment erklärt sich zudem die Feierlichkeit und das Überschwängliche, die den religiösen Kult von jeher kennzeichnen. An das Moment des fascinans schließt endlich das Moment des Augustum an, indem es von dem Erlebnis des für mich Werthaften übergeht zur gefühlsmäßigen Anerkennung eines Werthaften schlechthin. Otto beschreibt es als Gefühl gegenüber einem Respekt Heischenden, als Beugung gegenüber heiligstem Wert, als innerlichste obligatio. Und insofern kann hier so etwas wie ein Synthesegefühl erblickt werden, das sowohl abdrängende wie anziehende Momente verbindet. Man wundert sich, dass Otto hier nicht das Gefühl der Ehrfurcht erwähnt,54 jedenfalls wird von diesem auch mit dem lateinischen Begriff sanctum umschriebenen Moment verständlich, dass er das Heilige als zusammenfassende ›Komplexkategorie‹ (DH 61) verwendet. Auch dieses Gefühl des schlechthin Werthaften hat ein subjektives Begleitgefühl bzw. eine »unmittelbare […] Reflexbewegung der Seele« (DH 66) – es kommt leiblich zum Ausdruck in dem Bedürfnis, sich zu bedecken, und ist im Kern ein Gefühl des eigenen Unwertes. In diesem vom Kreaturgefühl noch einmal unterschiedenen Nichtigkeitsgefühl ist nach Otto der religiöse Kern der Vorstellung von Sühne und Sünde zu sehen, bevor sie in der Religionsgeschichte ethisch überformt wurden.
54 Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass Otto das Gefühl der Ehrfurcht bereits als eine Humanisierung des religiösen Erlebens versteht, vgl. SU 6 f.
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Systematische Überlegungen zu einer Theorie religiöser Gefühle
Im Lichte der neueren Emotionsdebatte soll abschließend der Ertrag für eine systematische Theorie religiöser Gefühle formuliert werden. Ich orientiere mich dabei an vier zentralen Themen der neueren Debatte: Dem Sui-generis-Charakter der Gefühle, der Frage nach der Spezifikation von Gefühlen, der Intentionalität der Gefühle sowie deren eigentümliche Rationalität.55 1. Sind Gefühle nur ein Epiphänomen und etwa auf Überzeugungen und Wünsche rückführbar oder handelt es sich bei ihnen um eine irreduzible Größe unseres mentalen Lebens? Im Hintergrund dieser Frage stehen in der neueren Debatte analytische Theorien des Geistes, die Emotionen im Rahmen eines derartigen Zweierschemas (belief/desire) abzuleiten suchen. Sowohl Schleiermacher als auch Otto haben den Sui-generis-Charakter der Gefühle unbeschadet bestehender Differenzen eindeutig bejaht. Schleiermacher schließt an einen Konsens der Aufklärungspsychologie an, die ungefähr in den 60er Jahren des 18. Jhs. zu einer Dreivermögenspsychologie übergegangen ist. Auch Otto folgt dieser noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts und den Anfängen der experimentellen Psychologie verbreiteten Dreivermögenspsychologie, nimmt dabei aber auch Korrekturen vor, die auf die aktuelle Emotionsdebatte vorverweisen. Insofern kann man sagen, dass das neuere Bemühen um die Eigenständigkeit der Gefühle lediglich Engführungen der analytischen Theorie des Geistes überwindet und damit einen Theoriestatus zurückgewinnt, der in besagten Traditionen bereits erreicht wurde. Für Schleiermacher und Otto war jene Problematik jedoch innerlich mit dem Interesse an der Selbständigkeit der Religion verbunden. Das Gefühl sollte der Religion eine eigene Provinz im Gemüte sichern. Diese auch von Otto vorgenommene Verschränkung der Frage nach dem Sui-generis-Charakter des Gefühls mit der Behauptung der Selbständigkeit der Religion setzt freilich voraus, dass religiöse Gefühle zwar eine spezielle Klasse darstellen, sich gleichwohl aber unter einen allgemeinen Gefühlsbegriff subsumieren lassen. Ob sich eine derartige, verschiedene Phänomene wie Primärgefühle, Körperempfindungen oder Stimmungen übergreifende Theorie der Gefühle überhaupt entfalten lässt, ist durchaus umstritten. Die Ausweitung der Debatte auf religiöse Gefühle schafft jedenfalls einen weiteren Anwendungsfall, an dem sich die Konsistenz einer allgemeinen Emotionstheorie zu bewähren hat. 55 Anstelle von Einzelnachweisen sei auf Quellensammlungen, Überblickswerke und Lexika zur neueren Debatte verwiesen: Döring, Philosophie der Gefühle; Demmerling/Landweer, Philosophie der Gefühle; Goldie, Oxford Handbook.
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2. Das führt zur Frage, was überhaupt als differentia specifica religiöser Gefühle geltend gemacht werden kann. Diese Frage, sofern sie in der gegenwärtigen Debatte überhaupt vorkommt, ist hochgradig umstritten und scheint zunächst nur zwei sich wechselseitig ausschließende Antworten zuzulassen: Auf der einen Seite steht die Auffassung, dass religiöse Gefühle qua Gefühl keinen Unterschied zu nichtreligiösen Gefühlen aufweisen und einzig und allein durch ihren kognitiven Gehalt unterscheidbar sind.56 Auf der anderen Seite steht die Otto und zumindest dem Schleiermacher der ›Glaubenslehre‹ zuzuweisende Position, religiöse Gefühle zeichneten sich durch eine genuine Gefühlsqualität aus. Der Schleiermacher der ›Reden‹, der neben Ehrfurcht und Demut auch Gefühle wie Liebe, Dankbarkeit und Mitleid nennt, steht gleichsam zwischen beiden Positionen. Gegen die Annahme von spezifisch religiösen Gefühlsqualitäten verweist die empirische Religionspsychologie auf Studien, die belegen, dass das gesamte Spektrum nichtreligiöser, vor allem zwischenmenschlicher Gefühle auch mit Bezug auf Gott erlebt wird.57 Doch das ist bei Lichte gesehen kein überzeugendes Argument. Denn es setzt bereits das Vorliegen einer relativ traditionellen, personalen Gottesvorstellung sowie ein kognitivistisches Religionsverständnis voraus und hat damit – trotz oder gerade im empirischen Ansatz – normative Implikationen, die kaum in der Lage sind, die Erscheinungsformen von Religion in der Moderne angemessen beschreiben zu können. Gerade hier liegt die Stärke neuprotestantischer Religionstheorien im Anschluss an Schleiermacher.58 Im Lichte derartiger Theorien wäre dann beispielsweise das zweithäufigste Gefühl der ›Dankbarkeit gegenüber Gott‹ genauer zu beschreiben als eine Dankbarkeit etwa für die als Geschenk Gottes verstandene Geburt eines Kindes. Dann ist aber zunächst die Frage entscheidend, was dazu führt, eine Geburt, die ich etwa auch als einen rein biologischen Vorgang betrachten kann, als ein Geschenk Gottes zu deuten. Offenbar sind hier genuine Erlebnisse beteiligt wie etwa das Gefühl eines Wunderhaft-Wunderbaren, die uns zugleich die eigene Ohnmacht bewusst werden lassen und dann mit Kulturmustern wie der Symbolisierung als ›Geschenk Gottes‹ zum Ausdruck gebracht werden. Verhält es sich aber so, dann ließe sich die vermeintliche Alternative auch im Sinne eines Synthesemodells auflösen: Die etwa von Otto am religionsgeschichtlichen Material aufgewiesenen genuin religiösen Gefühlsmomente wären gleichsam die Formen, durch die Gefühle wie Dankbarkeit, Sehnsucht, Liebe oder Freude ihre religiöse Intentionalität allererst 56 Vgl. z. B. Döring, Was darf ich hoffen? 57 Vgl. Grom, Religionspsychologie 2007, 186 ff. 58 Die konsequente Durchführung dieser Einsicht, insbesondere mit Bezug auf die Interdependenz von ästhetischer und religiöser Erfahrung, prägt die theologische Arbeit Wilhelm Gräbs. Vgl. pars pro toto: Gräb, Umbruch; Ders., Lebensgeschichten; Ders., Sinn; Ders./ Weyel, Religion; Ders. u. a., Ästhetik.
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aufbauen. Durchaus im Anschluss an neuere Emotionstheorien könnte man sagen, dass die emotionale Objektbeziehung eine strenge Korrelation zwischen Gefühlsbestimmtheit und repräsentationalem Gehalt impliziert. Die Verbindung von Emotionen mit dem Adjektiv ›heilig‹, wie sie Schleiermacher in den Reden (›heilige Scheu‹, ›heilige Wehmut‹) vorgenommen hat, wäre als Ausdrucksmöglichkeit für das vorgeschlagene Synthesemodell aus spezifisch religiösen Gefühlsqualitäten und Formbestimmtheiten auf der einen und nicht spezifisch religiösen Gefühlen auf der anderen Seite geeignet. 3. Mit dem Stichwort ›Intentionalität‹ ist ein weiterer Problemkreis neuerer Emotionstheorien benannt. Auch die in diesem Kontext diskutierten Fragen haben in Rudolf Ottos Kritik an Schleiermachers später Gefühlskonzeption eine Vorläufergestalt. So plausibel die These Ottos ist, dass zumindest ein expliziter Selbstbezug des religiösen Gefühls einer religiösen Objektvermeinung nachgängig ist, so hatten wir gesehen, dass diese Kritik Schleiermachers Gefühlskonzeption eigentlich nicht wirklich trifft, da sie auf der phänomenologischen Ebene argumentiert, für die auch bei Schleiermacher Intentionalität vorausgesetzt werden muss. Vor diesem Hintergrund verschiebt sich die Streifrage auf das Problem, inwiefern Gefühlen überhaupt ein Objektbezug im strengen Sinne zugewiesen werden kann. Im Sinne Schleiermachers setzt jede Form von gegenständlicher Bestimmtheit bereits Reflexionsleistungen voraus, mit Bezug auf die es zweifelhaft ist, ob sie sinnvollerweise als genuine Leistungen des Gefühls angesehen werden können. Schleiermacher würde jede Form gegenständlicher Vorstellung jedenfalls als Reflexionsleistung verstehen. Davon unbeschadet kann der intentionale Gehalt des Gefühls als ein zunächst noch gegenüber der Differenz von subjektiver oder objektiver Bestimmtheit neutraler, gleichwohl aber schon distinkter oder – um mit dem traditionellen Begriff zu sprechen – klarer Gehalt bestimmt werden. Ottos These von einer gefühlsmäßigen Objektbestimmtheit wäre demgegenüber zu befragen, inwieweit das vermeinte religiöse Objekt mehr sein kann als das formale Objekt einer Gefühlsbestimmtheit, zumal seine Gefühlsanalyse den methodischen Status einer Abstraktion von sprachlich-rationalen Bestimmungen hat, die beim wirklichen Vorkommen religiöser Gefühle immer schon vorausgesetzt werden müssen. Vor diesem Hintergrund ließe sich die von Otto betonte Frage der Vorgängigkeit einer objektiven Intentionalität gegenüber Formen der Selbstreferentialität relativieren bzw. vielmehr von einer prinzipiellen Gleichursprünglichkeit beider ausgehen. Ob Kreaturgefühl oder Gefühl einer Übermacht – es handelt sich um zwei korrelative Auslegungsgestalten eines zugrundeliegenden Erlebens, das die Struktur eines mentalen Selbstverhältnisses hat. Mit Blick auf die aktuelle Emotionsdebatte lassen sich jedenfalls beide Modelle eher an diejenigen Positionen anschließen, die dem feeling-Aspekt, also dem Aspekt der Ge-
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fühlsqualia oder dem personal point of view, eine zentrale Bedeutung auch für die Intentionalität der Emotionen zuweisen. Eine weitere Gemeinsamkeit beider Gefühlskonzeptionen besteht in der Betonung des Deutungs- und Wertungscharakters unsers emotionalen Weltumgangs. Die Intentionalität der Gefühle ist also symbolisch vermittelt und hat den Charakter der Deutung von etwas als Zeichen für etwas. Mit Ricœeur kann man also sagen: Die Intentionalität religiöser Gefühle hat den Charakter einer »doppelten Intentionalität«, d. h. wir beziehen uns auf etwas durch etwas hindurch.59 4. Unabhängig von der schwierigen Frage nach der insbesondere bei religiösen Gefühlen komplexen Struktur emotionaler Intentionalität erlaubt die Interpretation der Gefühle als Deutungs- oder Bewertungskategorien im vorgeschlagenen Sinne schließlich auch einen Zugang zum Problem der Rationalität der Gefühle. Die kognitivistische Interpretation versteht die Rationalität der Gefühle als eine Art Angemessenheitsrelation zwischen Emotionen und ihren Objekten oder spezifischen Situationen, was natürlich wiederum die Frage nach Kriterien für das Vorliegen einer solchen Angemessenheit evoziert.60 Da es sich bei religiösen Gefühlen jedoch ähnlich wie bei ästhetischen und ethischen Auslegungsvollzügen um keine einfache Bezugnahme auf sinnlich wahrnehmbare Objekte handelt, sondern immer auch ideelle oder werthafte Dimensionen involviert sind, stößt dieses an der empirischen Erkenntnis orientierte Rationalitätsmodell an seine Grenzen. Von der Funktion der Gefühle als Deutungskategorien lässt sich aber eine weniger voraussetzungsreiche Fassung der Rationalitätsthese durchführen. Derzufolge besteht die Rationalität der Gefühle darin, dass in ihnen bereits formative Momente unseres mentalen Lebens vorliegen, in denen sich das in diesem Sinne irrationale Erleben artikuliert und ausdifferenziert. Dabei handelt es sich freilich noch nicht um diskursiv-sprachliche Formen. Gleichwohl stehen jene emotiven Deutungskategorien – wie Ottos Religionsphänomenologie zeigt – einer sukzessiven Versprachlichung und Rationalisierung offen, ja fordern sie förmlich aufgrund ihres intrinsischen Auslegungscharakters. In diesem Sinne ist weniger von einem starren Gegensatz zwischen Irrationalität und Rationalität auszugehen als von einem verschieblichen Modell sich überlagernder Deutungsschichten. Und diese Überlagerung kann bereits auf der Ebene der Emotionen selbst statthaben, wenn etwa episodische und in unser intentionales Bewusstsein involvierte Gefühle durch nichtintentionale Stimmungen interpretiert werden bzw. durch diese – wie Schleiermacher sagt – einen gemeinsamen Grundton erhalten. 59 Ricœur, Symbolik, 22. 60 Vgl. v. a. De Sousa, Rationalität.
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Sabine Döring / Anja Berninger
Was sind religiöse Gefühle? Versuch einer Begriffsklärung
Emotionen und Religion bzw. Religiosität sind aufs engste verknüpft. Die Kultivierung mancher und die Unterdrückung anderer Emotionen sind fester Bestandteil vieler religiöser Praktiken unterschiedlichster Traditionslinien. Aber auch über die kanonisierten Aspekte hinaus scheinen emotionale Reaktionen von großer Bedeutung für die Religiosität jedes einzelnen zu sein. Die Rede von ›religiösen Gefühlen‹ legt nahe, dass es sich bei diesen Emotionen um eine Einheit handeln soll.1 Das heißt, es sieht so aus, als könnten wir klar zwischen religiösen Gefühlen und anderen (nicht-religiösen) Gefühlen unterscheiden. Das setzt voraus, dass es bestimmte Kriterien gibt, mit deren Hilfe wir diese Unterscheidungen treffen können. Idealerweise müsste es sogar möglich sein, notwendige und hinreichende Bedingungen dafür anzugeben, ob etwas ein religiöses Gefühl ist oder nicht.2 Wir werden im weiteren Verlauf des Artikels jedoch zeigen, dass es solche Bedingungen nicht oder zumindest nur in einem sehr eingeschränkten Sinne zu geben scheint. Religiöse Gefühle sind eine heterogene Gruppe von Emotionen, die jeweils auf andere Art und Weise mit Religion bzw. religiösen Inhalten verbunden sind. Um dies zu belegen, werden wir verschiedene Kriterien betrachten, die man für geeignet halten könnte, um religiöse von anderen Gefühlen abzugrenzen. Wir werden dann aufzeigen, dass keines dieser Kriterien als notwendiges Kriterium gelten kann und nur einige von ihnen als hinreichend verstanden werden können. Das bedeutet aber : Es gibt keine einzelne Eigenschaft, die alle religiösen Gefühle einen würde. Unser Interesse ist nicht primär religionsphilosophischer oder theologischer Natur. Vielmehr wollen wir das Thema aus Sicht der aktuellen Emotionsphilo-
1 Wir verwenden hier wie auch im weiteren Verlauf des Artikels die Ausdrücke ›Emotion‹ und ›Gefühl‹ als austauschbar. Vgl. aber Döring, Die Moralität, 30; Dies., Philosophie der Gefühle, 14 f. 2 Diesen Schritt sehen wir jedoch nicht als zwangsläufig an, auch wenn wir unsere eigene Untersuchung hier an ihm orientieren. Nicht jede Begriffsklärung muss auf notwendige und hinreichende Bedingungen zurückgreifen.
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sophie beleuchten.3 Ausblenden werden wir auch den praktischen und epistemischen Wert religiöser Gefühle. Es geht uns also auch nicht darum zu erörtern, ob religiöse Gefühle Mittel zu einer (wie auch immer gearteten) Erkenntnis sein können.
1.
Die Intentionalität religiöser Gefühle
Ein möglicher Weg, religiöse Gefühle von anderen Emotionen zu unterscheiden, lässt sich unmittelbar aus der neueren Emotionsliteratur ableiten. Charakteristisch für neuere Emotionstheorien ist die These, dass Emotionen intentionale (also objektgerichtete) Zustände sind.4 Meist spricht man davon, dass ein Subjekt sich vor etwas oder jemandem fürchtet, sich über etwas ärgert oder auf etwas hofft. Das heißt, es scheint hier (in der Regel) irgendein externes Objekt oder eine Vorstellung zu geben, auf die die Emotion sich richtet. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie man die Rede von der Intentionalität eines mentalen Zustands verstehen kann. In der Philosophie des Geistes wird diese Gerichtetheit unserer mentalen Zustände meist so verstanden, dass sie die Außenwelt in spezifischer Weise repräsentieren.5 Auch in der Emotionsphilosophie wird diese Theorie heute typischerweise vertreten. Die Gerichtetheit von Emotionen ist dann wie folgt zu erklären: Wenn sich jemand etwa vor einer Schlange fürchtet, dann repräsentiert seine Furcht ihm die Schlange als furchterregend oder gefährlich. Sich vor etwas zu fürchten, bedeutet demnach, dieses Etwas in irgendeinem Sinne als furchterregend anzusehen. Das partikulare Objekt (nämlich die Schlange) wird unter einer bestimmten Beschreibung (als etwas Furchterregendes oder Gefährliches) repräsentiert. So wird mit dem partikularen Objekt nicht nur der Bezugspunkt der 3 Für einen Überblick vgl. Döring, Philosophie der Gefühle. 4 Manchmal sollen damit pauschal ältere ›Feelingtheorien‹ kritisiert werden, die Emotionen als reine Empfindungen auffassten, statt sie im Sinne Brentanos klassischer Definition des Mentalen als intentionale Zustände zu verstehen. Tatsächlich gibt es jedoch nur wenige echte Beispiele solcher Theorien. Schon Aristoteles analysiert beispielsweise das Gefühl des Zorns – verstanden als spezifisches personengerichtetes Gefühl großer Empörung über eine Verletzung der persönlichen Ehre – als eine Reaktion, die von Schmerz (der zugehörigen Empfindung) begleitet ist und auf Vergeltung für eine Kränkung abzielt. Der intentionale Charakter ist dabei konstitutiv für die Emotion: »Zorn ist also (definiert als) ein von Schmerz begleitetes Trachten nach offenkundiger Vergeltung wegen offenkundig erfolgter Geringschätzung, die uns selbst oder einem der Unsrigen von Leuten, denen dies nicht zusteht, zugefügt wurde. Ist das also Zorn, dann zürnt notwendigerweise der Zürnende immer einer individuell bestimmbaren Person, z. B. dem Kleon.« Aristoteles, Rhetorik, 1378aff. 5 Diesem Aspekt tragen auch psychologische »Einschätzungstheorien« (appraisal theories) Rechnung. Vgl. z. B. Reisenzein, Denken und Emotionen, 475 – 484; Scherer/Schorr/Johnstone, Appraisal Processes in Emotion; vgl. auch Arnold, Emotion and Personality.
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Emotionen in der Welt angegeben, sondern auch eine bestimmte Werteigenschaft, die diesem Objekt notwendigerweise zugeschrieben werden muss, damit ein jeweiliger Emotionstoken sich allererst einem bestimmten Emotionstyp zuordnen lässt. Im Anschluss an die Scholastik hat Anthony Kenny für diesen Aspekt den terminus technicus ›formales Objekt‹ in die Debatte eingeführt.6 Analog zur Wahrheit als dem formalen Objekt von Meinungen und dem Guten als dem (vermeintlichen) formalen Objekt von Wünschen entspricht nach Kenny einer jeden Emotion – oder vielmehr einem jeden Emotionstyp – ein ›formales Objekt‹, durch welches die Klasse seiner möglichen partikularen Objekte eingeschränkt und so bestimmt wird. Demnach ist etwas nur dann ein mögliches partikulares Objekt einer Emotion, wenn ihm vom Subjekt diejenige Eigenschaft zugeschrieben wird, die das formale Objekt der Emotion ist; andernfalls wäre die Emotion unverständlich. Die Furcht vor einer Schlange beispielsweise lässt sich nur dann als (eine Instanziierung des Emotionstyps) Furcht verstehen, wenn der Schlange aufgrund irgendwelcher Merkmale die Eigenschaft zugeschrieben wird, furchterregend oder gefährlich zu sein. Vorausgesetzt wird damit, dass mit dem Auftreten einer Emotion ihr partikulares Objekt unmittelbar in bestimmter Weise bewertet wird, sodass der intentionale Inhalt einer Emotion grundsätzlich kein rein deskriptiver, sondern wesentlich ein evaluativer Inhalt ist. Unterschiedliche Emotionstypen wie Furcht, Wut usw. werden so nicht nach ihrem partikularen, sondern vielmehr nach ihrem formalen Objekt unterschieden. Das formale Objekt der Furcht ist dieser Auffassung zufolge das Furchterregende, das formale Objekt der Wut das Empörende usw. Der Bezug auf dieses formale Objekt ist es, der die Emotion erst zu einer Emotion ebendieses Typs (also Furcht, Wut usw.) macht. Das partikulare Objekt der Emotion kann hingegen innerhalb desselben Emotionstyps divergieren. Dies könnte zu der Erwartung führen, dass es sich bei religiösen Gefühlen genauso verhält, das heißt, dass man religiöse Gefühle von anderen Gefühlen durch eine Betrachtung ihres formalen Objekts abgrenzen kann. Das ist aber nicht der Fall. So kann die Furcht vor Gott genauso als religiöses Gefühl klassifiziert werden wie die Liebe zu Gott usw. Diese beiden Emotionen haben aber unterschiedliche formale Objekte. Im einen Fall wird das formale Objekt etwas wie das ›Furchterregende‹ oder das ›Bedrohliche‹ sein. Im anderen Fall geht es um so etwas wie ›das Liebenswerte‹. Religiösen Gefühlen können demnach ganz verschiedene formale Objekte entsprechen. Wenn sie sich überhaupt anhand
6 Vgl. Kenny, Action, Emotion and Will, 187 – 202. Für eine erhellende Diskussion der formalen Objekte von Emotionen vgl. auch Teroni, Emotions and Formal Objects.
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ihres Objektes von anderen Emotionen abgrenzen lassen, dann scheint das nur anhand des partikularen, nicht jedoch des formalen Objektes möglich zu sein. Tatsächlich ist genau diese Auffassung auch in der Literatur zu religiösen Gefühlen vertreten worden. Robert Roberts etwa beschreibt religiöse Gefühle wie folgt: Religious emotions, as I will understand them here, come in most of the standard emotion-types: joy, sorrow, fear, gratitude, hope, anger, awe, reverence, compassion, contrition, hatred. An emotion becomes religious by referring to God or something else transcendent: thus joy in the Lord, fear of the Lord, awe before Being, reverence for Life, and so on.7
Diese Deutung findet einen Vorläufer in William James, der in The Varieties of Religious Experience darlegt, dass im Einzelfall eine Abgrenzung zwischen religiösen und anderen Gefühle schwierig sein mag. Er lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass der Bezugspunkt der Emotion ein klares Kriterium für die Abgrenzung von religiösen Gefühlen gegenüber anderen Emotionen darstellt: Things are more or less divine, states of mind are more or less religious, reactions are more or less total, but the boundaries are always misty, and it is everywhere a question of amount and degree. Nevertheless, at their extreme of development, there can never be any question as to what experiences are religious. The divinity of the object and the solemnity of the reaction are too well marked for doubt. Hesitation as to whether a state of mind is ›religious‹, or ›irreligious‹, or ›moral‹, or ›philosophical‹ is only likely to arise when the state of mind is weakly characterized, but in that case it will be hardly worthy of our study at all.8
Die Definition ist neutral im Hinblick auf die tatsächliche Existenz des Bezugspunkts. Die Abgrenzung von religiösen Gefühlen gegenüber anderen Emotionen durch den Verweis auf ihr partikulares Objekt impliziert nicht, dass dieses Objekt tatsächlich existieren muss. Das heißt, man kann über genuin religiöse Emotionen sprechen, ohne auf die Existenz des Bezugspunktes (Gott oder etwas anderes Transzendentes) festgelegt zu sein. Vielmehr kann es sich bei dem Objekt der Emotion auch um ein Objekt unserer Vorstellung o. ä. handeln. Auf den ersten Blick spricht einiges für die Abgrenzung von religiösen und anderen Emotionen über ihre partikularen Objekte. Tatsächlich werden dadurch viele Beispiele abgedeckt, die man als typisch für religiöse Gefühle ansehen mag. So scheint beispielsweise Furcht oder Dankbarkeit genau dann ein religiöses Gefühl zu sein, wenn sie sich auf Gott (oder etwas anderes Transzendentes) richtet. 7 Roberts, Religious Experience, 493. 8 James, Varieties, 39. Allerdings teilt James die hier geschilderte repräsentationalistische Grundhaltung nicht.
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Bei genauerer Betrachtung treten jedoch einige Schwierigkeiten auf, die wir im Folgenden genauer schildern werden. Dabei werden wir herausarbeiten, dass der Bezug zu Gott als dem partikularen Objekt der Emotion weder notwendig noch hinreichend dafür ist, die Emotion als religiös auszuweisen. Betrachten wir zunächst die Frage, ob es sich um ein notwendiges Kriterium handeln kann. Das wäre dann der Fall, wenn sich keine Beispiele für religiöse Emotionen finden ließen, die keinen Bezug auf Gott oder auf etwas Transzendentes aufwiesen. Jedoch scheint es solche Fälle zu geben. Das lässt sich am besten an zwei Beispielen erläutern. Nehmen wir zunächst das Gefühl der Schuld, das eine gläubige Person empfindet, weil sie meint, eine Sünde begangen zu haben. Schuld scheint in diesem Fall klar ein religiöses Gefühl zu sein. Und doch bezieht sie sich nicht auf Gott, sondern als ein ›reflexives‹ Gefühl auf die gläubige Person selbst, insofern diese meint, bestimmten normativen Standards nicht gerecht geworden zu sein, nämlich gesündigt zu haben.9 Ein weiteres Beispiel für eine religiöse Emotion, die nicht Gott oder etwas Transzendentes zum Objekt hat, stellt Mark Wynn bereit.10 Wynn schildert den Fall einer Nonne, die gemeinsam mit verschiedenen anderen Ärzten und Pflegerinnen in einer psychiatrischen Einrichtung arbeitet. Die affektiven Reaktionen und das Verhalten der Nonne zeigen, dass sie die Patienten (trotz deren massiven Einschränkungen) als ihr gleichwertig ansieht bzw. diese wertschätzt, während einige der Ärzte zwar auf rein intellektueller Ebene ebenfalls eine solche Haltung einnehmen, diese sich aber nicht in gleichem Maße in ihren (affektiven) Reaktionen auf die Patienten zeigt. Wynn interpretiert die affektiven Reaktionen der Nonnen als Akte der Nächstenliebe.11 Auch in diesem Fall lässt sich kein direkter Bezug zu Gott oder etwas Transzendentem herstellen, zumindest nicht in dem Sinne, dass Gott bzw. das Transzendente den Inhalt bzw. das Objekt der Emotion bilden würde. Wynn weist zwar darauf hin, dass sich diese Form der Liebe letztendlich mit der Vorstellung begründen lässt, dass alle Menschen ›Kinder Gottes‹ seien.12 Das macht aber nicht Gott zum Objekt der Emotion. Man kann versuchen, diesem Einwand zu entgehen, indem man darauf beharrt, dass es hier doch eine Verbindung zu Gott bzw. dem Transzendenten gibt, 9 Järveläinen, Religious Emotions, 58. Wie auch etwa Stolz oder Scham, ist Schuld eine ›reflexive‹ Emotion, die sich auf das eigene Selbst zurückbezieht. Vgl. Taylor, Pride, Shame, and Guilt, 41ff; vgl. auch Helm, Emotional Reason, 103 f. In der Psychologie findet sich eine analoge Unterscheidung zwischen ›reflexiven‹ und ›nicht-reflexiven‹ Emotionen in Frijda, The Emotions. 10 Wynn, Emotional Experience, 30. Das Beispiel selbst ist übernommen aus: Gaita, Humanity, 17 – 19. 11 Wynn, Emotional Experience, 41. 12 A.a.O., 43. Auch diese Idee übernimmt Wynn von Gaita (Gaita, Humanity, 21), der allerdings selbst keine religiöse Deutung des Beispiels intendiert.
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die aber nicht direkt, sondern vielmehr indirekter Natur ist. Ob dies eine plausible Lösung ist, hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, eine akzeptable Definition davon zu liefern, was mit der Rede von einer ›indirekten Beziehung‹ zum Objekt der Emotion gemeint ist. Es reicht nicht aus, eine solche Beziehung einfach zu postulieren. Vielmehr muss erklärt und explizit gemacht werden, worin diese Beziehung besteht. Aus der philosophischen Literatur zu diesen Fragen lassen sich insbesondere zwei Vorschläge zu einer solchen Explikation ableiten. Der erste dieser Vorschläge stammt von Robert Roberts. Roberts unterscheidet zwischen dem Objekt der Emotion und Dingen, auf die die Emotionen ›referieren‹, ohne dass sie deshalb Teil des Objekts der Emotion sein müssen. Seine Analyse lautet: »The emotion refers to an object in virtue of the object’s playing an essential role on the situation to which an emotion of this type is directed.«13 Diese Definition ist aber äußerst vage. Roberts erläutert nicht wirklich, unter welchen Bedingungen etwas eine essentielle Rolle in einer Situation spielt. Darüber hinaus ist unklar, wie die Rede von ›Referenz‹ hier genau zu verstehen ist. So lässt sich letztlich nicht entscheiden, ob in dem von Wynn angeführten Beispiel Gott tatsächlich eine essentielle Rolle spielt oder nicht. Roberts’ Vorschlag bedürfte also in jedem Fall einer genaueren Ausarbeitung, um ihn bewerten zu können. Wynn betont seinerseits, dass wir dieses Beispiel nur vor einem bestimmten, religiös aufgeladenen kulturellen Hintergrund vollends verstehen können. Das gilt auch dann, wenn eine vergleichbare Emotion in rein säkularen Kontexten (und damit ohne Bewusstsein dieses Hintergrunds) auftritt.14 Auch wenn Wynns Analyse, was dieses konkrete Beispiel angeht, richtig sein mag, so taugt auch sie nicht als allgemeine Definition für religiöse Gefühle.15 Man müsste dann Subjekten auch dann religiöse Emotionen zuschreiben, wenn diese (a) selbst nicht gläubig sind und (b) sich der Tradition, aus der ihre Emotionen erwachsen nicht bewusst sind. Damit würde die Klasse der religiösen Gefühle so weit ausgedehnt, 13 Roberts, Religious Experience, 493. 14 Wynn geht davon aus, dass die im Beispiel geschilderte Handlungsweise zwar auch in säkularen Kontexten auftreten könnte, aber letztendlich immer eine Abhängigkeit zu religiösen Kontexten besteht: »The practice of secular saints can also be revelatory : Gaita could have observed a figure behaving as the nun behaved towards the patients. But their practice will, naturally, not be dependent on the language of parental love as rehearsed in a life of prayer. However, […] I have suggested that secular saintly practice still owes its possibility, ultimately, to such a life. Here we have a chain of dependence rather like that posited by versions of the cosmological argument: the ability to exemplify saintly practice can be acquired by exposure to another who exemplifies saintly practice and so on, but this chain will need to terminate in someone whose saintly practice is grounded in familiarity with the language of divine parental love […] and the revelatory force of such language in this respect provides a prima facie reason for its prayerful appropriation.« Wynn, Emotional Experience, 48. 15 Als solche ist sie aber von Wynn auch gar nicht intendiert.
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dass sie zahlreiche Emotionen umfassen würde, die man (von unserem Alltagsverständnis ausgehend) nicht als genuin religiös ansehen würde. Einen präziseren Vorschlag hat Petri Järveläinen gemacht. Er schlägt vor, auch dann noch von einer Beziehung der Emotion zu einem religiösen Objekt zu sprechen, wenn der Inhalt der Emotion in einer inferentiellen Beziehung zu solchen religiösen Inhalten steht.16 Das heißt, auch wenn bei Schuldgefühlen das eigene Selbst aufgrund einer von diesem begangenen Sünde im Mittelpunkt stehen mag, so lässt sich doch über inferentielle Beziehungen eine Verbindung zu Gott bzw. der Gotteskonzeption des Subjekts herstellen. Ähnliches scheint für den von Mark Wynn ausgeführten Fall zu gelten. Zwar mag Gott nicht der direkte Bezugspunkt der Nächstenliebe zu sein, aber indirekt – nämlich inferentiell – scheint eine Beziehung zu bestehen. Obwohl diese Lösung auf den ersten Blick plausibel erscheint, ergibt sich ein schwerwiegendes Problem, wenn man sie zu den Resultaten der aktuellen Emotionstheorie in Beziehung setzt. Damit der Inhalt religiöser Gefühle in einer inferentiellen Beziehung zu anderen mentalen Inhalten stehen kann, muss er begrifflich gefasst sein.17 Tatsächlich geht auch Järveläinen davon aus, dass religiöse Gefühle ebensolchen begrifflichen Inhalt aufweisen.18 Gerade diese Annahme ist jedoch in der jüngeren Emotionsphilosophie mehrfach kritisiert worden. Typischerweise meint man mit mentalen Zuständen, die einen begrifflichen Inhalt haben, Überzeugungen oder Urteile.19 Tatsächlich werden Emotionen von einigen Emotionstheoretikern als Werturteile aufgefasst.20 Demnach ist oder impliziert etwa Furcht begrifflich das Urteil, dass ihr Objekt furchterregend oder gefährlich ist. Das Problem dieser Auffassung lässt sich am besten anhand eines von Michel de Montaigne und später auch von David Hume in die Debatte eingebrachten Beispiels verdeutlichen: die Furcht davor, in einen tiefen Abgrund zu stürzen, der sich vor den eigenen Füßen auftut, kann auch dann noch bestehen bleiben, wenn man urteilt oder sogar weiß, dass man nicht in Gefahr ist. Dieses Phänomen wird in der Debatte als ›emotionale Persistenz‹ bezeichnet, manche sprechen auch von ›widerspenstigen Emotionen‹ (recalcitrant emotions).21 Im Rahmen einer Urteilstheorie der Emotionen würde emotionale 16 Er schreibt: »[T]he immediate propositional content may be embedded in a cognitive structure by virtue of which divinity is included in the scope of the emotion.« Järveläinen, Religious Emotions, 58. 17 Crane, Non-Conceptual Content, 136 – 157. 18 Järveläinen, Religious Emotions, 58. 19 Wir unterscheiden hier nicht zwischen ›Überzeugungen‹ (im Sinne von ›belief‹) und Urteilen. 20 Vgl. z. B. Solomon, Emotions, Thoughts, and Feelings; Nussbaum, Emotions. 21 Vgl. Brady, Recalcitrant Emotions.
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Persistenz dergestalt analysiert, dass dem Subjekt zwei konfligierende und sogar kontradiktorische Urteile zugeschrieben werden: das Urteil, dass man in Gefahr ist, und das Urteil, dass man nicht in Gefahr ist. In diesem Fall wäre das Subjekt offenkundig irrational. Es verpflichtete sich auf (im Sinne G. E. Moores) paradoxe Äußerungen etwa des Inhalts: »Ich bin nicht in Gefahr, aber ich meine, dass ich in Gefahr bin.«22 Um diesem Einwand zu entgehen, nehmen Urteilstheoretiker Zuflucht zu der Behauptung, dass das die Emotion definierende Urteil vom Subjekt irgendwie ›unbewusst‹ gefällt und daher von diesem nicht wirklich anerkannt werde. Allerdings scheint das einzige Argument hierfür die Unterstellung der Wahrheit der Urteilstheorie zu sein. Erforderlich wäre aber ein zusätzliches, spezifisches Argument. Denn schließlich wird das ›Prinzip der wohlwollenden Interpretation‹ verletzt, indem dem Subjekt eine Art rationale Dysfunktion attribuiert wird – in der Form eines nicht anerkannten Urteils, welches den vom Subjekt anerkannten Urteilen widerspricht.23 Gleichwohl besteht auch im Fall einer Emotion, die von der eigenen Überzeugung abweicht, ein rationaler Konflikt zwischen den beiden mentalen Zuständen.24 Dieser Konflikt ist aber von anderer Art als der zwischen kontradiktorischen Überzeugungen, wie sich schon darin zeigt, dass es nicht paradox ist, zu sagen: »Ich bin nicht in Gefahr, aber dennoch fürchte ich mich.« Im Falle einer Emotion, die im Lichte eines ›besseren‹ Urteils bestehen bleibt, und anders als im Falle kontradiktorischer Überzeugungen, verpflichtet sich das Subjekt nicht auf paradoxe Äußerungen. Das Phänomen der emotionalen Persistenz ist für weitaus die meisten Emotionstheoretiker ein schlagendes Argument dafür zu bestreiten, dass Emotionen Werturteile sind. Derzeit dominierend ist stattdessen die Wahrnehmungstheorie der Emotionen, und einige argumentieren darüber hinaus, dass man Emotionen aufgrund ihrer nichtinferentiellen Rolle keinen begrifflichen Inhalt zuschreiben könne. Järveläinens Vorschlag zum Verständnis eines indirekten Bezugs auf Gott ist folglich mit wesentlichen Einsichten der neueren Emotionsphilosophie inkompatibel. Der indirekte Bezug zu Gott könnte demnach nur auf einem nichtinferentiellen Wege hergestellt werden, und hierfür bräuchte es ein eigenständiges, gänzlich neues Argument. Es hat sich gezeigt, dass der Bezug zu Gott oder etwas Transzendentem nicht als notwendige Bedingung für das Vorliegen einer religiösen Emotion gelten kann. Trotzdem ist damit noch nicht ausgeschlossen, dass sie eine hinreichende 22 Vgl. Moore, Reply. 23 Vgl. Greenspan, Emotions as Evaluations. 24 Döring hat hierfür den Ausdruck des »Konfliktes ohne Kontradiktion« geprägt; vgl. Döring, Conflict Without Contradiction. Eine weitere wichtige Kritikerin der Annahme, dass Emotionen begrifflich strukturierte Werturteile seien, ist Christine Tappolet, Êmotions et Valeurs, 153 – 158.
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Bedingung für das Vorliegen einer religiösen Emotion ist. Aber tatsächlich ist auch diese Annahme problematisch. Betrachten wir hierzu wieder ein Beispiel: Wie bereits erwähnt wurde, ist das Vorliegen einer Emotion nicht davon abhängig, ob das Objekt der Emotion tatsächlich existiert. Es reicht aus, dass wir uns auf die Vorstellung des Objekts beziehen. Diese Idee lässt sich noch weiter entwickeln. Vielfach beziehen wir uns nämlich in unseren Emotionen auf rein fiktionale Objekte, von denen wir zudem auch noch wissen, dass es sich um rein fiktionale Objekte handelt. Wir können beispielsweise das Schicksal von Romeo und Julia als traurig empfinden, ohne auch nur einen Moment annehmen zu müssen, dass wir es dabei mit einer wahren Geschichte zu tun hätten. Die Objekte, auf die wir uns dann beziehen, sind also rein fiktional.25 Daraus ergibt sich aber ein Problem für die Annahme, eine Emotion sei dann schon als religiös zu bezeichnen, wenn Gott ihr Bezugsobjekt darstellt. Ein Subjekt könnte schließlich Gott als rein fiktionales Objekt ansehen und dann (vielleicht angeregt durch einzelne Bibelpassagen o. ä.) bestimmte Emotionen im Hinblick auf dieses Objekt empfinden. Dieser Fall ist deshalb problematisch, weil wir bei diesen rein fiktionalen Bezügen vermutlich nicht davon sprechen wollen würden, dass es sich um eine genuin religiöse Emotion handelt. Das Problem ist, dass sich dann meine Furcht vor Gott nicht von der Furcht unterscheiden würde, die ich beispielsweise vor einer Märchengestalt oder einem Fabelwesen empfinden könnte. Religion würde hier als rein fiktionaler Kontext verstanden, die Emotion selbst würde nur im Rahmen dieses Kontexts auftreten. Genau das scheint aber mit ›religiösen Gefühlen‹ nicht gemeint zu sein. Auch der Versuch, den Bezug auf ein bestimmtes Objekt als hinreichendes Kriterium zu etablieren, scheitert also. Allerdings weist das aufgezeigte Problem zugleich auf einen alternativen Lösungsansatz hin. Es hat sich gezeigt, dass Emotionen dann scheinbar nicht als religiös gelten können, wenn derjenige, der sie empfindet, Gott als rein fiktionales Objekt betrachtet. Also könnte man annehmen, dass Gefühle nur dann als religiös zu bezeichnen sind, wenn sie ihre Ursache (oder zumindest eine Teilursache) im Glauben des Subjekts an bestimmte religiöse Inhalte (z. B. die Existenz Gottes) haben. Diese Option zur Definition religiöser Gefühle und ihre Abgrenzung von nicht-religiösen Gefühlen wollen wir nun im Folgenden genauer betrachten.
25 Allerdings gibt es eine Debatte darüber, ob es sich bei diesen Emotionen nur um QuasiEmotionen handelt. Vgl. z. B. Walton, Fearing Fictions.
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Die Kausalität
Die Trennung von Kausalität und Objekt einer Emotion mag zunächst erstaunen. Die Annahme, dass dasjenige, was eine Emotion verursacht, auch dasjenige sein muss, auf das sich die Emotion richtet, scheint unserer alltäglichen Haltung viel näher zu kommen. Eine genauere Betrachtung ergibt jedoch schnell, dass die Trennung zwischen Objekt und Ursache wichtig ist, da diese beiden strukturellen Elemente durchaus nicht in eins fallen. So können beispielsweise bestimmte emotionale Zustände wie Wut wesentlich durch die Gabe von Medikamenten beeinflusst werden. Die Einnahme des Medikamentes wäre dann die Ursache (oder zumindest eine Teilursache) der Emotion. Die Emotion selbst kann sich trotzdem auf ein bestimmtes Objekt richten. Zudem können sich Emotionen auf Objekte richten, die von vornherein nicht als ihre Ursachen in Frage kommen, weil sie etwa weit in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegen: So kann ich etwa den Brand der Bibliothek von Alexandria betrauern oder mich auf meine Geburtstagsparty am kommenden Wochenende freuen.26 Es stellt sich damit die Frage, ob der Schlüssel zur Definition religiöser Gefühle in ihrer spezifischen Kausalität – im Unterschied zu ihren Objekten – liegt. Natürlich könnte man, wie in der Tradition mehrfach geschehen, behaupten, dass solche Gefühle direkt von Gott verursacht werden.27 In einer solchen Behauptung werden aber natürlich starke metaphysische Annahmen gemacht, die sich (vermutlich) keiner sehr weitreichenden Akzeptanz erfreuen dürften. Wir werden diesen Vorschlag deshalb hier beiseite lassen. Eine zweite Möglichkeit bestünde (wie bereits erwähnt) darin, zu behaupten, dass religiöse Gefühle ihre Ursache bzw. zumindest eine Teilursache immer im Glauben des Subjekts oder in seiner Überzeugung haben, dass Gott existiert o. ä.28 Aber auch dieses Kriterium scheint nicht notwendig zu sein. Es scheint durchaus möglich, dass es religiöse Gefühle gibt, die als Anfangspunkt einer religiösen Einstellung gelten können (also dieser Einstellung schon vorausgehen). Der Gedanke, dass religiöse Emotionen möglicherweise das Fundament (zumindest mancher religiöser Überzeugungen) darstellen, findet sich bereits bei William James, der diesen Gedankengang wie folgt zusammenfasst: 26 Vgl. zu dieser Unterscheidung etwa Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, I, § 476; vgl. auch Kenny, Action, Emotion and Will, 49 ff. 27 Vgl. Järveläinen, Religious Emotions, 71 – 94. 28 Es gibt noch eine von Järveläinen diskutierte dritte Möglichkeit. Diese lautet: Religiöse Emotionen sind solche, deren Ursache ein religiöser Gegenstand ist. Dieser Ansatz steht aber demselben Problem gegenüber wie die Identifizierung über das Objekt der Emotion. Es kann sein, dass man ein rein fiktionales Verhältnis zu diesen Gegenständen einnimmt. In diesem Fall würden wir dann nicht von einer religiösen Emotion sprechen.
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When I call theological formulas secondary products, I mean that in a world in which no religious feeling had ever existed, I doubt whether any philosophical theology could ever have been framed. I doubt if dispassionate intellectual contemplation of the universe, apart from inner unhappiness and need of deliverance on the one hand and mystical emotion on the other, could ever have resulted in religious philosophies such as we now possess.29
Das Besondere an diesen Erlebnissen scheint zu sein, dass sie gerade nicht voraussetzen, dass das Subjekt an die Existenz Gottes glaubt, sondern dass dieser Glaube eher das Ergebnis einer Erfahrung ist. Das bedeutet aber, dass der Glaube nicht als Ursache der Erfahrung gewertet werden kann. Trotzdem ist es nicht irrelevant, ob eine Emotion aus einem bestimmten Glauben heraus entsteht. Tatsächlich scheint die Behauptung plausibel, dass es sich hierbei um eine hinreichende Bedingung für das Vorliegen einer religiösen Emotion handelt. Das heißt, wenn eine Emotion tatsächlich ihre Ursache (oder Teilursache) in einer religiösen Überzeugung oder Gewissheit hat, dann ist es auch eine religiöse Emotion. Interessanter ist allerdings genau der umgekehrte Fall, in dem bestimmte emotionale Erfahrungen ihrerseits religiöse Überzeugungen hervorrufen. In diesem Fall scheinen wir es wiederum mit dem Vorliegen einer hinreichenden Bedingung für eine religiöse Emotion zu tun zu haben. Interessanter ist dieser Fall insofern, als manche wie James davon ausgehen, dass es ohne bestimmte emotionale Erfahrungen Religion überhaupt nicht gäbe. Damit wird Emotionen nicht eine bloß unterstützende Funktion beim Erwerb religiöser Überzeugungen zugeschrieben, sondern ihre Rolle hierbei wird als konstitutiv und unverzichtbar betrachtet.30 Wie eingangs dargelegt, wollen wir im Rahmen dieses Beitrags allerdings eine solche erkenntnistheoretische Konstitutivitätsthese weder verteidigen noch bestreiten. Entscheidend ist hier, dass es selbst unter ihrer Voraussetzung keine notwendige Bedingung für das Vorliegen einer religiösen Emotion ist, dass diese Emotion (bestimmte) religiöse Überzeugungen verursacht. Denn ist der Glaube einmal in der Welt, könnte er seinerseits Emotionen bewirken, die nicht umgekehrt wieder Ursache neuer religiöser Überzeugungen sein müssen. Man beachte, dass es sich bei beiden der nun betrachteten Kriterien nicht um eine der Emotion inhärente Eigenschaft handelt. Wir müssen vielmehr auf die Antezendenz- bzw. Konsequenzbedingungen der Emotion rekurrieren, um sie (also die Emotion) als religiöse auszuweisen. Insofern würden sich (manche) religiösen Gefühle dann bezüglich ihres Zustandekommens von anderen Gefühlen unterscheiden. Ihre innere Struktur wäre aber identisch mit der anderer Emotionen. 29 James, Varieties, 422. 30 Zu dieser Unterscheidung vgl. Döring/Peacocke, Handlungen, Gründe und Emotionen, 95 f.
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Sabine Döring / Anja Berninger
Das Verhältnis zum Selbst
Järveläinen vertritt die Ansicht, dass religiöse Gefühle sich auch dadurch auszeichnen, dass sie ein sehr spezielles Verhältnis zum Selbst haben.31 Dieser Konzeption zufolge bestimmen religiöse Gefühle in besonderem Maße, wer wir sind. Sie können dies auf zwei verschiedene Arten und Weise tun, je nachdem, welche Konzeption des Selbst wir hier zugrunde legen: Zum einen können wir sie als Ergebnis eines existentiellen Entscheidung auffassen. Zum anderen können wir diese Gefühle aber auch in eine narrative Konzeption des Selbst einbetten. In diesem Fall würden dann religiösen Gefühlen eine zentrale Rolle innerhalb dieser Narrative zukommen.32 Bei näherer Betrachtung scheint aber auch dieses Kriterium nicht brauchbar zu sein, um religiöse Emotionen von anderen Emotionen zu unterscheiden. Es ist kein hinreichendes Kriterium, weil durchaus nicht nur religiöse Gefühle diese existentielle Dimension aufweisen. Vielmehr scheint ein besonderes Verhältnis zum Selbst das zu sein, was weite Teile unserer emotionalen Erfahrungen auszeichnet. Emotionen weisen scheinbar immer auf Dinge hin, die existentielle Bedeutung für uns haben – oder zumindest in dem Moment, in dem wir die Emotion empfinden, diese Bedeutung zu haben scheinen. So ist beispielsweise die Trauer, die man über das Scheitern der eigenen Ehe empfinden mag, ein klares Zeichen dafür, dass diese Beziehung für einen selbst existentiell wichtig ist. Empfindet man hingegen keine Emotion, so scheint dies auch wiederum ein klares Indiz dafür, dass die Beziehung schon lange keine Bedeutung mehr für das eigene Leben hatte (oder sie vielleicht nie gehabt hat). Wie steht es nun mit der Auffassung, dass es sich hierbei um ein notwendiges Kriterium handelt? Sicherlich kann man diese Ansicht vertreten. Das Problem ist aber, dass es sich scheinbar um ein Kriterium handelt, das Emotionen insgesamt auszeichnet. Das heißt, es handelt sich eben nicht um etwas, das uns erlaubt, religiöse Gefühle besser zu verstehen. Dementsprechend handelt es sich zwar um ein notwendiges Kriterium, aber um eines, das für die Unterscheidung zwischen religiösen und anderen Emotionen nichtssagend ist. Natürlich lässt sich bestreiten, dass alle Emotionen diese existentielle Dimension haben. Beispielsweise könnte man bezweifeln, dass die Wut, die man empfindet, weil man einen Zug verpasst hat, tatsächlich als existentielles Gefühl gelten kann. Dieser Einwand lässt sich dadurch entkräften, dass es dem Subjekt im Erleben der aktualen bewussten Emotion dennoch so scheint, als wäre das Verpassen des Zugs von existentieller Bedeutung. Erst nachträglich können wir 31 Järveläinen, Religious Emotions, 59 – 67. 32 Järveläinen gibt hier einerseits Kierkegaard, andererseit Ricœur und Hauerwas als Bezugspunkte an.
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Was sind religiöse Gefühle? Versuch einer Begriffsklärung
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erkennen, dass wir in der gegebenen Situation überreagiert haben. Dasselbe gilt aber auch für religiöse Gefühle. Beispielsweise kann man im Nachhinein erkennen, dass man vielleicht in einer religiös aufgeladenen Situation mit Ergriffenheit o. ä. reagiert hat, diese Situation aber nicht die existentielle Bedeutung hat, die man ihr im Moment der emotionalen Involvierung zugeschrieben hätte.
4.
Phänomenalität
Ein weiteres mögliches Differenzierungskriterium lässt sich wiederum aus William James’ Überlegungen ableiten. James schreibt (wie oben bereits zitiert), dass religiöse Gefühle eine bestimmte Gefühlsdimension aufweisen, die er als Ernsthaftigkeit bzw. Feierlichkeit (solemnity) bezeichnet. Eine ähnliche Formulierung findet sich auch bei Otto, der schreibt: Wir stoßen als Christen hier zweifellos zunächst auf Gefühle, die wir mit verminderter Stärke auch auf anderen Gebieten kennen: auf Gefühle der Dankbarkeit, des Trauerns, der Liebe, der Zuversicht, der demütigen Unterordnung und der Ergebenheit. Aber das erschöpft den frommen Moment keineswegs, und das alles ergibt noch nicht die ganz artbesonderen Züge des ›Feierlichen‹, ergibt noch nicht das Solemne der seltsamen und nur hier vorkommenden Ergriffenheit.33
Darauf aufbauend könnte man annehmen, dass religiöse Gefühle eine besondere, ihnen eigene Gefühlsdimension aufweisen. Das heißt, was religiöse Emotionen als einheitliche Gruppe auszeichnete, wäre dann nicht ein bestimmter Inhalt etc., sondern vielmehr die Tatsache, dass sich alle religiösen Emotionen auf eine bestimmte Art und Weise anfühlen. Allerdings scheint auch dieses Kriterium bei näherer Betrachtung nicht geeignet, um religiöse von anderen Gefühlen zu unterscheiden. Denn erstens können natürlich auch nicht-religiöse Gefühle ernsthaft oder feierlich sein. Man müsste also die Erfahrungsqualität tatsächlich noch weiter einschränken, um religiöse Gefühle von anderen Gefühlen zu unterscheiden. Zweitens scheint prima facie nicht einleuchtend, dass alle religiösen Gefühle tatsächlich dieselbe Erfahrungsqualität haben sollen. Es scheint sogar aus Sicht vieler Emotionsphilosophen eher unplausibel, dass das der Fall ist. Vielfach wird nämlich angenommen, dass die Erfahrungsqualität einer Emotion auf das engste mit ihrem Inhalt verknüpft ist.34 Wie bereits aufgezeigt wurde, hängt der Inhalt einer 33 Otto, Das Heilige, 8 f. 34 Vgl. Goldie, The Emotions; Helm, Emotional Reason; Döring, Seeing What to Do. Anika Lutz diskutiert verschiedene Möglichkeiten, wie genau diese Verknüpfung konzipiert werden kann; vgl. Lutz, Phenomenal Character of Emotional Experience.
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Emotion wesentlich davon ab, auf welches Objekt sie gerichtet ist. Da aber manche religiösen Emotionen Gott als ihr Objekt haben, andere jedoch nicht, scheint es, dass sie zugleich auch hinsichtlich ihrer Erfahrungsqualität divergieren müssten. Man könnte natürlich annehmen, dass die Erfahrungsqualität, von der James spricht, etwas Zusätzliches zu der Erfahrungsqualität ist, die Emotionen ohnehin schon aufweisen (z. B. weil sie ein bestimmtes Objekt haben oder einem bestimmten Typ von Emotion zuzurechnen sind). Diese Lösung scheint aus zwei Gründen wenig befriedigend: Zum einen muss man sich fragen, was diese zusätzliche Erfahrungsqualität genau ist und warum sie nur bei religiösen Gefühlen auftreten sollte. Zum anderen ist dann sehr fraglich, warum religiösen Gefühlen ein so herausgehobener Stellenwert innerhalb zahlreicher Religionsgemeinschaften zugeschrieben werden sollte. Schließlich hätten wir es dann nur mit alltäglichen Emotionen zu tun, die zudem eine bestimmte Erfahrungsqualität aufweisen, die aber in keinerlei Verbindung zu ihrem Inhalt steht. Erfahrungsqualitäten dieser Art werden gemeinhin als reine Epiphänomene ohne praktische oder inhaltliche Relevanz betrachtet.
5.
Fazit
Religiöse Gefühle bilden eine heterogene Gruppe von Emotionen. Es gibt keine einzelne Eigenschaft oder eine Gruppe von Eigenschaften, die allen religiösen Gefühlen gemeinsam wären und sie eben zu solchen religiösen Gefühlen machen würden. Allerdings scheint es einige Kriterien zu geben, die man als hinreichend für das Vorliegen einer religiösen Emotion werten kann. Hier ist zu nennen, dass eine Emotion durch eine bestimmte religiöse Überzeugung (wie etwa den Glauben an die Existenz Gottes) verursacht worden ist oder umgekehrt ihrerseits eine religiöse Überzeugung verursacht und für den Erwerb dieser Überzeugung möglicherweise sogar konstitutiv ist. Allerdings wurde im Rahmen unserer Untersuchung auch deutlich, dass wir es in diesem Fall nicht mit einer inhärenten Eigenschaft der Emotion, sondern vielmehr mit einem kausalen Antezedenz bzw. Konsequenz zu tun haben. Das Ergebnis unserer Analyse kann insofern kaum überraschen, als ja bereits strittig ist, ob sich all die Phänomene, die der Ausdruck ›Gefühl‹ in unserer Alltagssprache und in der Geschichte der Philosophie und Psychologie beschreibt, auf einen Begriff bringen lassen.35 Ebensowenig wie hieraus die Konsequenz gezogen werden sollte, dass man nicht mehr sinnvoll von ›Gefühlen‹ 35 Vgl. Rorty, Aristotle on the Metaphysical Status of Pathe; Griffiths, What Emotions Really Are; vgl. auch Dixon, From Passions to Emotions.
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Was sind religiöse Gefühle? Versuch einer Begriffsklärung
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(oder jedenfalls ›Emotionen‹) sprechen kann36, wäre es verfehlt, wollte man aus dem Ergebnis unserer Analyse folgern, dass die Rede von ›religiösen Gefühlen‹ unsinnig sei. Es ist nicht der Fall, dass man der Rede von religiösen Gefühlen überhaupt keinen Sinn abgewinnen kann. Vielmehr scheint es sich nach unserer bisherigen Analyse um eine Sammelbezeichnung für die unterschiedlichen Beziehungen zu handeln, in denen Religion bzw. Religiosität zu Emotionen steht. Ist man sich der Vielschichtigkeit des Phänomens bewusst, ist auch gegen die Verwendung eines solchen Sammelbegriffs (eben als Sammelbegriff) nichts einzuwenden. Unsere Analyse hat allerdings auch gezeigt, wie komplex die unterschiedlichen Beziehungen zwischen Religion und Emotion sind. Diese verschiedenen Beziehungen bedürften in jedem Fall weiterer Analyse, um sie besser zu verstehen und damit auch einem Verständnis religiöser Gefühle insgesamt näher zu kommen.
Literatur Aristoteles, Rhetorik, übers. u. hrsg. von G. Krapinger, Stuttgart 1999. Arnold, Magda B., Emotion and Personality : Psychological Aspects, New York 1960. Brady, Mıchael S., Recalcitrant Emotions and Visual Illusions, American Philosophical Quaterly 44, 2007, 273 – 284. Crane, Tım, The Non-Conceptual Content of Experience, in: Ders. (Hg.), The Contents of Experience: Essays on Perception, Cambridge 1992, 136 – 157. Dixon, Thomas, From Passions to Emotions: The Creation of a Secular Psychological Category, Cambridge 2003. Döring, Sabine, Die Moralität der Gefühle: Eine Art Einleitung, in: Dies./Mayer, Verena (Hg.), Die Moralität der Gefühle, Sonderband der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, Bd 4, Berlin 2002, 15 – 35. Dies., Seeing What to Do: Affective Perception and Rational Motivation, Dialectica 61, 2007, 363 – 394. Dies., The Logic of Emotional Experience: Noninferentiality and the Problem of Conflict without Contradiction, Emotion Review 1, 2009, 240 – 247. Dies. (Hg.), Philosophie der Gefühle, Frankfurt a.M. 2010. Dies./Peacocke, Christopher, Handlungen, Gründe und Emotionen, in: Döring, Sabine/Mayer Verena (Hg.): Die Moralität der Gefühle, Sonderband der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, Bd 4, Berlin 2002, 81 – 103. Frıjda, Nıco H., The Emotions, Cambridge 1986. Gaita, Raımond, A Common Humanity : Thinking about Love and Truth and Justice, London 2000. Goldıe, Peter, The Emotions: A Philosophical Exploration, Oxford 2000.
36 Vgl. exemplarisch Roberts, Emotions, Kap. 1.
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Greenspan, Patrıcıa S., Emotions as Evaluations, Pacific Philosophical Quarterly 62, 1981, 158 – 169. Griffiths, Paul, What Emotions Really Are: The Problem of Psychological Categories, Chicago 1997. Helm, Bennett, Emotional Reason: Deliberation, Motivation and the Nature of Value, Cambridge 2001. James, William, The Varieties of Religious Experience: A Study in Human Nature, New York 1936. Järveläinen, Petri, A Study on Religious Emotions, Helsinki 2000. Kenny, Anthony, Action, Emotion and Will, London 1963. Lutz, Anıka, Illuminating the Phenomenal Character of Emotional Experience: A Look at Perception Theory (unveröffentliches Vortragsmanuskript). Moore, George Edward, A Reply to My Critics, in: Schlipp, Paul A. (Hg.), The Philosophy of G. E. Moore, Evanston 1942. Nussbaum, Martha, Emotions as Judgments of Value and Importance, in: Solomon, Robert (Hg.), Thinking about Feeling, New York 2004, 183 – 199. Otto, Rudolf, Das Heilige: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Stuttgart 111923. Reisenzein, Rainer, Denken und Emotionen, in: Funke, Joachim und Frensch, Peter (Hg.): Handbuch der Allgemeinen Psychologie – Kognition, Handbuch der Psychologie, Bd. 4, Göttingen 2006, 475 – 484. Roberts, Robert, Emotions: An Essay in Aid of Moral Psychology, Cambridge 2003. Ders., Emotions Research and Religious Experience, in: Corrigan, John (Hg.), The Oxford Handbook of Religion and Emotion, Oxford 2008, 490 – 506. Rorty, Amélıe Oksenberg, Aristotle on the Metaphysical Status of Pathe, Review of Metaphysics 37, 1984, 521 – 546. Scherer, Klaus R./Schorr, Angela/Johnstone, Tom (Hg.), Appraisal Processes in Emotion: Theory, Methods, Research, Oxford 2001. Solomon, Robert C., Emotions, Thoughts, and Feelings: Emotions as Engagements with the World, in: Ders. (Hg.), Thinking about Feeling, New York 2004, 76 – 88. Tappolet, Christine, Êmotions et Valeurs, Paris 2000. Taylor, Gabrıelle, Pride, Shame, and Guilts: Emotions of Self-Assessment, Oxford 1985. Teronı, Fabrıce, Emotions and Formal Objects, Dialectica 61, 2007, 395 – 415. Walton, Kendall, Fearing Fictions, Journal of Philosophy 75, 1978, 5 – 27. Wıttgensteın, Ludwıg, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1971. Wynn, Mark, Emotional Experience and Religious Understanding: Integrating Perception, Conception and Feeling, Cambridge 2005.
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Volker Gerhardt
Glauben: Ein Gefühl, das Wissen trägt und Nichtwissen erträglich macht
1.
Die Unerlässlichkeit des Wissens
Das Wissen gehört zu den konstitutiven Bedingungen des menschlichen Daseins. Zwar kann man in bestimmten Lebenslagen darüber klagen, dass es einem fehlt oder lückenhaft ist. Doch dann geht es um begrenzte Wissensbestände, mit denen man zu wenig oder gar nicht vertraut ist. Aber schon die Klage macht deutlich, wie sehr man auf das Wissen angewiesen ist. Die Angewiesenheit auf das Wissen darf natürlich nicht dazu führen, es zum Ausschlusskriterium für menschliches Leben zu erheben. Wer weiß schon, was er im Schlaf tatsächlich noch weiß? Überdies gibt es Fälle von Erschöpfung und Verwirrtheit, von Ohnmacht, Narkose oder Trunkenheit, in denen man seinen personalen Status als Mensch nicht verliert. Das Gleiche gilt für jene, die durch ihr Lebensalter, durch gravierende Mängel in der Erziehung oder durch einen psychophysischen Defekt nicht in der Lage sind, über Wissen zu verfügen. Sie sind und bleiben Menschen. Gleichwohl ist die stets auf eine durchschnittliche Funktion bezogene und zur Norm erhobene Lebensleistung des Menschen an die Fähigkeit zu wissen gebunden. Über sie muss jeder individuell verfügen können. Folglich ist es das Ziel einer jeden Erziehung, dass jeder Wissen erwirbt und es individuell unter Beweis stellen kann, obgleich der größte Teil des Wissens menschheitsgeschichtlich vererbt und kulturell versichert ist. Dennoch kann jeder sein eigenes Wissen haben, mit dem er – meist innerhalb der logischen, grammatischen und pragmatischen Regeln – persönlich umzugehen hat. Es ist wichtig, vor allem anderen auf diesen an das Leben des Einzelnen gebundenen Umstand aufmerksam zu machen. Denn obgleich das Wissen in seinen erkannten und anerkannten Beständen allgemein und öffentlich ist, ist der Zugang zum Wissen stets an individuelle Voraussetzungen der Aufmerksamkeit, der Erinnerung, des Erlebens und des Interesses gebunden. Damit spielen Erwartungen und Überzeugungen der jeweiligen Personen eine große
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Rolle, die uns am Ende erkennen lassen, warum der letztlich auch nur individuell wirksame Glauben so eng mit dem Wissen verwoben sein kann. Die sokratische Anfangsfrage des Philosophierens macht uns klar, dass es (solange man bewusst als Mensch unter Menschen lebt) unmöglich ist, dem Wissen zu entkommen. Denn streng genommen ist die Behauptung: »Ich weiß, dass ich nichts weiß«, ein Widerspruch in sich. Mindestens dies muss ich ja wissen, wenn ich mein Wissen generell in Abrede stelle. Es ist unmöglich, dass man gar nichts von der Welt und von sich selber weiß. Man müsste zumindest wissen, dass man nichts weiß. Also darf man sagen, dass der Mensch konstitutionell auf das Wissen angewiesen ist. Es gäbe viel zu sagen, um diese fundierende, alle technischen, sozialen, kulturellen und politischen Leistungen tragende Rolle des Wissen anschaulich zu machen, und ein Aufsatz reichte nicht aus, die Besonderheiten des Wissens, seinen selbst bereits sozial strukturierten, in allem auf Öffentlichkeit und auf Kommunikation angelegten Charakter vor Augen zu führen. Da ich das in anderen Zusammenhängen wiederholt zur Darstellung gebracht habe1, setze ich es einfach voraus, springe mitten hinein in die Erörterung des zweiten Themabegriffs und setze mit einer unscheinbaren, aber folgenreichen Behauptung ein: Auch die Fähigkeit zu glauben setzt die Fähigkeit zu wissen voraus.
2.
Glauben ist personale Einstellung zum Wissen
Man sagt gewiss nicht zu viel, wenn man die Ansicht vertritt, dass jeder Glaube zunächst einen Mangel an Wissen zu kompensieren sucht. Und, gesetzt, es wäre möglich, zu wissen, wo man bislang nur glauben konnte, brauchte vom Glauben keine Rede mehr zu sein. Freilich wissen wir nur zu genau, dass wir nicht alles wissen können, vor allem nicht von dem, was wir nur zu gern wissen möchten. Die Klügeren haben sich auf die Notwendigkeit des Glaubens so sehr eingestellt, dass ihnen das Angebot, alles wissen zu können, gar nicht erst seriös erscheinen kann. Aber man kann dem Gläubigen immerhin die Frage stellen, ob er denn meint, auch unter den Bedingungen des ewigen Lebens, gleichsam im Himmel, noch glauben zu müssen, oder ob im Angesicht Gottes nicht alles in das klare Licht des Wissens getaucht sein wird. So gefragt, dürfte auch der mit dem größten Ernst in seinem Glauben verwurzelte Mensch das Zugeständnis machen, dass dem Wissen ein Primat eingeräumt werden muss. Also gilt: Nur sofern wir Wissen haben, haben wir auch Glauben, der sich mit der Hoffnung auf eine sachliche Bedeutung, einen persönlichen Wert und seine 1 Zuletzt in: Gerhardt, Öffentlichkeit.
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Glauben: Ein Gefühl, das Wissen trägt und Nichtwissen erträglich macht
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praktische Wirksamkeit verbindet. Und da es, zumindest unter den Kritikern des Glaubens, niemanden gibt, der nicht überzeugt ist, etwas zu wissen, kann auch niemand bestreiten, dass er selbst den Glauben nötig hat. »Wissen«, so sagt Nietzsche, »ist auf Glauben gegründet.« Deshalb kann er der Ansicht sein, dass wir Gott nicht loswerden, solange wir noch an die Wahrheit, die Wissenschaft oder die Grammatik glauben.2 Also glaubt jeder Mensch, der etwas weiß, und er glaubt ausnahmslos, dass ihm dieses Wissen etwas bedeutet. In diesem Glauben verlässt er sich auf sein Wissen und vertraut darin zugleich sich selbst – zumindest sofern er sein Wissen (suchend, fragend, behauptend) zur Geltung bringen kann. Das aber kann er nur, solange er glaubt, auch von anderen verstanden werden zu können. Damit setzt er auf ein Minimum an sozialer Verbindlichkeit: Er hat die Hoffnung, dass sein Wissen auch anderen etwas bedeutet – zunächst und vor allem als Wissen von Sachverhalten, die auch von anderen erkannt werden können. Darüber hinaus kann das geäußerte Wissen als Selbstaussage begriffen werden, in dem ein Individuum über sich selber Auskunft gibt – selbst dann, wenn es nur über belanglose Dinge oder über abstrakte wissenschaftliche Theorien spricht. Diese auf Sachverhalte gestützte Möglichkeit zur Verständigung mit sich und seinesgleichen bietet das Wissen unter allen vorkommenden Fällen. Die Dreiheit aus Selbst, Gemeinschaft und Welt gehört zur Struktur des Wissens, die sich bei allen Menschen findet. Nur die Art, in der sie ihr Vertrauen in das Wissen zum Ausdruck bringen, differiert nach den Kulturen und den Individuen, die sich durch ihr Wissen zu verbinden, aber auch zu unterscheiden suchen. Die basalen Elemente eines jeden Wissens, nämlich das Vertrauen in die zum Gegenstand gemachte Welt, in die Verständlichkeit innerhalb der menschlichen Gemeinschaft sowie in den Wissenden selbst, sind in allen Fällen gegeben. In diesen drei sich allererst im Wissen eröffnenden Dimensionen kommt das Wissen zur Geltung. Es stammt aus einer Anteilnahme an den Dingen, aus dem Bedürfnis nach Mitteilung sowie aus dem Verlangen nach Selbstbestätigung des Wissens. Das Interesse an der Welt, die einem bewusst erst in der Erkenntnis gegenübersteht, an der Gemeinschaft, zu der man selbst gehört, und am Selbst, das man erhalten und entfalten möchte, ist die Triebkraft, aus der die stets gesuchte objektive Sicht der Dinge hervorgeht. Und in allen drei Motivkomplexen wirkt ein Glaube an die Verbindlichkeit im Wissen selbst. Durch die bloße Tatsache des Wissens wird die gleichermaßen kindliche wie vernünftige Erwartung, dass sich im Leben alles zusammenfügt, gestärkt. Wenn sich, wie es im Wissen der Fall ist, alles mit allem in einen begrifflichen Kontext bringen lässt, hat der Wunsch nach Einheit in der Vielfalt einen logischen Anhaltspunkt. So gewinnt das Selbst- und Weltvertrauen einen rationalen Cha2 Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 78.
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rakter, der durch Einwände aus dem Arsenal des Wissens nicht erschüttert werden kann. Denn wie sollte es gehen, dass man das Wissen grundsätzlich durch Wissen entkräftet? In der unvermeidlichen Vielfalt des Wissens, das unablässig seine eigenen Grenzen sprengt, gibt es drei Garanten seines inneren Zusammenhalts, die das Vertrauen in das Wissen stärken: erstens die Einheit des Wissenden mit sich selbst, zweitens seine sachhaltige Verbindung mit seinesgleichen und drittens die begriffliche Verknüpfung mit seiner Welt. Das sind die tragenden Elemente unserer Gewissheit im Wissen. Sie begründen die durch kein Argument abzuschwächende Überzeugung von der Tragfähigkeit des Wissens. Denn jeder Einwand gegen ein Wissen muss sich, wie gesagt, selbst auf ein Wissen stützen. Damit sehen wir, worin der Glaube an das Wissen, der, genau besehen, ein Glauben im Wissen ist, besteht: nämlich in dem Vertrauen auf die jedes Wissen tragende Verbindung von Ich, Wir und Welt, die uns in der Form eines begrifflich zugänglichen Sachverhalts gegenübersteht. Alles, was wir erkennen (oder auch nur zu erkennen meinen), wird als Einheit nach Art eines Ganzen gefasst. Sie wird im Wissen gewahrt. Da sie sich uns aber nur unter der Bedingung von Mitteilung erschließt, hat sie eine Bedeutung für die Gemeinschaft, in der wir uns über sie verständigen. Auch darauf ist der Glaube im Wissen gegründet. Schließlich hat er darin ein besonderes Gewicht, dass jeder Einzelne in der kommunikativen Anteilnahme überhaupt erst seine eigene Bedeutung erfährt. Den das Wissen zwangsläufig begleitenden Glauben kann man eine epistemische Überzeugung nennen. Der Ausdruck nimmt den griechischen Terminus für Wissen (episteme|_) auf, das schon Platon nicht von der auf eine starke Überzeugung gegründeten Meinung (doxa) trennen konnte. Eine epistemische Überzeugung ist die sich im Medium des Wissens ausbildende affektive Anteilnahme am Wissen, genauer : ein intellektuell grundiertes, zugleich aber emotional fundiertes Interesse an der Leistung des Wissens. In der erhofften Klarheit und Sicherheit des Umgangs mit Dingen und Ereignissen wollen wir uns in ein Verhältnis zu unseresgleichen setzen, in welchem wir selbst zur bestmöglichen Wirkung finden. Dieses Streben bleibt an das Wissen gebunden, kommt aber aus den organischen, sozialen, emotionalen, semantischen, logischen und ästhetischen Tiefen unseres Selbst und kann daher als Gefühl erlebt werden. Es ist ein rationales Gefühl, das Einheit in der Unterscheidung sucht, die in jeder Leistung des Wissens liegt und dennoch in jeder Leistung des Wissens überwunden werden soll. Man greift heraus, trennt und grenzt ab, wenn man etwas weiß, sucht sich aber ebendarin mit seinesgleichen zu verbinden, indem man sich (im Vorgriff auf ihr Verständnis) auf etwas bezieht, das den Wissenden gemeinsam vor Augen steht.
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3.
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Der Glaube als Gefühl
Trotz der starken Bindung des Glaubens an das Wissen spricht nichts dagegen, den Glauben als Gefühl zu begreifen. Denn sosehr er sich auf etwas bezieht, das in der Form eines Sachverhalts auf Distanz gebracht werden kann, schließt der Glauben immer auch ein Bestreben ein, mit dem Geglaubten verbunden zu sein. In seinem Glauben möchte der Gläubige dem nahekommen, an das er glaubt. Der Glaube hat daher nicht nur die Form einer propositionalen Einstellung zu etwas, das als »Ganzes«, als »Grund« oder »Sinn«, als »Vater«, »Mutter« oder »heiliger Geist«, als »Erlösung«, »Heil« oder »ewiges Leben« von Bedeutung für den Gläubigen ist. Er schließt vielmehr auch den Wunsch, ja das Verlangen ein, dem Geglaubten zuzugehören, von ihm gehört, beachtet und angenommen zu werden. Am Ende möchte er mit, durch und in seinem Glauben mit dem eins sein, was ihm sein Glaube als das Erste, Wichtigste und Umfassende eröffnet. Während man das Wissen, sosehr es seine Bestätigung auch in der Anwendung oder in der Weitergabe finden mag, als eine eher theoretische Beziehung auf das Gewusste begreifen kann, nähme man dem Glauben seinen Kern und seine Kraft, wenn er nicht das Streben hin zum Geglaubten einschlösse. Darin ist er der Liebe gleich. Glauben ist somit niemals bloße Theorie, sondern immer auch Praxis. Der junge Nietzsche hat es in einem Schulaufsatz, zwei Jahre vor dem Beginn seines später abgebrochenen Theologiestudiums, auf den Punkt gebracht: Der Glaube ist eine »Herzensangelegenheit«3 und hat somit als Gefühl zu gelten. Doch es wäre voreilig, daraus den Schluss zu ziehen, der Glaube habe mit dem Wissen nichts zu tun, sei von ihm abgetrennt oder stehe ihm sogar entgegen. Das Gegenteil ist der Fall: Der Glaube steht in einer besonderen Beziehung zum Wissen, die so eng und unverzichtbar ist, dass man von einer notwendigen Verbindung sprechen muss. Wissen gibt es nur in Verbindung mit dem Glauben, und ein Glaube verliert seinen Sinn, wenn er keinen Bezug zum Wissen hat. Aus Platzgründen kann ich diese These nur mit einigen wenigen Bemerkungen illustrieren4 : Erstens: Gefühle gehören zur sinnlichen Selbsterfahrung des Leibes. Während der einzelne sinnliche Eindruck, den die ausgebildeten Rezeptoren vermitteln, zumeist auf eine irgendwie bestimmbare Quelle außerhalb des Körpers oder auf eine lokalisierbare Ursache in ihm bezogen ist, wird im Gefühl der Leib als ganzer in Erregung versetzt. Im empfundenen Schmerz mag die Ursache eine Schnittwunde oder eine gerissene Sehne sein; auch ein schriller Ton, der ins 3 Nietzsche, Willensfreiheit und Fatum, 63. 4 Zum historischen und systematischen Hintergrund verweise ich auf: Perler, Transformationen; Döring, Philosophie der Gefühle.
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Trommelfell sticht, erfüllt noch die Bedingung der Lokalisierbarkeit. Aber als Gefühl durchläuft der Schmerz den Körper ganz, und er kann das Bewusstsein beherrschen. Das Gefühl des Hungers scheint seinen Ausgangspunkt auch, örtlich bestimmt, im Magen zu haben. Aber selbst wenn es mehrere Sensoren für ihn gäbe, ist unbestreitbar, dass er alle anderen Empfindungen überlagern und das ganze bewusste Erleben beherrschen kann. Wie Hass, Eifersucht, Neid oder Ehrgeiz, so wichtig sie für die Profilierung individueller und kollektiver Leistungen auch sein mögen, die Wahrnehmungsperspektive einschränken und das Handeln zwanghaft machen können, kann jeder an sich selbst erfahren; sollte er es nicht können, sei ihm ein Blick in beliebige Strafprozessakten empfohlen. Über die Scham hingegen wird man in Prozessakten wenig erfahren; mit ihr ist man jedoch seit der Kindheit vertraut. Ihr Auslöser mag in einer bestimmten körperlichen Blöße liegen; aber in ihrer Wirkung ergreift sie den ganzen Menschen, der sich als Person vor allen bloßgestellt sieht. Auch die Furcht braucht man niemandem zu erklären; wenn sie panisch wird, ist nicht selten von außen zu sehen, dass sie die Menschen ganz ergreifen kann. Um zu wissen, dass die durchschnittlich positiv bewerteten Gefühle der Lust Weltbilder aufhellen und ein ganzes Leben umstimmen können, muss ebenfalls niemand erst Akten studieren. Die Lust ist ein Erregungszustand, in den sich der ganze Organismus versetzt. Er macht ihn zu vielem fähig, ganz gleich ob es um große Abenteuer oder kleine Risiken, lebenslange Leidenschaften oder um den behaglichen Rückzug hinter eine Pralinenschachtel geht. Wo ein Gefühl, wie im Fall der Depression, nicht als Dauerzustand erfahren wird, ist seine situative Bedingtheit in der Regel offenkundig. Man weiß damit von seiner begrenzten Reichweite und seiner Flüchtigkeit; im Fall einer Ablenkung kann es rasch vergehen. Deshalb gelten die Gefühle als unberechenbar und unbeständig. Dennoch wohnt ihnen eine Dynamik inne, die darauf dringt, augenblicklich alles ihrem Diktat zu unterstellen. Zweitens: Die überbordende Dynamik der Gefühle wird nur deshalb nicht als fortgesetzt bedrohlich empfunden, weil sich der Leib im Gefühl ein ihn insgesamt repräsentierendes Sensorium zulegt, das wir Selbst oder Seele nennen. Es ist das zumindest sprachlich unvermeidbare Selbst, das gleichsam für den Körper fühlt und für ihn über Tun und Lassen zu entscheiden sucht. Dadurch dass der Mensch auch noch im Fühlen ein Bewusstsein der Differenz zwischen Körper und Seele haben kann, vermag er auf eine gewisse Distanz zu seinen Gefühlen zu gehen und aus den Verhaltensdispositionen, die sie auf der Ebene des Leibes sind, Optionen für seine Einstellung zu sich selbst – und damit auch für sein bewusstes Handeln – zu machen. Zusammen mit der Vielfalt, dem Wandel und der Gegensätzlichkeit der Gefühle kann das Selbst tatsächlich Optionen haben und (natürlich nicht unab-
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Glauben: Ein Gefühl, das Wissen trägt und Nichtwissen erträglich macht
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hängig von Anlass und möglichen Folgen) Direktiven für die Auswahl geben. Das gilt insbesondere in dem nur zu oft erfahrenen Widerstreit verschiedener Gefühle. Der kann nur begrenzt als angenehm oder aufschlussreich erfahren werden und drängt von sich aus auf eine Entscheidung durch das Selbst, das sich dadurch profilieren, aber auch in seiner Schwäche verlieren kann. In jedem Fall bieten Gefühle Gelegenheit zur Entscheidung, die sich selbst wiederum nicht ohne ein Gefühl, sei es der Entschlossenheit, der Erleichterung oder der Verzweiflung, durchsetzen und durchhalten lässt. Widerstreitende Gefühle, das ist eine zentrale Einsicht, vermögen Entscheidungen zu forcieren; im Vorfeld können sie das Einschätzen und Abwägen fördern und im Ergebnis zur Stärkung (oder zur Schwächung) des Selbst beitragen. Charles Darwin hat das am Beispiel der Furcht illustriert: Wer die äußeren Anzeichen der Furcht nicht kontrolliert, wird intensivere Furcht empfinden; und wer in Passivität verharrt, wenn er von Kummer überwältigt wird, verliert die beste Chance, die Elastizität des Geistes wiederzuerlangen.5
Darwin hat eine Gefühlstheorie entworfen, die in einer dem heutigen Naturwissenschaftler vermutlich sträflich erscheinenden Weise die Rolle des Selbst und damit auch der Seele und des Geistes zur Geltung bringt, ohne die evolutionäre Verbindung zwischen Tier und Mensch in Zweifel zu ziehen. Gefühle kommen nach Darwins Ansicht nur unter Bedingungen der Aufmerksamkeit für sich selbst zur Geltung. Self-attention wird nicht erst für die Beschreibung von Gefühlen benötigt. Sie gehört bereits zur lebendigen Wirksamkeit der Gefühle, die bereits durch die Aufmerksamkeit gegenüber sich selbst modifiziert werden können. Besonders deutlich wird das durch Darwins Hinweis auf die Wechselwirkung zwischen Gefühl, Ausdruck und entschiedener Tätigkeit. Aber die Distanzierung mit Hilfe des Selbst (und wie Darwin ganz unbefangen sagen kann: durch den von ihm natürlich mind genannten »Geist«) geht nie so weit, dass einer ohne Gefühle handeln kann. Vielmehr bleiben die Gefühle die erlebten Antriebe unseres Lebens, ohne die wir uns nicht von selbst bewegen könnten. Die Eigenständigkeit des menschlichen Handelns ist immer auch durch Gefühle motiviert. Das gilt selbst für das autonome Handeln aus Gründen reiner Vernunft, wie niemand besser wusste als Immanuel Kant. Wenn er gleichwohl auf den kategorischen Imperativ setzen konnte, dann deshalb, weil sich Gefühle (wenn auch nicht unbegrenzt und nicht in jeder Lage) lenken lassen. Das hat durch das dirigierende Selbst zu geschehen, das sich auf einsichtige Gründe stützen kann. Auf sie ist der kategorische Imperativ bezogen. Drittens: Gefühle sind das psychische Medium, in dem Tiere und Menschen ihr eigenes Verhalten erleben. Sie sind die innere Atmosphäre, ohne die es kein 5 Darwin, The Expression, 365.
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bewusstes Handeln gibt. Den wechselnden Stimmungen entgeht man noch nicht einmal im Traum. Sie sind, so könnte man sagen, die unerlässlichen Modifikationen des Erlebens und darin die unverzichtbaren Moderatoren allen Tuns. Ohne Gefühl kann schlechterdings gar nichts getan, zugelassen oder verhindert werden. Sie geben die Triebfedern zu erkennen, die zu einem Verhalten führen. Abwehr oder Zustimmung beruhen auf Gefühlen; Misserfolge wirken sich in Stimmungen aus, werden durch neue Erwartungen abgefedert, durch Entschuldigungen, Erklärungen, oft auch nur durch den Faktor der Zeit in neue Hoffnungen verwandelt und können allmählich in die Befriedigung übergehen, viel, ausreichend oder wenigstens etwas erfahren zu haben. Die entscheidende Leistung der Gefühle aber tritt im Verhältnis zur Zukunft hervor. Wir wissen, dass sie kommt, zugleich aber ist es das Wissen, das die von ihr eröffnete Aussicht problematisch macht: Das Wissen könnte uns, wenn wir es wirklich ernst nehmen wollten und nur für den Fall etwas zu tun gedächten, in dem wir über sicheres Wissen verfügen, in augenblickliche Erstarrung verfallen lassen. Doch das geschieht nicht, weil wir Erwartungen und Überzeugungen haben, die eine fortwährende Verlängerung der Gewissheit in die nächste Situation hinein vornehmen. Im bewussten Zustand sind Gefühle immer gegenwärtig. Sie schaffen die Kontinuität des Erlebens, auf der die Durchgängigkeit bewussten Tuns und Lassens beruht. Vornehmlich ist das die Leistung des Vertrauens, zu der sich zwischen Gefühl und Wissen changierende Einstellungen wie Überzeugungen und Meinungen gesellen. Das Vertrauen in den erfahrenen Stand und Gang der Dinge sowie das zugehörige Vertrauen in die eigenen Kräfte sind elementar. Darin bleiben wir immer wie Kinder, die sich wie selbstverständlich auf das Dasein einlassen, in das sie hineingeboren werden. Das Wissen ist in der Lage, uns einen Teil dieses Vertrauens zu nehmen; doch ohne Selbst- und Weltvertrauen lässt sich nicht leben; schließlich brauchen wir es allein schon, um uns vom Wissen überzeugen zu lassen. Angesichts seiner begrenzten Reichweite, seiner fortgesetzten Zunahme und der Leichtigkeit, mit der man es vergessen kann, ist es alles andere als selbstverständlich, dass man ihm zutraut, die ganze Last des Lebens zu tragen. Viel wichtiger aber ist, dass diese Wertschätzung des Wissens gar nicht allein auf einem Wissen beruht. Die Option für das Wissen ist auf Hoffnungen gegründet. In sie geht die Faszination durch das rein Sachliche und Exakte ein, zu der auch das Gefühl der Sicherheit gehört, das sich sowohl mit dem höheren Radius der Verfügung wie auch mit dem Distanzgewinn durch das Wissen einstellen kann. Und so ist es das Wissen, das ein Vertrauen begründet, das wir wiederum in das Wissen investieren, ohne uns dabei allein auf das Wissen berufen zu können. Wissen löst Gefühle aus, die uns dann für immer neues Wissen, ja, sogar für das Wissen überhaupt votieren lassen, ohne auch nur zu wissen, was das Ganze des Wissens sein könnte.
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Glauben: Ein Gefühl, das Wissen trägt und Nichtwissen erträglich macht
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Kurz: Die starke Option für das Wissen beruht auf einem Gefühl, das wir, wie sich noch zeigen wird, mit vollem Recht als Glauben an das Wissen bezeichnen können. Dieser Glaube, der gelegentlich wie Ahnungs- oder Bedenkenlosigkeit erscheinen mag, bewahrt uns davor, in ständiger Angst vor dem Kommenden leben zu müssen. Dass der Tod auch zu unserer Zukunft gehört, darf dabei nicht vergessen werden. Jeder braucht das Vertrauen in seine eigenen Kräfte, das die Erwartung einschließt, dass sie in die Welt passen, auf die sie gerichtet sind. Es ist mit dem Glauben verbunden, dass uns das Wissen nicht nur einfach nützlich ist, sondern auch als ein integraler Bestandteil der Bildung angesehen werden kann, auf der unsere vernünftige Selbstschätzung beruht. Dieses Vertrauen und dieser Glaube mögen durch noch so viele gute Gründe gerechtfertigt sein, die sich zu einem Teil auch auf Wissen stützen, doch sie sind und bleiben Gefühle. Viertens: Es wäre ein Irrtum zu denken, Gefühle seien nur durch das disponierende Selbst, durch dessen nach innen wie nach außen gerichtete Aufmerksamkeit, sei es durch die Kenntnis von Gefahren oder die Bewertung von Chancen, mit dem Wissen verbunden. Es ist vielmehr so, dass ihnen selbst ein erheblicher epistemischer Gehalt zukommt. Denn Gefühle sind keine Antipoden des Wissens, sondern sie treiben es an, lassen es nicht ruhen, verstärken, belehren und steuern es, nehmen ihm mitunter die Bedeutung und lassen uns gelegentlich sogar damit zufrieden sein. Damit zeigen sie immer auch Wirklichkeiten an, die nicht nur im bewussten Handeln, sondern auch im Wissen zu berücksichtigen sind. Gefühle sind Indikatoren einer naturalen und sozialen Realität, auf die das auf objektive Verständigung über diese Realität setzende Wissen schlechterdings nicht verzichten kann. Gefühle eröffnen dem Selbst einen Zugang zu den Triebenergien des Leibes. Sie geben etwas zu erkennen, ohne dabei an die Leistungen des (deiktischen) Zeigens gebunden zu sein. Sie sind auch nicht auf symbolische Zeichen oder Begriffe angewiesen. Vielmehr sind sie selbst das Mittel, durch das ich Zugang zu meinen Schwächen und Stärken erlange. Vor aller medizinischen Diagnose und unabhängig von möglichen Leistungstests geben sie mir Aufschluss über meine Befindlichkeit; überdies machen sie mir Dispositionen gegenwärtig, unter denen das Verhalten steht. Man kann sie daher auch korporal fundierte und psychisch validierte Einstellungen nennen. Fünftens: Gefühle sind nicht nur dem zugänglich, der sie hat. Schon in ihnen ist das Bewusstsein offen für Einsicht und Nachvollzug durch seinesgleichen. So unwahrscheinlich es angesichts der Subjektivität und Intimität vieler Gefühle auch klingen mag: Zu den Gefühlen gehört eine in ihrer Natur liegende Offenheit, die im Wissen in die Öffentlichkeit der gewussten und gedachten Gehalte übergeht. Das ändert nichts an der Zivilisationen erzeugenden Disziplin des Menschen,
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Gefühle auch verheimlichen können. Die ursprüngliche Mitteilbarkeit der Gefühle, die im begrifflichen Charakter des Wissens ins Universelle ausgreift, wird durch die prinzipielle Kommunikabilität der Emotionen nur bestätigt. Darauf ist der Glaube wie kein anderes Gefühl gegründet. Und er ist das insbesondere dann, wenn er sich auf etwas bezieht, von dem er annehmen kann, dass er sich auf etwas richtet, das allen gleichermaßen bewusst sein kann. Ebendas ist beim religiösen Glauben der Fall, der auch einem letzten Wirkungsmoment des Glaubens eine besondere Bedeutung gibt: Im Gefühl habe ich nicht nur diese oder jene Vorstellungen, sondern ich befinde mich in einem besonderen Zustand, der mich derart in Anspruch nimmt, dass ich selbst die Realität bin, die sich bewegt. Wenn das Wissen, das in seiner epistemischen Stellung darauf angelegt ist, mich zu bewegen oder abzuwarten, dies nicht vermag, ist es tot. »Totes Wissen« ist eines, an das niemand mehr glaubt und das keinen mehr bewegt. Um als Wissen wirksam zu sein, muss es eine Überzeugung hinter sich haben. Es muss mit einem Glauben verbunden sein.
4.
Vom Selbst- und Weltvertrauen zum Glauben an Gott
Nach der kleinen Phänomenologie des Gefühls bleibt nur noch die Beantwortung der Frage, die den Theologen vorrangig interessieren muss: Was bedeutet die Analyse für den Glauben an Gott? Nur um eine Antwort auf diese Frage zu finden, skizziere ich eine Vorüberlegung, die inzwischen den Umfang eines kleinen Buches angenommen hat, das vielleicht schon bald erscheinen kann.6 Nur deshalb halte ich es nicht für gewagt, sie in der hier unvermeidlichen Kürze zu umreißen. Sollte die knappe Skizze unverständlich sein, kann ich mich auf den bereits ausgearbeiteten ausführlichen Text berufen. Glauben gibt es nicht nur im religiösen Kontext. Vielmehr trägt er unser Selbst- und Weltverständnis in allen Lagen, in denen es um das Vertrauen in die Verlässlichkeit des Daseins, in die Festigkeit menschlicher Beziehungen und vor allem um die Erreichbarkeit der uns wichtigen Ziele geht. Wer immer seine Hoffnung auf Frieden, auf die Zukunft der Kinder, den Vorrang des Wissens, den Wert der Bildung, den Bestand der Kultur oder gar auf einen guten Ausgang der Geschichte richtet, setzt auf die Tragfähigkeit des Sinns, in dem er sein eigenes Leben versteht. Es gibt viele Versatzstücke des Wissens, die eine solche Sinnerwartung nicht unplausibel erscheinen lassen. Es gibt vor allem den Schluss von einer bis zu diesem Augenblick – zumindest für mich selbst – nicht vollkommen katastro6 Gerhardt, Sinn des Sinns.
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Glauben: Ein Gefühl, das Wissen trägt und Nichtwissen erträglich macht
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phisch verlaufenden Vergangenheit auf ein nicht mit Sicherheit auszuschließendes Gelingen in der Zukunft. Aber verlässliches Wissen über das Kommende gibt es nicht. Woraus also schöpfen wir das Vertrauen in das, was uns bevorsteht? Zunächst kann man nur sagen: aus einem Glauben. All jene, die nicht schon durch ihre seelische Verfassung, durch ihre Erziehung, durch ihre nicht bezweifelte Überzeugung – fundiert durch kulturelle Traditionen und bereichert durch die Lehrbestände der Glaubensgemeinschaften, ganz gleich ob sie sich vom Alten oder Neuen Testament, vom Koran, den Reden Buddhas, dem Lehrgedicht der Bhagavad Gita, der Weisheit eines Konfuzius oder eines Laotse herleiten – also all jene, die nicht bereits sicher in ihrem Glauben leben, haben sich einzugestehen, dass auch sie nicht ohne Glauben sind. In dem, was immer sie tun, worin sie ernst genommen werden wollen und was ihnen über den unmittelbar erreichbaren Handlungseffekt hinaus wichtig ist, sind sie auf einen Sinn bezogen, der den Sinn ihrer zahllosen Einzelaktivitäten trägt. Gesetzt, diese Individuen nehmen ihr Leben ernst. Gesetzt, das Leben zwingt sie, es nicht länger so leicht zu nehmen, wie sie es in ihrer Jugend genommen haben und wie sie es am liebsten weiterhin gerne nähmen. Gesetzt, sie sehen in die fragenden Augen eines Kindes, eines Not leidenden oder schwerkranken Menschen. Gesetzt, sie haben Verantwortung für eine größere Zahl von Menschen übernommen und fragen sich, ob sie sich ihr entziehen können: In allen diesen Fällen können sie ausweichen und die Antwort offen lassen. Denn niemand kann gezwungen werden, sich vom Sinn seines Tuns und vom äußersten Verpflichtungsgrund seines Lebens Rechenschaft zu geben – so wie man auch niemanden allein durch gute Gründe nötigen kann, am Leben zu bleiben. Und wir sollten uns auch hüten, jemanden zu blamieren, der sowohl das eine wie auch das andere nicht vermag oder auch einfach nicht will. Alles kommt hier auf den eigenen Anspruch, die individuelle Freiheit und die persönliche Verantwortung an. Und auch diese Bedingungen wird man sich nicht ohne Empfindungen, Gefühle und Leidenschaften denken können. Wo aber der Ernst einer Frage gegeben ist, kommt man auch an der Tatsache nicht vorbei, dass man sich, indem man ernsthaft lebt, immer schon eine Antwort gegeben hat. Ernsthaft heißt ja nicht, dass einer immer nur mit dem Ausdruck der Entschlossenheit herumläuft, sondern dass er in etwas, wofür er gute Gründe hat, Erfolg zu haben sucht, dass er produktiv, anerkannt, vielleicht sogar beliebt, in jedem Fall geachtet und, wenn irgend möglich, auch geliebt sein möchte. Und in alledem liegt die praktische Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Wer sie sich bewusst zu geben versucht, muss eingestehen, dass es zwar seine Antwort ist, die auf seiner Teilnahme am Leben beruht, die aber Bedingungen untersteht, über die er selbst nur zu einem geringen Teil verfügt. Und da
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diese Bedingungen sich selbst mit größter Akribie nicht zureichend aus dem durch Wissen zu ermittelnden Kontext der Natur, der Kultur, der Gesellschaft und der Geschichte entnehmen lassen, können sie nur im Ganzen der zahllosen Ganzheiten gegeben sein, in denen wir mit größter Selbstverständlichkeit leben. Die erste und wichtigste dieser Ganzheiten ist die unseres Leibes, von dem ich zeigen kann, dass er schon auf der organischen Stufe den Sinn erzeugt, der sich unter den Bedingungen sozialer Mitteilung, semantischer Bedeutung, emotionaler Korrespondenz und hermeneutischen Sinnverstehens stufenweise entfaltet und damit über das Ganze anderer lebendiger Wesen, sozialer Einheiten, logischer Bedeutung, gefühlter Beziehungen und als vernünftig begriffener Kontexte nicht nur auf das Ganze der Welt, sondern auch noch auf ihren möglichen Grund sowie ihren möglichen Zweck ausgreift. Was aber auf diese Weise zu einer nicht nur an- und hingenommenen, sondern in Konsequenz der eigenen Tätigkeit auch bejahten Einheit kommt, das nenne ich den Sinn des Sinns, weil er die Bedingung für alle Sinnbezüge ist, in denen sich mein in bestem Wissen und Gewissen mehr oder weniger gut bewältigtes Leben vollzieht. Und wenn er reale Bedeutung für mein Leben haben können soll, dann ist es möglicherweise sekundär, ob und wie er begrifflich artikuliert werden kann. Er muss nur die Kraft haben, mich zu motivieren. Folglich ist er ohne Affekt und Emotion schwer vorstellbar. Doch wie dem auch sei: So wie ich an den Sinn einzelner Handlungsabsichten nur glauben kann, so kann ich auch an den Sinn, der die Summe eines Handlungssinns zu tragen in der Lage ist, nur glauben. Aber spätestens in diesem letzten, auf den Sinn der alltäglichen Sinnvollzüge gerichteten Schritt, ist aus dem mein bewusstes Leben ohnehin tragenden Glauben ein religiöser Glaube geworden. Er ist darauf gerichtet, was man nicht anders als das Göttliche nennen kann. Es ist dies ein Göttliches, das nicht länger »transzendent« genannt werden sollte. Denn es ist nicht von einer anderen Welt, sondern durch und durch von dieser Welt. Es gehört zu ebendem Ganzen, in dem wir unser Leben zu bewältigen haben; es bezeichnet die Einheit, die wir brauchen, um uns selbst darin als ein Ganzes zeigen und bewähren zu können. Es ist die Einheit eines Sinns, von dem wir hoffen, dass darin der Sinn meines Daseins mit dem des Weltgeschehens kongruiert. Der dies ermöglichende, Begriff und Gefühl umfassende Sinn führt den erhofften Zweck des menschlichen Daseins mit dem zusammen, was man als eine unter Sinnbedingungen stehende Welt begreifen kann. Dieses in der Verbindung von Selbst und Welt gedachte Ganze ist die Welt, die mir etwas bedeutet. So kann man sich auch unter den Konditionen der modernen Wissenschaft die Natur als »Schöpfung« denken – geschaffen durch etwas, das in ihr wirkt. Also wäre die schöpferische Kraft des Göttlichen nicht außen, nicht »transzendent«, käme aber dem nahe, was in der Sprache der Philosophen
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Glauben: Ein Gefühl, das Wissen trägt und Nichtwissen erträglich macht
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»transzendental« genannt wird. Der »Sinn des Sinns« wäre damit die transzendentale Formel für die erlebte, d. i. die gefühlte und, wo immer möglich, gedachte Einheit von Mensch und Welt. Auf den ersten Blick scheint uns diese Sinnbedingung des Ganzen unendlich fernzuliegen; aber dadurch, dass sie von mir geglaubt und gedacht werden muss, wenn sie meinen Handlungs- und Daseinssinn tatsächlich von innen her trägt, steht sie mir ebenso nahe wie ich mir selbst. Das Göttliche, so steht es bei Platon, ist das, was meiner Seele am nächsten ist. »Nach den Göttern«, so heißt die Stelle wörtlich übersetzt, »ist die Seele das Göttlichste, da sie der allereigenste Besitz ist.«7 Göttlich ist das, was uns im Vollbesitz unserer Kräfte so nahekommt, wie uns nur etwas kommen kann, das wir lieben.
Literatur Darwin, Charles, The Expression of the Emotions in Man and Animals. Definitive Edition, ed. Paul Ekman, Oxford 1998. Döring, Sabine (Hg.), Philosophie der Gefühle, Frankfurt a.M. 2009. Gerhardt, Volker, Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München 2013. Ders., Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München 2012. Nietzsche, Friedrich, Götzen-Dämmerung, Die ›Vernunft‹ in der Philosophie, in: Ders., Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, Bd. 6, hg. v. Colli, Giorgio u. Montinari, Mazzino, München/Berlin/New York 21988. Ders., Willensfreiheit und Fatum (Schulaufsatz in der Pforte, April 1862), in: Frühe Schriften 2, Jugendschriften 1861 – 1864, hg. v. H.J. Mette, München21994, 60 – 63. Perler, Dominik, Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270 – 1670, Frankfurt a.M. 2011. Platon, Nomoi, in: Ders., Werke in acht Bänden, gr./dt., Bd. 8, Teil 1 und 2, hg. v. Gunther Eigler, Darmstadt 1977.
7 Platon, Nomoi, 5. Buch, 726a.
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Hans-Günter Heimbrock
Phänomenologie des Gefühls
1.
Das theologische Interesse
Dass Religion Gefühle induzieren kann, ist ein in allen Religionen gut belegtes Phänomen.1 Protestantische Religionspraxis hat über Jahrhunderte hin mit zur Kultivierung oder zumindest zur Zulassung eines ganz bestimmten Gefühls beigetragen, nämlich dem Schuldgefühl im Zeichen einer zwanghaften Gewissensreligion. Die dabei aktivierten psychischen Mechanismen zur Unterdrückung von Menschen wurden zuerst von psychologischer Religionskritik aufgedeckt. Diese Kritik wurde in der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts aufgenommen, etwa dort, wo Tillich mit einer Unterscheidung von Schuldgefühl und Schuld zur Schärfung eine evangelisch-befreiende Perspektive der Verantwortung zu stärken versucht hat.2 Dass sich auch christliche Theologie mit dem Gefühl jenseits der Thematik des religiös induzierten Schuldgefühls und seiner Phänomenologie befasst, ist keineswegs selbstverständlich. In der auf Aristoteles rekurrierenden philosophischen Theologie galt für den »Unbewegten Beweger« das Prädikat der »Apatheia« im Sinne eines nicht den Affektschwankungen unterworfenen göttlichen Wesens3, eine Anschauung, die aber schon im Mittelalter angesichts biblischer Befunde zu Interpretationskonflikten führte. Neben theologischer Kritik am un-evangelischen Schuld-Gefühl nimmt die neuere Theologie, und insbesondere Christologie und Gotteslehre durchaus positiven Bezug auf Affektivität und Leidensfähigkeit, von D. Bonhoeffers Entwurf »Widerstand und Ergebung« über J. Moltmanns Theologie des »Gekreuzigten Gott« bis hin zu K. Kitamoris »Theologie des Schmerzes Gottes«. Aber schon zu diesen Ansätzen hat jedoch bereits vor einer Generation H. Schröer bemerkt: »Der in der Got1 Rolle und Verständnis von Gefühlen in biblischer Anthropologie sind seit der Arbeit von H.W. Wolff gut erforscht: Wolff, Anthropologie; vgl. auch Wagner, Emotionen. 2 Tillich, Mut zum Sein, 13 ff.; aufgenommen u. a. bei Scharfenberg, Jenseits des Schuldprinzips?, 189 ff. 3 Aristoteles, Metaphysik 1073a, 11 f.
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teslehre zu findende schmale Weg zwischen Psychologisierung und ApatheiaOntologisierung Gottes, zwischen Ver- und Entgeschichtlichung seiner Lebendigkeit ist ein auch der Praktischen Theologie aufgegebenes […] Problem.«4 Im Zentrum theologischer Thematisierung des Gefühls stand und steht für die protestantische Theologie seit gut 150 Jahren jedoch anderes, nämlich die religionstheoretische und fundamentaltheologische Option, die sich mit Fr. Schleiermachers Religionsbegriff verbindet. Die zunächst im Modus romantischer Rhetorik in den »Reden« eher schwärmerisch beschriebene Religion als »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit«, als eigene Provinz im Gemüt neben Wissen und Wollen wurde in der Dogmatik Schleiermachers dann zur subjektivitätstheoretischen Grundfigur einer philosophisch reflektierten Theologie ausgebaut. Für die einen bildet das so bestimmte Gefühl mit Schleiermachers Religionstheorie den transzendentaltheoretisch bestimmbaren Dreh- und Angelpunkt aller Theologie: Wir können unter Bedingungen neuzeitlicher Rationalität überhaupt nur noch Theologie treiben, weil und insofern uns Gott im Gefühl auf ursprüngliche Weise gegeben ist. Frömmigkeit, Glaubenserfahrung, das ist im Anschluss an Fichte das im Selbstbewusstsein gegebene Innewerden des »Sichselbstnichtsogesetzthabens«.5 Für die anderen wird genau in dieser Konzentration auf das so beschriebene Gefühl der theologische Abweg beschritten. Einer Theologie vom Standpunkt der Offenbarung her, wie sie prominent K. Barth gegen Schleiermacher als dem Kern von Religion formulierte, war das Gefühl als erfahrungstheologische Begründung von Theologie tief suspekt. Er warf diesem Konzept eine unerlaubte Anthropologisierung von Theologie vor, letztlich nichts anderes als ›verquastes Gefühlsdenken‹. Ist also das Gefühl verstanden als unmittelbares Selbstbewusstsein erkenntnistheologisch durchaus strittig, so verbindet sich auch mit der Aufgabe einer Phänomenologie des Gefühls theologisch ein nicht zu übersehendes Konfliktpotenzial. Das liegt wohl auch am Verhältnis zur Phänomenologie als theologisch mehr oder weniger geschätzter Referenztheorie. Aber dort, wo unter Berufung auf Schleiermachers transzendentaltheologischen Ansatz der Religionstheorie das Gefühl als Kategorie zur weiteren Klärung von Religionspraxis in Anspruch genommen wird, insbesondere innerhalb der Praktischen Theologie, geschieht das durchaus nicht nur in einer Lesart. Für die einen ist klar, dass Schleiermachers Begriff des Gefühls heute nur angemessen mit Selbstbewusstsein wiedergegeben werden kann. Für die anderen gerät gerade so der Bezugs-
4 Schröer, Affekt IV, 624. 5 Schleiermacher, Der christliche Glaube § 4.1, Bd. 1 24, 11 f.
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rahmen, in den menschliche Gefühle eingespannt werden, immer schon verengt, wenn er auf das religiöse Gefühl oder auf Bewusstsein reduziert wird.6 Solche Problemlagen markieren das Gewicht und auch das inhaltliche Gefälle des Themas. Ich nehme sie hier als Nötigung dazu auf, hinter das vermeintlich klar deduzierte theologische Wissen über den Status des Gefühls zurückzugehen und noch einmal neu bei der Beschreibung des Gefühls einzusetzen.
2.
Temperamentvoll bis langweilig: Phänomene
Nach Auskunft von Grimms Wörterbuch7 ist das Substantiv »Gefühl« als Äquivalent des lateinischen Wortes sensus in der deutschen Sprache eine relativ junge Erscheinung, deren Vorkommen wohl erst ab dem 17. Jahrhundert nachweisbar ist. Der Ursprung scheint in der Beschreibung körperlicher Vorgänge wie tasten oder fühlen (sensustactus) zu liegen. Die »Ausgangsbedeutung für fühlen wäre dann ›mit dem Daumen, Finger betasten‹ anzusetzen.«8 Zunehmend wurde allen Sinnen ein Gefühl zugeschrieben, was dann zur Gleichsetzung von Gefühl mit sinnlicher Wahrnehmung führte. Abgeleitet davon findet sich das »Gefühl der Seele«, wobei im Sprachgebrauch die Nähe von Gefühl und Empfindung besonders deutlich wird. Wir sagen: Mir ist mulmig, unwohl oder langweilig. Ich fühle Sympathie, Abneigung oder Gleichmut, ich empfinde Scham, Stolz, Genugtuung oder Eifersucht. Ich fühle mich wohl, bloßgestellt, niedergeschlagen, schuldig, ausgezehrt oder unsicher. Ich bin betroffen, aufgebracht, wütend. Zorn oder Wut ergreifen mich. Ich erlebe ihn als herzlich, distanziert. Er hat einfach kein Gefühl für so etwas. Ich kann mich heute gar nicht leiden. Ich fühle mich beobachtet, angesprochen, ernst genommen oder links liegen gelassen. Das ist mir jetzt entsetzlich peinlich. Ich fühle mich im Kontakt mit ihm. Das Ereignis löste gemischte Gefühle in mir aus. Da hat er sich blind von seinen Gefühlen leiten lassen. Ich habe so ein »ungutes Gefühl«. Er heuchelt ja nur sein Mitleid. Ihn überkommt ein heiliger Zorn.
Was sagt Ihnen Ihr Gefühl? In der deutschen Sprache kann für die ›Gefühlswelt‹ ein reiches Feld von Komposita gebildet werden: Gefühlsmensch, Gefühlsstrom, Gefühlsäußerung, Gefühlsausbruch, Gefühlsstau, Gefühlsduselei, Gefühlsleben, Gefühlszustand, Gefühlsraum, Gefühlsregung, Gefühlskomponente, Bauchgefühl, Gefühlskälte, Hochgefühl, Überlegenheitsgefühl, Minderwertigkeitsgefühl, Lebensgefühl, »große Gefühle«, Wohlgefühl. 6 Hermann, Gefühl und Religion. 7 Grimm, Art. Gefühl. 8 Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch.
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In Narrationen werden Gefühle etwa so umschrieben: Antonio Damasio (2000): Plötzlich hielt der Mann mitten im Satze inne, und sein Gesicht wurde vollkommen ausdruckslos. Sein Mund stand halb offen und seine Augen starrten blicklos auf eine Stelle an der Wand hinter mir. Einen Augenblick verharrte er bewegungslos. Ich sprach ihn mit seinem Namen an, aber er reagierte nicht. Dann begann er, sich ein bisschen zu bewegen, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und richtete den Blick auf den zwischen uns stehenden Tisch. Offenbar sah er die Tasse Kaffee […], denn er ergriff die Tasse und trank daraus. Wieder und wieder sprach ich ihn an, aber er antwortete nicht. […] Wann würde dieser Spuk vorbei sein? Nun machte er kehrt und ging langsam zur Tür. Ich stand auf und rief ihn erneut an. Er blieb stehen, blickte mich an, und allmählich kehrte das Leben in sein Gesicht zurück – er sah verwirrt aus.9
Blaise Pascal (1670): Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung. Er wird dann sein Nichts fühlen, seine Preisgegebenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unaufhörlich wird aus dem Grund seiner Seele der Ennui aufsteigen, die Schwärze, die Traurigkeit, der Kummer, der Verzicht, die Verzweiflung.10
3.
Reflektiert und vermessen
3.1. Das angestammte Feld der Reflexion über Gefühle bietet die Philosophie in der sog. »Affektenlehre«, insbesondere in Erkenntnistheorie, Ethik und Anthropologie. Bei Platon und Aristoteles finden sich die ersten Kategorisierungen und Systematisierungsversuche von Gefühlen. Im Kontext neuzeitlich-rationaler Philosophie der Aufklärung beschrieb R. Descartes sechs Grundformen von Affekten.11 Geschah dies bereits unter der wertenden Prämisse des »cogito«, so trat bei seinem Zeitgenossen B. Spinoza das rationalistische Grundinteresse einer mentalen Regulierbarkeit von Gefühlen in dessen Ethik noch deutlicher hervor. Spinozas Anthropologie gründete insgesamt in einem wesentlichen Moment neuzeitlicher Rationalität, im Selbsterhaltungsprinzip. Dem entsprach auch die Durchführung der Analyse des Menschen in entscheidenden Punkten 9 Damasio, Ich fühle, 16. 10 Pascal, Pens¦es II, 131. 11 Descartes, Trait¦.
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der aus der neu entwickelten Naturwissenschaft bekannten Sichtweise. In seiner Ethik »ordine geometrico demonstrata« intendierte er, menschliche Affekte und die aus ihnen resultierende Verhaltensweisen genauso darzustellen, »als wenn die Untersuchung es mit Linien, Flächen und Körpern zu tun hätte«12. Erst bei D. Hume wird der Gefühlsbegriff zum anthropologischen Zentralbegriff.13
3.2. Bereits die Evolutionsbiologie des 19.Jahrhunderts erklärte Funktionsweise, Herkunft und Auswirkung der Gefühle. Darwin untersuchte unter anderem den Zusammenhang von Mimik, Emotion und Verhaltensregulierung zwischen Tieren, fragte nach deren Herkunft als gattungsspezifischer Artausstattung oder Resultat von Lernprozessen.14 Diese Frage ist in der zeitgenössischen Evolutionspsychologie weiter verfolgt worden. Gegen eher spekulativ-philosophische Zugänge setzte moderne empirische Psychologie auf den Versuch der Vermessung des Gefühls. Das führte bereits im 19. Jahrhundert bei einem ihrer ersten Vertreter W. Wundt zu einem experimentalpsychologischen Ansatz der Gefühlsforschung. Moderne Emotionspsychologie hat in Anschluss an solche Perspektiven der Forschung nicht nur die Messinstrumente enorm verfeinert, sondern einige Fragestellungen intensiver vorangetrieben, andere hinzugewonnen.15 Dazu zählt einerseits die Forschung nach der Genese der Gefühle, andererseits ihre Prognostizierbarkeit bzw. Beeinflussbarkeit von außen. Einen besonderen Schwerpunkt der psychologischen Gefühlsanalyse stellt inzwischen die neurophysiologische Forschung dar. Hier sind insbesondere die Thesen des portugiesischen Neurowissenschaftlers A. Damasio in Psychologie, Biologie und auch in der Philosophie breit rezipiert worden. Er entwickelt seine neurowissenschaftlich und experimentell begründeten Thesen im Gegenzug gegen Descartes und Spinozas Ansätze rationalistischer Abwertung der Gefühle. Neben der empirischen Psychologie und der Neurowissenschaft ist im Laufe der letzten Jahrzehnte vor allem auch in den Sozial-, Kultur- und Geschichtswissenschaften ein Diskurs über das Thema »Gefühl« intensiviert worden. Man spricht in der Kulturwissenschaft inzwischen sogar von einem »emotional 12 Spinoza, Ethica, 53. Vgl. zu Spinozas Affektenlehre im Rahmen seiner Anthropologie Heimbrock, Vom Heil, insbes. 62 ff. 13 Hume, Traktat. 14 Darwin, The expression. 15 Goschke/Dreisbach, Neurowissenschaft.
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turn.«16 Einzelstudien haben die soziale Normierung, Aufführung und Herstellung von Gefühlen insbesondere im Zeitalter der Massenmedien aufgewiesen. Daneben findet sich hier zunehmend Kritik am konventionell westlich aufklärerischen Vorurteil der Irrationalität von Gefühlen. Parallel dazu wurde das erkenntnisproduktive Moment von Gefühlen im Gegenzug zu antirationalistischer Psychologie und Philosophie neu gewürdigt.17 Im Rahmen kulturwissenschaftlicher Ansätze zur Gefühlsforschung wurde weiterhin herausgearbeitet, dass Gefühle nicht nur individuell »vor-kulturell«, sondern wesenhaft als kulturelle Phänomene zu begreifen sind.18
4.
Beschreibungen
4.1.
Zugänge
Die bisher vorgestellten Ansätze wissenschaftlicher Analyse der Gefühle stehen im Zeichen einer möglichst objektiven, distanzierten Herangehensweise. Aber das »Gefühl ist immer unmittelbar, gegenwärtig«19. Mein Gefühlserleben ist mir hintergründig immer schon präsent, dass und wie ich fühle, macht einen wesentlichen Teil meiner mir vorvertrauten Lebenswelt aus, ehe ich über irgendetwas bewusst nachdenke. Insbesondere für die soeben angesprochene empirisch-quantitative Vermessung des Gefühls gilt ein methodisches Problem: »Neurowissenschaften und experimentelle Psychologie können aufgrund ihrer Ablehnung introspektiver Methoden nichts über die phänomenologischen Aspekte von Gefühlen sagen, sie können nicht beschreiben, wie sich Gefühle anfühlen.«20 Spätestens deshalb ist phänomenologische Forschung zum Gefühl – trotz all ihrer Begrenztheit – unverzichtbar. Und man kann in Variation eines Dictums von M. Moxter auch in Bezug auf das Phänomen »Gefühl« sagen: Die Beschreibungsnotstände der Theorie sind die Tugenden des Phänomenologen.21 Wie aber beschreibt die Phänomenologie menschliche Gefühle? 16 Zu diesem Terminus vgl. Anz, Emotional Turn?; vgl. ferner Kessel, Gefühle und Geschichtswissenschaft. 17 Verheyen, Geschichte der Gefühle. 18 Lutz, Unnatural Emotions. 19 Resse, Substanz und Transzendenz. 20 Hermann, Gefühl und Religion. 21 Moxter, Die Phänomene, 92: »Eine theologische Auseinandersetzung mit der Phänomenologie […] kann […] die Bewußtseinstheorie als eine Kinderkrankheit der Phänomenologie begreifen und ihr Grundproblem an der Frage aufwerfen, welchen Status Beschreibungen dessen, was sich zeigt, im wissenschaftlichen Diskurs haben können oder sollen. Die Tugenden des Phänomenologen sind die Beschreibungsnotstände des Theoretikers.«
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Gerade weil die Phänomenologie von ihren Ausgangspunkten bei Husserl Reflexion auf das im Bewusstsein Gegebene und Erlebte ist, gab die Analyse des Gefühls eines der prominenten Themen für die weit verzweigte Forschung zum Gefühl ab. Das gilt bereits für Husserl selbst, wie eine seiner großen frühen Schriften, die »Logischen Untersuchungen« zeigen. Die dort eingeschlagene Fragerichtung, die Analyse der Gegenstände des Erlebens in steter Verbindung mit der Gegebenheitsweise der Dinge, ist bestimmend für alle weitere Phänomenologie. Husserls Maxime »zu den Sachen selbst!« gilt auch in Bezug auf das Thema Gefühl, wie man an der Beschreibung des Schmerzes als »Gefühlsempfindung« ablesen kann.22 Insgesamt muss notiert werden, dass die zur Sache relevante Diskussion in der weit verzweigten phänomenologischen Bewegung so sehr aufgefächert ist, dass ich im hier gesetzten Rahmen nur exemplarisch und elementarisierend darstellen kann. Ich werde dabei nicht chronologisch vorgehen, sondern wichtige thematische Aspekte phänomenologischer Beschreibung hervorheben.23 Zur sprachlichen Umschreibung von Gefühlen sind wir auf inexakte Begriffe angewiesen. Das gilt für Beschreibung einzelner Gefühlsqualitäten ebenso wie für klassifikatorische Termini wie Affekte, Empfindung, Leidenschaften, Stimmungen, Sentimente, Temperamente usw.24 Über Gefühle zu reden geschieht in Metaphern. Ein solcher Rückgang im Modus der Beschreibung ist selbstverständlich nur erlaubt im Bewusstsein seiner Unmöglichkeit. Wir unterscheiden ex post Akte und Erfahrungen des Fühlens von ihrer Versprachlichung. Aber den Gefühlen kommt Daseinsberechtigung nicht erst im Modus ihres Gesagtseins zu. Auch in dieser Hinsicht gilt mit B. Waldenfels: »Nicht alles ist Sprache, doch nichts ist sprachfremd.«25 Dass Phänomenologie nicht eine quantitative Funktionsanalyse im Sinn hat, sondern Gefühlsqualitäten beschreibt, ist eine eher triviale Feststellung. Wichtiger dürfte die Feststellung sein, dass der Ausgangspunkt jeweils Beschreibung konkreter und unterschiedener Gefühle ist, nicht »das Gefühl« als ein abstractum.
22 Husserl, Logische Untersuchungen, Zweiter Band (1913) 1. Teil. Vgl. zur Sache: Melle, Husserls deskriptive Erforschung. 23 Nur genannt, jedoch nicht weiter erörtert werden können phänomenologische Ansätze wie die von Krueger, Das Wesen; Heidegger, Sein und Zeit; Bollnow, Das Wesen; Scheler, Der Formalismus oder auch Schmitz, Der Gefühlsraum. 24 Jäger, Zur Historischen Semantik. 25 Waldenfels, Art. Wahrnehmung.
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4.2.
Strukturmomente
Von Interesse ist, dass die Phänomenologie solche Beschreibungen – ungeachtet ihrer internen Ansatzbreite – in Richtung auf bestimmte Strukturmomente ausgearbeitet hat: - ich-bezogen und responsorisch Konstitutiv für die phänomenologische Beschreibung von Gefühlen ist die Zentralität im Erleben eines individuellen Menschen als Subjekt. Auch von Gefühlen kann die Phänomenologie nicht ohne ein fühlendes Subjekt sprechen. Gefühle »haben mit mir selbst zu tun, ich gehe in ihnen auf bin in ihnen angesprochen«26. Das bildet die Alltagssprache treffend ab, wie in der eingangs vorangestellten Auflistung von Redewendungen abzulesen ist. Die Perspektive der Ersten Person unterscheidet sich freilich von der cartesianischen Grundthese eines sich im Denken von der Welt abgrenzenden »cogito«. Denn immer ist die typisch gefühlsmäßige bzw. gemüthafte Gegenstandsbindung verwirklicht, in der nicht Subjekt und Objekt sich gegenüberstehen, sondern Mensch und Welt einander durchdringen; in der nicht der ›Verstand‹ spricht, sondern das ›Herz‹. In beiden Modi der Berührung wird der Mensch einer Gewalt ausgeliefert, der gegenüber er sich ›in der Hand behalten‹, aufrechte Haltung bewahren muß, wenn sie ihn nicht übermannen soll.27
- leiblich und intentional Es gibt keine Emotion ohne ein körperliches Substrat. Gefühle stehen im Kontext des leiblichen Ergriffen-sein. Das fühlende Ich bezieht sich immer auf die leibhafte Existenz des Menschen. Gefühle können deshalb zureichend nicht abstrahierend als Bewusstseinsinhalte eines mentalistisch verkürzten Ichs angenommen werden, auch wenn ihr Erleben in der Regel (aber keinesfalls immer) einen bewusstseinsmäßigen Anteil aufweist. Was wir üblicherweise als Gefühl bezeichnen, sind leibliche Ereignisse: Ohne die leiblichen Empfindungen von Engung (Angst), Weitung (Lösung), Spannung (Interesse), Schwellung (Hochgefühl) wären unsere Gefühle gleichsam nur Abziehbilder, ›Photos‹ von Gefühlen. Keine Angst ohne Herzklopfen, keine Trauer ohne eine gewisse Gliederschwere, keine Freude ohne Leichtigkeit der Bewegung (Hüpf-Impuls), keine Wut ohne Anspannung von Faust und Bizeps.28 26 Plessner, Lachen und Weinen, 348 (insbes. Abschnitt Gefühl und Sinn). 27 A.a.O., 346. 28 Rahm, Einführung, 96.
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M. Merleau-Ponty hat die leibhafte Fundierung der menschlichen Existenz insgesamt und dann auch im Blick auf Gefühle näher beschrieben29. Die Intentionalität als Grundstruktur gilt auch hier, und gerade hier als vor-reflexives bzw. unbewusstes Zur-Welt-Sein, was durch das reflexive Bewusstsein nie völlig eingeholt werden kann. Eine Phänomenologie des Gefühls kommt nicht aus ohne auf Freuds Analyse unbewusster Anteile des menschlichen Affekthaushalts zu rekurrieren.30 - pathisch Wir ordnen unser Verhalten und Welterleben nur bedingt. Die Welt wird von Menschen »erworben und erlitten«31. Gefühle prägen die Erlebniszonen, in denen die Steuerung partiell suspendiert wird. Mein Fühlen kann ich nicht beliebig beherrschen, Gefühle ›dringen auf mich ein‹ – »Das Ich übergibt sich ihnen«32 – mehr oder weniger willentlich. Ein Gefühl »ergreift« den Menschen, kommt über ihn oder sie, überwältigt ihn, überfällt mich. Im Erleben von Gefühlen erweist sich die ›pathische‹ Qualität menschlichen Verhaltens. Und diese gilt keineswegs nur von negativen Gefühlen wie Schmerzerleben. Dieses Strukturmoment der Gefühlserfahrung hat der niederländische Anthropologe Fr. Buytendijk im Anschluss an die psychosomatische Krankheitslehre V. von Weizsäckers, als »pathische Leiblichkeit« beschrieben.33 Diese wird nicht nur im Schmerzgefühl aktiviert.34 - gesellschaftlich figuriert Echte Gefühle können nur in der Innenperspektive eines Subjekts bzw. in der situierten Begegnung von Ko-Subjekten wahrgenommen werden. Das Vermögen zu Fühlen gehört zur anthropologischen Grundausstattung, es kann nicht angelernt werden, aber es ist biografisch wie gesellschaftlich modellierbar. So sind Gefühle der kulturellen Formung sowie der sozialen Kontrolle nicht enthoben. Sozialitäten präfigurieren gruppentypische bzw. epochentypische »Lebensgefühle«35, z. B. das spätantike Gefühl der »Vanitas« oder das postmodernes Lebensgefühl. 29 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (»Das cogito und die affektive Intentionalität, 430 ff.«). 30 Vgl. Freud, Die Verdrängung. 31 Reese, Substanz und Transzendenz, 12. 32 Vgl. Plessner, Lachen und Weinen, 346. 33 Buytendijk, Über den Schmerz; vgl. Weizsäcker, Pathosophie 1965. 34 Buytendijk, Über den Schmerz. 35 E. Spranger prägte den Begriff des »sozialen Lebensgefühls«.
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Wie die ungarische Philosophin A. Heller näher beschrieben hat, regulieren Gesellschaften den Gefühlsausdruck der Individuen, man denke an zugelassene oder erwartete Formen des Körperkontakts und der Präfigurierung von Körpergefühlen durch Kleidung.36 Solche Regulierung geschieht sehr viel langsamer als die Regulierung technischer Prozesse, wie der Philosoph G. Anders schon vor einem halben Jahrhundert in kulturkritischer Absicht behauptet hat.37 - affektiv und kognitiv Schon Damasio behauptet gestützt auf neurophysiologische Forschungsresultate: »Das Fehlen von Gefühlen gefährdet die menschliche Rationalität.«38 Hier geht die Phänomenologie einen Schritt weiter. Es gibt kein menschliches Verhalten ohne zugehörigen Gefühlshintergrund, nicht einmal das Denken macht hier eine Ausnahme. Auch in diesem Punkte greift das »Cogito« des Descartes zu kurz. Ein Mensch erlernt zwar nicht Gefühle, wie er lesen und schreiben lernt, aber Gefühle sind Vorbedingung seiner Fähigkeit zu denken und zu lernen. Nicht alle Gefühle sind mir im Moment des Fühlens bewusst. Aber das bewusste Fühlen hat stets eine kognitive Komponente. Es gibt sogar ein ›Wissen durch das Gefühl‹39, was wir gemeinhin mit »Intuition« benennen.
4.3.
Sich selbst fühlen
Unter den menschlichen Gefühlen nimmt eines eine Sonderstellung ein: nämlich das Gefühl für das eigene Selbst. Zu den buchstäblichen fundamentalen menschlichen Gefühlen gehört das Selbst-Gefühl. Es bildet die leiblich-körperliche Basis des menschlichen Selbstbildes und des darauf aufruhenden Identitätsbewusstseins, liegt genetisch allem bewussten Erleben von Gefühlen voraus. »Alles Fühlen vermittelt mir ein Gefühl meiner selbst, es steigert den Eindruck der ›Ich-Gegenwart‹.«40 Die neuere psychoanalytischen Narzissmusforschung wie auch der Säuglingsforschung41 haben genauere Einsicht in die Bildungsprozesse dieses Kern36 Heller, Phänomenologie der Gefühle. 37 Anders, Die Antiquiertheit, 271 ff.; im Blick auf technische Errungenschaften wie die Atombombe machte er in politisch engagierter Gesellschaftskritik darauf aufmerksam, »dass wir unseren eigenen Produkten und deren Folgen phantasie- und gefühlsmäßig nicht gewachsen sind.« (273). 38 Damasio, Ich fühle; Ders., Der Spinoza-Effekt. Zur philosophischen Kritik vgl. Lenzen, Grundzüge. 39 Vgl. dazu Zimmermann, Musik als Wissen, 240. 40 Reese, Substanz und Transzendenz, 11 41 Stern, Lebenserfahrung; Dornes, Der kompetente Säugling.
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Selbst beigebracht, insbesondere in die Fragilität der Ausbildung von IchGrenzen gegen einer emotionalen Fragmentierung, Überschwemmung und Auflösung des Selbst. Daher wissen wir, dass zu den früh sich bildenden Gefühlen des »rudimentären Selbst«42 gerade die Angst vor Zerfall dieses KernSelbst gehört. Nach der Säuglingsphase gibt es dann im Laufe der Biografie typische Krisenphasen, wo die emotionale Kohärenz des Selbst in besonderer Weise zur Disposition steht. Klassisch ist die Konstellation der Pubertät, wo Grenzen des Ichs bis in die Körpererfahrung neu bestimmt werden müssen, so etwa das Austesten der Schmerzgrenze in Form von kulturell weniger akzeptierten Körpermodifikationen.43
5.
Herausforderungen für eine praktisch-theologische Religionstheorie
In welcher Weise gehört Gefühl zur gelebten Religion? In welcher Weise gehört welches Verständnis von Gefühl zu einer Theorie gelebter Religion? Ist Religion neben und mit ihrem Verständnis als »Sinnraum«44 zugleich auch so etwas wie ein »Gefühlsraum«45 ? Es führt kein kurzer Weg von der soeben skizzierten phänomenologischen Beschreibung des Gefühls zu den religionstheoretischen Diskursen der gegenwärtigen Systematischen und Praktischen Theologie, in denen zumindest in einer maßgeblichen Linie im Anschluss an Schleiermacher ein transzendentaltheologischer Gefühlsbegriff als Ausgangspunkt dient.
5.1. Eine genauere Analyse von Schleiermachers »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit« hat inzwischen Konturen dessen herausgearbeitet, was man eine Schleiermachers Psychologie nennen kann und dabei eine weitgehende Kohärenz zwischen jener und dem Schleiermacherschen Konzept des Gefühls feststellt.46 Aber diese Disziplin hat nur wenig zu tun mit moderner empirischer Emotionsforschung. Das religiöse Gefühl bei Schleiermacher meint nicht ein inhaltlich näher beschriebenes affektives Einzelphänomen im menschlichen Affekthaushalt. Es meint vielmehr 42 43 44 45
Kohut, Heilung des Selbst, 96 ff. Pezzoli, Kleidung und Körpermodifikation. Gräb, Religion, 199. Ich übernehme den Begriff von H. Schmitz, verwende ihn aber nicht im Sinne seiner »neuen Phänomenologie«. 46 Herms, Religionspsychologie.
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den Quellgrund innerer Lebendigkeit, die den Menschen als ganzen bestimmt und darum den Dimensionen des Erkennens und Handelns vorausliegt, zwischen ihnen vermittelt und sie begleitet. Das Gefühl signalisiert den Primat des Empfangens vor und in allen Weisen menschlicher Tätigkeit und weist deshalb über sich hinaus auf eine ihm externe Bedingung seiner selbst. Es trifft den Menschen in seiner Unvertauschbarkeit als Einzelnen, und zwar als solchen gerade in seinen Relationen zur Welt und zur Mitmenschheit.47
In gegenwärtigen Diskursen der Religionstheorie werden Leistung und Begrenzung von Schleiermachers Ansatz beim Gefühl als unmittelbarem Selbstbewusstsein differenzierter verfolgt. U. Barth etwa hat drei große Errungenschaften dieser Konzeption benannt: den durchgängigen Bezug von Religion auf menschliche Subjektivität, die Verortung von Religion und Kunst im Gefühl in einem übergreifenden kulturtheoretischen Denkrahmen und die Bestimmung von Kirche als eine auf das religiöse Bewusstsein hin orientierte Kommunikationsgemeinschaft.48 An die eben solchermaßen im Gefühl gründende Religionstheorie stellen sich für Barth unbeschadet der großen theoretischen Leistung des Ansatzes jedoch auch Fragen, und zwar u. a. gerade da, wo die Bestimmung des Gefühls Unklarheiten enthalte. Barth macht geltend, dass das Gefühl als Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit nicht so unmittelbar im Erleben gegeben sei, wie Schleiermacher meine, sondern es enthalte immer auch schon Reflexion und Deutung des Erlebten, und insofern sei die Religion nicht nur eine Erlebnis-, sondern auch immer eine Deutungskultur. In der Sache genau konträr wird solchem interpretationistischen Ansatz der Deutung von Schleiermachers Religionstheorie von anderen seinerseits ein Defizit angelastet. So sei die aktuelle Religionstheorie […] sehr stark am Paradigma von Text und Deutung orientiert. Sie fasst Religion mehrheitlich als deutende Bearbeitung menschlicher Sinnund Kontingenzprobleme. Die emotionalen, performativen und sozialen Dimensionen des Religiösen bleiben in diesen Theorieansätzen marginal.49
Dieser kritische Einwand ist zu verstärken. Der phänomenologische Ansatz beim fühlenden Subjekt hat gewiss eine erkenntnistheoretische Korrespondenz mit einer subjektivitätstheoretisch bestimmten Religion. In Frage steht jedoch, wie dieses Subjekt jeweils verstanden wird. Ein Gefühlsbegriff, bei dem Gefühl mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein identifiziert wird, steht tendenziell immer schon in der Gefahr einer mentalistischen Verengung des Affekts. Hier besteht die auch theologisch erhebliche Gefahr, eine ganzheitliche Anthropologie zu verfehlen. Neu zu diskutieren wäre deshalb das bekannte und in den 47 Ebeling, Luther und Schleiermacher, 30. 48 Barth, Vernunft der Religion. 49 Hermann, Gefühl und Religion.
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unterschiedlichen Richtungen der Emotionsforschung breit diskutierte Problem der Verhältnisbestimmung von Erleben und Deuten, von Emotion und Kognition im Gefühl. Gegen einen interpretationistischen Ansatz steht die phänomenologische Einsicht des engen Konnex von affektiven und kognitiven Prozessen. Und selbst eine zur begrifflichen Klärung vorgenommene Scheidung in Empfindung, Interpretation und Deutungskontext in Bezug auf Gefühl hat die Einsicht in die Leibhaftigkeit aller Gefühlsakte gegen sich. Obwohl wir im wissenschaftlichen Diskurs immer nur ex post über Gefühle sprechen können, geht das Phänomen seiner Diskursivierung voraus. Ließe man dies außer Acht, würde für die Religionstheorie der lebensweltliche Zusammenhang des Fühlens abhandenkommen. Man könnte hier auch auf Schleiermacher als Phänomenologenavant la lettre verweisen, nämlich dort, wo er auf den gleichursprünglichen Zusammenhang von Anschauung und Gefühl verweist: Jener erste geheimnisvolle Augenblick, der bei jeder sinnlichen Wahrnehmung vorkommt, ehe noch Anschauung und Gefühl sich trennten, wo der Sinn und sein Gegenstand gleichsam ineinander flossen und Eins geworden sind, ehe noch beide an ihren ursprünglichen Platz zurückkehren.50
Inwieweit bei Schleiermacher das Konzept eines vortheoretischen Gefühls durch den Schlüsselbegriff »Selbstbewusstsein« transzendentalphilosophisch reduziert ausfällt, ist umstritten.51
5.2. Eine mit Schleiermacher argumentierende transzendentaltheoretische Religionstheorie zeigt inhaltlich zur phänomenologischen Analyse des Gefühls – trotz theoretisch anderer Herkunft – enge Korrespondenzen, etwa darin, dass hier Religion, da Gefühl als Phänomen des Lebensganzen gefasst werden, weiter, dass in beiden Schlüsselbegriffen auf Empfänglichkeit abgehoben wird. Die diskutierte subjektivitätstheoretisch im Gefühl fundierte Religionstheorie weist freilich eine weitere Korrespondenz zur Skizze phänomenologischer Beschreibungsweisen von Gefühlen auf. Beide argumentieren implizit oder explizit fundamentalanthropologisch in dem Sinne, dass sie auf überzeitliche anthropologische Grundkonstanten rekurrieren. Das ist nicht unzulässig, bedarf aber der historischen Tiefenschärfe, wenn man kulturhistorische wie psychologische Forschung zum Gefühl ernst nimmt. Im Blick auf die wissenschafts50 Schleiermacher, Über die Religion, 2.Rede, 221. 51 Siehe dazu Pannenberg, Anthropologie, 243.
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geschichtlichen Bedingungen, denen sich die Phänomenologie Husserls und seiner Nachfahren insgesamt und damit auch entsprechende Beschreibungen der Gefühlsphänomene verdankt, sind philosophiegeschichtliche wie sozialkulturelle Konstellationen inzwischen genauer herausgearbeitet worden. Das Entsprechende scheint mir für den religionstheoretischen Ansatz bei einem transzendentaltheologisch ausgelegten Gefühlsbegriff nun auch notwendig. Die Leistung einer Bestimmung von Religion im Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit bzw. des unmittelbaren Selbstbewusstseins wäre dann in historisch und kulturell bestimmbaren Relationen zur Plausibilität einer Subjektivitätsphilosophie zu profilieren, wie sie in ganz spezieller Weise auf dem Boden des deutschen Idealismus entstanden ist. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, so kann das dort thematisierte Selbstbewusstsein als eine historische bedingte Konstellation der menschlichen Identitätsbildung begriffen werden, die wir mit dem Konzept der Moderne verbinden. Es stellt sich aber dann die Frage, welche Konsequenzen es für die Religionstheorie hat, wenn man zeitgenössische Analysen zum Selbstgefühl und insbesondere seiner Bedrohung angesichts gewandelter kultureller Pathologien ernst nimmt. Entsprechende klinische Studien und darauf aufbauende Beschreibungen kultureller Muster der Identitätsbildung bedürfen der anthropologischen und theologischen Rezeption. Die Psychogenese heutiger Bildung von Identität, insbesondere des o.g. Selbst-Gefühls unterscheidet sich strukturell von der Genese des »Selbstbewusstseins« im 19. Jahrhundert dadurch, dass im Zentrum nicht mehr so sehr die Gewinnung individueller Autonomie eines »Ich« gegen frühe elterliche Identifikationsobjekte steht, sondern vielmehr Kohärenzgewinnung angesichts eines drohenden Auseinanderbrechens des Selbst zur Kernaufgabe frühkindlicher Person-Genese geworden ist. Damit verschiebt sich die Matrix zur Bildung des Selbst-Gefühls erheblich.52 Eine Religionstheorie, welche anthropologisch auf das Selbst rekurriert, wird mit einer epochalen Differenzierung arbeiten müssen53, wenn sie kulturelle Erfahrungskonstellationen des Selbst-Gefühls differenzierter aufnehmen will.
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Dietrich Korsch
In sich selbst vergnügt. Ein kleiner Versuch über die Freude in der Logik der Gefühle
In einem Buch wie diesem mag die Frage nicht nur erlaubt sein, sondern sich auch nahelegen, mit welchen Gefühlen sich ein Nachdenken über Gefühle verbindet. Dass über Gefühle nachgedacht wird, hat ja mindestens zwei Seiten. Einmal ist es erstaunlich, dass Gefühle selbst nicht nur einfach da sind und konstatiert werden müssen, sondern dass sie auch bedacht werden können, also nicht völlig irrational sind. Sodann erscheint es als hoffnungsvoll, dass ein solches Nachdenken auch den rationalen Diskurs bereichern möchte, der sich ihnen widmet. Erstaunen und hoffen also kommen als Regungen in Betracht, die sich beim Nachdenken über Gefühle einstellen; und diese Verknüpfung ist ja unbedingt erfreulich. Wilhelm Gräb ein Vergnügen zu bereiten mit einem kleinen Versuch über das Gefühl der Freude, ist die Absicht der folgenden Zeilen.
1.
Gefühlsdiskurs und Gefühlsbegriff
Die Beiträge dieses Bandes nehmen selbst teil an dem inzwischen umfassend gewordenen Gefühlsdiskurs, in dem die Phänomene des Empfindens einer analytischen Aufmerksamkeit unterworfen werden. Derartige Diskurse unterliegen ja als intellektuelle Formationen selbst einer Diskursdynamik, die sich durchaus auch aus äußeren Rahmenbedingungen speist. Mir scheint, dass sich die Diskurswelten der Gefühlsdebatten am ehesten verstehen lassen, wenn man sie als Verinnerlichung des Leib- bzw. Körperdiskurses versteht, in dessen Zusammenhang auch phänomenologische Betrachtungsweisen neuen Aufschwung erfuhren. Für diesen Eindruck spricht vor allem eine strukturelle Analogie zwischen beiden Erörterungsschwerpunkten: Stets geht es um eine Einheit von Unmittelbarkeit und Vermittlung, und zwar eine solche, die unmittelbar vorliegt. In den Erörterungen über Leiblichkeit ist es die Vermittlung von Innerem und Äußerem: Der Leib wird als Phänomen aufgefasst, in dem von einem Organismus eine äußere Lebenswelt nicht nur in Anspruch genommen wird, sondern in dem auch noch eine Orientierung dieses Organismus im Sinne einer
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Selbststeuerung stattfindet. Im Gefühlsdiskurs ist es, abgestuft dazu, die Vermittlung von sinnlicher Erregung und diskursivem Gedanken, also sozusagen die reflektierte Fassung des Leiblichkeitsphänomens.1 Allerdings teilt der Gefühlsdiskurs mit den Leiblichkeitsdebatten auch deren Problematik, nämlich sich als Alternative zu transzendentalphilosophischen Erörterungen zu verstehen, die vermeintlich immer schon zu kurz greifen, weil sie angeblich nicht in der Lage seien, die aller Vermittlung eingelagerte Unmittelbarkeit angemessen zur Geltung kommen zu lassen. Wo sich diese Haltung dem Gefühlsdiskurs einschreibt, fällt er selbst hinter seinen Anspruch zurück, auf eine Erweiterung des Wahrnehmungsfeldes hoffen zu lassen. Es zeigt sich aber auch, dass auf eine transzendentale Betrachtung gar nicht verzichtet werden kann, wenn man den Gefühlsbegriff überhaupt einmal an sich selbst thematisiert. In einem sehr allgemeinen Sinne lässt sich der Begriff des Gefühls fassen als »Selbstempfindung im Betroffensein durch ein Anderes«. Dabei ist jeder Teil dieses Ausdrucks zu betonen. Es macht die Kontextsensitivität von Gefühlen aus, dass sie immer auf Äußeres reagieren: sei es auf individuelle Sinneseindrücke, sei es auf sinnlich vermittelte Interaktionen und Kommunikationen. Kalt oder warm, hell oder dunkel, laut oder leise, bitter oder süß, weich oder hart – und alles, was sich daraus mischen lässt. Mimik, Gestik, Sprache, Laut, Schrift, Bild – und was sich daraus zusammensetzt. Dies alles kommt nun unter dem Aspekt des Betroffenseins zur Geltung, also als etwas, das auf mich zukommt, das mir widerfährt, das mich so oder so beeinflusst; wobei das Gefühl erst dann zustande kommt, wenn der Kontakt sich wirklich ergeben hat; insofern sind auch gesuchte, ja vorhersehbare Gefühle doch noch vom Moment des sinnlichen Geschehens abhängig. Jedes Gefühl steht also im Spannungsfeld eines Einflusses, bleibt aber zugleich an das unmittelbare Ereignen gebunden. Und dies Ereignen ist nicht nur ein Wahrnehmen, Rezipieren, sondern zugleich so etwas wie ein inneren unmittelbarer Kommentar zu dem, was mich betrifft. Indem ich also etwas Kaltes spüre, spüre ich etwas (nämlich das, was als Kaltes mich betrifft), spüre aber im selben Akt zugleich mich als Kälteempfindlichen, der Kälte empfindet. Dass der Sinneseindruck tatsächlich eine Gefühlspräsenz besitzt, hat damit zu tun, dass ich ein Wesen bin, das über Gefühl verfügt. Gefühl setzt eine eigentümliche Selbstbeziehung voraus, so sehr sein Eintreten auch stets sinnlich provoziert ist. Daher könnte man den Begriff des Gefühls auch so beschreiben: Gefühl ist das empfundene Beisichselbstsein angesichts eines Anderen.2 Es lässt 1 Der Streit zwischen Emotionalisten und Kognitivisten erscheint, so gesehen, als Versuch einer alternativen Auflösung dieses Grundproblems. Er ist vermutlich nicht zu entscheiden. Vgl. Döring, Philosophie der Gefühle. 2 Die Analogie zum Organismus-Begriff liegt auf der Hand, nicht nur sofern dieser auf einer
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sich nach Maßgabe dieses Ausdrucks überlegen, ob es überhaupt eine sinnliche Wahrnehmung geben kann, die nicht von Gefühl oder Gefühlen begleitet sein kann. Eine solche Erörterung mag hier dahingestellt sein; es liegt nahe, eine jeweils unterschiedlich stark akzentuierte Begleitung von Erkennen und Wahrnehmen durch Gefühle zu vermuten. Hier ist es zunächst um die Verantwortung der Einsicht zu tun, dass sich die Eigentümlichkeit des Gefühls nicht (allein) aus seiner Eigenschaft ableiten lässt, durch sinnliche Eindrücke betroffen werden zu können. Vielmehr muss eine Struktur des Gefühls als solche gegeben sein, die sich im Fühlen von Gefühlen empirisch zur Darstellung bringt. Von welcher Art ist diese Gefühlsstruktur? Mit einer rühmenswerten Treffsicherheit hat Friedrich Schleiermacher die in sich gedoppelte Struktur des Gefühlsbegriffs in seiner Einleitung in die Glaubenslehre in den Blick genommen. Dabei sind es vor allem zwei Akzente, die auch für eine gegenwärtige Aufklärung des Gefühlsbegriffs unüberholt bleiben. Einmal die Auszeichnung des Gefühls als Bewusstsein, sodann die Unterscheidung von unmittelbarem und sinnlichem Selbstbewusstsein.3
2.
Gefühl als unmittelbares Selbstbewusstsein
Bekanntlich bezeichnet Schleiermacher bereits im Leitsatz zum § 3 die Frömmigkeit als »eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewusstseins«. Diese Bezeichnung wird im Abschnitt 2 des genannten Paragraphen weiter so präzisiert, dass das Gefühl durch seine Erläuterung vermittels des Selbstbewusstseins selbst als Bewusstsein verstanden wird, wogegen es durch den Ausdruck »unmittelbares Selbstbewusstsein« vom Selbstbewusstsein als Reflexionsprodukt unterschieden werden soll. So sehr diese Zuordnung argumentationsstrategisch nachvollziehbar ist, so sehr ist sie doch auch erläuterungsbedürftig. Eine solche Erläuterung gebe ich in zwei Gedankengängen. Einmal, das Gefühl wird als Bewusstsein verstanden. Es war oben davon die Rede gewesen, dass sich die Struktur der Selbsterhaltung, wie sie dem Organismus eigen ist, auf der Stufe des Gefühls wiederholt. Meinte der OrganismusSelbsterhaltung (und Selbstreproduktion) inmitten einer ihn betreffenden Umwelt beruht, sondern auch im Blick auf die Unwillkürlichkeit dieses Selbstbezuges. Im Gefühlsbegriff ist diese Struktur ins Bewusstsein gehoben. 3 In Schleiermachers Analyse in den §§ 3 – 5 der Glaubenslehre überlagern sich mehrere Argumentationsebenen. Hier werden nur die beiden genannten Momente herausgegriffen. – Auf eine Diskussion mit der Literatur muss ich aus Platzgründen verzichten, vgl. aber Cramer, Die subjektivitätstheoretischen Prämissen; Albrecht, Schleiermachers Theorie; Dierken, Glaube und Lehre; Schröder, Die kritische Identität; Barth, Die subjektivitätstheoretischen Prämissen.
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Begriff die Fähigkeit, sich selbst im Zusammenhang einer Umwelt zu erhalten, also die geeigneten Gegebenheiten der Umwelt für sich zu nutzen, so setzt diese Fähigkeit so etwas wie eine innere Verschaltung des Organismus voraus, die wir heute als molekulargenetische Informationsvermittlung zu beschreiben in der Lage sind. Für den Gefühlsbegriff muss dann analog gelten, dass das Betroffensein durch sinnliche Reize mit einer inneren Einheit der Rückbezüglichkeit im Organismus verbunden ist, die sich als symbolisch codiert, als rezeptionsfähig, aber auch vom Rezeptionsvorgang unterscheidbar darstellt. Das erweist sich daran, dass ein bestimmtes Gefühl (sagen wir : des Kalten) durchaus mit unterschiedlichen Auslösern verbunden sein kann. Es zeigt sich in diesem Abstraktionsschritt hin zu einer die aktuelle Erfahrungssituation auch schon überschreitenden, wenngleich situativ eingebunden bleibenden Symbolisierung bereits die Fähigkeit des Selbstbewusstseins, auf etwas als etwas zu referieren. Man kann also, das wäre das Fazit dieser ersten kleinen Erläuterung, vom Gefühl als Gefühl (das heißt: in einer relativen Unterschiedenheit vom Auslöser des Gefühls) nur dann sprechen, wenn man von der Fähigkeit des Bewusstseins zur Beziehung auf etwas als etwas Gebrauch macht.4 Im Selbstbewusstsein wird, anders gesagt, das Moment des Gefühls ausdrücklich empfunden. Von diesem Gedanken aus ergibt sich nun die andere Erläuterung leicht. So sehr der Ausdruck »unmittelbares Selbstbewusstsein« auf den ersten Blick als widersprüchlich erscheint, weil Bewusstsein und Vermittlung zusammengehören, so sehr trifft er doch die Sache, erweist sich nämlich das Selbstbewusstsein selbst nicht als Tat, die man auch unterlassen könnte, sondern als Sich-Gegebensein des Bewusstseins selbst. Von einem unmittelbaren Selbstbewusstsein zu sprechen, deutet darauf hin, dass die eigentümliche Form der Selbstbegegnung, wie sie im sinnlichkeitsvermittelten Gefühl statthat, in der Tat als Voraussetzung des Selbstbewusstseins zu gelten hat; ja, darüber hinaus: dass es diese Selbstpräsenz im Gefühl nur für einen Organismus gibt, der sich selbst zu erhalten imstande ist. Beide Erläuterungen zusammen weisen auf den Sachverhalt hin, dass Gefühl und Selbstbewusstsein sich gegenseitig explizieren, freilich in unterschiedlicher Akzentuierung: Deutet das Gefühl die leibliche Verwurzelung des Selbstbewusstseins an, so lässt erst die Referenz auf das Selbstbewusstsein die Eigenart des Gefühls als Gefühl erkennen. Diese sozusagen transzendentale Komponente des Gefühls gehört in gleichem Maße zum Gefühlsbegriff wie die Betroffenheit des Gefühls in den Gefühlen durch die Welt des Sinnlichen. 4 Dagegen verstrickt sich der Versuch, so etwas wie ein bewusstloses Gefühl zu unterstellen, in Selbstwidersprüche. Abgesehen davon, dass es schon Bewusstsein verlangt, vom Bewusstlosen zu sprechen, wäre auch ein bewusstloses Gefühl nichts anderes als ein Moment eines physikalisch-chemisch zu beschreibenden Kausalzusammenhangs von Ursache und Wirkung.
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Gefühl und Gefühle
Wir kommen damit aber auch schon zum zweiten Akzent, der an Schleiermachers Aufstellungen hier hervorgehoben werden soll, nämlich die Duplizität von unmittelbarem und sinnlichem Selbstbewusstsein. Wenn man mit Schleiermachers Ausdruckweise daran festhält, die (im obigen Sinn verstandene) transzendentale Seite des Gefühls mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein zu identifizieren, dann kann man seine Rede von einem »sinnlichen Selbstbewusstsein« als Umschreibung von sinnlich-positiv vermittelten Gefühlen verstehen; »das Gefühl« im kategorialen Sinne steht somit »den Gefühlen« als so oder so bestimmten Emotionen gegenüber, die von diesem oder jenem sinnlichen Sachverhalt ausgelöst wurden. In der Tat sind, wie wir gesehen haben, beide Aspekte nötig Behauptet man nun, abermals mit Schleiermacher, diese notwendige Koexistenz der beiden Dimensionen des Gefühlsbegriffs, dann stellt sich die Frage nach ihrem konkreten Verhältnis. Dieses lässt sich nur auf zwiefältige Weise beschreiben – und diese Form der Beschreibung wird uns auf ein neues, noch nicht gelöstes Problem führen. Was die Zwiefältigkeit der Beschreibung angeht, so ist einerseits davon zu sprechen, dass durch die Beziehung auf das unmittelbare Selbstbewusstsein die sinnlich vermittelten Gefühle ein Wertungsgefälle erhalten; dass also die Differenz eintritt, die in die Alternative von Lust und Unlust gefasst wird. Dabei kann Lust als das angesehen werden, was die Selbstübereinstimmung fördert oder zu fördern verspricht; die Fähigkeit also, sich im Kontakt mit der sinnlichen Umgebung besser zu erhalten bzw. leichter auf sich selbst zurückzukommen. Hierbei handelt es sich um die Momente, angesichts derer die Selbstbeziehung als Grund der Gefühle fühlbar wird. Wo das Leben gelingt, so könnte man sagen, stellt sich leichter positive Selbstbeziehung ein. Auf der anderen Seite stehen solche sinnlichen Einflüsse und die mit ihnen sich verbindenden Gefühle, die die vorgegebene Einheit belasten und zu zerstören drohen. Im Zusammenhang unserer hier erwogenen Argumente kann man deutlich bemerken, inwiefern schon eine Beeinträchtigung des organismischen Lebens, etwa durch Krankheit, eine ins Bewusstsein drängende Gefühlswirklichkeit annimmt. In dieser Betrachtungsrichtung, von den Gefühlen in ihrer unterschiedlichen Bestimmung auf das Gefühl als die transzendentale Einheit hin gesehen, erlaubt genau und erst die transzendentale Verankerung des Gefühls einen einheitlichen Gefühlshaushalt. Zur der anderen Seite hin ist nun aber auch die Verwiesenheit des Gefühls auf die Gefühle zu bedenken. Denn auch für das transzendentale Moment im Gefühl, ja für dieses ganz besonders, gilt die Notwendigkeit, sich stets auf die sinnlich bestimmten Gefühle hin auszulegen. An sich selbst ist dieses Gefühl gar nicht als solches existent; es wird eben im Übergang, als Beziehungsinstanz, fühlbar, im
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Prozess der Regelung der Differenzen sozusagen. Und doch kann es sich dabei noch nicht um die vollständige Bestimmung des Gefühls handeln. Denn so sehr man mit einer der Sinnlichkeit zugewandten Seite des Gefühls rechnen muss – kein Gefühl ohne Gefühle! –, so wenig ergibt sich doch die transzendentale Leistung des Gefühls aus dieser Bezogenheit. Es muss vielmehr eine Bestimmtheit des Gefühls geben, die – unbeschadet der Offenheit für die Sinnlichkeit – doch auf eine eigene Herkunft des Gefühls verweist. An dieser Stelle greift, wie man weiß, Schleiermachers Gedanke vom Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ein, durch die die Gefühlstheorie einen religiösen Horizont erhält. Nur als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit besitzt das Gefühl seinen transzendentalen Status.
4.
Die Herkunft des Gefühls
Die Argumentation dafür liegt auf der Hand. Wenn das Gefühl (im starken Verständnis) nicht einfach ein Reflexionsprodukt der Gefühle sein soll, ein ihnen nur vorausgedachter Gedanke, dann muss es selbst einen Grund haben. Dieser Grund kann nicht von der Art sein, wie diejenigen der Gefühle, kann sich also nicht im Wechselverhältnis von – Lust und Unlust auslösenden – sinnlichen Bestimmungen bewegen. Das Gefühl kann aber auch nicht ohne Herkunftsbestimmung bleiben; denn dann würde die Abstraktion einer scheinbaren Selbstsetzung drohen, die doch nicht in der Lage wäre, die Unmittelbarkeit der Gefühlsverwurzelung in der sinnlichen Welt einzuholen: die idealistische Vermessenheit. Man müsste dann eher vermuten, dass die behauptete Urteilsenthaltung nichts anderes darstellt als ein Verschweigen der Herkunft aus der Sinnlichkeit selbst: Gefühl als höherer Naturalismus. Im einen wie im anderen Fall zeigte sich aber die mangelnde Erklärungskraft für die transzendentale Funktion des Gefühls. Jenseits von naturalistischen und idealistischen Erklärungsversuchen ist das Gefühl als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit zu verstehen. Sich selbst gegeben – also unmittelbar zu sich selbst, weil nicht erzeugt –, ist es in der Lage, die sinnlichen Bestimmtheiten der Gefühle als solche zu würdigen und zu verstehen; als die Weise des Selbstbewusstseins, in der Welt zu sein. Das Verständnis der sinnlichen Abhängigkeit entsteht aus dem Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit – so wie, umgekehrt gelesen, die Realität sinnlicher Abhängigkeit den hermeneutischen Horizont für die schlechthinnige Abhängigkeit darstellt. Nun lässt sich aber, nochmals mit Schleiermacher argumentierend, eine solche schlechthinnige Abhängigkeit nicht ohne ein Woher denken; die Frage nach dem Woher ist dem Gedanken der Abhängigkeit streng zugehörig. Damit wird der Gedanke über das Gefühl explizit religiös. Denn dass es sich bei diesem
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Woher des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls um eine Instanz handeln muss, die nicht der Welt angehört, versteht sich von selbst. Sie muss aber zugleich auch als Instanz gedacht werden, die als Grund der Existenz der Welt, also als Inbegriff der die Gefühle beeinflussenden Sinnlichkeit verstanden werden kann. Der Gottesgedanke allein kommt hier als sprachliche Repräsentanz in Betracht: Gott ist der Name für das Woher des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit – ebenso wie er als Grund der Welt gedacht werden muss, die das Ensemble der Gefühle vom Status bedingter Abhängigkeit darstellt. Wendet man diese Präzisierung nun wieder auf den Gefühlsbegriff und seine Dynamik an, dann ergibt sich einerseits, dass sich für die Rückbeziehung der weltlich bedingten sinnlichen Gefühle auf das Gefühl eine klarere Bestimmtheit einstellt. Denn nun bekommt der Begriff der Selbstübereinstimmung, der ja der Alternative von Lust und Unlust zugrunde lag, eine neue Dimension. Bei der Frage nach einer Förderung oder Hinderung der Selbstübereinstimmung handelt es sich nämlich nicht um eine Förderlichkeit oder Beeinträchtigung des sinnlichen, organismischen Lebens, sondern zuvor um eine Förderung oder Minderung des Gottesverhältnisses als der Begründungsdimension des unmittelbaren Selbstbewusstseins. Lustvoll ist, was das Gottesverhältnis erleichtert, mit Unlust besetzt dasjenige, was von Gott wegführt. Die Verhältnisse der Welt und ihre gefühlsmäßige Repräsentanz bekommen so ein neues Gewicht, werden in einem anderen Licht betrachtet. Analog zu unserer Überlegung vorhin muss nun aber andererseits auch die umgekehrte Betrachtungsweise zur Sprache kommen, die vom schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl zu den bestimmten Gefühlen geht. Hier gilt, dass sich das Gottesbewusstsein auch auf die Übergänge auswirkt, die zwischen Lust und Unlust zu bemerken sind. Es wird sich darin als wirksam und kräftig erweisen, dass es die weltlich induzierten Gefühlslagen noch einmal überschreibt und sie im Sinne einer Stärkung oder Schwächung des Gottesbewusstseins beurteilt. Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit erlaubt so eine Relativierung der sinnlichen Abhängigkeiten. In der Bewältigung weltlicher Anfechtungen kann sich die Kräftigkeit des Gottesbewusstseins dokumentieren. Allerdings – so wahr dieser Gedanke ist, so wenig kann er doch schon ausreichen. Damit kommen wir auf das Problem zu sprechen, das sich auf dieser Ebene der Reflexion stellt. Denn wir kennen das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit bis jetzt nur als die Bestimmung, die auf das transzendentale Moment des Gefühls verweist, das sich in dieser Stellung als Frömmigkeit bzw. als Bewusstsein von Gott ausspricht. Es kann nun aber dieser Grund der Gefühle selbst nicht nur ein Gedanke sein; es muss sich selbst um ein Gefühl handeln. Doch kann man dieses Gefühl selbst fühlen, wenn doch die Bedingungen des Fühlens sich ausschließlich im Bereich des sinnlichen Selbstbewusstseins finden lassen?
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Freude als Fühlbarkeit des Gefühls
Schleiermacher selbst hat sich dieser Frage im § 5 der Glaubenslehre angenähert. Im vierten Abschnitt reflektiert er ausführlich über das Verhältnis von sinnlichem und unmittelbarem Selbstbewusstsein auf der Ebene des Fühlens. Dabei ist seine Grundeinsicht, dass sich die Eigenart des frommen Gefühls durch seine Verarbeitung der sinnlichen Gegensätze zur Geltung bringt – also in der Ausrichtung der Empfindungen von Lust und Unlust auf das Grundverhältnis des Sich-Gegebenseins des Selbstbewusstseins, welches in der Lage ist, sowohl die Übereinstimmung als auch den Widerspruch der Gefühle zum unmittelbaren Selbstbewusstsein im Sinne einer Stärkung dieses Selbstbewusstseins zu verwerten. In dieser Deutungsarbeit des unmittelbaren Gefühls, so ist seine Beobachtung, wird es selbst zu einem Moment neben anderen – und eben aus dieser deutenden Beziehung des unmittelbaren Selbstbewusstseins auf die gegenläufig bestimmten Gefühle entsteht das, was dann in einem dezidierten Sinne frommes Selbstbewusstsein als konkretes Lebensphänomen heißen kann. Dieses Empfinden der Wirksamkeit des frommen Selbstbewusstseins, diese Orientierung der Gefälligkeiten und Widrigkeiten des Lebens auf den Grund des Gefühls hin und die in diesem sich darstellende Verbundenheit mit Gott, stellt sich, so hat Schleiermacher mit Sorgfalt notiert, als Freude dar.5 Freude ist, so betrachtet, ein Gefühl höherer Stufe. Eines, das sich nicht einfach abhängig weiß von Gegebenheiten der Welt und ihrem günstigstenfalls positiven Einfluss auf uns, sondern von der Bearbeitung des gefühlsmäßigen Gegensatzes, der empirisch nie ganz verschwindet. Eben in dieser Stufung nun ist das Gefühl der Freude die beste Antwort auf die Frage nach der Fühlbarkeit nicht nur der Gefühle, sondern auch – und zentral – des Gefühls. Allerdings lässt sich nicht übersehen, dass Schleiermachers Antwort hier noch nicht überzeugen kann – gerade dann, wenn man an seinem Programm einer nicht aus der Welt zu begründenden Abhängigkeit des unmittelbaren Selbstbewusstseins festhält. Wollte man den fraglichen Sachverhalt in einer der religiösen Sprache angenäherten Ausdrucksweise artikulieren, dann könnte man sagen: Die von Schleiermacher gemeinte Freude empfindet ein Mensch angesichts seiner Bewahrung im Leben, trotz Not und Gefahr, oder angesichts einer ihm vergebenen Schuld, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Doch was ist die Bedingung der Möglichkeit dieses die empirische Welt der sinnlichen Gefühle
5 »[W]ie das Hervortreten überhaupt dieses höheren Selbstbewusstseins Lebenserhöhung ist: so ist das jedesmalige leichte Hervortreten desselben um auf ein bestimmtes sinnliches, dieses sei nun angenehm oder unangenehm, bezogen zu werden ein leichter Verlauf jenes höheren Lebens, und trägt, wenn es durch Gegeneinanderhaltung zur Wahrnehmung kommt, das Gepräge der Freude.« Schleiermacher, Der christliche Glaube, 49.
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umdeutenden, verarbeitenden Grundgefühls? Was fühlen wir, wenn wir Freude empfinden?6 Zur Antwort auf diese Fragen gehen wir noch einmal auf den Ausdruck »unmittelbares Selbstbewusstsein« zurück. In ihm liegen zwei Momente vereint. Einmal ein Zurückkommen auf sich selbst. Dieter Henrich hat immer wieder auf diesen Grundsachverhalt hingewiesen, der das Selbstbewusstsein auszeichnet. Zeichnet man dieses Zurückkommen auf sich selbst nun als unmittelbar aus, dann wird unterstrichen, dass es sich beim Selbstbewusstsein nicht um eine geplante oder überhaupt planbare Tat handelt, sondern einen Zu-fall. Dass eben dies geschieht, dieses Zurückkommen auf mich, das lässt sich aus keiner höheren Einsicht ableiten, dafür gibt es keine übergeordnete Notwendigkeit. Und zwar auch dann nicht, wenn es sich beim Selbstbewusstsein, wie es tatsächlich der Fall ist, um ein nicht negierbares Grundfaktum handelt. Aus dieser Einsicht ergibt sich als zweites Moment, dass die Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins stets die Signatur der Individualität trägt. So sehr wir uns über die Struktur des Selbstbewusstseins verständigen können (was wir ja gerade tun), so wenig erzeugt diese Struktur dessen wirkliches Vorliegen; dieses ist ganz und gar vom Vollzogenwerden des Selbstbewusstseins abhängig. Bezogensein auf sich und Kontingenz, das sind also die beiden Momente, die im unmittelbaren Selbstbewusstsein verbunden werden. Es lässt sich nun in einem ersten Angang nachvollziehen, inwiefern das Gefühl der Freude am engsten mit diesem Sachverhalt des unmittelbaren Selbstbewusstseins zusammengehört. Denn Freude ist eben diejenige Weise des Beisichselbstseins, die die Unwahrscheinlichkeit des individuellen Gelingens dieses Selbstbezuges empfindet. Und wenn das unmittelbare Selbstbewusstsein als Umschreibung der, wie wir es nannten, transzendentalen Funktion des Gefühls zu stehen kommt, dann zeigt sich auch hier, dass es sich bei der Freude um diejenige Bestimmtheit des Gefühls handelt, die dieser Stellung entspricht. Nun macht diese Überlegung aber eine andere Fortsetzung nötig als sie Schleiermacher, wie oben dargestellt, gab. Denn wenn es um das Sich-Gegebensein, das Zurückkommen auf sich zu tun ist, dann muss auch der Grund, der schon umwillen der Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins mitgedacht zu werden verlangt, reicher und differenzierter gedacht werden. Der Grund des Selbstbewusstseins, so wie es eben beschrieben wurde, erfordert dann selbst als eine Art Beziehung auf sich verstanden zu werden. Wäre es anders, käme durch unser Selbstbewusstsein eine Bestimmungserweiterung auf, die man sich nicht anders als durch die Vielfalt der Welt erzeugt vorstellen könnte – das aber 6 »Obwohl die Freude im Alltagsleben sicherlich eine große Rolle spielt, ist sie in der Geschichte der Philosophie nur selten zum Gegenstand ernsthafter Analysen geworden.« Demmerling/ Landweer, Philosophie der Gefühle, 111.
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wäre eine mindestens sekundäre Abhängigkeit des Selbstbewusstseins selbst von der Welt, deren transzendentale Verstehbarkeit es doch begründen soll. Allein, nicht nur dies: Nicht bloß das Bezogensein auf sich, auch das Moment der Kontingenz gehört in den Gedanken des Grundes des Selbstbewusstseins. Andernfalls wäre nämlich der subjektive Selbstvollzug abermals eine solche Novität des Selbstbewusstseins, die die Grundlegungskraft des beanspruchten Grundes dementieren würde. So sehr also der Grund des Selbstbewusstseins selbst als von einer Selbstbeziehung geprägt verstanden werden muss, so wenig ergibt sich allein aus dieser Struktur die Existenz des humanen Selbstbewusstseins. Nur ein Selbstvollzug des Grundes, der nicht schon die Setzung des Selbstbewusstseins mit sich führt, kann als Grund des Selbstbewusstseins in Anspruch genommen werden. Es mag nicht überflüssig sein, diesen Gedankengang in dreifacher Weise zu kommentieren. Einmal, mit diesem Gedanken eines beziehungsförmig-kontingenten Grundes des Selbstbewusstseins verlassen wir den methodischen Rahmen unserer aufs humane Subjekt konzentrierten Reflexion nicht. Keineswegs also erhebt dessen Rekonstruktion den Anspruch, auf irgendwie unmittelbar gegebene ontologisch selbständige Sachverhalte zuzugreifen. Wir mussten unsere Reflexionen nur konsequent fortsetzen, weil es den Status und die Struktur des unmittelbaren Selbstbewusstseins genau zu verstehen galt. Auch der Gedanke der Unabhängigkeit des Grundes gegenüber dem Begründeten ist ein Gedanke, der vom Begründeten ausgeht. Sodann, unser Überlegungsgang vermag ein gewisses Unbehagen, das sich auch bei wohlwollendster Schleiermacher-Lektüre stets einzustellen pflegt, zu beheben; ich meine die von Schleiermacher nicht konsequent ausgeschiedene Vorstellung einer Art kausaler Abhängigkeit des Selbstbewusstseins von seinem Woher. So, wie wir uns hier die Dinge zurechtgelegt haben, wird deutlich, dass die unausweichliche Inanspruchnahme einer Herkunftsdimension des Selbstbewusstseins ein höchst spezifisches Verhältnis zu seinem Grund einschließt: In diesem Grund steckt selbst ein Moment der Freiheit – sowohl was dessen innere Struktur angeht als auch dessen vollzugsförmige Aktualität als auch dessen Selbstüberschreitung hin zum Selbstbewusstsein. Damit wird, drittens, nachvollziehbar, inwiefern der Gottesname als sprachlicher Träger des Woher des schlechthinnigen Abhängigkeit immer auch reicher auftritt als allein in dieser Bezeichnung; die mit dem Gottesnamen immer schon verbundenen Aussagen gehen dann nämlich nicht nur auf die unvermeidliche Verendlichung des Unendlichen im Horizont der Welt zurück, sondern wurzeln in seiner intern zu denkenden Beziehungshaftigkeit. Ja, man wird sagen müssen, dass es erst und eben diese Figur interner Selbstbeziehung ist, die ein Betroffensein Gottes selbst von weltlichen Differenzen möglich macht, dann aber auch erlaubt. Deshalb darf man, diese Überlegungen abschließend, sagen: Gott ist der
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Grund der Freude. Damit gewinnt die Freude den ihr zukommenden Status der Unbedingtheit unter den Gefühlen, der sie als Empfindung des unmittelbaren Selbstbewusstseins auszeichnet. Es versteht sich von hier aus auch, inwiefern sich mit dem Gefühl der Freude das der Dankbarkeit verbindet, die keine Dankbarkeit für etwas ist, sondern für sich selbst.7 Schleiermachers Analyse hatte die Freude als Empfindung gelungener Differenzverarbeitung notiert; das ist ja auch nicht falsch. In der Tat stellt sich ein freudiges Gefühl da ein, wo die widerstrebenden Erfahrungen, sei es aufbauender, sei es bedrohlicher Art, zusammengefasst und geordnet werden. Wir verstehen jetzt aber besser, inwiefern das möglich ist. Es schwingt in diesen Orientierungserfahrungen gewissermaßen ein Oberton mit, der in allem Bezug auf weltlich Gegebenes und Berührendes doch von einer Selbstbegegnung lebt, die gerade nicht aus der Welt und ihrer Überwindung stammt. Dieser Gedanke kann zu einer weiteren Strukturierung der Logik der Gefühle helfen. Denn macht man sich die spezifische Stellung der Freude klar, dann erscheint als ihr Gegenbild die Angst – also dasjenige Gefühl, das dem Sachverhalt, auf sich zurückkommen zu müssen, dieses Zurückkommen aber nicht in der eigenen Verfügung zu haben, entspricht. Es liegt, so betrachtet, auf der Hand, dass die Freude immer von der Angst als ihrem Schatten begleitet wird.8 Diese Beobachtung kann weiter die Mechanismen der Verarbeitung von differenten Gefühlen strukturieren. Es zeichnet nämlich das Grundgefühl der Angst aus, dass Erfahrungen der Bedrohung und des Zerfalls sozusagen ungefiltert auf die Verfassung der Subjektivität zurückschlagen; die innere Grundlosigkeit spiegelt sich darin, dass alle äußeren Infragestellungen sofort als Ahnung des eigenen Endes empfunden werden. Umgekehrt steckt in jeder positiven Verarbeitung anfechtender Erfahrungen ein Moment der Freude, sofern die innere Unabhängigkeit sich auch in äußerer Gebundenheit und Hinfälligkeit bewährt. Man könnte den Versuch machen, im Ausgang von dieser elementaren Disjunktion von Freude und Angst als den sozusagen transzendentalen Grundgefühlen ein Panorama der Gefühle und ihrer Mischungen zu zeichnen. Das kann hier natürlich nicht geschehen. Allerdings ergibt sich aus dieser Perspektive nun, wie der Titel dieser Überlegungen zu verstehen ist: »in sich selbst vergnügt«. Es handelt sich, jedem Gottesdienstbesucher wird sie geläufig sein, um eine Formulierung des Ba7 Das wird in der ersten Strophe von Matthias Claudius’ bekanntem Gedicht in großer Schlichtheit ausgesprochen: »Ich danke Gott und freue mich / Wie’s Kind zur Weihnachtsgabe, / Dass ich bin, bin! Und dass ich dich, / Schön menschlich Antlitz! habe.« Die folgenden Strophen halten diese schlichte Tiefe freilich nicht ein. Vgl. im übrigen Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit; das Claudius-Gedicht wird dort meditiert: 165 – 169. 8 Das Verhältnis von Freude und Angst scheint mir also grundlegender als das das umgangssprachliche Doppel »Freud und Leid«.
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rockdichters Georg Neumark in der dritten Strophe seines Liedes »Wer nur den lieben Gott lässt walten« (EG 369). In sich selbst vergnügt – das heißt nicht: an sich selbst genug haben. Wohl aber : Auf sich selbst so bezogen sein, dass einem Genüge widerfahren ist, bei sich selbst zu sein. In sich selbst vergnügt – das zeichnet die Freude aus als Freude, die von Gott her kommt. Wie sich das in Georg Neumarks ganzem Lied spiegelt, das wäre eine Analyse wert. Überhaupt zeigt sich, achtet man einmal auf die religiöse Verwendung von »Freude«, sei es in der Bibel, sei es in unseren Kirchenliedern, mit ziemlich großer Pünktlichkeit ein Bild dieses Gefühls, das dessen Status als Grundgefühl deutlich zu erkennen gibt; auch dies zu tun, kann hier nur als Empfehlung weitergegeben werden.
6.
Verkündigung und Theologie als Kommunikation und Reflexion der Freude
Das Gefühl der Freude ist so kontingent und individuell wie das unmittelbare Selbstbewusstsein. Dennoch vermittelt sich Freude überindividuell, sofern der Sachverhalt unmittelbaren Selbstbewusstseins jedem Individuum eigen ist; es bedarf nur der Aufmerksamkeit auf sich selbst und den eigenen Status des Selbstseins. Diese Aufmerksamkeit wird durch Kommunikation und Reflexion erzeugt, die voneinander nicht ablösbar sind. Dass auf diese Weise Verkündigung und Theologie, Praktische Theologie und Dogmatik zusammengehen, könnte Wilhelm Gräb vielleicht auch erfreuen. Das Evangelium ist frohe Botschaft, von der Verkündigung großer Freude durch die Engel auf dem Feld vor Bethlehem (Lk 2, 10) bis zur Verheißung der Vollkommenheit der Freude in den Abschiedesreden des johanneischen Jesus (Joh 15,11; 16,24; 17,13) und dem Erwartungsbewusstsein der johanneischen Gemeinde (1. Joh 1,4).9 Es empfiehlt sich, die damit ausgesprochene Gefühlsdimension des Evangeliums auch in der kirchlichen Verkündigung leitend sein zu lassen. In den Erfahrungen der Hörer eine Ordnung der Gefühle anzuregen, das wäre dann eine oberste Aufgabe der Predigt. Damit rückt die Predigt entschieden ab von einer auf Vorstellungsgehalte hin ausgerichteten, vermeintlich aktualisierenden Interpretation antiker religiöser Texte. Auch noch so fromme Rede verleiht derlei Vorstellungen keine religiöse Dignität. Vielmehr kommt es auf das eigene Erleben derjenigen Wirklichkeit an, die den Grund unseres Lebens, unser Gefühl als unmittelbares Selbstbewusstsein, immer schon bestimmt und bewegt. Von ihr ist so zu reden, dass ihre Kraft zur Deutung und Bewältigung der bedrängenden Differenzerfahrungen verständlich wird. Sie lässt sich 9 Auch in psychologischer Hinsicht interessant: Inselmann, Die Freude im Lukasevangelium.
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an biblischen Gestalten exemplarisch und paradigmatisch dartun, so wie an eigenen, ihnen analogen Erfahrungen im Lebensgeschick. Allerdings wird die Verkündigung eine Klarheit dieser Erfahrungen nur zur Darstellung bringen und zu ihrem Nachvollzug auffordern können, wenn sie auch und explizit von Gott redet; davon nämlich, wie Gott sich in diesem Gefühl der Freude elementar spürbar macht. Das kann aber kommunikativ nur geschehen, wenn sich die Predigt auch nicht scheut, Geschichten von Gott zu erzählen, also dessen Eingang in die Welt unserer Bilder und Vorstellungen nicht ausklammert. Der Gott, der sich als Grund der Freude auf unser unmittelbares Selbstbewusstsein bezieht, lässt sich damit auch auf die Welt ein, für die unser Gefühl eine sie erschließende Funktion besitzt. Dem entsprechen Narrationen und Handlungen, die es braucht, damit es zu individuellem Erleben kommt. Diese Haltung der Verkündigung (und der Gestaltung der Sakramente) realisiert, dass es um eine Orientierung der Gefühle zu tun ist, eine Versammlung um das Grundgefühl der Freude, das alle anderen Gefühle trägt.10 Die Narrationen und Handlungen der Verkündigung nehmen de facto Reflexion in Anspruch – und haben sie auch nötig. Diese Reflexion explizit zu artikulieren, ist die Aufgabe der Theologie. Sie darf dabei ruhigen Gewissens auch von der Freude und ihrem Grund ausgehen. Wenn sie genau vorgeht, wird sie den Unterschied zwischen den weltlich induzierten Gefühlslagen und dem transzendentalen Status des Gefühls ausarbeiten. Sie wird nach dem Grund des Gefühls fragen, ohne dessen Bezogenheit auf die Welt der Gefühle zu vernachlässigen. Sie wird den Geschichten von Gott die Geschichte Gottes selbst einschreiben – als eine Geschichte des »Werdens zu sich« (Joachim Ringleben). Denn der Gott, der als Grund der Freude gedacht wird, stellt sich dar als in sich selbst auf sich selbst bezogen – die Bedingung, sich auf uns zu beziehen als in uns selbst differenzierte Wesen. Er nimmt diese Beziehung zu uns als Beziehung zum Anderen auf, welches erst dadurch als eigenes Anderes, selbst beziehungsfähig, wird. Er hält diese Beziehung auch dann durch, ja vertieft sie sogar, wenn die von ihm konstituierte Beziehung nicht erwidert wird. Sowohl durch jene erste und grundlegende wie durch diese zweite und vertiefende Beziehung gewinnt Gott über sein Ansichsein hinaus sein wahres Wesen, das eben nicht nur für sich, sondern zugleich für uns ist. Man sieht leicht, dass sich von dieser Gedankenbewegung des Grundes der Freude aus alle klassischen dogmatischen Themen strukturieren lassen – jetzt aber in einer deutlichen Einschreibung in den Horizont, dem sie auch entstammen, nämlich der gelebten Freude an Gott.
10 Das hat zur Folge, dass wir in der Tat, wie Schleiermacher sagt, »vom Zorn Gottes nichts zu lehren haben«, sofern dieser als ein Grund der Angst gälte – ohne dass die Angst als Schatten der Freude geleugnet werden dürfte.
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Dietrich Korsch
Literatur Albrecht, Christian, Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit. Ihr wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik (SchlA 15), Berlin/New York 1994. Barth, Ulrich, Die subjektivitätstheoretischen Prämissen der »Glaubenslehre«. Eine Replik auf K. Cramers Schleiermacher-Studie, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 329 – 351. Cramer, Konrad, Die subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewusstseins, in: Lange, Dietz (Hg.), Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834). Theologe – Philosoph – Pädagoge, Göttingen 1984, 129 – 162. Demmerling, Christoph/Landweer, Hilge, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007. Dierken, Jörg, Glaube und Lehre im modernen Protestantismus. Studien zum Verhältnis von religiösem Vollzug und theologischer Bestimmtheit bei Barth und Bultmann sowie Hegel und Schleiermacher (BHTh 92), Tübingen 1996, 308 – 378. Döring, Sabine A., Philosophie der Gefühle, Frankfurt a.M. 2009. Henrich, Dieter, Gedanken zur Dankbarkeit, in: Ders., Bewußtes Leben, Stuttgart 1999, 152 – 193. Inselmann, Anke, Die Freude im Lukasevangelium. Ein Beitrag zur psychologischen Exegese (WUNT 2, 322), Tübingen 2012. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Der christliche Glaube, 2. Aufl., hg. v. Rolf Schäfer, 1. Band, Berlin/New York 2008. Schröder, Markus, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesenbestimmung der christlichen Religion (BHTh 96), Tübingen 1996.
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Martin Kumlehn
»Gedanken über den Werth der Gefühle« in Johann Joachim Spaldings religionstheologischer Anthropologie
Die spezifische Bedeutung der Theologie der späten Aufklärung bzw. des Sturm und Drang wird nicht zu Unrecht in der Überwindung des Gegensatzes von Orthodoxie bzw. Rationalismus einerseits und Pietismus andererseits gesehen, der die theologische und kirchliche Entwicklung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts weitgehend lähmte. Dies gelingt der Aufklärungstheologie, indem sie die von beiden kirchlich-theologischen Strömungen – wenn auch auf je verschiedene Weise und mit jeweils unterschiedlicher Akzentsetzung – artikulierte Forderung, wonach die Frömmigkeit auch (lebens-)praktisch sein bzw. werden müsse, aus der Engführung auf die theologisch korrekte Verhältnisbestimmung von ›Glaube‹ und ›Werken‹ herauslöste und auf das grundlegende Problem des Zusammenhangs von ›Religion‹ und ›Moral‹ hin erweiterte. »Das Neue« bestand dann darin, daß beide unter die Bedingung tätiger Selbsterfahrung treten, daß also beide der Verwirklichung der ›Bestimmung des Menschen‹ zugeordnet werden. Die christliche Religion ist praktisch, insofern sie die Verwirklichung dieser Bestimmung ins Werk setzt und zur Erfahrung bringt.1
Mit seinen popularphilosophischen, religionstheoretischen und praktischtheologischen Schriften sowie durch seine mehrfach aufgelegten Predigtsammlungen hat Johann Joachim Spalding diesen Wandlungsprozess nicht nur begleitet, sondern selbst nachhaltig geprägt.2 Im Mittelpunkt seines bis heute »unvollendeten Projekts der kirchlichen Aufklärung« steht die »Religion der freien Einsicht«3, wonach die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Daseins 1 Sparn, Vernünftiges Christentum, 39. 2 Über Spaldings Leben und Werk informiert seine Autobiographie, die neben derjenigen von Johann Salomo Semler zu den interessantesten Zeugnissen aufklärungstheologischer Selbstbeschreibung zählt. Spalding, Lebensbeschreibung; vgl. außerdem Bourel, Art. Spalding; Pötschke, Spalding; Nordmann, Spalding; Schollmeier, Spalding; Dreesman, Aufklärung der Religion. 3 Gräb, Religion.
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Martin Kumlehn
»nirgends anderswo gesucht, wenigstens nirgends sicherer und kürzer gefunden werden [könne] als in dem, was uns das nächste ist, in dem eigenen Bewußtsein unsrer wesentlichen Einrichtung, ihrer unveränderlichen Anlagen und Triebe«4. Die Reflexion auf das Wesen des Menschen wird darum bei Spalding zur »Selbstbetrachtung«, zum »Hören auf die Stimme im eigenen Innern«5. Im Alter von 50 Jahren wurde Spalding 1764 als Propst, Oberkonsistorialrat und erster Pfarrer an St. Nicolai und St. Marien nach Berlin berufen. Dort stand er in regem Austausch mit der hauptstädtischen, aufgeklärten Intelligenz, war Mitglied der Mittwochsgesellschaft und wusste sich eng mit den anderen geistlichen Räten des Oberkonsistoriums, die wie er selbst überwiegend der neologischen Richtung angehörten, verbunden. Besonders eng jedoch gestaltete sich das Verhältnis zum reformierten Hof- und Domprediger August Friedrich Wilhelm Sack, den Spalding bereits 1745 bei einem kurzen Besuch in Berlin kennengelernt hatte und dessen »Freyheit zu denken« ihm seinen eigenen Worten zufolge zwar »neu war, aber nichts weniger als zuwider«, da er mit ihr »eine besondere Offenherzigkeit und uneingeschränkte Liebe zur Wahrheit verknüpft fand.«6 Eine ähnliche ›Freiheit zu denken‹ hatte er zu Beginn der vierziger Jahre im Werk des englischen Moralphilosophen Shaftesbury entdeckt, von dem er in der Folge zwei Schriften (»Moralists« und »Inquiry concerning Virtue«) ins Deutsche übersetzte.7 Fasziniert hatte den bis dahin hauptsächlich durch den Hallenser rationalistischen Philosophen Christian Wolff geprägten Spalding an Shaftesburys freiem Denken wohl vor allem dessen Überzeugung, die Sittlichkeit des Menschen sei in seiner Natur begründet. Jedenfalls wird diese Ansicht später, 1748, zum Ausgangspunkt seiner so erfolgreichen »Betrachtung über die Bestimmung des Menschen«8. In diesem theologischen Bestseller – das Büchlein wurde bis 1794 nicht weniger als elfmal neu aufgelegt – unternimmt es Spalding, Sinn und Bedeutung der Religion von der individuellen Selbstbetrachtung aus zu bestimmen. Seine »These lautet: Religion entspringt der Frage des Menschen nach sich selbst und kann auch nur in Form der Anleitung zu einem solchen Selbstdeutungsprozeß
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Spalding, Religion, 117. Gräb, Religion, 216. Spalding, Lebensbeschreibung, 127. Zum Einfluss Shaftesburys auf Spaldings Denken vgl. Dehrmann, Orakel, 130 ff. Spalding, Bestimmung; vgl. Karl Heinrich Sacks Charakterisierung der »Bestimmung des Menschen [als] eine Art populärer Religions- und Moralphilosophie in Selbstgesprächen« (Sacks, Geschichte der Predigt, 69); Bourel bezeichnet die Schrift als »eine Art Phänomenologie des Bewußtseins« (Bourel, Art. Spalding, 608); vgl. auch Adler, Bestimmung; sowie zur Entstehung: Beutel, Spalding und Goeze; vgl. jetzt auch die Leipziger Dissertation von Georg Raatz mit dem Titel: Johann Joachim Spaldings ›Bestimmung des Menschen‹ (1748) – eine genetisch-systematische Rekonstruktion.
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vermittelt werden«9. Jeder Mensch müsse sich nämlich einmal aufrichtig die Frage stellen, »warum ich da bin, und was ich vernünftiger Weise seyn soll«10. Die Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse, das zeigt sich schnell, kann nicht der letzte Bestimmungsgrund meiner Existenz sein. Denn selbst »wenn ich immer ein Vergnügen so an das andere knüpfe, daß kein leerer Platz dazwischen [meine Seele] mit Ekel quälen, oder mit Überlegungen erschüttern«11 würde, gibt es doch gewisse Augenblicke, da mir ist, als wenn mir etwas fehlet. […] [I]ch werde unzufrieden; alles wird mir zur Last, und ich selbst. Ich zerstreue mich, aber ich spüre bald, daß ich meinen Unmuth zwar auf eine kleine Zeit vergesse, aber nicht hebe. […] Es ist ein dunkles Gefühl von Sehnsucht und einem geheimen Leeren in mir, das mich zu Boden drückt.12
Was dem lediglich ein sinnliches Vergnügen an das andere knüpfenden Individuum zum wahren Menschsein fehlt, das sind Spalding zufolge geistige Tätigkeit, ästhetische Erfahrung, sittliche und schließlich – damit aufs Engste verbunden – religiöse Empfindung.13 Es kommt hierin die Grundeinsicht der theologischen Aufklärung zum Tragen, wonach Religion und Sittlichkeit zusammen mit Anschauungsvermögen und Verstandestätigkeit die Eigenart des Menschen ausmachen. Im Unterschied zu den anderen Geschöpfen, so konnte diese Einsicht dann auch auf den Begriff gebracht werden, ist der Mensch ein moralisches Wesen. Im Kontext der Aufklärung meint »Moral« folglich nicht bloß tugendhaften, sittlich einwandfreien Lebenswandel, sondern bezeichnet zum einen alles, was über die natürlichsinnlichen Lebensvollzüge hinausgeht, und bringt zum anderen den Sachverhalt zum Ausdruck, dass wir uns immer schon als auf andere bezogen vorfinden und erleben. Die Frage, ›warum ich da bin, und was ich vernünftiger Weise seyn soll‹, ist dann letzten Endes identisch mit der Frage nach der geistigen und sozialen Existenz des Menschen, mit der Frage nach seinem Lebensglück. Die Bestimmung des Menschen kann daher nicht anders als unter Anerkennung der Tatsache gesucht und aufgedeckt werden, dass der Mensch als moralisches Wesen seiner religiös-sittlichen Empfindung folgt, wonach er durch das Bewusstseins 9 10 11 12 13
Barth, Mündige Religion, 221. Spalding, Bestimmung, 1. A.a.O., 3. A.a.O., 5 f. Vgl. Ders., Warnung vor der Gleichgültigkeit gegen die Religion, 262: Sinnlichkeit »ist gedankenloses Versinken in das bloße Aeußerliche und Sichtbare. Wo dieß die Seele einnimmt und erfüllet, wo sie für nichts anders Empfindung hat, als für Wohllüste, Eitelkeiten und Vortheile des Lebens, da vergißt sie zu leicht, daß sie einen Gott über sich, ein Gewissen in sich, eine Ewigkeit vor sich habe; da kann sie sich zu nichts Geistlichem in die Höhe heben, noch daran Geschmack finden.«
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seiner selbst dem bloßen Naturzusammenhang enthoben ist und dies auch im Zusammenhang seiner unhintergehbaren Bezogenheit auf andere und anderes lebenspraktisch zu realisieren hat. Der Begriff Moral, so könnte man auch sagen, um das naheliegende und so häufig anzutreffende Missverständnis zu vermeiden, die Aufklärungstheologie habe die Religion in bloße Moral aufgelöst – zielt auf diejenigen kognitiven und emotiven Funktionen des Bewusstseins, die die Voraussetzungen wahren Menschseins bilden. Dabei nun spielt jedoch die Religion eine entscheidende Rolle, insofern die wichtigsten Repräsentationen dieser Bewusstseinsfunktionen religiöser Natur sind. Folgerichtig begnügt sich Spalding in seiner Betrachtung über die Bestimmung des Menschen keineswegs mit der Schilderung der Vorzüge eines tugendhaften, rechtschaffenen Lebens, sondern schreitet zu einer Beschreibung der Bedeutsamkeit, die Gottvertrauen und Unsterblichkeitsglaube für die sittliche Existenz haben, fort. Gott ist der Urheber und Garant meines Daseins und der moralischen Ordnung. Die natürliche »Empfindung des Guten und Bösen, des Rechts und Unrechts, die ich in mir erkannt habe, rühret« von Gott her. Es »ist die Stimme der ewigen Wahrheit, die in mir redet.«14 Dem Gewissen also gilt es zu folgen, »auf seine Sprache, die sich ohne Unterlaß in dem innersten Grunde meiner Seele hören lässet«, soll ich achten, damit ich dem »Urbilde der Ordnung nach meiner Fähigkeit ähnlich«15 werde. Das ist – so Spalding – meine Bestimmung, »nämlich rechtschaffen, und in der Rechtschaffenheit glücklich zu seyn.«16 Gleichwohl bleiben auch für den, der seinem Gewissen zu folgen bestrebt ist, manche Fragen offen: Warum geht es den anderen, die sich ihren sinnlichen Vergnügungen überlassen, häufig so viel besser als mir? Und was ist Gottes Endabsicht mit meinem von kleinen und großen Katastrophen bedrohten Leben? Auf derartige Fragen gibt es für Spalding nur in der Sphäre des Religiösen adäquate Antworten, die sich im Vorsehungs- und Unsterblichkeitsglauben verdichten. Man müsse sich »mit einer unbewegten Sicherheit den Fügungen desjenigen überlassen, der alles nach seinem Willen lenket, und dessen Wille immer gut ist.« Von Gottes Vorsehung geleitet, werde man »durch die fürchterlichsten Verwirrungen dieses Lebens glücklich hindurch gelangen« und alle »Dunkelheiten […] [würden] sich endlich einmal in Licht und Freude verwandeln.«17 Spalding ist sich darüber im Klaren, dass sich die Interpretamente des religiösen Bewusstseins Gott, Tugend und Unsterblichkeit, welche als die zentralen 14 15 16 17
Spalding, Bestimmung, 17. A.a.O. A.a.O., 25. A.a.O., 19.
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Motive der sogenannten natürlichen Religion gelten, historisch betrachtet wesentlich der christlichen Offenbarungsreligion verdanken. Überhaupt habe man es als sicher erwiesen anzusehen, »daß keine natürliche Religion in der Welt seyn würde, wenn keine geoffenbarte wäre.«18 Zudem habe die philosophische und psychologische Analyse der menschlichen Vernunftstätigkeit gezeigt, »daß unsere Vernunft für sich und ohne Anweisung schlechterdings unvermögend ist, sich über die sinnlichen Dinge und [bis zu] den Wahrheiten der Religion zu erheben.«19 Spalding nimmt daher eine ursprüngliche göttliche Offenbarung an, die sich jedoch im Laufe der Menschheitsgeschichte verloren habe und erst durch Jesus wieder zu Tage gefördert worden sei. Dieser gilt ihm als der große »Urheber und Märtyrer der heilsamsten Aufklärung«, der eine reine Religion ans Licht […] gebracht hat; eine Religion, die nicht an Gebräuchen hängt, die Tugend und Seelenruhe zu ihrer Hauptsache macht, die uns auf einen gut regierenden Gott, auf sein Wohlgefallen an Rechtschaffenheit, auf seine allgemeine, nachsichtsvolle Menschenliebe, auf weitere, unserer Natur so unentbehrliche, Hoffnungen hinführet.20
Jesus erscheint in dieser Perspektive gleichsam als Vorläufer der Aufklärungstheologie.21 Sein Leben und Sterben hat vorbildlichen Charakter und seine Lehre deckt auf, was es um die Religion in Wahrheit zu tun ist. Aus diesem »Samen«, den der »wohltätige und um die Menschheit so hoch verdiente Stifter des christlichen Lehrgebäudes […] ausgestreut« habe, müssten »bei einer ihm angemessenen sorgfältigen Pflege auf immer reichere Früchte erwachsen«22. Denn es sei doch »eine unläugbare Erfahrung, daß die natürliche Religion da immer am besten erkannt und gelehret wird, wo das Licht des Evangeliums die Geister aufgekläret hat«23. Zum einen befriedige es das natürliche Bedürfnis des Men18 Spalding, Anhang, 203; insofern ist, wenigstens im Blick auf Spalding, die Behauptung Ernst Troeltschs zu relativieren, die Aufklärungstheologie sei sich nicht im Klaren darüber gewesen, dass »diejenigen Elemente der Ueberlieferung, die sie als selbstverständlichen Besitz jeder individuellen Vernunft ansah, […] in Wahrheit Erzeugnisse der geschichtlichen Entwicklung waren.« (Troeltsch, Aufklärung, 340). 19 Spalding, Anhang, 203; deshalb trifft Reinhard Krauses generalisierendes Urteil, die Problematik der Aufklärungspredigt liege »in ihrem dogmatisch-hermeneutischen Ansatz«, der »allgemeine religiöse Wahrheiten zu seinem Hauptgegenstand habe und »diese dem konkreten Bibelwort« vorziehe, nicht zu. Die Aufklärungspredigt bewertet auch keinesfalls die »Gotteserkenntnis in der Natur höher als die geschichtliche Offenbarung Gottes in Jesus Christus« (Krause, Die Predigt, 143). Spalding zumindest hat ganz im Gegenteil betont, dass uns die christliche Religion »durch die wirklichen Aussprüche der heiligen Schrift, nicht aber durch bloß menschliche Deutungen und Erfindungen, zu glauben vorgelegt wird« (Predigt über die Weißheit der Gottesfurcht (Hiob 28,28), 19). 20 Ders., Vertraute Briefe, 86. 21 Vgl. Beutel, Aufklärung des Geistes. 22 Spalding, Religion, 54. 23 Ders., Anhang, 203.
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schen nach leibhaft-konkreter Darstellung des Religiösen,24 zum anderen könne es aufgrund seiner »vernunftmäßigen Popularität« allen Menschen, den »Weiseren und de[n] Einfältigeren«25 gleichermaßen, den »neuen Religionsplan […], zu dessen Einführung [Jesus] von Gott gesandt war«26, vor Augen führen. In seiner Einfachheit und Verständlichkeit hat das Evangelium Jesu nach Spaldings Überzeugung einen vorbildhaften Charakter für die kommunikative Vermittlung christlicher Anschauungen. Dementsprechend beurteilt Spalding, wie die meisten Neologen, die Funktion des von der lutherischen und reformierten Orthodoxie entwickelten Systems der Glaubenslehren eher skeptisch.27 Freilich geht es ihm in erster Linie nicht um die Kritik einzelner dogmatischer Sätze. Er lehnt zwar z. B. die augustinische Fassung der Erbsündenlehre ab, was im Rahmen seines aufklärerischen theologischen Programms, in dem die prinzipielle Fähigkeit des Menschen zum Guten eine wichtige Rolle spielt, nicht überraschen kann.28 Aber die Wahrheitsfrage steht nicht eigentlich im Mittelpunkt seines Interesses.29 Vielmehr fragt er nach dem religiösen Nutzen der Dogmen, danach, was sie jeweils »zur Aufklärung und Beförderung praktischen Christenthums«30 beitragen. Und dabei kommt es zuallererst auf Verständlichkeit an. Denn Gott könne, was »Ruhe der Seele und ewiges Heil« bewirke, unmöglich einem »gelehrten Tiefsinn aufbehalten haben. Wenn ich wissen will, ob ich ein Christ bin, so muß ich es leichter wissen können, als durch einen Haufen von Abstraktionen und Folgerungen.«31 Spaldings religionstheologisches Modernisierungskonzept beinhaltet folglich eine radikale Neubewertung der Geltungsansprüche und Funktionen dogmatischer Sätze, ohne dass er jedoch die
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Vgl. Ders., Gedanken, 244 f. Spalding, Vertraute Briefe, 86. Ders., Nutzbarkeit, 246. Vgl. Kubik, Praktisches Christentum. Vgl. Spalding, Gedanken, XI: Die »Annehmung der Gnade, in so weit sie auf den Menschen ankömmt und von ihm gefordert wird, ist von der Rechtschaffenheit nicht unterschieden.« Die semipelagianische Tendenz ist im gesamten Werk Spaldings mit Händen zu greifen. 29 Hierdurch wird die Möglichkeit einer prinzipiellen religiösen Toleranz eröffnet, die bei Spalding ähnliche Züge aufweist, wie das Spätwerk Lessings; vgl. etwa Spalding, Predigt über die gemeinschaftliche Verbindung der Menschen untereinander (Lk 10,23 – 37), bes. 167 – 169. 30 Ders., Gedanken, 2; Klaus Scholder hat in einem die jüngere Beschäftigung mit der Aufklärungstheologie stark beeinflussenden Aufsatz darauf hingewiesen, »daß Spalding keineswegs – etwa mit rationalen Argumenten – die Wahrheit der Zentraldogmen überhaupt in Frage stellt. Was er bezweifelt, ist lediglich ihr Nutzen für Lehre und Verkündigung.« (Scholder, Grundzüge, 469). 31 Spalding, Gedanken, 44; vgl. Ders., Nutzbarkeit, 257: »Die Religion […] ist eine Sache für den Menschen, ohne Unterscheid in Ansehung der übrigen Kenntniß und Cultur; sie muß ihm also auch so vorgetragen werden können, daß er sie, ohne Hülfe von weiterer Wissenschaft, versteht.«
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Glaubenslehren an sich ablehnen würde.32 Er meint lediglich, die »gepredigte Religion« würde mehr Wirkung erzielen, »mehr Tugend und Glückseligkeit in die Welt, und mehr Menschen zum Himmel bringen«, wenn anstelle der »unfruchtbare[n] speculativische[n] Lehrmeinungen […] mehr diejenigen Vorstellungen getrieben würden, welche wirklich auf das Gemüth und Leben Einfluß haben.«33 Der praktische Wert religiöser – und d. h. eben auch dogmatischer – Vorstellungen bemisst sich danach, was sie zur »Besserung und [zum] Trost der Menschen«34 beitragen. Schon Orthodoxie und Pietismus hatten die Dogmatik auf Praxis, den Glauben auf Werke verpflichtet wissen wollen. Die Aufklärungstheologie aber geht noch einen Schritt weiter, indem nun auch nach der praktischen, intramentalen Erfahrungsqualität religiöser Vorstellungen gefragt wird. Denn ihrer differenzierteren Psychologie ist es nicht verborgen geblieben, dass der Ruf nach tätigem Glauben danach verlangt, die »große Lücke« zwischen Wissen und Tun auszufüllen. Soll es nicht bei »todte[n] Einsichten oder blinde [n] Geschäftigkeiten bleiben«, so muss der Hiatus zwischen beiden überwunden werden, indem »die Regung in der Mitten«35 näher ins Auge gefasst wird. Das aber heißt, »auf sich selbst, auf sein innerliches Gefühl und Bewußtsein [zu] achten«36. Die ›Regung‹ zwischen Wissen und Tun, das Selbstgefühl ist der Ort, an dem der Glaube zunächst praktisch wird. Zugleich grenzt sich Spalding aber gegen das Missverständnis des pietistischen Bußkampfes ab, dem zufolge man »nothwenig dieses und jenes muß gefühlet und empfunden haben, wenn [man] Gott gefallen und auf immer glücklich werden will«37. Der Glaube zielt auf die innere Ordnung des Selbstbewusstseins, auf die Rechtschaffenheit, wie Spalding auch sagen kann. Diese Rechtschaffenheit, so führt er weiter aus, besteht primär eben »nicht in äußerlichen Handlungen, sondern in der innerlichen Richtung der Seele nach der Wahrheit«38. Die reli32 Denn es »kann kein wirkliches Christenthum, keine Gottseligkeit und keine Beruhigung des Geistes seyn, wo es an Einsicht und Gewißheit in den dazu gehörigen wesentlichen Lehren fehlet.« (Spalding, Predigt über den Nutzen der Einsamkeit in Absicht auf das Christenthum (Joh 6,15), 231). 33 Spalding, Nutzbarkeit, 134 f. 34 A.a.O., 137. 35 Ders., Gedanken, 245; hier wird die Nähe Spaldings zu Schleiermachers Theorie des individuellen Selbstbewusstseins deutlich; vgl. hierzu Schleiermachers Besprechung von Spaldings Autobiographie: Schleiermacher, Rezension, das Verhältnis zwischen beiden Religionstheoretikern ist von Beutel, Aufklärer höherer Ordnung?, untersucht worden; vgl. auch die diesbezüglichen Bemerkungen von Gräb, Religion, 220 f. 36 Spalding, Predigt über Mt 22,15 – 22. Von der christlichen Redlichkeit in dem gesellschaftlichen Leben, 207. 37 Ders., Gedanken, 40; vgl. Dreesman, 113 ff. 38 Spalding, Gedanken , XII, vgl. a. a. O., 203 f.; die christliche Religion artikuliert nicht religiöse Pflichten, sondern zielt auf die »fortdaurende Verfassung des Gemüths, die ganze
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giöse Selbstbetrachtung, die darüber Auskunft gibt, »wie wir mit Gott und mit unserer eigenen Seele stehen«39, fungiert somit als das entscheidende Integrationsmoment personaler Identität. Denn nur hier, nur »in der Seele selbst und in ihren innersten Empfindungen«40 kann der Mensch, seine Existenz insgesamt überblickend, der unmittelbaren Konformität mit seiner Bestimmung innewerden. Spalding hat für diese Erfahrung häufig den Begriff Glückseligkeit gebraucht. Entgegen dem vielfach gegenüber der Aufklärungstheologie erhobenen Vorwurf des Eudämonismus ist damit allerdings keinesfalls »das gefühlsmäßige Erleben eines besonderen Glückszustandes« gemeint. Glückseligkeit ist vielmehr »das Fertigwerden und Zurandekommen des Menschen mit seiner Bestimmung, die Selbstverwirklichung seines eigentlichen eigenen Wesens«41. So verbindet sich mit dem Stichwort ›Glückseligkeit‹ die Vorstellung einer existenziell erfahr- und gestaltbaren Übereinstimmung des Individuums mit sich selbst.42 Damit aber wird die Theologie als Wissenschaft und als kirchliche Praxis insgesamt verstärkt auf die Wahrnehmung, Reflexion und Gestaltung individueller Frömmigkeitsvollzüge verpflichtet und das Christentum als eine spezifische »Lebens- und Glaubenseinstellung«, ja als eine bestimmte »religiöse […] Existenzhaltung – in Anregungen zu (innerer) Überzeugung und Gewißheit«43 vorstellig gemacht. Trotz des starken Akzents, den Spalding dabei auf den ethischen Aspekt dieser Existenzhaltung legt, steht die Glaubensbeziehung des Menschen zu Gott doch im Mittelpunkt. Im Bewusstsein der »gänzliche[n] und allgemeine[n] Abhängigkeit von Gott«44, in der vertrauensvollen Hingabe an seine Vorsehung zumal ist Spaldings Theologie substanziell reformatorisch. Dem entspricht es schließlich, dass die Spalding zufolge wichtigste religiöse Lehre, die Jesus vermittelt hat, in der Erkenntnis bestehe, dass wir es in Gott »mit einem großmüthigen liebreichen Freunde zu« tun haben, dass »der allmächtige Schöpfer und Herr der Welt zugleich […] der gütigste Vater der Menschen«45 sei. Da sich nun die »Predigtaufgabe keineswegs darin erschöpfe, die Glaubenslehre in einer sach- und zeitgemäßen Sprachform zu popularisieren«46, setzen Spaldings Predigten dementsprechend jeweils nicht mit den tradierten Dogmen
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herrschende Richtung der Seele zu Gott, zur Wahrheit, zur moralischen Vollkommenheit« (Spalding, Nutzbarkeit, 242). Ders., Predigt über die Verführungen des zeitlichen Glücks (Lk 16,19 – 31), 105. Spalding, Predigt über die Weißheit der Gottesfurcht, 20. Schütz, Die Kanzel, 152. Vgl. Claussen, Glück und Gegenglück. Brinkmann, Glaubhafte Wahrheit, 200 f. Spalding, Predigt über die Verbindlichkeit und Annehmlichkeit des Gebets (Joh 16,23 – 30), 73. A.a.O., 81. Beutel, Gebessert, 184.
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und auch nicht mit der biblischen Überlieferung, sondern mit einer hermeneutischen Erschließung der religiösen und sittlichen Wirklichkeit des Menschen ein. Spaldings Zeitgenossen spüren eben dies seinen Predigten schon bald ab. So würdigt beispielsweise Philipp Heinrich Schuler die »heilsame Revolution in Ansehung des Materiellen«47; und der Rezensent von Spaldings zweiter Predigtsammlung in der AdB hebt positiv hervor, »daß Hr. Sp. seinen Vortrag mehr auf allgemeinere, und durchgängig bekanntere Empfindungen und Grundsätze gebauet hat«48. Nach Spalding Überzeugung hat die Predigt vom Menschen aus, d. h. von seiner – im oben erläuterten weiten Sinne – moralischen Existenz aus, danach zu fragen, was die biblischen bzw. dogmatischen Repräsentationen religiöser Lebens- und Weltdeutung jeweils zur inneren Orientierungsgewissheit beizutragen vermögen. Folglich muss auch die kommunikative Absicht der Predigt, deren Hauptzweck nach Spalding Erbaulichkeit, d. h. »Gründung und Befestigung, Fortgang und Wachstum des Guten in menschlichen Seelen«49, ist, auf den inneren Menschen sowie auf die Aufdeckung der Lebensdienlichkeit religiöser Vorstellungen gerichtet sein. Spaldings Homiletik zielt auf Subjektivierung und Praktikabilität des Glaubens. Im Mittelpunkt des Predigtgeschehens soll der einzelne, konkrete Mensch, und zwar nicht als Objekt der Belehrung oder Bekehrung, sondern als Subjekt der Anverwandlung glaubens- und lebensdienlicher religiöser Deutungen stehen. Hat die Predigt es nicht mehr mit der Reproduktion und Erläuterung dogmatischer Lehrsätze, sondern »immer mit der eigenen wichtigen Angelegenheit des Zuhörers zu thun«50, dann besteht die Aufgabe des Predigers darin, seine Hörer »nach und nach immer mehr zu der eigenen Erfahrung zu bringen, wie unbeschreiblich gut sie es bey einem reinen Gewissen und bey der Gnade Gottes haben«51. Auf Seiten der Predigthörer setzt dies aber den Willen und die Fähigkeit zur selbsttätigen Prüfung und Aneignung des Gehörten voraus, weil, wie Spalding in einer Predigt seiner Gemeinde einschärft, »es euch selbst angehet und weil ihr also euch selbst bewußt seyn müsset, wie weit ein christlicher Unterricht und eine christliche Erweckung euch wirklich zu Nutzen kommt«52. Spalding hält ausdrücklich diejenige Predigtweise für die beste, die die eigene ungezwungene Billigkeit und Zustimmung des Menschen erweckt, und es dann dem also aufgeklärten, überzeugten und gerührten Herzen gleichsam überläßt, 47 Schuler, Geschichte der Veränderungen, 144. 48 Resewitz, Rez. Neue Predigten, 190; vgl. zur Wirkung von Spaldings Predigten: Dreesmann, Aufklärung der Religion, 47 f. 49 Spalding, Predigt von dem, was erbaulich ist, 56. 50 Schuler, 59; vgl. Nipkow, Fromme Selbstaufklärung. 51 Spalding, Nutzbarkeit, 122. 52 Ders., Predigt von dem, was erbaulich ist, 53.
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die ferneren sich darauf beziehenden Empfindungen, Bewegungen und Entschließungen, auf die Art und in dem Grade, als es der Natur gemäß ist, selbst zu erzeugen.53
Dass diese homiletische Einsicht seinerzeit durchaus originell war, wird aus Friedrich Gabriel Resewitz’ Besprechung von Spaldings Neuen Predigten deutlich, wenn der Rezensent konstatiert: Spalding macht aus dem, was er vortragen will, gleich eine Angelegenheit des Zuhörers selbst; es ist nicht seine, sondern des Zuhörers Sache, darüber er mit ihm zu sprechen hat. […] [E]r bringt ihn zum Nachdenken über sich und die vorliegende Wahrheit; erweckt sein Gewissen und läßt es selbst den Ausspruch thun; begegnet seinen Vorurtheilen; zerstreuet seine Verblendungen; gehet dann mit ihm zu dem Schlusse über, was am besten zu thun sey : so daß sein Zuhörer gleichsam beständig zu Hause ist, nicht aber von einer Wahrheit unterhalten wird, die in Absicht auf ihn fremd ist, oder ihm doch fremd zu seyn scheint.54
Eine Predigt, die sich an den Menschen orientiert und auf deren Einverständnis zielt, muss allgemein verständlich sein.55 Im Blick auf die Sprache der Predigt bedeutet dies, »daß man um zu erbauen, die Sprache [der] Menschen reden, die Einkleidung der Vorstellungen bey ihnen brauchen muß, die ihnen, durch die Gewohnheit der Zeit, die bekannteste ist.«56 Es gilt, das typisch kirchliche Idiom, die »eigenthümliche Sprache der Religion und der Kirche«57, wie Spalding es nennt, zu überschreiten. Andernfalls drohe die Predigt sich im kirchlichen Binnendiskurs zu verlieren. Soll die allgemeine, alle Menschen angehende Bedeutung des christlichen Glaubens kommunizierbar bleiben, dann muss die Predigt jedoch nicht nur ihre Sprache, sondern auch die Wahl ihrer Themen an den Bedürfnissen ihrer Hörer ausrichten. Nach Ansicht der Aufklärungstheologie konzentrieren sich diese Bedürfnisse in der Frage nach der religiös-sittlichen Bestimmung des Menschen. In homiletischer Hinsicht bedeutet dies, dass die Predigt die je eigene Selbstdeutung, in denen diese Bestimmung gesucht und gefunden wird, anzuregen und dabei die konkreten lebensweltlichen Bedingungen individueller Existenz im Auge zu behalten hat.58 Denn nur wenn die praktische Relevanz der Religion für die konkreten ethischen Lebensvollzüge 53 Ders., Gedanken, 247. 54 Resewitz, Neue Predigten, 187. 55 »Wir müssen ihm so verständlich darüber Anleitung, Rath, Ermunterung und Trost geben können, wie wir sie ihm in andern beträchtlichen Angelegenheiten seines Lebens geben würden. Dann siehet er, daß das für ihn selbst etwas auf sich hat« (Spalding, Nutzbarkeit, 257). 56 Ders., Vorrede, 3. 57 A.a.O., 2. 58 Diese Beschreibung der Predigtaufgabe nimmt gleichsam den homiletischen Grundsatz Ernst Langes vorweg, wonach »Predigen heißt: Ich rede mit dem Hörer über sein Leben.« (Lange, Zur Aufgabe, 58).
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des Individuums – für seine moralische Existenz – aufgedeckt werden, lässt sich »verhindern, daß Religion zu einer gesellschaftlich aparten Sonderveranstaltung herabsinkt«59 Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, muss der Prediger allerdings mit den inneren und äußeren Lebensverhältnissen seiner Zuhörer vertraut sein. Er muss insbesondere »über die herrschende Denkungsart« der Menschen, »ihre Versuchungen, ihre Vorurtheile und Ausflüchte, studierte Beobachtungen anstellen«60. Die Aufklärungshomiletik hat dementsprechend ein großes Interesse an Erfahrungsseelenkunde, an Psychologie.61 Dies hängt mit ihren Vorbehalten gegenüber einer einseitig an der Verstandestätigkeit des Menschen orientierten Predigtweise zusammen. Die Kritik der frühen Aufklärungstheologie in Deutschland, das wird bei genauerer Betrachtung schnell deutlich, zielte nicht so sehr auf eine Problematisierung des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung, sondern wandte sich vor allem gegen eine Überbetonung des Verstandes gegenüber dem Gefühl.62 Die Predigt, so Spalding, dürfe nicht einfach aus »einer langen Reihe an einander hangender Schlüsse«63 bestehen. Denn es sei »nicht genug, den Verstand zu überzeugen«, sondern es müssten auch »Empfindungen rege gemacht werden«64. Die »trockene Theorie […] [sei] ein Licht ohne Wärme, [das] kein Leben in der Seele ausbreite«65. Darum komme es entscheidend darauf an, dass der Prediger die »Sprache des Herzens«66 zu sprechen verstehe. Wie in einem vertraulichen Gespräch unter Freunden, so »sollte ein Prediger mit seinen Zuhörern sprechen«67. Dass Spaldings eigene Predigtweise diesem Ideal recht nahe kam, bezeugen nicht zuletzt die freundlichen Worte, mit denen Johann Gottfried Herder den Prediger Spalding charakterisiert und zum Vorbild erhoben hat: Denn dieser habe es unternommen gesunden Menschenverstand in den Kanzelvortrag zu bringen, der das Mittel zwischen gelehrter Weisheit und unverständlicher Wortkrämerei halte; der den jüdischen und gelehrten griechischen Ton mit einerlei Vorsicht vermeide; der die Kanzel erniedrige, 59 Drehsen, Theologia Popularis, 9; dementsprechend galt der Aufklärungstheologie die Kirche vornehmlich als »der gesellschaftliche Ort zur Verständigung über eine am Guten orientierte Lebensführung« (Gräb, Wahrnehmung, 121). 60 Spalding, Nutzbarkeit, 205 f. 61 Vgl. Ders., Gedanken, 248. 62 Vgl. Scholder, Grundzüge, 470: Die »Frontstellung der deutschen Aufklärung […] lautet nicht etwa: Vernunft gegen Offenbarung, sondern vielmehr : Herz und Leben gegen Verstand und Gedächtnis.« 63 Spalding, Vorrede, 10. 64 A.a.O., 8 f. 65 Ders., Gedanken, 243; freilich darf der Glaube »nicht das Werk einer bloßen Rührung« sein, denn er »enstehet nicht aus der Hitze der Gemüthsbewegungen, sondern erfordert eine kältere Ueberzeugung« (a. a. O.). 66 Ders., Vorrede, 8. 67 A.a.O.
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aber weder zum mosaischen Stuhl eines Rabbi noch zu einem philosophischen Katheder – [vielmehr] zu dem Redensorte eines Freundes, eines Vertrauten, eines Seelsorgers.68
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Ders., Predigt über den Nutzen der Einsamkeit in Absicht auf das Christenthum [Joh 6,15], in: Ders., Neue Predigten [1768, 21770, 31770], hg. v. Albrecht Beutel und Olga Söntgerath (SpKA II/2), Tübingen 2008, 228 – 245. Ders., Predigt über die gemeinschaftliche Verbindung der Menschen untereinander (Lk 10,23 – 37), in: Ders., a. a. O., 150 – 170. Ders., Predigt über die Verbindlichkeit und Annehmlichkeit des Gebets (Joh 16,23 – 30), in: Ders., a. a. O., 67 – 87. Ders., Predigt über die Verführungen des zeitlichen Glücks (Lk 16,19 – 31), in: Ders., a. a. O., 88 – 107. Ders., Predigt über die Weißheit der Gottesfurcht [Hiob 28,28], in: Ders., a. a. O., 15 – 33. Ders., Predigt über Mt 22,15 – 22. Von der christlichen Redlichkeit in dem gesellschaftlichen Leben, in: Ders., Neue Predigten. Zweyter Band [1784], hg. v. Malte van Spankeren und Christian Elmo Wolff (SpKA II/3), Tübingen 2009, 203 – 222. Ders., Predigt von dem, was erbaulich ist, in: Ders., a. a. O., 52 – 72. Ders., Religion, eine Angelegenheit des Menschen [1797, 21798, 31799], hg. v. Tobias Jersak und Georg Friedrich Wagner (SpKA I/5), Tübingen 2001. Ders., Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung [1772, 21773, 3 1791], hg. v. Tobias Jersak (SpKA I/3), Tübingen 2002. Ders.,Vertraute Briefe, die Religion betreffend [1784, 21785, 31788], hg. v. Albrecht Beutel und Dennis Prause (SpKA I/4), Tübingen 2004. Ders., Warnung vor der Gleichgültigkeit gegen die Religion, in: Neue Predigten. Zweyter Band [1784], hg. v. Malte van Spankeren und Christian Elmo Wolff (SpKA II/3), Tübingen 2009, 255 – 265. Sparn, Walter, Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Aufklärung im 18. Jahrhundert in Deutschland, in: Vierhaus, Rudolf (Hg.), Wissenschaft im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1985, 18 – 57. Troeltsch, Ernst, Die Aufklärung, in: Ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie [= Ges. Schriften, Bd. 4], hg. v. Hans Baron, Tübingen 1925, 338 – 374 und 834 – 844.
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Gefühl als Grund und Performanz. Zum Subjekt der Erregung am Beispiel Schleiermacher, Herder, Rousseau, Sade
Friedrich Schleiermacher hat mit seiner romantischen Deutung der Religion als Religiosität eine wirkmächtige Antwort auf die aufklärerischen Beschränkungen derselben gegeben. In explizitem Dialog mit Kants kopernikanischer Wende der Ontologie zur Epistemologie setzt Schleiermacher Anschauung und Gefühl an die Stelle von Anschauung und Begriff und verschränkt beide im Sinne der berühmten Formel aus der Kritik der reinen Vernunft: »Anschauung ohne Gefühl ist nichts und kann weder den rechten Ursprung noch die rechte Kraft haben«, Gefühl ohne Anschauung sei aber auch nichts, denn »beide sind nur dann und deswegen etwas, wenn und weil sie ursprünglich Eins und ungetrennt sind«1. Religion als religiöses Gefühl unterscheidet sich vom Modus des Wissens oder der Moral dadurch, dass sie nicht nur einen Bereich des menschlichen Lebens erfasst, sondern alle: »er [der Mensch, J.M.] soll alles mit Religion tun, nichts aus Religion.« Wiederum im Dialog mit Kant könnte man dieses stets präsente Gefühl strukturell mit der apperzeptiven Einheit des »’Ich denke‹ muss alle meine Vorstellungen begleiten können« (KrV, B 131) parallelisieren, womit Schleiermacher auch in den Kontext der idealistischen Subjekt- und Bewusstseinsphilosophie gestellt wäre, in dem seine Wende zum Gefühl zu verstehen ist und deren Pointe noch weit über die Einheit der Wahrnehmung von Sinnesdaten hinauszielt. Denn Schleiermacher interveniert damit in die Diskussion um die Letztbegründung, konkret die Frage der Fragen nach dem Grund im oder des Bewusstseins.2 Er setzt Gefühl und unmittelbares Selbstbewusstsein gleich und lässt beide Ausdrücke einen »typgleichen mentalen Zustand« beschreiben, den man aber nach zwei Aspekten differenzieren kann, womit es ihm philosophiehistorisch gelingt, eine frühe Antwortintuition von Novalis aus den Fichte-Studien zur begrifflichen Klarheit zu führen: zum einen, dass das basale Phänomen unseres Bewusstseins nicht Kognition, sondern ein Gefühl ist; zum anderen, 1 Schleiermacher, Über die Religion, 89. 2 Vgl. Henrich, Grund.
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dass wir unserer Existenz nach nicht Urheber unserer Selbst sind und daher elementares Selbstgefühl nicht mit einem Tun, sondern mit Leiden verbunden ist.3 Unmittelbares Selbstbewusstsein heißt vor allem, dass sein Zustand und Gehalt präreflexiv bekannt sind, es also nicht intentional auf etwas in der Gegenstandsposition Vorgestelltes gerichtet ist. Als Gefühl verweist dasselbe Phänomen auf seinen Mangel an Sein: Gefühl kann den absoluten Grund nicht adäquat repräsentieren, deshalb reflektiert es auf den in ihm selbst ausgetragenen absoluten ›Mangel‹ an Begründetheit, bezieht sich also negativ auf den Grund, von dem es absolut abhängig ist. Wilhelm Gräb gibt dieser Erfahrung der schlechthinnigen Abhängigkeit in seinen kulturhermeneutischen Deutungen Schleiermachers eine individualitäts- und symboltheoretische Wendung, die den welteröffnenden Charakter dieses »allgemeinen, transzendentalen bzw. fundamentalanthropologischen« Gefühls im Singular betont: Das Gefühl als unmittelbares Selbstbewusstsein bzw. als mentale Disposition ist die allgemeine Bedingung der Möglichkeit des evaluativen und interpretativen Selbst- und Welterlebens. Auf der Basis dieser mentalen Disposition, die es macht, fühlend sein zu können, hat das Individuum jedoch die vielen Gefühle, die ihm sein eigenes Dasein in der Welt in dessen konkretem Dransein zugänglich machen.4
Das Gefühl des Mangels macht also das Subjekt keineswegs defizitär oder solipsistisch, sondern öffnet als mentale Disposition ganz im Gegenteil gerade erst das Außen als Handlungsraum. Das Individuum lebt ein gelebtes Leben, weil es hic et nunc fühlen kann und diese Erfahrungen zum Ausdruck bringt. Dem Mangel wohnt also, so das paradox anmutende Konstrukt, die ganze Fülle der Weltlichkeit, ihrer Wahrnehmbarkeit und symbolischen Artikulation inne. Es ist, wie Gräb in seiner grundlegenden Studie Sinn fürs Unendliche ausführt, die Basis für das allgemeine Kulturhandeln in allen Bereichen, für die »Tätigkeit in einer humanen Welt mit Wirtschaft und Verkehr, Recht und Staat genauso wie mit Sprache und Wissenschaft, Religion und Kunst.«5 Ich möchte im Folgenden dieses Konstrukt in einen Kontext stellen, der die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts anhand dreier weiterer zentraler Autoren im Hinblick auf die Trias Subjekt-Gefühl-Artikulation zu kartieren versucht. Denn mit der Verbindung von Gefühlsgrund und performativer Emotionalität in Erfahrung und Ausdruck steht Schleiermacher keineswegs allein, sondern vielmehr in der neuzeitlich paradigmatischen Verbindung von Verinnerlichung und Expressivismus, wie Charles Taylor herausgearbeitet hat.6 Was im Vergleich zu 3 4 5 6
Frank, Selbstgefühl, 194. Gräb, Individualität, 285. Ders., Sinn, 57; vgl. auch Ders., Sinnfragen. Taylor, Quellen, Teil II u. Teil IV.
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Gefühl als Grund und Performanz
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Schleiermacher in den hier ausgewählten Ansätzen von Johann Gottfried Herder, Jean-Jacques Rousseau und dem Marquis de Sade variiert, ist der jeweilige Fokus der ›Erregbarkeit für die Welt‹, wie ich Gräbs Deutung für meine Zwecke paraphrasieren möchte. Steht bei Schleiermacher wie gesehen die symbolische Erschließung von Welt als Wissenszusammenhang (Wirtschaft, Verkehr, Recht, etc.) im Vordergrund, so geht es bei Herder um Gefühl und Ästhetik, bei Rousseau um Gefühl und Ethik und bei Sade um Gefühl und Macht. Zusammen genommen konturieren diese vier Dimensionen eine Weise des modernen Selbstseins, die ich an anderer Stelle das »Subjekt der Erregung« genannt habe.7 Es stellt, so die These im Anschluss an Foucault, neben den Subjektformen des Wissens, der Handlung und der Moral eine eigene Art des Selbstverhältnisses dar, das sich aber natürlich auf die anderen bezieht. Ein ideengeschichtlich so weites Feld schlaglichtartig als Konstellation emotionaler Subjektivation zu beleuchten, schließt methodisch an die Dispositivanalyse und dabei an die Untersuchung eines singulären Spezialdiskurses an8, was die Schriften von Herder, Rousseau, Schleiermacher und Sade analog etwa zu Sarasins Vorgehen positioniert, seine Geschichte der Hygiene genau »mit dem Erscheinen der letzten Bände der Encyclop¦die von Diderot und d’Alembert im Jahre 1765«9 beginnen zu lassen. Die von den Autoren beschriebene Relation von begründender Selbstaffektion und performativer Emotionalität wird, so der Fluchtpunkt dieses Vorgehens, im Fortgang der Moderne immer wieder diskursiv und nicht-diskursiv praktisch. Diese Konstellation von Gefühl als Grund und Performanz10 soll nun in Einzeldarstellungen skizzenhaft vorgestellt werden.
1.
Herder
Den Beitrag Herders zu dieser Subjektgeschichte auf das Verhältnis von Gefühl und Ästhetik zuzuspitzen, muss ihn in vielerlei Hinsicht reduzieren, vermag aber doch das Problem der Moderne zu veranschaulichen, das er diagnostiziert:
7 8 9 10
Metelmann, Erregungsdispositiv. Vgl. Bührmann/Schneider, Dispositiv, 94. Sarasin, Maschinen, 19. Die Verbindung von Ausführung, Darstellung, Ereignis und Ergebnis (als gelebte Erfahrung von Emotionen).
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Die Bilanz von Herders Kulturkritik fällt also vernichtend aus: […] Sowohl der Zugang zum Schönen, zum Tastsinn, als auch die schöne menschliche Gestalt sind gar nicht mehr vorhanden, sondern müssen als Erfahrungsdimension erst wiederhergestellt werden. Allerdings gibt es Anhaltspunkte für dieses Kultur- als Lebensreform-Programm: Die antiken Skulpturen bieten Vorbilder für solche Rekonstruktionen. […] Das freiwillige Verschließen der Augen, die willentliche Erblindung ist der erste Schritt auf der ›education sentimentale‹, die sich in der ›Plastik‹ vollzieht.11
Die hier zitierte Plastik-Schrift von 1778 (in einer ersten Fassung 1770)12 ist Experiment und Selbstversuch einer ›tastenden‹ Philosophie, die die Welt als Blinder zu denken versucht. Der Gang ins Museum ist dabei nicht nur Schule eines anderen Fühlens und damit Seins, sondern im übertragenen Sinn auch das Plädoyer für eine andere Kunstrezeption generell – für eine auf die ganze Sinnlichkeit zielende Erfahrung, wie sie zwar die Antikensammlung paradigmatisch, aber sie nicht allein bieten kann. Zu denken ist dabei an den empfindsamen Gestus, der sich im ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelt und bis heute als wirkungsästhetisches Konzept »nicht die Äußerung einer Figur, sondern eine Figuration der Empfindung meint«, den vor allem das Melodram in seinen verschiedenen medialen Formen kultiviert.13 In ihrer Studie zu Herder und seiner Plastik-Schrift hat Inka Mülder-Bach Herders Vorgehen detailliert untersucht, die aus Frankreich kommende sensualistische Kritik der Sinne in einer Umschrift des Pygmalion-Mythos produktiv zu bearbeiten. Herder entwickelt dabei am Beispiel des Ovidschen Bildhauers die Theorie des Ausdrucks und der Repräsentation zum Darstellungsbegriff fort, er erprobt eine »Darstellung fürs Gefühl«.14 Seine zentrale Pointe besteht in der Umkehrung des pygmalionischen Animationsgeschehens: Nicht die Statue wird durch den Betrachter belebt, sondern der Betrachter durch die Statue. Der Weg dorthin, die Methode, ist das Vermögen, »in der Ferne« zu »empfinden«.15 Der Augensinn, in der Moderne »verstumpft«,16 muss durch das Fühlen leiblich so ergänzt werden, dass im imaginären Austausch zwischen Modell und Liebhaber ein »Durchgefühle«17 stattfinden kann, wodurch der Betrachter »von der Restitution des Erfahrungssinns« zur »Lebendigkeit als
11 Schmaus, Psychosomatik, 38 f. Vgl. auch Brummack. 12 Herder, Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traum, in: Herder, Werke, Band 4, 243 – 326. 13 Kappelhoff, Matrix, 62. 14 So der Titel des einschlägigen Kapitels in Mülder-Bach, Zeichen, 49 – 102. 15 Herder, Kritische Wälder, zitiert nach Mülder-Bach, Zeichen, 75. 16 Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, in: Ders., Werke, Band 4, 327 – 393. 17 Zitiert nach Mülder-Bach, Zeichen, 89.
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Gefühl als Grund und Performanz
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restituierte Erfahrung« gelangt.18 Das ist das Ziel der Kultur- als Lebensreform im Zeichen der Ästhetik. Diese programmatische Verbindung von Ästhetik und Anthropologie bzw. Ontologie ist in der Konstruktion der Plastik-Schrift nicht unproblematisch. Denn wie kann die Skulptur in ihrer leibhaft-körperlichen Gegenwart, die laut Herder gegenwärtig, einfach nur da ist, mit dem Gefühl des Betrachters kommunizieren, das als selbst-identisches wiederum nur fühlt, was es fühlt? Oder anders gefragt, wie lässt sich das äußere Gefühl als optisch-distanziert vermittelter Nahsinn (»in der Ferne empfinden«) mit dem inneren Gefühl der Selbstaffektion verbinden, wenn beide doch – hier ist Herder Realist genug – getrennt und nur über die Einbildungskraft verbunden sind? Die Antwort liegt laut Mülder-Bach in einer Konfundierung beider, denn »[s]innliche Begriffsentwicklung meint bei Herder nicht nur die Entwicklung sinnlicher Begriffe von Raum, Zeit, Kraft, Körper, Fläche usw., sondern die Entwicklung des Empfindungs- und Bewusstseinsapparates«.19 Weil die im Selbstgefühl eingeschlossene Seele nicht monadisch bleiben, sondern mit der Welt in Austausch treten will, liefert die Selbstempfindung des »Ich fühle mich! Ich bin!«20 nicht nur eine unmittelbare Seinsgewissheit, sondern auch den Energiequell für die sinnliche Formierung des gelebten Lebens als Körper bzw. Organismus. ›Darstellung‹ als Methode einer fühlbaren Kunst, die bei Herder für die Bildhauerei reserviert bleibt, zielt auf die Schaffung eines »expressiven Ensembles«, die genau diesen ganzen, sinnlichen Menschen anspricht und bilden will. Sie bedeutet in Herders Lesart des Mythos, dass der die Skulptur haptisch Sehende in der imaginären Berührung mit ihr immer auch ein Selbstgefühl hat. Pygmalion eigne sich daher besonders gut für eine sensualistisch-empfindsame Kulturtheorie, »weil er die narzißtische Konstellation auf einen geschlechterdifferenten Austausch hin überschreitet«, wodurch ein Subjekt konstituiert werde, das »nicht erst durch Selbstberührung, sondern schon im ›Fühlen des Anderen‹ das ›Fühlen des Fühlens‹ (Hans Adler) genießt.«21 Der Begriff der Darstellung kann so eine Spannung im Denken des frühen Herder vermitteln, die sich aus dem zeittypischen Ansatz einer neuen Verbindung von entrhetorisierter Ästhetik und erfahrungswissenschaftlich reformulierter Anthropologie ergibt. Wo Herder als Anthropologe die Selbstpräsenz (»Ich fühle mich! Ich bin!«) als Ursprung behaupten will, da situiert sie der Ästhetiker in einem Mangel, denn die Statue zeige ja an, dass »Präsenz als imaginärer Überschuß symbolisch vermittelt werden muß.«22 Eine ähnliche 18 19 20 21 22
Ders., Zeichen, 75. A.a.O., 88 f. Herder, zum Sinn des Gefühls, in: Ders., Werke, Band 4, 233 – 242, 235. Mülder-Bach, Zeichen, 89. A.a.O., 76, kursiv J.M.
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strukturell inverse Verbindung von Fülle und Mangel haben wir ja bereits in der fundamentalanthropologischen Deutung des Gefühls bei Schleiermacher angetroffen und wird sich auch bei Rousseau als Ethiker zeigen. Zunächst soll aber zum Abschluss der Herder-Skizze und als Überleitung zu Rousseau noch dessen Bearbeitung des Pygmalion-Mythos betrachtet werden, die für die Frage nach dem Gefühl als Grund und Performanz ebenfalls einschlägig ist. In seiner ScÀne lyrique »Pygmalion« von 1762 (uraufgeführt 1770, veröffentlicht 1771), die zur Entstehungszeit europaweit erfolgreich war und die Gattung des Melodrams begründete, entfaltet Rousseau den Mythos als Modell eines »verführte[n] Verführer[s]«23, in dem sich die fiktive Gestalt Pygmalion und der Autor überschneiden. So wie der Zuschauer in der entscheidenden Sekunde der Belebung der Statue zugunsten der Figur ausgeblendet wird – im Text heißt es nicht mehr »on voit«, sondern »il la voit s’animer« – und auf ein unsinnlich-imaginäres Geschehen gleichsam auf der zweiten Bühne verwiesen ist (›verführt‹ wird), so träumt das autobiografische Schreiben Rousseaus davon, sich ganz der Verführung durch die eigenen Träume hingeben zu können, aber gerade dadurch bzw. dafür die Aufmerksamkeit des Publikums zu erhalten. Damit artikuliert er das Phantasma der Selbstgenügsamkeit des Künstlers, wie in den letzten Worte des Dramas »je ne vivrai que par toi / und werde leben nur noch durch dich«24 von Pygmalion zum Ausdruck gebracht, die nicht auf Selbstaufgabe in der Geliebten zielen, sondern auf ein Leben, das sich allein durch die eigenen Phantasien nährt. Sieht Mülder-Bach in dieser Szene vor allem die reflexive Durchdringung des autobiografischen Schreibens und die Selbstbezüglichkeit des Autors25, so hat Kappelhoff den selbstreflexiven Kreislauf als die Geburtsszene eines sich selbst in seinem Genießen genießendes Selbst interpretiert, das seit der »Epoche Rousseau« das bürgerliche Gefühl kodiere.26 Seine psychoanalytisch im Begriff des »sentimentalen Genießens« wurzelnde Deutung einer »Matrix der Gefühle« ist hier von besonderem Interesse, denn sie spannt nicht nur medienanalytisch einen großen historischen Bogen von 1750 bis zur Jetztzeit, sondern positioniert auch die Erregbarkeit des Zuschauers im Zentrum einer Theorie der ästhetischen Moderne. Theater, Oper und Film als Unterhaltungsformen produzieren durch artifizielle Gefühle in den Rezipienten eine Phantasietätigkeit, die sich als »Teil kultureller Subjektivierungsprozesse« lesen lässt.27 Das empfindende Subjekt, das die von Kappelhoff rekonstruierte transmediale »Matrix der Gefühle« hervorbringt, ist ein passiv-aktiver Typus bürgerli23 24 25 26 27
Starobinski, Rousseau, 259. Rousseau, Musik, 178. Mülder-Bach, Zeichen, 98; vgl. auch Koschorke, Mediologie. Kappelhoff, Matrix, 110 – 124. A.a.O., 29.
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cher Kultur, dessen emotionale Hingabe zugleich eine produktive Phantasiekomponente hat, die den Medienkonsum als kollektive kulturelle Praktik erweist – die Regression in den ›dunklen Raum‹ des Theaters, der Oper und des Kinos ist sozialhistorisch Teil der modernen Disziplinierung der Affekte. Insofern hat die spezifisch ästhetische Kombination von Fühlen-Können und Konkret(es)-Fühlen eine eher selbstvergessende Komponente. Rousseau ist nun aber nicht nur in dieser Hinsicht eine zentrale Figur der Moderne, sondern auch im Hinblick auf Gefühl und ethische Performanz als Selbsttätigkeit, wie ich im Folgenden ausführen möchte.
2.
Rousseau
Mit seinem Leben und in seinen Schriften hat Rousseau zahlreiche Diskurse ›erfunden‹ oder entscheidend geprägt, die in seiner Zeit und im Fortgang der Moderne bis heute elementar waren und sind. Seine sozialphilosophischen und soziologischen (Gesellschaftsvertrag, Entfremdung, Stadt-Land/Idylle), kulturund subjekttheoretischen (Bekenntnis, Paranoia, Träumerei) sowie medialen (Schriftlichkeit, Melodram) Gedanken28, um hier allein die für unseren Zusammenhang wichtigsten zu nennen, gravitieren dabei zu der Frage, wie sich die ›wahren‹, innerlichen Empfindungen zum Außen des Selbst verhalten, in das es und zu dem es sich selbst als (auch) soziales Wesen veräußern und äußern muss. Wie Jean Starobinski in seiner großen Rousseau-Studie durchgearbeitet hat, ist das Auseinandertreten von Sein und Schein die »unangenehme Gegebenheit, deren Erklärung und Ursache er sucht«, ist es »das Unglück, wovon erlöst zu werden er wünscht.«29 Die zentrale Antwort auf diese Differenzerfahrung ist die Annahme der Selbsttransparenz des natürlichen Gefühls als Modus der Erkenntnis des Welt: »die Ekstase des Seins ersetzt gänzlich die unmögliche Erkenntnis des Universums, da nunmehr das subjektive Gefühl der Totalität den Platz der objektiven Entschleierung der Natur und ihrer Gesetze einnimmt.«30 Diese »Entschleierung der Wahrheit« sei zu verstehen als »eine Entschleierung des Bewusstseins«, das sich von falschen Subjekt-Objekt-Gegensätzen und Illusionen löst und zur einfachen Selbstgewissheit gelangt, in der es zugleich von außen anerkannt wird. Das ist auch, wie schon ansatzweise gesehen, die künstlerische Utopie der ScÀne lyrique »Pygmalion«, in der es am Ende »kein Schauspiel und keine Zuschauer mehr« gibt, sondern nur »erregende Kommunikation und, in ihrer höchsten 28 Vgl. hierzu Bubner, Rousseau; Kaufmann, Rousseau’s Nightmare; Koschorke, Mediologie. 29 Starobinski, Rousseau, 14. 30 A.a.O., 119.
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Ausformung, liebende Vereinigung. […] Galatea und Pygmalion bilden nur noch ein Ich. Alles löst sich in reine Gegenwart auf.«31 Übertragen auf das Individuum Rousseau, so Starobinksi, lautet der entsprechende Anspruch, sowohl die einmalige Person als auch das universale Modell eines Menschen generell sein zu wollen, eine widerspruchlose Einheit von einmaliger Erfahrung und allgemeiner Vernunft. Dieses Konstrukt aus Ontologie, Epistemologie und Ästhetik ist von Derrida bekanntlich als »Rückkehr zur Präsenz des Ursprungs«32 kritisiert worden. Gegen die metaphysikgeschichtliche Zuordnung hat wiederum Dieter Thomä in einer ethischen Lektüre Rousseaus das »Gefühl der eigenen Existenz« rehabilitiert und als Modell der Vermittlung zwischen Auto-Affekt und Weltoffenheit konzipiert, das »okkasionell, nicht strukturell«33 die reine Gegenwart von Innen und Außen in einem ungezwungenen, freien Zustand der Person eröffne. Rousseau schildere einen solchen Zustand im »Fünften Spaziergang« der »Träumereien«: Und was genießt man in einer solchen Lage? Nichts, das außer uns selbst wäre, nichts als sich selbst und seine eigene Existenz, und solange dieser Zustand währt, ist man, wie Gott, sich selbst genug. […] Im Herzen muß Friede sein, und keine Leidenschaft darf diese Ruhe stören. Es gehört eine Stimmung dessen, der sie genießt, dazu und eine Stimmung der Gegenstände, die ihn umgeben.34
Für Thomä findet sich in diesem ungezwungenen Zustand der Person, der das Gefühl der eigenen Existenz kennzeichnet, gar das materielle Substrat des Rousseauschen Freiheitsbegriffs, mit dem sich auch die Widersprüche zwischen passiven und aktiven Subjektentwürfen in dessen Werk überbrücken lassen. Denn dieses Gefühl ist stets an Situationen und Kontexte gebunden, die mal eher Hingabe, mal eher Aktivität evozieren. Für beide – sowohl Träumerei und Selbstgenuss als auch Selbstbestimmung und Perfektibilität – sei aber der rückhaltlose Bezug auf das eigene Leben der Person charakteristisch, die mit sich im Reinen ist, so dass sie sich dem zuwenden kann, »was sie über diese Situation hinaus ausmacht.«35 Situativ-okkasionell gelingt in dieser Lesart also die Vereinigung von einmaliger Erfahrung und allgemeiner Vernunft, von Innen und Außen. Dabei ist wichtig, dass das Gefühl der eigenen Existenz über die quasi-mystische Selbstvergessenheit (»Nie meditiere und träume ich anmutiger, als wenn ich mich ganz vergesse«, aus den »Träumereien«) zur Selbsttätigkeit führt, mittels derer das Individuum seine alten Verhaltensweisen (die Ent31 32 33 34 35
Starobinski, Rousseau, 120. Derrida, Grammatologie, 531. Thomä, Gefühl, 321. Rousseau, zitiert nach Thomä, Erzähle, 197. Thomä, Erzähle, 204, kursiv J.M.
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fremdung, den gesellschaftlich begründeten Selbstverlust) zu ändern vermöge.36 Diese ethisch-pragmatische Pointe ist hier entscheidend: Die »Ruhe im Herzen« dient der Erregbarkeit für die Welt, der sich die Person mit Interesse und Offenheit zuwendet, um ›alles Mögliche‹ über sie in Erfahrung zu bringen. Vergleicht man die Strukturen der ästhetischen und der ethischen Lesart, so fällt auf, dass in beiden Aktivität und Passivität kombiniert werden, mal im Sinne der Selbsttätigkeit der Phantasie im Austausch mit artifiziellen Gefühlen, mal im Sinne der Selbsttätigkeit der Imagination im Dialog mit der Welt als Erfahrungsraum. Beide gründen dabei im Selbstgefühl, das innere Existenzgewissheit und Bedingung der Möglichkeit eines emotionalen Außen-Bezugs zugleich stiftet, worin sich die bei Schleiermacher beschriebene Struktur wiederfinden lässt.
3.
Sade
Als vierte Dimension der Erregung neben Wissen, Ästhetik und Ethik kann über Sades »Willen zur Lust« die Macht am Beispiel Sexualität thematisiert werden. Svenja Flaßpöhler hat dazu in Pornographie und das moderne Subjekt argumentiert, dass Foucault die falsche Subjektivierungsform vorschlage: Zwar teilt sie seine Annahme, »der Sex« bezeichne nicht »real existierende Körper, sondern ein Ideal, an dem sich diese Körper ausrichten«, doch regiere dort, wo der Theoretiker des Sexualitätsdispositivs in der Scientia sexualis den »Willen zum Wissen« am Werke sehe, eigentlich die reine Erregung des »Willens zur Lust«. Pornographische Darstellungen jedweder Art, so ihre These, könnten den Körper des Rezipienten »zwar erregen, aber nicht konstituieren. Beim Sexualitätsdiskurs verhält es sich genau umgekehrt: Er konstituiert die Körper, soll sie aber nach Möglichkeit nicht stimulieren.«37 Die Erregbarkeit des Körpers des Libertins, der sich mit dem »Willen zur Lust« subjektiviert, ist dabei vor dem Hintergrund sowohl der sensualistischen Theorien wie auch der Reizlehren des 18. Jahrhunderts zu sehen. Wie schon bei Herders »Ich fühle mich! Ich bin!« gesehen, spielen erstens die Umschriften von Descartes’ epochemachendem Cogito (etwa Boureau-Deslandes’ materialistische Maxime »Ich liebe, also bin ich« oder Condillacs »Trait¦ des Sensations«)38 eine wichtige Rolle. Im Hinblick auf Sades kulturell wirkmächtig gewordenes Programm könnte man die Liebes-Maxime radikalmaterialistisch zuspitzen zu einem »Ich errege mich sexuell, also bin ich«. Damit eng verbunden haben 36 Thomä, Gefühl, 322. 37 Flaßpöhler, Wille, 53 u. 61. 38 Neumann, Geburt, 795 f.
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zweitens die diversen Reizlehren eine große Impulsfunktion, die wesentlich zur Umstrukturierung des Menschenbildes vom humoralen zum neuronalen Paradigma beitrugen.39 Spielen für Herder Albrecht von Hallers Arbeiten zur Irritabilität der Muskelfaser und der Sensibilität der Nervenfaser ein Rolle, so sind es für Sade die L’homme machine-Gedanken von La Mettrie.40 In den Imaginationen einer reinen sexuellen Erregung erfüllt sich für den Marquis die humane Reiz-Reaktions-Maschine ›Mensch‹ ganz naturgemäß, jedoch im Vergleich zu Herder und Rousseau mit negativem Vorzeichen: Geht es bei Ersteren um Verlebendigung, zielt Sades Konnex von Fühlen und Phantasie auf die Angstlust des Libertins im Nachfühlen des Opferleidens.41 Für den Libertin ist der sexuelle Exzess »existenzieller Sinn und Zweck«42, der allerdings zeitlich begrenzt ist, so dass die eigentliche Bewegung dieses Subjekts der Erregung eine kreisförmige Wiederholungsschleife ist, die punktuelle Spannungsauflösungen aneinanderreiht, um dem endgültigen Spannungsabbau zu entgehen, der mit der Unterwerfung unter das Gesetz der Sublimierung und des Realitätsprinzips einherginge: Ein Akt jagt den nächsten, um in der Erregung und dem Gefühl der Erregbarkeit selbstvergewissernde Bestätigung zu finden. Die antreibende Angst-Lust ist dabei vor allem aufgrund der durch und durch imaginären Struktur der Erregung gemildert: Es sind Masturbationsphantasien, entsprungen einer allzeit verfügbaren Einbildungskraft, die aus der vorgestellten Transgression immer wieder Lust ziehen und sich selbst in der Befriedigung vollenden – bis zum nächsten Anlauf.43 Die hier skizzierte Logik einer unerfüllbaren Lust lässt sich als Aspekt des Wandels beschreiben, in dem der homo compensator durch den homo oeconomicus abgelöst wird: Nicht mehr die Symmetrie des Ausgleichs, sondern eine kontinuierliche Selbstoptimierung, nicht mehr das Maß der Bedürfnisse, sondern grenzenloses Verlangen, nicht mehr ein vitales Gleichgewicht, sondern ein sich selbst verzehrendes Leben44
prägen nun die kulturelle Ordnung und die Subjekte. Auch im modernen Hygienediskurs, der mit der Französischen Revolution und in enger Verflochten39 Vgl. Koschorke, Mediologie, 112 – 130. 40 Schmaus, Psychosomatik, 32 – 36; zum Verhältnis von Haller und La Mettrie: Sarasin, Maschinen, 57. 41 Hunt, Introduction, 35: »No one has ever been able to top Sade because he had, in effect, explored the ultimate logical possibility of pornography : the annihilation of the body, the very seat of pleasure, in the name of desire.« 42 Flaßpöhler, Wille, 170. 43 A.a.O., 182. Anders als Flaßpöhler sehe ich den Libertin aber nicht im Gegensatz zum bürgerlichen Denken und Körper, sondern über die Logik des Surplus gerade vereint, vgl. auch Sarasin, Maschinen, 223 und Kaufmann, Deregulierung. 44 Vogl, Kalkül, 289.
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heit mit den Reiz-Theorien entsteht, schiebt sich »der surplus der Lust in den Vordergrund« und wird zum Problem, denn die »sexuelle Ausschweifung […] erscheint als Bedrohung des Körpers und damit des Subjekts schlechthin.«45 Die gelingende hygienische Sorge um sich, die als »phantasmatische[r] Kern der Mäßigkeitsvorstellung« sowohl die bürgerlichen Hygieniker am Ende des 18. Jahrhunderts als auch den Hygieniker Foucault umtrieb46, war das Problem des Marquis de Sade nicht. Streben Erstere nach einem Selbstverhältnis ohne Rest im vollkommenen Selbst-Genießen, ist in Sades Entwurf der defizitäre Charakter in die imaginäre Natur des Begehrens eingeschrieben, das das Selbst mechanistisch-instrumentell, aber nicht hermeneutisch-selbstsorgend adressiert. Das Fühlen als anthropologische Erregbarkeit ist hier also, strukturell ähnlich wie bei den anderen Autoren, zwar eine Art Nullstufe der Existenz, wird als solche aber nicht symbolisch produktiv, ästhetisch formativ oder ethisch welterschließend. Das Verhältnis von Gefühl als Grund und Performanz erreicht bei Sade den dunklen Endpunkt seines Spektrums, wenn es um die Macht – als Vorstellung im Text und als Text für zu erregende Leser – geht, den oder die andere(n) in der Phantasie zu überwältigen, um sich darin allererst zu fühlen und, so würde ich Flaßpöhlers These in Frage stellen wollen, als libertines Subjekt der Erregung zu konstituieren.
4.
Das Subjekt der Erregung
Dieser skizzenhafte Durchgang durch verschiedene, gleichwohl paradigmatische Positionen der Relation von Gefühl als Grund und als gelebte Erfahrung (Performanz) hat hoffentlich den Boden bereitet für einen zusammenführenden Gedanken, der die genannten Bezüge des Gefühls – zum Wissen, zur Wahrnehmung, zum Selbst, zum Außen als Macht – in den Kontext der erfahrungstheoretischen Transformation der Kultur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellt. Denn auf Erfahrung zielen die Texte – die Reden, die PlastikSchrift, die Träumereien und der Êmile, Justine et Juliette – in doppelter Hinsicht: Sie konstruieren Subjekt-Positionen der Erfahrung (Subjektivationen), die kulturhistorisch weiter bedeutsam werden, und sie konstruieren sie, damit elementar verbunden, medial, genauer : als Texte, die wiederum eine bestimmte Erfahrung ermöglichen, fordern oder provozieren (etwa bei Herder oder extrem bei Sade). Hiermit bewegen wir uns also auf dem Feld der ästhetischen Erfahrung, die mit der Wendung vom Gegenstand des Ästhetischen zum Rezipienten seit dem 45 Sarasin, Maschinen, 219 u. 452. 46 A.a.O., 464.
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18. Jahrhundert als Subjektivierung im breiten sozial- und kulturtheoretischen Kontext zu kartographieren ist.47 Wie das Verhältnis von Subjekt und Objekt unter dieser Prämisse genau bestimmt werden soll, ist kontrovers: Wird zum einen davon ausgegangen, dass äußere Anregungen ›nur‹ der Anlass für ästhetische Vollzüge im Subjekt sind, wird zum anderen ästhetische Erfahrung nicht als ein subjektives Ereignis im Subjekt gedeutet, sondern als Praxis der Vereinigung beider Seiten.48 Unter Rückgriff auf das hier in seinen vier Erscheinungsformen analysierte Modell des Gefühls als Grund und Performanz ließe sich eine strukturelle Verbindung beider Positionen denken, die, wie bei Schleiermacher gesehen, das gleiche Phänomen in unterschiedlichen Aspekten betrachtet: Geht es zum einen um die unmittelbare Vertrautheit und Selbstpräsenz im Subjekt als Ausfluss der neuzeitlichen Betonung der Selbstaffektion, geht es zum anderen um die Verschränkung von Innen und Außen als Erfahrungspraxis gelebten emotionalen Lebens. Was ist dann aber die differentia specifica eines Subjekts der Erregung? Sie besteht, so mein Vorschlag, in der »gespannten Leere«49, die genau zwischen den beiden Polen in ihrer unaufhebbaren Bezüglichkeit dadurch entsteht, dass sich der Mensch zwar als Fühlender überhaupt erst gegeben ist, sich aber dauernd von außen erregen lassen muss, um durch Erfahrung ein Subjekt zu werden: Diese Erregbarkeit als Dazwischen, die in der Spannung zwischen Selbstgefühl und Objekt-Differenz bei gleichzeitiger Verbundenheit besteht, erhält in der Kulturtheorie des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts ihre zentralen Konturen.50 Von einer ähnlichen Struktur in Rüdiger Bubners Theorie der ästhetischen Erfahrung, die von Kants Bestimmung der Wirkweise des Schönen ausgeht, unterscheidet sie sich grundsätzlich dadurch, dass es nicht um »zwangloses Spiel der Reflexion«51 geht, sondern um Gefühl. Von der damit verwandten Struktur der Erfahrung des Erhabenen trennt sie weiterhin, dass das Subjekt der Erregung gerade nicht durch den Rekurs auf Vernunft (erneut) selbstmächtig wird, sondern in der Spannung des Dazwischen verbleibt. Und vom Selbstgefühl-Diskurs des 17. (Ren¦ Descartes’ »plaisir se sentir emouvoir« als das die Seele beschäftigende Prinzip) und 18. Jahrhunderts unterscheidet es sich dadurch, dass es nicht um das Gefühl geht, »mit dem wir uns unserer kognitiven Vermögen versichern« (wie dies etwa Mendelssohn in seinen Überlegungen zu den ver-
47 48 49 50 51
Küpper/Menke, Einleitung, 10, mit Bezug auf Gadamer. A.a.O., 12. Wehle, Kunst, 930. Vgl. hierzu ausführlich Metelmann, Korrekturmodus. Bubner, Ästhetische Erfahrung, 91, kursiv im Text.
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mischten Empfindungen anregt)52, sondern um das Gefühl, mit dem wir uns unserer selbst und der Welt versichern – in der Erregung. Gedacht als systematische Ergänzung der bei Foucault im Werkprozess genealogisch entstandenen drei Formen des Subjekts des Wissens, der Handlung und der Moral53, kann diese Akzentuierung eines gesteigerten Selbstfühlens als eigener Typus moderner Subjektivation auch dazu beitragen, die Probleme einer ubiquitär werdenden Ästhetisierung und ästhetischen Erfahrung methodisch zu bearbeiten, denn es behauptet eine Eigenlogik des Ästhetischen. Das Subjekt der Erregung konstituiert sich aus »kulturell modellierten leiblichen Erregungsintensitäten«, die sich an »selbstbezügliche sinnliche Wahrnehmungen« heften, und wird genau in dieser Praxis besonders, auch wenn darauf andere Praktiken und Diskurse aufbauen oder sich damit verbinden, wie etwa Kreativwirtschaft oder der Kult des Neuen.54 Ein derart geschärfter Blick auf das Subjekt bietet so meines Erachtens die Möglichkeit, das Funktionieren der »Ästhetisierungsmaschine Moderne«55 in ihren emotionalen Aspekten nicht nur im Hinblick auf Religion und Gefühl besser zu verstehen.
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Descartes und Mendelssohn zitiert nach Zelle, Schrecken, 402 u. 409. Vgl. hierzu ausführlich Metelmann, Erregungsdispositiv. Reckwitz, Kreativität, 24 u. 314. A.a.O., 34; vgl. auch grundlegend aus subjekttheorischer Sicht: Ders., Subjekt.
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Georg Northoff
Religion und Gehirn – Wer beeinflusst wen?
1.
Hintergrund
Wenn man die Geschichte der Menschheit betrachtet, fällt es auf, dass Religion, oder allgemeiner gesagt Spiritualität, etwas ist, das sich in allen Kulturkreisen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, finden lässt. Unabhängig von den großen Unterschieden, die die verschiedenen Religionen hierbei zeigen, stellt sich dennoch die Frage, wo die Gemeinsamkeiten liegen, und ob es eine biologische oder naturwissenschaftliche Basis von Spiritualität gibt. Dabei soll hier keinesfalls die Frage untersucht werden, ob es einen Gott gibt oder nicht, da sich diese Fragestellung mit den heutigen Erkenntnissen nicht beantworten lässt. Selbst wenn mit einer Studie gezeigt werden könnte, dass es eine bestimmte Hirnregion geben sollte, die speziell bei religiösen Gefühlen aktiv wäre, würde das keine Aussage über die Existenz eines Gottes zulassen. Das Vorhandensein einer solchen hypothetischen »Gott-Region« im Gehirn ließe somit auch weiterhin die Frage offen, ob Aktivierungen dieser Region zu einer verstärkten Religiosität führen, oder ob umgekehrt erst die Anwesenheit eines Gottes zu der beobachteten Hirnaktivierung führt, dies also einfach Gottes Weg ist mit uns zu kommunizieren und uns seine Gegenwart kund zu tun. In diesem Artikel geben wir einen kurzen Überblick über die aktuelle Forschung zum Thema Religion und Spiritualität. Dazu betrachten wir die Auswirkungen pathophysiologischer Zustände, wie Epilepsie auf das religiöse Verhalten der Betroffenen, geben einen Überblick über Studien mit gesunden Probanden und erläutern verschiedene Hypothesen zur neuronalen Grundlage von Religion. Anschließend wenden wir uns neueren Studien zu, die Menschen im Zustand religiöser Versenkung oder tiefer Meditation untersucht haben, und betrachten abschließend spirituell gefärbte Nahtoderfahrungen.
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Gemeinsamkeiten bei der Entstehung verschiedener Religionen Um etwas über die grundlegende biologische Basis verschiedener Religionen zu erfahren, ist es sinnvoll die Gemeinsamkeiten zu betrachten und nach möglichen Ursachen für diese zu fragen. Vergleicht man die drei großen monotheistischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, fällt schon bei deren Entstehungsgeschichten eine Gemeinsamkeit auf und zwar, dass bei allen dreien wichtige Offenbarungsereignisse auf hohen Bergen statt fanden. Im Judentum begegnete Moses mehrfach seinem Gott auf dem Berg Sinai, zuerst in Form eines brennenden Busches, und später wurden ihm dort auch die zehn Gebote von Gott diktiert, die die moralischen Grundsätze der Religion bilden. Im Christentum führte Jesus seine Jünger Petrus, Johannes und Jakobus auf einen hohen Berg, wo ihnen Moses und der Prophet Elia erschienen und Gott, in Form einer Wolke, den Jüngern kund tat, dass Jesus sein Sohn sei, und im Islam verbrachte Mohammed einige Zeit zurückgezogen in Einsamkeit auf einem hohen Berg. Dort erschien ihm der Erzengel Gabriel und diktierte ihm den Koran, die heilige Schrift des Islams. Alle diese visionären Erlebnisse ähneln sich nicht nur in Bezug auf den Ort des Geschehens, sondern auch inhaltlich zeigen sich deutliche Parallelen insofern, dass die Beteiligten immer Stimmen hörten, Personen und Licht sahen und ein Gefühl von Angst verspürten. Auch heutzutage gibt es Berichte von Bergsteigern, die von ähnlichen Phänomenen während ihrer Touren berichteten.1 Diese Beobachtung legt die Vermutung nahe, dass große Höhe, vermutlich besonders in Kombination mit zusätzlichem Stress wie etwa Einsamkeit, das Auftreten von Visionen oder zumindest Halluzinationen mit visionärem Charakter fördert. Als Grund hierfür werden verschiedene mögliche Ursachen diskutiert, so führt der durch körperliche Anstrengung beim Bergsteigen angestiegene Endorphin Level zu einer vermehrten Neigung zu Temporallappen Epilepsien (TLE), zusätzlich wird vermutet, dass der Sauerstoffmangel, ausgelöst durch einen längeren Aufenthalt in großer Höhe, zu Dysfunktionen im Präfrontalcortex führen kann.2 Diese beiden Effekte stehen beide im Verdacht, zu religiösen Erlebnissen zu führen, worauf später in diesem Kapitel genauer eingegangen wird.
1 Arzy/Idel/Landis/Blanke, Why revelations have occurred on mountains? 2 A.a.O.
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2.
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Epilepsie und Religion
Die exakte Untersuchung von Religiosität im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie stellt sich im Allgemeinen als recht komplexe Aufgabe dar. Zum einen, weil Religion eine sehr persönliche und individuelle Angelegenheit ist und somit die interindividuelle Vergleichbarkeit ein Problem darstellen kann, zum anderen weil es meist schwierig bis unmöglich ist in einem wissenschaftlichen Setting unter kontrollierten Bedingungen gezielt eine religiöse Erfahrung hervorzurufen. So gibt es bis heute keine anerkannte objektive Definition von Religion oder religiösen Zuständen, so dass man sich auf die subjektiven Aussagen und Einschätzungen der Versuchspersonen verlassen muss. So ist es etwa auch immer noch nicht geklärt, ob religiöse Erfahrungen eher dem emotionalen oder dem kognitiven Bereich zuzuordnen sind. Nichtsdestotrotz gibt es einige Studien, die sich dieses Themas angenommen haben, und es sind inzwischen einige Hirnregionen bekannt, bei denen davon ausgegangen werden kann, dass sie an der Entstehung religiöser Erfahrungen beteiligt sind. Dabei wurden manche der Erkenntnisse an gesunden Versuchspersonen gewonnen, viele aber auch anhand von verändertem religiösen Erleben bei pathophysiologischen Zuständen. So wurde etwa die Epilepsie schon im antiken Griechenland als eine heilige Krankheit betrachtet und in engen Zusammenhang mit dem Einwirken von Göttern gebracht. Noch bis ins Mittelalter wurden in Europa epileptische Anfälle als eine dämonische Besessenheit gedeutet, eine Einschätzung, die in Teilen der Welt, so etwa bei Anhängern des Voodos bis heute noch verbreitet ist. So verwundert es nicht, dass eine große Anzahl historischer religiöser Führer, oder hyperreligiöser Persönlichkeiten heute im Verdacht steht, an einer Epilepsie gelitten zu haben, darunter so bekannte Persönlichkeiten wie etwa Paulus, Mohammed, Johanna von Orleans oder auch Vincent van Gogh. Dabei scheint die Temporallappen-Epilepsie die Epilepsieform zu sein, die am ehesten dazu führt, dass die Betroffenen von religiösen Erlebnissen berichten oder eine Hyperreligiosität entwickeln.3 Hierbei muss unterschieden werden, welcher Art diese religiösen Erfahrungen sind. Zum einen treten während oder kurz nach einem akuten Anfall oftmals psychotische Halluzinationen auf, die dann, je nach persönlichem Hintergrund und Erziehung der betroffenen Patienten gedeutet werden, unter Umständen auch in einer religiösen Art und Weise. Für diese Vermutung spricht die Tatsache, dass sich sowohl in der Untersuchung von Ogata und Kollegen als auch in einer weiteren Studie4 zeigte, dass alle Patienten mit religiösen Visionen streng gläubig waren und die wahrgenommenen Visionen immer im Zusammenhang mit ihrer persönlichen Religion oder bio3 Ogata/Miyakawa, Religious experiences. 4 Sengoku/Inoue/Seino, Episodic psychotic states.
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graphischen Erlebnissen standen. Es wird vermutet, dass diese psychotischen Zustände nach epileptischen Anfällen durch eine erhöhte neuronale Feuerrate in subkortikalen Arealen und dem limbischen System ausgelöst werden.5 Außer diesen religiösen Wahrnehmungen, die durch akute Anfälle ausgelöst werden, wird aber auch berichtet, dass viele Patienten mit Temporallappen-Epilepsie auch zwischen den Anfällen eine auffallende Hyperreligiosität entwickeln.6 Hier stellt sich somit also die Frage, ob diesen Beobachtungen zwei unterschiedliche Prozesse zu Grunde liegen, oder ob ein und derselbe Mechanismus sowohl für die akuten, religiös gefärbten Halluzination während der Anfälle und für die allgemein gesteigerte Religiosität der Patienten verantwortlich ist. Bear stellte dazu die Hypothese auf, dass die vermehrte Feuerrate bei Patienten mit Temporallappen-Epilepsie zu vermehrten Verbindungen des limbischen Systems mit den sensorischen Arealen führt.7 Eine Folge dieser verstärkten Konnektivität könnte somit sein, dass allen wahrgenommenen äußeren Reizen eine erhöhte emotionale Bedeutung zugemessen wird und diese somit eher als übernatürlich oder auch göttlich eingestuft werden. Das Thema der Hyperreligiosität bei Temporallappen-Epilepsie ist allerdings nicht unumstritten, da sich diese Symptome bei weitem nicht bei allen Patienten zeigten, sondern auf eine relativ kleine Anzahl beschränkt sind. So berichteten Ogata und Kollegen lediglich von einer Rate von 2,2 % von untersuchten TLE Patienten, die von akuten religiösen Erfahrungen während eines epileptischen Anfalls berichteten, wohingegen der Anteil der Patienten, die während einer dem Anfall folgenden psychotischen Phase religiöse Erlebnisse haben, mit 27,3 % wesentlich höher liegt. Diese Phasen treten in der Regel einige Stunden bis Tage nach dem letzten Anfall auf.
3.
Der präfrontale Cortex und Religion
Neben dem Temporallappen scheint auch der präfrontale Cortex eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Generierung religiöser Gefühle zu spielen. So untersuchten etwa Azari und Kollegen eine Gruppe von Personen, die sich nach eigener Aussage als tief religiös bezeichneten, und verglichen diese in einer PET Studie mit einer Kontrollgruppe, die sich als nicht religiös einschätzte.8 Um eine größtmögliche Vergleichbarkeit innerhalb der religiösen Gruppe zu gewährleisten, bestand diese aus Mitgliedern der gleichen Glaubensgemeinschaft, in 5 6 7 8
So/Savard/Andermann u. a., Acute postictal psychosis. Bear/Fedio, Quantitative analysis. Bear, Temporal lobe epilepsy. Azari/Nickel/Wunderlich u. a., Neural correlates.
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diesem Falle einer evangelischen Freikirche. Außerdem hatten alle auch vergleichbare Ausbildungen und waren als Lehrer an einer von ihrer Glaubensgemeinschaft geführten Schule beschäftigt. Die während des Experiments verwendeten Stimuli bestanden aus dem ersten Vers des Psalms 23 als religiösem Stimulus, einem Kinderreim als positiv besetztem nicht-religiösem Stimulus und einem Auszug aus einer Bedienungsanleitung als neutralem Stimulus. Diese Stimuli wurden von den Probanden zum einen still gelesen und im Falle des Psalms und des Kinderreims zusätzlich mit geschlossenen Augen rezitiert. Im Ergebnis zeigte sich hierbei, dass es sowohl Unterschiede zwischen den einzelnen Versuchsbedingungen als auch zwischen der Gruppe der religiösen und der nicht religiösen Versuchspersonen gab. So zeigte sich für die Gruppe der religiösen Probanden eine verstärkte Aktivierung des rechten dorsolateralen Präfrontalcortex und des dorsomedialen Frontalcortex während des Rezitierens des Bibeltextes sowohl im Vergleich zum Ruhezustand als auch dem Rezitieren des Kinderreims, sowie im Vergleich zu den nicht religiösen Versuchspersonen, während diese die gleiche Bibelstelle rezitierten. Hingegen zeigte sich im limbischen System, insbesondere in den durch emotionale Stimuli aktivierten Bereichen, keine Unterschiede. Eine weitere Tatsache, die auf eine mögliche Verbindung zwischen Aktivierungen im Frontallappen und Religiosität zeigt sich, wenn man Patienten mit obsessiven Zwangsstörungen betrachtet. Diese Personen zeigen oftmals Verhaltensweisen, die denen von Menschen, die religiöse Praktiken ausüben, sehr ähnlich sind. Darunter fallen etwa repetitive oder ritualisierte Verhaltensmuster, immer wiederkehrende zwanghafte innere Bilder, Ideen, Gedanken und Vorstellungen, sowie ein starkes Interesse an philosophischen und theologischen Themen. Neuere Studien deuten auch darauf hin, dass es eine direkte Verbindung zwischen obsessiven Zwangserkrankungen und Religiosität gibt.9 Bei diesen Erkrankungen zeigt sich eine erhöhte neuronale Aktivität im Frontallappen und es wird vermutet, dass diese abnormal erhöhte Aktivität die Ursache dieser Störungen ist.10 Aus diesen Befunden lassen sich verschiedene Hypothesen zu Religiosität erstellen. So entwickelten Saver und Rabin ihre so genannte ›limbic marker Hypothese‹.11 In dieser gehen sie davon aus, dass das limbische System allen religiösen Erfahrungen zu Grunde liegt. Hierbei argumentieren sie, dass die zentralen Komponenten einer religiösen Erfahrung, wie das Gefühl die Ursache allen Daseins zu erkennen und die Unfähigkeit das Erlebte adäquat zu beschreiben, auch bei temporolimbischen epileptischen Anfällen auftreten. Als 9 Sica/Novara/Sanavio, Religiousness and obsessive-compulsive cognitions. 10 Saxena/Rauch, Functional neuroimaging. 11 Saver/Rabin, The neural substrates.
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Grund für das Gefühl des Unerklärbaren vermuten sie, dass das Wahrgenommene zwar als dem Gewöhnlichen sehr ähnlich eingeschätzt wird, allerdings durch die gleichzeitige Aktivierung des limbischen Systems zusätzlich einen starken emotionalen Inhalt bekommt und dadurch als etwas unglaublich Wichtiges empfunden wird. Somit haben die Betroffenen also ein subjektiv außerordentlich wichtiges Erlebnis, das sich aber immer nur unzureichend in Worte fassen und kommunizieren lässt, wodurch es den Charakter etwas der normalen Welt Entrücktem, quasi Übernatürlichem erhält. Im Gegensatz zu dieser Hypothese, die religiöse Erlebnisse als hauptsächlich emotional einstuft, steht die Theorie von Muramoto.12 Hier wird davon ausgegangen, dass religiöse Erlebnisse zwar im limbischen System, dem Temporallappen oder den Parietallappen erzeugt werden können, dass aber das vereinheitlichende und bestimmende Hirnareal der Präfrontalcortex ist. Für diese Vermutung spricht unter anderem die Tatsache, dass es keine überzeugende Korrelation zwischen Läsionen im limbischen System und der Religiosität der Betroffenen gibt. Allerdings gibt es zahlreiche Berichte über einen Zusammenhang zwischen Dysfunktionen des Frontallappens und einer Veränderung der Persönlichkeit. Dieser Hirnbereich spielt eine wichtige Rolle bei einer Vielzahl von Prozessen, die auch für Religion eine Bedeutung haben. So etwa bei moralischen Entscheidungen13, der Wahrnehmung und dem Verständnis von Emotionen anderer Personen (theory of mind)14 oder der Wahrnehmung des eigenen Selbst und der Verarbeitung selbstbezüglicher Stimuli.
4.
Meditation und Religion
Ein weiteres Merkmal, das die meisten Religionen gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass verschiedenste Techniken verwendet werden, um sich in einen tranceartigen Zustand zu versetzen und so Kontakt zum Übernatürlichen aufzunehmen und religiöse Erlebnisse zu induzieren. Als bekannteste Beispiele sei hier die Meditation oder – im christlichen Kulturkreis weiter verbreitet – das kontemplative Gebet genannt. Beide Methoden unterscheiden sich zwar in ihrer Technik, haben aber das gleiche Ziel, und zwar die Ausblendung äußerer Reize und vollständige Konzentration auf das eigene Selbst. Verschieden Studien haben gezeigt, dass für Aufmerksamkeitsprozesse vor allem der Präfrontalcortex benötigt wird. Dies zeigte sich auch in mehreren Studien, die die Auswirkungen von Meditation untersuchten. So zeigten sich in einer Untersuchung von Per12 Muramoto, The role. 13 Moll/Oliveira-Souza/Moll u. a., The moral affiliations. 14 Gallagher/Frith, Functional imaging.
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sonen, die allesamt in der buddhistischen Art der Meditation geübt waren, während der Meditation verstärkte Aktivierungen im Cingulum, dem inferioren und orbitalen Frontalcortex, dem dorsolateralen Präfrontalcortex, sowie dem Thalamus.15 In einer weiteren Studie untersuchte die gleiche Forschergruppe Nonnen des Franziskanerordens, während sich diese in einer kontemplativen Versenkung befanden und immer wieder ein Gebet aufsagten.16 Hierbei zeigten sich Aktivierungen im Präfrontalcortex, inferioren Paritellappen und inferioren Frontallappen. Das zeigt, dass diese sehr unterschiedlichen Formen von Meditation doch zu ähnlichen Aktivierungsmustern führen. Wie bereits erwähnt, lässt sich die Aktivierung des Präfrontalcortex vermutlich durch eine erhöhte Konzentration und Fokussierung auf die eigene Person erklären. Während der Meditation führt nun diese erhöhte präfrontale Aktivität zu einer verstärkten Aktivierung des Thalamus, der als eine Art Schranke wirkt und die Weiterleitung von Informationen vom sensorischen System zu höheren kortikalen Arealen kontrolliert. Dadurch bewirkt die starke Aktivierung dieser Hirnregion nun eine Abnahme des sensorischen Inputs in den posterioren superioren Parietallappen (PSPL), einem Hirnareal, das unter anderem dafür verantwortlich ist, die Lage des eigenen Körpers in Relation zur Umwelt festzustellen. Diese Tatsache kann nun dazu führen, dass die Probanden Schwierigkeiten haben, die Grenzen des eigenen Körpers zu bestimmen und teilweise die Fähigkeit zur Orientierung im Raum verlieren. Dieses Gefühl wird von einigen Personen als eine Art Verschmelzung mit der Umwelt erlebt, ein Effekt, der in ähnlicher Form auch bei anderen spirituellen Erlebnissen oder akuten Psychosen beobachtet werden kann.
5.
Neurochemie und Religion
Außer durch Meditation oder Gebete lassen sich religiöse oder spirituelle Erfahrungen auch durch die Einnahme verschiedener Drogen oder Medikamente hervorrufen. Hierbei besonders zu erwähnen sind die Substanzen LSD, Psilocybin und Meskalin. Psilocybin, der psychoaktive Wirkstoff verschiedener Pilzarten, und Meskalin, ein aus dem in Mittelamerika beheimateten Peyote Kaktus gewonnenes Alkaloid, sind schon seit Jahrhunderten ein fester Bestandteil vieler Süd- und Mittelamerikanischer Naturreligionen. Dabei werden die Substanzen meist von den Schamanen verwendet, um sich in Trance zu versetzen und so Kontakt zur Geisterwelt aufzunehmen oder andere visionäre Halluzinationen hervorzurufen. 15 Newberg/Alavi/Baime u. a., The measurement. 16 Newberg/Pourdehnad/Alavi u. a., Cerebral blood flow.
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Die subjektive Wirkung dieser drei Substanzen fällt von Konsument zu Konsument unterschiedlich aus und ist stark von der Umgebung und der inneren Einstellung abhängig. Zu den oft berichteten Effekten zählen dabei Veränderungen der Wahrnehmung sowohl der Umwelt als auch des eigenen Körpers, wie etwa Halluzinationen, ein Gefühl des Verschmelzens mit der Umgebung, eine Auflösung der eigenen Körpergrenzen oder des eigenen Selbst, mystische Erfahrungen, ein Gefühl von Erleuchtung oder auch religiöse Ekstase. Auf dem biochemischen Level wirken alle Substanzen auf das serotonerge System, da sie von ihrer chemischen Struktur mit dem Serotonin verwandt sind und so an den gleichen Rezeptoren wirken, dort aber eine antagonistische Wirkung entfalten. Einen weiteren Hinweis auf die Bedeutung des serotonergen Systems auf Religiosität liefert die Studie von Borg.17 Hierbei wurde untersucht, mit welchen Charaktereigenschaften die Dichte und Anzahl der Serotoninrezeptoren 5HT1a korreliert. Dazu wurde in einer PET Studie die Rezeptordichte in drei Hirnarealen, dem Hippocampus als Teil des limbischen Systems, dem Neocortex und den dorsalen Raphe Kernen gemessen. Diese Werte wurden anschließend mit den Ergebnissen des ›Temperament and Character Inventory self-report‹ Fragebogens korreliert. Mit diesem Fragebogen lassen sich Werte für die vier grundlegenden Dimensionen des Temperaments, novelty seeking (Neugier), harm avoidance (Vorsichtigkeit), reward dependence (Belohnungsabhängigkeit) und persistence (Beharrlichkeit), sowie die Charakterzüge self-directedness (Selbstlenkungsfähigkeit), cooperativness (Kooperativität) und self-transcendence (Selbst-Transzendenz) ermitteln. Im Ergebnis zeigte sich dabei, dass es nur für die Selbst-Transzendenz eine Korrelation gab. In allen drei der untersuchten Regionen fand sich eine starke negative Korrelation zwischen der 5HT1a Rezeptordichte und der Selbst-Transzendenz. Jede der grundlegenden Charakterzüge unterteilt sich dabei in weitere Subskalen, so besteht die SelbstTranszendenz aus drei Subskalen, wobei sich bei weiterer Analyse zeigte, dass die Korrelation nur auf eine der Subskalen zurückzuführen ist, und zwar die ›spiritual acceptance versus material rationalism‹ (Akzeptanz des Spirituellen gegenüber materiellem Rationalismus). Personen, die hier einen hohen Wert erreichen, neigen eher dazu, an übernatürliche Phänomene zu glauben, während Personen mit niedrigen Werten eher ein naturwissenschaftlich geprägtes, rationales Weltbild haben. Es zeigt sich hier also, dass, je geringer die Serotoninrezeptordichte bei einer Person ist, desto eher glaubt sie an übernatürliche, unerklärliche Phänomene, zu denen auch die Existenz eines Gottes zählt. Dieses Ergebnis steht somit auch in Einklang mit den spiritualitätsfördernden Wirkungen der oben genannten Drogen.
17 Borg/Andree/Soderstrom u. a., The serotonin system.
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Nahtoderfahrungen
Ein weiterer Bereich, der in allen Religionen eine wichtige Rolle spielt, ist der Tod oder die Angst vor diesem, sowie die Überlegung, was nach dem irdischen Dasein kommt. Somit ist es sicherlich interessant, sich von einem naturwissenschaftlichen Standpunkt mit den so genannten Nahtoderfahrungen (NTE) auseinanderzusetzen. Solche Erfahrungen können auftreten, wenn Menschen kurz vor ihrem Tod stehen, aber auch wenn sie nur fest davon überzeugt sind, dass dies der Fall ist. Personen, die solche Erfahrungen gemacht haben, berichten immer wieder über ähnliche Phänomene, so etwa das Gefühl den eigenen Körper zu verlassen und die Szenerie von außen zu beobachten, große innere Ruhe und Frieden, von Dunkelheit umgeben zu werden oder ein strahlendes Licht zu sehen oder einfach das Gefühl, eine andere Realität zu betreten. Bei religiösen Personen werden diese Erlebnisse oftmals als ein Loslösen von materiellem Körper und unsterblicher Seele, die sich auf ihrem Weg ins Jenseits befindet, gedeutet. Allerdings gibt es auch eine Reihe anderer Erklärungsansätze, wie etwa die Theorie, dass es sich hierbei um eine Art psychologischen Schutzmechanismus in Zeiten großer Gefahr handelt, oder dass es einfache organische Ursachen für die beschriebenen Phänomene gibt. Auch bei den Nahtoderfahrungen gibt es, wie bei anderen religiösen Erlebnissen, das Problem, dass es keine allgemein anerkannte Definition dafür gibt, was genau eine solche Erfahrung ausmacht und wie sie genau zu charakterisieren ist. So können verschiedene Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen bezüglich der Ursachen und Folgen von NTE kommen, abhängig von der zu Grunde gelegten Definition. Um diese Verwirrung etwas zu verringern, wurden verschiedene Skalen entwickelt, um anhand von standardisierten Kriterien festzulegen, ob ein bestimmtes Erlebnis als NTE eingestuft werden kann. Eine solche Skala wurde von K. Ring entwickelt und im Jahr 1980 vorgestellt. Bei diesem so genannten ›weighted core experience index‹ werden verschiedene Aspekte der NTE abgefragt und gewichtet addiert, so dass sich ein Wert von 0 bis 29 ergibt. Die dabei in die Analyse einbezogenen Aspekte sind: das subjektive Gefühl tot zu sein; ein Gefühl von Frieden; eine Loslösung vom eigenen Körper ; Wahrnehmung von Stimmen; das Gefühl der Anwesenheit eines anderen Wesens; ein Rückblick über das eigene Leben; Wahrnehmung eines Lichts oder schöner Farben; das Gefühl, ein Licht zu betreten; visuelle Wahrnehmung von Personen. Ein Kritikpunkt an dieser Skala war allerdings die Tatsache, dass schon wenige typische Komponenten einer NTE zu sehr hohen Werten führen können. Aus diesem Grund entwickelte Greyson einige Zeit später eine eigene Skala, die so genannte ›Greyson NDE scale‹ (Greyson near-death experience
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scale).18 Dieser Fragebogen besteht aus 16 Fragen, die in vier Gruppen eingeteilt werden können und so kognitive, affektive, paranormale und transzendentale Aspekte einer NTE erfassen. Der hierbei maximal zu erreichende Wert ist 32, wobei ab einem Wert von 7 oder höher von einer NTE gesprochen werden kann. Die Häufigkeit von NTE liegt bei etwa 9 – 18 % aller Personen, die dem Tode nahe waren.19 Im Laufe der Zeit zeigen sich aber deutliche Unterschiede zwischen Personen, die während ihres fast tödlichen Erlebnisses eine NTE hatten und denen, die eine solche Erfahrung nicht gemacht haben. Eine häufige Reaktion auf traumatische Erfahrungen, wie schwere Unfälle oder andere lebensbedrohliche Situationen, ist die so genannte posttraumatische Belastungsstörung (posttraumatic stress disorder, PTSD). Eine solche führt oftmals zu Alpträumen, Konzentrationsschwierigkeiten, Angstzuständen, Schlafstörungen, Flashbacks oder Depressionen. Bei Personen allerdings, die ein NTE hatten, treten solche Symptome nur sehr selten auf. Vielmehr zeigen sich im weiteren Verlauf eher positive Langzeitwirkungen, wie etwa eine verringerte Angst vor dem Tod und andere positive Effekte, sowie Veränderungen im Verhalten, wie etwa eine verstärkte Spiritualität oder eine weniger materialistische Einstellung.20 Hierbei ist es aber auch wichtig, wie das Umfeld der Betroffenen auf deren Erfahrung reagiert, und ob sie ernst genommen werden, da sich sonst oft die Angst einstellt, nicht ernst genommen zu werden und sich eine gewisse Frustration entwickelt, wenn die Patienten das Gefühl haben, dass sie nicht in der Lage sind, ihren Angehörigen die für sie enorme Wichtigkeit des Erlebten angemessen zu vermitteln. Ebenso kann es vorkommen, dass die Betroffenen Probleme haben, in ihr tägliches Leben zurückzufinden und eine normale Beziehung zu führen, nachdem sie das Gefühl der absoluten göttlichen Liebe erlebt haben. Es gibt eine Reihe von Theorien, die versuchen, die Ursachen von Nahtoderfahrungen zu erklären. Dabei ist eine Schwierigkeit, dass es nicht möglich ist, solche Erlebnisse unter kontrollierten Versuchsbedingungen hervorzurufen. Weil es somit also nicht möglich ist, die körperlichen Effekte direkt zu untersuchen, ist es hilfreich, um die körperliche Ursache zu bestimmen, Situationen mit physiologisch ähnlichen Parametern zu betrachten und zu überprüfen, ob sich hier auch vergleichbare Effekte zeigen. Eine häufige Bedingung bei kurz bevorstehendem Tod, etwa bei Herzstillstand, ist eine Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff. Dieser Zustand kann zu einer Reihe von Symptomen führen, die auch bei einem NTE auftreten können, wie etwa der Tunnelblick oder das Gefühl, aus dem eigenen Körper 18 Greyson, The near-death experience scale. 19 Ders., Biological aspects. 20 Ders./Stevenson, The phenomenology.
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herauszutreten. Außerdem kann die Unterversorgung mit Sauerstoff auch wieder die Entstehung von Temporallappen Epilepsien begünstigen. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass ein Sauerstoffmangel die einzige Ursache für NTE ist, da solche auch in Situationen berichtet werden, in denen nachweislich keine Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff vorlag. Als weitere mögliche Ursache für die Erlebnisse wird eine veränderte Ausschüttung von Neurotransmittern diskutiert. So wurde etwa vermutet, dass die in Stresssituationen erhöhte Endorphinkonzentration viele der beschriebenen Symptome erklären könnte, da dieser Neurotransmitter zu einem angenehmen emotionalen Gefühl führt und gleichzeitig die Schmerzwahrnehmung reduziert.21 Da Endorphin aber normalerweise keine Halluzinationen hervorruft, wurde als möglicher weiterer an dem Prozess beteiligter Neurotransmitter auch Glutamat diskutiert.22 So entwickelte Jansen eine Theorie, in der er davon ausgeht, dass als Schutz vor der neurotoxischen Wirkung eines durch Sauerstoffmangel erhöhten Glutamatlevels eine bisher nicht eindeutig identifizierte endogene Substanz ausgeschüttet wird, die am NMDA Rezeptor bindet, und so ähnliche Wirkungen hat wie Ketamin, ein ebenfalls an diesem Rezeptor wirkendes Anästhetikum, von dem bekannt ist, dass es starke Halluzinationen hervorruft.23 Die Tatsache, dass die Beschreibungen der NTE denen ähneln, die von etlichen Patienten mit TLE berichtet werden oder durch elektrische Stimulation des Temporallappens hervorgerufen werden können, legt die Vermutung nahe, dass auch hier diese Hirnregion an der Generierung der Erlebnisse beteiligt ist. So zeigten sich in einer Studie, in der die EEG-Muster von 23 Personen mit NTE mit denen einer Kontrollgruppe verglichen wurden, deutliche Unterschiede in dieser Region. Bei 21,7 % der untersuchten Probanden ließen sich epileptiforme EEGMuster nachweisen, wie sie sonst bei Patienten mit TLE zwischen den Anfällen zu finden sind, wohingegen nur 5 % der Kontrollpersonen diese Muster zeigten.24 Auffällig hierbei war die Tatsache, dass sich diese Effekte fast ausschließlich für den linken, aber kaum für den rechten Temporallappen zeigten. Zusätzlich zeigte sich bei den untersuchten Probanden ein verändertes Schlafmuster, mit einer Verringerung der Schlafdauer und einer Verschiebung des REM-Schlafs. Neben diesen EEG Befunden zeigten die Personen mit NTE auch vermehrt Verhaltensauffälligkeiten, die im Zusammenhang mit Dysfunktionen im Temporallappen stehen und oftmals in Zusammenhang mit einer TLE berichtet werden, wie etwa regelmäßige unerklärliche Erlebnisse, Schlafwandeln, olfaktorische Überempfindlichkeit oder Hypergraphie, den Zwang zu schreiben. 21 22 23 24
French, Near-death experiences. Jansen, Near death experience. Ders., Neuroscience. Britton/Bootzin, Near-death experiences.
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Bei dieser Studie muss allerdings beachtet werden, dass die Kontrollgruppe aus Personen bestand, die keine lebensbedrohlichen Situationen erlebt hatten, und nicht aus Personen, die eine solche zwar erlebt haben, dabei aber kein typisches NTE hatten. Somit ist nicht ganz auszuschließen, dass die berichteten Effekte allgemeine Traumafolgen sind, und nicht spezifisch für NTE. Die wahrscheinlichste Ursache für die Entstehung von NTE ist somit ein Zusammenspiel aller dieser Faktoren. So entwickelten Saavedra-Aguilar und Gomez-Jeria eine Theorie, die alle diese Effekte beinhaltet. Nach dieser Theorie verursacht der traumatische Stress eine vermehrte Ausschüttung von Neurotransmittern, wie etwa Endorphin, die für das allgemeine Wohlbefinden und eine Schmerzunterdrückung verantwortlich sind. Das Zusammenwirken dieser veränderten Neurotransmitterlevel mit der abgesenkten Sauerstoffsättigung des Blutes führt zu epilepsieartigen Zuständen im limbischen System, der Amygdala und dem Hippocampus, was für die visuellen Halluzinationen und den Lebensrückblick verantwortlich ist. Die übrigen beschriebenen Effekte, wie das oft beschriebene helle Licht, wären demnach die Folge einer Ausbreitung der epileptischen Welle über das limbische System in andere Hirnregionen.25
7.
Fazit
Insgesamt kann man also sagen, dass der Bereich der Neurotheologie zwar in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Wissenschaft geraten ist, allerdings noch lange nicht alle Fragen geklärt sind. Es zeigt sich auch, dass es bis jetzt noch eine Vielzahl konkurrierender Theorien gibt, von denen jede meist aber nur Teilaspekte des Beobachteten erklären kann, und die in der Zukunft noch genauer untersucht und verfeinert werden müssen. Allerdings sieht man bei genauerem Hinsehen auch, dass scheinbar so unterschiedliche Phänomene, wie etwa Aufenthalt in großer Höhe, Epilepsie, Meditation, Nahtoderfahrungen oder auch die Einnahme von Drogen doch mehr Gemeinsamkeiten aufweisen, als auf den ersten Blick zu erkennen. Alle diese Phänomene führen somit nicht nur zu vergleichbaren Effekten, sondern es zeigt sich auch immer wieder, dass sie ähnliche zu Grunde liegende Mechanismen haben: So werden oftmals ähnliche Hirnregionen aktiviert und es sind die gleichen Neurotransmittersysteme an dem Geschehen beteiligt. Besonders hervorzuheben ist hierbei der Temporallappen, der an eine entscheidende Rolle bei der Generierung mystischer Erfahrungen zu spielen scheint. Dieser wird dabei durch so unterschiedliche Mechanismen, wie etwa epileptische Anfälle, Sauerstoffmangel und Stress in großer Höhe oder die traumatischen Ereignisse im Rahmen eines Nahtoder25 Saavedra-Aguilar/Gûmez-Jeria, A neurobiological model.
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fahrung aktiviert. Parallelen zwischen den verschiedenen Bedingungen, unter denen Menschen von mystischen oder religiösen Erfahrungen berichten, zeigen sich ebenso auf neurochemischer Ebene, so werden sowohl durch die Einnahme bestimmter halluzinogener Drogen oder Medikamente als auch durch den Stress, ausgelöst durch lebensbedrohliche Situationen, das serotonerge und glutamaterge System beeinflusst. Somit zeigt sich wieder einmal, dass sich solch komplexe Phänomene wie Religion oder Spiritualität auch im Gehirn nicht eindeutig einer bestimmten Region oder einem bestimmten Neurotransmitter zuordnen lassen. Vielmehr liegt hier ein vielschichtiger Prozess vor, der das Ergebnis eines komplizierten Zusammenspiels mehrerer Hirnareale und Neurotransmittersysteme ist und bis heute noch nicht vollständig verstanden ist.
Literatur Arzy, S./Idel, M./Landis, T./Blanke, O., Why revelations have occurred on mountains? Linking mystical experiences and cognitive neuroscience, Med Hypotheses, 65 (5), 2005, 841 – 845. Azari, N. P./Nickel, J./Wunderlich, G./Niedeggen, M./Hefter, H./Tellmann, L./ Herzog, H./Stoerig, P./Birnbacher, D./Seitz, R. J., Neural correlates of religious experience, Eur J Neurosci, 13 (8), 2001, 1649 – 1652. Bear, D. M./Fedio, P., Quantitative analysis of interictal behavior in temporal lobe epilepsy, Arch Neurol, 34 (8), 1977, 454 – 467. Bear, D. M., Temporal lobe epilepsy – a syndrome of sensory-limbic hyperconnection, Cortex, 15 (3), 1979, 357 – 384. Borg, J./Andree, B./Soderstrom, H./Farde, L., The serotonin system and spiritual experiences, Am J Psychiatry, 160 (11), 2003, 1965 – 1969. Britton, W. B./Bootzin, R. R., Near-death experiences and the temporal lobe, Psychol Sci, 15 (4), 2004, 254 – 258. French, C. C., Near-death experiences in cardiac arrest survivors, Prog Brain Res, 150, 2005, 351 – 367. Gallagher, H. L./Frith, C. D., Functional imaging of ›theory of mind‹, Trends Cogn Sci, 7 (2), 2003, 77 – 83. Greyson, B., Biological aspects of near-death experiences, Perspect Biol Med, 42 (1), 1998, 14 – 32. Ders., The near-death experience scale. Construction, reliability, and validity, J Nerv Ment Dis, 171 (6), 1983, 369 – 375. Ders./Stevenson, I., The phenomenology of near-death experiences, Am J Psychiatry, 137 (10), 1980, 1193 – 1196. Jansen, K., Near death experience and the NMDA receptor, Bmj, 298 (6689), 1989, 1708. Ders., Neuroscience and the near-death experience: roles for the NMSA-PCP receptor, the sigma receptor and the endopsychosins, Med Hypotheses, 31 (1), 1990, 25 – 29. Moll, J./Oliveira-Souza, R. de/Moll, F. T./Ignacio, F. A./Bramati, I. E./Caparelli-
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Georg Northoff
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II. Phänomenologische Zugänge in Kultur und Gesellschaft
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Frank Thomas Brinkmann
I will always have my feelings. Zur Inszenierung von Gefühlen in (musikalischen) Popkulturen
1.
(…)
Sometimes I feel so… Wie jemand sich fühlt, warum das so ist, wer daran Anteil hat – das findet sich wohl in jedem Medium der populären Gegenwartskultur thematisiert, interpretiert und strapaziert. In den Standardmotiv-Katalogen des konventionellen Mainstream und den traditionellen Materialpools spätmoderner Unterhaltungsindustrie werden das Gefühl und die Gefühle einerseits eigentümlich pauschal, quasi plakativ basiskategorial aufgegriffen, aber andererseits auch durchaus vielfältig codiert und inszeniert. Auf die Spannung, die hinter dieser binnenmedialen Differenzierungsresistenz schillert, scheint derzeit kaum ein popkultureller Diskurs zu reagieren: Womöglich hängt es damit zusammen, dass keineswegs geklärt ist, was man überhaupt unter (einer) Emotion oder (einem) Gefühl zu verstehen hat, zumal sich entsprechende Klärungsversuche u. a. an neurobiologischen, psychologischen, philosophischen (usw.) Argumenten abzuarbeiten bzw. in lebens- und geisteswissenschaftlichen Debatten zu bewähren hätten. Die begrenzte Konsensfähigkeit verschiedener Modelle zeigt sich angesichts erster Kategorisierungsvorschläge zu Emotions, Feelings, Sentiments und Moods, aber auch in den Bearbeitungsansätzen der Frage, ob sich Gefühle wirklich im Seelengrund verorten lassen, bis ihr Ausbruch ausgelöst wird durch innige Augenblicke, brutale Provokationen oder intime (Beziehungs-)Szenarien – oder ob sie sich einfach nur auf der oberflächigen Plattform humaner Kommunikationsrepertoires befinden, als soziale Konstruktion oder semantisch-symbolisch übersättigte Phrase. Auch für die Theologie ist das eine interessante Denksportaufgabe. Schließlich macht sie sich schon seit längerem »Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum«1, sei es, um die Wahrheit der (offenbarten) Religion mit der Erlebniswelt des Menschen abzugleichen, sei es, um Religion und Theologie generell über das Erlebnis (mit dem Erhabenen) oder das Gefühl (einer 1 Spalding, Gedanken; vgl. Brinkmann, Glaubhafte Wahrheit.
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schlechthinnigen Abhängigkeit) einzuholen. Doch die Schikane nimmt zu; immerhin haben sich die entsprechenden Bestimmungsversuche zunehmend auf jene alltagsästhetisch entvertikalisierten2 soziokulturellen Räume einzustellen, die mit den konstruierten Differenzen von Hoch- und Trivialkultur bzw. Kunst und Kitsch nicht mehr viel gemein haben: Am Ende darf man das Bekenntnis zu den Schönheiten des Kitsch gar deuten als Absicht, legal zu genießen, was die radikale Spätmoderne verweigern will.3 Damit aber könnte das Verlangen nach Gegenständlichkeit und Gefälligkeit ebenso legitim werden wie die Sehnsucht nach sentimentalen Stimmungen und sinnlichen Momenten, und Religiosität dürfte sich »rechtmäßig« brechen in einer Sinnwelt, die aus rührenden Sonnenuntergängen, kleinen Prinzen4 und Endreimen besteht. Werden dort Gefühle inszeniert, produziert, evoziert, konstruiert? Konsensfähig ist sicherlich die Feststellung, dass man Menschen mit Gedichten und Geschichten, Liedern, Klängen und Melodien, Bildern, Sequenzen und Filmen so zum Fühlen verlocken und verleiten kann, bis sie sich selbst als einfühlsam, sinnlich oder sentimental begreifen wollen und ihre Gefühle wiederum zu entäußern suchen. Sind Gefühle bzw. Gefühlsausbrüche durch Prozesse steuerbar? Wie verhält es sich mit der (Bedingung der) Möglichkeit von Gefühlsstimulation, womöglich noch in einer Wechselbeziehung zu externen unmittelbaren Gefühlsäußerungen und mittelbaren Gefühlsinszenierungen? Könnte z. B. ein Akteur den Ausdruck seiner Gemütsbewegung(en) inhaltlich so prononcieren und gestalterisch so konstruieren, dass diese Gefühlsartikulation auch den Gehalt jener Emotion bestimmt – und deren Performance dann gefühlsevozierend wirkt? Wäre dann die These zulässig, dass ähnliches auch da geschieht, wo der Akteur gar nicht seine Gefühle artikuliert, sondern schlicht jenes Setting zu konstruieren und zu beherrschen weiß, das einen Ausbruch von Gefühlen bewirkt? Wer einmal – und damit auch zu dem Feld der folgenden Betrachtungen – in einer Band gespielt hat, kennt beides aus eigener Praxis: Natürlich ist es Songwritern und Komponisten möglich, quasi ohne emotionalen Eigenanteil ein Stück zuwege zu bringen, das effektiv die Herzen (und Menschen) berührt; da braucht es nur wenig Grundkenntnis, was Reizworte und Schlüsselthemen, aber eben auch Stimmführungen und melodische Anordnungen anbelangt. Im Prinzip reicht es aus, sich auf die popkulturelle Grundregel von den Stimmungspolen der abendländischen Musik zu verlassen, dass man den Tongeschlechtern Dur und Moll nicht nur harte und weiche Gemütslagen zuordnen,
2 Vgl. Schulze, Erlebnisgesellschaft, 167. 3 Vgl. Liessmann, Kitsch, 73 f. 4 Vgl. Brinkmann, Kleiner Prinz.
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sondern diese geradezu schaffen könne.5 Es funktioniert6 – und lässt doch kritische Stimmen laut werden, die sich gegen die Blutarmut dieses zweckdienlichen, technisch perfekten (Kunst-)Handwerks verwehren und den Mangel an »feeling« und »soul« beklagen müssen.7 Ein Vollblutmusiker spielt für sich aus dem Bauch heraus: voller Sehnsucht, sich mit seinem (gefühlvollen) Auditorium auf einer emotionalen Ebene zu treffen.
2.
Someone is …
(Sometimes I feel so) uninspired! Die Rockband Traffic hat (1968) eindrücklich gezeigt, dass dort, wo Komposition und Improvisation ineinandergreifen, wo Textdichtung und Stimmführung zu (gefühls-)intensiver Symbiose verschmelzen, ergriffene Künstler um einen Ausdruck dessen ringen wollen, was sie stets bewegt mit Leib und Seele: Sometimes I feel so uninspired / Sometimes I feel like giving up Sometimes I feel so very tired / Sometimes I feel like I’ve had enough Sometimes you feel like you’ve been hired / Sometimes you feel like you’ve been bought (…) But don’t let it get you down, no, no / There is no reason for not failing (…) So today you might beat up / But by tomorrow you’ll be sailing (…) Some people want to be so desired / Some people can’t stand the light of day Somebody’s laughing while someone is crying / Oh, for to want in the close of the day…8
Geschickt wird hier ein desperates Grundgefühl poetisch-melodisch ausgeleuchtet und variiert, zwischen Akteuren und Rezipienten hin und hergeworfen. Der Song beginnt mit einer beinah autobiographischen Confessio des Ich, wechselt über zu einer generalisierenden Feststellung, bei der das you als anonyme Chiffre verwendet wird, spricht in der dritten Sequenz mit appellativem You direkt das Gegenüber an – und lässt am Ende schmerzhaft offen, was auf einer unendlich scheinenden Lichtung freiheitlicher Selbstverortungsoptionen ausgetragen werden muss: zu welchem someone sich das Ich im Modus der (partiellen und momentanen) Identifikation hingezogen fühlt. Doch der 5 Vgl. Cook, Tone of Voice; Ders., Harmony ; Trainor/Trehub, Key membership. 6 Vgl. Schellenberg/Scheve, Emotional Cues. 7 Musikgeschichtlich greifbar ist diese Kontroverse in der Auseinandersetzung zwischen Johannes Brahms und Gustav Mahler, wo absolute Musik bzw. formale Ästhetik und Inspirations- sowie Ausdrucksästhetik aufeinander prallten; vgl. Brinkmann, Meine Musik, 181 f. 8 Auszüge aus dem Text, der bei einer Liveaufnahme 1973 gesungen wurde: (Sometimes I feel so) uninspired (Winwood/Capaldi), Traffic: On the Road, 1973.
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Schmerz wird musikalisch getragen; während der Rezipient auf das Fragmentarische seiner selbstvertrauten und -bewussten Identitätsbestimmung geworfen wird, darf er sich von Wellen orgiastischer Klangvariationen emporgehoben wissen: Die Band verlässt ihre harmonischen Grundschemata zu Gunsten einer emotionsgeladenen, impulsiv-explosiven Jamsession – und bringt jemanden zum Fühlen, so er denn einfühlsam ist und jener Verständigung stattgibt, die in einem Strudel heftigster Gefühle enden könnte.
3.
U make …
Anders verhält es sich nun, wenn der aktive Interpret gar nicht ein Charakter ist, der (a) etwas von sich selbst und aus sich heraus (er)fühlt, um es (b) dann in aller Offenheit zu teilen bzw. mitzuteilen9, sondern jemand, der sich an ein konkretes (fiktives?) Pendant wendet, um die besonderen Gefühle zu bezeugen, die nur dieses You zu entfachen vermocht hat: You make me feel – programmatisch macht diese Formel anschaulich, dass (bloß) ganz bestimmte Wesen das Zeug dazu haben, den Akteur emotional zu erregen. Das Schema von einem speziellen Oppositum, das auf einzigartige Weise Gefühle hervorrufen kann, gehört zu den Grundschablonen der Popkultur! You make me feel so young (1946 von Josef Myrow / Mack Gordon) wird u. a. von Frank Sinatra, Perry Como und Paul Anka interpretiert; You make me feel (like a natural woman) erklären z. B. Aretha Franklin (1967), Rod Stewart (1974), Bonnie Tyler (1978), Whitney Houston (1993) und Celine Dion (1995). You make me feel brand new betonen The Stylistics (1974), und Leo Sayer erkennt (1976) You make me feel like dancing! Sylvester James (1978), Jimmy Somersville (1989/90) und Byron Stingily (1998) sind sich einig: You make me feel mighty real, und während Bonfire (2008) herausstellt: You make me feel (like never again), gehen Cobra Starship feat. Sabi (2011) fast die Worte aus: You make me feel (so La La La La La).
Werden Gefühle evoziert, wenn man sie medial beschwört, unter Inanspruchnahme der kontrollierbaren Wirkmacht des Mediums inszeniert und so performiert, als würden die besonderen Gegenstücke »angesungen«? Funktioniert es nach der Logik einer Identifikation der Rezipierenden, die Titelsinn und Textgehalt eben für sich in Anspruch nehmen? Das ist im Blick auf den Wortteil des Medienverbundes plausibel, belichtet jedoch noch nicht dessen andere Hälfte, sprich: die Valenz des Klangteppichs, der natürlich (mit) rezipiert wird – und definitiv nicht nur als schwaches Trägermedium des Worttextes fungiert. Hier wäre genau zu beachten, wie wohlarrangierte Tonfolgen und Tonreihen als 9 Als zwei weitere exemplarische Titel können James Browns I feel good (1975) sowie Feel von Robbie Williams (2002) nachgereicht werden.
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subtil schillernde Affektinitiale zum Einsatz kommen, während die harmonische und melodische Gesamtarchitektur eher einen kontinuierlichen Beitrag bei der emotionalen Provokation der Rezipierenden leistet. Und welche Rolle spielt auf diesem Sektor die emotionale Eigenleistung eines Interpreten, der sich offensichtlich hinter die Perfektion des Arrangements zu stellen hat und bestenfalls bei Liveauftritten, etwa über Improvisation, situativ bedingte Modulation und Koketterie bemerkbar wird? Nun, vielleicht ist sie deswegen nur randständig intendiert und selten von Nöten, weil die WortKlang-Komposition bereits in ihrer technischen Inszenierung hinreichend emotionsproduktiv wirkt (und es eben nur die Kontur eines attraktiven Interpreten bzw. die Aura einer hübschen Interpretin braucht, um bestimmte Zielgruppen noch besser bedienen zu können)10 ! In Ergänzung der ersten Notiz von der Unterscheidbarkeit des emotionsvirtuosen Bauchkünstlers und des theorietechnisch versierten Emotionsproduzenten könnte sich nun das Modell vom beseelten Kunstwerk (authentische Performance, wahre Emotionen) dem Typus des perfektionierten Handwerks (technisch virtuose Performance, inszenierte Emotionen) entgegen stellen lassen. Dabei müssten die registrierten »You make me feel«-Titel als Anschauungsmaterial für die Strategie dienen, mittels geeigneter Verfahrenstechniken, unter Zuhilfenahme etablierter melodischer Codierungsmuster und mit Rückgriff auf gefühlsgesättigte Phrasen, Sinnbilder und Denkfiguren Produkte zu konfigurieren, die als gefällig, sinnlich und gefühlsintensiv wahrgenommen werden und als Katalysator »großer Gefühle« zur Wirkung kommen. Zumindest ist dies kompatibel mit den Befindungskundgebungen der Rezipierenden, die zu Protokoll geben, dass sie der Stoff traurig, nachdenklich oder fröhlich macht, weil er schließlich auch per se traurig, nachdenklich oder fröhlich (genug) (gemacht) ist.
4.
Sento …
Zu einem der seltsameren popkulturellen Zwischenfälle mit Langzeitwirkung kam es diesbezüglich, als 1967 der zwölfjährige Hendrik Nikolaas Theodoor Simons die Showbühne betrat und unter dem Namen Heintje Mütterherzen höher schlagen ließ. Mit inbrünstigem Gesang beschwor der kleine Holländerjunge seine Mama, der Natur ihren Lauf zu lassen und dem alternden, aber ewig dankbaren Söhnchen (vorübergehend) die Freiheit zu schenken: 10 Die sogenannten Castingshows liefern hier das beste Anschauungsmaterial und die stärksten Beweise.
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[Refrain:] Mama! Du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen! Mama, einst wird das Schicksal wieder uns vereinen! Ich wird es nie vergessen / was ich an dir hab’ besessen; dass es auf Erden nur Eine gibt, / die mich so heiß hat geliebt! Mama, und bringt das Leben mir auch Kummer und Schmerz: Dann denk ich nur an dich, / es betet ja für mich, oh Mama, dein Herz! [Strophe:] Tage der Jugend vergehen. / Schnell wird der Jüngling ein Mann. Träume der Jugend verwehen. / Dann fängt das Leben erst an. Mama, ich will keine Träne sehen / wenn ich von dir dann muss gehen! [Refrain] (…) Mama! Mama!
Wer die These entwickeln mag, dass hier mit einer gewissen Verzögerung eine bestimmte deutsche Mutterideologie fröhliche Urstände feiert, könnte gute Argumente auf seiner Seite häufen. Gleichwohl ist der Clou zunächst ein anderer, denn Heintjes Hit Mama war ursprünglich ein italienischer Schlager aus den ganz frühen 1940er Jahren mit dem Titel Mamma gewesen. Der italienische Komponist Cesare Andrea Bixio hatte ihn mit Unterstützung von Bruno Cherubini für den Tenor Benjamino Gigli arrangiert und in die Tradition der Canzoni napoletane gestellt11, jener musica della strada, in der die Treue zu Stadt und Provinz Neapel, zu Klima und Meer, zur Liebe – und eben zur Mutter im Mittelpunkt steht. Im Ergebnis war Mamma, son tanto felice ein Konstrukt, das sich an harmonischen und melodischen Regelwerken des neapolitanischen Volksliedes orientierte und seine Sinnlinie entlang standardisierter Floskeln und typischer Motive neapolitanischer Sentimentalität sortierte. Geschickt wurde die Alltagspoesie des kampanischen Straßengesangs ausgeschöpft, das Klischee spezieller süditalienischer Mentalität aufgenommen und auf die weiche Stimmführung und Sprachmelodie eines Nnapulitano-Dialekts12 gelegt: [Strophe:] Sento la mano tua stanca: / cerca i miei riccioli d’or, sento, e la voce ti manca / la ninna nanna d’allor ; oggi la testa tua bianca / io voglio stringere al cuor. [Refrain:] Mamma, solo per te la mia canzone vola, Sarai con me, tu non sarai pi¾ sola. (…) 11 Zu den bekanntesten Titeln gehören Torna a Surriento (um 1902), O sole mio (um 1898), funicul funicul (um 1880), Santa Lucia (um 1849) und jenes O cara mia mamma (vor 1816), das über Umwege den Weg zu Paganini und Chopin, auf venezianische Gondeln – und schließlich in das bewegte Singspiel Mein Hut, der hat drei Ecken gefunden hat. 12 Gennaro Caravante wurde gut zugehört!
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Welche Emotionen hier nun inszeniert bzw. expressiv vorgetragen werden sollten, wird sich über eine deutsche Übersetzung des Originaltextes nur begrenzt erschließen: »Ich fühle immer noch deine müden Hände auf meinem Lockenkopf, habe stets deine Schlaflieder im Ohr ; heute möchte ich dir über dein ergrautes Haar streichen. Mamma, mein Lied fliegt zu dir, du bist bei mir, bist nicht allein.« »Heintjes« Neuinterpretation hingegen war ein anderes Kaliber. Man hatte die harmonischen sowie melodischen Muster beibehalten, die Strophen in Moll, den Refrain kontrastierend in Dur belassen – aber deren Abfolge vertauscht, sodass sich die Spannungsverhältnisse änderten: Mama begann nicht mehr mit der feinsinnig-sentimentalen Strophe in Moll, sondern mit dem dramatisch-euphorischen Refrain in Dur ; im Gegensatz zu der ursprünglichen Gliederungsschablone S-R / S-R wurde dem Schema R-S-R der Vorzug gegeben, raffiniert ergänzt um die kurze finale Sequenz auf einer gesättigten Schlussakkordfolge. Genau diese Codierung entsprach nun ganz der Dramaturgie des Worttextes, der völlig überfrachtet war mit schwülstiger Metaphorik. Anders als in der italienischen Ode an die Mamma, die aus der seligen Kindheitserinnerung zehrte, wurde nun ein Vokabular aufgetragen, das zwischen Religion, Erotik und Ödipuskomplex schillerte, weil es das Mutter-Sohn-Verhältnis mit Sinnfiguren wie Schicksal und Vereinigung, Besitz und Besessenheit, heißer Liebe und Herzbeten sättigte. Wurde hier etwa noch unterschwellig das traditionelle Bild einer Mutter serviert, die ihren Jungen loslassen muss, weil er in den Krieg zieht (und sie von seinem Rückkehrversprechen lebt), oder galt es schon der (geschiedenen) Alleinerziehenden, die letztlich eine merkwürdige Beziehung zu ihrem Sohn einpflegt (und der die männliche Rolle ganz anders zu besetzen hat)? Ließ Mama womöglich auch beide Deutungen zu – und bediente damit in den späten 1960er Jahren zwei bis drei Generationen? Eines steht fest: Mama besetzte die Position des Akteurs nicht mehr mit dem unter liebevoller Zuwendung erwachsen gewordenen, nur subtil maskulin bestimmten Glückskind, sondern mit dem »Jungen«, der schon die eigentümlich reife Lebenseinsicht – Aussicht auf Kummer und Schmerz – vorträgt und große Versprechungen abgibt; dafür wird die in Würde ergraute Mamma eingetauscht gegen jenes merkwürdig undefinierte Wesen, das weint, sehnt, liebt und betet. Diese kitschig-banale Ikone der (heiligen) Mama zeigt eine spätmoderne Variation der tragischen Gottesmutter, und sie ist zugleich ein Manifest des bürgerlichen Klischees von Glaube – Liebe – Hoffnung. Ob Heintje davon eine Ahnung hatte, als man ihn 1966 nach einem gewonnenen Talentwettbewerb in Schaesberg/NL rekrutierte und unter Vertrag nahm? War er sich dessen bewusst gewesen, dass der Titel, der ihm für ein deutsches Publikum auf den Leib geschneidert werden sollte, kaum inhaltliche Parallelen zu der naiven Kinderversion von Mama aufweisen würde, mit der er gerade seine
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ersten Erfolge gefeiert hatte? Tatsächlich ging es nämlich in jener Zwischenversion einzig um ein kleines, liebes holländisches Bübchen, für den seine Mutti Allerliebste und Vorbild ist – und die er später als gealtertes, einsames Mütterchen in sein Haus holen wird: [Refrain:] Mama, je bent de liefste van de hele wereld, / Mama, de allerliefste van de hele wereld! Later, wanneer ik ga trouwen / zal ik een huisje gaan bouwen, Als je dan soms alleen zult zijn / kom dan bij mij in mijn huis! Mama, de liefste van de hele wereld ben jij, Oh, lieve mama, je bent en blijft altijd een voorbeeld voor mij! [Strophe:] Mama, je leerde me lopen, / op eigen benen te staan. Straks gaat de deur voor mij open, / om door het leven te gaan. Maak je geen zorgen voor morgen / Mama, toe droog toch die traan! (…)
Die Authentizität ist spürbar – und eben auch die Nähe zum italienischen Original. Hatte sich dort die Lebenserinnerung des erwachsenen Sohnes als Urstoff neapolitanischer Sentimentalität artikuliert, so ging nun die Perspektive des Kindes mit der niederländischen Fürsorgementalität eine gute Symbiose ein. Die deutsche Version war nicht authentisch, aber perfekt inszeniert: Heintje selbst war die Konstruktion, bestand aus Stimme und Gesang, Gesicht, Körper, Haut und Haar – und doch niemals derjenige, der persönlich für seine Performance hätte einstehen können. Interpretiert hat er nie, nur vorgetragen, selbst wenn ihn die deutschen Mütter als Interpreten und echten Wunschsohn in ihren Köpfen zur Vollständigkeit und Vollkommenheit brachten. Genau in dem Maße, da sie die Möglichkeitsform ihres eigenen Lebens mit der besungenen (Gottes-) Mutter assoziierten und der inszenierten, gleichwohl gesichtslosen Mama ihr je eigenes Gesicht gaben, adoptierten sie den niederländischen Knaben als Model. Die ahnungslose Kunstfigur Heintje befand sich im Schwebezustand; einerseits avancierte sie zum unschuldigen Prophetein des o.g. bürgerlichen Klischees von opferbereiter, tränengesättigter Mutterliebe, anderseits blieb sie am Ende nur biederdeutsches Medium einer gefühlsproduktiven Sinnindustrie.13
13 Insgesamt wurden von dem Kinderstar (v. a. protegiert durch den Musiker und Produzenten Addy Kleijngeld) über 40 Millionen Platten verkauft; der maßgebliche Anteil davon in Deutschland. Dass der Trend von Mama beibehalten wurde, lässt sich an Stücken wie Mamatschi (schenke mir ein Pferdchen), Oma so lieb, Deine Tränen sind auch meine, Deine Liebe, deine Treue (usw.) ablesen. Stimmbruch bzw. Stimmwechsel brachte die große Karriere des Holländers, der zunächst mit weiteren Titeln sensationelle Erfolge hatte erzielen können, zum Erliegen; Versuche eines Comebacks auf große Bühnen scheitern seit 1973 regelmäßig.
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Pour toi…
Doch damit zu einem letzten Beispiel, das gleichwohl an alle bisherigen anknüpfen kann. Um inszenierte, konstruierte, karikierte Gefühle geht es dabei, um geliehene, gestohlene und verfremdete Lieder, um ehrliche und verlogene Texte, um situativ stimulierte oder anarchisch (un)motivierte Melodien und Harmonien: 1974 veröffentlichte der brasilianische Künstler und Songwriter Morris Albert (Mauricio Alberto Kaisermann) seine Feelings – und legte damit ein Opus vor, dem eine bemerkenswerte Karriere bevorstehen sollte. Feelings hält sich 1974 sechs Monate in den brasilianischen Charts, wird zum Top-Hit in weiteren süd- und mittelamerikanischen Staaten, bald auch in Südafrika und Europa; 1975 belegt der Titel amerikanische, kanadische, japanische und australische Spitzenplätze. 1976 wird Feelings für den Grammy nominiert. 1977 ist der Titel in 52 Ländern platziert; die American Society of Composers, Authors and Publishers (ASCAP) bestätigt Feelings als most recorded song in music’s history und als rechtmäßigen Nachfolger von White Christmas.
Der Titel des Liedes war Programm; es ging darum, dass jemand – offenbar der Interpret – lyrisch, poetisch, melodisch seinen gegenwärtigen Gefühlszuständen nachsinnt, äußerst intensiv. Gefühle, nichts anderes als nur Gefühle, meditiert er da; man erfährt, wie er versucht, seine Gefühle der Liebe zu vergessen, wird Zeuge jenes intimen Augenblicks, da Tränen am Gesicht entlang kullern, und erlebt mit, wie einer leidet, der Gefühle der Liebe zu vergessen sucht, obwohl er sich für den Rest des Lebens dieser Gefühle nicht entledigen kann. Auch der Hintergrund dieser emotionalen Turbulenzen wird ausgeleuchtet: Eine Frau, Urgrund der persönlichen Tragödie, bekommt die gesamte Wucht der Gefühle vorgetragen bzw. als Litanei redundant aufgetischt: Ich wünschte, ich hätte dich niemals getroffen, Mädchen, du wirst nie wiederkommen, Gefühle, (…) dich wieder in meinem Arm zu fühlen, (…) als wenn ich dich nie verloren hätte, (…) als wenn ich dich nie wieder in meinem Herzen hätte (…). Feelings, / nothing more than feelings, / trying to forget my / feelings of love. Teardrops / rolling down on my face, / trying to forget my / feelings of love. Feelings, / for all my life I’ll feel it. / I wish I’ve never met you, girl; you’ll never come again. Feelings, wo-o-o feelings, / wo-o-o, feel you again in my arms. Feelings, / feelings like I’ve never lost you / and feelings like I’ve never have you / again in my heart. Feelings, / for all my life I’ll feel it. / I wish I’ve never met you, girl; you’ll never come again.
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Feelings, / feelings like I’ve never lost you / and feelings like I’ve never have you / again in my life. (…)
War mit Feelings eine Lebensdramaturgie so überzeugend und wirkmächtig aufgeworfen, ein Grundgefühl so treffsicher artikuliert und musikalisch codiert worden, dass man sich dem nur anschließen konnte? Zumindest drängt sich diese Mutmaßung auf, wenn man fokussiert, wie vielen Künstlern es Herzensanliegen war, diesen Song in ihr Repertoire aufzunehmen: Selbst die renommiertesten Akteure in Showzirkus und –business, große Artisten wie Frank Sinatra, Engelbert, Tom Jones und Elvis Presley haben sich bei ihren Coverversionen sehr nah an der Fassung von Morris Albert (bzw. an dessen Textvorschlägen und an seinem musikalischen Gesamtarrangement) orientiert. Dennoch erschließt sich in dieser Faktenlage keineswegs die ganze Wahrheit. Wer sich der Werksgeschichte von Feelings nähert, entdeckt sowohl bei der Entstehung als auch der weiteren Entwicklung eigentümliche Störfeuer : (1) 1998 nahm die US-amerikanische Punkrockband The Offspring für ihr fünftes Studioalbum Americana eine Version von Feelings auf, bei der zwei Besonderheiten zutage traten: a) Obwohl die Begleitharmonien anders gesetzt und das Tempo extrem gesteigert worden war, behielt der Gesang die konventionelle Melodielinie (der Vorlage) bei: An seinen (nunmehr eher gebrüllten) »Wow-wow-wow-feelings« beteiligte sich in der Regel bei Liveauftritten auch das Publikum lautstark und emotional. b) The Offspring hatte den Text verändert – und ihren Feelings einen ganz anderen Charakter gegeben: Morris Albert hatte seiner verlorenen Liebe noch bittere Tränen nachweinen wollen, nun aber wurde der Verflossenen mitgeteilt, dass sich der Alleingelassene gern vorstellen möchte, sie zu verprügeln; schließlich müsse er ja auch immerzu voller Hass an sie denken: Feelings, / nothing more than feelings, / trying to forget my / feelings of hate! Imagine / beating on your face / trying to forget my / feelings of hate! Feelings, / for all my life I’ll feel it / I wish I’d never met you / You’ll make me sick again! Feelings, / wow-wow-wow! Feelings, / wow-wow-wow! Feelings, / hate on my mind! Feelings! / like I never liked you / like I want to kill you / live in my heart! (…) Get out of my life!
(2) Intensiver vielleicht als die genannten Herren Sinatra, Jones etc. haben sich einige Künstlerinnen an eigenständigen Interpretationen von Feelings versucht – und sind durchaus mit recht persönlichen Variationen in Erscheinung getreten; zu nennen sind v. a. die großen Damen des Jazz, wie Ella Fitzgerald,
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Sarah Lois Vaughan, mit gewissen Einschränkungen auch Shirley Bassey, schließlich Nina Simone. Letztgenannte war es, die mit einer ganz besonders eigenwilligen Aufführung von Feelings Aufmerksamkeit erregt hat: 1976 spielt sie bei dem Montreux Jazz Festival, tritt auf mit einem guten Repertoire14, das ihre Vielseitigkeit und Virtuosität gut in Szene zu setzen vermag. Mit dem Song Stars (ursprünglich von Janis Ian, u. a. auch gecovert von Joan Baez, Roberta Flack, Barbara Cook, Mel Torme und Cher) beginnt jedoch eine ganz persönliche Stellungnahme: »I think the only way to tell you who I am these day(s) is … is to sing a song by Janis Ian«15, erklärt sie, schlägt einige Töne auf dem Piano an, hält inne – und verwickelt das Auditorium in eine merkwürdige Unterhaltung, worin sie u. a. preisgibt, eine sehr schöne Kette als Geschenk bekommen zu haben und mit David Bowie in Freundschaft verbunden zu sein. Erst Minuten später nimmt sie den Text auf: Stars, they come and go / They come fast or slow / They go like the last light of the sun, all in a blaze. / And all you see is glory / Hey, but it gets lonely there, / when there’s no one here to share / We can shake it away, if you’ll hear a story (…) Some of us are downed. / Some of us are crowned / and some are lost and never found. (…) / They always have a story (…) Some make it when they’re old. / Perhaps they have a soul they’re not afraid to bare / or perhaps there’s nothing there (…) / I meant to tell a story (…) I live from day to day (…) / We always have a story (…)16
Kurz darauf unterbricht sie erneut. Es ist still. Leise beginnt sie wieder zu singen: »Feelings. Nothing more than feelings.«17 Sie versucht es ein weiteres Mal, stockt wieder : »God damn« flucht sie, versucht sich zu artikulieren: »You know what, what a shame to have to write a song like that … Feelin(gs) … I’m not making fun of the man.«18 Nein, sie will sich wahrhaftig keinen Spaß mit dem Mann erlauben, aber hält es doch für beschämend, dass er es nötig hatte, so ein Lied zu fabrizieren. Entsprechend gibt sie Auskunft: »I do not believe the conditions that produced a situation that demanded a song like that!« Sehr ernst ist es ihr mit den besonderen Umständen jener Situation, die (angeblich) zu diesem Lied geführt, ja: es geradezu erforderlich gemacht haben. Gab es sie überhaupt? Und macht es Sinn für die Interpretin, von Gefühlen zu singen, ohne selbst die (Story dieser) Gefühle zu kennen? Außerdem, Nina Simone traute ihrem Auditorium 14 U.a. Little Girl Blue; Backlash Blues; Be My Husband; I Wish I Knew (How It Would Feel to be Free); Stars / Feelings; African Mailman. Vgl. Nina Simon: Live at Montreux 1976 (DVD 2006). 15 Verf. hat den von Nina Simone gesprochenen und gesungenen Text transkribiert. 16 Vgl. FN 16. 17 Vgl. FN 16. 18 Vgl. FN 16.
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Frank Thomas Brinkmann
nicht zu, sich auf die Gefühle einzulassen, die sie eventuell preisgeben könnte. Denn diesem Publikum konnte man bestenfalls unterstellen, ambitioniert und interessiert zu sein: (Y)esterday I went to see Janis Joplin’s film here. And what distressed me the most, and I started to write a song about it, but I decided you weren’t worthy. Because I figured that most of you are here for the festival. Anyway the point is it pained me to see how hard she worked. Because she got hooked into a thing, and it wasn’t on drugs. She got hooked into a feeling and she played to corpses.19
Hatte Nina Simone dieses hooked on a feeling wirklich nur auf Janis Joplin münzen wollen – oder sprach sie auch von sich selbst? Nun, zumindest zum Applaus auffordern konnte sie die Corpses in ihrem Auditorium (»Well, c’mon clap, damnit, what’s wrong with you?«20) – danach schien sie nur noch für sich selbst zu spielen: Ihrem nahezu apathisch performierten Gesangsteil21 setzte sie ein orgiastisches Klavierspiel kontrastierend entgegen, um dann in einem furiosen Finale doch noch ganz eigene Worte zu finden: No matter what the words may say … / you always stay here in my heart… / No matter what they compose or do … / No matter what the drugs may do or songs may do or people may do… / I will always have my feelings (…) and that is (it). / For you!22
Damit war definitiv ein Statement vollzogen: Niemals können standardisierte Worte und Klänge, so sehr sie nach Kunstregeln und etablierten Verfahrenstechniken arrangiert und unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder Substanzen konsumiert werden, etwas über Gefühle verraten. (3) 1975 hatte Mike Brant mit Dis-lui eine französische Coverversion von Feelings aufgenommen. 1988 erkannte der französische Songschreiber Louis »Loulou« Gast¦ darin eine Version seines 1956 komponierten Chancons Pour toi und bezichtigte Morris Albert des Diebstahls geistigen Eigentums. Der darauffolgende Rechtsstreit mit Albert wurde 1988 zu Gunsten Gast¦s beendet. Er erhielt nahezu 88 Prozent aller Tantiemen.
19 Vgl. FN 16. 20 Vgl. FN 16. 21 Anna Dawood hat mich dankenswerter Weise darauf aufmerksam gemacht, dass inszenierte Affektlosigkeit bisweilen auch das exakte Gegenteil erzeugen will (und kann). 22 Vgl. FN 16.
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6.
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Fade out
Wer anschaulich machen möchte, dass sich (in der Popkultur) Gefühle artikulieren und inszenieren, produzieren und evozieren, konstruieren und kommunizieren lassen, hat ein leichtes Spiel; dies gilt nicht allein für die aufgezeigten Beispiele, sondern auch im Blick auf vergleichbare Experimente an anderen PopSchauplätzen mit ihren entsprechenden Szenarien. Und obwohl das Tableau der Einzelphänomene zu einer recht ausgedehnten Fläche avanciert ist, auf der sich Aktions-, Spiel- und Beobachtungsräume teils überschneiden können, lassen sich bestimmte Prozesse, die in diesen Räumen stattfinden, schematisch ansatzweise einholen und abbilden. [Einen ersten Versuch stellt die dem Text nachgestellte, aber sinnvollerweise hier einzufügende Tabelle dar.] Natürlich ist dieses Schema diskursoffen zu halten; es drängt auf Vervollständigung und Überarbeitung: Zum ersten gilt es, den hier auf popmusikalische Miniaturen reduzierten Fokus auf andere popkulturelle Sektoren auszuweiten, zum zweiten, sich auf die vakant verbliebene Tabellenspalte: Rezeption zu konzentrieren. Ist hier nach einer besonders gefühlsintensiven Lesart durch die Rezipierenden zu fragen, nach speziellen Emotionen, die sich reaktiv im Genussmodus einstellen – oder grundsätzlich nach den (epistemologischen und ästhetischen) Voraussetzungen der Rezipienten, Emotionen zu »spüren«, sich ihrer bewusst zu machen und ihnen Ausdruck zu verleihen? Damit wird freilich auf das wohl sensibelste und nachhaltigste Desiderat gezielt, die Klärung dessen nämlich, was überhaupt gemeint sein will, wenn (ständig) von Gefühlen die Rede ist. Die praktische Theologie ist sich der Dringlichkeit dieser Aufgabe bewusst – und versteht ihre ersten Beiträge zu popkulturellen Diskursen sinnvoller Weise zunächst als heuristische Hermeneutik bzw. hermeneutische Heuristik. Dass es dabei nicht bleibt, dürfte sich sowohl der Publikationsliste des Jubilars als auch dem vorliegenden Band entnehmen lassen.
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Interpret
Emotional unbeteiligter Produzent
Emotional beteiligter Interpret
Emotionaler Interpret kann über Performance und Inszenierung Teil des Werkes werden. Interpret kann als Teil des Werkes konzipiert sein.
Performance / Inszenierung
Interpret agiert intuitiv (emotional)
Opus Werk Produzent / Interpret kann inszenierend Teil des Werkes werden. / Emotional beteiligter Interpret kann sich nicht aus dem Werk herausnehmen. Professioneller InterInterpret ist nicht zwingend als Teil des pret kann das Werk distanziert präsentieWerkes gedacht. ren oder dramatisch performieren (und sich so inszenieren).
Intuition
Produzent / Interpret agiert emotional (und greift intuitiv auf bestimmte Zeichenvorräte zu) Produzent Interpret agiert strate- agiert intuitiv gisch -pro(emotional) fessionell
Kompetenz Strategie
Produzent agiert strategisch-professionell
Interpret kann strategisch als Teil des Werkes gedacht sein und instrumentalisiert werden. Produzent / Interpret agiert Interpret kann das Der emotional unbeteiligte Produzent ist professionell und macht Werk distanziert strategisch von Vorräten zugleich emotional präsentieren oder unbeteiligter Interpret Gebrauch. professionell (illusorisch) inszenieren.
Der emotional beteiligte Produzent ist zugleich emotional beteiligter Interpret Nicht Emotional emotional beteiligter beteiligter Produzent Interpret
Akteur(e) Produzent
»Under Constrution«
Aufgrund professioneller Produktion und emotionaler Inszenierung.
Durch emotionale Produktion (= emotional design; Anteil des Produzenten) und durch professionelle Steuerung (Inszenierung des Interpreten)
Durch Emotion von Akteur und Performance
Emotionaler Werksgehalt
Rezeption
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Literatur Brinkmann, Frank Thomas, Glaubhafte Wahrheit – erlebte Gewissheit. Zur Bedeutung der Erfahrung in der deutschen protestantischen Aufklärungstheologie, Rheinbach 1994. Ders., Kleiner Prinz, Gute Mächte, Spuren im Sand. Anregungen für eine Homiletik des Populären, in: Kitsch und Gefühl. Potenziale des Populären, Arbeitsstelle Gottesdienst, Zeitschrift der GAGF der EKD 03/2008, Hannover 2008, 48 – 55. Ders., Meine Musik ist Ausdruck meiner selbst. Ein protestantischer Annäherungsversuch an Gustav Mahler, in: Drehsen, Volker/Gräb, Wilhelm/Korsch, Dietrich (Hg.), Protestantismus und Ästhetik. Religionskulturelle Transformationen am Beginn des 20. Jahrhunderts, Gütersloh 2001, 177 – 196. Cook, Norman D., Tone of Voice and Mind: The Connections Between Intonation, Emotion, Cognition, and Consciousness, Amsterdam/Philadelphia 2002. Ders., Harmony, Perspective, and Triadic Cognition, Cambridge/New York 2012. Liessmann, Konrad Paul, Kitsch! oder Warum der schlechte Geschmack der eigentlich gute ist, Wien 2002. Schellenberg, E. Glenn/Scheve, Christian von, Emotional Cues in American Popular Music: Five Decades of the Top 40, Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts. Advance online publication, Vol 6(3), 2012, 196 – 203. Schulze, Gerhard, Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2005. Spalding, Johann J., Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum, 1761. Trainor, Laurel J./Trehub, Sandra E., Key membership and implied harmony in Western tonal music: Developmental perspectives, Perception & Psychophysics 1994, 56 (2), 125 – 132.
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Lars Charbonnier
Gefühl für das Leben. Religion und Alter »Das Alter ist ein natürlicher menschlicher Zustand, dem Gott seine eigenen Gefühle geschenkt hat, die ihre eigenen Freuden in sich tragen.« Wilhelm von Humboldt, Briefe an eine Freundin
Wilhelm von Humboldt hat sein Alter zufrieden genießen können, so kann dieser Satz in seiner Selbstaussagedimension gelesen werden. Er erlebt das Alter als eine Phase der Freude und kann Gott als Ursprung dieser Gefühle identifzieren. Typisch, mag man denken, im Alter nimmt die religiöse Gefühlsduselei eben zu. Mit dem Alter kommt der Psalter, so wurde die These zunehmender Frömmigkeit, zunehmender Religiosität im Alter häufig auf den Punkt gebracht. Auch wenn die kerngemeindliche Beteiligung in christlichen Gemeinden tatsächlich eine Altersstruktur aufweist, die diese Beobachtung nahelegt, so ist diese These zunehmender Religion im Alter so heute kaum noch haltbar. Zumindest dann nicht, wenn Religion mit der Übereinstimmung subjektiver Überzeugungen mit traditionellen Glaubensinhalten oder etwa der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod verbunden wird. Denn, so lässt sich mit Dietrich Stollberg attestieren: »Religiosität im Alter partizipiert am allgemeinen Traditionsabbruch und Individualisierungsschub der Postmoderne.«1 Jörg Herrmann hat entsprechend für das Feld der Seelsorge gefordert: »Die Altenseelsorge der Zukunft braucht deshalb einen religionstheoretischen Hintergrund, der zur Wahrnehmung des Religiösen auch jenseits traditioneller Prägungen anleitet«2. Setzt man aber bei religionstheoretischen Konzeptionen an, die das Feld über die traditionellen Prägungen der Wahrnehmung hinaus öffnen, kann das Alter durchaus als eine Phase des Lebens in Betracht kommen, die mehr als andere religionsproduktiv ist. Vor allem dann, wenn eine bestimmte Grundhaltung zum Leben damit verbunden wird, die dann auch mit bestimmten Gefühlen verknüpft sein kann. Solchen Ansätzen geht dieser Beitrag nach.
1 Stollberg, Glaubensgewissheit, 483. 2 Herrmann, Seelsorge, 206.
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1.
Lars Charbonnier
Alter – (k)ein natürlicher Zustand
Das menschliche Alter(n) hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten in vielerlei Hinsicht erhöhte Aufmerksamkeit in der Politik, der Wirtschaft und erfreulicherweise auch in der Wissenschaft, nicht zuletzt in der Theologie gefunden: »Das einundzwanzigste Jahrhundert fängt zumindest an als ›Zeitalter der Älteren‹.«3 »Kaum ein anderes Forschungsfeld vermag derzeit so verschiedene Wissenschaftsdiskurse zu integrieren wie die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft«, wird in der Einleitung in die »Praktische Theologie des Alterns« attestiert.4 Der Grund dafür liegt bekanntlich in den Herausforderungen der demographischen Entwicklung: Die Altersstruktur der deutschen Gesellschaft wandelt sich in den kommenden Jahrzehnten stark. Unsere Gesellschaft wird im Jahr 2060 zu 34 % aus über 65-Jährigen bestehen. Zugleich steigt die Lebenserwartung kontinuierlich und die Zahl der Hochaltrigen, also der Menschen über 80 Jahre, nimmt ebenfalls stark zu.5 Außerdem und nicht nur angesichts dessen lassen sich kulturell-normative Veränderungen kollektiver wie subjektiver Altersbilder beobachten. Die alten Menschen der Gegenwart und noch stärker der Zukunft sind hochgradig differenziert in der Selbst- wie in der Fremdwahrnehmung. So wird es immer schwieriger, von außen bestimmen zu wollen, wann jemand als »alt« bezeichnet werden kann. Die Kategorie des Alters wird damit selbst problematisch, Alter als Zahl der Lebensjahre muss vom Altern als menschlichen Prozess von der Zeugung bis zum Tod (auch) getrennt betrachtet werden. Mit der Unterscheidung von ›drittem‹ und ›viertem Alter‹ wird versucht, diese Differenzierung des Alters begrifflich einzuholen. Das ›dritte Alter‹ erfasst eine neue Lebensphase, die jenseits des Erwerbslebens von aktivem Engagement, Selbstbestimmung und einer hohen Lebenszufriedenheit charakterisiert ist. Im ›vierten Alter‹ schwindet diese Autonomie aufgrund von nachlassenden physischen und psychischen Kräften zunehmend. Mit dieser Differenzieurung im Blick auf die Alternsprozesse und der Anerkennung wachsender Pluralität der Lebensphase Alter ist auch eine neue Wertschätzung des Alters verbunden. »Grau ist bunt« lautet einer der vielen Publikationstitel, die im Lauf der letzten Dekade auf dem Buchmarkt erschienen 3 Westerink, Gerontopsychologie, 35. 4 Kumlehn et al., Einleitung, 1. Für die Theologie als wesentlich bedeutsame Veröffentlichungen der letzten Jahre sei neben dem hier zitierten Sammelwerk verwiesen auf: Kumlehn, Klie, Ageing; Blasberg-Kuhnke, Wittrahm, Altern. Eine Übersicht über den Forschungsstand findet sich bei Charbonnier, Religion. 5 Vgl. den aktuellen Demografiebericht der Bundesregierung (Kurzfassung) unter http:// www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/Politik_Gesellschaft/DemographEntwicklung/ demografiebericht_kurz.pdf ?__blob=publicationFile (05. 01. 2013).
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Gefühl für das Leben. Religion und Alter
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sind und Perspektiven auf das Alter als Selbstbeschreibungen, mal stärker autobiographisch, mal stärker als Ratgeber, vorstellen.6 Sie alle haben zum Ziel, gegenwärtige Bilder des Alters realistisch und motivierend darzustellen, in Abgrenzung von Klischees und Vorurteilen und – ihrer Meinung nach – veralteten Altersbildern in der Gesellschaft. Sie wollen in der Regel Mut machen, das eigene Altern wertzuschätzen und entsprechend aktiv zu gestalten. Mögen diese Ratgeber von ganz unterschiedlicher Qualität sein, selbst wieder Klischees und Vorurteile produzieren, sie spiegeln deutlich die Entwicklung in Wahrnehmung und Gestaltung des Alter(n)s wider, die sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat:7 »Das Alter ist in der Gegenwart – kulturell gesehen – eine recht offene Phase des menschlichen Lebens.«8 Die gegenwärtige Alternsforschung9 betrachtet Altern deshalb auch als einen dynamischen Prozess. Einerseits ist er charakterisiert durch einen biologisch irreversiblen Veränderungs- und Abbauprozess, andererseits durch ein hohes Maß an Veränderbarkeit und Variabilität. Auf interindividueller Ebene sind persönlichkeitsspezifische Kontextfaktoren ebenso alterskonstituierend wie ökonomische, soziale und räumliche. In der gerontologischen Forschung ist deshalb die Unterscheidung von ›Alter‹ und ›Altern‹ ebenso grundlegend wie eine Pluralität verschiedener Zugangsweisen.10 Auf dem Feld des Alter(n)s hat somit eine Pluralisierung und Individualisierung hinsichtlich der Perspektiven auf und Konzeptionen des Alter(n)s stattgefunden, die sich aber nicht nur in der wissenschaftlichen Diskussion zeigt, sondern auch in der alltäglichen Lebenswelt anzutreffen ist. Es tritt damit hervor, dass ebenso wie die Religion das Alter ein Phänomen der subjektiven wie sozialen Deutungen und Konstruktionen ist.11 6 Scherf/von Schrenk, Grau. 7 Zum Überblick der Bilder des Alter(n)s im Wandel vgl. Ehmer, Höffe, Bilder. Zur aktuellen Situation vgl. den Sechsten Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. 8 So der Einstieg in das Grundlagenkapitel zum Handbuch christlicher Altenarbeit: BlasbergKuhnke/Wittrahm, Freiheit, 15. 9 Vgl. Wahl/Heyl, Gerontologie. 10 So schlug kürzlich etwa Ludwig Amrhein eine »Wissenssoziologie der Lebensführung im Alter« vor. Diese ermöglicht die Beschreibung der Wechselwirkungen von äußeren Lebenslagen, inneren Deutungs- und Wahrnehmungsprozessen und praktischen Handlungsweisen. Diese Pole sozialer und mentaler Strukturen können sowohl synchron in der Alltagswelt wie diachron in der Lebensgeschichte analysiert werden. Amrhein verbindet in seiner Konzeptionalisierung von alltäglicher Lebenspraxis herrschende Paradigmata unter dem Struktur- und Gesamtzusammenhang von »kognitiv-evaluativer Lebensorientierung, interaktiv-normativer Lebensgestaltung und expressiv-ästhetischer Lebensstilisierung« (294), welchen er im konstitutiven wechselseitigen Bezug von sozialen Strukturen und individuellem Verhalten reflektiert, vgl. Amrhein, Drehbücher, v. a. 15 – 18 und 179 – 300. 11 Vgl. Göckenjan, Altersbilder, 15: »Altersbilder sind Kommunikationskonzepte […]. Je-
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Lars Charbonnier
Gefühle im Alter und die Rolle der Religion
Über lange Jahre bestand ein Konsens in der Forschung, dass Emotionen im Alter abgeflacht sind und alte Menschen sowohl negative wie positive Emotionen weniger intensiv erleben. Mittlerweile konnte aber belegt werden, dass Altersunterschiede in der Intensität emotionaler Reaktionen von der Bedeutungshaltigkeit der auslösenden Stimuli abhängig sind. Wenn Stimuli eine hohe Bedeutung für die Betroffenen haben, können sie auch bei alten Menschen intensive Gefühle auslösen.12 Es zeigt sich aber auch, dass die Fähigkeit der Gefühlskontrolle im Alter größer ist und entsprechend tatsächlich negative Gefühle (Ärger, Trauer, Angst) mit dem Alter abnehmen, während das Erleben positiver Gefühle zunimmt.13 Mit dieser Erkennntis konnte ein Phänomen besser erklärt werden, das lange Zeit ein Rätsel für die Forschung ausmachte: Wie kann es sein, dass trotz wachsender Einschränkungen und anderer negativer Lebensereignisse im Alter das subjektive Wohlbefinden und die eigene Lebenszufriedenheit bei den meisten Menschen im Alter nicht abnehmen, sondern teilweise sogar zunehmen? Nicht nur der Generation 60plus geht es gut,14 auch im hohen und höchsten Alter bei vielen Einschränkungen und abnehmender körperlicher Kraft und Gesundheit lässt sich dieses feststellen. An dieser Stelle wurde der Begriff der »Resilienz« eingeführt: Positives wird verstärkt, Negatives wird möglichst klein gemacht. Diese Studien machen somit deutlich, dass im Alter die Emotionsregulation deutlich besser ausgeprägt ist und deshalb über den Lebensverlauf hinweg die positiven Gefühle gleich bleiben, negative aber weniger intensiv erlebt werden.15 Aufgrund der Remodulierung der Lebensziele, vor die das Alter allgemein stellt, gelingt es Älteren, auch ihr Gefühlserleben in Bezug auf die negativen Gefühle besser zu regulieren.16 Allerdings ist auch hier Differenzierung nötig: Es konnte gezeigt werden, dass diese Tendenz dann gilt, wenn ältere und alte Menschen auf bekannte Muster der Emotionsregulation zurückgreifen können. Wenn noch keine ähnlichen Lebenserfahrungen vorliegen, dann können emotionale Reaktionen bei Älteren sogar stärker ausfallen als bei Jüngeren.17 Insofern sind die Lebenserfahrungen und ihre Bearbeitung während der gesamten Lebensspanne
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denfalls ist dieses polarisierende Konzept Alter nicht Alterswirklichkeit, sondern Deutungskonzept«. Zur Diskursgeschichte vgl. a. a. O., 17 – 35. Vgl. die Zusammenfassung der Forschungsergebnisse unter http://www.uni-leipzig.de/ ~epsycho/forschung/projekte.html (12. 01. 2013). Vgl. Gross et al., Emotion. Ein Phänomen, das gerade auch bei Kirchenmitgliedern feststellbar, aber eben nicht nur bei denen, vgl. Ahrens, Uns geht es gut. Labouvie-Vief, Psycology. Vgl. a. a. O., 230. A.a.O., 231.
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Gefühl für das Leben. Religion und Alter
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relevant für die Frage, wie auch im Alter Lebensereignisse erlebt und bearbeitet werden. In diesen Bearbeitungsprozessen kann Religion als vor allem kognitives System sowohl als Ressource wie auch als moderierende Größe eine wichtige Rolle spielen. Empirische Untersuchungen belegen den positiven Einfluss, den Religion auf Gesundheit, auf Lebenszufriedenheit, protektiv gegen Depression oder Angst haben kann. Insbesondere Studien der Religionspsychologie belegen die Bedeutung der Religion als Ressource in den Fragen der Lebens-, Krankheitsund Todesbewältigung.18 Diese positiven Effekte von Religiosität und Spiritualität hat Michael Utsch mit den Stichworten zusammengefasst: emotionale Entlastung, moralische Orientierung, soziale Unterstützung, kognitive Neubewertung und mentale Bewältigung.19 Die Frage liegt hier natürlich nah, was genau als Religion dabei in den Blick gerät. Es empfiehlt sich sinnvollerweise ein Religionsverständnis, das nicht einfach nach sozialpraktischem Verhalten oder substantiellen Überzeugungen fragt, sondern grundlegend ernst nimmt, dass Religion eine deutende und dann natürlich auch praktisch sich realisierende Umgangsweise mit Welterfahrung darstellt. Entsprechend bietet sich das gefühls- und zugleich deutungsbasierte Religionskonzept Schleiermachers an.20 In den »Reden über die Religion« identifiziert Schleiermacher die Religion als notwendig zum Menschen gehörendes Phänomen eigener Art: »Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.«21 Dieses Gefühl definiert er später in seiner Glaubenslehre als »schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl«22, welches er näherhin als Ausdruck der existentiellen Wahrnehmung des Sichgegebenseins – Schleiermacher spricht vom »Sichselbstnichtsogesetzthaben«23 – bestimmt. Es geht also um eine bestimmte Gefühlserfahrung, die im Kontext einer positiven Religion dann in konkreten Symbolisierungen artikuliert wird. Diese Symbolisierung führt im Christentum zur Identifikation des Abhängisgkeitsbewusstseins mit dem Bewusstsein der Gottesbeziehung, wie Schleiermacher es im vierten Paragraphen seiner Glaubenslehre ausführt: Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch 18 Vgl. v. a. Utsch, Fragen. Vgl. auch die Beiträge von Haußmann und Weyel in diesem Band. 19 Dabei gibt er zu bedenken: »Die Religiosität ist – auch in ihrer positivsten Form – immer nur ein Faktor unter mehreren. Sie ist eingebettet in eine spezifische Persönlichkeitsentwicklung und einen Lebensstil, der sich durch typische Erlebensformen und Bewältigungsstrategien auszeichnet. Innerhalb dieses Rahmens entwickeln sich verschiedene Glaubensstile, die sich sowohl negativ als auch positiv auswirken können.« Utsch, Fragen, 184. 20 Vgl. dazu ausführlicher die Darstellungen bei Barth sowie Korsch in diesem Band. 21 Schleiermacher, Religion, 35. 22 Ders., Glaube, 26 ff. 23 A.a.O., 24.
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diese sich zugleich von allen andern Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, dass wir uns unser selbst als schlechthin abhängig bewusst sind, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewusst sind.24
Mit dieser Interpretation einer gefühlsbestimmten Wahrnehmung als »Gott« wird bereits die mehrschichtige Struktur des Zusammenhangs von Religion und Gefühl bei Schleiermacher deutlich: So lassen sich mit dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit eine Gefühlskomponente von einer mit dieser Komponente schon verschränkten Deutungs- bzw. Reflexionskomponente – das Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit – unterscheiden, auf die wiederum eine der Sprache der Tradition entlehnte Deutunugskompenente bezogen wird. Im Sinne Schleiermachers ist damit das religiöse Gefühl kein Gefühl für sich, sondern immer schon reflexiv imprägniert. Damit ist das religiöse Gefühl in gewissem Sinne selbst ein moderiertes, entsprechend taugt Religion als moderierende Größe in der Gefühlsbearbeitung.
3.
Das religionsproduktive Potential des Alters als »Gefühl für das Leben«
In der religionstheoretischen Diskussion besteht weitgehend Konsens darüber, dass das Bezugsproblem der Religion die Erfahrung von Kontingenz ist. Religion ermöglicht den Umgang mit dieser menschlichen Grunderfahrung der Kontingenz des Lebens. Kontingenzerfahrungen sind es, die in gesteigertem Maße nach einer Deutung verlangen, die als religiöse Deutung auf eine diese Kontingenz transzendierende Dimension ausgreift und damit nach dem Sinn dieser Erfahrung und darin immer auch des Lebens fragt. Wenn also auf Erfahrungen zu reagieren ist, die mit Schleiermacher die Abhängigkeit des eigenen Lebens, bis hin zur schlechthinnigen Abhängigkeit, spürbar werden lassen, sind solche religiösen Sinndeutungen nötig.25 Die These ist nun, dass im Alter diese Erfahrungen der Kontingenz sich intensivieren und entsprechend damit das Alter eine religionsproduktive Lebensphase ist, weil die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens und darin auch des Lebens generell (wenn das zu trennen ist) virulent wird. Im Alter wird der Mensch aufgrund der generellen Erfahrungen 24 A.a.O., 23. Schleiermacher führt aus: »Wenn aber schlechthinnige Abhängigkeit und Beziehung mit Gott in unserm Satze gleichgestellt wird: so ist dies so zu verstehen, dass eben das in diesem Selbstbewusstsein mitgesetzte Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins durch den Ausdruck Gott bezeichnet werden soll, und dieses für uns die wahrhaft ursprüngliche.« (a. a. O., 28) 25 Vgl. die Übersicht zum religionstheoretischen Diskurs bei Charbonnier, Religion, sowie die Darstellung Gräb, Lebensgeschichten.
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Gefühl für das Leben. Religion und Alter
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des eigenen Lebens wie der spezifischen Erfahrungen des Alterns stärker als zuvor damit konfrontiert, eigene Abhängigkeit wahrzunehmen und das Kontingente im Lebensverlauf und im Alltag zu akzeptieren. Einen breit rezipierten und theologisch aufgrund seiner anthropologischen Fundamente anschlussfähigen Entwurf hat der Philosoph Thomas Rentsch ausgearbeitet, der Altern als Radikalisierung der menschlichen Grundsituation im Vollzug identifiziert nd deshalb davon spricht, dass Altern ein »Werden zu sich selbst« sei. Seine – geistesgeschichtlich auch nicht neue – These ist, dass angesichts des »Endgültigwerdens der eigenen Lebensgeschichte«26 das Alter aus sich heraus in Fragen nach dem Sinn führt. Im Alter würden, so die Annahme, Grundstrukturen, die de facto das ganze Leben durchziehen, auf dringlichere Weise zum Vorschein kommen und entsprechend in ihrer eigentlichen Relevanz für das menschliche Leben hervortreten.27 Diese Grundzüge sind die Zeitlichkeit, die Leiblichkeit und die Sozialität des Menschen. Ihre lebensgeschichtlich konkreten Ausprägungen machen die Ganzheit eines Lebens aus. Diese Ganzheit des Lebens ist dem Einzelnen allerdings selten direkt zugänglich, sondern nur in den einzelnen Situationen des Lebens, die er sinnvoll zu gestalten versucht. Diese Dialektik kennzeichne das menschliche Leben: »Wir sind in unserem Leben immer an der Gestaltung der einmaligen Ganzheit, die wir faktisch schon sind, praktisch tätig: Unser Leben ist die Gestaltwerdung der singulären Totalität selbst.«28 Diese Gestaltwerdung der einmaligen Ganzheit des Lebens wird »weniger in der Vorwegnahme des eigenen Endes erfahrbar, als vielmehr im Sichtwandel des sinn- und leiderfahrenden Lebens.«29 In Bezug auf vier Dimensionen veranschaulicht Rentsch seine These von der Radikalisierung im Alter : die physische, die psychische, die kommunikativsoziale sowie die kulturelle Dimension, die alle vier für ihn Grunddimensionen des Menschseins darstellen. Aufgrund von Mangelzuständen, Verlusterfahrungen und Entfremdungserlebnissen treten gemäß Rentsch im Alter in jeder der vier Dimensionen Störungen auf. Die eigene Leiblichkeit rückt aufgrund von Krankheiten und körperlichen Einschränkungen verstärkt in den Blick, immer mehr Entscheidungen werden durch den körperlichen Zustand beeinflusst. Durch den Verlust von selbstverständlichen Körperfunktionen, durch die Erfahrung von Schmerz, aber auch schlichtweg durch die Veränderungen des äußeren Erschei-
26 Rentsch, Negativität, 155. 27 Neben dem Alter können natürlich auch andere Erfahrungen für diese Grundstrukturen sensibilisieren, etwa Krankheitszustände oder Verlusterfahrungen. Im Alter treten diese durchschnittlich aber häufiger auf. 28 Rentsch, Konstitution, 132 [Hervorhebung im Original]. 29 Mulia, Altern, 106 [Hervorhebung im Original].
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nungsbildes wird der Einzelne auf seine leibliche Konstitution verwiesen und festgelegt.30
Mit den körperlichen Veränderungen geht eine Veränderung des Zeiterlebens einher, die sich auch psychisch auswirkt. Das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft wandelt sich, die Endlichkeit des eigenen Lebens rückt in den Blick. Die körperliche und geistige Entwicklung zwingt zudem zu größerer Langsamkeit in den alltäglichen Vollzügen, was wiederum das unaufhaltsame, lineare Fortschreiten der Zeit nur deutlicher zum Vorschein bringt. Im Kontext zunehmender Beschleunigungsprozesse der modernen Gesellschaft wächst die Diskrepanz zwischen eigenem Zeitwahrnehmen und der Zeitwahrnehmung der Umwelt weiter an. Damit gehen Einschränkungen des kommunikativ-sozialen wie des kulturellen Lebens und Erlebens einher. Psychisch ist zunehmend vor allem das Endgültigwerden der eigenen Lebensgeschichte relevant, das im Gegensatz zum jungen Menschen und seiner offenen Zukunftsperspektiven im Alter immer bewusster wird. Entsprechend wird für die Gestaltwerdung der einmaligen Ganzheit des Lebens deutlich, »daß ein Leben im Altern seine endgültige Gestalt gewinnt und seine ganze Zeit wird: die ganze Zeit seines Lebens«31.
4.
Empirische Wahrnehmungen
Im Rahmen einer qualitativen Studie zur religiösen Lebensdeutung im Alter konnte ich diesen Phänomenen eines gesteigerten Gefühls für das Leben im Alter sowie etwa der Bedeutung von Religion auch für das emotionale Erleben des Alters nachgehen.32 Aus dem breiten Spektrum der Forschungsdimensionen von Religion und Sinnfragen im Zusammenhang von kontingenten Lebenserfahrungen und spezifischen Altersperspektiven möchte ich mich an dieser Stelle auf zwei der Fälle beschränken, mit denen ich leitfadengestützte narrative Interviews durchgeführt habe. Im Fall von Frau Podolski geht es um die Rolle von traditioneller Religion, hier dem christlichen Glauben, für die Moderation und Kompensation von kritischen Lebenserfahrungen insbesondere im Alter, im Fall von Frau Friedrich die von der Interviewten selbst auf ihr Alter zurückgeführte Intensivierung von Sinnfragen und selbständiger Auseinandersetzung mit diesen. Zunächst zu Frau Podolski als einem Beispiel für die Wirkmöglichkeit eines starken christlichen Glaubens in der Bewältigung des Lebens und des Alters: Sie 30 Müller/Bozzaro, Endlichkeit, 105. 31 Rentsch, Anthropologie, 303 [Hervorhebung im Original]. 32 Vgl. Charbonnier, Religion.
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ist zum Zeitpunkt des Interviews 98 Jahre alt, verwitwet und lebt seit einigen Jahren in einem Seniorenheim. Ihr einziger Sozialkontakt ist neben dem Leben im Haus ihr einziger Sohn, der sie regelmäßig am Wochenende besuchen kommt. Sie ist geprägt von einer intensiven christlichen Sozialisation im Neuland-Bund und weist entsprechende Spuren dieser Frömmigkeit auf, die sie auch zum Ausdruck bringt. Hier hat sie ihre sinnvollste Lebenszeit verbracht, die dort eingeübten Traditionen und den Glauben pflegt sie bis heute: I: Gab es Punkte in Ihrem Leben, an denen Sie das Leben als sinnvoll erlebt haben. A: Na ja das is durch Neuland. Da hab ich (-) durch Neuland is mein Leben geworden. (--) Da (-) hab ich erkannt. (-) Den hat ma nich immer gleich so bei der Hand. Das muss man erst erkennen. Und das hab ich (--) ja. Und er is auch jetzt noch mein Führer und Leiter. (--) Dort is mein Altar. Dort bete ich. (---) Ja. (--) Ja. (4) I: Gab es Punkte in Ihrem Leben, an denen Sie das Leben als sinnlos erlebt haben? Und wenn ja, was haben Sie gemacht, um damit umzugehen. Wie haben Sie die bewältigt. A: Ja. Da is ma erst mal . Das hat ma kann man auch, (-) wenn was so sinnlos is was einem überhaupt nich gefällt, und so. Das wird jeden Menschen so gehen dass er erste mal hm na ja. Ja wohl. Ja und allmählich mmmm ich wüsst gar nich wie gehtn das? Dass man nachher wieder vernünftig wird. Ja. Ja da mmm das kommt auch von Gott, dass da irgendwas ins Leben wieder hineinkommt, wo ma sich dran festhält, wo man auch wieder Freude am Leben kriegt. (-) Durch Reisen, (--) durch Feste. (---) Und man übt eben da wieder Lust zum Leben. (I2,417 – 434)
So wird für Frau Podolski Gott zu einer ganz realen Möglichkeit, sich selbst emotional zu stabilisieren, wie sie auch an anderer Stelle ausführt: Warum ich da (-) ach ich hätte alles zerhauen können. Das weiß ich. Ja. (--) Mmmm (--) aber (-) man fängt sich. Das is von Gott gegeben, dass man sich dann wieder fängt. Das kann man selber nich so aus (-) aus eigner Kraft. (I2,442 – 446.)
Wer sich so stark im Glauben verankert sieht wie Frau Podolski, kann in der Gottesbeziehung bzw. auch der Beziehung zu Jesus Christus einen festen Halt, in ihrem Fall vielleicht sogar den einzigen Halt im Alter ausmachen. Hier wird neben der religiösen Ressource des Gebets am ehesten die Verbindung zum religiösen Coping im klassischen Sinne der Forschung gesehen werden können: Ja. Und jetzt in letzter Zeit (5) ja (---) ich übergeb mich eben meinem Herrn. Mmm ich hab niemanden. (I2,208 f.)
Während das Alter für Frau Podolski zunehmend eine Herausforderung und mit Belastung verbunden ist, genießt die 75-jährige Frau Friedrich ihr Alter : Sie ist
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unternehmungslustig und schafft sich in der Gemeinschaft mit anderen Menschen Erlebnisse, die ihr die Sinnhaftigkeit des Lebens vor Augen führen, wie aus ihren Antworten deutlich wird. Der Unverfügbarkeit dieser Erfahrungen ist sie sich bewusst und entsprechend dankbar, auch und gerade dafür, dass es ihr – entgegen ihres subjektiven Altersbildes und ihrer eigenen Erwartungen an das Alter, in dem sie sich befindet – gesundheitlich und ökonomisch so gut geht, dass sie all diese Unternehmungen problemlos gestalten kann. I: Was bedeutet das für Sie, 75 Jahre alt zu sein? A: Äh das bedeutet schon, dass man jetzt auf dem Weg zur 80 ist. Und es macht sich bei mir gerade jetzt in dem Alter eine große Dankbarkeit breit, äh dass man dass man noch so fit ist, dass ich noch relativ viel erleben darf. (I10,18.21)
Im Zuge dessen entdeckt sie sogar Fähigkeiten an sich und baut diese aus, die vorher verborgen geblieben sind. Gerade vor dem Hintergrund negativer Erwartungen an diese Lebensphase Alter stellt sich ihre Situation deshalb als überaus erfreulich für sie da. Sie kann durchaus als Beispiel dafür angesehen werden, dass Altern ein »Werden zu sich selbst« ist und sogar ein »neu werden« erlaubt. Dabei wird deutlich, dass Frau Friedrich die gesellschaftlichen Prozesse der Wandlung subjektiver Altersbilder nicht nur erlebt, sondern auch selbst vollzogen hat bzw. vollzieht. Sie belegt die These der häufig anzutreffenden Verschiebung der Defizitsicht auf das ›vierte Alter‹, das von körperlichem und geistigem Verfallsprozess und allen damit zusammenhängenden Konsequenzen gezeichnet scheint. Die Erlebnisse eines jeden Tags neu zu genießen und zu schätzen, macht auch ihre Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens aus. Allerdings wird die Frage für sie damit nicht ein für alle Mal beantwortet: Vermutlich gerade weil sie um die Flüchtigkeit dieser Erfahrungen weiß, ist das unvermeidliche Ende des Lebens, der Tod für sie die nicht zu verdrängende Anfrage an jegliches Konzept des Lebenssinns, das »wirklich« tragen würde. Sie findet zwar immer wieder auch eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, im Alter vor allem ihrer Einstellung entsprechend mit Blick auf das Positive ein »Carpe diem!«, aber auch diese Einstellung wird immer wieder hinterfragt – die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sie sich so jeden Tag, wie sie sagt. I: M-hm. M-hm. Was würden Sie sagen ist der Sinn des Lebens? A: Ja das frag ich mich oft. I: =Ja.= A: =Ja.= Ich bin nun das muss ich dazu sagen äh ich bin nicht in der Kirche, äh aber irgendwo glaub ich ein bisschen oder sehr an den lieben Gott, denn ich habe Situationen, wo ich denke, Er muss dich geführt haben. Er muss dir zugeblinzelt
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haben. Sonst kann das und jenes nicht passieren. Meinetwegen dass ich bei den meisten Reisen schönes Wetter habe oder oder so also so jetzt mal so naiv ausgedrückt. Und ja der Sinn (-) das ist ja eigentlich ne sehr sehr kurze Spanne Zeit. (-) Und es is halt =schade= I: =Von Geburt bis= zum Tod. A: Ja bis zum Tod. Es ist eigentlich schade, wenn wir sie uns oft so schwer machen müssen, nich. (I10,278 – 290)
Die Sicht auf den Sinn des Lebens und ihr Lebensalter stehen in einem klaren Zusammenhang: Für Frau Friedrich bedeutet das Alter von 75 Jahren das wachsende Bewusstsein davon, dem Tod näher zu kommen. Die 80 rückt nahe, was eine wesentliche Grenze für sie zu sein scheint. Sie liest regelmäßig Todesanzeigen, in denen immer häufiger ihre Generation vertreten ist. Es ist wesentlich der Tod der Anderen, der Frau Friedrich auch ihre eigene Endlichkeit deutlich vor Augen führt und von daher den Konnex von Endlichkeit und Sinn herstellt. Allerdings ist diese Aussicht auf das nahende Ende für sie kein Grund zur Klage, sondern Ausdruck einer pragmatischen Sicht auf das Leben, gerade weil sie weiß, dass sie die steigende Wahrscheinlichkeit auch ihres Lebensendes lieber verdrängen würde. Sie hat durchaus Angst vor dem Ende, insbesondere der Phase des Sterbens, auch Angst, etwas des jetzigen Lebens, explizit die Entwicklung ihrer Enkel zu verpassen, geht mit dieser aber insofern offen und in ihrer Wahrnehmung sinnvoll um, als dass sie das Leben jeden Tag neu als Geschenk empfindet und versucht, daraus das Beste zu machen: A: Also nach dem Sinn ich finde m/ jetzt denk ich manchmal man gibt nur jedem Tag einen Sinn, indem man ihn eben ja versucht zu leben oder zu erleben, indem man ihn eben positiv gestaltet. I: Also jeden Tag neu sozusagen. A: Ja jeden Tag neu erst mal wieder und ihn äh jetzt frag ich mich gar nich sag ich mir nur Ja ich muss diese Jahre noch ausfüllen. Es kann ja ganz schnell anders sein. (I10,297 – 303)
Im Verlauf des Interviews stellt sie fest, dass ihr mit dem Alter in vielerlei Hinsicht eine Reife zugewachsen ist, die in der Füllung ihres Sinnkonzeptes eines gelassenen, positiv orientierten Blicks auf das tägliche Erleben in Dankbarkeit über das Gute darin als Altersweisheit charakterisiert werden kann. Sie sieht Situationen, die ihr zur Zeit des Erlebens als sinnlos vorkamen, nun mit anderen Augen und erkennt, daran gewachsen zu sein. Was für Frau Friedrich zu einem tragfähigen Lebenskonzept geworden ist, steht vor allem im Zusammenhang mit ihrer Lebensgeschichte, die sie auch als Geschichte ihrer Individuation und darin aus jetziger Sicht gerechtfertigter Existenz rekonstruiert, als Geschichte der Befreiung von Pflichten hin zum
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Ausleben ihrer Individualität, die nun im Alter allein der Maßstab für ihr Handeln und Entscheiden im Leben ist. Den Aspekten des Lebens, die dieser Selbstwirksamkeit nicht primär unterliegen, schreibt sie transzendente, aber zumeist dennoch weltlich-immanente Dimensionen als Erklärungen zu, ihre Generation und die Menschheit als Universalkategorie. Besonders beglückende Erfahrungen überführt ihr »Kindglaube« zu der Annahme eines »lieben Gottes«, aber insbesondere angesichts der Endlichkeit wird diese immer wieder bezweifelt – nicht ohne Bedauern. Somit kommt Frau Friedrich als ein Mensch in den Blick, der tatsächlich im Alter angesichts der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des eigenen Lebens intensiver mit der Sinnfrage beschäftigt ist und dabei auch das eigene Leben bilanzierend betrachtet. Ihr ist es gelungen, eine Einstellung zu finden, die ihr ein positives Erleben des Alters ermöglicht, weil sie ein gutes »Gefühl für das Leben« entwickeln konnte. Dass Frau Friedrich mit diesen Prozessen nicht allein ist, wird auch in anderen Interviews im Rahmen meiner Studie erkennbar : Alle Befragten zeigen an unterschiedlichen Stellen somit an, dass sie sich in einer Lebensphase befinden, in der Bilanzierungsbedürfnisse und Sinnanfragen an das eigene Leben herangetragen und entsprechend bearbeitet werden wollen. Dabei wird deutlich, dass das Wissen um diese Bedürfnisse als Alltagstheorie unter den Befragten selbst bekannt ist. Frau Podolski weist auf die Frage nach der Bedeutung des Alters für ihr Leben dieses als allgemein-menschliches Verhalten aus: Mmm es wird jedem Menschen so gehen, dass er mm sein Leben mal überdenkt, und mancher mit schaut und manche na ja man nimmt‹s eben hin weil man nich anders kann. (I2,282 – 284)
Zu diesen religiösen Deutungsbemühungen kommt es in den Interviews dabei nicht nur im Rahmen der Frage nach dem Sinn des Lebens, sondern auch im Rahmen der Fragen nach der Bedeutung des Alters und der Rückschau auf das Leben. Es kann demnach in guter Übereinstimmung mit dem theoretischen Forschungsstand die empirisch angeregte Hypothese aufgestellt werden, dass im Alter tatsächlich die Intensität der Lebensbilanzierungsbemühungen und darin die Auseinandersetzung mit dem Sinn des Lebens aufgrund des Alters zunimmt. Die – hier nur ganz kurz angerissenen – empirischen Wahrnehmungen meiner Studie veranschaulichen nicht nur, dass das Alter an sich in religionsinteressierter Betrachtung seine eigenen Charakteristika aufzuweisen vermag, sondern dass diese in ihrer Konkretion des einzelnen Subjekts zugleich ganz und gar individuell ausfallen. Damit ist Friedrich Wilhelm Graf zuzustimmen, der zwar eine »eigene Würde des Alters« attestiert, aber zugleich feststellt: »Solche ›eigene Würde des Alters‹ lässt sich aber immer nur am individuellen Ort wahrnehmen, in der je eigenen Lebensperspektive eines bestimmten Men-
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schen.«33 Auch die Aussage Wilhelm von Humboldts ist von daher betrachtet zuerst als individuelle religiöse Selbstaussage zu lesen: »Das Alter ist ein natürlicher menschlicher Zustand, dem Gott seine eigenen Gefühle geschenkt hat, die ihre eigenen Freuden in sich tragen.« Die Wahrnehmung und das dann verallgemeindernde Verstehen dieser zunächst ganz individuellen religiösen Lebendeutungen freilich ist die erste Aufgabe der Praktischen Theologie, was wohl bei niemandem besser zu lernen ist als bei Wilhelm Gräb.
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Andreas Feldtkeller
Die Bedeutung des Gefühls für die teilnehmende Beobachtung von Religion
1.
Zur Vorgeschichte
In der Religionswissenschaft des 20. Jahrhunderts nahm das Gefühl als Instrument zur Erforschung von Religion schon einmal einen prominenten Platz ein, bevor im weiteren Verlauf des Jahrhunderts davon Abstand genommen wurde. Als Ausgangspunkt sei zunächst Rudolf Otto (1869 – 1937) mit seinem Buch »Das Heilige« genannt. Aufbauend auf das Religionsverständnis von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768 – 1834) spielt bei Otto der Begriff des Gefühls die zentrale Rolle, und zwar nicht nur als Beschreibung dessen, was Religion von seiner menschlichen Seite her ist, sondern auch als Zugang zur empirischen Erforschung von Religion. Die Erforschung von Religion beginnt bei Rudolf Otto mit der Besinnung auf eigene religiöse Gefühle und mit deren »Prüfung und Zerlegung«. Daraus folgt für Otto, dass eine Erforschung von Religion im eigentlichen Sinne nur für Menschen möglich ist, die selbst religiöse Gefühle kennen.1 Seine Beschreibung der Variationsbreite religiöser Gefühle und Seelenzustände läuft auf die These zu, dass wir es in der Religion mit Gefühlsqualitäten zu tun bekommen, die in dieser Form einzigartig sind und die nur im religiösen Zusammenhang vorkommen. Dies wiederum ist bei Otto mit der Behauptung verbunden, dass die Einzigartigkeit der religiösen Gefühle der Einzigartigkeit des Gegenstands dieser Gefühle korrespondiert. Dies ist einer der Punkte, an denen sich Rudolf Otto explizit von Schleiermacher abgrenzt. Er wirft Schleiermacher vor, mit seinem »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit« letztlich ein »Selbst-Gefühl« beschrieben zu haben.2 Dem gegenüber ist Otto der Meinung, dass der Ausgangspunkt des religiösen Gefühls die auf ein Objekt gerichtete Empfindung sei – und zwar auf das Objekt, das Otto in seiner Untersuchung das »Numinose« nennt.3 1 Otto, Das Heilige, 8. 2 A.a.O., 10 f. 3 A.a.O., 11.
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Die genannten Thesen Rudolf Ottos wurden zur Grundlage dafür, dass in der Religionsphänomenologie der 30er bis 50er Jahre die Wirklichkeit, auf die das religiöse Gefühl und Bewusstsein gerichtet ist, mit zum Gegenstand der Religionswissenschaft gerechnet wurde. Die Religionsphänomenologie beschrieb religionsvergleichend nicht nur menschliche Handlungen, Praktiken, Rollen und Gestimmtheiten, die im Bereich der Religion vorkommen, sondern auch die verschiedenen Vorstellungen von der Wirklichkeit des Numinosen – und ging dabei letztlich immer davon aus, dass diese Wirklichkeit existiert und dass die Beschäftigung mit der Vielfalt ihrer Ausdrucksformen in der menschlichen Religionsgeschichte näher zur Erkenntnis ihrer Essenz führen könne. Joachim Wach (1898 – 1955) beispielsweise hat bei seinem Tod ein Manuskript zur Vergleichenden Religionsforschung hinterlassen, in dem er Religion als menschliche Antwort auf die Erfahrung »Letzter Wirklichkeit« beschreibt, und dabei als Kriterium echter Religion u. a. benennt, dass sie die gesamte Persönlichkeit einbeziehen müsse, nicht nur den Geist, das Gefühl oder den Willen.4 Dem korrespondiert Wachs Auffassung davon, welches »Rüstzeug« für die Erforschung von Religion notwendig sei: Auch hier geht es um die Einbeziehung des ganzen Menschen. In diesen Rahmen eingeordnet nennt er u. a. das Gefühl als Instrument der Religionsforschung.5 Wach gehörte einer Generation von Religionsforschenden an, die (noch) als eine Frage im Bereich der Religionswissenschaft formulieren konnte: »Wie ist die Letzte Wirklichkeit beschaffen?«6 Die Antwort auf diese Frage gibt Wach unter Berufung auf »religiöse Denker« aus verschiedenen Traditionen der Menschheit: Die Letzte Wirklichkeit kann nicht ergründet, begriffen oder durchdacht werden, aber sie erschließt, manifestiert oder offenbart sich selbst.7 Im weiteren Verlauf spricht Wach von »hauptsächlichen Aspekten […], unter denen wir die Letzte Wirklichkeit erfassen«, und meint dabei mit »wir« die vergleichenden Religionsforschenden. In der Aufzählung der Aspekte, unter denen die Letzte Wirklichkeit religionswissenschaftlich zu erfassen ist, folgt Joachim Wach weitgehend Rudolf Otto: An erster Stelle nennt er den Gesichtspunkt des »Mysteriums«, an zweiter den der »Spontaneität« und an dritter Stelle den der »Hoheit und Macht«.8 Joachim Wach glaubte 1955, auf ein Zeitalter des Positivismus in der Erforschung von Religion bereits zurückzublicken.9 Doch es kam anders. Nur wenige Jahre nach Wachs Tod erfand sich die Religionswissenschaft neu als eine em4 5 6 7 8 9
Wach, Religionsforschung, 56 f. A.a.O., 41 f. A.a.O., 65. A.a.O., 65 f. A.a.O., 69. A.a.O., 44.
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Die Bedeutung des Gefühls für die teilnehmende Beobachtung von Religion
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pirische Wissenschaft, die ganz den Paradigmen eines säkularen Wissenschaftszeitalters entsprechen sollte. Sie reagierte damit auf die immer stärkeren Geltungsansprüche von wissenschaftlichen Diskursen, die an die Machbarkeit einer religionslosen Gesellschaft glaubten und von deren endgültiger weltweiter Durchsetzung in absehbarer Zeit überzeugt waren. Als »Stunde null« dafür wird gern der Weltkongress der International Association for the History of Religion (IAHR) 1960 in Marburg angeführt, auf dem sich nach einer Plenumsdebatte über die Methoden der Religionswissenschaft ein großer Teil der Mitglieder quer durch alle Schulrichtungen darauf verpflichtete, Religionswissenschaft als eine humanwissenschaftliche Disziplin zu verstehen.10 Dies bedeutete eine Absage an jedes Verständnis von Religionswissenschaft, bei dem das »Numinose« oder dergleichen mit zum Gegenstandsbereich von Religionswissenschaft gehört. All die eingangs für Rudolf Otto genannten Gesichtspunkte seines Zugriffs auf die Erforschung von Religion wurden damit zur Negativfolie für eine Neubestimmung des Selbstverständnisses von Religionswissenschaft: - Als wesentliche Voraussetzung für die Anerkennungsfähigkeit von Religionswissenschaft im Konzert der Wissenschaften wurde Wert darauf gelegt, dass Religionswissenschaft nur Methoden verwenden dürfte, die auch von anderen Wissenschaftsdisziplinen benutzt würden und anerkannt seien. Darin war impliziert, dass es für die Ausübung von Religionswissenschaft keine Rolle spielen dürfte, ob jemand sich selbst als religiös verstand oder nicht.11 - Als Gegenstand der Religionswissenschaft wurde Religion im Sinne von menschlichem Verhalten und menschlichen Vorstellungen definiert. Rudolf Otto warf man nun vor, dass er den Gegenstand der Religionswissenschaft mit dem Gegenstand der Religion vermischt habe und dadurch der Religionswissenschaft selbst religionsförmige Züge gegeben habe.12 - Grundlegend für das neue Selbstverständnis der Religionswissenschaft wurde eine scharfe Grenzziehung gegenüber der Theologie. Während man der Theologie pauschal unterstellte, Religion aus einer Binnenperspektive zu beschreiben, nahm die Religionswissenschaft für sich in Anspruch, eine von außen beschreibende Perspektive gegenüber Religion einzunehmen.13 Das neue Wissenschaftsverständnis der Religionswissenschaft orientierte sich methodisch an der Kulturwissenschaft. In den 60er bis 80er Jahren des 20. Jh. 10 11 12 13
Schimmel, Summary. Gladigow, Gegenstände. Seiwert, Religionen und Religion, 229. Greschat, Religionswissenschaftler.
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Andreas Feldtkeller
wurden insbesondere die Theorien von Clifford Geertz (1926 – 2006) zu einem leitenden Paradigma. Geertz definiert Religion als (1) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, daß (5) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen.14
Dabei fällt auf, dass Geertz hinsichtlich der inhaltlichen Füllung des Religionsbegriffs durchaus an einer zentralen Stellung des Gefühls festhält, das in seiner Definition durch den Begriff »Stimmungen« repräsentiert ist. Der methodische Zugriff zur Erforschung solcher Stimmungen ist jedoch bei Geertz ein völlig anderer, als er bei Rudolf Otto zu beobachten war : Während er Punkt für Punkt die Bestandteile seiner Religionsdefinition ausführlich erläutert, fasst Geertz »Stimmungen« und »Motivationen« mit Berufung auf Gilbert Ryle (1900 – 1976) unter den gemeinsamen Oberbegriff der Dispositionen. Wie er im weiteren Verlauf des Arguments deutlich macht, dient die Betrachtung von Stimmungen und Motivationen als Dispositionen genau dem Zweck methodischer Objektivität: Der Vorzug dieser Sichtweise liegt darin, daß sie das, was man gewöhnlich ›mentale Züge‹ oder […] ›psychologische Kräfte‹ nennt […], aus dem ganzen verschwommenen und unzugänglichen Bereich individueller Sinneswahrnehmungen herauslöst und in jene klare Welt des Beobachtbaren verlegt, in der die Zerbrechlichkeit von Glas, die Entzündbarkeit von Papier und […] Englands feuchtes Klima angesiedelt sind.15
Der Unterschied zwischen Stimmungen und Motivationen besteht bei Geertz – immer noch Ryle folgend – darin, daß letztere sozusagen vektorielle Qualitäten, erstere dagegen nur skalare sind. Motive sind gerichtet, sie benennen einen bestimmten allgemeinen Verlauf, streben bestimmte, gewöhnlich temporäre, Erfüllungen an. Stimmungen hingegen verändern sich nur in ihrer Intensität: sie sind auf nichts gerichtet. Sie entspringen bestimmten Situationen, verfolgen aber keinen Zweck. […] Wenn sie da sind, sind sie allumfassend: ist man traurig, so scheint alles und jedes düster ; ist man lustig, so scheint alles und jedes herrlich. Daher kann man zwar gleichzeitig eitel, tapfer, willensstark und eigenständig, nicht aber ausgelassen und teilnahmslos oder frohlockend und melancholisch sein.16
Bei der Beschreibung von Stimmungen wechselt Geertz unwillkürlich aus der Dritte-Person-Perspektive in die Erste-Person-Perspektive: Er führt nicht aus, 14 Geertz, Religion, 48. 15 A.a.O., 55. 16 A.a.O., 57 f.
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woran Stimmungen für einen außenstehenden Beobachter erkennbar sind, sondern er formuliert, wie sich bestimmte Stimmungen anfühlen, wenn man sich selbst in ihnen befindet. Daraus zieht er jedoch keine methodischen Konsequenzen – die These von den Dispositionen als dem zur »klare(n) Welt des Beobachtbaren« Gehörigen bleibt stehen, ohne in Bezug auf die Stimmungen noch einmal aufgegriffen und präzisiert zu werden.
2.
Humanwissenschaftliche Grundlagen
Seit der Abkehr der Religionswissenschaft von der Nutzung von Gefühlen als Ressource zur Erforschung von Religion hat sich der Forschungsstand zum Thema »Gefühl« in den Humanwissenschaften gravierend verändert. Es ist deshalb erforderlich, über den Stellenwert des Gefühls in einer empirisch forschenden Religionswissenschaft neu nachzudenken. Dabei kann es nicht darum gehen, Religionswissenschaft im Sinne Rudolf Ottos erneut zu einer Wissenschaft nur für Menschen zu machen, die religiöse Gefühle aus eigener Erfahrung kennen. In einer Welt, die zunehmend auf die gegenseitige Verständigung von religiösen und nicht-religiösen Menschen angewiesen ist, darf das Postulat einer allgemein für alle Menschen nachvollziehbaren religionswissenschaftlichen Methodik nicht erneut zur Disposition gestellt werden. Wenn man jedoch mit dem Auftreten von allgemein menschlichen Gefühlen in religiösen Zusammenhängen rechnet, die gerade nicht eine eigene, in sich abgeschlossene und auf das besondere »Objekt« der Religion bezogene Gefühlswelt darstellen, dann stellt sich die Frage, wie weit die allgemein menschliche Ressource »Gefühl« möglicherweise oder sogar notwendigerweise in die Erforschung von Religion mit einzubeziehen ist. Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als nach dem gegenwärtigen Forschungsstand in den Humanwissenschaften der Mensch nicht mehr als ein Lebewesen gelten kann, das grundsätzlich dazu in der Lage wäre, »objektive« Beobachtungen von eigenen Gefühlsempfindungen sauber zu trennen. Menschliche Wahrnehmung ist nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand das Ergebnis von komplexen Vorgängen der Analyse, Selektion, Synthese und Interpretation von Sinnesdaten, die im Nervensystem und im Gehirn vorgenommen werden und die zeitverzögert ins Bewusstsein gelangen.17 Für die Selektion des winzigen Bruchteils der Sinnesdaten, die überhaupt zu Bewusstsein gelangen, ist ein entscheidendes Kriterium der im Gehirn ständig mitlaufende Abgleich zwischen aktuellen Sinnesdaten und abgespeicherten 17 Roth, Sicht des Gehirns, 35 f.
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Erinnerungsbildern. Sinnliche Wahrnehmungen gelangen dann mit der höchsten Wahrscheinlichkeit zu Bewusstsein, wenn sie zwar eine Ähnlichkeit zu Erinnerungsbildern aufweisen, aber nicht mit ihnen identisch sind. Das völlig Bekannte wird vom Gehirn in der Regel nur unbewusst verarbeitet und auch das völlig Unbekannte gelangt schwer zu Bewusstsein, weil dem Gehirn die Grundlagen für seine Interpretation fehlen. Das nur teilweise Bekannte, auf das sich unser menschliches Bewusstsein konzentriert, erscheint uns jedoch nicht allein auf der Basis der aktuellen Sinnesdaten, sondern das Gehirn stellt eine Synthese mit den Erinnerungsbildern her, die zu der Einschätzung als ähnlich, aber nicht völlig bekannt geführt haben.18 Die vom Gehirn vorgenommenen Selektionen der Wahrnehmungen sind gleichzeitig der Ort, an dem massiv Gefühle mit ins Spiel kommen: Ein erheblicher Teil der menschlichen Emotionen entsteht dadurch, dass beim Abgleich mit der aktuellen Sinneswahrnehmung Erinnerungsbilder aufgerufen werden, mit denen die Erinnerung an eine angenehme oder eine unangenehme Erfahrung verbunden ist.19 Dabei ist es dann nicht so, dass eine emotionale Gestimmtheit als zusätzliche Komponente neben eine quasi wertfreie Wahrnehmung dessen, was der Fall ist, treten würde. Vielmehr gilt auch hier das Prinzip einer vom Gehirn erzeugten Synthese: In vielen Fällen ist die ausgelöste Emotion überhaupt der Grund dafür, warum mir dieser bestimmte Ausschnitt aus dem gegenwärtig sinnlich Wahrnehmbaren und nicht etwas anderes zu Bewusstsein kommt. Während des Zeitraums von 0,3 bis 0,6 Sekunden, der zwischen Sinnesreiz und Bewusstseinsinhalt vergeht, werden bereits von den emotionalen Zentren des Gehirns Botenstoffe oder bioelektrische Reize ausgelöst, die nicht nur eine Gefühlsempfindung hervorrufen, sondern auch die Wahrnehmungsfähigkeit und die körperliche Disposition verändern – manchmal gravierend. Teilweise wird die Wahrnehmung stark fokussiert auf das eine Objekt, das die Emotion ausgelöst hat, während vieles anderes ausgeblendet wird, was in einer Haltung der entspannten Neugier vielleicht noch wahrgenommen worden wäre. Bis der Auslöser zu Bewusstsein gelangt, ist er zu einer völlig anderen Wahrnehmung geworden, als er für einen anderen Menschen ohne die entsprechende Emotion hätte sein können.20 Die Auswirkungen dieser Zusammenhänge auf das menschliche Wahrnehmungsvermögen können nicht hoch genug eingeschätzt werden: Das menschliche Gehirn ist so verfasst, dass es vornehmlich diejenigen Sinneswahrnehmungen zu Bewusstsein bringt, die sich mit einer Erinnerung verknüpfen lassen, 18 A.a.O., 37 – 39. 19 Bauer, Gedächtnis, 37. 20 A.a.O., 35 – 40.
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und dabei nochmals diejenigen Erinnerungen bevorzugt, die eine emotionale Reaktion hervorrufen, und darunter noch einmal besonders die negativen emotionalen Reaktionen hervorhebt, d. h. die Erinnerungen an unangenehme Erfahrungen. Das bedeutet: Während ich in meinem Bewusstsein möglicherweise damit beschäftigt bin, eine möglichst »objektive« Beobachtung durchführen zu wollen, hat mein Gehirn eine völlig andere Agenda: Es interessiert sich vor allem für Ähnlichkeitsrelationen zu schon Bekanntem und lässt mich vieles schlichtweg übersehen, mit dem es nichts anfangen kann. Und mein Gehirn interessiert sich besonders für Wahrnehmungen, die eine emotionale Reaktion auslösen, weil sie an eine angenehme oder unangenehme Erfahrung erinnern. Bis zu diesem Punkt der Argumentation könnte man den Eindruck gewonnen haben, dass Gefühle die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit eigentlich nur beeinträchtigen und dass wir ohne sie wesentlich besser in der Lage wären, genau das wahrzunehmen, was sich in unserer Umgebung tatsächlich abspielt. Auf der anderen Seite lässt sich jedoch inzwischen ansatzweise neurowissenschaftlich verifizieren, dass mit den emotionalen Aspekten der Wahrnehmung untrennbar verbunden eine Fähigkeit auftritt, die herkömmlich mit dem Begriff der »Intuition« benannt wurde21 und die in neueren Diskursen auch als »emotionale Intelligenz« bezeichnet wird.22 So besteht vom Anliegen einer möglichst »objektiven« Beobachtung aus betrachtet der Nachteil von Emotionen darin, dass sie menschliche Wahrnehmungen für subjektiv bedingte Selektionen anfällig machen, aber ihr Vorteil liegt darin, dass sie die menschliche Fähigkeit zur Erfassung von Wahrnehmungen beschleunigen und es Beobachtenden dadurch ein gutes Stück weit erst ermöglichen, mit dem Ablauf der Ereignisse Schritt zu halten. Der entscheidende Vorteil des emotionalen Systems für die menschliche Wirklichkeitswahrnehmung liegt darin, dass es im Prozess der Signalverarbeitung durch das Gehirn an einer deutlich früheren Stelle platziert ist als die Instanz des Bewusstseins – und vielleicht noch wichtiger ist, dass das emotionale System auf erheblich mehr Sinnesdaten Zugriff hat, als sie dann tatsächlich zu Bewusstsein gelangen. Unser Gefühl mag also in vielen Fällen dadurch getrübt sein, dass es sich eigentlich auf Erinnerungen bezieht und nicht auf die aktuelle Situation, aber in vielen anderen Fällen liegt es genau richtig, weil es in seiner Einschätzung Daten verarbeitet, die dem auf das Bewusstsein angewiesenen Verstand gar nicht zugänglich werden.23 Was mögliche Chancen zu einer Verfeinerung des Instrumentariums der 21 Gigerenzer, Bauchentscheidungen. 22 Bauer, Gedächtnis, 35 f. 23 Damasio, Ich fühle, 57 f.
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Beobachtung im zwischenmenschlichen Bereich anbelangt, sind nun noch insbesondere zwei Diskurse der Neurowissenschaften hervorzuheben: zum einen die Entdeckung der »Spiegelneurone«, zum anderen die Erforschung der menschlichen »Motivationssysteme«. Das Team des italienischen Neurophysiologen Giacomo Rizzolatti entdeckte 1995 bei der Erforschung neuronaler Verschaltungen für Handlungsmuster in Gehirnen von Affen zufällig, dass es Neuronen gibt, die auf ganz bestimmten Handlungen spezialisiert sind, die aber auf diese Handlungen ansprechen unabhängig davon, ob sie von dem betreffenden Tier selbst ausgeführt werden oder bei einem Artgenossen bzw. Artverwandten beobachtet werden.24 Diese Art von Neuronen wird als »Spiegelneurone« bezeichnet, weil sie den Zusammenhang herstellt zwischen eigenen Handlungen und parallelen Handlungen von Artgenossen. Spiegelneurone sind offensichtlich Teil eines neuronalen Erkennungssystems für Artgenossen bzw. Artverwandte und den gemeinsamen Handlungsraum, den man mit ihnen teilt. Inzwischen ist nachgewiesen, dass es das System der Spiegelneurone genauso bei Menschen gibt25 und dass es eine entscheidende Schlüsselrolle für die neuronale Organisation des Raumes von zwischenmenschlicher Kommunikation spielt.26 Eine sehr entscheidende Funktion menschlicher Spiegelneurone besteht darin, dass sie die Spiegelung von Gefühlen ermöglichen: Ein Gesichtsausdruck, eine Körperhaltung, eine Situation oder eine Handlung wird neuronal verknüpft mit dem Gefühl, das dabei auftritt, und dadurch wird dasselbe Gefühl auch hervorgerufen, wenn der betreffende Ausdruck oder die betreffende Handlung bei anderen Menschen beobachtet wird.27 Spiegelneurone schaffen so eine Erfahrung zwischenmenschlichen Mitgefühls, die durch sinnlich vermittelte Wahrnehmung allein niemals hergestellt werden könnte.28 Eine noch jüngere Entdeckung als die Spiegelneurone, nachgewiesen durch eine Serie von teilweise überaus aufwendigen Untersuchungen, ist die Entschlüsselung der »Motivationssysteme« im menschlichen Gehirn und im Gehirn von Säugetieren, die positive Gefühle erzeugen und damit offenbar einen bestimmten Zweck in der Organisation von menschlichem Leben verfolgen. Gefunden wurden diese Systeme auf der Suche nach der Ursache von Suchtkrankheiten über die Entdeckung, dass nur solche Stoffe süchtig machen können, die eine sofortige Wirkung auf eines der Motivationssysteme im Gehirn
24 25 26 27 28
Rizzolatti/Sinigaglia, Empathie, 93 f. A.a.O., 122 – 143. A.a.O., 144 – 173. A.a.O., 174 – 192. Bauer, Menschlichkeit, 72 f.
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haben und die damit das System umlenken auf das Ziel, diesen einen Stoff wieder zu bekommen. Die Frage der weiteren Forschung war nun, worauf diese Motivationssysteme eigentlich natürlicherweise gerichtet sind, wenn sie nicht korrumpiert werden. Vor dem Hintergrund der in der sogenannten »Soziobiologie« jahrzehntelang dominierenden Hypothese von der biologischen Veranlagung des Menschen zum Kampf gegen andere Menschen war das Ergebnis genauso eindeutig wie überraschend: Alle Ziele, die wir im Rahmen unseres normalen Alltags verfolgen […] haben aus der Sicht unseres Gehirns ihren tiefen, uns meist unbewussten ›Sinn‹ dadurch, dass wir damit letztlich auf zwischenmenschliche Beziehung zielen, das heißt, diese erwerben oder erhalten wollen. Das Bemühen des Menschen, als Person gesehen zu werden, steht noch über dem, was landläufig als Selbsterhaltungstrieb bezeichnet wird.29
Die beiden amerikanischen Neurophysiologen Thomas Insel und Russell Fernald haben für diesen Sachverhalt den Begriff des »social brain« geprägt.30 Die Motivationssysteme verwenden in erster Linie drei Botenstoffe, durch die weitere Reaktionen im Gehirn und im Körper ausgelöst werden: Während Oxytozin die Motivation speziell gegenüber Menschen verstärkt, mit denen bereits positive soziale Erfahrungen gemacht wurden, rufen Dopamin und endogene Opioide eine Art Basismotivation für soziale Beziehungen hervor unabhängig davon, ob mit genau diesen Menschen bereits positive Erfahrungen gemacht wurden.31 Die Motivationssysteme springen immer dann an, wenn die Chance auf soziale Zuwendung besteht, und sie schalten ab, wenn das Gegenteil der Fall ist.32 Dauerhaft gestörte Beziehungen oder der vollständige Verlust tragender Bindungen können einen »Absturz« der Motivationssysteme zur Folge haben.33
3.
Folgerungen für die teilnehmende Beobachtung von Religion
Wenn man die dargestellten Diskurse und Theorien neurowissenschaftlicher Forschung auf ihre Konsequenzen für die Praxis teilnehmender Beobachtung von Religionsgemeinschaften hin auswertet, ergeben sich folgende Gesichtspunkte:
29 30 31 32 33
A.a.O., 39. Insel/Fernald, How the brain, 697. Bauer, Menschlichkeit, 49. A.a.O., 37. A.a.O., 64.
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Zunächst sollte deutlich geworden sein, dass die Unterstellung einer weitreichenden Befähigung menschlicher Beobachter zur »objektiven« Wahrnehmung ihrer Umgebung spätestens heute nicht mehr als wissenschaftlich begründbare Basis für empirische Forschungen gelten kann. Menschliche Wahrnehmungen verändern sich nachweislich u. a. in Abhängigkeit von der Gefühlslage. Deshalb ist es ein unerlässliches Erfordernis möglichst sauberer empirischer Beobachtung, sich über die gegenwärtige eigene emotionale Gestimmtheit regelmäßig Rechenschaft abzulegen, um ihre möglichen Auswirkungen auf die Wahrnehmung realistisch einschätzen zu können. Dabei gilt es zu unterscheiden, in welchem Verhältnis die Gefühle, die sich während der Beobachtung einer Religionsgemeinschaft einstellen, zur gerade beobachteten Situation stehen. Die vorgestellten neurowissenschaftlichen Diskurse legen hier unterschiedliche Möglichkeiten nahe: - Ein Gefühl kann dadurch ausgelöst werden, dass irgendein Aspekt der aktuellen Beobachtung sich mit einer Erinnerung verknüpft, die emotional negativ oder positiv besetzt ist. In diesem Fall sagt das Gefühl zunächst nur etwas über die beobachtende Person und ihre Geschichte aus, hat aber nichts mit dem tatsächlichen aktuellen Geschehen zu tun. - Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass ein Gefühl ausgelöst wurde durch einen Aspekt oder einen Zusammenhang in der großen Flut von sinnlichen Wahrnehmungsdaten, die zwar im Gehirn verarbeitet werden, aber nicht zu Bewusstsein gelangen. Das Gefühl wäre dann im Sinne einer Intuition zu interpretieren. Soweit es sich dabei um einen schnell vorübergehenden Auslöser handelt, wird sich der Hintergrund der Intuition nicht aufklären lassen – oder allenfalls durch wiederholte Beobachtung desselben Vorgangs. Soweit jedoch der Auslöser von Dauer ist, wenn es sich also beispielsweise um einen Aspekt der Raumgestaltung handelt oder um eine länger anhaltende Handlung, wird in vielen Fällen die Gelegenheit bestehen, der Intuition auf den Grund zu gehen und sich von dem aufgetretenen Gefühl leiten zu lassen bei der bewussten Suche nach einem Aspekt der wahrnehmbaren Umgebung, der das Gefühl ausgelöst hat. Dabei kann es sich vielleicht um eine Farbwahrnehmung handeln, die vorher noch nicht zu Bewusstsein gelangt ist, um die Art des Lichteinfalls, um einen spezifischen Geruch oder einen besonderen Klang. Eine Intuition kann in solchen Fällen zum Schlüssel dazu werden, genauer hinzusehen oder mehr Sinne einzubeziehen und sich dadurch einer reicheren Wahrnehmung des Vorhandenen zu öffnen. - Sodann besteht die Möglichkeit, dass sich in der beobachtenden Person ein Gefühl einstellt, weil eine oder mehrere der beobachteten Personen dieses Gefühl auch empfinden. Die Entdeckung der Spiegelneuronen gibt dieser Möglichkeit neue und zusätzliche Plausibilität, die auch vor den Anforderungen eines modernen Wissenschaftsverständnisses bestehen kann. Sie er-
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laubt uns, neben der sorgfältigen Prüfung der anderen genannten Möglichkeiten durchaus auch damit zu rechnen, dass eigene Gefühle mehr oder weniger unmittelbaren Aufschluss auf die Gefühle anderer Menschen geben können, d. h. Ausdruck von Empathie sein können. Die bisher verfügbaren Erkenntnisse über die Wirkungsweise von Spiegelneuronen legen es nahe, auch diese Möglichkeit als eine Einladung zu genauerem Hinsehen zu betrachten: Nach der Theorie der Spiegelneuronen übertragen sich Stimmungen von Mensch zu Mensch nicht durch irgendwelche emotionalen »Schwingungen«, die in der Luft liegen würden, sondern durch eine wesentlich feinere Beobachtung von Gesichtszügen, Körperhaltung und vermutlich auch Qualitäten der Stimme, als sie normalerweise zu Bewusstsein gelangt. Wenn sich also während einer teilnehmenden Beobachtung Gefühle einstellen, dann kann es sich lohnen, genauer auf die Körpersprache der beobachteten Personen zu achten, und dadurch die Anhaltspunkte dafür zu verifizieren, dass es sich tatsächlich um eine Beobachtung von Gefühlen dieser Menschen handelt. - Sofern es sich bei der Beobachtung um eine teilnehmende Beobachtung im engeren Sinne handelt, bei der die beobachtende Person körperlich die beobachteten Handlungen selbst mit vollzieht, gibt es noch eine weitere, mit der zuletzt genannten eng verwandte Möglichkeit: Es ist heute nachgewiesen, dass sich nicht nur Stimmungen auf Körperhaltung und Mimik auswirken, sondern auch umgekehrt Körperhaltung und Mimik Auswirkungen auf die Stimmung haben.34 Von daher kann ein Gefühl, dass sich während des Vollzugs einer körperlichen Handlung im Rahmen von teilnehmender Beobachtung einstellt, auch Aufschluss darüber geben, dass dieses Gefühl möglicherweise eine häufiger auftretende Wirkung der betreffenden Körperhaltung ist. - Die möglichen Wirkungen der oben beschriebenen »Motivationssysteme« liegen quer zu den verschiedenen bisher genannten Möglichkeiten. Sie können sowohl in Form von Gefühlen auftreten, die nur etwas mit der beobachtenden Person und ihrer Geschichte zu tun haben, als auch einen Aufschluss über die Empfindungen der beobachteten Menschen geben. Die Wirksamkeit der Motivationssysteme zeigt sich in Gefühlen, die sich speziell auf die Beziehung zu den beobachteten Menschen richten: Empfindungen von Sympathie, spontanem Vertrauen und dem Wunsch nach Zugehörigkeit zu der beobachteten Gemeinschaft sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Motivationssysteme im Gehirn des Beobachters angesprochen wurden. Dies kann aber durchaus bereits eine Reaktion darauf sein, dass auch bei den Menschen der beobachteten Gemeinschaft eine Wirksamkeit der Motivati34 Storch, Embodiment.
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onssysteme sichtbar geworden ist. Entsprechendes gilt für Empfindungen des Abgestoßen-Seins oder der Isolation, die sich während der Beobachtung einstellen: Auch sie können sowohl eine subjektive negative Reaktion in den Motivationssystemen der beobachtenden Person sein, als auch Aufschluss über die Gefühlslage und die fehlende Gemeinschaftsqualität der beobachteten Menschen geben. In der Aufstellung der genannten Möglichkeiten, wie Gefühle während der teilnehmenden Beobachtung relevant werden können, zeigt sich eine erhebliche Komplexität des Sachverhalts. Es geht deshalb nicht darum, bei der teilnehmenden Beobachtung von Religion einfach »aus dem Bauch heraus« eigene Gefühle mit zu beobachten und daraus Rückschlüsse auf das beobachtete religiöse Geschehen zu ziehen. Vielmehr setzt die sinnvolle Verwendung dieses zusätzlichen Instruments der Beobachtung erhebliche Kenntnisse voraus über die Funktionsweise des menschlichen Wahrnehmungssystems und über die Rolle der Emotionen in der menschlichen Wahrnehmung. Dies gilt aber auch bereits für die weiter oben formulierte Mindestanforderung an eine ernstzunehmende empirische Forschung durch teilnehmende Beobachtung, nämlich die kontinuierliche Aufmerksamkeit für eigene Gefühle zum Selbstschutz vor den dadurch möglicherweise ausgelösten Wahrnehmungsverzerrungen. Darüber hinaus verlangt es beträchtliche Übung, mit diesem Instrument umgehen zu können. Die wissenschaftliche Kultur westlicher Gesellschaften hat in den vergangenen Jahrzehnten weithin das konsequente Nicht-Beachten von eigenen Gefühlen in der wissenschaftlichen Beobachtung gelehrt. Dies verbindet sich regional unterschiedlich, aber doch weit verbreitet mit Merkmalen einer Alltagskultur, die der Fähigkeit zur genauen Wahrnehmung und präzisen Benennung von Gefühlen in der Regel keinerlei Wert beigemessen hat und die insbesondere den männlichen Nachwuchs von Kindheit an konsequent entmutigt hat, eigenen Gefühlen Ausdruck zu geben. Wie ebenfalls den Ergebnissen der neurowissenschaftlichen Forschung aus den vergangenen Jahrzehnten zu entnehmen ist, sind geistige und seelische Fähigkeiten des Menschen wie z. B. die differenzierte Wahrnehmung von Gefühlen nicht einfach im menschlichen Gehirn angelegt als eine Ressource, auf die wir jederzeit zurückgreifen können, auch wenn wir sie noch nie zuvor genutzt haben sollten, sondern das menschliche Gehirn entwickelt sich nur im Hinblick auf Fähigkeiten, die auch tatsächlich benutzt werden, während unbenutzte Anlagen verkümmern. Der unschätzbare Vorteil des menschlichen Gehirns gegenüber dem Gehirn anderer höherer Lebewesen liegt darin, dass es die Plastizität besitzt, während des ganzen Lebens noch Gehirnareale neu ausbauen und
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verstärken zu können, die zuvor vernachlässigt waren.35 Dennoch ist es ein Prozess, der viel Zeit und Geduld braucht, auf der Basis eines zuvor nur schwach ausgeprägten Gehirnareals eine Fähigkeit durch Übung neu aufzubauen und währenddessen die dafür erforderliche Zentrale des Gehirns erst nach und nach zu verfeinern und zu vergrößern. Von daher muss man sich im Klaren darüber sein, was es verlangt, nun aufgrund der neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse erneut Gefühle in die wissenschaftliche Beobachtung einbeziehen zu wollen: Es ist erforderlich, je nach individueller Begabung und bereits vorhandener Übung die Wahrnehmung von eigenen Gefühlen möglicherweise fast von Grund auf neu zu erlernen36 und sich einen Wortschatz für die differenzierte Benennung von Gefühlen anzueignen.37 Darauf aufbauend gilt es, auf der Basis der wissenschaftlichen Kenntnisse über die Entstehung von Gefühlen unterscheiden zu lernen, welche Gefühlswahrnehmungen sich auf die eigene Person und ihre Erinnerungen beziehen, und welche Gefühle durch die Wahrnehmung von Gegenständen und Personen in der Umgebung ausgelöst werden und dabei möglicherweise ein authentischer, empathischer Nachvollzug von Gefühlen sind, die zur beobachteten Religionsgemeinschaft gehören und in ihr auftreten. Im religionshermeneutischen Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin haben wir seit einigen Jahren damit begonnen, genau diese Aspekte in das Erlernen der teilnehmenden Beobachtung mit einzubeziehen, aber es versteht sich, dass dies aufzubauen ein längerer Prozess ist, der mühsam und rudimentär bleibt, solange das Training einer differenzierten Gefühlswahrnehmung und das Erlernen eines umfangreichen Gefühlswortschatzes nicht flächendeckend mit zum Bildungskanon der Schulen gehören. Eine erste Übung, die dazu dient, das Problembewusstsein der Studierenden zu wecken, besteht darin, ungefähr 15 Sekunden lang ein an die Wand projiziertes Bild zu betrachten, das einen Hintergrund in einer den Studierenden nicht oder wenig vertrauten Religion hat. Bewährt dafür hat sich beispielsweise ein neoromantisches Gemälde aus Indien, das Krishna mit seiner Gespielin Radha und weiteren Hirtinnen in einer lieblichen Landschaft zeigt. Vor der Projektion des Bildes wird den Studierenden die Aufgabe gegeben, ihre Wahrnehmung beim Betrachten des Bildes nicht nach außen zu richten auf die Frage, was das Bild zeigt, sondern nach innen hin zu beobachten, welche Wahrnehmungen, Gefühle oder Gedanken sich als erste einstellen, wenn das Bild erscheint. 35 Hüther, Bedienungsanleitung, 53 – 61. 36 A.a.O., 86 – 89. 37 Für Beispiele eines umfangreichen Gefühlswortschatzes siehe Wilke. Einfühlsame Kommunikation; Psztor/Gens, Ich höre was, 88 – 90.
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Die Auswertung dieser Übung zeigt regelmäßig, dass das Spektrum der beobachteten Stimmungen und emotionalen Reaktionen innerhalb einer Gruppe von 15 – 30 Studierenden eine ganz erhebliche Streuung aufweist. Nicht selten reicht es von einem deutlichen Abgestoßen-Sein bis zu einem feinen BerührtSein durch die dargestellte Szene. Aus der Unterschiedlichkeit ihrer Reaktionen lernen die Studierenden zunächst, dass ein nicht-wertendes Sehen sich in religiösen Zusammenhängen nicht von selbst einstellt, sondern dass wir es in aller Regel erst einmal mit einer emotionalen Reaktion zu tun bekommen, und dass diese Reaktionen höchst subjektiv sind. So werden die Studierenden durch diese Übung bereit zu der Einsicht, dass ein möglichst »objektives« Sehen nur in einem zweiten Schritt geschehen kann, indem die eigene emotionale Reaktion identifiziert wird und eine Distanz dazu hergestellt wird. Zugleich zeigt sich in der beschriebenen Übung fast ebenso regelmäßig, dass bei einzelnen Studierenden als erste Reaktion eine Emotion auftritt, für die sich bei näherem Hinsehen identifizieren lässt, dass sie in der Mimik und Körpersprache der dargestellten Personen eine intersubjektiv nachvollziehbare Grundlage hat. Das bedeutet: Es ist zwar ohne weitere Übung nicht besonders wahrscheinlich, aber es ist immerhin möglich, dass bereits die erste Reaktion innerhalb der ersten Sekunden eines neuen und unbekannten Sinneseindrucks eine empathische Reaktion ist, d. h. dass eine Stimmung aus der Szene aufgegriffen wird, was sich neurowissenschaftlich als Wirkung von Spiegelneuronen interpretieren lässt. Wenn Studierende bei einer Bildbetrachtung im Seminarraum miterleben, dass es spontane Wahrnehmungen gibt, deren Zusammenhang mit der dargestellten Mimik und Körpersprache sie selbst zu rekonstruieren in der Lage sind, erhöht dies ihre Bereitschaft, auch in der Feldforschung mit lebenden Religionsgemeinschaften damit zu rechnen, dass empathische Reaktionen auftreten können, die sich anhand von körpersprachlichen Merkmalen verifizieren lassen. Die Übung an der Beobachtung von eigenen emotionalen Reaktionen wird dann im Unterricht schrittweise verfeinert, zunächst anhand der Betrachtung einer Videoaufzeichnung und dann auch durch erste Praxiserfahrungen mit der teilnehmenden Beobachtung bei Religionsgemeinschaften. Verbunden wird dies mit der Vermittlung von theoretischen Kenntnissen, die dabei helfen sollen, die Unterscheidung zwischen emotionalen Reaktionen, die in der eigenen Person begründet sind, und Gefühlen, die im »Feld« beobachtet werden können, auf eine zunehmend nachprüfbare Grundlage zu stellen. Eingeschlossen ist darin eine elementare Einführung in Grundlagen neurowissenschaftlicher Diskurse zur menschlichen Wahrnehmung. Die entscheidenden Gesichtspunkte bei all diesem Üben bleiben immer, einerseits durch Verfeinerung der Beobachtungsgabe immer besser zwischen eigenen und fremden Gefühlen unterscheiden
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zu können, und andererseits wahrnehmungs- und sprachfähig zu werden für die Beschreibung unterschiedlicher Gefühlsqualitäten. All das bis hierher Ausgeführte hat nun als solches noch keinen Erkenntniswert für die inhaltliche Beschreibung von Religion. Es bietet zunächst die methodische Grundlage dafür, dass in einer verfahrensmäßig besser gesicherten Weise und damit auch intersubjektiv mit nicht-religiösen Menschen diskutierbar das Thema in veränderter Form wieder neu aufgegriffen werden kann, für das sich Friedrich Schleiermacher und Rudolf Otto vor allem anderen interessiert haben: welche Rolle nämlich das Gefühl für Religion spielt. Weitere Forschungen in den hier nur ansatzweise beschriebenen Bahnen lassen erwarten, dass dabei Beobachtungen gemacht werden können, die insbesondere mit den neurowissenschaftlichen Entdeckungen und Theorien über die menschlichen Motivationssysteme ins Gespräch zu bringen wären: Handlungen und Prozesse in Religionsgemeinschaften haben zweifellos ein Potential dazu, die menschlichen Motivationssysteme positiv anzusprechen, indem sie zwischenmenschliche Gemeinschaft in Aussicht stellen, erfahrbar machen und auf eine Vertrauensbasis stellen. Genauso außer Zweifel steht, dass solche Wirkungen in Religionsgemeinschaften nicht automatisch eintreten, sondern dass inmitten von religiösen Handlungen auch Frustrationen der auf zwischenmenschliche Beziehungen gerichteten Motivationssysteme zu beobachten sein werden bis hin zur Erfahrung der Vereinsamung. Für manche religiöse Gemeinschaften wird außerdem die Frage zu untersuchen sein, wie die emotionalen Systeme des Menschen in Beziehung treten können zur Referenz auf eine außermenschliche »Person«, die zwar nicht unmittelbar sinnlich erfahrbar wird, aber die in Kultus und Gebet doch als Person angesprochen wird. Dabei versteht sich, dass es nicht darum gehen kann, »Gott« erneut zum Gegenstand der Religionswissenschaft zu machen, so wie das zuletzt bei Joachim Wach und seinen Zeitgenossen der Fall war. Sehr wohl aber sind menschliche Zeichen- und Bedeutungssysteme Gegenstand der Religionswissenschaft, in denen eine göttliche Wirklichkeit angenommen wird und in denen eine Kommunikation mit ihr aus der Sicht der Beteiligten aufgenommen wird. Zum Gegenstand der Religionswissenschaft kann und sollte dann auch werden, wie die emotionalen Systeme des Menschen sich gegenüber einer solchen Kommunikation verhalten.
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Jörg Herrmann
Zuflucht für die Seele. Über Kino, Gefühl und Religion
1.
Einstimmung
Wer ins Kino geht, möchte nicht nur sehen und hören, sondern vor allem auch fühlen. Der Wunsch, Emotionen zu erleben, gilt als zentrales Motiv für die Rezeption von Filmen. Dass das Kino diesen Wunsch erfüllen kann, bestätigt nicht zuletzt ein Blick in die Filmgeschichte, die von vielfältigen Bezeugungen des Zuschauergefühls begleitet ist. Sie reichen von dem vielzitierten Tagebucheintrag Franz Kafkas vom 20. November 1913 (»Im Kino gewesen, geweint.«)1 bis hin zu dem Lachen oder Weinen, wie es durch Filme wie Chaplins »City Lights«, »Monty Python’s Life of Brian« oder »Titanic« ausgelöst wurde und wird. »Keine andere Kunstform produziert so intensive und vielfältige Gefühlsreaktionen wie das Kino«, schreiben Margrit Tröhler und Vinzenz Hediger in der Einleitung ihres 2005 erschienen Sammelbands »Kinogefühle. Emotionalität und Film« und stellen fest: »Gleichwohl ist das Gefühlsleben der Zuschauerinnen und Zuschauer erst seit kurzem ein zentrales Thema in der filmwissenschaftlichen Theoriebildung.«2 Die Aktualität der Gefühlsthematik in den Film- und Medienwissenschaften steht dabei im Kontext einer generellen Konjunktur des wissenschaftlichen Diskurses über Gefühle seit den 1990er Jahren und verstärkt noch seit der Jahrtausendwende.3 Galten Gefühle sowohl in der Psychologie wie auch in der Philosophie lange Zeit als irrationale Kräfte, subjektiv und nicht beobachtbar, so wird seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Rationalität des Gefühls entdeckt.4 In den Feldern Psychologie, Philosophie und Medienwissenschaften wird der aktuelle Gefühlsdiskurs dabei sehr stark vom sogenannten Kognitivismus bestimmt, einer Betrachtungsweise, für die Gefühle auf konstitutive 1 2 3 4
Zitiert nach Koebner, Begreifen, 65. Tröhler/Hediger, Ohne Gefühl, 7. Vgl. Hartmann, Gefühle; Anz, Emotional Turn. Broad, Emotions; Sousa, Rationalität.
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Weise mit Urteilen, Wertungen und Überzeugungen verbunden sind. Neben und über diesen Schwerpunkt hinaus zeigt die gegenwärtige Gefühlskonjunktur insgesamt ein vielfältiges Bild und erweist sich als ein transdisziplinärer Trend, der auch in der Soziologie, der Philosophie, den Geschichtswissenschaften und nicht zuletzt in den Neurowissenschaften beobachtet werden kann.5 Gefühle bzw. Emotionen (beide Begriffe werden im Gefühlsdiskurs zumeist synonym verwendet) sind generell als eine eigenständige Kategorie des Mentalen in den Blick gekommen, als basale Faktoren bewussten Lebens, ohne die die Genese von Bewertungen und Handlungen nicht erklärt, verstanden und beschrieben werden kann. Inzwischen scheint dieser »Emotional Turn« mit ein wenig Verspätung auch in der Theologie angekommen. Vor diesem Hintergrund ist also im Blick auf den Zusammenhang von Kino, Gefühl und Religion an dieser Stelle zu fragen: Umfasst das Spektrum der Zuschauergefühle auch religiöse Gefühle? Zwei Indizien, die dafür sprechen: Von einem unerwarteten Glücksgefühl überwältigt verlasse ich das Kino und laufe desorientiert und zugleich wie befreit durch das nächtliche Soho. Das also meinen die Griechen, wenn sie von Katharsis sprechen. Die Wirklichkeit sieht plötzlich anders aus, klarer, vielschichtiger, lebendiger,
schreibt Herbert Grieshop in der sonntäglichen Kolumne des Berliner »Tagesspiegel« unter der Überschrift »Wo ist Gott?« über seine Kino-Erfahrung mit Thomas Vinterbergs Dogma-Film »Das Fest« (1998).6 Er fährt fort: Und wo ist Gott? Oft gerade da, wo man ihn nicht sucht. Manchmal sogar im Kino. Dann wenn es einem Film gelingt, uns zu entlassen mit einer neuen Begeisterung für die Welt. Wenn man aus der Dunkelheit ins Freie tritt mit dem Gefühl, sich wieder in das Leben mit all seinen Konflikten und Spannungen verliebt zu haben.
Am Vormittag war der Autor der Kolumne in einem Gottesdienst gewesen. Eine »Enttäuschung«, wie er vermerkt. Noch expliziter beschreibt ein junger Leser meiner Interpretation des Films »American Beauty« seine religiösen Gefühlserfahrungen mit dem Film: Wer war dieser unbekannte Sam Mendes, dass er es vermochte, mich mit so starken religiösen Empfindungen zu überwältigen? Ich fühlte mich erleuchtet, als ich nach ›American Beauty‹ den Kinosaal verließ. Ich stand später mit meiner ›American Beauty‹-Erkenntnis übrigens ziemlich alleine da. Die kinobegeisterten Mitschüler waren überzeugt, nichts weiter als eine ganz gut gelungene Satire gesehen zu haben.7
5 Vgl. Hartmann, Gefühle, 17 ff.; Döring, Philosophie der Gefühle, 12 ff. 6 Grieshop, Wo ist Gott. 7 Die Leserzuschrift reagierte auf einen Artikel in der NZZ: Herrmann, Ekstasen; Interpretationen des Films hatte ich zuvor schon geäußert in: Herrmann, Liebe; Ders., Religionskultur.
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Zuflucht für die Seele. Über Kino, Gefühl und Religion
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Es ist mit der Religion des Kinos wie mit der Kunst: Sie entsteht im Auge des Betrachters. Der Hauptzweck des Kinos ist sicher nicht die religiöse Erfahrung. Aber das Kino kann zu einem Ort religiöser Erfahrung und damit auch des religiösen Gefühls werden. Es kann uns erschüttern, verändern und mit neuem Mut und geschärften Sinnen in die Welt entlassen. Das Kino hat eine religiöse Gefühlsdimension.
2.
Gefühl und Religion
Um die Frage religiöser Kinogefühle angemessen erörtern zu können, empfiehlt sich eine religionskulturelle und religionstheoretische Zwischenüberlegung.8 Dabei fällt zunächst ein Widerspruch auf: Lässt sich in den Felder religiöser Praxis eine starke Präsenz des Emotionalen beobachten (ich denke dabei u. a. an das charismatisch-pfingstlerische Christentum, an die Trauerfeier für Papst Johannes Paul II., an den Spiritualitätstrends und nicht zuletzt an die fundamentalistischen Strömungen), ist die aktuelle Religionstheorie sowohl im Bereich der Religionssoziologie und Religionswissenschaft (T. Luckmann, N. Luhmann, D. Pollack) als auch im Bereich der protestantischen Theologie und Religionsphilosophie (W. Gräb, W. Steck, U. Barth) sehr stark am Paradigma von Text und Deutung orientiert. Sie fasst Religion mehrheitlich als deutende Bearbeitung menschlicher Sinn- und Kontingenzprobleme. Die emotionalen, performativen und sozialen Dimensionen des Religiösen bleiben in diesen Theorieansätzen marginal. Die in den für die moderne Religionstheorie grundlegenden Überlegungen Schleiermachers noch sehr präsente Bedeutung des Gefühls für die Religion, die bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein bei Autoren wie William James, Rudolf Otto und Paul Tillich noch eine große Rolle spielt, ist in den spätmodernen Religionstheorien unter dem Einfluss des Lingustic Turn offensichtlich verblasst und aus dem Blick geraten. Vor diesem Hintergrund fordert der aktuelle religionstheoretische Diskurs zu einer Reintegration der Bedeutung des Gefühls für die Theorie religiöser Erfahrung und Praxis heraus. Dazu kann eine Erinnerung an Schleiermacher beitragen. Es war schließlich Friedrich Schleiermacher, der das Gefühl zum entscheidenden Merkmal von Religion erklärte. Mit Kant wendete sich Schleiermacher gegen die aufklärerische Identifikation von Metaphysik und Religion, gegen Kant lehnte er aber auch die Identifikation von Religion und Moral ab. In seinen »Reden über die Religion« charakterisiert Schleiermacher die Religion als notwendig zum Menschen gehörendes Phänomen eigener Art: »Ihr Wesen ist weder Denken 8 Vgl. dazu meine ausführlicheren Überlegungen im Online-Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik: Herrmann, Gefühl.
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noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.«9 In seiner Glaubenslehre qualifiziert er dieses Gefühl später als »schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl«.10 Es geht bei diesem Gefühl um die Wahrnehmung des Sichgegebenseins, oder, wie Schleiermacher auch sagt, des »Sichselbstnichtsogesetzthabens«.11 Basis der Religion bildet in dieser Perspektive eine spezifische Gefühlserfahrung, die sich im Kontext des Christentums in christlich-religiösen Symbolisierungen artikuliert. Was dieses Gefühl auszeichnet, verdeutlicht Schleiermacher im vierten Paragraphen seiner Glaubenslehre: »Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen andern Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, dass wir uns unser selbst als schlechthin abhängig bewusst sind, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewusst sind.«12 Im Zuge seiner weiteren Erläuterung dieser Bestimmung führt Schleiermacher aus: Wenn aber schlechthinnige Abhängigkeit und Beziehung mit Gott in unserm Satze gleichgestellt wird: so ist dies so zu verstehen, dass eben das in diesem Selbstbewusstsein mitgesetzte Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins durch den Ausdruck Gott bezeichnet werden soll, und dieses für uns die wahrhaft ursprüngliche.13
Der Ausdruck »Gott« ist mithin eine Interpretation einer gefühlsbestimmten Wahrnehmung. In Schleiermachers Konzeption des Zusammenhangs von Gefühl und Religion könnte man drei Komponenten unterscheiden: eine Gefühlskomponente (Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit), eine mit dieser Komponente schon verschränkte Deutungs- bzw. Reflexionskomponente (Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit und Endlichkeit), eine auf die Sprache der Tradition rekurrierende Deutungskomponente (Gott). Die Konzeption beinhaltet schon spätere Konzeptualisierungen von religiöser Erfahrung als Synthese von Erleben und Deutung14 und verweist auch schon auf die für den Zusammenhang von Gefühl und Religion zentrale und noch weiter klärungsbedürftige Fragestellung: nämlich auf die Frage nach einer angemessenen theoretischen Beschreibung des Verhältnisses von Emotion und Kognition, Erleben und Deuten, Gefühl und Interpretation im Kontext religiöser Erfahrung. Vor dem Hintergrund von Schleiermachers Ausführungen kann die Hypothese festgehalten werden, dass das religiöse Gefühl immer schon ein in spezifischer 9 Schleiermacher, Über die Religion, 35. 10 Ders., Der christliche Glaube, 26 ff. Auf die Differenzen der Gefühlsbestimmungen in der Glaubenslehre und den Reden kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. 11 A.a.O., 24. 12 A.a.O., 23. 13 A.a.O., 28 f. 14 Vgl. Jung, Erfahrung.
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Weise reflexiv imprägniertes Gefühl ist: ein Gefühl mit Gefühlen, ein »Gefühl zweiter Ordnung«.15
3.
Gefühl und Film
Anders als in der Religionstheorie ist die Frage nach der Bedeutung des Gefühls im Bereich der Medienwissenschaften in den letzten Jahren zu einem zentralen Diskussionsthema geworden.16 Auch in diesem Diskursfeld dominieren kognitivistische Perspektiven und damit die Betonung der engen Verschränkung von Gefühlen und Deutungen, Emotionen und Kognitionen. Der Filmwissenschaftler Jens Eder schreibt: Eine Emotion (ein Gefühl) ist ein vielschichtiger psychophysischer Prozess, in dem sich Reizwahrnehmungen und Körperreaktionen miteinander verbinden und meist auch mit weiteren Kognitionen und Verhaltenstendenzen teils expressiver Art einhergehen, was dann als ein Ganzes mit einer bestimmten Valenz erlebt wird. Emotionen können demnach sowohl durch bewusste als auch durch unbewusste Prozesse hervorgerufen werden. Dabei kann es sich um angeborene Reiz-Reaktions-Muster handeln, aber auch um erlernte, assoziative Schemata oder um bewusstes, symbolisch strukturiertes Denken […]. Emotionen sind also von Kognitionen keineswegs getrennt, sondern eng mit ihnen verbunden, bilden ihre ›gefühlte Seite‹.17
Der dunkle Raum des Kinos fördert die Entfaltung individueller Gefühle, hier können sich Zuschauerinnen und Zuschauer ihren Gefühlen ungeniert und bis hin zur Tränenseligkeit überlassen. Letztere hervorzurufen obliegt vor allem den filmischen Melodramen, die die Empfindsamkeitskultur der Briefromane und des Theaters im 18. und 19. Jahrhundert nun mit allen Mitteln der »Gefühlsmaschine« Kino fortsetzen.18 Die von dem Filmwissenschaftler Ed Tan mit dem Titel seines Standardwerkes »Emotion and the Structure of narrative Film. Film as an Emotion Machine« 199619 ins Spiel gebrachte Maschinenmetapher verweist dabei auf spezifische Ambivalenzen des Kinos: Es erzeugt Gefühle mit Hilfe von Inszenierungen und Apparaten, von Industrie und Technik. Das ist die eine Seite. Dieser technisch-industriellen Dimension des Films korrespondieren Vorstellungen von einer Art Mechanik der Affektlenkung, die bei den Zuschauern ein weitgehend homogenes Erleben bewirkt (solche Überlegungen waren auch in der Medienwissenschaft verbreitetet). Die Rezeptionsforschung 15 Vgl. dazu Moxter, Gefühl, 10. 16 Vgl. u. a. Fahlenbrach, Metaphern.; Plantinga, Viewers.; Bartsch/Eder/Fahlenbrach, Emotionen. 17 Eder, Gefühle in Film, MS 34. 18 Vgl. Frölich/Gronenborn/Visarius, Gefühl. 19 Tan, Emotion.
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hat jedoch gezeigt, dass sich das Filmerleben durch ein Moment individueller Unkalkulierbarkeit auszeichnet und dass es sich bei den Gefühlen der Rezipienten um ganz individuelle und authentische Emotionen handelt.20 Die Tatsache, dass eine kulturelle Inszenierung bzw. Konstruktion authentische Gefühle auslöst, ist dabei im Übrigen nichts Neues: Auch Romane und biblische Texte tun dies mit manchmal weitreichenden biographischen Folgen. Allerdings hat das Kino gegenüber Schrift und Buch noch einmal andere und wirkungsvollere Möglichkeiten, den Zuschauer zu verwickeln, gefangen zu nehmen und manchmal auch zu überwältigen. Denn das Kino vermag das Leben so umfassend und so suggestiv nachzubilden wie kein anderes Medium. Hinzu kommt die gegenüber der Alltagserfahrung für die filmischen Narrationen typische Verdichtung und Intensivierung von Erfahrung und Gefühl. In 90 Minuten wird u. U. ein ganzes Leben mit dramatischen Wendepunkten und Entwicklungen erzählt. Für diese Erzählung gilt: Im gelingenden Fall einer Filmvorführung schreiben wir dem narrativen Geschehen auf der Leinwand eine eigene Form von Wirklichkeit zu (Fiktion), die uns unmittelbar affiziert. Wenn wir unberührt bleiben, gilt die filmische Performance als misslungen.21
Charakteristisch für die Fähigkeit des Films, emotional zu berühren, ist die Kombination von audiovisueller Sinnlichkeit und narrativ strukturiertem Sinn.22 Die ausgelösten Gefühle können sich dabei auf unterschiedlichen Ebenen bewegen. Jens Eder unterscheidet vier solcher Ebenen: 1. Die perzeptuelle Ebene, auf der Bilder und Töne spontane Empfindungen auslösen. 2. Die Ebene der dargestellten Welt, auf der Figuren und Situationen figuren- und situationsbezogene Emotionen auslösen. 3. Die Ebene der Erschließung allgemeiner Themen bzw. thematischer Emotionen. 4. Die Ebene der Reflexion auf die Rezeptionserfahrung insgesamt, die von z. B. ästhetischen oder moralischen Emotionen begleitet sein kann.23 Diese Mehrschichtigkeit des emotionalen Filmerlebens wird auch von der Filmwissenschaftlerin Anne Bartsch betont. In ihrem Konzept der »Meta-Emotionen« beschreibt sie das Entstehen von Gefühlen über Gefühle (Meta-Emotionen) durch ihre Kontextualisierung auf verschiedenen Ebenen – nicht zuletzt auf der Ebene symbolischer Kommunikation.24 Ähnlich erklärt Christian Schmitt die Genese von Kinopathos: es entstehe durch die Überlagerung zweier Zeichensysteme.25 Dabei betont Schmitt: »Im Grunde kann jedes beliebige Zeichen (jede beliebige Aussage) als Grundlage 20 21 22 23 24 25
Vonderau, Emotionen, 160 ff. Voss, Narrativität, 317. Vgl. Casetti, Sinne. Eder, Gefühle, 38 u. 283. Bartsch, Meta-Emotionen, 283 ff. Schmitt, Kinopathos, 39 ff.
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eines zweiten Zeichensystems dienen.«26 Kinopathos entsteht dann z. B. durch das Zusammenwirken von Bild und Text: »Ersteres liefert das äußerst sinnliche Analogon; letztere liefert den Sinn dazu.«27 Sinnesdaten werden auf große Bedeutungen bezogen. Auf diese Weise transformiert der Film »sinnlich-affektive Eindrücke in Bedeutungen und gibt, umgekehrt, großen Bedeutungen ›ein Gesicht‹, in dem er sie sinnlich vor Augen (oder eben auch: vor Ohren) führt.«28 Vorstellungen von einem mehrschichtigen Gefühlsaufbau finden sich auch im philosophischen Ästhetikdiskurs. So unterscheidet Catrin Misselhorn (wie Anne Bartsch) unterschiedliche Gefühlsebenen in der Rezeption narrativer Kunstwerke: die Gefühlsebene erster Ordnung, auf der die Gefühle eines bestimmten Charakters in einer bestimmten Situation simuliert werden, und die Ebene zweiter Ordnung, auf der die Gefühle sich auf den Gehalt der umfassenden Fragestellung (die Ebene des symbolischen Gehalts) beziehen, in deren Dienst die Simulation steht. Erst auf der zweiten Ebene erreichen die Gefühle die existenzielle Relevanz in Bezug auf die Bewertung des eigenen Lebens.29
Bei dieser zweiten Ebene symbolischen Gehalts denkt Misselhorn an die existenziellen Fragen nach dem guten Leben, nach Liebe, Freiheit, Endlichkeit und Tod. Misselhorn folgert aus ihrer Überlegung, dass jede ästhetische Erfahrung, die existenziell relevant werden soll, auch eine symbolische Dimension haben müsse: einen symbolisch artikulierbaren Sinnhorizont.30 Diese Schlussfolgerung ist interessant, aber sicher diskussionswürdig. Denn sie würde wohl bedeuten, dass ästhetische Erfahrungen, die sich nicht auf den Begriff bringen oder in irgendeiner Weise symbolisieren lassen auch keine existenzielle Relevanz erlangen könnten. Vor dem Hintergrund dieser kurzen Sichtung von Konzepten der Gefühlsentstehung bei FilmzuschauerInnen, liegt es nahe, das religiöse Gefühl auf einer der oberen Ebenen anzusiedeln, also auf der Ebene der Meta-Emotionen (Bartsch), der religiös interpretierten Primäremotionen also. Das religiöse Gefühl wäre in dieser Perspektive ein Gefühl mit Gefühlen, das in Verbindung mit Deutungen zustande kommt.
26 27 28 29 30
A.a.O., 46. A.a.O., 64. A.a.O., 70. Misselhorn, Ästhetische Erfahrung, 434. A.a.O., 435.
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Beispiele
Auf der Basis dieser Überlegungen werde ich im Folgenden Szenen aus zwei Filmbeispielen im Blick auf religiöse Gefühlsdimensionen untersuchen. Grundsätzlich ist zuvor zu bedenken: Filme können Gefühle darstellen, sie können die Gefühle ihrer Autoren zum Ausdruck bringen und sie können Gefühle beim Zuschauer auslösen. Während sich Gefühlsdarstellung und Ausdruck werkhermeneutisch-interpretativ erschließen lassen, gestaltet sich die Analyse des Zuschauergefühls schwieriger. Entweder man geht hier von Filmstrukturen aus und formuliert Annahmen über durch diese Strukturen ausgelöste Gefühle oder man analysiert z. B. durch qualitative Interviews erschlossene Zuschauergefühle und versucht, Zusammenhänge zwischen Filmstrukturen und den erhobenen Rezipientengefühlen plausibel zu machen. Für die im Folgenden in den Blick genommenen Filmbeispiele liegen mir – abgesehen einmal von der schon zitierten Leserbriefäußerung – keine qualitativen Untersuchungen zur Rolle des Gefühls vor. Ich muss also bei der Betrachtung der Beispiele werkhermeneutisch vorgehen und ausgehend von den jeweils vorliegenden Filmstrukturen darin angelegte Rezeptionspotenziale beschreiben. Die Auswahl der beiden im Folgenden in den Blick genommenen Filme orientiert sich zum einen an der eingangs zitierten Leserzuschrift, die so eindeutig von religiösen Gefühlen sprach, ausgelöst durch den Film »American Beauty« (Sam Mendes 1999), und zum anderen an der schlichten Aktualität. Unter diesem Gesichtspunkt greife ich einen Film der letzten Zeit heraus, der mir im Kontext der Frage nach religiösen Kinogefühlen interessant erscheint: »The Tree of Life« von Terrence Malick (USA 2011). Zunächst zu »American Beauty«: Der mit fünf Oscars ausgezeichnete Film von Sam Mendes erzählt von Lester Burnham und seinem Leben mit Frau und Tochter in einer aufgeräumten amerikanischen Kleinstadt. Burnhams Selbsteinschätzung zu Beginn des Films: »Irgendwie bin ich jetzt schon tot.« Sein Weg vom Tod zum Leben und wieder zum Tod beginnt, als er sich in Angela verliebt, die hübsche Freundin seiner Tochter Jane. Wie aus jahrelanger Anästhesie erwacht, beginnt er von neuem, seine Interessen wahrzunehmen, seinen Körper in Form zu bringen, Pink Floyd zu hören und Joints zu rauchen, die ihm der Nachbarsjunge Ricky besorgt. Was folgt, ist eine filmische Reflexion über die Entdeckung eines anderen Blicks auf das Leben. Über den Wert und das Sehen von Schönheit. Der reinste Vertreter dieser Religion des Schönen ist Ricky. Der 16-jährige Sohn eines neofaschistischen Soldatenvaters, der regelmäßig Urinproben zum Zweck der Drogenkontrolle von seinem Sohn verlangt, hat immer eine digitale Kamera dabei, um die Momente der Schönheit festzuhalten. Lesters Tochter Jane, in die er sich verliebt, erzählt er vom Anblick einer toten Obdachlosen, davon, dass es gewesen sei, »als ob Gott dich direkt ansieht«. Was man da sehe, will Jane wissen. »Schönheit«, antwortet Ricky, Mystiker des Au-
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genblicks der ästhetischen Erfahrung. Einmal zeigt er Jane »das Schönste, was ich je gefilmt habe«. Die Szene, die ich genauer betrachten möchte31, beginnt mit einem Bild der Mutter von Ricky, die in einem dunklen Raum mit starrem Blick an einem Esstisch sitzt. Im Hintergrund treten Ricky und Jane in den Raum ein. Ricky spricht seine Mutter an, die erst beim zweiten Mal reagiert. Er stellt ihr Jane vor. Die Mutter entschuldigt sich für eine vermeintliche Unordnung – die Kamera schwenkt in den Raum, alles ist blitzblank, es wird deutlich, dass die Mutter psychisch krank ist. Ricky und Jane mustern den Waffenschrank des Vaters. Ricky : »Etwas musst du dir ansehen!« Er holt einen Teller aus einem verschlossenen Schrank, gibt ihn Jane mit den Worten: »Dreh ihn mal um.« Auf der Rückseite des Tellers befindet sich ein Hakenkreuz. Ricky : »Das gehörte quasi zum Staatsservice des Dritten Reiches.« Wenig später Ricky : »Willst du mal das Schönste sehen, was ich je gefilmt habe.« Er zeigt Jane ein Video einer im Wind tanzenden Plastiktüte. Die Kamera blickt den beiden von hinten über die Schulter auf einen Fernsehmonitor, auf dem das Video der Tüte läuft, begleitet von einer meditativen Synthesizer-Musik, in die sich Klavierklänge mischen. Die Musik ist extradiegetisch, kommt nicht aus der dargestellten Welt und löst die Szene darum aus ihren konkreten Bezügen heraus. Sie signalisiert über die konkrete Situation hinausgehende Bedeutung und modelliert das Gefühl. Ricky : »Das war einer von jenen Tagen, an denen es jeden Moment schneien kann und Elektrizität in der Luft liegt. Man kann sie fast knistern hören, stimmt’s?« Diese zunächst an Jane gerichtete rhetorische Frage intensiviert die Aufmerksamkeit. Die Musik korrespondiert dem Schweben der Tüte. Ricky weiter : »Und diese Tüte hat einfach mit mir getanzt, wie ein kleines Kind, das darum bettelt, mit mir zu spielen, fünfzehn Minuten lang.« Es folgt ein Schnitt auf Rickys Gesicht in Nahaufnahme, eine Perspektive, die die Fokussierung auf Rickys subjektive Empfindung verstärkt. Ricky : »An dem Tag ist mir klar geworden, dass hinter allen Dingen Leben steckt (Schnitt, bildfüllend im Blick nun nur noch die im Wind schwebende Tüte) und diese unglaublich gütige Kraft (Klänge von Streichinstrumenten setzen ein, die die Wärme der gütigen Kraft unterstreichen und bekräftigen), die mich wissen lassen wollte, dass es keinen Grund gibt, Angst zu haben.« Schnitt, Janes Gesicht in Nahaufnahme. Ricky : »Nie wieder. Ein Video ist ein armseliger Ersatz, ich weiß. Aber es hilft mir, mich zu erinnern. Und ich muss mich erinnern.« Jane wendet ihren Kopf in seine Richtung. Schnitt: Das Gesicht von Ricky. Er sagt: »Es gibt manchmal so viel Schönheit auf der Welt, dass ich sie fast nicht ertragen kann. Und mein Herz droht dann daran zu zerbrechen.« Er spricht langsam, weiterhin von der Musik begleitet und, so sehen wir an seinem Gesichtsausdruck, den Tränen nahe. Die Verbindung von Schönheit und Got31 Kapitel 16 auf der DVD.
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teserfahrung, die Ricky in einer früheren Äußerung Jane gegenüber schon einmal hergestellt hatte, schwingt mit. Beide Köpfe sind im Blick. Jane legt ihre Hand in seine. Sie blicken einander an. Jane beugt sich zur Seite und küsst Ricky auf den Mund, sieht ihn verträumt an, scheint dann auf einmal zu erwachen und sagt: »Oh, mein Gott, wie spät ist es?« Damit ist der Film zurück im Alltag. Die exponierte Szene ist beendet. Was war zu sehen? Zunächst der Eintritt in die dunkle Welt von Rickys Elternhaus: seine offensichtlich psychisch kranke Mutter, dunkle Räume, die Insignien seines faschistoiden Vaters, Waffen, ein Teller mit Hakenkreuz. Kontrastiert und aufgebrochen wird diese Welt durch Ricky und Jane und dann vor allem durch die Betrachtung und Deutung des Videos der tanzenden Tüte. Die religiöse Aufladung der Szene vollzieht sich dabei schrittweise. Zunächst wird gespannte Erwartung durch die Ankündigung des »Schönsten, was ich je gefilmt habe« erzeugt. Das Zeigen des Videos wird durch meditative Musik begleitet, die alltagstranszendierende Bedeutungssteigerung signalisiert. Nahaufnahmen der Gesichter fokussieren auf subjektive Empfindung. Rickys Erläuterung stellt sein Video schließlich in einen Kontext religiöser Deutung. Zusammengefasst: Der Anblick einer im Wind tanzenden Plastiktüte vermittelt die Erfahrung des Unbedingten und damit ein religiöses Gefühl des Getragenseins von einer »gütigen Kraft«, die die Angst besiegt. Dass hier ausgerechnet eine Plastiktüte zum Anlass für eine religiöse Erfahrung wird, macht nur deutlich, dass es der Deutungshorizont ist, der eine Erfahrung als religiöse Erfahrung und eben auch ein Gefühl als religiöses Gefühl qualifiziert. Es handelt sich also im Sinne von Anne Bartsch um eine Meta-Emotion: um ein Gefühl, das durch Deutungen von Gefühlen und Erfahrungen zustande kommt. Auch in »The Tree of Life« (Terrence Malick, USA 2011) bildet eine religiös konnotierte Erfahrung von Schönheit ein zentrales Thema. Sie bildet den Kontrast zur Erfahrung des Schmerzes, die der Film im Horizont der Hiob-Thematik verortet. Beide Themenkomplexe sind in einen weiten Bogen eingebettet, der dem Narrativ der christlichen Heilsgeschichte folgt und die Erinnerung an eine Kindheit im Texas der 50er und 60er Jahre mit einer bildgewaltigen Schöpfungssequenz und Visualisierungen eines Lebens nach dem Tod rahmt. Trotz Goldener Palme in Cannes wurde der Film ambivalent aufgenommen. War in der FAZ (16. 5. 2011) von einer »überwältigenden Kinoerfahrung« die Rede, so bezeichnete Thomas Assheuer den Film in seiner Kritik in »Die Zeit« (16. 6. 2011) als »mythologischen Kitsch«. Im Zentrum steht eine Familie, drei Jungs spielen im Garten eines Vorstadthäuschens, die Mutter ist liebevoll und sanftmütig, der Vater streng. Auf das zentrale Thema des Films weist schon gleich zu Beginn ein Insert mit einem Zitat aus dem Buch Hiob hin, es ist ein Zitat aus der Gottesrede (Hiob 38, 4.7) und lautet: »Wo warst du, als ich die Erde gründete? […] Als mich die Morgensterne miteinander lobten und jauchzten alle Gottessöhne?«
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Dem angeschlagenen Thema folgend wird die unbeschwerte Idylle durch die telegraphische Nachricht vom Tod des Zweitgeborenen der drei Brüder durchkreuzt, der, so kann man vermuten, ein Opfer des Vietnamkrieges geworden ist. Von nun an steht die ebenfalls im Voice-Over-Modus geäußerte Warum-Frage im Raum. Ein Schnitt führt in die Gegenwart des ältesten Sohnes Jack, der als Architekt arbeitet. Der Film, so wird deutlich, kreist um seine Kindheitserinnerungen und das Trauma des Verlustes. Mit einem weiteren Schnitt springt Malick in eine ungefähr 20-minütige Sequenz, die in visuell imposanten Bildern die Entstehung der Welt vom Urknall bis zur Evolution des Lebens und schließlich bis hin zur Geburt des ersten Sohnes der O’Briens vor Augen führt. Ohne Frage haben wir es mit einem visuellen Schöpfungsbericht zu tun, der die Schöpfung als erhabenes, schönes und zugleich geheimnisvolles Wunder feiert. Die Natur ist dabei, das machen die religionsphilosophischen Voice Over-Kommentare deutlich, zwar schön, aber auch unberechenbar, bedürftig der Gnade, die einen Ausweg aus dem blinden Fressen und Gefressen werden eröffnet. Ich greife zwei Szenenfolgen bzw. Kapitel (1. Trauer und 3. Der Beginn) heraus. Zum Auftakt räsoniert die Stimme von Mrs. O’Brien über Natur und Gnade, dann Bilder aus dem Familienleben: die Brüder der O’Briens, Abendessen, Tischgebet. Dann wieder die Stimme der Mutter : »Ich werde dir treu sein, was auch geschieht.« Wir sehen einen Postboten auf die Haustür zugehen, er händigt der Mutter ein Telegramm aus, sie nimmt es an, geht ins Wohnzimmer, reißt es auf, erstarrt, bricht zusammen. Schnitt. Wir sehen den Vater am Rande eines Flugfeldes, einen Telefonhörer in der Hand, Nahaufnahme des Gesichtes, Propellergeräusche. Sein Gesicht erstarrt, als ihn die Nachricht vom Tod seines Sohnes erreicht. Wir sehen ihn auf dem Flugfeld stehen, in die Abendsonne blicken und mit dem Schmerz kämpfen. Schnitt. Das schmerzverzerrte Gesicht der Mutter, sie geht die Straße hinunter, ihr Mann folgt, legt ihr die Hand auf die Schulter. Wir hören ihre Stimme im Voice Over-Modus: »Ich will sterben, um bei ihm zu sein.« Später Kirchenglocken, das leere Kinderzimmer. Die Stimme des Vaters: »Er ist jetzt in Gottes Hand.« Beerdigung. Eine Freundin zur Mutter : »Der Herr gibt, der Herr nimmt, so ist er.« Dies sind religiös konnotierte Bilder des Schmerzes, der sich auch dem Zuschauer vermittelt – möglicherweise, weil Malick genug Leerstellen lässt, in die hinein sich das Gefühl des Zuschauers entfalten kann. Der Film springt in die Gegenwart von Jack, um dann schließlich unter der Kapitelüberschrift »Der Beginn« eindrucksvolle Bilder des Universums zu zeigen, die teilweise mit klassischer Musik unterlegt sind. Die Musik (die z. T. leider etwas zu dick aufgetragen ist) signalisiert auch hier wie schon bei »American Beauty« besondere und über das konkret Gezeigte hinausgehende Bedeutung. Wir hören im Fortgang erneut die Voice Over-Stimme der Mutter. Nun fragend und klagend: »Herr, warum? Wo warst du? Hast du es gewusst? Wer sind wir für dich? Antworte mir! Wir weinen zu dir. Meine Seele. Mein Sohn.
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Erhöre uns!« Die gleichzeitig ablaufenden Schöpfungsbilder erzählen die Schöpfungsgeschichte im Zeitraffer. Sie zeigen die Natur als Tremendum und Faszinosum zugleich und evozieren ebensolche Gefühle beim Zuschauer. Es ist eine Mischung aus religiös konnotierten Gefühlen des Schmerzes, der Schönheit und der Klage, die der Film in diesen Szenenfolgen vermittelt. Es gibt, wie im Buch Hiob, auch im weiteren Verlauf des Films keine Antwort auf die Warum-Frage. Die religiöse Aufladung geschieht auch hier, wie bei »American Beauty«, durch die vor allem im Voice Over-Modus artikulierten religiösen Deutungen. Erst der religiöse Deutungskontext gibt dem Schmerz der Todesnachricht und den Bildern des Universums eine religiöse Gefühlsdimension. Eine religiöse Dimension schwingt mit. Religiöse Gefühle im Film sind also, so könnte man von den ins Auge gefassten Beispielen ableiten, keine Gefühle, die sich auf die Darstellung religiöser Gegenstände, Wesenheiten oder Menschen beziehen, es sind vielmehr Gefühle mit Gefühlen, die erst in Verbindung mit religiösen Deutungshorizonten zustande kommen. Auf der sinnlichen Ebene des Konkreten kann Vieles in so einem Deutungshorizont eine religiöse Dimension erhalten – sogar eine im Wind tanzende Plastiktüte.32 Hatten wir eingangs die einseitige Orientierung heutiger Religionstheorie an der Ebene von Text und Deutung kritisch angemerkt, so sind wir beim Nachdenken über die Gefühlsdimension religiöser Erfahrung an einem Punkt angekommen, an dem die zentrale Rolle von Deutungen erneut hervorzuheben ist – nun aber in enger Verschränkung mit dem Fühlen und als Faktor beim Zustandekommen bestimmter Gefühle. Das Kino, so hatten wir eingangs festgestellt, ist eine narrative Kunstform, die wie keine andere Gefühle zu mobilisieren vermag. Man könnte das Kino darum als die Schule der Empfindsamkeit des 20. Jahrhunderts bezeichnen – oder, mit John Berger, als einen Zufluchtsort der Seele in Zeiten ökonomischer Vergletscherung. Berger schreibt: In unserem Jahrhundert des Verschwindens ist das eigentliche Thema des Kinos die Seele – ihr bietet es eine umfassende Zuflucht. Dies ist, so glaube ich, der Schlüssel zu der Sehnsucht, die es ausdrückt und zu dem Reiz, den es für uns hat.33
Wo es aber um die Seele geht, ist auch Religion im Spiel und damit Anschauungen und Gefühle religiöser Provenienz.
32 Dass diese Beobachtung auch mit Überlegungen der systematischen Theologie kompatibel ist, zeigt sich u. a. bei Paul Tillich. Er schreibt im ersten Band seiner Systematischen Theologie: »Unzählige Dinge – eigentlich alle Dinge – haben die Macht, in einem mittelbaren Sinne heilig zu werden. Sie können auf etwas über sich hinausweisen. Aber wenn sie sich als heilig an sich betrachten, werden sie dämonisch.« Tillich, Systematische Theologie, 252. 33 Berger, Was ist Film?, 61.
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Zuflucht für die Seele. Über Kino, Gefühl und Religion
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Jörg Herrmann
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Hubert Knoblauch / Regine Herbrik
Emotion, Wissen und Religion1
Einleitung Seit ihren Anfängen ist das Gefühl ein Thema für die Religionswissenschaft. Aus religionspsychologischer Perspektive drängt sich das Thema geradezu zwangsläufig auf. Dass Emotionen auch für die Soziologie von sehr großer Bedeutung sind, mag zunächst überraschen. Doch sollte man daran erinnern, dass schon Weber2 den Emotionen einen eigenen Handlungstypus widmet, während Durkheim3 großen Wert auf die kollektiven Emotionen legt, wobei er eine besondere Variante der Efferveszenz explizit im Kontext der Religion verortet. Doch auch wenn die Emotionen schon bei den Klassikern der Soziologie durchaus eine Rolle spielen, blieb ihre gesellschaftliche Bedeutung lange unausgearbeitet. Erst in jüngerer Zeit wendet sich die Soziologie vermehrt den Emotionen zu. Ein Grund dafür dürfte sicherlich die wachsende Bedeutung des Emotionalen sein. Gerade in der Religion, so kann man sagen, wird Emotion immer wichtiger. Der These Hervieu-L¦gers und Champions4 folgend, kann man sogar die Vermutung anstellen, dass sich gerade die jüngeren religiösen Bewegungen durch eine besondere Betonung der Emotionalität auszeichnen. Von dieser Vermutung ausgehend, beschäftigen wir uns mit den im Feld der christlichen Religion heutzutage vorfindlichen Emotionen. Wir beschränken uns dabei nicht auf Emotionen, die traditionell als »religiös« charakterisiert werden. Vielmehr interessieren wir uns für das gesamte Spektrum an Emotionen, das innerhalb von Religion Bedeutung erlangen kann. Wir stützen uns dabei auf frühere Arbeiten zur Rolle der Transzendenzerfahrung für die heutige Religion und Untersuchungen zu New Age, Nahtoderfahrungen, religiösen Vi1 Dieser Beitrag ist eine Version des etwas umfänglicheren Artikels, der für den Band Gebauer (in Vorbereitung) verfasst wurde. Der Band wird die Beiträge der Ringvorlesung »Languages of Emotion: Sprache, Kultur, Gesellschaft« (FU Berlin, WS 2011/2012) zusammenfassen. 2 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. 3 Durkheim, Die elementaren Formen. 4 Hervieu-L¦ger/Champion, De l’emotion.
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sionen und Marienerscheinungen5 und insbesondere auf Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt »Die Emotionalisierung der Religion. Neue emotionale Stile im Kontext religiöser Erfahrung«, das vom Exzellenzcluster »Languages of Emotion« der FU Berlin gefördert wird. Wir wollen zunächst mit einigen Bemerkungen zum Thema der Religion und der religiösen Emotionen einsetzen, um, daran anschließend, die besondere soziologische Zugangsweise zu skizzieren, mit der wir unsere empirischen Daten erhoben und analysiert haben. Vor dem Hintergrund der Darstellung dreier Dimensionen religiöser Emotionen wenden wir uns dann einigen ausgewählten Befunden zu. Dazu wählen wir aus dem vielseitigen und umfangreichen Datenmaterial einige exemplarische empirische Beispiele aus, die unser methodisches Vorgehen jedoch nur andeuten können. Während wir also einerseits die Vorgehensweise skizzieren, soll es im zweiten Teil um die substantielle Frage gehen, welche Rolle Emotionen in gegenwärtigen christlichen Gemeinden im deutschsprachigen Raum spielen, wie sie es tun und welches Wissen über und durch Emotionen wir dort finden können. Bei der Untersuchung dieser Frage wurde vor allem die Rolle der visuellen Medien deutlich, auf die wir beispielhaft anhand erster Analysen unserer breiten Erhebung des Berliner Papstbesuches hinweisen wollen, um dann die weiterführende und in der kommenden Zeit noch zu behandelnde Frage nach der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung von Emotion und Religion wenigstens anzuschneiden. Bevor wir uns der Frage nach der Rolle der Emotion in den hiesigen christlichen Gemeinden zuwenden, soll jedoch kurz unser Projekt mit seiner Fragestellung und Konzeption vorgestellt werden.
1.
Religion, Emotion und Erfahrung
1.1.
Emotion und Erfahrung
Gefühl, Emotion und Religion gehören für viele eng zusammen. So sieht Schleiermacher, der oft als Grundleger der modernen Religionswissenschaft angesehen wird, das Wesen der Religion weder in Denken oder Handeln, sondern in »Anschauung und Gefühl«.6 Auch William James, der die Religionspsychologie begründete, räumt dem Gefühl eine vorrangige Stellung gegenüber theologischen »Formeln« ein und stellt sich damit explizit gegen ein intellektualistisches Verständnis der Theologie als positive Wissenschaft. Rudolf Otto, der Klassiker der Religionsphänomenologie, entkleidet ›das Heilige‹ seiner 5 Knoblauch, Religionssoziologie; Ders, Populäre Religion; Ders./Soeffner Todesnähe. 6 Schleiermacher, Über die Religion, 79.
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Emotion, Wissen und Religion
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sittlichen und rationalen Komponenten und sieht den Kern des Religiösen im »Numinösen«, das wiederum mithilfe von Begriffen nicht eingeholt werden, sondern ausschließlich »durch die besondere Gefühlsreaktion die es im erlebenden Gemüte auslöst« – das Gefühl des »mysterium tremendum« – beschrieben werden könne.7 Diese Hervorhebung des Gefühls und der Emotion als Kern der Religion stellt jedoch nur einen Aspekt der Betrachtung von Religion dar. Bei Schleiermacher, in der Religionspsychologie und auch in der Religionsphänomenologie findet sich ebenfalls die Auffassung, Religion sei mit einer Erfahrung verbunden. Auch wenn es hier große Differenzen zwischen der substantialistischen Auffassung gibt, Religion sei durch die Erfahrung des Besonderen gestiftet – also eines Heiligen oder Sakralen, das man deswegen substantiell voraussetzen müsse –, und einer funktionalistischen Auffassung, die Religion lediglich durch die Besonderheit des Erfahrens bestimmt (das eher im Erfahrenden als im Erfahrenen gründet), so liegt doch der modernen Beschäftigung mit der Religion neben der Emotion auch ein Begriff der religiösen Erfahrung zugrunde. Vor diesem Hintergrunde gewinnt die Verbindung von Religion mit dem Gefühl und der Emotion eine eigentümlich moderne Note: Denn während die Erfahrung im Laufe des 19. Jahrhunderts zum anerkannten Fundament der ›empirischen‹ oder ›Erfahrungs-Wissenschaft‹ wird, kommt die Verlagerung des Religiösen von der Erfahrung zur Emotion einer Strategie gleich, die man auch, in Anspielung auf Weber, als Irrationalisierung der Religion bezeichnen kann. Die moderne Ideologie der Säkularisierung neigt dazu, in der Religion nicht nur das Andere der Vernunft zu sehen, sie verweigert dem religiösen Erfahren auch die Wirklichkeit und verwandelt sie – schon mit Comte, Nietzsche und Freud – in eine subjektive Verklärung, eine Illusion – oder eben eine ›irrationale‹ Emotion.
1.2.
Emotion, Sinn und kommunikatives Handeln
Die sehr häufige säkularistische Gegenüberstellung von ›irrationaler emotionaler Religion‹ und ›rationaler wissenschaftlicher Moderne‹ wird erstaunlicherweise gerade von jenem Autoren unterlaufen, der für diese Moderne und ihre Entzauberung zu stehen scheint. Es ist Max Weber8, der in seiner Grundlegung der Soziologie die Zweckrationalisierung des Handelns (und darin seine Ökonomisierung) zwar zum Schicksal der Moderne erklärt, die Emotionalität aber nicht dem Verhalten zuschlägt, sondern bei seinen vier Idealtypen des Handelns auch ein gefühlgesteuertes Handeln einräumt. Dieses ist zwar nur 7 Otto, Das Heilige, 13. 8 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft.
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mehr grenzwertig rational – doch es hat an dem Teil, was menschliches Handeln generell auszeichnet: Es ist sinnhaft. Mit dem Einbezug des Emotionalen als Aspekt des sinnhaften Handelns hat er den Grundstein auch für unsere soziologische Betrachtung der Emotion gelegt. Wie sich der Geist des Kapitalismus aus der protestantischen Ethik ableitet, so ist auch der Sinn von Emotionen von der Gesellschaft geprägt und prägt seinerseits das soziale Handeln mit anderen. Wenn wir diesen von der Gesellschaft vermittelten Sinn – in der Folge der Wissenssoziologie – als Wissen bezeichnen, dann können wir auch von emotionalem Wissen reden. In der Tat erweist sich, wie wir sehen werden, die Rede vom emotionalen Wissen gerade mit Blick auf die Religion als besonders fruchtbar. Damit meinen wir sowohl ein Wissen über Emotionen als auch ein Wissen, das mithilfe von Emotionen erworben wird. Dabei sollte man aber beachten, dass die gerade bezeichnete Ableitung des Sinns als Wissen aus der Gesellschaft nicht telepathisch geschieht oder durch irgendeine metaphysische Dialektik. Wie Wissen insgesamt wird auch emotionales Wissen ganz handfest und sinnlich durch Kommunikation oder genauer, wir meinen ja das handelnde, erfahrende und fühlende Subjekt, durch ,kommunikatives Handeln‹ vermittelt. Deswegen werfen wir unser Augenmerk ganz gezielt auf die Formen der Kommunikation, mit denen Wissen über und durch Emotionen vermittelt wird. Dabei zeigt sich, dass Emotionalität keineswegs nur eine Begleiterscheinung der religiösen Kommunikation ist. Religiöse Kommunikation hebt vielmehr das Emotionale besonders hervor, und sie tut dies auf eine sehr besondere und in gewisser Hinsicht auch besonders neue Weise. Bei der näheren Betrachtung des Wissens über religiöse Emotionen und ihrer Kommunikation finden sich auch markante Unterschiede. Trotz aller Vielfalt und Differenziertheit lassen sich dabei verschiedene emotionale Stile unterscheiden. Als emotionale Stile bezeichnen wir die situativen Verdichtungen kommunikativer Codierungen des Emotionalen, die unserer Beobachtung und Analyse zugänglich sind. Wir verwenden den Begriff also in einem Sinne, der sich von der Definition von Eva Illouz9 insofern unterscheidet, als er nicht nur auf den Umgang einer Gesellschaft mit Gefühlen abzielt, sondern insbesondere auch die performative Ebene des Emotionalen in den Blick nimmt.
1.3.
Drei soziologische Dimensionen der Emotion
Wenn wir von Kommunikation reden, meinen wir keine abstrakten Selektionen, die sich gleichsam unabhängig von den Akteuren vollzögen. Vielmehr meinen wir damit den sinnlichen und körperlichen Vollzug zeichenhafter Handlungen 9 Illouz, Cold Intimacies, 6 f.
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in der Zeit, der für die Handelnden, für diejenigen, mit denen sie handeln und im Übrigen auch für uns als Beobachtende wahrnehmbar, erfahrbar und damit deutbar ist. Den Vollzug selbst bezeichnen wir mit dem Begriff der Performanz. Deswegen bilden die kommunikativen, das heißt auch immer multimodalen Ausdrucksformen des Emotionalen, die von den Akteurinnen und Akteuren im Rahmen ritualisierter Feiern (wie beispielsweise in Gottesdiensten10) performativ realisiert werden, eine erste und bedeutende Ebene unserer Untersuchung. Um diese kommunikativen Ausdrucksformen erfassen zu können, halten wir das Zusammenspiel sprachlicher, parasprachlicher, gestischer, mimischer, gesanglicher, inszenatorischer, situativer und interaktiver Aspekte im Blick. Die Analysen, die wir für diese Ebene durchführen, stützen sich hauptsächlich auf ethnographische Beobachtungsverfahren, teilnehmende Beobachtung und auf die videoanalytische Auswertung von audio-visuellem Datenmaterial. Diese Videodaten werden von uns zum Teil selbst aufgenommen, zum Teil aus Selbstdarstellungen von Gemeinden, zum Beispiel auf deren Webseiten, gewonnen. Im Fokus unserer Untersuchungen stehen dabei nicht nur etablierte christliche Gemeinden, sondern auch Neugründungen insbesondere auch von Gemeinden, die sich dadurch auszeichnen, dass ihre Gläubigen in der Mehrzahl über einen gemeinsamen Migrationshintergrund verfügen. Durch die Neugründungen der letzten Jahrzehnte entstand und entsteht ein interessantes und vielgestaltiges Gemeindespektrum, in dem sowohl Gemeinden mit evangelikaler, neupfingstlerischer oder charismatischer Ausrichtung vorzufinden sind als auch eher dem Mainstream der evangelischen Landeskirchen und der katholischen Kirche angehörige Gemeinden. Bei der Untersuchung der Performanz religiöser Kommunikation sollte man beachten, dass christliche Gemeinden heutzutage, wie wir noch zeigen werden, häufig neuere mediale Formate nicht nur für Visualisierungen während der Gottesdienste, sondern auch als Mittel für die Selbstdarstellung nach außen und nach innen und die Dokumentation ihres Gemeindelebens nutzen. Selbst die gezielte Neugründung von Gemeinden, das sogenannte ›church planting‹, wird mittels Medieneinsatz erleichtert. Dabei spielt auch die gemeindeeigene Internetpräsenz eine Rolle, bei der Bild- und Videomaterial intensiv und extensiv genutzt werden. Unser Einsatz video- und bildanalytischer Verfahren im Rahmen dieses Forschungsprojektes ist insofern kein von außen an das Feld herangetragenes Instrumentarium, sondern Folge der besonderen kommunikativen Formen, die uns das Feld vorgibt. Auf einer zweiten Analyseebene beschäftigen wir uns mit dem emotionalen Wissen, das durch diese kommunikativen Performanzen vermittelt wird: seinen 10 Vgl. dazu Gräb, Der Gottesdienst.
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Bedeutungen für die Handelnden und den Gefühlsregeln. Um zu eruieren, wie die in ihrer Performanz beobachtbaren kommunikativen Formen des Emotionalen von den Gläubigen gedeutet und welche Vorräte emotionalen Wissens für diese Deutung aktiviert werden, führten wir ausführliche Leitfaden-Interviews mit Gläubigen durch. Wir sprachen mit ihnen über ihre Glaubensbiographie, über einschneidende Ereignisse hinsichtlich ihres religiösen Lebens, aber auch über ihren religiösen Alltag. Neben der Schilderung der jeweils eigenen Emotionen begegnen uns innerhalb dieser Analyseebene auch Reflexionen der Gläubigen auf die Emotionalität ihrer Religion. So wird von Herrn R. im folgenden Beispiel eine Bewertung einzelner Religionen hinsichtlich ihrer Fähigkeit, Hoffnung zu machen, vorgenommen. R:
ähm: (--) also ich bin jemand ich geh an die sache eigentlich eher eher sachlich ran mit weniger emotionen und ich hab mich halt mit den verschiedenen religionen beschäftigt auch mit=m buddhismus mit=m hinduismus und des sind für mich alles äh religionen äh die keine freude machen. der hinduismus isch ne sehr traurige religion man wird so oft wiedergeboren bis man irgendwann in ins nirvana kommt des isch eigentlich ne traurige religion der buddhismus isch auch ne traurige religion […] weil im buddhismus gibts noch nicht mal eine seele also die wenigschten glauben dann überhaupt (an ne) seele (weil) man geht einfach im nirvana au:f
I:
ja
R:
für mich isch chrischtentum eigentlich ne religion die die eim auch hoffnung macht und dass es was anderes gibt und dass es ein weiterleben nach m tod gibt
I:
ja
R:
des isch des was mich (-) da so anzieht [mmh]
Die dritte Analyseebene basiert auf der Überlegung, dass die Emotionen, auf die wir uns im Rahmen des Projektes konzentrieren, und ihre kommunikativen Darstellungsweisen mit einem sozialen Kontext verbunden sind, der durch ritualisierte Veranstaltungsformen, deren soziale Organisation und Mediatisierung vermittelt wird. Dabei gehen wir davon aus, dass es einen Zusammenhang zwischen dem emotionalen Stil und dem gesellschaftlichen Milieu gibt, aus dem sich Mitglieder religiöser Gruppen rekrutieren. Diesen Zusammenhang suchen wir derzeit mithilfe von Sekundäranalysen bestehender Studien zu verfolgen.
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Emotion, Wissen und Religion
2.
Wissen und Emotion
2.1.
Wissen über Emotionen
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Wenn von Emotionswissen die Rede ist, ist das Konzept »Gefühlsregeln« (feeling rules) der amerikanischen Soziologin Hochschild leitend.11 Welche Gefühlsregeln finden wir im Bereich der untersuchten Religion? Zur Beantwortung dieser Frage stößt man zum einen auf sehr offensichtliche und explizite Gefühlsregeln in der Dogmatik des Christentums. Das bekannteste Beispiel dafür mögen die zwei Gebote des Neuen Testaments sein, die eigentlich Gefühlsregeln in Reinform darstellen. Die zehn Gebote des Alten Testaments beziehen sich hauptsächlich auf konkretes Handeln. Sie geben den Menschen vor, welches Tun geboten und welches ihnen nicht erlaubt ist: »Du sollst nicht töten«. »Du sollst nicht stehlen« (Ex 20,1 – 17). Im Gegensatz dazu werden interessanterweise innerhalb der zwei Gebote des Neuen Testaments Instruktionen gegeben, die sich auf den emotionalen Bereich beziehen. »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.« (Mt 22,37 – 40)
Darüber hinaus versorgt die Bibel die Gläubigen mit Bewertungsmaßstäben für diverse Emotionen, wie zum Beispiel für Zorn. Er kann sündhaft sein, wenn er durch Egoismus hervorgerufen wird oder wenn er unbeherrschbar erscheint. Zorn kann jedoch auch gerecht sein, wenn er sich gegen ungerechtes oder respektloses Handeln anderer richtet. Das bekannteste Beispiel dafür ist, wie Jesus die Geldwechsler in rasendem Zorn aus dem Tempel vertreibt (vgl. Mt 21,12). Dies sind jedoch nur einige Beispiele für einige der offensichtlichsten Gefühlsregeln, die im Christentum verankert sind. Neben diesen expliziten und sozusagen ›offiziellen‹ Gefühlsregeln finden sich jedoch auch andere, sozusagen soziokulturelle Gefühlsregeln. Denn, wie unsere Daten zeigen, gibt es verschiedene Wege, wie die Gläubigen in bestimmte Gefühlsregeln, aber auch in bestimmte emotionale Stile, die für eine bestimmte Situation oder Gruppe gelten, hineinsozialisiert werden. Aktiver gewendet bedeutet dies, dass es für die Gläubigen eine ganze Reihe an Möglichkeiten gibt, das emotionale Wissen zu erlangen, das sie benötigen, um sich in einem bestimmten religiösen, sozialen Kontext unauffällig verhalten zu können. 11 Hochschild, Emotion Work.
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Ein Beispiel dafür : Viele der ritualisiert wiederkehrenden Abläufe der christlichen Kirchen sind durch emotionale Dramaturgien gekennzeichnet. So bestimmt beispielsweise das liturgische Kirchenjahr Abfolgen von Sonn- und Feiertagen, die durch Buße in Fastenzeit und Advent, Trauer zwischen Gründonnerstag und Karsamstag und Freude an Ostern und Weihnachten charakterisiert sind. Im kleineren Maßstab finden sich ähnliche emotionale Dramaturgien in der Liturgie des einzelnen Gottesdienstes wieder. Diese enthält unter anderem Abschnitte, während derer Schuld empfunden und eingestanden werden soll (Confiteor, Sündenbekenntnis), genauso wie solche für den, abhängig vom jeweiligen emotionalen Stil der Gemeinde, mehr oder weniger enthusiastischen, freudigen Lobpreis Gottes und seines Sohnes (z. B. Gloria). Da all diese Abläufe und Bausteine der Liturgie regelmäßig wiederholt werden, beginnen die Gläubigen, sich bereits bei ihrem ersten Gottesdienstbesuch in sie einzuüben und erfahren somit eine Sozialisation in die inhärenten Gefühlsregeln und den jeweiligen emotionalen Stil. Darüber hinaus finden wir auch explizite Aufforderungen, die die Gläubigen zu bestimmten Emotionen oder zu deren Ausdruck anspornen. So fordern Liedtexte zum Beispiel zur Freude und zum ›Frohlocken‹ auf. Im Zuge teilnehmender Beobachtung sind wir dem Pastor einer freikirchlichen Gemeinde in Berlin begegnet, der seine Gemeinde nachdrücklich dazu animiert, begeisterter zu lobpreisen, indem er sie darauf hinweist, dass die Mitglieder seiner früheren Kongregation expressivere Formen der Freude und Verehrung gezeigt haben. Sie seien beim selben Lobpreislied auf den Bänken gestanden, hätten getanzt und in die Hände geklatscht. Die Berliner Gemeinde bemüht sich daraufhin nach Kräften, eine ähnlich engagierte Performanz der geforderten Emotionen zu zeigen. Dieses Beispiel soll lediglich die große Bandbreite der unterschiedlichen emotionalen Ausdrucksformen der gleichen Emotion, die innerhalb einer bestimmten Gruppe oder Veranstaltung sozial erwünscht oder unerwünscht sein können, illustrieren. Daher ist es für den Einzelnen so wichtig, nicht nur zu lernen, welche Emotionen angemessen sind, sondern auch den spezifischen emotionalen Stil zu verinnerlichen. Von emotionalem Stil reden wir hier, weil sich die Gruppierungen nicht durch einheitliche Emotionen auszeichnen, sondern durch spezifische situative, an der emotionalen Dramaturgie orientierte emotionale Präferenzen. Um das Wissen über die ›passenden‹ Emotionen zu erlangen beziehungsweise zu vermitteln, ist häufig noch nicht einmal der Einsatz gesprochener Sprache notwendig. Vielmehr spielen Medien und Visualisierungen eine tragende Rolle. So finden wir auf den gut gepflegten Internetseiten religiöser Gruppen eine große Zahl an Bildern und Videoclips. Diese medialen und (audio-)visuellen
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Produkte dienen zum einen als Ankündigung der emotionalen Erfahrungen, die innerhalb einer Gruppe oder Gemeinde möglich sind. Sie dienen daneben auch als eine Art Ausdrucksmodell, das Muster dafür liefert, wie und welche Emotionen gezeigt werden können. Dabei sollte man beachten, dass das Wissen über die religiösen Gruppen wie auch die religiösen Emotionen selbst im protestantischen Raum immer weniger einem schriftlichen Muster folgt. Neophyten aber auch Eingeweihte orientieren sich an audiovisuellen Vorlagen, wobei auch die Rolle der Musik nicht unterschätzt werden darf.12 Weil hier die Visualisierung als sozusagen mimetisches ›role model‹ der emotionalen Kommunikation dient, haben wir es hier mit einer Mediatisierung zu tun: Die Medien vermitteln den Inhalt nicht nur, sie gehen in das Vermittelte ein. Von besonderer Bedeutung sind dabei populäre Darstellungsformen und damit das, was man als populäre Religion bezeichnen kann. Speziell in Bilderserien, die von freikirchlichen Gemeinden präsentiert werden, liegt der Fokus nicht nur auf dem von Geistlichen durchgeführten liturgischen Geschehen im Altarraum, sondern ebenso auf den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Gottesdienstes oder Events.13 Unser Beispiel hierfür ist der Online-Berichterstattung über eine charismatische Großveranstaltung im Olympiastadion entnommen.
2.2.
Wissen durch Emotionen
Während die religiöse Kommunikation ein Wissen über die Emotion vermittelt, wird die religiöse Emotion auch als Quelle des Wissens behandelt. Das Erleben von Emotionen wird genutzt, um bestimmte religiöse Inhalte und Themen zu vermitteln oder zugänglich zu machen. Emotionen dienen dabei als quasi ›rationale‹ Methode, um ein besseres oder richtiges Verständnis des Religiösen zu gewinnen, wie zum Beispiel eine Bibelstelle zu verstehen. Bibliolog und Bibliodrama sind zwei Beispiele für die Umsetzung dieser Idee. Beide Techniken laden Gläubige ein, sich in bestimmte, in einer ausgewählten Bibelpassage erwähnte biblische Figuren hineinzuversetzen. Die Bibelstelle wird der Gruppe von einem Moderator oder einer Moderatorin vorgelesen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollen versuchen, die Gedanken, aber auch die Gefühle und Stimmungen herauszuarbeiten, die die biblische Figur möglicherweise erlebt, gedacht oder gefühlt haben könnte. Von ihnen wird erwartet, 12 Die Bedeutung der Verwendung von Bild- und Videomaterial wird ausführlicher erörtert in: Herbrik, Du sollst. 13 Vgl. etwa http://www.aref.de/news/mission/2006/pics/calling-all-nations_2006_lobpreis.jpg.
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dies im Falle des Bibliodramas14 performativ darzustellen oder im Falle des Bibliologs verbal zu beschreiben. Die Aufforderung lautet, sich zu vergegenwärtigen, was einer bestimmten biblischen Figur durch »Herz und Sinn« gegangen sein mag. Dabei sollen die Gläubigen auf Emotionen und Gedanken stoßen, die für eine bestimmte Bibelstelle relevant sein könnten; in welchem Konflikt bspw. eine Figur gestanden haben könnte, welche Ängste sie geplagt haben könnten. Durch das kommunikative Teilen dieses Nacherlebens mit den anderen soll eine spezifische Form des Bibelverständnisses hergestellt werden, die sich insbesondere auf die Vergegenwärtigung von Emotionen stützt. Ein ähnlicher, wenn auch etwas weniger konkreter Ansatz kann im Fall der sogenannten Thomas-Messe beobachtet werden. Dieser spezielle Typus eines Gottesdienstformats wurde 1988 in Helsinki erfunden und wird heutzutage auch in diversen anderen Ländern, einschließlich Deutschland, zelebriert.15 Die Thomas-Messe wendet sich hauptsächlich an Menschen, die hinsichtlich des christlichen Glaubens ihre Zweifel hegen, worauf auch der Name der Veranstaltung hinweist, der sich auf den ungläubigen Thomas der Bibel bezieht (Joh 20,24 – 29). Bekanntlich glaubt Apostel Thomas nicht an Christi Auferstehung als ihm davon berichtet wird. Er möchte das Wunder mit eigenen Augen sehen und es am liebsten anfassen. Dementsprechend spielen körperliche und emotionale Erfahrungen eine besonders wichtige Rolle innerhalb der ThomasMesse. Ihre konkreten Elemente können von dem jeweils örtlichen Organisationsteam gewählt werden. Obwohl sie in evangelischen Gemeinden gefeiert wird, beinhaltet sie häufig für jede Teilnehmerin und jeden Teilnehmer die Gelegenheit, sich in eine kurze persönliche Interaktion mit einem Pastor oder einer Pastorin zu begeben und sich salben zu lassen. Häufig genutzte Elemente sind außerdem das Anzünden einer Kerze, das Niederschreiben eigener Gedanken und Gefühle auf ein Stück Papier und das Anheften dessen an eine ›Klagemauer‹. Häufig teilen sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen in kleinere Gruppen auf, um über einem Bild oder einer Bibelstelle zu meditieren oder den eigenen Körper in der Meditation zu erfahren. Die Organisatorinnen und Organisatoren legen viel Wert auf außergewöhnliche musikalische Arrangements und ersetzen die Kirchenorgel durch andere Instrumente. Während der Abendmahlfeier stehen die Gläubigen zumeist in einem großen Kreis um den Altarraum und halten sich an den Händen. Insgesamt ist die Thomas-Messe also so konzeptualisiert, dass sie mit ihren unterschiedlichen Elementen möglichst alle Sinne der Gläubigen anspricht.16 14 Vgl. Radeck, Bibliodrama. 15 Vgl. Haberer, Thomasmesse. 16 Vgl. dazu auch Meyer, Religious Sensations.
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Emotion, Wissen und Religion
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Neue und wiederentdeckte christliche Rituale und Vermittlungsformate werden genutzt, um den Teilnehmerinnen und Teilnehmern sensorische und emotionale Erfahrungen zu bieten, die in gewöhnlichen Gottesdiensten eher selten zu erleben sind.
3.
Emotionales Regime beim Papstbesuch
Auch wenn wir hier die Rolle der Medien nicht weiter verfolgen können17, so erscheint es doch nötig, dass wir uns einem besonders mediatisierten Event zuwenden, um einen besonderen Aspekt der Emotionalität hervorzuheben, den wir als emotionales Regime bezeichnen. Bei dem Event, an dem dieser Aspekt besonders deutlich hervortrat, handelt es sich um den Besuch des Papstes Benedikt XVI. in Berlin im September 2011 und besonders um den Papst-Gottesdienst, der im Berliner Olympiastadion stattfand. Besonders relevant erscheint uns, wie unter Benedikt XVI. mit den Emotionen des Publikums bzw. der Gemeinde der Gläubigen umgegangen wird. Im Unterschied zum beschreibenden Konzept des emotionalen Stils, der sozusagen der religiösen Kommunikation implizit bleibt, handelt es sich hier um ein regelrechtes »emotionales Regime«.18 Zu Beginn der Papstmesse im Olympiastadion wurde explizit in einer ausführlichen Ankündigung, die auch dem weltweiten Fernsehpublikum übertragen wurde, darum gebeten, Beifallsrufe zu unterlassen und keine Spruchbänder hochzuhalten. Es ist bezeichnend, dass sich die Kirche ausschließlich gegen einige ›populäre‹ Kommunikationsformen des Publikums wendet, die auch bei anderen ›Events‹ auftreten können, wie etwa das Klatschen oder andere Formen der Beifallsbekundungen. Dagegen sind natürlich die ›rituellen‹ Formen der Publikumsbeteiligung, wie die bei katholischen Messen häufigen Responsorien, höchst willkommen und sollen dazu dienen, das ›Religiöse‹, ›Sakrale‹ oder, in den Worten des Papstes, das ›Mysterium‹ zu markieren, das in einem entschieden katholischen Verständnis in der gemeinsamen Ausführung christlicher und spezifisch katholischer Rituale besteht – also in einer besonders markierten Form der religiösen Kommunikation.19 Das Mysterium wird keineswegs als Abstraktum verstanden; vielmehr soll es ganz ausdrücklich im gemeinsamen Vollzug des Gottesdienstes erfahren werden. Um diesen Charakter zu verstärken, grenzt das emotionale Regime von Papst Benedikt populäre Kommunikationsformen systematisch aus. Wo 17 Vgl. dazu Gräb, Sinn fürs Unendliche; zum besonderen Fall des Papstbesuches ausführlich Knoblauch, Benedict in Berlin (im Druck). 18 Riis/Woodhead, Sociology. 19 Zur Rolle dieser Markierungen des religiösen und ihrer Verbindung zur populären Religion siehe Knoblauch, Populäre Religion.
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Hubert Knoblauch / Regine Herbrik
Johannes Paul II. die Messe als eine Show zelebrierte, die vom Publikum lediglich goutiert wurde – oder deren Teile es mit Applaus bedenken konnte (etwa bei seiner ›reifen‹ Messe auf dem Wiener Heldenplatz 1998), schließt Benedikt den religiösen Raum, in dem gebetet wird, vom profanen Raum Berlins ebenso ab wie er die sakrale Zeit abgrenzt. Beifall, Jubelrufe, das ebenso enthusiastische wie populistische ›Benedetto‹ finden hier keinen Platz; vielmehr werden die Stadionbesucher als aktive Katholiken behandelt, die beten, Responsorien intonieren, (mit dem Chor) mitsingen, aufstehen, sich setzen, ja gebetsbanklos niederknien und in Massen an der von massenhaft Priestern ausgeteilten Kommunion teilnehmen oder schweigen. Dieses emotionale Regime jedoch kann nicht ganz durchgehalten werden: Während die katholische Messe eine Reihe von priesterlichen Handlungen schweigend begeht, werden diese Schweigephasen im Olympiastadion gefüllt; beispielsweise mit der Musik eines Sängers, der musikalisch an einen populären, etwas jazzigen Schlager erinnert, textlich am Sakropop orientiert, wie er ebenso auch in protestantischen (eher dem Mainstream zuzurechnenden) Freikirchen vorkommen könnte. Der Einbruch des Pop geschieht auch an den rituellen Rändern der Veranstaltung: Während der Auszug des Papstes mitten im pathetischen Schlussgesang (»Großer Gott wir loben dich«) Beifallssalven auslöst, trägt der triumphale Einzug ins Olympiastadion deutlich die Züge der Verehrung von Celebrities. Alle Verhaltensformen folgen diesem Muster, und zwar teilweise auch beim religiösen Personal.
4.
Ausblick: Soziale Milieus und die emotionalen Stile der Religion
Gerade das monumentale Ereignis des Papstgottesdienstes in Berlin macht auf die ausdrückliche Bedeutung der Emotion für die heutige Religion aufmerksam. Es weist nicht nur auf das emotionale Regime hin, das religiöse Gruppen und Organisationen ausüben. Insbesondere die fundamental markierten religiösen Kommunikationsformen des jetzigen Papstes, die wir hier nur andeuten konnten, verweisen auf die Rolle verschiedener emotionaler Stile in der heutigen christlichen Religion. Die emotionalen Stile werden durch diese Kommunikationsformen als Wissen über Emotion erworben. Sie sind verbunden mit einem emotionalen Wissen, das dazu führt, dass die Subjekte an der Religion nicht nur äußerlich partizipieren, sondern gleichsam emotional in die Religion integriert werden.
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Im Unterschied zu einer unserer zu Beginn der Arbeit an diesem Projekt angedeuteten Vorannahmen folgen die emotionalen Stile jedoch keineswegs einem scharfen zweigegliederten Muster, das sich in eine ekstatische und eine enthusiastische Variante aufspalten ließe. Die emotionalen Stile teilen sich auch keineswegs fein säuberlich auf bestimmte Konfessionen und religiöse Gruppen auf. Wie schon die komplexe Dramaturgie einfachster religiöser Veranstaltungen zeigt, sind auch die emotionalen Stile sowohl hinsichtlich ihrer Kommunikationsformen wie auch hinsichtlich ihrer Gefühlregeln sehr komplex und sicherlich auch weitaus komplexer, als es die rabiate Zweiteilung der Messe Benedikts XVI. unterstellt. Um diese Komplexität zu erfassen, erscheint es vielversprechend, die emotionalen Stile der Religion nicht isoliert zu betrachten, sondern sie auf die kulturellen und kommunikativen Ausdrucksformen der Gesamtgesellschaft zu beziehen. Wie die religiöse Kommunikation starke Anleihen bei der Populärkultur macht oder sich von ihr abgrenzt20, sind auch die sich dadurch definierenden religiösen Netzwerke, Gruppen und Organisationen Teil einer Kultur, deren Ausdrucksformen als Mittel der sozialen Distinktion und Assoziation verwendet werden. Dabei scheint es die Komplexität der emotionalen Stile zu verbieten, die durch sie angezeigten sozialen Unterschiede einfach und grob in soziale Klassen aufzuteilen. Vielmehr, so vermuten wir hypothetisch, folgen sie der Struktur sozialer Milieus. Der Bedeutung des Wissens und der Kommunikation folgend, legt sich hier jedoch ein Milieubegriff nahe, der, über die ökonomischen und symbolischen Merkmale21 hinaus an die Arbeiten von Schulze22 anschließt und auch die Formen der Binnenkommunikation und des Wissens mit einschließt. Gerade wegen der Bedeutung des emotionalen Wissens und der emotionalen Stile der Kommunikation für die Religion ist auch zu vermuten, dass emotionales Wissen für diese Milieus über die Religion hinaus von großer Bedeutung ist. Es zeigt sich, dass diese Stile eine gewisse Pluralität aufweisen, die, wie wir vermuten, mit sozialen Milieu variieren. Wie sich diese Pluralität genau gestaltet, ob und wie sie sich mit den gesellschaftlichen Milieus globalisierter Gesellschaften in Zusammenhang bringen lässt, ist eine Frage, die ein Desiderat für den letzten Abschnitt unserer Studie darstellt. Mit Blick auf die eingangs erwähnte These einer zunehmenden Bedeutung der Emotion können wir jedoch deutliche Evidenzen erkennen. Dabei muss jedoch betont werden, dass man sich diese Zunahme nicht als eindimensionale Emotionalisierung vorstellen muss, wie dies etwa Hervieu-Legers Arbeiten nahelegen. Die Emotion der Religion steht nie für sich und bleibt nur subjektiv, sie ist keine Emotion um der Emotion Willen – wie etwa in der ekstatischen Spaß20 Knoblauch, Populäre Religion. 21 Vögele/Bremer/Vester, Soziale Milieus. 22 Schulze, Erlebnisgesellschaft.
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Hubert Knoblauch / Regine Herbrik
kultur –, sondern hat eine über die religiöse Kommunikation erzeugte Intentionalität oder, wie man auf Deutsch sagen könnte, Bezüglichkeit, die im christlichen Raum personal, als Gott, – im mindesten Fall (etwa der esoterischen Spiritualität) aber als Transzendenz gefasst werden kann.
Literatur Durkheim, Emile, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1998 [1912]. Gebauer, Gunter (Hg.) (in Vorb.), Languages of Emotion: Sprache, Kultur, Gesellschaft. Gräb, Wilhelm, Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002. Ders., Der Gottesdienst des kirchlichen Christentums – oder was vom Kasualgottesdienst für den Sonntagsgottesdienst zu lernen wäre, in: Fechtner, Kristian/Friedrichs, Lutz (Hg.), Normalfall Sonntagsgottesdienst? Gottesdienst und Sonntagskultur im Umbruch, Stuttgart 2008, 82 – 92. Haberer, Tilmann, Die Thomasmesse. Ein Gottesdienst für Ungläubige, Zweifler und andere gute Christen, München 2002. Herbrik, Regine, »Du sollst dir (k)ein Bildnis machen« – Zur Verwendung von Videound Bildmaterial und ihrer Bedeutung für die emotionalen Stile christlicher Gemeinden heute, in: Lucht, Petra/Schmidt, Lisa-Marian/Tuma, Ren¦ (Hg.), Visuelles Wissen und Bilder des Sozialen: Aktuelle Entwicklungen in der visuellen Soziologie, Wiesbaden 2012, 141 – 156. Hervieu-Léger, Danièle/Champion, Francoise, De l’emotion en religion. Renouveau et traditions, Paris 1990. Hochschild, Arlie, Emotion Work, Feeling Rules, and Social Structure, in: The American Journal of Sociology 85, 3,1979, 551 – 575. Illouz, Eva, Cold Intimacies: The Making of Emotional Capitalism, Cambridge 2007. Knoblauch, Hubert, Religionssoziologie, Berlin 1999. Ders./Soeffner, Hans-Georg (Hg.), Todesnähe: Wissenschaftliche Zugänge zu einem außergewöhnlichen Phänomen, Konstanz 1999. Hubert Knoblauch, Benedict in Berlin. The Mediatization of Religion, in: Krotz, Friedrich/Hepp, Andreas (Hg.), Mediatized Worlds: Culture and Society in a Media Age, London (im Druck). DERS., Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2009. Meyer, Birgit, Religious Sensations. Why Media, Aesthetics and Power Matter in the Study of Contemporary Religion, Amsterdam 2006. Otto, Rudolf, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Nachdruck, München 2004 [1917]. Radeck, Heike, Bibliodrama, religiöse Subjektivität und kirchliche Praxis, in: Fechtner, Kristian/Haspel, Michael (Hg.), Religion in der Lebenswelt der Moderne, Stuttgart1998, 123 – 139. Riis, Ole/Woodhead, Linda, A Sociology of Religious Emotion, Oxford 2010.
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Emotion, Wissen und Religion
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Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 2001 [1799]. Schulze, Gerhard, Die Erlebnisgesellschaft, Frankfurt a.M. 1992. Vögele, Wolfgang/Bremer, Helmut/Vester, Michael (Hg.), Soziale Milieus und Kirche, Würzburg 2002. Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980 [1922].
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Matthias Mader
Emotionen, radikaler Protest und Religionsdiskurs
Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz in der deutschen Anti-Atom-Bewegung Soziale Protestbewegungen waren und sind ein maßgeblicher Faktor in Prozessen sozialen und kulturellen Wandels. In ihnen werden bestehende Verhältnisse hinterfragt, gängige Deutungsmuster und Wertorientierungen problematisiert und neue ausgebildet. Die neuen Deutungsmuster und Wertorientierungen können weit über die sozialen Bewegungen hinaus Wirkung entfalten und in vielfältiger Weise gesellschaftliche Veränderungen anstoßen und beeinflussen. Dementsprechend sieht sich die Erklärung solchen Wandels immer auch auf die Entstehungs- und Bestandsbedingungen von Protestbewegungen verwiesen.1 Protestbewegungen sind zu Beginn immer »prekäre Kooperationen mit schwachen Erfolgsaussichten, ohne starke organisationelle Zentren, mit bestenfalls kargen materiellen Anreizen«2. Eine der größten Herausforderungen besteht dementsprechend für die Bewegungs- und Protestforschung darin, zu erklären, wie »Ordnungsbildung trotz Ungewissheit«3 möglich ist. Warum handeln zunächst schwach vernetzte Protestakteure trotz oft geringer Erfolgsaussichten und trotz erwartbarer Nachteile? Vor dem Hintergrund einer Kritik an den rationalistischen Engführungen bestehender Erklärungsansätze wenden sich einige neuere soziologische Arbeiten dazu wieder verstärkt den klassischen Religionssoziologien4 zu.5 In den religionssoziologischen Arbeiten Durkheims und Webers finden sich Theorie1 2 3 4 5
Vgl. Pettenkoffer, Radikaler Protest, 7 ff. Ders., Euphorie, 257. Ders., Radikaler Protest, 8. Gemeint sind Durkheim, Die elementaren Formen und Weber, Religionssoziologie. Gemeint sind vor allem die Arbeiten von Hans Joas zur Handlungstheorie (vgl. Joas, Art. Kreativität; ders., Kreativität; ders., Werte) und von Andreas Pettenkoffer zu radikalem Protest (vgl. Pettenkoffer, Radikaler Protest; ders., Euphorie).
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Matthias Mader
angebote, die in der Auseinandersetzung mit den Strukturbildungen religiöser Gemeinschaften für solche Ordnungsbildungen Erklärungsmuster entwickeln und damit über die Engführungen des gegenwärtigen Mainstreams der Bewegungs- und Protestforschung hinausgehen. In diesem werden Protestaktivisten als immer schon rational handelnde Subjekte konstruiert, die bei günstiger Gelegenheit ihre feststehenden Ziele verfolgen. Da die Ziele und Organisationsstrukturen zumeist als einfach da seiend vorausgesetzt werden, werden wesentliche Elemente der strukturbildenden Prozesse sozialer Bewegungen ausgeblendet.6 Dementsprechend können diese Ansätze sozialen und kulturellen 6 Die soziologische Bewegungs- und Protestforschung gebraucht zwar seit ihren Anfängen die klassischen Religionssoziologien, um sozialen Protest zu erklären. Sie tut dies jedoch häufig, etwa im Neofunktionalismus (vgl. Pettenkoffer, Radikaler Protest, 9 und 107 – 127), mit dem Interesse einer Pathologisierung des Protestes. Die in solchen Ansätzen verwendeten religionssoziologischen Kategorien wie Durkheims Konzept jener Erfahrung, die er »kollektive Efferveszenz« nennt, oder Webers Konzeptionen von »Charisma« und »Sekte« werden in dieser Forschungstradition zum Aufweis und zur Demonstration der Irrationalität des Protestes herangezogen. Soziale Bewegungen erscheinen dann, parallel zur Deutung religiöser Gemeinschaften in dieser Forschungstradition, als zu überwindende Nebenprodukte in Modernisierungsprozessen, in denen als irrational prädizierte Affekte ausagiert werden. In der pathologisierenden Tendenz stimmen neofunktionalistische Ansätze mit massenpsychologischen Forschungsansätzen überein, die im Gefolge von Gustave Le Bon (Le Bon, Psychologie) in den 1950er und 1960er Jahren einen prominenten Strang der Bewegungs- und Protestforschung bildeten und soziale Bewegungen als »,dysfunktional‹ und ,irrational‹« (Kern, Soziale Bewegungen, 10) prädizierten. Gegenüber diesen pathologisierenden Ansätzen hat seit den 1970er Jahren der Mainstream der Bewegungs- und Protestforschung im Gefolge der Ressourcenmobilisierungstheorien (vgl. pars pro toto Zald/McCarthy, Resource Mobilization) die Protestaktivisten zunehmend als immer schon rational handelnde Subjekte konstruiert, die unter bestimmten, günstigen Gelegenheitsstrukturen sozialen Protest als Mittel zur Erreichung ihrer Ziele einsetzen, nämlich dann, wenn er erfolgversprechend erscheint. Durch diese rationalisierende Konstruktion wurde die pathologisierende Sicht auf soziale Bewegungen überwunden. Soziale Bewegungen wurden hinfort als eine anerkennungswürdige Form politischer Partizipation wahrgenommen. Zugleich veränderte sich auch der Forschungsgegenstand. Im Zentrum der Forschung stand nun die Umwelt der Protestaktivisten, da die »unterstellte zweckrationale Umweltorientierung« (Pettenkoffer, Radikaler Protest, 8) diese als den maßgeblichen Faktor für das Auftreten von Protest erscheinen ließ. Gefragt wurde, welche Umweltbedingungen dazu führen, dass auf bestehenden Deutungsmustern und Wertbindungen basierender Protest wahrscheinlich wird. Sowohl der pathologisierende als auch der rationalisierende Forschungsstrang müssen heute als unzureichende Vereinfachungen gelten. Pettenkoffer hat gezeigt, dass sie letztlich beide Übersetzungen einer liberalen Rechtfertigungsordnung sind, deren »Kategorien sie in die Sprache der empirischen Sozialwissenschaften übersetzen« (Pettenkoffer, Radikaler Protest, 9; vgl. dazu auch a. a. O., 86 – 106.). Dem Diskurs dieser liberalen Rechtfertigungsordnung folgend reproduzieren beide Forschungsstränge deren normative Setzungen und gelangen so zu ihren vereinfachenden Konstrukten anhand der Leitunterscheidung rational/irrational. Eines der wichtigsten Axiome dieser liberalen Rechtfertigungsordnung ist ihr säkularistisches Selbstverständnis und das mit diesem verbundene Modernenarrativ. Unter anderem die Debatten um die Säkularisierungsthese und das Verhältnis von Religion und Moderne haben die geschichtskonzeptionellen Prämissen dieser Konstruktion aufgezeigt und zu einer gesteigerten Refle-
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Emotionen, radikaler Protest und Religionsdiskurs
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Wandel nur sehr unzureichend erklären. Demgegenüber wenden sich die angesprochenen neueren Arbeiten verstärkt den Prozessen der Entstehung und Stabilisierung von sozialen Bewegungen und Wertbindungen zu. Ein Fokus liegt dabei auf individuellen und kollektiven Erfahrungen der Selbsttranszendenz, die in diesen Arbeiten als einer der maßgeblichen Faktoren hierfür angesehen werden. Dadurch geraten insbesondere auch Emotionen ins Zentrum der Forschung, die in den rationalisierenden Forschungsansätzen »als bloße Epiphänomene«7 gedeutet werden, in diesen neueren Arbeiten aber als ein zentraler Bestandteil von Erfahrungen der Selbsttranszendenz und deshalb ebenfalls als von großer Bedeutung für die Entstehung und Stabilisierung von sozialem Protest wahrgenommen werden. In diesem Artikel werden solche Transzendenzerfahrungen und mit ihnen verbundene Emotionen theoretisch reflektiert und empirisch an zwei Beispielen aus der deutschen Anti-Atom-Bewegung in ihrer Bedeutung für sozialen Protest näher untersucht. Das Interesse an Erfahrungen der Selbsttranszendenz hat die Bewegungsund Protestforschung aus der Religionsforschung übernommen, die in diesen einen ihrer zentralen Gegenstände hat. Im Folgenden soll dies zunächst kurz am Beispiel des Forschungsansatzes des Religionssoziologen Andreas Feige aufgezeigt werden (1.). Daran anschließend wird vor allem unter Rückgriff auf das Werk des Soziologen Hans Joas, der durch seine Arbeiten zur Handlungstheorie entscheidende Impulse für ein gegenüber rationalistischen Verengungen erweitertes Verständnis menschlichen Handelns gegeben hat, genauer beschrieben werden, was mit Erfahrungen der Selbsttranszendenz gemeint ist (2.). In einem dritten Schritt werden Angsterfahrungen und Euphorieerfahrungen als zwei Formen solcher Erfahrungen näher dargestellt (3.). Anhand der Rekonstruktion von Daten aus einem Forschungsprojekt zu Orientierungen und Begründungsmustern in der deutschen Anti-Atom-Bewegung wird in einem vierten Schritt exemplarisch gezeigt, wie solche Erfahrungen zur Entstehung und Stabilisierung von Protestbewegungen beitragen können (4.). Abschließend wird der Ertrag der empirischen Untersuchung für die Theoriebildung über soziale Protestbewegungen zusammenfassend dargestellt (5.).
xivität in Bezug auf die kontingenten, historischen Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen von Religionstheorie und Sozialtheorie beigetragen. Diesem erhöhten Kontingenzbewusstsein hat heutige Forschung Rechnung zu tragen, um Wahrnehmungsdefizite zu überwinden und normative Engführungen zu vermeiden. Vgl. dazu Krause, Religion. 7 Pettenkoffer, Euphorie, 257.
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1.
Matthias Mader
Transzendenzerfahrungen und Religionsdiskurs
Religion ist vielfach als Verhalten zum Unverfügbaren, bzw. als Umgang mit Transzendenz bestimmt worden. In Übereinstimmung mit diesem Verständnis interessiert sich eine hermeneutisch und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Religionsforschung für Erfahrungen der Selbsttranszendenz, die Artikulation solcher Erfahrungen und den deutenden Umgang mit Transzendenz. Sie sieht insbesondere in Abgrenzung zu ontologisierenden Begriffsverwendungen von Religion und Religiosität in Transzendenzerfahrungen eine anthropologische Grundkonstante und ihren zentralen Forschungsgegenstand. Um das zu veranschaulichen sei zunächst kurz ein Blick auf das wissenssoziologisch-informierte und kulturwissenschaftlich-orientierte Programm empirischer Religionsforschung geworfen, das Andreas Feige im Anschluss an Joachim Matthes vorgeschlagen hat. Ebenso wie dieser kritisiert Feige ein normativ verdinglichendes Verständnis von Religion, als sei Religion und Religiöses etwas Substanzhaftes. In seinem Aufsatz »Auf der Suche nach dem ,Religiösen‹« plädiert Matthes stattdessen dafür, »,Religion‹ und ,Religiöses‹ als diskursive Tatbestände zu betrachten […], die sich im gesellschaftlichen Diskurs konstituieren«8. Feige spitzt dies wie folgt zu: »Religion existiert nur, insofern sich ,etwas‹ diskursiv konstituiert«9. Alles was sich in diesem Diskurs als Religion konstituiert, muss deshalb als eine reflexive »Verwirklichung« ex post in dem »Möglichkeitsraum« verstanden werden, den das »kulturelle Konzept« Religion absteckt. Es kann sich sowohl im Modus des Selbstverstehens als auch des Fremdverstehens als Religion nur unter Rückgriff auf dieses kulturelle Konzept verwirklichen.10 Die Erfahrungen aber, die unter Rückgriff auf die kulturelle Programmatik Religion als religiös artikuliert werden, sind vorgängig. Feige weist nun darauf hin, dass Matthes selbst nichts dazu sagt, »woher sie [d.h. die kulturelle Programmatik] ihre Bewusstseinsinhalte beziehungsweise Kriterien für das Dazugehörige bezieht«11, macht aber selbst einige Vorschläge. Nach ihm sind die »vermittels einer internalisierten kulturellen Programmatik reflexiv wahrgenommenen« Verwirklichungen im »Kern […] an Sachverhalten aller Art anhaftende Gefühle«12. Als Beispiel nennt Feige »das ,Gefühl der Sprachlosigkeit‹«, das sich bei einer Taiz¦-Meditation oder einem Grönemeyer-Konzert einstellen kann. In einem anderen sachlichen Zusammenhang zu Beginn seines Artikels spricht Feige von einem »Gefühlsbedürfnis nach Ausdrucksmöglichkeiten für Transzendenzempfindungen«. Empirische Religionsforschung hat 8 9 10 11 12
Matthes, Auf der Suche, 129. Feige, Kirche, 48. Vgl. Feige, a. a. O., 48 ff. A.a.O., 49. A.a.O., 50.
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sich dementsprechend nach Feige auf diese Gefühle und auf die Artikulation solcher Gefühle, bzw. Transzendenzempfindungen zu richten, die Sachverhalten aller Art anhaften. Teilt man dieses Verständnis, dann hat sich eine an der »religiöse[n] Dimension der Alltagskultur«13 interessierte Forschung nicht zuletzt auf solche Gefühle, bzw. Transzendenzempfindungen zu richten. Sie sind es schließlich, die gedeutet und artikuliert werden wollen. Was mit solchen Transzendenzempfindungen genauerhin gemeint sein könnte, wird nun im Folgenden anhand von Joas Überlegungen zu Erfahrungen der Selbsttranszendenz und daran anschließenden Überlegungen näher ausgeführt.
2.
Erfahrungen der Selbsttranszendenz
Hans Joas’ Interesse gilt insbesondere der Frage, wie jenseits des Sozialisationsgeschehens, in dem ein Mensch seine Ich-Identität erst ausbildet und, weil er zwischen Personen und Werten noch nicht unterscheidet, mit der Bindung an bestimmte Personen auch deren Werte übernimmt, Neues und vor allem neue Werte und Wertbindungen entstehen. In »Die Entstehung der Werte« entwickelt er die These, dass »Werte und Wertbindungen in Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz«14 entstehen. Sozialer Protest, der nicht einfach aus einer Routine heraus erfolgt, hängt deshalb nach Joas zu einem nicht geringen Teil von Transzendenzerfahrungen ab. Was aber sind Transzendenzerfahrungen? Um das zu verstehen, muss in aller Kürze etwas zu Joas Konzept des Selbst gesagt werden. Zwecksetzung, Körperkontrolle und Subjektgrenzenbildung sind Joas zufolge das Ergebnis einer langen sozialisatorischen Formung, in der sich ein Selbst erst ausbildet und ein Individuum die Fähigkeit erst entwickelt, Zwecke zu setzen und den eigenen Körper zu kontrollieren. Am Ende dieses Prozesses steht kein »unbeweglich »[s]ichselbstgleichbleiben[des]« autonomes Subjekt, das dauerhaft mit sich selbst identisch ist. Joas geht es im Anschluss an Pragmatismus, Phänomenologie und philosophischer Anthropologie darum, ein aktivistisches und rationalistisch verengtes Verständnis vom Selbst und vom Handeln zu überwinden. So sehr eine Person im Laufe der Selbstwerdung relativ stabile Handlungsmuster ausbildet, ist das Selbst doch niemals abgeschlossen. Identität besteht sowohl in einer ständigen kreativen »Reorganisation unserer Handlungsgewohnheiten und Institutionen«, aber auch »in einer aktiven, ja kreativen Verarbeitung von Widerfahrnissen und ich-fremden Regungen und der Bereitschaft zur Öffnung gegenüber anderen Identitäten«15. Transzendenz13 Gräb, Lebensgeschichten, 50. 14 Joas, Werte, 25. 15 Ders., Art. Kreativität.
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Matthias Mader
erfahrungen nun sind Widerfahrnisse, in denen ein Mensch von etwas außerhalb seiner selbst betroffen wird. In ihnen verfolgt ein Individuum nicht aktiv Zwecke. Macht ein Mensch solche Erfahrungen, begegnet er vielmehr einer starken anziehenden Kraft außerhalb seiner selbst, die ihn über die Grenzen des eigenen Selbst hinausreißt. Joas spricht deshalb synonym von Erfahrungen des Ergriffenwerdens von etwas jenseits seiner selbst und des Hinausgerissenwerdens über die Grenzen des eigenen Selbst.16 Entscheidend ist, dass ein Mensch eher passiv betroffen wird und an die Stelle reflexiver Intentionalität eher die vorreflexive Intentionalität des Körpers tritt, wodurch auch die Grenzen des Selbst weniger klar bestimmt sind. Das Selbst ist nicht restlos allem anderen gegenüber abgeschlossen und nicht alles, was es umgibt, ist klar bestimmt. Was in einem solchen Zustand in die Wahrnehmung tritt, wird eher durch Emotionen bewertet, weniger durch reflexive Akte. Das lässt sich an der nichtmetaphorischen Bedeutung von Ergriffenwerden und Hinausgerissenwerden verdeutlichen. In nichtmetaphorischer Verwendung ist ein Mensch, der ergriffen wird einer, der von einem anderen Menschen gegriffen und festgehalten wird. Durch die entstandene Verbundenheit ist er im Zustand der Ergriffenheit in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt und an die Bewegungskoordination mit dem anderen Menschen gebunden. Er kann nun den Versuchen des Ergreifens und des Hinausreißens einen Widerstand entgegensetzen, um es zu verhindern und sich abzugrenzen. Er kann aber auch die Kontrolle abgeben, das Ergriffenwerden zulassen, sich hingeben und von dem anderen bewegen lassen. Nur dann kann jemand auch hingerissen sein und werden. Ein ausgezeichnetes Beispiel für die nichtmetaphorische Verwendung sind Paartänze wie der argentinische Tango. Bei diesem Tanz übernimmt einer der beiden Partner die Führung. Der andere lässt sich führen, passt die eigenen Bewegungen an die des Partners an. Das geschieht aber nicht durch reflexivsteuernde und zwecksetzende Willensakte, denn sobald das Kontrollierenwollen dazwischen kommt, stockt der Tanz. Nur wenn »der Körper intentional freigesetzt, losgelassen, nicht kontrolliert«17 wird, kann es zu einem harmonischen und zugleich kraftvollem Tanz, zu einer gemeinsamen Bewegung kommen. Dieses sich hingeben bedeutet aber keinen grundsätzlichen Verlust von Intentionalität und damit von Handlungsfähigkeit. An die Stelle reflexiver Intentionalität tritt stärker die »vorreflexive[…] Intentionalität des Körpers«18. Eine Person überlässt sich in diesem Zustand ihrem Körper, mit dem sie sich in einer leibseelisch-geistigen Einheit weiß und der gespannt und entspannt zugleich in 16 Vgl. Joas, Braucht der Mensch, 17. 17 Ders., Kreativität, 248. 18 A.a.O., 248 f.
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die Bewegungen des Partners einstimmt. Für die Tanzenden kann es sich anfühlen, als wären sie von einer eigenartigen Kraft getragen und bewegt und als würden für Augenblicke die Grenzen zwischen ihnen verschwimmen. Die Phänomene, die Joas unter dem Begriff der Selbsttranszendenz fasst, sind vielfältig. Zu diesen Phänomenen gehören Erfahrungen des existenziellen Erschüttertwerdens durch das Leid eines anderen Menschen, Gespräche, in denen sich plötzlich das wohltuende Gefühl einstellt, »von jemandem in tieferen Schichten der eigenen Persönlichkeit intuitiv verstanden zu sein«19 und die spontane, heftige Verliebtheit zwischen zwei Menschen, die soweit gehen kann, dass einem der andere wichtiger wird als die eigene Person selbst; sodann, und das ist für die Bewegungs- und Protestforschung besonders wichtig, euphorisierende Erfahrungen kollektiver Ekstase und Erfahrungen der Angst, in denen das Ergriffenwerden als Bedrohung des Selbst empfunden wird. All dies sind solche Erfahrungen des Ergriffenseins und Herausgerissenseins, in denen die Grenzen des Selbst überschritten werden und sich ein Mensch von etwas mit Wucht erfasst fühlt, das ihn trifft, ihn ergreift und bewegt, ohne dass das was da erfasst und ergreift immer ohne weiteres benannt werden kann. Gefühlt wird zunächst eine intensive Betroffenheit. Im Nachhinein bleibt der Eindruck, etwas immens Wichtiges erfahren zu haben. Etwas Überwältigendes. Etwas, für das das die Worte fehlen können, das aber gleichwohl gedeutet werden will und durch die Gefühle immer schon gedeutet wird. Solche Erfahrungen der Selbsttranszendenz sind nämlich immer mit starken positiven und negativen Gefühlen verbunden, je nachdem, wie das Ergriffensein durch eine anziehende Kraft von außerhalb des eigenen Selbst in Bezug auf die vorgegebene Einheit des Selbst gedeutet wird. Sie können das Selbstbewusstsein stärken, aber auch schwächen. Gefühle setzen eine eigentümliche Selbstbeziehung voraus. Ein Selbst erlebt sich in der ständigen Bearbeitung differenter sinnlicher Eindrücke auf eine vorgegebene Einheit hin. Diese vorfindliche Einheit, das Sich-Gegebensein aber spürt es überhaupt erst in dieser Deutungsarbeit. Sinnlich vermittelt durch sein Weltverhältnis erlebt sich ein Selbst erst als Sich-Gegeben und ist sich seiner selbst als etwas eigenständiges, nicht ohne weiteres von der Welt abhängiges bewusst. In den sinnlich-vermittelten Gefühlen begegnet ein Selbst sich selbst und deutet etwas außer sich, durch das es betroffen ist, in Bezug auf sich als etwas sich selbst vorgegebenes. Mit Schleiermacher lässt sich das Gefühl als transzendentale Seite des Gefühls (unmittelbares Selbstbewusstsein) von den so oder so bestimmten Gefühlen (sinnliches Selbstbewusstsein) unterscheiden. Dass nun ein Selbst immer wieder auf sich selbst zurückkommt, kann es selbst nicht beeinflussen. Ein Selbst hat sich nicht selbst gesetzt. Das Zurückkommen auf sich selbst ist ihm unverfügbar. Es findet sich immer wieder in dieser ei19 Ders., Braucht der Mensch, 18.
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gentümlichen Selbstbeziehung vor. Ohne dass auf die Struktur dieser Selbstbeziehung an dieser Stellenäher eingegangen werden kann20, ist für den vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung, dass durch die Beziehung auf das unmittelbare Selbstbewusstsein die sinnlich vermittelten Gefühle ein Wertungsgefälle erhalten; dass also die Differenz eintritt, die in die Alternative von Lust und Unlust gefasst wird. Dabei kann Lust als das angesehen werden, was die Selbstübereinstimmung fördert oder zu fördern verspricht; die Fähigkeit also, sich im Kontakt mit der sinnlichen Umgebung besser zu erhalten bzw. leichter auf sich selbst zurückzukommen. Dabei handelt es sich um die Momente, angesichts derer die Selbstbeziehung als Grund der Gefühle fühlbar wird. Wo das Leben gelingt, so könnte man sagen, stellt sich leichter positive Selbstbeziehung ein. Auf der anderen Seite stehen solche sinnlichen Einflüsse und die mit ihnen sich verbindenden Gefühle, die die vorgegebene Einheit belasten und zu zerstören drohen.21
Angst und Freude sind die zwei Grundgefühle, in denen die Selbstbeziehung als Grund der Gefühle in ihrer Unmachbarkeit fühlbar wird. Während in der Freude das Gelingen dieser Selbstbeziehung in ihrer Unwahrscheinlichkeit gefühlt wird, ist die Angst, wie Paul Tillich sagt, »das Gewahrwerden der Endlichkeit als eigene […] Endlichkeit«22. Statt des Gefühls bei sich zu sein hat ein Mensch das Gefühl einer inneren Zerrissenheit, die ihn zu spalten droht. Die Einheit des Selbst ist gefährdet, »äußere Infragestellungen [werden] sofort als Ahnung des eigenen Endes empfunden«23. Die Distanz, die ein Mensch für eine gelingende Selbstbeziehung zu sich und den äußeren Dingen haben muss, geht gleichsam verloren. Wo Angst und Freude gefühlt werden, geht es also immer auch um das gelingende oder eben misslingende eigene Dasein.
3.
Angst und Euphorie in Protestbewegungen
Welche Konsequenzen lassen sich nun aus den weitergehenden Ausführungen zu Transzendenzerfahrungen und den mit ihnen zusammenhängenden Gefühlen für die Bewegungs- und Protestforschung ziehen? Solche Erfahrungen, in denen jemand von etwas außerhalb seiner selbst ergriffen wird und die starke Angst auslösen, können ein Motiv für sozialen Protest bilden. Sie können erklären, warum ein bestimmtes Thema für eine Person enorm wichtig wird und sie sich diesem verpflichtet fühlt. Wenn jemand eine überwältigende negative Erfahrung macht, die starke Angst auslöst und nicht 20 21 22 23
Vgl. dazu Korsch, In sich selbst. A.a.O., 5. Tillich, Der Mut, 35. Korsch, In sich selbst, 12.
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mehr loslässt und für welche die Worte fehlen, führt dies zu einer nachhaltigen Beeinträchtigung der Selbstbeziehung und einem Gefühl der Zerrissenheit. Das, was die Person in dieser ganzheitlichen Erfahrung von außen betroffen hat und was sie als selbstevident negativ und eine gelingende Selbstbeziehung gefährdend gefühlt hat, kann durch den starken emotionalen Eindruck zu einem dauerhaften Gegenstand der Reflexion werden. Aus dem Gefühl einer Selbstbeeinträchtigung heraus kann ein langfristiges, starkes Engagement für und gegen etwas entstehen. Diesen Angst auslösenden Erfahrungen stehen Erfahrungen der Selbsttranszendenz gegenüber, die überschwängliche Freude auslösen. Sie können erklären, wie sich sozialer Protest auch unter ungünstigen Handlungsbedingungen stabilisieren kann und warum unabhängig von Gelegenheiten protestiert wird. Dazu gehören Erfahrungen kollektiver Ekstase, wie sie Durkheim unter dem Begriff kollektive Efferveszens beschrieben hat. Gemeint sind Erfahrungen außeralltäglicher euphorischer Erregung, die sich bei der Zusammenkunft großer Gruppen von Menschen einstellen können. Andreas Pettenkoffer hat dieses Konzept für die Bewegungs- und Protestforschung weiterentwickelt und ausgehend von Durkheims Deutung von Strafriten die teils naturalistische Erklärung, die Durkheim in »Die elementaren Formen des religiösen Lebens« für solche euphorischen kollektiven Erfahrungen anführt und es so erscheinen lassen, als entstünden diese Gefühle quasi mechanisch durch die Zusammenkunft von Menschen, überwunden.24 Der Eigenwert eines Strafhandelns besteht nach Durkheim für die daran Beteiligten darin, dass sie sich gegenseitig der universellen Gültigkeit ihrer Überzeugungen versichern, trotz dem diese durch ein Verbrechen verletzt wurden. Eine Zusammenkunft zu diesem Zweck dient nicht primär der Abschreckung, sondern einer elementaren Form der Vergewisserung der gemeinsamen Identität. Die Zusammenkunft löst identitätsstärkende starke positive Emotionen aus, weil durch die sinnlich vermittelte Gemeinsamkeitswahrnehmung die Gültigkeit der eigenen, vorgängigen Überzeugungen bestätigt wird, die durch die negative Erfahrung infrage gestellt waren. Durch diese Gemeinsamkeitswahrnehmung wird die Erschütterung, die die Verletzung der Norm ausgelöst hat, aufgelöst. Überträgt man dieses Verständnis auf Protestereignisse, dann lassen sich die starken positiven Emotionen, die sich bei Protestereignissen einstellen können, so verstehen, dass durch die Gemeinsamkeitswahrnehmung bei Protestereignissen die Empfindung der Richtigkeit der eigenen Überzeugungen (einer vorgängigen Sinnstruktur) gestärkt wird und sich dadurch leichter eine positive Selbstbeziehung einstellt. Demgegenüber stehen als negativer Bezugspunkt Erfahrungen der Infragestellung der eigenen Überzeugungen, die als belastend 24 Vgl. Pettenkoffer, Euphorie, 259 – 268.
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empfunden werden und die konstitutiv für die starken Freudens- und Glücksgefühle sind. Das können gemeinsame negative Erfahrungen, ein geteilter negativ besetzter Gegenstand, aber auch viele kleine alltägliche Erfahrungen der Widerständigkeit und Unbeweglichkeit der sozialen Welt sein, durch die ein Gefühl der Befremdung der eigenen gegenüber Umwelt entstehen kann. Je stärker diese Infragestellung ist, desto mehr hat die Bestätigung – als negative Reaktion aus etwas als negativ Erfahrenes – einen starken emotionalen Effekt, der sich auch in starken Emotionen gegenüber den anderen Gruppenmitgliedern niederschlägt; darum wird die Wahrnehmung einer Gemeinsamkeit zur Erfahrung einer stützenden Kraft.25
Die Gefühle der Richtigkeit der eigenen Überzeugungen und die positiven Gefühle den anderen Gruppenmitgliedern gegenüber, die entstehen, weil die soziale Umwelt als weniger widerständig und anfechtend erlebt wird und so eine positive Selbstbeziehung erleichtern, verstärken sich wechselseitig. Werden diese Gefühle besonders stark, stellt sich ein Gefühl starker Überschwänglichkeit ein. Das kann dazu führen, dass Menschen über sich hinauswachsen, Dinge tun, die sie sich vorher nicht zugetraut haben, und sich voller Mut und Tatendrang fühlen. So wachsen ihnen aus dieser Erfahrung Kräfte zu, die sie über die Grenzen des Selbst hinausreißen, weit über den Zeitpunkt der Erfahrung hinaus wirksam sind und auch den Alltag leichter erscheinen lassen. Ein Selbst ist in diesem Zustand ganz bei sich und von einer außergewöhnlichen Kraft beseelt. Nicht zuletzt kann die überraschende Empfindung einer wie von selbst gelingenden Selbstbeziehung und der unendlichen Leichtigkeit des eigenen Lebensvollzugs, in der einem wie aus dem Nichts Kräfte zufliegen, überwältigen und sprachlos machen. Durch die positiven Gemeinsamkeitsgefühle kann letztlich auch der negative Bezugspunkt eine positive Umdeutung erfahren und mit Lust besetzt werden, weil durch ihn die positiven Gefühle erst möglich geworden sind. Vor allem aber können diese Erfahrungen Protest auch unter unwahrscheinlichen Umweltbedingungen stabilisieren. Zum einen, weil der Wunsch entstehen kann, diese Erfahrungen zu wiederholen und dies zur Teilnahme an kollektiven Protestveranstaltungen über Nützlichkeitserwägungen hinaus motiviert. Und zum anderen, weil die entstandenen Bindungen an andere Protestteilnehmer zu einer verstärkten Kooperation und unter Bezug auf die geteilten positiven und auch negativen Erfahrungen zu einer gemeinsamen Sinndeutungsarbeit führen, in der sich auch neue Sinnstrukturen ausbilden können.
25 A.a.O., 264.
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4.
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Erfahrungen der Selbsttranszendenz in der deutschen Anti-Atom-Bewegung
Fallbeispiel 1: Angsterfahrungen am Beispiel des Anti-Atom-Aktivisten Julian Das folgende Beispiel stammt aus einem etwa zweistündigen narrativen Interview26 über das Engagement in der Anti-Atom-Bewegung mit einem zum Zeitpunkt des Interviews 32-jährigen Atomkraftgegner, der sich seit einer bestimmten Erfahrung in seiner Jugend leidenschaftlich gegen die zivile Nutzung der Kernenergie, aber auch in vielen anderen Bereichen politisch engagiert. Das Interview wurde im September 2010 geführt. Der folgende Interviewausschnitt entstammt der Eingangsnarration, in welcher der Interviewte auf die Eingangsfrage antwortet. Diese lautete: »Wie isses eigentlich dazu gekommen, wenn Sie das einfach mal so erzählen vom Beginn her, dass Sie sich im GorlebenWiderstand beteiligen, wie ist das weitergegangen und (-) ja, wie hat sich das entwickelt, dass Sie da heute noch damit beschäftigt sind?« In den ersten drei Minuten erzählt der Interviewte von seiner Kindheit und Jugend, in der er im schulischen Rahmen durch die Teilnahme an einer »Öko-AG« zunächst ein Interesse an Vogelschutz, dann aber auch an Fragen der Verkehrspolitik und anderen Themen des Umweltschutzes ausgebildet hat. Dieses Interesse führte schließlich zu einer Mitgliedschaft in der örtlichen Jugendgruppe des Bundes für Umwelt und Naturschutz. Der Interviewte berichtet, dass er sich durch die Begegnungen mit den Menschen in diesen Umfeldern intensiv argumentativ mit der Nutzung der Kernenergie auseinandergesetzt hat und auch Kernenergiebefürworter angehört und ihre Argumente gründlich erwogen hat. Durch diesen Denkprozess ist er dann sehr schnell »zu dem Ergebnis gekommen, dass das ne ne sehr riskante Technik ist die die nicht beherrschbar ist sowohl vom vom Dauerbetrieb als auch von der Endlagerproblematik und dass sie zudem auch gar nicht nötig ist, dies ganze Risiko einzugehen.« Dieses Urteil hat aber hat nicht sein intensives Engagement gegen die zivile Nutzung der Kernenergie begründet. Dafür ist vielmehr eine Erfahrung maßgeblich, auf die er ab Minute vier zu sprechen kommt: und dann hab ich halt mal auf einem Jugendumfeldkongress so F/ n Film gesehn über äh einer der ersten äh Castortransporte, vielleicht war‹s auch der erste Castortransport ins Wendland und äh da ging‹s halt äh ziemlich rabiat zu, wie die Polizisten äh auf die 26 Das Interview wurde im Rahmen des von Prof. Dr. Wilhelm Gräb geleiteten DFG-Projektes »Religiöse Orientierungen und Begründungsmuster in der deutschen ,Anti-Atom-Bewegung‹: eine Fallstudie am Beispiel Gorleben« geführt. In Klammern gesetzte Minuszeichen im Interviewmaterial bezeichnen längere Pausen: (-) = 1 Sek.; Kommentare sind ebenfalls in Klammern gesetzt.
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äh Sitzblockade drauf losgeknüppelt haben und wie die Wasserwerfer da eingesetzt waren und ähm das war für mich überhaupt nicht ähm mit meinem Bild von Deutschland und dem Rechtsstaat und der Polizei, also Rechtsstaat hab ich mir damals noch nicht son Kopp drum gemacht, aber es war für mich mit dem deutschen Staat und das was man so va/ ähm was man für ein Bild von der Polizei hat überhaupt nicht in Einklang zu bringen. Ne P/ Polizist kennt man so als äh als als Räuberfänger und kennt man von der Verkehrserziehung und auf einmal äh sieht man Bilder wo man als junger Mensch denkt: ja sowas gibt‹s nur in autoritären Regimen kennt man vielleicht äh vom Platz des Himmlischens Frieden oder so ähm und das hat mich (Stimme zittert und erste Tränen kommen) das hat mich ähm sehr beschäftigt und ähm (-) ich hab gesagt das kann ich mir gar nicht vorstellen und ähm und da hab ich gesagt: das geh ich mir selber angucken (weint) also das glaub ich einfach nich, (weint heftiger) das tut mir leid aber das hat mich a also ma ku/ das hat mich wirklich damals sehr stark ähm jaa bewegt (weiterhin weinend) und dann bin ich damals an dem Wochenendticket dann als der nächste Castortransport war da hingefahren (-) und hab mir das angekuckt.
Der Interviewte beschreibt, wie die Wahrnehmung rücksichtsloser Polizeigewalt in einem Film über einen der ersten Castortransporte in ihm eine traumatische Krise auslöst. Noch Jahre später ruft die Erinnerung an dieses Ereignis starke Emotionen hervor und führt zu einem erneuten Erleben einer Überwältigung. Zu dieser Überwältigung kommt es, weil eine als absolut sicher geltende Überzeugung des Interviewten aus dem Nichts durch eine nicht mehr rückgängig zu machende sinnliche Wahrnehmung zerstört wird. Die zerstörte Überzeugung besteht darin, dass das, was er sieht, im demokratisch verfassten deutschen Staat nicht passieren kann. Zu sehen, dass es passiert, überwältigt ihn. Das setzt zum einen voraus, dass eine grundsätzliche Positividentifikation mit dem deutschen Staat und seinen Sicherheitsorganen besteht und zum anderen, das das Wahrgenommene als staatlich legitimiert verstanden wird. Andernfalls könnte das Wahrgenommene den Interviewten nicht mit solcher Wucht treffen. Das lässt sich durch eine gedankenexperimentelle Kontrastierung verdeutlichen. Jemand, für den der Staat ein ›Schweinesystem‹ ist, Polizisten ›Bullenschweine‹ sind und dessen Solidarität und Sorge sich deshalb nur auf eine Binnengruppe richtet und nicht auch auf die Funktionsträger des Staates und den Staat erstreckt, wird das »ziemlich rabiate« Vorgehen der Polizei nicht irritieren. Im Gegenteil: gerade weil ein solches Vorgehen hervorragend in das eigene Prädikatensystem passt und es bestätigt, kann eine je unterschiedlich starke Befriedigung empfunden werden. Jemand, der wiederum das Wahrgenommene als unrechtmäßiges Vorgehen bestimmter Polizisten interpretieren würde, würde eine Ahndung durch die Strafverfolgungsbehörden des Staates fordern. Der Interviewte aber interpretiert das Wahrgenommene als staatlich legitimiert und sieht damit einen Raum eröffnet, in dem der Staat und die Polizei in einem gewissen Rahmen willkürlich und gewaltsam gegen Bürger des eigenen Landes vorgehen können
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und der damit rechtsfrei ist. Dieser Eindruck kollidiert mit seiner Vorstellung vom rechtsstaatlich verfassten deutschen Staat und ruft in ihm einen heftigen Konflikt hervor, durch den es zu einem »sinnhaften Verlust[…] der Intentionalität«27 kommt und der erst einmal nur durch Weinen bewältigt werden kann, was sich mit Helmuth Plessner wie folgt verstehen lässt: er quittiert »das vital, spirituell und existenziell >Widersinnige< mit einer Reaktion, die zugleich Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe verrät. Indem er lacht, überlässt er seinen Körper sich selbst, verzichtet somit auf die Einheit mit ihm, die Herrschaft über ihn. Mit dieser Kapitulation als leibseelisch-geistige Einheit behauptet er sich als Person«28. Einerseits glaubt der Interviewte einfach nicht, was er da gesehen hat, andererseits hat er die Kontrolle verloren. Das Wahrgenommene beschäftigt ihn, ob er will oder nicht. Die starke Angst, die ihn erfasst, wird dadurch ausgelöst, dass sich der Interviewte nicht mehr sicher fühlt, weil er sich hilflos wähnt gegenüber willkürlich ausgeübter staatlicher Repression, die er zuvor in Deutschland nicht für möglich gehalten hatte. Sie führt zu einer nachhaltigen Beeinträchtigung der Selbstbeziehung, deren innere Grundlosigkeit in der äußerlichen Infragestellung empfunden wird.29 Eben diese Erfahrung nun führt im Fall Julian zu einem bis in die Gegenwart andauerndem intensiven Anti-Atom-Engagement und einer umfänglichen reflexiven Auseinandersetzung mit Fragen der Rechtsstaatlichkeit und des Rechts. Dabei kann angenommen werden, dass sich die starken negativen Emotionen, die mit der ursprünglichen Erfahrung der Wahrnehmung von Polizeigewalt verbunden sind, auch auf die Kernenergiethematik übertragen haben.
Fallbeispiel 2: Erfahrungen kollektiver Efferveszenz im Zusammenhang mit den Protesten während der Castortransporte ins Transportbehälterlager Gorleben im November 2011 Die in diesem zweiten Fallbeispiel angeführten Interviewausschnitte entstammen einer Online-Umfrage30, die während des Castortransports im November 2011 gestartet wurde und an der hauptsächlich in den ersten Tagen nach dem Castortransport insgesamt 282 Aktivisten teilgenommen haben. Der Fragebogen enthielt neben einem Block mit geschlossenen Fragen einen Block mit 27 28 29 30
Joas, Kreativität, 248. Plessner, Lachen und Weinen, 153. Vgl. Korsch, in diesem Band. Die Online-Umfrage wurde ebenfalls im Rahmen des von Prof. Dr. Wilhelm Gräb geleiteten DFG-Projektes »Religiöse Orientierungen und Begründungsmuster in der deutschen ,AntiAtom-Bewegung‹: eine Fallstudie am Beispiel Gorleben« durchgeführt.
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vertiefenden offenen Fragen. Die im Folgenden angeführten Beispiele antworten auf die folgende Frage: »Ihr Protest gibt Ihnen das Gefühl, etwas besonders sinnvolles zu tun. Was gibt Ihnen dies Gefühl? Was genau empfinden Sie als besonders sinnvoll?« Eine 16jährige Frau antwortet auf diese Frage: Wir sind alle EINS! Es sind so wahnsinnig viele Menschen, die genau dasselbe wollen wie du, diese Gemeinschaft ist einfach super fast eine andere Welt wenn nur alle so nett und hilfsbereit wären auf dieser Welt… Eine Masse hat viel mehr Wirkung und macht mehr Eindruck als ein paar hundert Leute. Es ist so super, man versteht sich mit jedem, kommt ins Gespräch mit völlig fremden Personen, die man trotzdem glaubt zu kennen eben weil sie so ticken wie du. GEMEINSAM SIND WIR STARK UND KÖNNEN DAS SCHAFFEN!!!!
Die Beschreibung enthält alle Attribute der Erfahrung kollektiver Efferveszens: das Sich-eins-Fühlen mit allen anderen Menschen, die starke Gemeinsamkeitswahrnehmung, die geteilten Überzeugungen, das Gefühl die alltägliche, widerständige Welt hinter sich gelassen zu haben und gleichsam in einer anderen Welt zu sein. In dieser anderen Welt sind die üblichen zwischenmenschlichen Grenzen aufgehoben: ein Gefühl stellt sich ein, alle anderen intuitiv zu kennen und von allen anderen verstanden zu sein. Aus dieser Erfahrung entsteht eine Kraft, durch die sich die Interviewte gestärkt fühlt. Eine positive Selbstbeziehung stellt sich ein, die das Gefühl einer stärkeren Selbstwirksamkeit verleiht. So geht es auch einer 26 jährigem Person, die antwortet: […] Gerade im Wendland kam aber noch die Erfahrung einer unglaublichen Solidarität und Hilfsbereitschaft, von anderen angereisten Demonstranten ebenso wie von Einheimischen, hinzu, die ich in diesem Maße noch nie erlebt hatte. Ich hatte fast das Gefühl, für ein paar Tage tatsächlich in einer besseren Welt gelebt zu haben: einander zu helfen, wie immer man konnte, war selbstverständlich, alles Essen vegetarisch, eine Organisation mit Räten und Konsensprinzip funktionierte hervorragend… Zu zeigen, dass so etwas möglich ist, hat mir dieses Gefühl noch mehr als bei anderen Aktionen gegeben.
Nicht immer kann das als sinnvoll Erfahrene und Hinreißende ohne weiteres ausgedrückt werden. Eine 40jährige Frau schreibt: Es ist eben ein Gefühl, ich kann das nicht genau beschreiben. Vielleicht ist es das Gemeinsame. Wir sind nicht einzelne »Spinner«, sondern eine sehr große Bewegung.
Die Beispiele zeigen pars pro toto, dass sich durch die Gemeinsamkeitswahrnehmungen und die gegenseitige Hilfsbereitschaft und Offenheit füreinander bei vielen Demonstranten eine leichtere Selbstbeziehung, das Gefühl erhöhter Selbstwirksamkeit und starke euphorische Gefühle einstellen. Durch sie wird der Protest auch dann als etwas äußerst Positives erlebt, wenn die erklärten Ziele des Protestes nicht erreicht werden. Auch im Jahr 2011 haben die Castorbehälter
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das Transportbehälterlager Gorleben schließlich erreicht. Die Proteste erhalten aber einen Eigenwert, nämlich das Gefühl »in einer besseren Welt gelebt zu haben«, in der das Leben leichter gelingt, und die Hoffnung, dass dieses bessere Leben wieder sein kann.
5.
Fazit
Der Fall Fallbeispiel 1 zeigt, wie aus einer stark emotional besetzten Krisenerfahrung heraus, ein dauerhaftes politisches Engagement entsteht. Die Wahrnehmung von als willkürlich empfundener Polizeigewalt löst in Julian eine starke Angst aus. Er sieht sich ihr unvermittelt ausgeliefert und sie trifft ihn mit aller Härte. Es handelt sich bei diesem Geschehen um eine Erfahrung der Selbsttranszendenz. Julian trifft etwas von außerhalb seiner selbst mit solcher Wucht, dass es sein Selbstempfinden nachhaltig verändert. Es ergreift ihn und er fühlt sich der ihn ergreifenden Kraft wehrlos ausgeliefert. Auf der sprachlichen Ebene wird das dadurch deutlich, dass er vom Agens zum Patiens wird. Eine Überwältigung tritt ein, weil etwas von Julians politischem Bewusstsein zerstört wird. Julian ist sich nun nicht mehr sicher, dass es im demokratisch verfassten deutschen Staat keine willkürlichen Übergriffe von Seiten des Staates auf seine Bürger gibt. Die Kräfte des Nicht-Glaubenwollens, die er gegen diese Kraft aufzubieten hat, sind viel zu schwach um ihn zu schützen. Er wehrt sich gegen diese Einsicht, aber es nützt ihm nichts. Was er gesehen hat, hat er gesehen. Dadurch fühlt er sich nicht mehr sicher. Er spürt plötzlich eine innere Halt- und Grundlosigkeit, der gegenüber er sich als Person nur durch starkes Weinen behaupten kann. Eben diese Erfahrung der Selbsttranszendenz setzt in den folgenden Jahren eine mit dieser erfahrung verknüpfte fortwährende Deutungsarbeit in Gang und führt dazu, dass Julian eine starke Bindung zu den Themen Rechtstaatlichkeit, Recht und Kernenergie aufbaut und sich ihnen viel stärker verpflichtet fühlt als zuvor. Sich für Rechtstaatlichkeit und gegen die zivile Nutzung der Kernenergie einzusetzen wird für ihn zu einem zentralen Wert. Der Fall Julian bestätigt damit die Theorie von Hans Joas, dass Wertbindungen in Erfahrungen der Selbsttranszendenz entstehen. Zweckrationale Erklärungsansätze scheitern hingegen am Fall Julian. Sie können in einem gewissen Rahmen erklären, warum Julian später bestimmte Mittel wählt, um bestimmte politische Ziele zu erreichen. Sie können aber nicht erklären, warum er überhaupt demonstriert und sich für diese Ziele einsetzt. Das Fallbeispiel 2 wiederum zeigt, dass Euphorieerfahrungen eine wesentliche Dimension von Protestereignissen sind. Bei solchen Euphorieerfahrungen handelt es sich ebenfalls um Erfahrungen der Selbsttranszendenz. Sie führen dazu, dass Menschen Dinge tun, die sie zuvor nie für möglich
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gehalten hätten, so dass sie über die Grenzen des eigenen Selbst hinausgerissen werden. Die sich aus einer Gemeinsamkeitswahrnehmung heraus aufbauenden starken positiven Gefühle lassen zudem all jene Sachverhalte, die mit diesen Gefühlen verbunden sind, als besonders wertvoll und den Alltag transzendierend empfinden. Sie erhalten einen Eigenwert und können dazu führen, dass an Protestereignissen u. a. deshalb teilgenommen wird und sie organisiert werden, um diese selbsttranszendierenden, euphorischen Erfahrungen zu wiederholen. Auf diese Weise stabilisieren sie dann Protest.31 Die Fallbeispiele belegen zusammengenommen, dass sich eine an den motivationalen Grundlagen für sozialen Protest interessierte Bewegungs- und Protestforschung neben anderen Faktoren nicht zuletzt auf mit starken Emotionen verbundene Erfahrungen der Selbsttranszendenz und deren Artikulation verwiesen sieht. Diese außeralltäglichen emotionalen Erfahrungen sind es nicht zuletzt, die dauerhafte Bindungen an bestimmte Werte und an andere Aktivisten entstehen lassen und einem Protestereignis als solchem einen Eigenwert zukommen lassen können, so dass auch dann protestiert wird, wenn geringe Aussichten auf politischen Erfolg bestehen.
Literatur Durkheim, Emilè, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981. Feige, Andreas, Kirche und Religion, in: Weyel, Birgit/Gräb, Wilhelm (Hg.), Religion in der modernen Lebenswelt, Erscheinungsformen und Reflexionsperspektiven, Göttingen 2006, 46 – 60. Gräb, Wilhelm, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998. Joas, Hans, Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg i. Br. 22004. Ders., Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M. 1999. Ders., Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a.M. 1992. Ders., Die Kreativität des Handelns, in: Wolkenkuckucksheim, Internationale Zeitschrift für Theorie und Wissenschaft der Architektur, 6.Jg., H. 1, 2001. Zugriff am 01. 03. 2013 unter : http://www.tu-cottbus.de/theoriederarchitektur/Wolke/deu/Themen/011/Joas/ Joas.htm. Kern, Thomas, Soziale Bewegungen. Ursachen, Wirkungen, Mechanismen, Wiesbaden 2008. Krause, Boris, Religion und die Vielfalt der Moderne, Erkundungen im Zeichen neuer Sichtbarkeit von Kontingenz, Paderborn 2012. 31 Zu dem möglichen Missverständnis, der hier rezipierte Erklärungsansatz der Entstehung von Werten und Wertbindungen hätte möglicherweise einen antimoralischen Zug, vgl. Joas, Werte, 252 – 293.
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Le Bon, Gustave, Psychologie der Massen, Stuttgart 1950. Matthes, Joachim, Auf der Suche nach dem ,Religiösen‹, Reflexionen zu Theorie und Empirie religionssoziologischer Forschung, in: Sociologia Internationalis 30, 1992, 129 – 142. Pettenkoffer, Andreas, Die Euphorie des Protests: Starke Emotionen in sozialen Bewegungen, in: Schützeichel, Rainer (Hg.), Emotionen und Sozialtheorie, Disziplinäre Ansätze, Frankfurt a.M. 2006, 256 – 285. Ders., Radikaler Protest. Zur soziologischen Theorie politischer Bewegungen, Frankfurt a.M. 2010. Plessner, Helmuth, Lachen und Weinen, in: Ders., Philosophische Anthropologie. Lachen und Weinen. Das Lächeln. Anthropologie der Sinne, Frankfurt a.M. 1970, 11 – 171. Tillich, Paul, Der Mut zum Sein, unveränderter Photomechanischer Nachdruck, Berlin/ New York 1991. Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie 1, Tübingen 1920. Zald, Mayer N./McCarthy John D., ,Resource Mobilization and Social Movements, A Partial Theory, in: Dies. (Hg.), Social Movements in an Organizational Society, New Brunswick 1987, 15 – 42.
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Kristin Merle
Virtual and real: Gefühle im Cyberspace
Wer den Browser öffnet, für den tut sich eine neue Welt auf. Mehrere Hundert Millionen Websites und ein Traffic von 522 Exabyte im Jahr (2012) bezeugen, dass moderner Datentransfer bzw. Informationsaustausch mittlerweile ganz selbstverständlich (auch) andere Wege geht als die der Kommunikation face-toface (F2F). Computer-mediated Communication (CMC) ist eine Form der Sozialtechnik geworden, die aus den modernen und globalisierten Interaktionszusammenhängen nicht mehr weggedacht werden kann. Hartnäckig hält sich das theologische Vorurteil, dass CMC im Verhältnis zu F2F nur etwas Abgeleitetes, Defizitäres ist, dem man am besten unter Einbeziehung des hermeneutischen Verdachts begegnet: Die Kanalreduktion (Wegfall von ursprünglichen Gesten und Mimiken etc.) verunmöglicht, dass eine Botschaft angemessen kommuniziert werden kann, da der Bereich der nonverbalen Kommunikation und mithin die basalste Form emotionaler Kommunikation entfällt. Dieser hermeneutische Verdacht zeigt sich oft in Gestalt der Problematisierung des Aspekts der ›Echtheit‹ von Kommunikation im Internet.1 Im vorliegenden Beitrag möchte ich kurz veranschaulichen, dass das Internet und mit ihm CMC eigene Mittel bereithält, um die Kanalreduktion zu kompensieren. Das Netz eröffnet so eine Perspektive, in die hinein Subjekte sich begegnen, sich offenbaren und mitteilen, so dass ein emotionaler Raum entsteht, in dem Menschen nach Selbstvergewisserung streben und intersubjektiv Selbst- und Weltdeutungen vornehmen – freilich unter den Bedingungen des Mediums. Mit dem Cyberspace sind neue Räume geschaffen, in denen Menschen emotionale Erfahrungen auch als religiöse Erfahrungen mitteilen und miteinander teilen.
1 Vgl. Haese, Hinter den Spiegeln, 226 ff.; vgl. ders., Fake, 73 ff.
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1.
Kristin Merle
Das Internet als neuer Erfahrungsraum
Geht man von einem dynamischen Raumkonzept aus, legt sich das Verständnis nahe, dass Raum nicht schlicht gegeben ist und insofern nur wahrgenommen werden muss. Raum wird vielmehr erst konstituiert durch Wahrnehmung und Bewegung sowie durch intersubjektives und symbolisches Handeln.2 Raum ist in dieser Konsequenz nicht nur materiell vorhandener Raum, sondern auch Raum als Vorstellung, als virtueller Raum. Dass Virtualität keine Erfindung des digitalen Zeitalters ist, sondern anthropologisch grundgelegt, verdeutlicht BerndMichael Haeses dreifache Unterscheidung von Virtualität: 1. Virtualität als Grundlage des Menschenseins in Form von Ideen oder Entwürfen, Antizipation oder Erinnerung, als Distanzierungsmöglichkeit unmittelbaren Gegenwartsempfindens; 2. Virtualität als Erzeugtes durch Hilfsmittel: Mythen, Briefe, Bücher ; 3. Virtualität, die »[…] komplexe gedankliche Aktivität mit Hilfe von digitalisierten, also mit Hilfe von Computern hergestellten Umgebungen anregt und beherbergt.«3 Das Internet bzw. der Cyberspace ist also ein medial vermittelter Informations- und Kommunikationsraum, der durch die Vernetzung von Techniken sowie durch die die Techniken nutzenden Subjekte entsteht. Der Cyberspace basiert also auf der Vernetzung technischer Geräte (Computer), er bezeichnet jedoch insgesamt den Handlungsraum, der durch alle bereits vollzogenen aber auch alle möglichen Kommunikationen entsteht.4 Räume sind immer Erlebnisräume insofern, als Raum und Gefühl zwei Größen darstellen, die untrennbar miteinander verbunden sind. In diesem Zusammenhang können Gefühle verstanden werden als in Zeit und Raum gewachsene und geprägte Bewegungen des Inneren in Kommunikation mit dem Außen, Inszenierungsformen also, die für das Subjekt wie für den anderen etwas ›zur Erscheinung bringen‹ und die spezifische Ausdrucksformen entwickeln.5
Mit Blick auf das Internet lässt sich das Entstehen des Raumes aus zusammenwirkenden sozialen Praxisformen noch einmal neu plausibilisieren: Nicht die physische Nähe erzeugt den Raum, sondern die Bezogenheit der Interaktion aufeinander.6 Es handelt sich also um eine medial vermittelte Nähe, die keine physische Co-Präsenz voraussetzt. Der Cyberspace ist etwas Drittes, das einerseits in gewisser Weise die Vorstellung von Zeit und Raum als etwas notwendig Stabiles und Einheitliches fragmentiert. Die zunehmende Mediatisierung lässt 2 3 4 5 6
Vgl. Lehnert, Raum und Gefühl, 10; vgl. Lefebvre, Produktion. Haese, Hinter den Spiegeln, 137 f. Vgl. a. a. O., 167. Lehnert, a. a. O., 11. Vgl. Castells, Netzwerkgesellschaft, 467.
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Virtual and real: Gefühle im Cyberspace
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fraktale Räume entstehen, die aus »[…] durchlöcherten, vielfach in sich gebrochenen Mannigfaltigkeiten [bestehen]«7, so dass »parallele Prozessierung« in verschiedenen Kommunikationszusammenhängen zur neuen Kulturtechnik avanciert.8 Um parallele Prozessierung handelt es sich, wenn Menschen in der UBahn telefonieren, während sie ihr Profil auf facebook aktualisieren oder eine EMail schreiben. Gleichzeitig transzendiert jedoch der Cyberspace durch seine technischen Voraussetzungen und Möglichkeiten gängige Vorstellungen von Kommunikation in Zeit und Raum. In gewisser Weise transzendiert er damit Raum und Zeit selbst durch seinen virtuellen Charakter, er ist dabei aber gleichzeitig immer verwiesen auf die sozialen Praktiken der Nutzer und Nutzerinnen, die diesen Erfahrungsraum erst generieren.
2.
Kommunikation und soziale Interaktion
Das Internet gestaltet sich mehr und mehr über die Technologien der Social Media aus. In Unterscheidung zur ›ersten Generation‹ des Internets, in der die Kommunikation wie bei den herkömmlichen Massenmedien analog der Unterscheidung zwischen Sender und Empfänger verlief (one to many ; vgl. die klassische Homepageseite mit informierenden Texten unter Angabe allenfalls etwa einer telefonischen Kontaktmöglichkeit), zeichnet sich das Social Web, auch ›Web 2.0‹ genannt, dadurch aus, dass das Sender-Empfänger-Modell zugunsten des Marktplatzmodells (many to many) mehr und mehr weicht. Es ist auch in vielen Fällen nicht mehr eindeutig unterscheidbar, wer producer und wer consumer ist, da Kollaboration und partizipative Interaktion zum Wesensmerkmal der neuen Technologien geworden sind: Der prodsumer ist der moderne Internetnutzer, der kollaborativ an der Erstellung neuer oder an der Umgestaltung bestehender Inhalte mitwirkt. Ein gutes Beispiel ist hier die Erstellung von Wikis, die durch das gesammelte und im besten Fall kritisch revidierte Wissen Vieler entstehen. Die neuen Technologien haben neue Kommunikationsformen geschaffen: Soziale Netzwerke wie facebook wachsen stetig, aber auch das Schreiben und Kommentieren von Weblogs, Microblogging (twitter) oder Chatten via MSN oder ICQ gehören zur Alltagsroutine vieler Menschen. Spezifisch für das Web 2.0 ist, dass Dienste und Technologien kombiniert angewendet werden können (Crossmedia-Kombinationen); intersubjektive Kommunikation findet dabei jedoch vor allem schriftlich statt.
7 Mersch, Fraktale Räume, 57. 8 Vgl. a. a. O., 60.
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Schreiben in den neuen Medien: konzeptionell mündlich
Mit den Technologien des Web 2.0 haben sich neue Formen der Kommunikation entwickelt, die wiederum neue Formen des Schreibens mit sich bringen. Zudem werden die entstehenden Texte unter Zuhilfenahme der neuen Medien produziert, die dem Prozess des Schreibens ihre eigene Signatur geben: Schreiben am PC oder über die Tastatur / das Touchscreen am Handy ist anderes Schreiben als Schreiben von Hand.9 Texte, die online entstehen, wie Chat-Beiträge oder EMails, haben insofern ihre eigenen Charakteristika, als sie über zeitnahe Rezeption, Produktion und Distribution in einem Medium Formen eines mündlichen Dialogs annehmen können. Je synchroner die Kommunikation zwischen zwei Interaktionspartnern abläuft, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Sprachgebrauch der so genannten ›konzeptionellen Mündlichkeit‹ annähert.10 Während also bei tendenziell asynchroner Kommunikation wie der EMail-Kommunikation durchaus eine Nähe zum Verfassen von Briefen entstehen kann, nähert sich die Kommunikation bei Chats, die davon leben, dass Interaktion spontan erfolgt, stark an die gesprochene Sprache an; diese Form der Kommunikation ist zwar medial schriftlich, aber konzeptionell mündlich11: A: B: A: B:
heute Prüfung gehabt oh gestern begonnen zu lernen und?12
Die elektronisch vermittelte Kommunikation folgt, wie alle anderen Kommunikationen offline auch, bestimmten Intentionen. Für das Social Web benennt Jan Schmidt drei Handlungskomponenten, die das Verhältnis zwischen Subjekt und medial vermittelter Umwelt bearbeiten: Identitätsmanagement, Beziehungsmanagement und Informationsmanagement.13 Mit Blick auf die emotionale Kommunikation im Netz interessieren vor allem die beiden ersten Aspekte.
9 Vgl. Dürscheid/Brommer, Getippte Dialoge, 5. 10 Vgl. a. a. O., 7. 11 Die Terminologie ist dem Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsmodell von Koch/Oesterreicher entnommen, dessen Anwendbarkeit auf die Analyse neuer medialer Kommunikationsformen diskutiert wird. Gleichwohl findet es im medienlingustischen Diskurs immer wieder seinen Platz. Vgl. Dürscheid/Brommer, a. a. O., 14 f.; zum Mündlichkeit-/Schriftlichkeitsmodell vgl. Koch/Oesterreicher, Schriftlichkeit und Sprache. 12 Kleiner Chatausschnitt, entnommen: Dürscheid/Brommer, a. a. O., 15. 13 Schmidt, Netz, 71.
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2.2.
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Identitätsmanagement, Selbststeuerung und Aushandlung von Beziehungen
Der neue Erfahrungsraum Internet stellt an die Subjekte die gleichen Fragen wie ihre restliche Umgebung: »Wer bin ich? Welche Position habe ich in meiner sozialen Umgebung? Wie orientiere ich mich in der Welt?«14. Insofern ähneln die Handlungsvollzüge online denen offline. Identitätsmanagement wie Beziehungsmanagement sind Teil der Selbststeuerung der Subjekte, welche immer wieder neu eingeübt und durchlebt werden muss. Aber nicht nur die Selbststeuerung wird immer wieder zur Aufgabe, sondern die Austarierung dessen, was die subjektive Identität ausmacht und wie welche Beziehungen aufgebaut und gepflegt werden wollen, spielt lebenslang eine Rolle: »[I]dentity is a fluid ongoing process, something that is permanently ›under construction‹. […] Identity is something we do, rather than simply something we are«15, und dieser Prozess ist eng an den aktiven Prozess geknüpft, ein Gefüge von als wichtig erachteten Beziehungen zu anderen Subjekten aufzubauen, aufrecht zu erhalten und fortzusetzen.16 Diese Aufgabe stellt sich online genauso wie offline, weil der Gebrauch von Computern und digitalen Medien für immer mehr Menschen zu einer unverzichtbaren Kommunikationsform, privat wie beruflich, geworden ist, die sich als Sozialtechnologie mittlerweile mit großer Selbstverständlichkeit neben andere Kommunikationsformen, wie das Gespräch unter physisch Anwesenden, eingereiht hat. Das bedeutet, dass die getippte Nachricht im Netz die gleichen Seiten aufweist wie die gesprochene Nachricht F2F: Sachinhalt, Appell, Beziehung, Selbstoffenbarung.17 Elektronisch vermittelte Kommunikation ist zwar Kommunikation in einem anderen Medium und in einer anderen Form, grundsätzlich unterscheiden sich aber die Intentionen zur Kommunikation und die Dimensionen zwischenmenschlicher Kommunikation online von der offline nicht. Gleichzeitig eröffnen die neuen Medien einen neuen, großen Spielraum für Selbstreflexion und Selbstthematisierung, wobei eine Verschiebung in der Mediennutzung durchaus beobachtbar ist: Während zum Beispiel in der Herausbildung der Moderne etwa das Tagebuch verstärkt der Selbstreflexion dient, sind die gegenwärtigen Medien eher auf Selbstthematisierung aus.18 Dies wird anschaulich zum Beispiel an den Profileinträgen bei Social Networks wie facebook, an Blogeinträgen und selbst gedrehten Videos bei youtube. Ein bisher unbekanntes Phänomen im Umgang mit den neuen Medien – auch für die Selbstreflexion und Selbstthematisierung – ist, dass oft die Reichweite der 14 15 16 17 18
A.a.O., 73. Buckingham, Identity, 8. Vgl. Hogan, Networking, 14. Vgl. Schulz von Thun, Miteinander reden, 14. Vgl. Schmidt, a. a. O., 76.
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preisgegebenen Informationen und Eindrücke der eigenen Person nicht wirklich eingeschätzt werden kann, und dass die Einträge in der Regel persistent und verfügbar sind. Dies setzt für die Nutzer und Nutzerinnen eine ganz eigene Notwendigkeit für einen reflektierten Mediengebrauch voraus. ›Welten eröffnend‹ ist die Transzendierung von Raum und Zeit durch die neuen Medien: Menschen werden immer leichter für andere Menschen in unterschiedlichen Lebensräumen erreichbar, das Netz wird auch zum Begegnungsraum für Personen, die sich bisher nicht kannten. Das Netz lässt für Beziehungsgestaltungen räumliche Mobilität und zeitliche Flexibilität zu. Hierarchien bilden sich auch hier, wenngleich in neuer Form, es kristallisieren sich Knotenpunkte um Personen heraus, die mit ihrer Aktivität eine große Reichweite haben und andere, die eher passiv partizipieren. Die Hierarchien sind in einer Netz-Community jedoch tendenziell flacher als offline, die Beziehungsnetzwerke sind dabei flexibel, auch flüchtig und werden stets umgebaut.
3.
Gefühlsmitteilung in schriftbasierter Netzkommunikation
Bei all dem kann und soll natürlich nicht negiert werden, dass bei der digitalen Kommunikation im Netz der Faktor der unmittelbaren Leiblichkeit ausfällt. Zwar gibt es Versuche, diesen Ausfall zu kompensieren, etwa über Avatare in 3DWelten (zum Beispiel bei der Plattform Second Life) oder Technologien, die die eigenen Bewegungen des Nutzers in die virtuelle Welt hinein übersetzen (vgl. die Videospiel-Konsole Wii). Es bleibt jedoch dabei, dass der Körper in seinem unmittelbaren Eindruck des einen Kommunikationspartners, der vor dem Computer sitzt, dem anderen Kommunikationspartner, der ebenfalls vor einem anderen Computer sitzt, entzogen bleibt. Das hat vor allem die Konsequenz, dass der Bereich der direkten nonverbalen und paraverbalen Kommunikation ausfällt, der in der Kommunikation F2F immer mitläuft und gegeben ist.
3.1.
Nonverbale Kommunikation F2F und die Grenze der Leiblichkeit bei CMC
Nonverbale wie paraverbale Kommunikation im F2F-Kontakt hat verschiedene Funktionen. Zum einen liefert sie Informationen über den Gesprächspartner. Der Bereich der nonverbalen Kommunikation ist der Bereich, der – in Ergänzung zur oder unabhängig von der verbalen Kommunikation – Emotionen mitteilt, der Gestimmtheiten weitergibt, der Auskunft über Einstellungen gibt,
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der Modulationen hören lässt. Nonverbale Kommunikation reguliert zu einem wesentlichen Anteil die Interaktion, sie drückt Intimität und Vertrautheit aus.19 Mimik, Blickkontakt, Gestik, Kopf- und Sitzhaltung – all das sind Parameter, die so in CMC nicht beobachtbar sind. Auch paraverbale Anzeichen wie Stimmführung und Klangfarbe, Prosodie, Sprechtempo etc. sind nicht über die schriftbasierte Kommunikation direkt vermittelbar. Während Emotionen auch bei CMC über Introspektion als subjektive Mitteilung ausgedrückt werden können (s. u.), entfällt also das unmittelbare Ausdrucksverhalten. Bei ihm kann man davon ausgehen, dass es zwar einerseits uneindeutiger für die Interpretation durch den Anderen sein kann; da aber andererseits nonverbale Kommunikation als unmittelbares Ausdrucksverhalten deutlich weniger steuerbar ist als verbale Kommunikation, wird es von vielen als ›echter‹ bzw. ›wahrer‹ angesehen. Bekannt geworden sind etwa die Untersuchungen von Paul B. Ekman u. a. zu den Mikroexpressionen in riskanten bzw. heiklen Situationen: Mikroexpressionen des Gesichts dauern Bruchteile von Sekunden an, können kaum unterdrückt werden und offenbaren zumeist eine der sieben Basisemotionen: Angst, Freude, Überraschung, Verachtung, Ekel, Ärger, Traurigkeit.20 An diesen Beispielen wird die Begrenzung der CMC deutlich bzw. der interpretatorische Vorteil von F2FKommmunikation für die Beobachtenden: Unwillkürlich mitgeteilte Mikroexpressionen sind in der digitalen Kommunikation weder ablesbar noch darstellbar, sofern sie keine bewusste Äußerung sind. Damit ist allerdings nicht ausgesagt, dass emotionale Kommunikation über CMC keine Möglichkeit darstellt. Die Unmittelbarkeit des leiblichen Eindrucks bezeichnet die Grenze, nicht mehr und nicht weniger. Es wird zu zeigen sein, dass Emotionen und emotionale Kommunikation eine unverzichtbare Rolle in CMC spielen, und dass Emotionen online genauso oft kommuniziert werden wie offline. Vor diesem Hintergrund erscheint der Einwurf der Denkschrift der EKD zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche »Das rechte Wort zur rechten Zeit« (2008) mit Blick auf die Entwicklung im Zuge des digitalen Medienwandels der Sachlage nicht ganz angemessen; dort heißt es: Bei aller verständlichen Faszination durch solche Möglichkeiten, die auch von kirchlichen Mitarbeitenden längst genutzt werden, sind doch auch deren potentiell problematische Auswirkungen zu bedenken – etwa hinsichtlich des Schwundes persönlich erlebter Zwischenmenschlichkeit zu Gunsten der Teilnahme an virtuellen Begegnungsräumen und Inszenierungen von Lebensvollzügen (›second life‹). Gerade weil ganzheitlich verstandene und gelebte, den ganzen Menschen ansprechende Kommunikation im besonderen Interesse der Kirche liegt, muss sie das Risiko einer derart
19 Vgl. Derks/Bos/Grumbkow, Emoticons, 843. 20 Vgl. Ekman, Gesichtsausdruck.
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grundlegenden Veränderung des Kommunikationsverhaltens ansprechen – und mit adäquaten Angeboten attraktive Alternativen bieten.21
Es erscheint schlicht sachlich nicht richtig, dass die digital vermittelte Kommunikation automatisch zu einem »Schwund persönlich erlebter Zwischenmenschlichkeit« führt, auch nicht, wenn diese Kommunikation mittels Avataren in Online-3D-Welten stattfindet. Was bedeutet in diesem Zusammenhang »ganzheitlich verstandene und gelebte, den ganzen Menschen ansprechende Kommunikation«, und wer will beurteilen, ob eine Kommunikation zum einen ganzheitlich ist und andererseits den ganzen Menschen anspricht? Hier wird als Folie erneut das Bild einer virtuellen Welt bemüht, die mit der Realität / dem wirklichen Leben nichts zu tun hat, wobei diese virtuelle Welt den Menschen zu etwas verleitet, das er im eigentlichen Sinne gar nicht wollen kann: nämlich Inszenierung i. S. von Verstellung, oberflächliche und flüchtige Gefühle aufgrund unverbindlicher Kommunikationssituationen, eine eingeschränkte sinnliche Wahrnehmung, die zunehmend auch die Wahrnehmungsfähigkeit bei sich selbst und für andere beschränkt. Wenn die Grenze der Leiblichkeit benannt wird, kann doch zunächst einmal entdeckt werden, dass reduzierte Sichtbarkeit nicht automatisch zu einem Schwund persönlich erlebter Zwischenmenschlichkeit und emotionaler Kommunikation führt.
3.2.
Verschiedene Formen emotionaler Kommunikation im Netz
Emotionen werden in all ihrer Vielfalt online kommuniziert, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es schwieriger wäre, Emotionen online als im F2FKontakt zu kommunizieren. Insofern kann bei CMC nicht abgeleitet werden, dass es generell ein weniger persönliches Medium wäre als die F2F-Kommunikation.22 Definiert werden kann Kommunikation von Emotionen / emotionale Kommunikation als »[…] recognition, expression and sharing of emotions or moods between two or more individuals.«23 Es handelt sich um ein existenzielles menschliches Bedürfnis, eigene emotionale Erfahrungen mit anderen zu teilen und darüber zu sprechen (Scham bildet hier eine Ausnahme), und es gilt: Je ausgeprägter und tiefer das Gefühl, umso größer ist das gefühlte Bedürfnis, darüber – oder über den zugehörigen Sachverhalt – zu sprechen.24 Unterschieden werden kann, auch online, zwischen explizit und implizit 21 Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Das rechte Wort, 52. Hervorhebungen im Text von mir [KM]. 22 Vgl. Derks/Fischer/Bos, The role of emotion, 766, 779. 23 Vgl. a. a. O., 767. 24 Vgl. a. a. O., 770.
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emotionaler Kommunikation. Während mit Blick auf die implizite emotionale Kommunikation der Stil einer Nachricht interessant ist und hier Parameter wie Grad der persönlichen Involviertheit, Sprachgebrauch, Formen der Selbstoffenbarung in den Fokus kommen, können für die explizite emotionale Kommunikation unterschieden werden: der direkte verbale Ausdruck (›ich freue mich‹), Zeichen (L), Einschätzungen / Bewertungen (›das ist beängstigend‹) oder Ausdrücke verbal angedeuteter Handlungsintentionen / Aktionswörter (›ich könnte heulen‹ / ›ich umarme dich‹).25 Dass Emotionen, positive wie negative, kommuniziert werden und notwendig kommuniziert werden müssen, um soziale Beziehungen aufzubauen und zu erhalten, zeigen zahlreiche Kommunikationsformen im Internet wie z. B. Chat per Instant Messaging mit Freunden und Bekannten, Online-Dating26, Selbsthilfeforen, Onlineseelsorge. Die letzten drei Formen sind in ihrer Anlage auf emotionale Kommunikation angewiesen, insofern sind sie Exponenten dessen, was sich jedoch immer schon in vielfältigen Kommunikationen per Chat, E-Mail oder allgemeinen SupportForen abspielt.27 Die Kreativität der Internetnutzer hat sich zur Kompensation des Ausfalls der nonverbalen Kommunikation bereits neue Formen einfallen lassen – nur um einige zu nennen: Emoticons versuchen, Mimik (und teilweise Gestik) anzuzeigen, z. B.: :-) (lächelndes Gesicht / Freude); :-( (trauriges Gesicht); :-o (Überraschung); :-P (rausgestreckte Zunge); XD (lautes Lachen / Grinsen) – und für den Jubilar : \( _ )/ Interjektionen verschiedenster Art als Ausdruck gesuchter Mündlichkeit (Symptominterjektionen, Aufforderungswörter, Onomatopoetika etc.), z. B.: ach , igitt, huhu, *klong*, *rums*, *seufz*, *kotz*, *freu*; dann aber auch als komplexe mehrgliedrige Inflektive: *indenarmnehm*, *zähneknirsch*, *ganzdollliebhab* Akronyme, z. B.: LOL (laughing out loud), ROFL (rolling on the floor laughing), IMHO (in my humble opinion) In der Netzsprache hat sich durchgesetzt, durch Großschreibung die besondere Exaltierung / Schreien auszudrücken: NEIN!, DAS KANN DOCH NICHT WAHR SEIN!, SO TOLL! etc.
Die Faktoren ›soziale Präsenz‹ und ›Sichtbarkeit‹ beeinflussen in ihrer Stärke (vermindert oder sehr präsent) nun drei unterschiedliche Aspekte emotionaler Kommunikationen: Inhalt und Stil einer Botschaft, den Ausdruck von Emotionen und das Erkennen bzw. die Möglichkeit des Erkennens einzelner Emo25 Vgl. a. a. O., 768. 26 Vgl. zum Online-Dating: Dombrowski, Suche; Ben-Ze’ev, Love Online. 27 Zwischen Chat, Foren und Blogs können noch einmal Unterschiede in der Ausprägung emotionaler Kommunikation erhoben werden, vgl. Garas/Garcia/Skowron/Schweitzer, Emotional persistence.
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tionen. Man kann davon ausgehen, dass einerseits bei verminderter sozialer Präsenz – also in CMC – leichter negative Emotionen kommuniziert werden, weil man den Gesprächspartner womöglich nicht kennt, oder weil man sich der Konsequenzen des eigenen emotionalen Ausdrucks nicht bewusst ist bzw. aufgrund der verminderten sozialen Präsenz nicht unmittelbar bewusst sein muss. Zugleich ist bekannt, dass reduzierte Sichtbarkeit auch von Emotionen in der Kommunikation wiederum den emotionalen Stil und Inhalt befördert und stärkt, zumal bei Menschen, die sich schwer damit tun, Emotionen in der Kommunikation F2F auszudrücken.28 Dass CMC eine neue Form der Kommunikation ermöglicht, die wichtig und hilfreich ist, zeigt sich an den Selbsthilfeforen und den Angeboten zur Onlineseelsorge (Chat, E-Mail, SMS). Das gemeinsame Angebot der katholischen und der reformierten Kirche in der Schweiz seelsorge.net verzeichnet etwa für das Jahr 2010 150 tägliche Nutzer und Nutzerinnen des Angebots bei einer Gesamtanzahl von ›hits‹ im Jahr 2010 von rund 1,4 Millionen.29
3.3.
Reduzierte Spontaneität, Kontrolle und Anonymität
Bleibend ist der Unterschied zwischen der Kommunikation F2F und CMC, dass das Ausdrücken bzw. Verbalisieren von Emotionen nicht identisch ist mit der emotionalen Primärerfahrung und dem primären Ausdruck. Wichtig ist allerdings zu sehen, dass diese Differenz vor allem durch die reduzierte Spontaneität gegeben ist, die aus der zeitlichen Verschiebung in der Interaktion resultiert – selbst im Chat, wo auch immer noch das Gedachte und Gefühlte über die Tastatur und mittels des Schreibvorgangs übersetzt werden muss. Mit der reduzierten Spontaneität ist dann auch die Möglichkeit gegeben, den expliziten Ausdruck von Emotionen zu kontrollieren und zu steuern. Im Vergleich zu nonverbalen (unwillkürlichen) Anzeichen in der F2F-Interaktion können Emotionen in CMC intentional-willentlich gebraucht werden. Mit Blick etwa auf den Gebrauch von Emoticons schließen Derks et al. daraus: »The use of emoticons, therefore, does not necessarily tell us that individuals experience an emotion, as it only conveys the conscious intentions and motives of the person using the emoticon.«30 An dieser Stelle liegt der hermeneutische Verdacht hinsichtlich der Echtheit digitaler Kommunikation nahe. Zur Relativierung des Problems sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Regulierung des emotionalen Ausdrucks auch und gerade auf nonverbaler Ebene in der F2F-Kommunikation 28 Vgl. a. a. O., 769. 29 seelsorge.net, Jahresbericht 2010. 30 Derks/Fischer/Bos, The role of emotion, 778.
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als Zeichen professionellen Handelns etwa im beruflichen Bereich weitgehend akzeptiert ist.31 Verschiedene Untersuchungen zu Gruppenverhalten online haben zudem gezeigt, dass ›Gespräche‹ etwa im Chatroom vergleichbar sind mit Gesprächen F2F: Die Gruppenmitglieder halten sich in der Regel an soziale Normen und reagieren emotional oft in positiver Weise, öfter als sie sich neutral oder negativ-unkonstruktiv äußern. Dieses prosoziale Verhalten wird nicht durch ermöglichte Anonymität unterminiert: Auch im Schutz der Anonymität interagieren Gruppenteilnehmer im Durchschnitt in einer einander zugewandten, positiv-emotionalen Art.32 Die Häufigkeit des direkten emotionalen Ausdrucks ist dabei in Relation zu sehen zum Ausfall der leiblichen nonverbalen Kommunikation; der direkte emotionale Ausdruck in CMC kann so als Versuch der Kompensation verstanden werden.33
4.
Religiöse Erfahrung im Cyberspace
Die Ausführungen haben gezeigt, dass das Internet einen Raum eröffnet, der einerseits erst über die Gestaltung durch die Nutzer und Nutzerinnen entsteht. Andererseits sind diesem Raum – der zurzeit noch sehr stark für die zwischenmenschliche Interaktion durch die schriftliche Mitteilung bestimmt ist – durch die technischen Möglichkeiten bestimmte Grenzen gesetzt, die allerdings zu einem großen Teil kompensiert werden können. Es gibt keinen Grund, Kommunikationen im Internet im Vergleich zur Kommunikation F2F per se als defizitär oder ›unecht‹ zu qualifizieren. Dies betrifft auch den Bereich der religiösen Kommunikation, welche, abgesehen von Sachdiskussionen, immer aufs Engste mit emotionalen Erfahrungen und deren Kommunikation einher geht. Es zeigt sich vielmehr, dass die intersubjektive Erfahrung im Internet eng mit Selbst- und Weltdeutungsprozessen offline zusammenhängt. Religion online und offline sind keine getrennten Welten.
4.1.
Internet-Communities als neue Formen freier Geselligkeit
Eine der Besonderheiten des Internets besteht darin, dass in frei entstehenden Formen von Sozialität Menschen miteinander ›ins Gespräch‹ kommen, die anderweitig nie zusammen gefunden hätten, aus verschiedenen Gründen: weil 31 Vgl. Parkinson, Emotions, 1525 f. 32 Vgl. Garas/Garcia/Skowron/Schweitzer, Emotional persistence, 6 f.; Derks/Fischer/Bos, The role of emotion, 779. 33 Vgl. a. a. O.
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Lebensstile und Lebenswelten ganz unterschiedlich sind, weil Länder zwischen ihnen liegen, weil der Altersunterschied zu groß ist. Im Netz beobachtet man neue Formen freier Geselligkeit34, die sich oft über eine Themenwahl (etwa in themenspezifischen Foren / Threads) ergeben, die sich zwar permanent umformen, dabei aber doch oft erstaunlich persistent sind. Was für Geselligkeit offline gilt, kann auch für die Internet-Communities als neue Formen freier Geselligkeit gelten: Die freie Geselligkeit besitzt zunächst keinen weiteren Zweck als den der Selbsterhaltung, um ihrer selbst Willen; sie ist also frei von äußeren Zwecken, so entfaltet es Friedrich Schleiermacher in seiner Fragment gebliebenen Schrift »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens«.35 Die Pflege der Geselligkeit dient der Aufrechterhaltung wie der Fortbildung der Individualität, und zwar einerseits der Individualität der einzelnen Teilnehmenden wie der Individualität der Versammlung. Die freie Geselligkeit findet ihre Gestalt darin, dass der konkrete Charakter sich erst über die individuellen Beiträge der Einzelnen konstituiert: In der vielstimmigen Kommunikation über ein Thema kann sich dieses erst richtig entfalten. Die Angewiesenheit der Konstitution von Geselligkeit durch Mitteilung wie die Maßgabe, dass durch diese Vollzüge der Freiraum jenseits gesellschaftlicher, familiärer oder beruflicher Rollenerwartungen für die Erweiterung der individuellen Sphären genutzt werden wollen (allerdings mit der Idee, dass die Praxis der freien Geselligkeit auf Gesellschaft, Familie und Beruf ausgreift), bedingt die gegenseitige Steigerung von Sozialität und Individualität.36 Die Individualität eines Menschen, seine individuelle Selbstentfaltung, bildet sich an der kommunikativen Durchdringung eines Themas mit anderen Individuen, die konkrete Gestalt des Diskurses prägt den geselligen Kreis und drängt auf Fortentwicklung. In Anwendung auf die Religion heißt es bei Schleiermacher, sie sei »das vollendetste Resultat der menschlichen Geselligkeit«. In der Unterscheidung zwischen ›Kirche als Veranstaltung‹ und ›Religion als Mitteilung‹ zielt Schleiermacher darauf ab, dass die religiöse Erfahrung der Bestätigung durch Andere bedarf. Sie bildet sich in der Wechselwirkung mit Anderen (»Ist die Religion einmal, so muss sie nothwendig auch gesellig sein.«37) und prägt ein Kriterium für die Kritik kirchlicher Lehre aus. Der prinzipiell uneingeschränkte und offene Prozess der Mitteilung gibt dem gläubigen Individuum Anteil an der Unendlichkeit von Religion. Diese Unendlichkeit der Religion umfasst auch die Formen religiöser Kommunikation im Internet.
34 35 36 37
Vgl. Gräb, Multimedia, 21 f. Vgl. Schleiermacher, Theorie, 165. Vgl. Gräb, Individualität, 271. Schleiermacher, Reden, 177.
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4.2.
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Im Zentrum der Welten: das Individuum
Das Internet ist, ebenso wie die Welt offline, ein Raum, wo das religiöse Selbst gelebt werden kann. Mehr noch aber als die Welt offline stellt das Internet einen Ort dar, an dem die Subjekte das produktive Ausprobieren unterschiedlicher Weisen zu sein und sich zu äußern kombinieren können mit einer kritischen Überprüfung und entsprechender Annahme oder Ablehnung traditioneller Elemente.38 Die Integrationsleistung unterschiedlicher Kommunikationszusammenhänge online und offline liegt bei den Individuen – das Individuum bildet jeweils spezifisch ›das Zentrum‹ der Welten, es muss umgehen mit der »multisite reality«39. Das bedeutet, dass die Welt online bewusst und unbewusst imprägniert ist von Werten und Vorstellungen, die die Subjekte in der Welt offline ausgeprägt haben. Gleichzeitig tragen die Subjekte ihre Erfahrungen mit Tradition, Innovation, Sozialität etc., die sie in der intersubjektiven Kommunikation online erworben haben, in bestehende Sozialzusammenhänge offline ein. Nachgewiesen ist etwa ein signifikanter Zusammenhang – in der Selbsteinschätzung der Individuen – zwischen der Bedeutsamkeit, Mitglied in einer religiösen Gruppe online zu sein und bestimmten sozialen Parametern offline bzw. insgesamt, z. B. dem Engagement in Hilfsprojekten, sich als Teil eines starken und tragenden sozialen Netzwerks zu fühlen etc.40 Dies dürfte aber nicht nur auf Mitglieder explizit religiöser Gruppen online zutreffen, sondern gilt für alle Subjekte: Stattfindende Selbst- und Weltdeutungen digital wie analog haben jeweils Auswirkungen auf den anderen Interaktionsraum – und sei es, dass neu Erworbenes und Erfahrenes probehalber mit in den anderen Kommunikationszusammenhang eingespielt wird. Es hat sich gezeigt, dass sich mit dem Cyberspace ein neuer Erfahrungsraum herausgebildet hat und sich stetig, durch die kommunikative Aktivität der Nutzer und Nutzerinnen, neu herausbildet. Menschen kommunizieren in vielfältiger Weise miteinander, sachlich wie emotional, so dass neue Formen von Gemeinschaften und Geselligkeit entstehen. Es eröffnet sich ein diskursiver wie emotionaler Raum: a) dieser Raum gibt Freiheit zu interaktiven Prozessen der Selbstund Weltdeutung, d. h. auch zu Sinndeutungsprozessen mit letztinstanzlichen Bezügen, also religiösem Charakter; b) die Interaktionen, die in diesem Raum stattfinden, haben faktische Konsequenzen für das Leben und die Kommunikationszusammenhänge der Individuen offline und umgekehrt. Die Kommunikationsvollzüge im Internet sind also als multioptionale Ergänzung (und nicht als Defizitäres oder ›Unechtes‹) zu den bisher bestehenden Kommunikationsmög38 Campbell, Relationship, 73. 39 A.a.O., 80 ff. 40 McKenna/West, Online-time religion, 951 f.
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lichkeiten zu sehen – in einer Dimension, die es in ihrer Tragweite erst noch empirisch zu erfassen gilt.
Literatur Ben-Ze’ev, Aaron, Love Online. Emotions on the Internet, Cambridge 2004. Buckingham, David, Introducing Identity, in: Ders. (Hg.), Youth, Identity and Digital Media, Boston 2008, 1 – 22. Campbell, Heidi A., Understanding the Relationship between Religion Online and Offline in a Networked Society, in: Journal of the American Academy of Religion 80, 2012, 64 – 93. Castells, Manuel, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Das Informationszeitalter I, Opladen 2001. Derks, Daantje/Bos, Arjan E.R./Grumbkow, Jasper von, Emoticons and social interaction: the importance of social context, in: Computers in Human Behavior 23, 2007, 842 – 849. Derks, Daantje/Fischer, Agneta H./Bos, Arjan E.R., The role of emotion in computer-mediated communication, in: Computers in Human Behavior 24, 2008, 766 – 785. Dombrowski, Julia, Die Suche nach der Liebe im Netz. Eine Ethnographie des OnlineDatings, Bielefeld 2011. Dürscheid, Christa/Brommer, Sarah, Getippte Dialoge in neuen Medien. Sprachkritische Aspekte und linguistische Analysen, in: Linguistik online 37, 2009, 3 – 20, Zugriff am 30. 11. 2012 unter http://www.linguistik-online.de/37_09/duerscheidBrommer.pdf. Ekman, Paul, Gesichtsausdruck und Gefühl. 20 Jahre Forschung von Paul Ekman, hg u. übers. v. Maria Salisch, Paderborn 1988. Garas, Antonias/Garcia, Davis/Skowron, Marcin/Schweitzer, Frank, Emotional persistence in online chatting communities, in: Scientific Reports 2 (2012), DOI: 10.1038/srep00402. Gräb, Wilhelm, Individualität als Manifestation eines Selbstgefühls. Schleiermachers Konzept der religiösen Fundierung und kommunikativen Realisierung humaner Individualitätskultur, in: Ders./Charbonnier, Lars (Hg.), Individualität. Genese und Konzeption einer Leitkategorie humaner Selbstdeutung, Berlin 2012, 267 – 291. Ders., Multimedia – epochemachende Herausforderung für Religion und Theologie, in: Gott googeln? Multimedia und Religion (Jahrbuch der Religionspädagogik; 28), Neukirchen-Vluyn 2012, 19 – 22. Haese, Bernd-Michael, Hinter den Spiegeln – Kirche im virtuellen Zeitalter des Internet, Stuttgart 2006. Ders., Der heilsame Fake. Von Träumen, Täuschungen und Virtualitäten, in: Praktische Theologie 47, 2012, 73 – 79. Hogan, Bernard, Networking in Everyday Life (Ph.D. University of Toronto), Toronto 2009, Zugriff am 04. 11. 2012 unter http://individual.utoronto.ca/berniehogan/Hogan_NIEL_10 – 29 – 2008_FINAL.pdf.
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Rolf Schieder
Die Inauguration des Präsidenten. Gefühlsprotokoll eines zivilreligiösen Rituals
Pünktlich um 11:20 Uhr Ortszeit begann am 21. Januar 2013 in Washington, D.C. ein zivilreligiöser Gottesdienst anlässlich des Amtsantritts von Barack Hussein Obama als 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Zeremonie wird Inauguration genannt. Wenn auch der Begriff der Inauguration mittlerweile für eine ganze Reihe von Amtseinführungszeremonien verwendet wird, so mag die Erinnerung an die römischen Wurzeln des Begriffs und des öffentlichen Aktes schon deshalb angemessen sein, weil sich diese Zeremonie im Schatten des US-amerikanischen Kapitols abspielt, das begrifflich wie architektonisch an die Römische Republik erinnern soll. Das römische Ritual der Inauguration führte das collegium augurum aus, dem die Aufgabe zukam, die Götter zu fragen, ob diese bereit seien, ihre Zustimmung zu einer das öffentliche Wohl betreffenden Entscheidung zu geben. Auch bei der Wahl in ein öffentliches Amt wurden die Götter um ihre Zustimmung durch signa certa gebeten. Den politischen Eliten Roms schien es angezeigt, sich vor der Übergabe politischer Macht der Übereinstimmung mit dem Willen der Götter zu versichern. Bei der Inauguration von Barack Obama traten keine Auguren auf, die den Vogelflug beobachteten – nicht einmal eine Tiefflugvorführung der Flugstreitkräfte als modernes funktionales Äquivalent für das antike auspicium des Vogelfluges fand statt. Auch war von auguria caelestia, wie etwa Blitzen oder anderen Himmelserscheinungen, nichts wahrzunehmen – will man nicht die 21 Böllerschüsse nach der Eidesleistung als Inszenierung eines Donnerhalls deuten. Der Liturg dieses öffentlichen Gottesdienstes, Senator Charles E. Schumer, wies in seiner Begrüßungsansprache ausdrücklich auf die Heiligkeit dieses Rituals hin. Seine Heiligkeit bestehe darin, dass hier und heute das amerikanische Volk seine Macht einer einzigen Person anvertraue. Das ist in der Tat ein faszinierender und beängstigender, im Sinne Rudolf Ottos mithin: heiliger Akt. Niemand kann vorhersehen, ob diese Person die ihr anvertraute Macht zum Wohl des Volkes nutzen wird. Die religiöse Dimension des Zeremoniells komme aber auch im Titel der Veranstaltung zum Ausdruck: »Faith in America’s Future«. Hier und heute gehe es darum, so Senator Schumer, »to renew our col-
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Rolf Schieder
lective faith«. Die Vereinigten Staaten von Amerika, diese Nation mit der Seele einer Kirche, feierten am 21. Januar 2013 also ein Bundeserneuerungsfest.
1.
»Let us die to make men free!« Die Liturgie der Inauguration
Nachdem der Liturg erklärt hat, warum man zu Hunderttausenden hier zusammengekommen sei, kündigt er die Invokation, die Anrufung Gottes, an. Bisher wurde diese Anrufung stets von einem männlichen ordinierten Geistlichen durchgeführt. Bei der letzten Inauguration im Jahre 2009 hatte Obama als ein Zeichen der Versöhnung Rick Warren, den evangelikalen Pastor der Saddleback Church im Süden von Los Angeles, der erfolgreichsten Mega-Church in den USA, gebeten, die Invokation vorzunehmen. Auch für diese Inauguration war Warren lange Zeit im Gespräch. Als dieser jedoch mehrfach öffentlich darauf hinwies, dass Homosexuelle seiner Meinung nach nicht in das Reich Gottes eingehen könnten und dass er die rechtliche Gleichstellung von homosexuellen und heterosexuellen Paaren ablehne, sah Obama davon ab, ihn erneut um das Gebet zu bitten. Stattdessen hatte zum ersten Mal eine Frau und zum ersten Mal kein Ordinierter die Möglichkeit, im Namen des ganzen Volkes Gott anzurufen. Die Bürgerrechtsaktivistin Myrlie Evers-Williams trat ans Mikrophon. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden gebeten, sich von ihren Plätzen zu erheben. Allerdings sprach Evers-Williams nicht Gott an, vielmehr war ihr Adressat »America!«. Man bitte um Segen für die politische Führung, für die Soldatinnen und Soldaten, für alle, die vom »American spirit« beseelt seien. Sie erinnerte an ein Gebet ihrer Großmutter : »God make me a blessing!« Die Invokation endete so: »In Jesus’ name and in the name of all who are holy and right we pray. Amen.« Dann sang der Brooklyn Tabernacle Choir die erste und die vierte Strophe der »Battle Hymn of the Republic«. Das sechsstrophige Lied mit dem bekannten Refrain »Glory, glory, hallelujah…« wurde von der Kämpferin für die Sklavenbefreiung Julia Ward Howe 1862 veröffentlicht. Es stellt den Bürgerkrieg dezidiert in eine millennialistische Perspektive. Die erste Zeile lautet: »Mine eyes have seen the glory of the coming of the Lord.« Und die vierte Strophe lautet: In the beauty of the lilies Christ was born across the sea; With a glory in his bosom that transfigures you and me. As he died to make men holy, let us die to make men free, While God is marching on.
Der republikanische Senator Lamar Alexander hat dann die Gelegenheit, als Vertreter der Partei des unterlegenen Präsidentschaftskandidaten dem Sieger seine Reverenz zu erweisen. Damit ist der Wahlkampf auch rituell beendet. Er
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betont die zivilisatorische Leistung von Demokratien, Macht auf friedfertige Weise zu übertragen. Die amerikanische Demokratie zeichne sich dadurch aus, dass das amerikanische Volk seinen Präsidenten frei wählen dürfe – und dass es das Ergebnis dann auch respektiere. Das ist in der Tat keine Selbstverständlichkeit und verdient es, im politischen Alltag häufiger erinnert zu werden. Es folgt die Vereidigung von Vizepräsident Joe Biden. Dann singt James Taylor »America the beautiful«, ein Lied, das mit dem Wunsch schließt, dass Gott seine Gnade über das Land ausbreiten und diese mit Brüderlichkeit krönen möge. Beim folgenden Amtseid ruht Obamas linke Hand gleich auf zwei Bibeln, auf der Abraham Lincolns und der Martin Luther Kings. Es folgt die Second Inaugural Address. Wie schon so oft in seiner ersten Amtszeit erweist sich Obama als begnadeter zivilreligiöser Prediger. Er zitiert zu Beginn die Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahr 1776: »We hold these truths to be self-evident: that all men are created equal; that they are endowed by their Creator with certain unalienable rights; that among these are life, liberty, and the pursuit of happiness.« Der Verheißung des Textes stellt er die Pflicht gegenüber, die Verheißung durch eigene Anstrengungen zu sichern: »While freedom is a gift from God, it must be secured by His people here on earth.« Obama lässt an dieser Stelle offen, wer »His people« ist – aber der an dieser Stelle einsetzende Applaus von Hundertausenden lässt vermuten, dass sich die hier Anwesenden zu »Seinem Volk« zählen. Zum Bundeserneuerungsfest der Inauguration erinnert der neue Präsident an die Zeiten des Bürgerkrieges: »We made ourselves anew, and vowed to move on together.« Gerade die Fähigkeit, die Herausforderungen »together« zu meistern, zeichne diese Nation aus – bis heute. »We, the people, believe that our obligations are not just to ourselves, but to all posteriority. We will respond to the threat of climate change, knowing that the failure to do so would betray our children and future generations.« Erstaunlich konkret benennt Obama die globalen und innenpolitischen Herausforderungen. Er erinnert die Gottesdienstgemeinde an ihre Pflicht, das Erbe der Väter weiterzugeben. For our journey is not complete until our wives, our mothers and our daughters can earn a living equal to their efforts. Our journey is not complete until our gay brothers and sisters are treated like anyone else under the law. […] Our journey is not complete until all our children from the streets of Detroit to the hills of Appalachia to the quiet lanes of Newtown know that they are cared for and cherished and always safe from harm.
Dabei müsse man sich stets über Folgendes im Klaren sein: »We must act knowing that our work will be imperfect.« Der Eid, den er vor Gott und Volk abgelegt habe, unterscheide sich nur unwesentlich von der »Pledge of Allegiance«, die allen US-Bürgerinnen und Bürgern so vertraut sei. »They are the words of citizens and they represent our greatest hopes.« Alle stünden in der
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Pflicht zu handeln: »Let us, each of us, embrace with solemn duty and awesome joy what is our lasting birthright.« Mit dem Segenswunsch »God bless you and may He forever bless these United States of America.« schließt die zivilreligiöse Predigt. Vom Zitat aus den Heiligen Schriften über deren aktuelle Anwendung, die Benennung der Herausforderungen bis zur Aufforderung zum Handeln, lassen sich alle Elemente einer religiösen Rede finden. Das Lied nach der Predigt verbindet familienreligiöse und zivilreligiöse Momente miteinander. Im Lied »My country, ’tis of thee, sweet land of liberty« wird der Gott der Väter mit dem Gott der Freiheit identifiziert. Die letzte Strophe lautet: Our fathers’ God of thee, author of liberty, to thee we sing. Long may our land be bright with freedom’s holy light. Protect us by thy might, great God, our king.
Wie es bei großen zivilreligiösen Veranstaltungen seit der Trauerfeier für Lady Diana im Jahre 1997 üblich ist, darf ein Künstler mit einer eigenen Komposition auftreten. Bei der Trauerfeier war es Elton John, der mit dem Lied »England’s Rose« Millionen auf der ganzen Welt zu Tränen rührte. Mit der Wahl des homosexuellen Poeten Ricardo Blanco betonte Obama, dass ihm die Verwirklichung der Gleichheit aller vor dem Gesetz ein zentrales politisches Anliegen ist. Den Segen spricht Luis Leûn, der Pastor von St. John’s, der episkopalen Kirche, die dem Weißen Haus gegenüber liegt. Die Zeremonie findet ihren Abschluss mit einer beeindruckenden Interpretation der Nationalhymne durch die Popsängerin Beyonc¦. Allerdings sorgte gerade dies so perfekt vorgetragene Stück nachträglich für einen erheblichen Missklang, weil die Sängerin die Hymne nicht »live« sang. Sie bewegte lediglich die Lippen, die Hymne aber wurde von Band eingespielt. Anders als bei einem Konzert, wo jedermann Verständnis für das Bedürfnis nach Perfektion hat, kommt es bei einem Gottesdienst offenbar nicht auf Perfektion, sondern auf Präsenz an. Das Gefühl, »betrogen« worden zu sein, stellte sich wohl auch deshalb ein, weil es bei diesem zivilreligiösen Gottesdienst, in dem alle politische Macht des Volkes auf eine Person übertragen wird, auf die Authentizität und Integrität der handelnden Personen ganz besonders ankommt. Eine in Echtzeit vorgetragene Hymne mit stimmlichen Schwächen hätte dem Anliegen des Präsidenten mehr gedient, als eine perfekte Hymne vom Band.
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Die Inauguration des Präsidenten
2.
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Die Macht der Gefühle. Kollektive Autorität und leibliches Betroffensein
Selbst einem Bürger der Bundesrepublik Deutschland ist es möglich, sich beim Verfolgen der Zeremonie auf dem Bildschirm mit den US-amerikanischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu identifizieren und den Wechsel der Stimmungen und Gefühle nachzuvollziehen. Welche Gefühle wurden bei dieser Inszenierung erzeugt? Bevor der Versuch unternommen wird, diese in der Abfolge ihres Anspielens zu benennen, ist eine terminologische Klärung notwendig. Im Folgenden wird zwischen einem Gefühl und einem leiblichen Affekt unterschieden. Auf das leibliche affektive Betroffensein wird lediglich als Resultat des Einwirkens von Gefühlen referiert. Gefühle sind mithin keine psychosomatischen Sensationen, die nur von einem Individuum so und nicht anders empfunden werden können. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die Fähigkeit des Einfühlens eines Menschen in einen anderen das Vorhandensein einer beschreibbaren Menge von kollektiv geteilten und allen bekannten Gefühlen voraussetzt, die entweder spontan entstehen oder die bewusst inszeniert werden können. Inszeniert werden kollektive Gefühle etwa in den Fußballstadien: Hoffnung, Angst, Jubel, Freude, Zorn, Mitleid, Zufriedenheit, Hass, Verzweiflung, Trauer. Aber auch Kinos sind Orte der Inszenierung kollektiver Gefühle. Spontan können kollektive Gefühle in einer Gruppe entstehen, wenn sich etwa jemand so verhält, dass alle von einem Gefühl der Peinlichkeit oder einem Gefühl des Ärgers ergriffen werden. Man denke etwa an Gremiensitzungen, in denen ein Mitglied durch überlange Beiträge anderen Mitgliedern Zeit stiehlt. Gefühle im oben verstandenen Sinn sind mithin von leiblichen Regungen wie Hunger, Durst, Schmerz, Wollust, Müdigkeit, Frische zu unterscheiden. Gefühle sind vielmehr von außen auf den Menschen in seiner leiblichen Existenz einwirkende Atmosphären, die betroffen machen und in der Regel nicht gänzlich kontrollierbare psychosomatische Reaktionen auslösen. Gefühle sollen im Folgenden – mit den Worten des Philosophen Hermann Schmitz – »als räumlich ergossene, leiblich ergreifende Mächte«1 verstanden werden. Theologen, die mit den Texten des Paulus vertraut sind, dürfte dieses Verständnis von Gefühlen bekannt vorkommen. Nach Paulus ist der Mensch Mächten und Gewalten ausgeliefert, deren Kontrolle ihm immer wieder entgleitet. Erst wenn er sich im Machtbereich Christi wiederfindet, gelingt es ihm, sich von den Atmosphären der Liebe, der Freude und des Freimutes nachhaltig ergreifen zu lassen. Hermann Schmitz legt großen Wert darauf, Gefühle aus der »Introjektion in die Seele« zu befreien,
1 Schmitz, Kurze Einführung, 79.
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weil Recht, Moral und Religion auf der Autorität von Gefühlen beruhen, wofür bloße Privatgefühle in den Seelen einzelner Menschen nicht genügen würden. Autorität für jemanden ist die Eigenschaft, eine Macht (d. h. Instanz mit Steuerungsfähigkeit) zu sein, wodurch dem Betreffenden in für ihn unverkennbar merklicher Weise die verbindliche Geltung von Normen auferlegt wird.2
Die Macht der Gefühle als räumlich bestimmbare Atmosphären beruht auf ihrer Fähigkeit, leiblich spürbare, affektive Betroffenheit auszulösen. Wie stark die Autorität kollektiver Gefühle empfunden wird, hängt vom Grad der Auslieferungsbereitschaft der Individuen an die Situation ab. Entsprechend werden stärkere oder schwächere Affekte ausgelöst. Schmitz unterscheidet drei Schichten von Gefühlen. Der Zufriedenheit als »Gefühl einer tragend dicht erfüllten Weite«3 steht die Verzweiflung als »Gefühl der leeren Weite«4 gegenüber, die aufgrund eines Gefühls der Leere »Halt- und Richtungslosigkeit« mit sich bringt. Freude und Trauer sorgen für eine entweder gehobene oder eine gedrückte Stimmung. Zentripetale Wirkung auf das leibliche Befinden entfaltet die Angst, zentrifugale Wirkung die Sehnsucht. In dieses Koordinatensystem lassen sich dann eine Vielzahl von Gefühlen wie Freude, Zorn, Scham, Furcht, Trauer, Liebe, Ekel, Ernst, Hoffnung, Mut, Schuldgefühl, Gemeinschaftsgefühl, Mitleid etc. eintragen, indem man deren dichte oder leere, bedrückende oder erleichternde, ihre beengende oder weitende Wirkung auf den Leib in seinem affektiven Betroffensein zu benennen versucht. Im Folgenden soll nun gefragt werden, welche Gefühle denn eigentlich bei der Inszenierung der Inauguration am 21. Januar 2013 aufgerufen wurden. Da jeder der Teilnehmenden für ganz unterschiedliche Gefühle anfällig ist, kann das anzufertigende Gefühlsprotokoll nur höchst individuell sein. Auch ist das, was die Inszenierenden an Gefühlen wecken wollten, mit der Wahrnehmung der Rezipienten nicht identisch. Es ist auch damit zu rechnen, dass sich die Perspektive eines deutschen Theologen auf ein US-amerikanisches zivilreligiöses Ritual beträchtlich von der eines in den USA sozialisierten Bürgers unterscheidet.
3.
Zwischen Rührung und Ärger. Ein Gefühlsprotokoll
Bereits Stunden vor Beginn der Zeremonie spielt die Militärkapelle und sorgt für eine heitere Stimmung. Je näher der Moment des Beginns des Rituals kommt, umso mehr wächst die Spannung. Warum eigentlich? Die Zeremonie wurde von 2 A.a.O., 91. 3 A.a.O., 88. 4 A.a.O.
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langer Hand professionell vorbereitet. Trotzdem mischt sich in die Neugier der Wunsch, dass doch alles gut gehen möge und sich nichts Peinliches ereigne. Dem Ernst des zivilreligiösen Rituals versucht man durch Ablenkung der Aufmerksamkeit zu entgehen. Entlastung schafft beispielsweise der Fokus auf die Kleidung der Protagonisten. Was trägt die First Lady, was tragen die Töchter? Michelle Obamas neue Frisur und ein nicht besonders vorteilhaft geschnittener anthrazitfarbener Mantel heben die Stimmung freilich nicht. Vier Fanfarenstöße kündigen die Ankunft des Präsidenten und des Liturgen der Zeremonie an. Hunderttausende jubeln. Der Präsident betritt die Bühne. Er lächelt, winkt, nimmt die Gratulation der Gäste entgegen, küsst seine Frau und seine Kinder. Alle sind ein wenig gerührt, aber auch betont entspannt. Die Kapelle spielt ein schmissiges, schnelles Stück, wie man es auch auf Jahrmärkten hören könnte. Es ruft weiter heitere Gefühlsregister auf, passend zu der noch inoffiziellen sozialen Formation. Das Zeremoniell beginnt mit der Aufforderung, Platz zu nehmen. Freundlich und freudig begrüßt der Liturg die Gemeinde. Man feiere hier und heute eine großartige Demokratie. Rasch wird der Ton aber ernst. Der Liturg mahnt zum Gedenken der in diesem Moment im Ausland kämpfenden Truppen des Landes. Er dankt für ihren Mut und für ihr Opfer – und macht damit implizit die versammelte Gemeinde zu einer Opfergemeinschaft. Hier befindet man sich weder auf einer Modeshow noch auf einem Familienfest oder einer Party. Hier haben sich opferwillige Bürgerinnen und Bürger versammelt. Jeder der Anwesenden muss grundsätzlich dazu bereit sein, das eigene Land notfalls unter Einsatz des eigenen Lebens zu verteidigen. Das ist das zentrale Anliegen dieses Rituals: Individuen verpflichten sich öffentlich – vor Gott und den Menschen – ihrem Land zu dienen. Der Liturg spielt auf die emotionale Macht dieses Verpflichtungsdiskurses an, wenn er feststellt: »This ceremony never fails to make our heart beat faster«. Dafür sorge ihre »majesty«, vor allem aber ihr »meaning«, nämlich »the sacred entrusting of power«. Die Anwesenden sind als Bürgerinnen und Bürger angesprochen – mithin als öffentliche Personen. Und dies erzeugt ein Gefühl der Verpflichtung, aber auch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Es gehe darum »to renew our collective faith.« Man vertraue fest darauf, »that America prevails.« Kampfbereitschaft, Durchhaltewillen, Trotz und Stolz werden aufgerufen. Für einen Deutschen ist es immer wieder faszinierend mitzuerleben, mit wie viel Selbstvertrauen amerikanische Politiker sich und ihr Land für das beste der Welt halten. Darüber kann man sich entweder erregen, oder aber man kann es als Teil des amerikanischen Traumes hinnehmen. Zumal die Westdeutschen von diesem missionarischen Eifer, der Welt, allen Widersachern zum Trotz, Freiheit und Demokratie zu bringen, in den Vierziger- und Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts enorm profitiert haben. In die distanzierte Kritik ge-
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genüber den US-amerikanischen patriotischen Selbstgefälligkeiten mischt sich also auch eine gehörige Portion Respekt und Anerkennung – verbunden mit der skeptischen Frage, wofür denn die Deutschen bereit wären, ihr Leben zu opfern. Die Invokation erweist sich bei dieser Inaugurationsfeier als eine Enttäuschung. Gott wird gar nicht angerufen, vielmehr ist »America« der Adressat dieser kurzen Besinnung. Auf den von der Kamera eingefangenen Gesichtern der Zuhörenden macht sich zunehmend Ratlosigkeit breit. Alle hatten sich vermeintlich zum Gebet erhoben, die Hände gefaltet und die Augen geschlossen. Das tut man aber nur, wenn die Worte der Vorbetenden hinreichend inklusiv sind. Als die Teilnehmer merkten, dass hier gar nicht gebetet wurde, öffneten die meisten die Augen und hörten einfach zu. Erst im letzten Satz stellt die Bürgerrechtlerin Evers-Williams fest, dass man hier in Jesu Namen und im Namen aller Gerechten bete. Die Rednerin versuchte das performative Problem durch eine besonders eindringliche und langsame Sprachführung zu mindern. Das gelang aber nicht. In zivilreligiöse Hochstimmung hingegen versetzte der Brooklyn Tabernacle Choir die anwesende Gemeinde mit der »Battle Hymn of the Republic«. Zuversicht, Opferbereitschaft, Glaube an das kommende Reich Gottes und die besondere Rolle, die Amerika dabei zu spielen hat, will das Lied wecken, aber auch an die Verpflichtung gegenüber den Ahnen erinnern. Zufriedenheit breitet sich aus. Der republikanische Senator Alexander erklärt den Wahlkampf für beendet und zollt dem Sieger Respekt – und er wird seinerseits mit Respekt belohnt. Zugleich ist der Stolz auf eine Jahrhunderte alte Demokratie spürbar, die den Kampf um die Macht trotz aller Gemeinheiten und Bosheiten des Wahlkampfes zivilisiert zu organisieren imstande ist. Zur Vereidigung des Vizepräsidenten Joe Biden wird die Versammlung aufgefordert, sich zu erheben. Der Vizepräsident leistet den Eid auf die Verfassung und schließt seinen Eid mit der Formel: »So help me God.« Er leistet seinen Eid lächelnd und entspannt. Die Familie assistiert. Familienreligion und Zivilreligion werden auf der Bühne gleichermaßen perfekt inszeniert. Dann singt James Taylor – lediglich von seiner Gitarre unterstützt – »America, the beautiful…« Ausgerechnet die Zartheit, ja geradezu Verletzlichkeit der Interpretation des Liedes rührt die Gemeinde. Da stünden Hunderttausende bereit, das Lied lauthals zu schmettern – aber er interpretiert es als ein leises, persönliches, unpolitisches Bekenntnis zu einem schönen Land. Auch zur Eidesleistung des Präsidenten erhebt sich die Versammlung. Barack Obama spricht seinen Eid schnell und geschäftsmäßig. Die Worte »United States« klingen mehr nach »United Sts«, doch ist dieser kleine »Hänger« offenbar nicht als ein Versprecher gewertet worden, der eine weitere Wiederholung des Eides notwendig gemacht hätte. Die Töchter lächeln erleichtert, er umarmt sie, sie gratulieren ihm. Was wäre die
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amerikanische Zivilreligion ohne ihren Glauben an die heilsame Wirkung des Familienlebens auf ihre Politiker? Es folgen Fanfarenstöße, Böllerschüsse und ein fröhliches Lied der Militärkapelle. Michelle Obama wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. Erleichterte Freude ist allenthalben spürbar. Ein Moment des Verschnaufens für alle vor dem Beginn der Ansprache. Die Ansprache des 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika ist fordernd. Das Geschenk göttlicher Freiheit müsse auf einer »never ending journey« immer wieder von neuem realisiert werden. Die Verwirklichung der 1776 verkündeten Menschenrechte, denen zufolge »all men are created equal«, sei noch lange nicht abgeschlossen. Dafür gelte es, sich einzusetzen. Zivilreligiöse Predigten sind Verpflichtungsdiskurse, diese ist es in besonderem Maße. Obama will seine Gemeinde aktivieren. Er will sie davon überzeugen, dass es sich lohnt, für das eigene Volk Opfer zu bringen. Dieses Selbstopfer soll aber nicht als Verlust und Nachteil, sondern als ein Gewinn gedeutet werden. In der Identifikation mit der eigenen Nation wird die eigene, private Individualität nicht negiert, sie wird vielmehr gesteigert. In der Identifikation mit der eigenen Nation kommt es zu einer Selbstextension. Gerade das bewirkt ein tief empfundenes Nationalgefühl: eine leibhaftig spürbare Weitung, ein Gefühl, an etwas teilzuhaben, das größer und bedeutender ist als man selbst. Obama ermuntert dazu, mit dem Gefühl einer »heiligen Pflicht«, aber auch einer »awesome joy« – was man wohl mit »Ehrfurcht gebietende Freude« übersetzen muss –, mit Leidenschaft, aber auch mit Besonnenheit dem »call of history«, nämlich das Licht der Freiheit weiterzugeben, zu folgen. Dazu erbittet er den Segen Gottes. Das auf die Ansprache folgende Lied »My Country, ’Tis of Thee« verbindet biblische, familienreligiöse und zivilreligiöse Momente – es ist aber auch das Lied der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Vor vier Jahren sang Aretha Franklin dieses Lied. Dass nun einer weißen Sängerin, Kelly Clarkson, zugetraut wurde, dieses Lied interpretieren zu können, kann als ein gutes Zeichen der Integration gewertet werden. Die Sängerin tat sich in der Kälte sichtlich schwer – und doch, oder gerade deshalb gelang es ihr, die Zuhörerinnen und Zuhörer zu rühren und zu bewegen. »Whow!« sagte der Liturg nach dem Liedvortrag und brachte damit einen von vielen empfundenen Respekt und ein von vielen empfundenes Mitgefühl zum Ausdruck. Der Dichter Richard Blanco trug ein sehr persönliches Gedicht vor und verstärkte so den leisen und eindringlichen Charakter dieser Inauguration. Wer bereit war, auf das Gedicht zu hören, der wurde mit einer dichten Fülle von Bildern des Alltags belohnt. Was immer er an Leichtem und Schwerem, an Düsterem und Hellem, an Zartem und Starkem aufrief, dies alles, so erinnerte er, spiele sich unter einer Sonne, einem Mond, einem Himmel, einem Sternenzelt auf einem Globus ab, den wir »Heimat« zu nennen wagen. Der Segen geriet zu einem politischen Statement. Pfarrer Luis Leûn bemühte
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sich nicht um Inklusion, sondern er nutzte den Segen dazu, die politischen Gegner Obamas zu exkludieren. Es ist ein Ärgernis, wenn Geistliche die Form des Gebetes und des Segens dazu nutzen, ihre politischen Vorlieben zum Ausdruck zu bringen. Dem theologisch informierten Zuschauer drängte sich zunehmend ein Gefühl der Sättigung, der Ungeduld und der Langeweile auf. Man hatte nun genug politisch Korrektes und Wünschenswertes gehört. Aber noch stand ein emotionaler Höhepunkt ja aus: die Nationalhymne. Der Liturg forderte die Gemeinde auf, für den Gesang der Nationalhymne stehen zu bleiben. Beyonc¦s Stimme erklang. Ein leidenschaftlicher, perfekter Vortrag. Dennoch zeigten sich der Präsident und die Gäste auf der Tribüne nicht sonderlich bewegt. Auch war es merkwürdig, dass die Sängerin nach ihrem Vortrag so rasch die Bühne verließ. Später stellte sich heraus, dass Beyonc¦ die Hymne gar nicht »live« gesungen hatte, sondern nur stumm Lippen, Mund, Gesicht und Körper bewegt hatte. Die Stimmung nach der Zeremonie war nicht überschwänglich. Sie war entspannt, es herrschte Zufriedenheit, aber keine Begeisterung. Man hatte den Eindruck, die Probleme des Alltags schienen noch oder schon den Protagonisten auf der Seele zu liegen. Eine gewisse Geschäftsmäßigkeit war nicht zu übersehen. Legt man die drei Gefühlsoppositionen zugrunde, die Schmitz zur Analyse von Gefühlen vorgeschlagen hat, dann kann man auf der Achse »leere Verzweiflung vs. dichte Zufriedenheit« durchaus stolze und ein wenig trotzige Zufriedenheit konstatieren, auf der Achse »bedrückende Trauer vs. erhebende Freude« einen mittleren Wert, den man als Ernst und Entschlossenheit bezeichnen könnte, und auf der Achse »engende Angst vs. weitende Sehnsucht« Mut, Kampfbereitschaft und die Zuversicht, den Herausforderungen der Zukunft begegnen zu können.
4.
Die Transzendenz der Nation. Was macht eine politische Inszenierung religiös?
Die Frage, ob es eine eigene Klasse »religiöser Gefühle« gibt, ist nicht leicht zu beantworten – das Gefühlsprotokoll konnte solche vorderhand nicht ausmachen. Selbst Gefühle feierlichen Ernstes verbunden mit einem weitenden Gemeinschaftsgefühl bis hin zu einer tief empfundenen Opferbereitschaft sind ja nicht exklusiv als »religiös« zu qualifizieren. Worin besteht dann aber überhaupt der religiöse Charakter dieser Veranstaltung? Diese Frage drängt sich schon deshalb auf, weil noch gar nicht geklärt ist, ob es sich bei diesem Ritual überhaupt um eine Kommunikationsform handelt, die dem Religionssystem zuzuordnen ist. Liegt nicht vielmehr ein politisches Ritual vor, das sich zwar traditioneller christlicher Semantik bedient, aber gleichwohl als eine politische und
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nicht als eine religiöse Handlung zu interpretieren ist? Gegen die Vermutung, dass es sich um ein politisches Ritual handelt, spricht die Tatsache, dass der politisch notwendige Amtseid des Präsidenten bereits einen Tag zuvor geleistet wurde. Damit war allen rechtlichen und politischen Regeln genüge getan. Ferner ist nirgendwo im politischen System der Vereinigten Staaten vorgesehen, dass der Präsident, wie es Obama in seiner Ansprache getan hat, seinen Amtseid als einen »Eid vor Gott« interpretiert. Diese Interpretation nahm Obama aber auch nicht als frommer Privatmann vor. Er tat dies ausdrücklich als Präsident im diskursiven Kontext einer öffentlichen Veranstaltung, die mit den Elementen der Invokation und der Benediktion, aber auch durch die Liedtexte Kennzeichen eines religiösen Rituals trägt. In der Forschung ist für diese Mischform der Begriff der »Zivilreligion« geprägt worden. Er richtet die Aufmerksamkeit auf religiöse Handlungen im politischen Kontext. Die Frage nach den religiösen Eigenschaften der Inaugurationsfeier 2013 lässt sich auf der phänomenalen Ebene nicht beantworten. Es bedarf vielmehr eine Religionstheorie, die plausibel machen kann, dass auch moderne Gesellschaften eines Religionssystems bedürfen, das spezifische Probleme für sie zu lösen imstande ist. Unter den Bedingungen funktional differenzierter Gesellschaften wird man davon ausgehen müssen, dass das Religionssystem einer Gesellschaft nicht mit den Aktivitäten organisierter Religionsgemeinschaften übereinstimmt. Religiös wird auch außerhalb der Kirchen kommuniziert – in den Familien und in den Gebeten und Ritualen von Individuen beispielsweise. Damit verschärft sich aber die Frage, wie denn das Religiöse in gesellschaftlicher Kommunikation zu identifizieren ist. Vielleicht kommt man einer Antwort auf dem Weg des Vergleichs näher. Woran erkennt man eigentlich das Funktionieren des Rechtssystems? So wichtig die Existenz von Gerichtsgebäuden, Gefängnissen, Gesetzesbüchern und Rechtsexperten ist, so erschöpfen sich die kommunikativen Möglichkeiten des Rechtssystems nicht in Gerichtsterminen und Urteilssprüchen. Es funktioniert bei jedem Gespräch eines Klienten mit seinem Anwalt, bei jedem zivilrechtlich relevanten Geschäft, beim Streit zwischen einem Schüler und seinem Lehrer über eine Benotung, selbst bei den Debatten am Küchentisch, ob denn dieses oder jenes Verbot der Eltern gerecht gewesen sei. Wo immer in einer Gesellschaft ein Sachverhalt unter der Perspektive diskutiert wird, ob es dabei gerecht oder ungerecht zugegangen sei oder zugeht, wird die Semantik, Systematik und Pragmatik des Rechtssystems in Anspruch genommen. Das geschieht oft genug höchst unprofessionell – gleichwohl wäre es unsinnig, die Richter des Bundesverfassungsgerichts als exemplarische Repräsentanten des Rechtssystems einer Gesellschaft zu sehen. Ähnlich unsinnig wäre es, Bischöfe, Patriarchen und Päpste als exemplarische Repräsentanten des Religionssystems anzusehen. Statistisch gesehen wird Gott
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häufiger von Schlafzimmern und Küchen aus angerufen als von Kirchen und Konsistorien aus. Wenn wir also weiterhin an der Vorstellung festhalten wollen, dass Religion eine gesellschaftlich relevante Funktion erfüllt, dann muss man – ähnlich wie beim Rechtssystem – zu bestimmen versuchen, mit Hilfe welcher Unterscheidungen sich das Religionssystem einen Reim auf die Welt zu machen versucht. Beim Rechtssystem ist es stets die Unterscheidung »recht/unrecht«, mit deren Hilfe dieses die Welt ordnet. Das Wissenschaftssystem ordnet die Welt entlang der Unterscheidung »wahr/unwahr«, das Wirtschaftssystem gemäß der Unterscheidung »profitabel/nicht profitabel«. Unter welcher Perspektive aber beobachtet das Religionssystem die Welt? Offenbar stellt das Religionssystem der Gesellschaft semantische Möglichkeiten zur Verfügung, die unvermeidlichen Kontingenzen, mit denen jede Gesellschaft zurechtkommen muss, zu benennen und so der gesellschaftlichen Kommunikation zugänglich zu machen. Über Katastrophen muss man nicht mehr schweigen, man kann sie öffentlich zum Thema machen. Aber auch die Unsicherheit, ob denn ein gewählter Präsident wirklich eine gute Wahl ist, kann auf dem Weg der Bitte um den Segen eines allmächtigen und gnädigen Gottes tolerabel gemacht werden. Das der menschlichen Verfügung Entzogene wird dann nicht mehr allein als Bedrohung, sondern auch als potentiell segensreich vorgestellt. Das menschliche Handlungsmöglichkeiten Transzendierende negiert menschliche Handlungsmöglichkeiten nicht, sondern wird als ihr Ermöglichungsgrund imaginiert. Mit der Weigerung, religiöse Kommunikation lediglich als semantischen Effekt der strukturellen Ausdifferenzierung religiöser Organisationen zu bestimmen, tritt man einer Theoriefigur näher, die sich vor allem mit dem Namen des Soziologen Niklas Luhmann verbindet. Seinen Überlegungen im unvollendeten Werk »Die Religion der Gesellschaft« soll im Folgenden noch etwas genauer nachgegangen werden, um nicht nur eine befriedigende Antwort auf die Frage zu erhalten, was denn nun das Inaugurationszeremoniell zu einem religiösen macht, sondern auch eine Antwort auf die Frage, worin denn die Problematik dieses zivilreligiösen Rituals besteht. Niklas Luhmann hat sich stets mit der Frage auseinandersetzt, in welchem Sinne es denn noch sinnvoll sei, von »einer Religion der Gesellschaft« zu sprechen, wo doch ganz evident ist, dass wir Religion nur als Religion im Plural, als eine Vielzahl von praktizierten Religionen, vorfinden. Dennoch will Luhmann auf den Religionsbegriff im Singular nicht verzichten, weil er davon überzeugt ist, dass Religion – ebenso wie Wirtschaft, Recht, Wissenschaft und Politik – eine zentrale Funktion für eine Gesellschaft erfüllt. Aber wie kann diese Funktion angemessen beschrieben werden? Auf welches gesellschaftliche Problem ist Religion die Antwort? Bekanntlich definiert Luhmann Gesellschaft als Kommunikation. In funktional ausdifferenzierten Gesellschaften entwickeln sich Subsysteme als auto-
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poietische Systeme, die versuchen, ihre Aufgaben so effektiv wie möglich zu erfüllen. Das tun sie durch kommunikative Schließungen, aber auch durch selektive Öffnungen gegenüber anderen Systemen. Luhmann geht davon aus, dass sich die gesellschaftlichen Subsysteme mit Hilfe von binären asymmetrischen Codes von anderen Systemen unterscheiden. Es handelt sich insofern um asymmetrische Codes, als die Subsysteme immer nur auf der positiven Seite agieren. Das Rechtssystem muss daran glauben, in allem, was es kommuniziert, dem Recht zu dienen. Jeder weiß zwar, dass das nicht der Fall ist. Für das System wäre es aber verhängnisvoll, seine Funktion nicht so zu definieren, dass es der Mehrung des Rechts dient. Gleiches gilt für das Wirtschaftssystem: Alle Welt ist sich der Krisenanfälligkeit des Wirtschaftssystems bewusst, dennoch ist die Kommunikation des Systems nur so aufrecht zu erhalten, dass es idealiter den Profit aller mehrt. Das Religionssystem unterscheidet sich nach Luhmann von diesen Funktionssystemen insofern, als es seinen negativen Wert der Transzendenz nicht aus der Systemkommunikation ausschließt, sondern die Transzendenz mit Hilfe der Kontingenzformel Gott immer präsent hält. Insofern kann Luhmann ganz lakonisch sagen: »Religion scheint immer dann vorzuliegen, […] wenn man einzusehen hat, weshalb nicht alles so ist, wie man es gern haben möchte.«5 Religion spielt insofern nach wie vor eine zentrale Rolle für die Gesellschaft, als sie »die Bestimmbarkeit allen Sinnes gegen die miterlebte Verweisung ins Unbestimmbare« garantiert.6 Anders gewendet: »Religion hat es mit diesem Einschluss des Ausgeschlossenen, mit der zunächst gegenständlichen, dann lokalen, dann universellen Anwesenheit des Abwesenden zu tun.«7 Das hat Konsequenzen für die Art und Weise der Kommunikation im Religionssystem: Im Falle der Religion ist Begründung nicht durch Ausschluss, sondern nur durch Einschluss des Gegenwertes zu erreichen, nicht wie Wahrheit durch Ausschluss von Unwahrheit, sondern durch Neubewertung aller Unterscheidungen in transzendenter Sinngebung.8
Es geht bei religiöser Kommunikation also nicht um Wahrheit, auch wenn die Religionsgemeinschaften eine Vielzahl von »Wahrheitsansprüchen« erheben. Sie können diesen Anspruch niemals einlösen, weil religiöse Sätze paradoxe Sätze sind. Gerade so hält die Religion das Transzendente in der gesellschaftlichen Kommunikation präsent. Religion ist für Luhmann Paradoxieentfaltung. Das ist aber kein Mangel. Im Gegenteil: »Paradoxien sind, das muß immer 5 6 7 8
Luhmann, Religion, 122. A.a.O., 127. A.a.O., 32. A.a.O., 91.
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wieder betont werden, keine Kommunikationshindernisse. Im Gegenteil: sie können formuliert werden.«9 Das Religionssystem einer Gesellschaft stabilisiert die Immanenz gesellschaftlicher Prozesse gerade dadurch, dass es über Transzendenz kommuniziert. »Bei religiöser Kommunikation geht es um einen besonderen Fall, den wir […] als Realitätsverdoppelung bezeichnen können.«10 »Es ist dann nicht mehr einfach alles, was ist, real, indem es ist, wie es ist, sondern es wird eine besondere, sagen wir reale Realität dadurch erzeugt, dass es etwas gibt, was sich von ihr unterscheidet.«11 Man kann auch sagen, dass eine Kommunikation immer dann religiös ist, wenn sie Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet. Dabei steht Immanenz für den positiven Wert, für den Wert der Anschlussfähigkeit […], und Transzendenz für den negativen Wert, von dem aus das, was geschieht, als kontingent gesehen werden kann. […] Erst von der Transzendenz aus gesehen erhält das Geschehen in der Welt einen religiösen Sinn.12
Die Religion hat also die systemische Aufgabe, die unvertraute Welt in der vertrauten aufscheinen zu lassen und gerade so Systemvertrauen in die kommunikativen Operationen des Gesamtsystems zu erzeugen: »Wie kann das System so etwas wie Systemvertrauen entwickeln? […] [D]ie Vermutung liegt nicht ganz fern, dass hierfür Religion zuständig ist.«13 Wenn das Ritual der Inauguration auch von den politischen Eliten Washingtons und nicht vom Vorstand einer Kirchengemeinde organisiert und inszeniert wurde, so handelt es sich gleichwohl um eine Kommunikationsform, die dem Religionssystem zuzuordnen ist, weil das Ritual es ermöglicht, die Lage der Nation unter dem Gesichtspunkt einer transzendenten Macht in den Blick zu nehmen. Die Kommunikationsformen des Wahlkampfes sind ebenso exkludiert wie vergangene und künftige Parlamentsdebatten. Das Volk als Ganzes, das als »one nation under God« angesprochen ist, erinnert sich seiner Bestimmung, die aber ohne die Anerkennung von Kontingenz nicht angemessen erfasst werden kann. Die besondere Leistung des Religionssystems besteht also in der Inklusion von Unbestimmbarkeit in die komplexen Bestimmungsoperationen einer Gesellschaft. Luhmann sieht aber in weltgesellschaftlicher Perspektive die Inklusionsleistungen des Religionssystems nicht in seinen semantischen Operationen aufgehen: 9 10 11 12 13
A.a.O., 132. A.a.O., 58. A.a.O., 59. A.a.O., 77. A.a.O., 47.
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Was auffällt sind […] extrem geringe Interdependenzen mit den Inklusions-/Exklusionsregulierungen anderer Funktionssysteme. Eine Exklusion aus der Religion schließt nicht, wie noch im Mittelalter, aus der Gesellschaft aus. Umgekehrt können Beinahe-Exklusionen aus anderen Funktionssystemen – kein Geld, keine Ausbildung, kein Ausweis, keine Chance, von der Polizei ernst genommen oder vor Gericht gehört zu werden – von der Religion souverän ignoriert werden.14
Gerade die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme einer Gesellschaft, die man lange Zeit als einen Einflussverlust des Religionssystems interpretiert hatte, erweist sich in Luhmanns Sicht als seine Stärke: Es kann weitaus unabhängig von den Exklusionsmechanismen anderer gesellschaftlicher Subsysteme Inklusionsangebote machen. Gerade an dieser Stelle zeigt sich dann aber die zentrale Schwäche des zivilreligiösen Rituals der Inauguration des US-amerikanischen Präsidenten. So beeindruckend die Inklusion aller Rassen, aller Ethnien, aller Geschlechter im Namen von Freiheit und Gleichheit inszeniert wurde, so sind selbstverständlich nur die amerikanischen Staatsbürger inkludiert. Alle anderen sind exkludiert. Die Zivilreligion einer Nation leidet insofern unter einem Mangel an Transzendenz, als ihr Gott nicht unbestimmt genug ist, um das Andere des hier Inszenierten bestimmbar zu machen. Die Opfer, die Soldaten bringen, sind nicht nur Grund zum Stolz, sie sind auch Grund zur Verzweiflung. Der Dienst am Vaterland ist nicht als solcher »heilig« – er kann auch monströse Formen annehmen. Das Licht der Freiheit, das die Vereinigten Staaten so gerne in die Welt hinaustragen, wird von einer Wirtschaftsmentalität verdunkelt, die viele Völker als Bedrohung empfinden. Eine Zivilreligion, die zur Selbstkritik nicht mehr ermutigt, ist Idolatrie. Es ist eine empirische Frage, ob die zivilreligiösen Inszenierungen einer Regierung Inklusion durch mehr Transzendenz ermöglichen, oder Exklusion durch die Anbetung ihres eigenen Gottes fördern. Abschließend soll noch einmal gefragt werden, ob es denn so etwas wie ein »religiöses Gefühl« überhaupt geben kann. Niklas Luhmann und Hermann Schmitz stimmen darin überein, dass sowohl Gefühle als auch religiöse Kommunikation kollektive Phänomene sind. Das Individuum kann sich zu ihnen zwar verhalten, es kann sich ihnen aber nicht gänzlich entziehen. Sie bleiben eine Zumutung und machen eine wie auch immer geartete Stellungnahme erforderlich. Als religiös könnte man auf der Linie der Gedankenführung Luhmanns eine kollektive Gefühlszumutung dann bezeichnen, wenn eine beunruhigende und verunsichernde Kontingenzerfahrung mit Hilfe religiöser Semantik so definiert wird, dass sie ein vertrauensvolles Sich-Einlassen auf Unvertrautes nahelegt. Ein religiöses Gefühl müsste dann aber beides, die Unvertrautheit und deren Überführung in Vertrauenswürdigkeit, mithin die Einheit der Differenz 14 A.a.O., 305.
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von Unvertrautem und Vertrautem, von Transzendentem und Immanentem erfahrbar machen. Ein kollektiv inszeniertes religiöses Gefühl käme dann einer Aufforderung zum »Sprung in den Glauben« gleich, das aber die Dialektik von Verzweiflung und Glauben, Ungewissheit und Gewissheit nicht zum Erliegen bringt, sondern deren Dynamik immer wieder in Gang setzt. Ob ein Individuum aber wirklich springt, ist und bleibt seine Entscheidung.
Literatur Luhmann, Niklas, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2002. Schmitz, Hermann, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg 2009.
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III. Praktisch-theologische Handlungsfelder
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Kristian Fechtner
Schamgefühle. Zur emotionalen Innenseite der Kasualpraxis »Gott ist die Liebe« (1. Joh 4,16) »Ach komm, Liebe ist doch bloß ein Gefühl« (Graffiti)
1.
Kasualpraxis als Deutungs- und Empfindungsraum gelebter Religion
Kasualien sind kirchliche Akte, die an lebensgeschichtlichen Übergängen angesiedelt sind. An den Schwellen individuellen Lebens sind Menschen dafür empfänglich, ihre Wirklichkeit und die Erfahrungen, die sie bestimmen, religiös zu thematisieren. In der spätvolkskirchlichen Zeit des gegenwärtigen Christentums reichen die Kasualien weit über den Kreis der gemeindlich Engagierten hinaus, auch und gerade die Distanzierten nehmen bei Tauf- und Konfirmationsfeiern, bei Trauungen und Bestattungen ihre »Kirchenzugehörigkeit« wahr.1 Kirchlicher Kasualpraxis ist es aufgegeben, das Evangelium Jesu Christi auch Menschen auszurichten, die der Kirche häufig lose verbunden sind, an ihren gottesdienstlichen Zyklen punktuell und zu bestimmten Anlässen teilhaben und die in der Sprachwelt kirchlich-christlicher Tradition zumindest alltagsweltlich kaum beheimatet sind. Nun hat sich vor dem Hintergrund der empirischen Erkundungen gelebter Kirchlichkeit seit Beginn der 1970er Jahre innerhalb der Praktischen Theologie ein subjekttheoretischer Perspektivenwechsel vollzogen, der das kirchliche Kasualhandeln biographisch deutet: Was bedeutet die Teilhabe an den Kasualien lebensgeschichtlich; welche Deutung erfahren biographische Erfahrungen und Orientierungen im Horizont des christlichen Glaubens? Unter diesem Vorzeichen erscheint die gegenwärtige Kasualpraxis nicht als Restbestand einer ehemals traditionalen Form der Kirchlichkeit, sondern ist konstitutiv auf den spätmodernen Wandel von Lebensverhältnissen bezogen, in denen sich die lebenszyklischen Muster vervielfältigen und die Identität des Ichs prekär wird.2 1 Gräb, Kasualpraxis, 201. 2 Vgl. Fechtner, Sehhilfen.
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Vor gut fünfundzwanzig Jahren hat Wilhelm Gräb einen Beitrag vorgelegt, der praktisch-theologische Grundlinien einer zeitgenössischen Kasualtheorie skizziert.3 Die kirchliche Kasualpraxis kommuniziert – so die Pointe – Rechtfertigungsglauben, indem sie ihn »auf die konkreten Menschen und ihre Lebensgeschichte« hin individualisiert, um sie ihres Lebens gewiss werden zu lassen. Im Lichte des Evangeliums geht es dabei »gerade nicht um die Rechtfertigung aus den Motiven und Leistungen, die diese Lebensgeschichte selber bereitzustellen vermag«, sie wird vielmehr »dem einzelnen in Gestalt vorbehaltloser, unbedingter, in Gott gründender Anerkennung zugesagt«.4 Eine solche Form der Anerkennung hat zwei Seiten: Zum einen sind die Kasualien Orte, an denen Menschen ihrer Lebensgeschichte als übergängiges und in sich ambivalentes Leben mit allen Anteilen von Schuld und Verletzung ansichtig werden. Auch das, was im eigenen und fremden Leben unannehmbar erscheint, wird als Element von Lebensgeschichte anerkannt. Und zugleich wird eben diese konkrete Lebensgeschichte zwischen Verlusterfahrung und Möglichkeitssinn als ein Leben gewürdigt, das von Gott angenommen ist und zurechtgerückt wird. In den Kasualien und insbesondere in der Kasualansprache wird Religion als »Deutung des Lebens« in einem letztinstanzlichen Sinnhorizont kommuniziert.5 Die religiösen Deutungen vermitteln sich in den symbolischen Formen, rituellen Handlungen und insbesondere in der existentielle Sinnfragen ansprechenden Rede als öffentliche Seite der kirchlichen Kasualpraxis. Kasualien zielen darauf, dass die Beteiligten sich die religiösen Lebensdeutungen individuell aneignen und sie in ihr Leben einzeichnen, mithin teilhaben »an den Gründen, welche die Kirche für die Rechtfertigung von Lebensgeschichten hat«6. Deutung aber ist, dies macht Wilhelm Gräb an anderer Stelle deutlich, keineswegs nur ein interpretierender Akt, der Sinngehalte und Vorstellungen im Blick auf Lebensorientierungen kognitiv vermittelt und begründet. Das Resonanzfeld religiöser Deutungen ist nicht nur das Verstehen, sondern auch und wesentlich das Empfinden. Das spezifisch Religiöse christlicher Selbstdeutung bringt sich im »Gefühl eines absoluten Gegründet- und Gehaltenseins«7 zur Geltung. Im Sinne Friedrich Schleiermachers, dem Wilhelm Gräb folgt, sind im Akt der religiösen Lebensdeutung zwei Momente miteinander verknüpft: Anschauung, mithin eine bestimmte Wahrnehmung von Welt und Selbst, und Gefühl als innere Empfindung, eine erregte Gestimmtheit des Gemüts: Jede religiöse »Anschauung [ist] ihrer Natur nach mit einem Gefühl verbunden«8. 3 4 5 6 7 8
Gräb, Kasualpraxis. A.a.O., 197 und 199 f. Ders., Religion (Herv. K.F.). Ders., Kasualpraxis, 201. Ders., Religion, 52 (Herv. K.F.). Schleiermacher, Über die Religion, 59.
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Man könnte sagen: Die kasualpraktische Kommunikation des Evangeliums gelingt, wo für Menschen die Rechtfertigung von Lebensgeschichte spürbar wird.9 Darauf verweist auch das kasualtheologische Leitmotiv : Die bedingungslose ›Anerkennung‹ des je individuellen Lebens durch Gott ist ein interpersonales Geschehen, dessen emotive Innenseite die ›Achtung‹ darstellt.10 Die Rechtfertigungsbotschaft findet soziale und individuelle Resonanz, wo diejenigen, denen sie gilt, einander und sich selbst zu achten vermögen. Nicht zufällig kommt in den Kasualien Lebensgeschichte immer auch narrativ zum Ausdruck und zur Geltung: Sie will gesehen werden; sie kann nur geachtet werden, wo sie auch beachtet wird.11 Kasualpraxis eröffnet und gestaltet einen religiösen Deutungs- und Erfahrungsraum, der mit vielfältigen Empfindungen und Gefühlen ausgefüllt ist. Dies ist in unterschiedlicher Weise innerhalb der jüngeren kasualtheoretischen Diskussion akzentuiert worden. Ulrike Wagner-Rau macht deutlich, dass die biographischen Schwellen und Übergänge kasuelle Zwischenräume bilden, in denen Lebensgeschichte wahrgenommen wird und sich im Segen Gottes transzendiert.12 In diesem ›Segensraum‹ der Kasualien kommt es – so die vorrangig seelsorgliche Perspektive in tiefenpsychologischer Tradition – zur »Expression und Verarbeitung von Emotionen«, in der die »Verunsicherung« zu bewältigen ist, die mit lebensgeschichtlichen Umbrüchen einhergeht, um sie auf Zukunft hin zu wenden.13 Im Gegenzug zum pastoralpsychologischen Paradigma des Kasus als krisenhafter Lebenssituation bestimmt Wolf-Eckart Failing »Kasualien als Feiern des Lebens«, in denen das Dasein gemeinschaftlich vor Gott gebracht wird.14 Aber auch hier wird die affektive Seite des Kasualerlebens unterstrichen. Indem die »Fülle des Lebens« – als Geburt, als Vereinigung, auch als Verlust ¢ symbolisch inszeniert wird, intensiviert und steigert sich die »Empfindsamkeit« derjenigen, die sich auf die Kraft und den »Grund schöpferischen Lebens« emotiv einlassen.15 Auf dieser Linie könnte man sagen: Es geht in den Kasualien nicht nur um eine diskursive Deutung von Lebensgeschichte, sondern auch um rituelle Gesten, in denen vielspältige Erfahrungen gelebten Lebens an Gott gerichtet werden: als Dank und Bitte, als Klage und Lob. Diese Grundformen des Liturgischen artikulieren Gefühle der an den Kasualien Be9 Vgl. dazu die instruktiven Anregungen, Rechtfertigung als »gefühltes Wissen« (felt sense) zu begreifen, Bieler/Gutmann, Rechtfertigung der ›Überflüssigen‹, 213. 10 Vgl. Demmerling/Landweer, Achtung und Anerkennung. 11 »An dieser Stelle wird deutlich, dass ›Achtung‹ und ›Beachtung‹ nicht nur eine zufällige Äquivokation bilden, sondern auch einen Sachzusammenhang aufweisen«. A.a.O., 57. 12 Wagner-Rau, Segensraum. 13 A.a.O., 182 f. 14 Failing, Die kleine Lebenswelt, 217. 15 A.a.O.
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teiligten und von ihnen Betroffenen; in sie hinein legen Menschen, was sie in einer Taufe und Beerdigung, in einer Konfirmation oder einer Trauung berührt und bewegt. In den Kasualien erfahren sie ihre Lebensgeschichte, die sie selbst gestalten müssen und die mit eigenen Entscheidungen durchzogen ist ¢ immer könnte sie auch anders sein ¢ als Lebensgeschick, das schmerzt oder mit Freude erfüllt, für das sie dankbar sind oder sie ängstigt.16 Nur wo die religiöse Deutung Menschen in ihren Gefühlen erreicht und sie vertieft, ihnen ein Widerlager gibt und sie verwandelt, dort richtet sie auch die Botschaft des Evangeliums tatsächlich aus. Kurzum: Aus kasualtheologischer Sicht sind Gefühle keine bloßen Begleitphänomene religiöser Sinngehalte, die expressiv-emotionale Dimension ist vielmehr die Art und Weise, in der die Kasualien in der Erfahrungswelt der Beteiligten existentiell bedeutsam werden.
2.
Zwischenbetrachtung: Gefühle im Kontext religiöser Praxis
Die Spätmoderne ist in hohem Maße emotionsbetont und gefühlsinteressiert. Dies gilt kulturell wie individuell. Die bestimmenden kulturellen Formate der Gegenwart inszenieren in der Erlebnisgesellschaft ›große Gefühle‹¢ milieuspezifisch unterschieden im Hollywoodkino, der Oper oder auf dem Kirchentag. Und die Frage, wie man sich heute ›fühlt‹, ist mittlerweile auch jenseits des persönlichen Bereichs üblich und statthaft; auch ein Zeichen dafür, dass sich die Grenzlinien zwischen öffentlicher und privater Sphäre mehr und mehr verwischen. Auch in den Wissenschaften haben die Emotionen in den vergangenen Jahren noch einmal verstärkt Aufmerksamkeit gefunden, wobei die Frage nach den Gefühlen keineswegs neu ist. Gleichwohl haben natur-, sozial- und geisteswissenschaftliche Beiträge zum Phänomen der Gefühle derzeit ›Hochkonjunktur‹ und man kann gar von einer »philosophischen Rückkehr des Gefühls«17 sprechen, in der die Thematik breit ausgefächert wird.18 Die Debatte findet zunehmend Resonanz in der evangelischen Theologie, die mit Schleiermacher und auch Rudolf Otto eine prominente Traditionsgeschichte in diesem Feld hat.19 Innerhalb der Praktischen Theologie sind es vor allem pastoralpsychologische Zugänge gewesen, die in ihrer Weise das Erleben und Fühlen im Kontext religiöser Praxis in den Blickpunkt gerückt haben, angefangen von Otto Haendler in den 1950er über Joachim Scharfenberg in den 1960er und 70er Jahren 16 17 18 19
Fechtner, Kirche, 42. Lauster, Praxisbericht Forschung, 58 und 61. Vgl. z. B. neben Demmerling/Landweer, Philosophie bspw. Döring, Philosophie der Gefühle. Vgl. jüngst das Themenheft »Starke Gefühle«, PrTh 48 (2013), Heft 2.
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bis zu den jüngsten Veröffentlichungen von Michael Klessmann, um nur wenige Namen zu nennen.20 Als Realitäten menschlichen Daseins (so etwa Trauer oder Lebensangst) oder als Motive ethischer Lebensführung (beispielsweise durch Mitleid) werden Emotionen in verschiedenen praktisch-theologischen Handlungsfeldern thematisch. Die Ausdrucksweisen christlicher Glaubensorientierung selbst jedoch, also Vertrauen oder Hoffnung, erscheinen weniger als Gefühle im spezifischen Sinne von Affekten, sondern bezeichnen eher eine innere, bewusste Haltung des Subjekts. Insbesondere in der hermeneutischen Tradition der Theologie, die wesentlich auf das Verstehen abhebt, stehen Gefühle nicht im Zentrum dessen, was religiöse Praxis im christlichen Sinne zu bestimmen vermag.21 Dies mag auch damit zusammenhängen, dass gemeinhin und in unserer kulturellen Vorstellung höchst wirkungsmächtig »Fühlen und Denken bzw. Gefühle und Kognitionen« geradezu als »zwei entgegengesetzte Phänomene« wahrgenommen werden.22 Gegen die allzu geläufige Gegenüberstellung, die im Bild von ›Kopf und Bauch‹ gerne noch einmal trivialisiert wird, setzt die gegenwärtige philosophische Gefühlstheorie markante Kontrapunkte.23 Gefühle sind unwillkürliche Empfindungen eines Subjektes, die streng genommen zunächst in der Ich-Perspektive, mithin in der Ersten Person Singular, formuliert werden. In ihnen bringt sich das individuelle Erleben eines Menschen zur Geltung. Gefühle im engeren Sinne sind durch vier Momente bestimmt: Erstens sind sie – und dies unterscheidet sie von bloßen Stimmungen – »auf etwas in der Welt gerichtet«; sie sind nicht in sich verschlossene Gemütszustände, sondern »wesentlich intentional«.24 Angst, Trauer, Wut und Freude bestehen nicht in sich und durch sich selbst, sie sind Angst vor, Trauer um, Wut auf und Freude über. Die Intentionalität gehört substantiell zum Gefühl, sie ist nicht etwas, was zusätzlich oder nachträglich hinzukommt. Zugleich wird das, worauf sich das Gefühl richtet, in ihm selbst repräsentiert und damit gedeutet. Der Tod des Bruders, der Trauer bei mir auslöst, gibt diesem Leben in meiner Empfindung einen unwiederbringli20 Vgl. Haendler, Grundriß der Praktischen Theologie; Scharfenberg, Einführung in die Pastoralpsychologie.; Klessmann, Pastoralpsychologie. 21 Dies ist bei Manfred Josuttis, der ¢ was hier nicht geschehen kann ¢ eigens zu thematisieren wäre, in seinen jüngeren Veröffentlichungen anders. Er bestimmt im Anschluss an den Phänomenologen Hermann Schmitz Religion ausdrücklich als Gefühl, allerdings nicht als individuelle Empfindung der Psyche, sondern im Sinne einer »überpersönlichen Atmosphäre«, von der Menschen ergriffen und heimgesucht werden. Vgl. Josuttis, Religion als Handwerk, 79. 22 Vendrell Ferran, Grammatik der Gefühle. 23 Ich nehme im Folgenden Überlegungen auf, die Döring, Allgemeine Einleitung, sowie Vendrell Ferran, Grammatik, im Blick auf den gegenwärtigen gefühlstheoretischen Diskurs ausgearbeitet haben. 24 Döring, Allgemeine Einleitung, 15.
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chen Wert; die Geburt des Kindes, für die ich Dankbarkeit verspüre, lässt das neue Leben in meinem Glücksgefühl zu einem Geschenk werden. Gefühle sind mithin eine Art und Weise, in der sich mir Wirklichkeit erschließt und sie sind darin selbst schon Deutungen von Welt und Selbst. Sie haben gleichsam ihre eigene Ratio. Zweitens sind Gefühle auch in einer anderen Hinsicht nicht in sich geschlossene Empfindungszustände. Sie wirken im Subjekt als Motivation, als Triebkraft des Verhaltens. In diesem Sinne sind Gefühle, so ihr Synonym, immer Emotionen (lat. emovere: hinaustreiben, herausbewegen). Wo Ungerechtigkeit im (Gegen-)Gefühl der Empörung zur Darstellung kommt, da treibt es Menschen an und um. Noch wo Menschen in Trauer oder Angst wie gelähmt sind, ist dies eine durch Emotion verursachte stillgestellte Bewegung. Auch die Motivationalität ist ein Wesenszug des Gefühls, in diesem Sinne ist Depression kein Gefühl, sondern eine Krankheit. Drittens äußern sich Gefühle immer als »leibliche Erfahrung bzw. Selbsterfahrung«25. Emotionen spürt man, sie sind eine eigene Form des sinnenhaften Fühlens. Allerdings sind sie nicht bloßes Körpererleben, also physiologischer Art; sie sind vielmehr ein Selbstempfinden durch »leibliche Regungen«26. So mag Zorn gefühlsmäßig mit erhöhter Temperatur einhergehen, umgekehrt jedoch ist Fieber noch kein Ausdruck einer Emotion.27 Deshalb ist Schmerz zwar eine körperliche Empfindung, aber kein Gefühl im prägnanten Sinne. Die Leiblichkeit der Gefühle drückt sich gleichwohl darin aus, dass sie am Körper erlebt werden und sich körperlich ausdrücken: Trauer bezeichnet etymologisch eine Trauergebärde (die Augen niederschlagen, den Kopf senken); im Gefühl der Liebe weitet sich das Herz, der Raum des Leibes dehnt sich aus; und in der Scham möchte man am liebsten im Boden versinken. Von Gefühlen wird man ergriffen, sie werden – mit Bedacht oder ohne Absicht – geweckt. Dass Gefühle leiblich sind, schließt mit ein, dass sie nicht willentlich vom Subjekt hervorgebracht werden. Ein viertes Moment kommt hinzu.28 In ihrem emotionalen Gehalt sind Gefühle das, was Menschen je gegenwärtig spüren. Aber sie haben zugleich ein Gedächtnis und sind, dies gleich in doppelter Weise, mit Erinnerungen verknüpft. Zum einen schwingen im Gefühl häufig emotionale Erinnerungen mit, sie konturieren und intensivieren die Empfindungen. Nicht selten reichen und führen sie in die Gefühlssphäre der Kindheitswelten zurück. Zum anderen evozieren Erinnerungen – Bilder, Erzählungen, Sinneseindrücke – Gefühle, vergegenwärtigen sie und schaffen sie neu. Beides zusammengenommen gibt zu erkennen, dass Gefühle eine biographische Dimension haben. Lebensgeschichte wird zur gedeuteten Geschichte 25 26 27 28
Vendrell Ferran, Grammatik. Schmitz, Der Leib, 5. Vgl. Vendrell Ferran, Grammatik. Hier löse ich mich von der angeführten Referenzliteratur zur philosophischen Gefühlstheorie und füge noch einen weiteren Aspekt hinzu.
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eines Lebens durch biographische Schlüsselszenen, die selbst emotional geprägt sind. Gefühle erweisen sich bei genauerer, theoretischer Betrachtung als höchst komplexe Phänomene, unbeschadet dessen, dass unmittelbares Fühlen – und dies auch nicht immer – schlicht und klar sein kann. Welche Perspektiven eröffnen sich in der Kasualtheorie im Blick auf die vier hier nur angedeuteten Aspekte? Zunächst erhärtet sich die These, dass Gefühle nicht nur affektive Tönungen religiöser Deutungen darstellen, sondern dass ihnen diese selbst innewohnen. Sie sind der Resonanzraum des christlichen Glaubens, der als Haltung emotionale Beweggründe hat und auch braucht. Berührt werden ist nicht nur ein Moment gefühliger Sentimentalität, die in den Kasualfeiern gerne aufbricht, es ist auch die christlich-religiöse Signatur des Kasualerlebens, das empfänglich wird im Segensakt und durch das rechtfertigende Wort. Besondere Aufmerksamkeit erfordern Gefühle in ihrer leiblichen Empfindung, weil sie sich in ihnen konkretisieren und sie Aufschluss geben, in welcher Weise religiöse Praxis für sie bedeutsam wird – bis hin dazu, dass an ihnen erkennbar werden kann, welche impliziten Deutungen in diesem Geschehen mitkommuniziert werden. Und schließlich liegen die biographische Dimension und das emotionale Erleben der Kasualien gerade nicht auf zwei unterschiedlichen Ebenen, sondern sind ineinander verschränkt. Im emotionalen Erleben einer Taufe oder einer Beerdigung, in der Art und Weise, wie das liturgische Geschehen einer Konfirmation oder die Traupredigt emotional wirken, erfahren Menschen etwas über Sinn und Wert ihres ganzen Lebens. So wird man im nächsten Schritt erkunden: Welche Bedeutung haben Gefühle im Kontext der Kasualpraxis und inwiefern artikuliert sich in ihnen religiöser Sinn?
3.
Beobachtungen in der Gefühlswelt der Kasualien: Vier Schamszenen
Was in der Kasualpraxis geschieht, geht Menschen zu Herzen. Dabei sind die Empfindungen, die virulent werden, in sich vielfältig und nicht selten hochambivalent: Dankbarkeit vermengt sich mit Sorge bei der Taufe nach einer gefahrvollen Geburt; in der Gefühlswelt der Traugesellschaft, die am Glück der Brautleute herzlich Anteil nimmt, verstecken sich hier und da auch Fluchtgefühle oder Neidreflexe; manches Trauergespräch im Vorfeld einer Bestattung erweist sich als eine Gemengelage von Wut und Erleichterung, Schuldgefühlen und Traurigkeit. Zu den in der spätvolkskirchlichen Kasualpraxis immer wieder auftauchenden Gefühlen gehört auch die Scham, eines der für Kultur und Religion bedeutsamen, in sich zwiespältigen Gefühle. Sie soll im Folgenden im
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kasualtheologischen Fokus stehen, um an ihr exemplarisch zu zeigen, inwiefern das emotionale Erleben relevant und aufschlussreich ist für die Deutung der Kasualien und für das Verständnis dessen, was sie in theologischer Perspektive ausmacht. Dabei setzen die Beobachtungen an scheinbar randständigen Aspekten oder an vermeintlichen Sonderfällen an. Dies passt insofern zum Gefühlsphänomen der Scham, weil es in der Praktischen Theologie – anders als Trauer oder Schuld – bislang wenig Beachtung gefunden hat und auch hier nur am Rande vorkommt. (1) Bevor noch im Konfirmationsgottesdienst gepredigt und gesegnet, Abendmahl gefeiert und Fürbitte gehalten wird, ist bereits Wesentliches passiert – jedenfalls für die Jugendlichen wie für ihre Eltern und Familien. Der feierliche Einzug der Konfirmandinnen und Konfirmanden ist – so hat eine kleine Befragung eines Gemeindepfarrers im Nachgang zur Konfirmation ergeben – »bei allen Konfirmierten das prägende Ereignis«29, das sich für sie mit dem Gottesdienst verbindet. Und eine Mutter sekundiert, wenn sie berichtet, dass es »mich sehr berührt (hat), unsere Tochter mit den anderen Konfirmanden und Konfirmandinnen, der Pfarrerin und den Ältesten in einiger Entfernung an uns vorbei zu ihren Plätzen in der Kirche einziehen zu sehen«.30 Alle Blicke richten sich auf die Jugendlichen, wenn sie hinein schreiten. Das Ritual ist ein ›ZeigeRitus‹, genauer ein Sich-Zeigen als nunmehr Herangewachsene: so groß, so jung erwachsen, so besonders. Indem die Jugendlichen in dieser Weise angesehen werden, überschreiten sie eine Schwelle, mit allen Irritationen, die ein solcher Übertritt auslöst.31 Dabei wird ein Widerstreit von Gefühlen leibhaft spürbar ; was und wie sie sich zeigen, erscheint als ein Gemisch von Stolz und Scham. Unschwer lässt sich erkennen, wie die einen betont cool versuchen, die eigenen jugendlichen Schamtemperaturen herunterzukühlen, während andere leicht errötet den Blick senken, weil sie sehr wohl wissen, wie sie nun – als junge Frau, als junger Mann – (an)gesehen werden. Als Grundbewegung äußert sich Schamgefühl im Wechselspiel von Sich-Zeigen und Sich-Verbergen.32 Stolz und Scham verbindet, dass beides Selbstwertgefühle sind, die in dieser Situation ineinander liegen, nach der einen Seite als gutes, nach der anderen als unangenehmes Selbstgefühl.33 Im Zuge der jugendlichen Identitätsthematik changiert 29 Wahl, »Wir sind hereinstolziert«, 178. 30 Köhrmann, Warum wir unser Kind, 95. 31 Sehr einleuchtend hat Jan Hermelink das Konfirmationsgeschehen insgesamt als »Ritual heilsamer Verstörung« interpretiert und dabei auch den gottesdienstlichen Einzug mit in den Blick genommen. Vgl. Hermelink, Konfirmation als Ritual. 32 Vgl. zum gegenwärtigen Diskurs zum Phänomen der Scham in unterschiedlichen Wissenschaften z. B. Wurmser, Maske der Scham; Neckel, Status und Scham; Bammel, Aufgetane Augen. 33 Vgl. Demmerling/Landweer, Philosophie, 257 f.
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die Empfindung zwischen der Lust, sich darzustellen, und der Verlegenheit bis hin zur Peinlichkeit, sich so zu zeigen: Das bin ich. Der Einzug im Konfirmationsgottesdienst ist ein mit Scham besetzter Akt, in dem zugleich Scham auch rituell gebunden und eingehegt wird. Zum einen wird der Ritus immer in der Gruppe begangen, die den Einzelnen (ver)birgt, zum anderen spielt die Konvention der Konfirmationskleidung eine Rolle, in der sich das Ich der Jugendlichen verfremdet präsentiert. Im Blick auf das Konfirmationsgeschehen ist der feierliche Einzug kein bloßer traditioneller Zierrat, sondern ein rituelles Eingangsportal, durch das hindurch der religiöse Akt der Einsegnung emotiv zugänglich wird. Was die Jugendlichen in dieser Passage erleben – nämlich angeschaut zu werden ¢, führt sie zu dem, was auch im Akt der Einsegnung geschieht: Sie ist eine besondere Weise, von Gott angesehen zu werden. Im Segen können Konfirmandinnen und Konfirmanden erfahren, was es bedeutet, wenn ein anderer Blick, der Blick Gottes, auf ihnen ruht. (2) Es gibt nicht nur Scham im gottesdienstlichen Ritual, sondern auch Schamgefühle in dessen Vorfeld. Bei einer Auswertung statistischer Daten zur gegenwärtigen Taufpraxis im Bereich der evangelischen Kirchen hat das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD (SI) vermerkt, dass die Taufquote von Kindern nicht-verheirateter evangelischer Mütter signifikant geringer ist als der Durchschnitt, sie liegt derzeit nur bei ca. 25 %.34 Das Phänomen ist nicht neu, man begegnet in ihm vermutlich der Kehrseite einer stark familialisierten Taufpraxis. Mit dem kirchlichen Taufakt ist verbunden, familiäre Verhältnisse öffentlich sichtbar zu machen: Das Ensemble der Personen am Taufstein ist eine (erweiterte) Familienszene, die offenbar bis heute mit idealisierenden Bildern einer vermeintlich intakten Kleinfamilie hinterlegt ist. Wo diese nicht zur Darstellung kommen, erscheinen familiäre Beziehungen und Verhältnisse deviant und defizitär. Auch hier dürfte Scham im Spiel sein, wenn etwa bei Alleinerziehenden Familie ein von dieser Norm abweichendes Bild darstellt. Scham ist als subjektive Empfindung ein negatives Selbstverhältnis, das die eigene Person in den Augen der anderen als mit einem Makel behaftet wahrnimmt und sich selbst so empfindet. Zugleich ist Scham aber auch ein »soziales Gefühl«35, das entsteht, wenn Menschen bloßgestellt, missachtet oder entwertet werden und sie den Blick des anderen als Beschämung erleben. Vermutlich hat sich im kollektiven Gefühlsgedächtnis die Erinnerung gehalten, dass die Kirche bis weit in die 1960er Jahre hinein die Taufe unehelicher Kinder liturgisch sanktioniert und damit alleinstehende Mütter herabgesetzt hat. Sie haben nicht einen Makel, sondern ¢ so die untergründige Botschaft ¢ sind ein Makel, der sich auf ihre 34 Die Studie ist abrufbar unter : http://www.ekd.de/download/ungebrochene_akzeptanz_der_taufe.pdf (11. 12. 2012). Vgl. dazu Fechtner/Friedrichs, Taufe und Taufpraxis, 142 f. 35 Neckel, Status, 16.
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Kinder überträgt. Bis heute haben sich normierende Vorstellungen einer ›vollständigen‹ Familie trotz anderslautender öffentlicher Verlautbarungen gehalten. Auf die Taufe des eigenen Kindes zu verzichten, meidet das eigene Gefühl und weicht der Schamangst aus, sich in der Taufszene selbst bloßzustellen. Man mag im Blick auf die Taufpraxis deshalb fragen, ob und wo jenseits des sonntäglichen Gemeindegottesdienstes schamgeschütztere öffentliche Formen und Orte der gottesdienstlichen Taufe sind – von selbstständigen Taufgottesdiensten über Taufen im Kreis von Krabbelgruppen oder unter Obhut von Kindergärten bis hin zu regionalen Tauffesten, die verträglicher sind mit der Pluralität heutiger familiärer Lebenswelten. Tauftheologisch wesentlich aber ist, die Beobachtungen nicht als sozialen Rand– oder Sonderfall zu behandeln. Wenn es stimmt, dass in diesem Fall Taufe implizit als schamängstigende Ausgrenzung gemieden wird, dann steht der Taufritus auf dem theologischen Prüfstand. Die Taufe verheißt, dass Menschen im Glauben gewiss werden, zur Gemeinde Christi zu gehören und im Glauben »nicht zuschanden« (Röm 10,11), mithin nicht beschämt zu werden. Der Ritus jedoch dementiert sich selbst, wo er unterlassen wird, um nicht erleben zu müssen, bloßgestellt zu werden. Wo die Kehrseite der gängigen Taufpraxis für andere Exklusion bedeutet, ist dies Grund zur Scham derjenigen, die dazugehören. (3) Die kirchliche Trauung führt gemeinhin in andere Gefühlsgefilde. Und doch wohnt auch ihr ein Moment der Scham inne. In der Neuzeit ist für sie das romantisch-bürgerliche Leitmotiv der Liebesheirat bestimmend geworden. Unter diesem Vorzeichen erscheint jede Trauung als Veröffentlichung von Intimität: Die persönlich empfundene Liebe zweier Menschen wird vor Gott in ein Lebensbündnis gebracht, für das ein wechselseitiges Versprechen abgegeben und Segen erbeten wird. Eine Pfarrerin berichtet aus ihrer pastoralliturgischen Praxis: »Die Trauung ist beileibe nicht meine Lieblingskasualie, aber ich kann sie durch die Jahre hindurch trotz mancher Auseinandersetzungen mit für mich abwegigen Wünschen klar und deutlich gestalten. Ich habe ein gutes Gefühl gewonnen für das, was gottesdienstlich dran ist. Aber dann gibt es doch einen Punkt, der mich verlegen macht: der Kuss der Brautleute nach dem Trausegen. Da drehe ich mich gerne zum Altar und nestele abwartend mit der Traubibel, bevor ich sie überreiche und wieder liturgisch fortfahre.« Man mag den Kuss, der sich hier ins kirchliche Ritual schiebt, aus kasualtheologischer Sicht als Lappalie abtun. Die Trauagende der UEK klammert ihn aus der Ordnung für die Trauung aus, vermerkt aber in der Einleitung, dass es sich immer mehr »einbürgert«, dass Braut und Bräutigam sich in der kirchlichen Zeremonie küssen. Dass es sich dabei um einen neuralgischen Punkt handeln mag, haben die Verantwortlichen der Agende bemerkt. Sie ersetzen die noch im Vorentwurf notierte Erläuterung, dass mit dem Kuss die »Leiblichkeit in der ehelichen Beziehung« deutlich werde, durch den Hinweis, man möge ihn im Traugespräch
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vorab ansprechen, um »eine im Traugottesdienst leicht peinlich wirkende ausdrückliche Aufforderung« zu vermeiden.36 Debatten im Internet verraten, wie emotional hochbesetzt dieser Akt in der Wahrnehmung des gottesdienstlichen Traugeschehens ist. Am liebsten wird er als Zitat zelebriert, halb erwartungsfroh, halb belustigt hört die Gemeinde kinovertraute Worte manches Geistlichen: »Sie dürfen die Braut jetzt küssen.« Ironische Brechung und Drehung zum Altar sind beides Modi, um mit Verlegenheit umzugehen, eine vergleichsweise milde Form des Schamgefühls. Und doch markiert die Empfindung einen wesentlichen Punkt des Traurituals. Zur Darstellung kommt intime Leiblichkeit als dasjenige, was dieses besondere Lebensbündnis ausmacht. Die leiblichen Lebensformen der Liebe, die vom Wohlwollen füreinander bis zur sexuellen Lust aneinander reichen, sind damit nicht nur Anlass und Motiv für die Trauung, sie sind vielmehr im religiösen Ritual als dessen lebensweltlicher Grund präsent. Die Brautleute reichen sich nicht nur vertragsförmig die Hände, sie berühren einander als Liebende. Wieder geht es um die Dialektik von Zeigen und Verbergen, denn – auch dies lässt sich an den Voten im Internet verfolgen – es geht oft um die Frage nach den Grenzen eines körperlich-symbolischen Aktes, der die Öffentlichkeit des Geschehens wahrt und zugleich etwas von der leiblichen Intimität vermittelt, die den Liebenden eigen ist. Die Scham hütet diese Grenzen und damit auch das Geheimnis der Liebe, die im Segen Gottes mit Lebenskraft erfüllt wird. (4) Dass die Bestattungspredigt biographisch orientierte und vermittelte Verkündigung ist, hat sich in der kasualhomiletischen Diskussion weithin durchgesetzt. Die Maßgabe, das Evangelium auf die Individualität von Lebensgeschichte hin zu konkretisieren, ist allerdings weder homiletisch einfach noch theologisch harmlos.37 Ein Pfarrer erzählt von einer Geschichte, die ihm nachgeht: »Sie war eine feine Frau vom alten Schlag, seit Urzeiten im Frauenkreis der Gemeinde, ansprechbar und freundlich, aber eher zurückhaltend. Als ich sie kurz vor ihrem Tod besucht habe, erzählte sie mir, dass sie aus einer jüdischen Familie stamme und von mir evangelisch beerdigt werden möchte. Dass sie Jüdin sei, wisse niemand, und ich möge ihr versprechen, dass es in der Trauerfeier nicht zur Sprache kommt. Viel erzählen mochte sie mir aus ihrem Leben nicht und ich weiß auch nicht, wie und wo sie den Nationalsozialismus überlebt hat. Als wenn sie sich schämen würde. Ich habe mich an mein Versprechen gehalten.« Eine gefühlstheoretisch instruierte, schamsensible Praktische Theologie müsste bei solchen biographischen Äußerungen in die Schule gehen. Es wäre zu erkennen, dass und wie in einer solchen Lebensgeschichte unterschiedliche Facetten der Scham zum Tragen kommen: eine »Existenzscham« des 36 Kirchenkanzlei der UEK, Agende. 37 Vgl. Friedrichs, Biographische Bestattungsrede.
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Individuums als einem »basalen Selbstgefühl«38, die sich am Verdacht entzündet, unerwünscht in der Welt zu sein; eine Scham der Opfer, überlebt zu haben; schließlich eine Subjektscham, besonders und anders zu sein als die anderen. All dies kann hier nicht weiter verfolgt werden. Kasualtheologisch zugespitzt wird hier erkennbar, was eine wesentliche homiletische Aufgabe der Bestattungspredigt ist: eine Lebensgeschichte so zur Sprache zu bringen, dass sie als Geschichte eines gelebten Lebens kenntlich und vor Gott gebracht wird, ohne sie preiszugeben und ihr ›Geheimnis‹ zu verraten. Im Grund taucht die Herausforderung in jedem Trauergespräch auf, in dem die Angehörigen bitten, dass das, was sie jetzt erzählen, nicht in der Predigt gesagt werden soll. Was seelsorglich Thema ist – das Verschwiegene, das Unzulängliche – gilt es nicht auszuklammern, sondern homiletisch zu übersetzen ¢ nicht schönzureden, wohl aber gutzusprechen (benedicere). Die Trauerpredigt ist ›bergende‹ Rede und bedarf an den Grenzen der Scham »kardinaler Diskretion«, wie Albrecht Grözinger in Aufnahme von George Steiner unterstreicht.39 Dazu gehört gleichermaßen Menschen in der Bestattungsrede respektvoll nahe zu kommen und aufmerksam Distanz zu wahren, im Glaubensgespür dafür, dass »Gott das letzte Wort über unser Leben spricht«40. Vier Schamszenen der gegenwärtigen Kasualpraxis sind erkundet worden, sie zeigen ausschnitthaft etwas von ihrer emotionalen Innenseite. Kasualien sind in vielfacher, auch in widerstreitender Weise schamgeprägt; sie sind ihrem inneren Erleben nach schamauslösend und schamlösend.41 An ihnen und in ihnen erfahren Menschen, dass Grenzen zu wahren sind und Schwellen überschritten werden können. Die religiösen Lebensdeutungen von kirchlicher Bestattung und Taufe, von Konfirmation und kirchlicher Trauung liegen in dem, was Menschen in ihnen erleben und erfahren. Die kasuelle Kommunikation des Evangeliums geht, wenn immer sie bedeutsam wird, auch ins Gefühl ein. Die Rechtfertigung von Lebensgeschichten als »in Gott gründender Anerkennung«42 schafft einen Raum der Achtung, in dem Menschen sich selbst gewiss werden und Scham spüren können, ohne sich ihrer selbst schämen zu müssen.
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Bammel, Aufgetane Augen, 28 f. Grözinger, Toleranz und Leidenschaft, 24. Ders., Es bröckelt, 122. Es sei wenigstens angemerkt: Die Beispiele legen nahe und fordern dazu heraus, Kasualtheorie noch einmal geschlechterbewusst zu reflektieren und zu differenzieren. 42 Gräb, Kasualpraxis, 201.
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Elisabeth Gräb-Schmidt
Leibhaftiges Fühlen. Zur Ambivalenz der Angst und ihrer Überwindung im Abendmahl
Einleitung »Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.« So beginnt Thomas Mann seinen großen Roman, »Joseph und seine Brüder«, mit dem er den Mythos aus dem Dunkel der Vorzeit ins Helle der Gegenwart holen möchte.1 Dieses Dunkel, das uns umgibt und uns bedrohlich in jedem Augenblick das Grauen lehren kann, ist zugleich aber auch ein schützendes Reservoir an Möglichkeiten, an Auswegen, die das Leben für uns bereithält. Dieses Dunkle kann nicht ins Helle geholt werden, denn es ist »tiefer als der Tag gedacht«2. Friedrich Nietzsche sieht in diesem Dunkel das Dionysische abgebildet, das die nur empfundenen und tiefsten, sich nicht zum Bilde verdichteten Kräfte darstellen kann, in denen aber gerade die Nähe eines Gottes, die Nähe schöpferischer Möglichkeit waltet. Es ist dieses Meer an Möglichkeiten, dieser Zusammenhang von Dunkel und Ahnung, der das Umfeld der Gefühle ausweist und sich gerade in der Ambivalenz von Erschaudern und Verlocken zum Symbol verdichtet. Es ist das Erschaudern vor dem Entsetzlichen, Abgründigen, das sich plötzlich auftun kann und die Verlockung durch das Dunkle, Uneindeutige, mit dem Ziel der Banalität des Alltäglichen entweichen zu können. So wird dieses Dunkle wie die Tiefe des Brunnens der Vergangenheit als der Urgrund erfahren, aus dem die Gestaltungen der Fantasie aber auch des Seins selber entsteigen, nicht erkannt, aber immer und überall gefühlt. Gefühle sind etwas, womit sich die Computertechnologie schwer tut. Die Vorstellung, man könne die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit auf einer Festplatte abspeichern, ist nicht so leicht – wohl eher gar nicht – umzusetzen. Offensichtlich erschöpft sich das Bewusstsein nicht in Rationalität. Das war zwar bereits die Erkenntnis Freuds, diese wird aber mehr und mehr durch die Entwicklungsanstrengungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz neu heraus1 Mann, Joseph und seine Brüder. 2 Nietzsche, Zarathustra, 558.
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gefordert. Die verschiedenen Versuche einer so genannten embodied technology zielen darauf ab, dieser Komplexität der conditio humana Rechnung zu tragen. Diese Komplexität ist allgegenwärtig. Sie wird hervorgerufen bereits durch kleine Gefühle, Empfindungen wie Unmut und Wohlbefinden, und großen Gefühlen wie Freude, Liebe, Lust, aber auch die negativen wie Gier, Trauer, Zorn, Neid, Scham, Schuld, sowie die affektgezähmten wie Gelassenheit und Mitleid und nicht zu vergessen und allgegenwärtig die Angst. Die Angst ist deswegen allgegenwärtig, weil sie zu den Grundgefühlen gehört, die jederzeit plötzlich auftauchen und uns ergreifen können, auch völlig ohne Grund. Die Angst hat mit den anderen Grundgefühlen gemein, dass sie weniger ein Gefühl als eine Stimmung meint. Stimmungen nehmen den Menschen ganz und gar gefangen. Sie bestimmen seine momentane Lebensausrichtung. Und so haben große Gefühle es an sich, dass man sie nicht hat, sondern dass sie einen haben. Das Ergriffensein und Gefangengenommensein in einer Stimmung gilt nun in ganz besonderer Weise und besonders anschaulich und plastisch für die Angst. »Angst essen Seele auf«, so der eindrückliche Titel eines Films von Rainer Werner Fassbinder, der dieses ohnmächtige Ausgeliefertsein an eine solche Stimmung prägnant auf den Punkt bringt. Gegen dieses Ausgeliefertsein können wir uns nicht wehren. Wir können uns nicht aus diesem Gefühl herausziehen, ebenso wenig, wie wir für uns selbst eine solche Stimmung heraufbeschwören können, sollte sie uns nicht gegenwärtig sein. Der Charakter solcher der Spontaneität entzogenen Angst wird eindrücklich beschrieben in dem Märchen der Gebrüder Grimm: »Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen.« Es beschreibt einen Tor, der nicht weiß, was Furcht ist – und vor allem, der auch in den Situationen, in denen andere Menschen sich zu Tode erschrecken, »cool« bleibt. Er begegnet Gespenstern, schläft in einem Raum mitten unter Gehenkten, hält sich nachts in einem Gruselschloss auf, aber nichts hilft. Er ängstigt sich nicht – vorerst. Wir alle merken, das geht nicht mit rechten Dingen zu, das ist nicht normal. Heute kann man eine solche psychische Abnormität medizinisch einordnen. Man nennt es: autonome Hyporeagibilität. Man versteht darunter eine verminderte Stressempfindlichkeit, aus der heraus antisoziale aggressive Verhaltensweisen entstehen können.3 Solchen Menschen fehlt etwas wesentlich zum Menschsein Hinzugehörendes, Fantasie, aber doch irgendwie auch ein körperliches Sensorium. Es wird hier deutlich: Angst ist nicht nur eine kognitive Angelegenheit. Sie ist ein Grundgefühl, das uns geistig und körperlich umgreift – und das wesentlich zum Menschsein dazugehört. Diese Grundgefühle erinnern uns an das Andere des Bewusstseins. Sie zeigen: Fantasie gehört zum Menschsein, der Traum nach einem besseren Leben, nach Geborgenheit, nach Glück und nach einer besseren Welt. Der Gedanke an das 3 Schmeck/Schlüter-Müller, Persönlichkeitsstörungen, 33.
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vergangene Goldene Zeitalter, an das Paradies, hat Menschenträume immer beflügelt. Davon zeugen etwa die Schöpfungsmythen in allen Religionen. Davon spricht auch die Schöpfungsgeschichte der Bibel, die uns jenseits der Arche Noah und des Turmbaus zu Babel die Wirklichkeit eines Goldenen Zeitalters verheißt, als Rückkehr ins Paradies – wäre da nicht die Angst, die diese Träume jeden Augenblick zunichtemachen kann, die alles Dunkle auch begleitet und uns an den Abgrund gemahnt, über dem wir unser Leben führen. Der dunkle Abgrund, den wir verdrängt haben, der aber in der Angst immer präsent bleibt als die Nacht des Grauens, aber auch die Nacht, aus der die Mythen geboren werden, fern des Logos. Treffsicher bezeichnet der Theologe, Philosoph und Mathematiker Nikolaus Cusanus denn auch die Angst als die Mauer zum Paradies.4 Cusanus zeichnet damit das Bild unserer conditio humana. Mit jener Mauer ist unser Ausgeliefertsein, das den Nährboden der Angst ausmacht, ins Bild gesetzt. Es ist die Angst, die uns vom Leben fernhält, die uns die Tiefe des Seins nicht durchloten, sondern uns davor zurückschrecken lässt, die weder der Vergangenheit ins Antlitz schauen mag, noch der Zukunft eine Chance gibt. Dem Schrecken der Angst über diesem Abgrund des Nichts zu schweben und nur durch ein »Seil über dem Abgrunde«5 von diesem getrennt zu sein, ist standzuhalten nur angesichts der Gefahr des Untergangs. Um dem Leben begegnen zu können, um das Dunkel des Abgrunds als Quellgrund zu erleben, muss die Angst bewältigt werden. Diese Angst, die den Menschen immer begleitet, potenziert sich jedoch angesichts des Verlusts metaphysischer und religiöser Beheimatung, angesichts der transzendenten Obdachlosigkeit, die die Wirklichkeit wie ein unbegrenztes, gleichsam rahmenloses Gemälde zeigt. Eben dass wir hineingestellt sind in die Existenz, ist nicht in die Vernunft einholbar und ist somit das Andere, das Angst gebiert. Und so ist es besonders in der Moderne, dass sich dieses Andere als das Nichts als Grundton der Existenz zeigt.6 Durch den Verlust der metaphysischen Geborgenheit wird die Angst entgegen allen emanzipatorischen Bestrebungen eben gerade nicht bewältigt, sondern sie erfährt eine Steigerung, aller Aufklärung und Absage an Gespenster und Geister zum Trotz. »Kein Ort, Nirgends«7, heißt es da. Heimatlos dem Dunkel der Nacht preisgegeben und mithin einer Angst ausgesetzt, die nicht fassbar, nicht begreifbar und schon gar nicht zu bewältigen ist: »In der Welt habt ihr Angst.« 4 Cusanus, De visione Die, 35. 5 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 281. 6 Aber schon Blaise Pascal war mit diesem Gefühl vertraut: »Anfang und Ende der Dinge werden dem Menschen immer ein Geheimnis bleiben. Er ist ebenso unfähig, das Nichts zu sehen, aus dem er stammt, wie die Unendlichkeit zu erkennen, die ihn verschlingen wird.« (Pens¦es II, 72) 7 Wolf, Kein Ort.
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(Joh.16,33) Dieser biblische Satz bleibt wahr auch nach der Aufklärung. Es sind Augenblicke der Angst, die die Leere des Universums und unser Ausgeliefertsein aufdecken. Es ist jetzt diese tiefe und brutale Leere, die uns in der ewigkeitslosen Zeit entgegenschlägt und uns dem Nichts aussetzt. In der Angst zeigt sich die Ambivalenz unseres Daseins drastisch: Das Kernthema der Kultur der Moderne ist eben nicht nur die Vernunft, die Ratio, der Logos, die Aufklärung, sondern das Andere der Vernunft in seinen verschiedenen Variationen, die aber letztlich nur ein Verweis auf das Andere überhaupt sind, das uns die Angst massiv bedrängend, beschwörend, aber auch schillernd und verlockend entgegenhält und das uns unser Sein in seiner Struktur widerspiegelt: In der Bestimmtheit durch Affekte, durch das Gefühl werden wir der Fragmentarität und Bruchstückhaftigkeit unseres Lebens ansichtig. Wir können die Bestimmung unseres Seins nicht mittels der Vernunft einholen – manifest zeigt sich das in der Angst. »In der Welt habt ihr Angst: aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.« (Joh. 16,33) Einem Vorschein auf die Wahrheit dieses Satzes werden die Jünger zu Emmaus ansichtig. Am Ende des Tages wartet dort nicht die dunkle Nacht, sondern der mild wärmende Abendschein, bei dem im Brechen des Brotes und im Reichen des Kelches der Herr gegenwärtig ist und bleibt. Das Abendmahl verweist auf ein bleibendes Versprechen der Möglichkeit der Überwindung der Angst. Dieses Versprechen ist es allerdings, das in der Moderne unter den Verdacht gerät, ein gebrochenes Versprechen zu sein und nur unter dem Eindruck des horror vacui bewältigt werden kann. Dieses muss sich der Angst stellen, jener Angst, die die conditio humana bestimmt und die nicht nur auf die Gefährdungen, sondern auch auf die Größe des Menschen verweist.
1.
Die Angst – »Zeichen für des Menschen Adel«8
Keiner hat die Situation der Angst als die Signatur unseres Zeitalters stimmungsmäßig so treffend und so früh beschrieben wie der religiöse Schriftsteller, Theologe und Philosoph Kierkegaard9 :
8 Kierkegaard, Zwei erbauliche Reden, 395. 9 Gräb-Schmidt, Rationalität; vgl. zu den Konstruktionsfragen des »Selbst« bei Kierkegaard auch Mjaaland, Alterität.
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Was wird kommen? Was wird die Zukunft bringen? Ich weiß es nicht, ich ahne nichts. […] vor mir steht ein leerer Raum; was mich vorwärts treibt, ist eine Konsequenz, die hinter mir liegt. Dieses Leben ist verkehrt und grauenhaft, nicht auszuhalten.10
Kierkegaard nähert sich dieser Frage der Angst11 auf psychologischer Ebene, indem er die Angst als das anthropologische Phänomen ausmacht.12 Man könnte mit Kierkegaard sagen, Angst ist das Adelsprädikat des Menschen, denn, so Kierkegaard: »Sollte dagegen der Redende meinen, daß es das Große an ihm ist, sich niemals geängstigt zu haben, dann will ich ihn mit Freuden in meine Erklärung einweihen, dies komme daher, daß er äußerst geistlos ist.«13 Mit der Angst verweist er damit auf die existenzielle Dimension des Menschseins. Sie kennzeichnet den Menschen als ein Wesen, das nicht nur durch Ratio, aber auch nicht nur durch Körperlichkeit, sondern durch ein Wissen um beides in Differenz und Präsenz weiß. Körper und Ratio sind nicht einfach ineinander überführbar. Repräsentant dieser Distanz ist das Gefühl, das seinerseits auf eine spezifische Dimension, nämlich die der »Freiheit« und des »Geistes«, verweist. Dabei zeigt sich das Phänomen der Freiheit im Gefühl der Angst: Freiheit ist nicht eine Eigenschaft, sondern sie ist letztlich die Struktur unserer Existenz. Unübertroffen hat Helmuth Plessner diese die Angst plausibilisierende Struktur unserer Existenz herausgearbeitet, indem er die Exzentrizität als die Formation menschlichen Daseins bestimmte. »Der Mensch, in seine Grenze gesetzt, lebt über sie hinaus, die ihn, das lebendige Ding, begrenzt. Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben.«14 Die Angst bleibt zweideutig. Gerade weil die Angst eine Situation heraufbeschwört, die immer zweideutig bleibt, entspricht sie unserer menschlichen Existenz. Die Ungeschiedenheit unseres Seins, sie ist uns auf dem Weg in unsere Existenz abhandengekommen und hat uns in die Zerrissenheit unserer leiblichen Selbstwahrnehmung geführt, die im Gefühl der Angst den Verlust von Sicherheit widerspiegelt. Darum gilt: »In der Welt habt ihr Angst.« (Joh 16,33) Diese Zweideutigkeit gilt auch für die Freiheit. Denn die Freiheit ist ihrerseits gebunden. Sie ist nicht autonom. Und gerade aus dem Ineinander von Freiheit und Gebundenheit, erwächst die Angst. »Angst ist nicht eine Bestimmung aus Notwendigkeit, aber auch nicht aus Freiheit, sie ist eine gefesselte Freiheit, wobei die Freiheit nicht frei in sich selbst ist, sondern gefesselt, nicht in der Notwendigkeit, sondern in sich selbst.«15 Die Zweideutigkeit der Angst als ein Komplex von Ahnungen, die uns gerade vor der Freiheit 10 Kierkegaard, Entweder-Oder, 33. 11 Vgl. die Beschreibungen in »Der Begriff Angst«: »Wer in der Angst schuldig wird, der wird so zweideutig schuldig wie nur möglich.« (Kierkegaard, Der Begriff Angst, 57 f.). 12 Vgl. zum Thema »Angst« auch die neuere Studie von Huxel, Das Phänomen Angst. 13 Kierkegaard, Der Begriff Angst, 143. 14 Plessner, Der Mensch, 10. 15 Kierkegaard, Der Begriff Angst, 47.
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ängstigen lassen, indem sie uns anzieht, hat Kierkegaard unübertroffen als sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie beschrieben.16 Sie erwächst aus der Widersprüchlichkeit einer sich als absolut verstehenden Freiheit, die gerade dabei aber ihres sich nicht selbstmächtigen Grundes ansichtig wird. Diese Angst entsteht also dadurch, dass die Freiheit keine absolute Freiheit ist. Es ist die Eigenart der Freiheit, sich nicht selbst begründen, sondern – wie das Leben – nur hinnehmen zu können – aus einem dunklen Grunde. Wie kann nun aber dieses Gefühl der Angst bewältigt, wie kann es in Freiheit und Verantwortung überführt werden? Die Bewältigung der Angst geschieht jedenfalls nicht durch sich selbst, nicht durch Freiheit und nicht durch Rationalität. Sie kann nur geschehen durch eine Begegnung die Vertrauen stiftet. Es gibt im Christentum eine symbolische Darstellung solchen Vertrauens, die die Angst überwindet: das Abendmahl. Es ist das Symbol für die liebende Hingabe des Einen zur Gemeinschaft für uns alle, der unbedingtes Vertrauen verheißen ist. Symbolisch verdichtet ist dieses Vertrauen in der Hingabe Jesu Christi für uns, indem in Christus im gebrochenen Brot und im getrunkenen Wein die Gemeinschaft leiblich erfahren und Vertrauen manifest wird. Das Abendmahl symbolisiert – über die kognitive Ebene hinaus – eine uns ganz umfassende Stimmung, die ein Gefühl der Geborgenheit verleiht, eine Geborgenheit, die durch Vertrauen entsteht und wiederum Vertrauen ermöglicht. Damit kann Vertrauen der Stimmung der Angst ihren Ort zuweisen und die Angst damit aufheben im doppelten Sinn des Wortes. Angst wird damit als berechtigt erlebt, aber sie erschreckt nicht mehr. Im Vertrauen haben wir ein Gegenmittel. Es ist dieses Vertrauen, das den christlichen Glauben kennzeichnet. Dieses Vertrauen ist uns im Abendmahl versprochen. Doch was geschieht, wenn dem Versprechen nicht mehr vertraut werden kann? Was geschieht, wenn am Tisch des Herrn vermeintlich weder Wein getrunken noch Brot gebrochen wird, sondern das Versprechen? Diese nihilistische Angst ist es, die immer wieder in den Vordergrund rückt, auf Kosten des Vertrauens. Solche Stimmung einer nihilistischen Angst hat ein Künstler der Gegenwart, Ben Willikens, ins Bild gesetzt. Dieses Bild führt uns mitten hinein in unser Zeitalter, das längst als Zeitalter der Angst gilt, das sehnsüchtig auf deren Bewältigung wartet, meist aber nur ihre Verdrängung propagiert.
16 A.a.O., 41.
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Das Abendmahl in der Moderne – ein gebrochenes Versprechen?
Es gibt ein Bild von Ben Willikens, indem er die Situation der Moderne zwischen dem Abgrund des Nichts und ihren unendlichen Möglichkeiten als weiße helle Leere darstellt, das heißt nicht ein Bild, sondern das Bild, das Ben Willikens in verschiedenen Variationen immer und immer wieder gemalt hat: das Abendmahl. Dieses Bild lässt die Signatur unseres Zeitalters der Daseinsangst ihren verdichteten Ausdruck finden. Das Abendmahl steht für die Geborgenheit in der Gemeinschaft nicht nur der Menschen, sondern für die Heimstatt des Seins. Es steht für die Aufhebung der Ambivalenz des Daseins. Visuelle und ideelle Grundlage des Bildes von Ben Willikens ist das Abendmahl von Leonardo Da Vinci, »La Pittura« schlechthin, das in vollendeter Vollkommenheit eine Darstellung des letzten Abendmahls, das Jesus mit seinen Jüngern eingenommen hat, ihnen das Brot gebrochen und anbefohlen hat: »Das tut zu meinem Gedächtnis.« (Lk 22,19) Das Abendmahl ist das Gedächtnismahl der bleibenden Gegenwart Christi im Geiste bis zu seiner Wiederkehr. In den Elementen Brot und Wein ist diese Gegenwart versprochen, verheißen, die sich sinnbildlich in der sich gegenseitig Brot und Wein austeilenden Gemeinschaft der Jünger bei jenem Mahle ausdrückt. Es ist die Verheißung und das Versprechen, »wenn zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.« (Mt 18,20) Es ist das Versprechen der bleibenden Gegenwart Jesu Christi in der Ödnis, Wildnis, Einsamkeit und Verlassenheit des Diesseits, dessen unendliche Möglichkeiten nicht schützen und behausen, uns kein Zuhause geben, sondern uns dem unendlichen All heimatlos preisgeben. »Bleibe bei uns; denn es will Abend werden.« (Lk 24,29) Es ist der Abend, dessen wärmendes Licht uns umhüllt mit der Decke der Dämmerung; es ist der Abend, an dem der Herr kommt. Es ist aber genau der Abend als das Zwischen von Tag und Nacht, der uns in der Moderne abhandengekommen ist. Nichts mehr umhüllt uns, wir sind verloren ohne Erwartung dessen, der da kommen mag, wo der Tag nicht durch den Abend, sondern durch die Nacht abgelöst wird, in der uns das Nichts wie ein Abgrund verschlingt. Dieser Abgrund lässt uns nicht in die Tiefe des Brunnens sinken, die alles unendlich wieder aufsteigen und wiederholen lässt als unendliches Reich der Möglichkeiten, sondern in die Tiefe eines Schlundes, der alles gleichsam der Antimaterie verschlingt und alles Sein in Nichts auflöst: »Kein Ort. Nirgends«.17 Hier offenbart sich: Das Nichts ist die Nacht, die die Unendlichkeit als unendliches Nivellieren, als Vernichtung aller Möglichkeiten verheißt. »Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.«18 17 Wolf, Kein Ort. 18 Rilke, Herbsttag, 48.
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Der Maler Ben Willikens stellt sich dem Nichts. Wir erkennen mit Bestürzung: Es ist der Tisch des Herrn, der Tisch der Gemeinschaft, doch er ist leer. Das heißt, der Tisch ist nicht leer, er ist gewandet mit einem weißen Tischtuch, das gleichsam einem Leichentuch die Leere des Tisches nicht verdeckt, sondern diese vielmehr grell ins Bewusstsein hebt. Aus dem Ort der Gemeinschaft, der Freundschaft, der Zuneigung und der Verbundenheit, aus dem Ort der verheißenen Gegenwart, ist die Präsenz der Leere geworden, einer Leere, die sich nicht nur aus der fehlenden Anwesenheit von Menschen ergibt, sondern die auf den Raum selber ausgreift. In klinischer Kälte vermag dieser Raum keinen Ort für Menschen zu symbolisieren. Er macht diese Ortlosigkeit selbst zum Thema: kein Ort, nirgends. Er symbolisiert den gähnenden Abgrund, der nur die Leere, das Nichts für den Menschen bereithält. Es ist ein Ort, der bricht mit dem Versprechen der Gegenwart des Geistes Christi jetzt und immerdar. Für Ben Willikens symbolisiert dieser Ort jetzt: gebrochene Versprechen, gebrochene Menschen. Es verweist auf jene Gebrochenheit des Menschen, für den Humanität kein hehres Ziel mehr sein kann. Humanität wirft jetzt den Menschen in blanker Ironie, ja Zynismus, auf sich selbst zurück, echolos, schattenlos, lost in an empty universe. Dieser Mensch hinterlässt keine Spur, es sei denn die Spur totaler Zerstörung, Vernichtung, vernichtender Selbstaufhebung. Zurück bleibt das Erschaudern. Zurück bleibt das Erschaudern des Menschen vor sich selbst, ein Erschaudern, das sich selbst verzehrt, das keinen Bestand hat, das kein Vergeben kennt, das allenfalls matt durch einen Engel der Geschichte unsere Trümmer zur Kenntnis nimmt und der Maschinerie des alltäglichen Lebens kein Innehalten gönnt. Hier ist kein Ort mehr für den Menschen. Der Tisch versinnbildlicht das Nirgendwo am helllichten Tag. Der Status Quo als diese helle Durchleuchtung der Leere wird hier festgeschrieben. Keine Memesis, keine Erinnerung einer ins Dunkel gehüllten Vertrautheit, kein Versprechen, das die Verheißung, die unendliche, unbeendete Gemeinschaft des Menschen mit Gott einlösen könnte. Durch das Weiß hindurch erstrahlt das Nichts. In irrsinnig blendender Gestalt enthüllt es gleichwohl den Menschen: ecce homo. Doch wo ist Gott? Ihr habt ihn getötet, aber nicht im Licht der Aufklärung, sondern in der dumpfen modrigen Atmosphäre der grellen, gashellen Verblendung, in Auschwitz und Hiroshima, in Guernica und Sebrenicka. Verirrungen gekränkten Stolzes, kranker Habsucht, wahnhaften Verfolgungswahns sind es gewesen, die als Angst vor dem Fremden, dieses zum Feind machten und genau damit den Ausstoß aus dem Paradies immer wieder neu provozierten. Der Tod Gottes ist ein Resultat irrationaler, aber realer Angst, die stetig immense Berge von Schuld produziert hat, Berge jedoch, zu denen wir nicht hinauf schauen, zu denen wir nicht die Augen heben können, und fragen, woher kommt mir Hilfe. Es sind Berge, die uns einkesseln, uns keinen Ausweg lassen, uns immer tiefer in den Strudel der Aussichtslosigkeit, den Schwindel der Angst
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hineinstürzen, uns aggressiv werden lassen. »Wir haben hier keine bleibende Stadt.« (Hebr 13, 14) Aber so eingekesselt in die Aussichtslosigkeit können wir »die zukünftige« Stadt nicht mehr suchen. Der Tisch des Herrn bleibt leer, das Tischtuch bleibt weiß, das Licht des Raums leuchtet nicht in die Finsternis, sondern wird geschluckt. Es gibt kein Dahinter, kein dunkles Geheimnis, kein Verstehen und Verstanden werden. Woher kommt uns Hilfe? »Hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz!« (Mt 27, 40) Das schreien wir Gott entgegen, Rechenschaft fordernd, anstatt sie zu geben.
3.
Das Zeitalter der Angst vor der Monstrosität
Was wir nicht mehr haben und nie mehr haben werden, sind schnelle, einfache, klare, prinzipielle, Orientierung gebende Antworten. Der »Abschied vom Prinzipiellen« wie es Odo Marquardt genannt hat19, ist nicht mehr rückgängig zu machen. Hannah Arendts tief wahrer Satz angesichts der Nachricht über die Vernichtungslager der Nazis: »Das hätte nicht geschehen dürfen«, ist adäquater Ausdruck der Situation, in der wir uns vorfinden. Damit formuliert sie eine These, die die Diagnose, dass wir in einem Zeitalter der Angst leben, begründet.20 Aber einer Tat zu begegnen, die nicht hätte geschehen dürfen, erzeugt eine Angst, die nicht bewältigt werden kann, eine Angst, die nicht dazu berechtigt, in Furcht und Zittern erneut schuldig zu werden. Denn, in solche Schuld zu versinken, das darf sich nicht wiederholen. Sie kann nicht in die Erinnerung geholt werden. Ben Willikens hat darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig es für ihn war, nicht mehr nur abstrakt malen zu dürfen. Abstrakt zu malen aber war das unausgesprochene oder ausgesprochene Diktat der Moderne. So konnte Ben Willikens jedoch nicht malen: »Als ich nach Italien kam, hatte ich einen Koffer voll Inhalt mit dabei. Der fing schon an zu stinken, so dringend wollte er aufgemacht werden, wollte hinaus und sich präsentieren können«, so seine Selbstbeschreibung in einem Gespräch. Ben Willikens hat in seinem Abendmahlsbild eine doppelte Katharsis durchlaufen, nicht nur diejenige von der Abstraktion zu Konkretion, sondern auch diejenige einer neuen Bestimmung der Konkretion selbst. Damit stellt er aber lediglich den von Odo Marquardt zitierten »Abschied 19 Marquardt, Abschied vom Prinzipiellen. 20 Und darüber hinaus erfährt so die viel zitierte Wende von der »german angst« ihre ultimative Gültigkeit und Legitimation. Es ist zu Recht unser, der Deutschen, Schicksal, in herausgehobener Weise Angst zu haben, weil diese Angst unserer Schuld entspricht, einer Schuld die unsere Erkenntnisdimensionen übersteigt, weil sie aus dem Aufbau eines Monströsen resultiert und dessen Wahrnehmung eine solche Angst in uns hervorrufen muss, die nicht ausgehalten werden kann, weil die Schuld nicht getragen werden kann. Sie kann vor der Forderung, durch diese Angst gebildet zu werden, nur die Augen verschließen.
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vom Prinzipiellen« dar. Es ist der Inhalt, der das Prinzipielle in seine Schranken weist. Jener Inhalt ist etwas in unserem Sein, das unsere Ruhe stört, das sich aber auch nirgendwo einordnen lässt, wir werden seiner nicht Herr, weder im Denken noch im Handeln. Er ist aber präsent im Gefühl. Mit anderen Worten: Er ist einfach da und zeigt sich. Er taucht auf als Lebensgefühl und erzeugt Angst. Er erzeugt Angst, weil er sich nicht einordnen lässt. Ja stärker, er zeigt sich hier als Urgrund der Angst. Wir sehen in der Analyse dieses Gefühls glasklar: Der Abschied vom Prinzipiellen zeigt sich überraschenderweise weniger als Autonomie denn als Irritation sämtlicher Autonomie, präsent im Gefühl. Und es zeigt sich zugleich damit: Indem wir das Prinzipielle los sind, sind wir noch lange nicht das Allgemeine los, das heißt die Geltungsfragen, die Verbindlichkeitsfragen, die Fragen danach, was zählt, was uns am Leben, am Überleben hält, was Sinn und Zweck unseres Daseins ist. Diese Fragen stellt jetzt aber nicht mehr die Vernunft. Sie hat sie verabschiedet. Aber sie sind präsent im Gefühl. Es ist die Wucht des Monströsen in ihrer Singularität, die nicht abstrakt ausgedrückt werden kann. Sie erfordert eine scharfe Konkretion, so scharf, dass die Konkretion selbst wiederum als solche stilisiert werden muss, um ihre Wucht unmissverständlich zur Geltung zu bringen. Es ist das konkrete Einzelne, die Singularität des Monströsen, die hier als stilisierter Inhalt in der reinen Form festgehalten werden muss. Abschied vom Prinzipiellen heißt, die Wahrheit lässt sich nicht mehr verallgemeinern. Aber es bleibt ihre Frage, die wir nicht loswerden. Die Frage nach Wahrheit zeigt sich uns, sie zeigt sich uns in allen Irritationen in allen Störungen, und nicht zuletzt im Verlust der Ordnung, im Verlust des Einordnenkönnens durch eine Bankrotterklärung des Menschen: »Das hätte nicht geschehen dürfen«. Sie zeigt sich uns in der Monstrosität der Infragestellungen aller Orientierungen. Sie zeigt sich in den totalen Irritationen. Es sind diese Irritationen, die sich uns wie zusammenhangslose Krater der Systematik unserer Lebensentwürfe entziehen, sich unseren Denkentwürfen und unseren Bildkonzeptionen entgegenstellen. Diese Irritation lässt sich nicht begreifen, nicht unter Begriffe bringen, sie ist monströs, in ihrer Monstrosität aber eben manifester Inhalt einer Singularität. Eine solche aber kann sich nicht abstrakt, sondern nur inhaltlich zur Geltung bringen. Es ist das Individuelle des Inhalts, das uns einholt, mit dem wir aber nicht umgehen können, an dem sich die Zerrissenheit unseres Daseins in der Moderne zeigt. In dieser Zerrissenheit, diesem Riss durch unsere Lebenskontexte, sieht Ben Willikens das gebrochene Versprechen als negative Antwort, als Dispositiv unserer Lebenssystematik. Dieses bildet er durch den leeren Tisch des Abendmahls ab. Dieser Bruch vertieft den Riss unseres Lebens am Tisch des Herrn. Er liefert uns der unendlichen Einsamkeit aus, die die Angst zum horror vacui werden lässt.
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Die Überwindung der Angst und das wiederholte Versprechen
Es ist das Monströse der Schuld, unserer Schuld in Auschwitz und Hiroshima, die Ben Willikens veranlasst, im Abendmahl das gebrochene Versprechen zu sehen. Wo war Gott, mit wem hielt er Gemeinschaft, wo war das Opfer seines Lebens ein für alle Mal? Musste nicht doch sein auserwähltes Volk das Opfer wiederholen? Ist sein Versprechen nicht durch das Geschehen vergleichgültigt und als Versprechen nichts mehr wert? Der Riss ist da, er bleibt, das Versprechen ist gebrochen. Und doch, ist da nicht die Verheißung einer Ahnung, dass das Versprechen, wenn auch nicht nur scheinbar, sondern tatsächlich gebrochen, nun noch gilt? Ecce homo! Jesus Christus, das ist der Mensch in seiner Verlorenheit und Zerrissenheit. Er ist der Mensch, der selbst am gebrochenen Versprechen litt: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34) Es muss sich in der Begegnung erweisen, ob dieser Mensch, an dem alle Versprechen zuschanden, alle Versprechen gebrochen worden sind, der vere homo bleibt, oder ob wir angesichts seines Schicksals den Menschen, die Humanität des Menschen und seiner Geschichte ein für alle Mal verloren geben müssen. Es wird sich an seiner Singularität, an seiner Konkretion des Individuellen als Allgemeinem, des vere homo im vere deus zeigen. Willikens spielt selbst mit dem Zusammenspiel von Form und Inhalt, Abstraktion und Konkretion. Denn im Ernst, sind wir nicht verwundert, dass der Inhalt, der aus dem Koffer drängte, nur dieser leere Tisch in seiner Formvollendetheit, die tabula rasa des weißen Tischtuchs, dass das der Inhalt sein soll? Gerade aber so wird in seinem Bild das Abendmahl zum Symbol für eine Bedeutung des Individuellen, das nun als Individuelles den Formanspruch einlöst, und zwar so einlöst, dass es als Individuelles allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann. Für die Form, für die ehemals das Individuelle ein Nichts war, symbolisiert durch den leeren Tisch, das weiße Tischtuch, wird dieses Nichts nun zur Gewähr des Bleibens der Form. Gerade damit wird das Individuelle, selbst das Monströse, vor dem Preisgegebensein blinder Willkür und Sinnlosigkeit gerettet. Der Tisch, wenn auch entvölkert, das Tischtuch, wenn auch ohne Spuren gelebten Lebens, die Kontinuität und Zusammenhang erkennen lassen und gleichsam das Ende der Geschichte anzuzeigen scheinen, sie sind schließlich doch Verheißung einer solchen Kontinuität. Form und Inhalt sind verschmolzen, Vergangenheit und Zukunft, wenn auch durch die Gegenwart wie durch einen Riss geschieden, bleiben. Die Zerrissenheit ist heilbar, die Geschichte nicht verloren, sondern aufbewahrt für die Zukunft. Das ist die Verheißung, die im Symbol bewahrt ist, die
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sich aber unserem Begreifen entzieht. Die Zerrissenheit ist heilbar, aber nicht durch unsere Rationalität und nicht durch unsere Freiheit. Hier ist nur Raum für Hoffnung und Vertrauen, Hoffnung auf jenes Versprechen, das seine Wiederholung als Möglichkeit am Horizont aufscheinen lässt. Aus der Einsamkeit und Gottferne der Gegenwart angesichts der Singularität des Monströsen, das unbegreiflich bleibt, wächst die heilende Gemeinschaft im Anerkennen dieses brutalen Risses. Dieser Riss lässt sich nur heilen durch eine »Wiederholung« des Versprechens durch einen Bruch des scheinbar gebrochenen Versprechens hindurch. Und dort wird sichtbar : Der leere Tisch, das weiße Tischtuch bleibt Symbol des Abendmahls. Wir erfahren im Vertrauen und in der Hoffnung: Das Versprechen wurde nicht gebrochen, es wird nur anders als erwartet eingelöst. Das Versprechen wurde gebrochen, aber es wird gebrochen wie Brot, und so stiftet es von Neuem Gemeinschaft. Das Abendmahl führt uns aus unserer Verkehrung und Brechung, in die Umkehr und Ganzheit zu uns selbst. Das Brechen des Brotes heiligt das Gebrochene. Es schafft Neues aus dem Zerbrochenen. Dieses Neue taucht auf aus dem Nichts als Urgrund des Seins. Das Brechen des Brotes ist mithin eine Wiederholung der Schöpfung, es ist die zweite Schöpfung, die die erste Schöpfung nicht verloren gibt, sondern aus ihr Neues schafft aus dem Monströsen heraus und Versöhnung herbeiführt. Das Abendmahl wird gleichsam zum Symbol des gebrochenen Versprechens, das dennoch Versprechen bleibt. Pacta sunt servanda. Versprechen werden gehalten. Gegen dieses Gebot verstößt nicht das göttliche Gebot. Wir sind Gäste an seinem Tisch, ja näher Tischgenossen. Und in dieser Erfahrung erkennen wir endgültig, ein für alle Mal, den göttlichen Charakter des Versprechens. Im Brechen des Brotes werden alle gebrochenen Versprechen wieder gebrochen, indem sie vergeben werden. Das Versprechen ist festgehalten im leeren Tisch des Herrn bei Ben Willikens. Hier ist die Erfahrung der Moderne, die eine Tiefenerfahrung des metaphysischen Nichts, des horror vacui ohnegleichen ist, aller fratzenartigen Verstellungen entkleidet. Es ist Umschlag in eine zweite Schöpfung durch das Brechen des Brotes als Brechen des gebrochenen Versprechens. Erfahrbar wird dies im Entstehen von Vertrauen, das dem Gefühl der Angst standhält und diese überwindet. Und so schwindet die Angst im Vertrauen gegen den Anschein der Realität. Die Angst vor dem horror vacui weicht der träumenden Angst der zweiten Unschuld und ist bereit für das Neue aus dem off. Der tiefe, dunkle Grund unseres Lebens ist nicht mehr der Abgrund des Nichts, sondern er ist wiederum ganz neu der tiefe Brunnen der Vergangenheit geworden, der nichts verloren gibt, sondern die Zeit aufbewahrt und die Zukunft als Treue zur Vergangenheit begreifen kann.
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Literatur Cusanus, Nikolaus, De visione Die, cap.9., n.37, in: Ders., Textauswahl in deutscher Übersetzung, Bd. 3., De visione dei – Vom Sehen Gottes, übers. von H. Pfeiffer, Trier 2 2002. Gräb-Schmidt, Elisabeth, Die Rationalität von Kierkegaards Theologie. Zur philosophischen Funktion der Selbstbezeichnung Kierkegaards als religiöser Schriftsteller, in: Cappelørn, Niels Jørgen (Hg.), Kierkegaard Studies Yearbook 2007, Berlin/New York 2007, 22 – 45. Huxel, Kirsten, Das Phänomen Angst, Eine Studie zur theologischen Anthropologie, in: NZSTh, 47. Bd., 2005, 35 – 57. Kierkegaard, Søren, Der Begriff Angst, übers. u. mit Glossar, Bibliogr., sowie e. Essay »Zum Verständnis des Werkes« hg. v. L. Richter, Frankfurt a.M. 1984. Ders., Entweder-Oder, Teil I und II, in: Diem, Hermann/Rest, Walter (Hg.), EntwederOder, München 51998. Ders., Zwei erbauliche Reden (1843), in: Ders., Gesammelte Werke, 2. und 3. Abteilung (Bd. 2), übers. von E. Hirsch, Düsseldorf 1957, 379 – 424. Mann, Thomas, Joseph und seine Brüder, Bd.1 – 3, Berlin/Weimar 1972. Marquardt, Odo, Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986. Mjaaland, Marius, Alterität und Textur in Kierkegaards »Krankheit zum Tode«, in: NZSTh, 47. Bd., 2005, 58 – 80. Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra, in: Ders., Werke in 3 Bänden, Bd. 2, München 1955. Pascal, Blaise, Pens¦es II., dt. Ausgabe, hg. v. Jean-Robert Armogathe, Gedanken über die Religion und einige andere Themen – Blaise Pascal, Stuttgart 1997. Plessner, Helmut, Der Mensch als Lebewesen, in: Ders., Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982, 9 – 62. Rilke, Rainer Maria, Herbsttag, aus: Das Buch der Bilder, 1. Buch Teil 2, Berlin/Leipzig 2 1906. Schmeck, Klaus/Schlüter-Müller, Susanne, Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter, Heidelberg 2008. Wolf, Christa, Kein Ort. Nirgends (1979), Frankfurt a.M. 2007.
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Albrecht Grözinger
Predigt und Gefühl. Eine homiletische Erkundungsreise
0 Wie verschieden die homiletischen Konzeptionen und das Verständnis der Predigt im Verlauf der Christentumsgeschichte sich auch darstellen mögen, in einem sind sie sich einig: Die Predigt richtet sich an den ganzen Menschen mit seinem Denkvermögen wie mit seiner Gefühlswelt. Hier enden allerdings schon die Gemeinsamkeiten. Wie das Verhältnis von Rationalität und Emotionalität bestimmt wird, und welche Konsequenzen dies für die konkrete Gestalt der Predigt hat, darauf geben die homiletischen Theorien sehr verschiedene Antworten. Ich möchte im Folgenden diese Vielheit der Perspektiven an einigen exemplarischen Stationen homiletischer Theoriebildung zeigen.
1 Aurelius Augustinus steht mit seinem Verständnis der Predigt und der homiletischen Aufgabe, die sich mit der Predigt stellt, an einem entscheidenden Punkt homiletischer Theoriebildung. Augustin gelingt es, das System der antiken Rhetorik einer genuin christlichen Interpretation der homiletischen Redesituation gleichsam anzuverwandeln. Augustins homiletische Rhetorik ist dabei mit seiner Anthropologie eng verzahnt. Die Alternative von Rede über Gott oder Rede über den Menschen, wie sie die frühe Dialektische Theologie bis ins Extreme strapaziert hat, wird von Augustin grundsätzlich theologisch unterlaufen. Dazu finden sich in den Anfangskapiteln seiner Confessiones eindrückliche Sätze: »Ich will Dich suchen, Herr, mit meinem Rufen, und ich will Dich rufen, indem ich an Dich glaube?«1 Wo aber muss sich der Mensch hinwenden mit seinem Rufen? Für Augustin ist der Mensch gerade in seiner Orientierung an Gott an sich selbst verwiesen: »Wie 1 Augustin, Bekenntnisse, 15.
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aber soll ich meinen Gott anrufen, meinen Gott und meinen Herrn, da ich doch, wann ich ihn rufe, in mich herein ihn rufe? Und welches ist der Ort in mir, wohin er kommen soll, mein Gott? Wohin soll Gott in mir denn kommen?«2 Gott ist bei Augustin allerdings keine bloße Verdoppelung oder Spiegelung des Menschen, sondern die Gotteserfahrung setzt im Menschen eine Differenz, die es ohne diese Erfahrung so nicht geben würde. Erst in dieser Differenz erkennt der Mensch sich selbst. Der Mensch kommt sich nahe, weil Gott ihm vorlaufend schon nahe gekommen ist: »Du [sc. Gott] warst noch innerer als mein Innerstes und höher als mein Höchstes.«3 Predigt hat für Augustin die grundsätzliche Aufgabe, diese Differenz im Menschen darzustellen. Diese Differenz jedoch umfasst nicht nur einen Teilbereich des Menschen, sondern den ganzen Menschen. Und deshalb richtet sich die Predigt gerade auch an die Gefühlswelt des Menschen. Rhetorisch kann Augustin dabei durchaus auf Grundannahmen der rhetorischen Theorie der Antike zurückgreifen. Es ist ein Gemeinplatz der antiken Rhetorik, dass sich wirksame Rede immer auf den ganzen Menschen beziehen muss. Die rhetorische Trias von docere – movere – delectare ist die strukturelle piece de resistance der antiken ars rhetorica. Das docere bezieht sich auf die kognitiven Fähigkeiten des Menschen, das delectare auf seine ästhetischen Impulse und das movere auf seine Gefühlswelt. Dies zeigt zugleich, dass die antike Rhetorik auch anthropologisch reflektiert und fundiert ist. Augustin, vor seiner Bekehrung zum Christentum selbst Lehrer der Rhetorik, hat im vierten Buch seiner Schrift De doctrina christiana eine rhetorisch fundierte Homiletik formuliert. Er sieht dort die Wirkung der Predigt am besten gesichert, wo der Prediger sich an der traditionellen rhetorischen Trias orientiert: »Wenn also der kirchliche Redner eine Pflicht einschärft, dann muss er nicht bloß lehren [docere!], um zu unterrichten, und darf nicht bloß ergötzen [delectare!], um zu fesseln, sondern er muss auch rühren [movere!], um zu siegen.«4 Predigt ist also für Augustin eine eigentümliche Mischung aus Rationalität und Emotionalität, die einer bestimmten sprachlichen Gestalt bedarf. Die oft nur fragmentarisch überlieferten Predigten Augustins spiegeln etwas von dieser eigentümlichen Mischung von Rationalität und Emotionalität in der Predigt. Ganz offensichtlich war es Augustin ein Anliegen, in seiner Predigt die christliche Doktrin in den Glaubenden zu stärken. Aber gerade dieses rationale Anliegen ist bei Augustin sehr oft in eine eher an der Gefühlswelt der Menschen orientierte Sprache eingebettet. Ein schönes Beispiel hierfür ist eine Weih-
2 A.a.O. 3 A.a.O., 60. 4 Ders., Christliche Lehre, 187.
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nachtspredigt, die nicht genau datiert werden kann, aber wohl in dem Zeitraum zwischen 410 und 420 n. Chr. gehalten wurde. Dort heißt es u. a.: Schau, Mensch, was Gott für dich geworden ist; ziehe Lehre aus dieser so großen Demut, auch wenn der Lehrer noch nicht sprechen konnte. Du bist einstmals im Paradies so redegewandt gewesen, dass du jedem lebenden Wesen einen Namen gegeben hast, um deinetwillen aber lag dein Schöpfer als sprachloses Kind da und rief nicht einmal seine Mutter bei ihrem Namen. Du hast dich in dem äußerst weitläufigen Haine verloren, indem du den Gehorsam missachtetest, jener kam gehorsam als Sterblicher in die engste Herberge um den Sterblichen sterbend zu suchen. Obschon du Mensch warst, wolltest du Gott sein, um unterzugehen, jener wollte, obschon er Gott war, Mensch sein, um wiederzufinden, was verloren war.5
2 Martin Luther bewegt sich in seinem Verständnis der Predigt durchaus in einer gewissen Nähe zu Augustin, radikalisiert jedoch dessen homiletischen Ansatz – sowohl in anthropologischer wie in homiletischer Hinsicht. War Augustinus in seinen homiletischen Überlegungen primär an der Person des Predigers orientiert, so gewinnen bei Luther die Hörerinnen und Hörer der Predigt an theologischem Gewicht. »Ich kann nicht weiter kommen als zu den Ohren« – so oder ähnlich äußert sich Luther immer wieder.6 Man kann Luthers Homiletik deshalb mit einem gewissen Recht als eine gewichtige Vorläuferin der Rezeptionsästhetik interpretieren.7 Analysiert Augustin das Predigtgeschehen primär unter dem Aspekt der Rhetorik, so gewichtet Luther dies – durchaus unter Aufnahme rhetorischer Tradition – unter genuin theologischer Perspektive. Das Verhältnis von Predigerin, Predigt und Hörer dient Luther dazu, die Eigenschaft der Predigt als Wort Gottes differenziert zu beschreiben. In der Predigt sind für Luther Gottes Wort und menschliches Reden miteinander verschränkt und gleichwohl klar unterschieden. Die menschliche Zunge des Predigers wird in der rechten Predigt zum »,Griffel‹, mit dem Christus in das Herz der Menschen schreibt«8. In seinem Wort ist Gott ganz präsent: »da ist seyn wortt yhm ßo ebengleych, das die gottheit gantz drynnen ist, unnd wer das wort hatt, der hatt die gantze gottheyt.«9 Diese Präsenz Gottes in seinem Wort zielt für Luther jedoch auf das Herz des einzelnen Menschen: »wo das mündliche wort gehöret wird und yns hertz fellet, 5 6 7 8 9
Drobner, Augustinus, 157. Nembach, Predigt des Evangeliums, 60. Gehring, Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik. Luther, WA 27; 155, 1 – 3. Ders., WA 188, 6 – 8.
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folget damit eine solche gewalt, die tod, sund, helle und alle unglück erseuffet und vertylget.«10 Luther hat damit eine differenzierte Verhältnisbestimmung von Gotteswort und Menschenwort vollzogen. Der Prediger, die Predigerin auf der Kanzel senden nicht einfach göttliches Wort aus, sondern das menschliche Wort von der Kanzel wird im Herzen des einzelnen Menschen zum göttlichen Wort, indem es Glauben weckt und stärkt. Das Hören wird damit zum entscheidenden Kriterium der Wirkung von Predigt. Dieses »Hören« beschreibt dann Luther allerdings unter substantieller Aufnahme der rhetorischen Tradition. Dabei steht für ihn das Moment des Rhetorischen primär für die Inanspruchnahme der menschlichen Gefühlswelt. Dies wenigstens legt Luthers pointierte Unterscheidung nahe: »Dialectica docet; rhetorica movet.«11 Damit wird die menschliche Gefühlswelt zu einem Agens des homiletischen Geschehens, dessen Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Dies gilt nicht nur für das homiletische Rezeptionsgeschehen, sondern auch für das homiletische Produktionsgeschehen. Gute Predigt entsteht mit aus der Wahrnehmung der Gefühlswelt der Predigenden. Luther nennt dafür ein eindrückliches Exemplum: »Wenn ich in meiner krankheit hett predigen kunnen, wolt ich manche schone predigt und lektion gethan haben, denn da verstand ich den Psalter und sein trost ein wenig.«12 Was für die Person des Predigers/der Predigerin gilt, gilt noch mehr für die Hörerinnen und Hörer der Predigt. Dass die Predigt zum Wort Gottes im Herzen der Hörenden werden kann, dazu bedarf es der Orientierung an ihren lebensweltlichen Gefühlen. Predigt ist für Luther ein Leib-Geschehen, das sich nicht an irgendwelche abstrakte Personen richtet, sondern an konkrete Menschen mit ihrer Intellektualität und Emotionalität. Diese Einsicht prägt Luthers homiletischen Umgang mit den biblischen Texten ebenso wie die konkrete Gestaltung seiner Predigten. Dietrich Rössler hat diesen Zusammenhang in seinem Essay »Beispiel und Erfahrung« beschrieben und analysiert. Die biblischen Texte sind für Luther ein Zeugnis fremder Erfahrung, die zur eigenen Erfahrung werden muss: »Inhalt und Grund aller Glaubenserfahrung – das steht nicht zur Diskussion – bleibt Christus selbst. Die Predigtaufgabe ist jedoch offenbar dahin zu verstehen, dass eben diese Erfahrung dem Predigthörer auch als die Erfahrung eines anderen vorgestellt und zugänglich gemacht werden soll. Der Glaube lässt sich nicht ausschließlich an Christus exemplifizieren. Der Predigt wird vielmehr die Ver-
10 Ders., WA 17,2; 315, 33 – 35. 11 Ders., WATR 2, 2199. 12 Ders., WATR 3, 412.
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antwortung dafür zugemutet, dass auch die fremde Erfahrung zum Exempel des eigenen Glaubens vor allem in der Anfechtung werden kann.«13 Das Predigtgeschehen ist also bei Luther verstanden als ein Geschehen, indem sich Erfahrungen überschneiden und gegenseitig interpretieren. Deshalb ist Luthers Predigt an der konkreten Erfahrungswelt der Menschen interessiert, die er an doppeltem Ort identifiziert: in den biblischen Texten und der gegenwärtigen Lebenswelt. Zu beiden Orten gehört die Dimension der menschlichen Gefühlswert dazu. Luthers Predigt versucht, diese Orte menschlicher Gefühlswelt in seinen Predigten so präzis wie möglich zu erkunden und so konkret wie möglich zu beschreiben, wobei durchaus ein gewisses Gefälle festzustellen ist: Luther »findet das gültige Exempel in den biblischen Texten und bei den Situationen, Begegnungen, Verstrickungen oder Widerfahrnissen, die darin festgehalten sind.«14 Diese »gültigen Exempel« jedoch sind in die Gefühlswelt der Hörerinnen und Hörer hinein zu lesen. Erst wenn sie dort ein Echo finden und auf eine emotionale Empfänglichkeit treffen, erreicht die Predigt ihr Ziel.
3 Bekanntlich kommt Friedrich Schleiermacher das Verdienst zu, die Theologie als Wissenschaft im Zusammenhang der modernen Universität, deren Grundverfassung (trotz Bologna!) bis heute in Geltung steht, begründet zu haben. Theologie ist eine positive Wissenschaft mit dem Ziel, das nötige Wissen und Geschick für kirchenleitendes Handeln zu vermitteln. Dazu versammelt die Theologie alle Wissenschaften in ihrem Haus, die zur Erreichung dieses Ziels notwendig sind. Die Theologie ist also bei Schleiermacher prinzipiell interdisziplinär ausgerichtet. Dies charakterisiert auch seine Überlegungen zur Predigt. Die Mitte der Theologie Schleiermachers stellt jedoch seine neue Bestimmung der Religion dar. Immanuel Kant hatte ja den traditionellen konzeptionellen Begründungen der Theologie auf doppelte Weise den Boden entzogen. Durch die Destruktion der Gottesbeweise kann die Theologie nicht länger als Erkenntnistheorie oder Metaphysik begründet werden; und die Begründung einer autonomen Ethik (»der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir«) zeigt, dass die Ethik nicht notwendigerweise eines religiösen Fundamentes bedarf. Diese doppelte Delegitimierung der Theologie hat dann Fichte zu der polemischen Aussage geführt, dass einer von der Universität »mit Tode abgegangenen Theologie« allenfalls die Aufgabe verbleibe, ihren »wissenschaftliche(n) Nachlass« in die Obhut der Historisch-Philosophischen Fa13 Rössler, Überlieferung und Erfahrung, 27. 14 A.a.O., 30.
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kultät zu übergeben.15 Wenn Karl Marx in der Einleitung zur »Kritik der Hegelschen Rechtphilosophie« aus dem Jahre 1844 schreibt: »Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendet, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik«16 – dann hat er damit eben nicht nur Ludwig Feuerbach im Blick, sondern die gesamte Philosophie der Aufklärung bis hin zu Kant und Fichte. Schleiermacher hat die Brisanz dieser Religionskritik bereits wahrgenommen. In der »Kurzen Darstellung des theologischen Studiums« aus dem Jahre 1830 heißt es in § 22: »Wenn fromme Gemeinschaften nicht als Verirrungen angesehen werden sollen: so muss das Bestehen solcher Vereine als ein für die Entwicklung des menschlichen Geistes notwendiges Element nachgewiesen werden können.«17 Schleiermacher formuliert seine Theologie also explizit vor dem Hintergrund der Kritik der Religion als »Verirrung«. Zugleich gesteht Schleiermacher der Religionskritik durchaus eine gewisse Berechtigung zu. Deshalb verzichtet er darauf, die Theologie als Metaphysik oder als Ethik zu konzipieren. In seinen frühen »Reden über die Religion« hat er ihr – jenseits von Metaphysik und Ethik – einen Ort als eine »eigne Provinz im Gemüte«18 des Menschen zugewiesen. Das Wesen der Religion ist für Schleiermacher »weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl«19, die mit dem »Sinn und Geschmack für das Unendliche«20 verschwistert sind. Predigt soll Religion als Anschauung und Gefühl stärken, in dem sie den Sinn und Geschmack für das Unendliche ausbildet. Sowohl Anschauung und Gefühl wie Sinn und Geschmack verweisen auf die Individualität des Menschen. Anschauung und Gefühl sowie Sinn und Geschmack können immer nur individuell ausgebildet werden. Damit steht die Predigt in einer gewissen Spannung. Sie ist öffentliche Rede vor der versammelten Gemeinde und zielt doch auf das, was nur als höchst Individuelles leben kann. Diese Spannung zu gestalten, darin besteht für Schleiermacher die homiletische Herausforderung. Er betont immer wieder, dass das individuelle Gefühl auf eine verbindende eigentümliche Rationalität verwiesen ist. Ohne diese Rationalität verkümmert gerade das Individuelle. Die Predigt dient der Vergemeinschaftlichung des Gefühls, ohne dessen Individualität zu verletzen. In seinem »Brouillon zur Ethik« beschreibt Schleiermacher diesen Sachverhalt folgendermassen:
15 16 17 18 19 20
Vgl. dazu Schleiermacher, Die Idee, 154 f. Marx/Engels, Über Religion, 30. Schleiermacher, Kurze Darstellung. Ders., Über die Religion, 26. A.a.O., 35. A.a.O., 36.
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Das Erkennen tritt aber auch hervor auf der anderen Seite mit dem Charakter der Eigentümlichkeit d. h. der Unübertragbarkeit. Das nennen wir nun im eigentlichen Sinne Gefühl. In dem Maß, als in jeder einzelnen Lebensoperation Gefühl ist, ist auch Unübertragbarkeit darin. Diese Unübertragbarkeit gilt aber nicht nur zwischen mehreren Menschen, sondern auch zwischen mehreren Momenten desselben Lebens. Die Einheit des Lebens und die Identität der in die Einzelnen verteilten Vernunft würde also ganz aufgehoben, wenn das Unübertragbare nicht wieder ein Gemeinschaftliches und Mitteilbares werden könnte.21
Die Predigt ist für Schleiermacher nun ein herausragendes, jedoch nicht einziges Medium der Vermittlung des individuellen Gefühls als mitteilbares Gemeinschaftliches. Deshalb ist Predigt auch nicht primär lehrhafte Doktrin, sondern Predigt zielt auf »die Belebung des religiösen Bewusstseins, die Erbauung«22. So haftet der Predigt beides an – etwas höchst Subjektives wie auch Objektives: »Es ist unmöglich daß die religiöse Rede etwas gutes werden könne, wenn nicht einerseits die Einheit von einem rein religiösen Gehalt ist, und nicht ein vollkommen klares Bewußtsein andererseits.«23 Darin besteht die Ars homiletica, dass der Prediger und die Predigerin, die Individualität des religiösen Gefühls so zum Ausdruck bringen, dass diese Individualität gleichwohl kommunikabel zu anderen Individualitäten bleibt. Predigt besteht also in einer eigentümlichen rationalen Darstellung des individuellen Gefühls.
4 Stand Schleiermacher eher vor einer geistesgeschichtlich-philosophischen Herausforderung, so stellt sich Friedrich Niebergall den sozial-lebensweltlichen Veränderungen, die die industrielle Moderne mit sich brachte. Ganze Schichten der Bevölkerung drohten sich der religiös-kirchlichen Überlieferung und Tradition zu entfremden. Dabei sieht Niebergall durchaus, dass diese Entfremdung nicht nur externe Gründe hat, sondern durch Theologie und gängige Predigt mit hervorgerufen ist. Die Krise von Religion und Kirche ist für ihn auch eine Krise der zeitgenössischen Predigt. Geradezu sarkastisch kann Niebergall im Jahre 1905 in seinem programmatischen Aufsatz »Die moderne Predigt« formulieren: Die Voraussetzung für die folgenden Darlegungen bildet der nicht seltene Eindruck, dass manche heute gehaltene Predigt gerade so anmutet, als wäre sie vor dreißig Jahren gehalten worden oder als hätte sie damals gehalten werden können. Ihren tiefsten Beweggrund bildet der Wunsch, einen Beitrag zur Beantwortung der Frage zu geben, die jetzt alle rührigen Pfarrer beschäftigt: Wie sollen wir predigen, um unsrer Zeit 21 Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, 361 f. 22 Ders., Praktische Theologie, 216. 23 A.a.O., 221.
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gerecht zu werden? Jene so altmodisch anmutenden Predigten stoßen aufmerksame Hörer und Kritiker durch zwei sich oft sehr bemerkbar machende Eigenschaften: einmal entspringen sie einer Auffassung vom Evangelium, dem Inhalt der Predigt, die durch die Arbeit der Theologie der letzten Jahrzehnte hier ganz überwunden, dort sehr geschwächt worden ist; und dann reden häufig kluge und treue Menschen auf Kirchenbesucher ein, die in Wahrheit einmal in der Vergangenheit zu finden waren, gegenwärtig aber nur in der konstruierenden Phantasie des Herrn Pfarrer vorhanden sind. Sie antworten auf Fragen, die niemand stellt, und auf die Fragen, die jeder stellt, antworten sie nicht.24
Die Antwort, die Niebergall seinerseits auf die Krise von Religion und Kirche gibt, lautet: Modernisierung der religiösen Praxis (und damit auch der Predigt) unter Beiziehung der sich neu heraus bildenden Humanwissenschaften. Dabei entdeckt Niebergall die Gefühlsdimension der Predigt aufs Neue. Diese erneuerte Entdeckung der Gefühlsdimension der Sprache geschieht im praktisch-homiletischen Interesse. Wenn die Predigt die Menschen wieder für sich gewinnen möchte, dann müssen die Predigerinnen und Prediger die konkrete Lebensrealität der Menschen vor Augen haben. Für Niebergall ist diese Lebensrealität in zweifacher Hinsicht zu erforschen: einmal müssen wir den Menschen, und dann müssen wir die Menschen kennen zu lernen suchen. Den Menschen, nämlich die psychologische Grundorganisation, so weit sie für uns Interesse hat, das ganze Getriebe der Seele, sofern es sich um das Wollen herumbewegt. Und dann müssen wir ein paar Streifzüge in die Leute hinein machen, soweit sie uns interessieren. Das eine ist eine psychologische, das andere eine volkskundliche Aufgabe.25
Psychologie und Soziologe werden somit zu unverzichtbaren Bezugswissenschaften der Homiletik. Und im Rahmen dieses psychologischen Interesses stößt Niebergall auf die Gefühle der Menschen. Ähnlich wie Sigmund Freud mit seiner tiefenpsychologischen Instanzenhierarchie versucht sich Niebergall in Auseinandersetzung mit seiner zeitgenössischen Psychologie an einer Instanzenhierarchie der psychischen Triebkräfte des Menschen, um dem »Mechanismus der Seele«26 nahe zu kommen: Zu Grunde liegt allen genannten Beispielen menschlichen Handelns ein Bedürfnis. Dieses Bedürfnis stellt die Differenz dar zwischen dem gegenwärtigen Lebensstatus und einem als vollkommen gedachten oder geahnten vollkommenden Dasein. Die Bedürfnisse sind das Tiefste im Menschen, was ihn zum Handeln treiben kann. Den Bedürfnissen im Menschen entsprechen außer ihm die Dinge, die geeignet sind, sie zu 24 Niebergall, Die moderne Predigt, 9. 25 Ders., Wie predigen wir, 64. 26 A.a.O., 66.
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befriedigen. Diese Dinge heißen Güte oder Werte. Zwischen Bedürfnissen und Werten stehen die Gefühle. Die Gefühle sind einmal die Sprache der Bedürfnisse und dann der Reflex der Güter. In den Gefühlen machen wir uns unserer Bedürfnisse bewusst.27
Eine Predigt die auf Veränderungen im Menschen ausgerichtet ist – und darin besteht die Predigtkonzeption Niebergalls –, kommt also nicht umhin, auf die Gefühle als wesentliche Triebkraft möglicher Veränderungen zu reflektieren. Diese Reflexion geschieht bei Niebergall nicht nur humanwissenschaftlich, sondern dezidiert theologisch. Dabei zeigt sich eine erstaunliche Parallele zu Luther. Luther war an den biblischen Texten als Exempla menschlicher Erfahrungen interessiert. Niebergall beginnt sein homiletisches Lehrbuch mit einer Analyse ausgewählter biblischer Texte hinsichtlich der in ihnen aufbewahrten Motive und Quietive, die auf die Gefühlswelt gegenwärtiger Menschen bezogen werden können. Dabei haben die biblischen Texte durchaus einen normativen Charakter : »das moderne Evangelium bietet die Norm, das moderne Bewusstsein die Form, ja nicht umgekehrt; denn es gibt keine von den Evangelien gebotene Form, noch gibt das moderne Bewusstsein die Norm.«28 Der Bezug der Predigt auf die Gefühlswelt hat für Niebergall direkte Konsequenzen für die Predigt: Predigt muss zum einen einladende Predigt sein, denn Gefühle lassen sich nicht befehlen. Gefühle kommen und gehen, aber sie haben einen eigenen Willen. Sie kommen, wenn sie durch eine entsprechende Veranlassung verursacht, und sie gehen, wenn sie durch einen anderen Grund geschwächt oder verdrängt werden. Befehlen lassen sie sich nicht. Niemand kann auf den Wunsch ›Fühle‹ sofort fühlen.29
Zum anderen muss die Predigt eine respektvolle Predigt sein. Gefühle sind das Individuellste im Menschen. Sie dürfen weder durch Suggestion noch durch rhetorische Gewalt beeinflusst werden – und sie können dies zum Glück auch nicht. Wie so oft findet Niebergall auch dafür ein eindrückliches Bild: Gefühle können wir zu erwecken suchen durch Darbietung ihrer Ziel- und Ausgangspunkte und ihrer Träger ; ob sie nach dem Willen des Ich hinüberflammen, steht nicht in unserer Macht. […] Man häufe das Holz auf und überlasse es dem Blitzstrahl des Himmels, dem Heiligen Geiste, es in Flammen zu setzen, wie Elias auf Karmel tat.30
27 28 29 30
A.a.O. Ders., Die moderne Predigt, 74. Ders., Wie predigen wir, 76. A.a.O., 82.
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5 Welche Sprachgestalt ist nun einer Predigt der Gefühle angemessen? Bereits Luther hat darauf verwiesen, dass die Predigt des Evangeliums einer Nova Sprach, einer neuen Sprache bedürfe. Alle vier von mir vorgestellten Homiletiker der Christenheit – Augustinus, Luther, Schleiermacher und Niebergall – heben auf unterschiedliche Art und Weise auf den Bildcharakter der Sprache ab. Schleiermacher und Niebergall identifizieren diesen Bildcharakter der Sprache mit ihrem poetischen Potential. Wie also gewinnt eine Predigt der Gefühle im Dickicht unseres Sprachalltags ihr Profil? Zunächst einmal ist daran zu erinnern, dass wir uns ständig in wechselnden Sprachwelten bewegen. Der Literaturwissenschaftler Johannes Anderegg hat dies eindrücklich beschrieben: Es gibt sie nicht, die Sprache des Alltags, sowenig es eine ›normale‹ Sprache gibt. Unser Sprachgebrauch im Alltag ist vielgestaltig, und was wir als normal und gewöhnlich zu bezeichnen pflegen, reicht vom Einwortsatz am Postschalter bis zum gewandten Sprachgeplauder oder zur fachlichen Diskussion im Kollegenkreis. Auch, ja gerade ein völlig unspektakulärer Tagesverlauf zeigt, in welch unterschiedlicher Weise wir im Alltag von der Sprache Gebrauch machen. Ein unverwechselbarer Familienton bestimmt das Frühstücksgespräch im Familienkreis. Ganz anderer Art sind die wenigen Worte, die wir beim Verlassen des Hauses mit dem Nachbarn zu wechseln pflegen. In einer alltäglichen Kommunikationssituation befinde ich mich auch, wenn ich darnach, auf der Fahrt zur Arbeit, die Rundfunkansprache über mich ergehen lasse. Und wenn ich anschließend, an meinem Arbeitsort, das durchaus alltägliche Gespräch mit Kollegen und Mitarbeitern aufnehme, sind Redegegenstand und Redeweise einmal mehr durchaus verschieden von dem, was in den bereits genannten Situationen üblich ist. Übrigens drängen sich im Bereich der Arbeitswelt weitere Differenzierungen auf. Das Gespräch der Kollegen hat einen anderen Charakter als das Gespräch mit Vorgesetzten oder mit Mitarbeitern: Die Hierarchie ist nicht ohne Einfluss auf unseren Sprachgebrauch. Andere sprachliche Möglichkeiten und Notwendigkeiten zeigen sich in der Freizeit. Stammtischrunden- und Vereinsgespräche haben ihren eigenen, unverwechselbaren Charakter, und schließlich – die Beispielreihe ist freilich keineswegs vollständig – wäre wohl auch an das intime Gespräch zu zweit zu erinnern, das wiederum seine Besonderheiten hat, seine eigene Thematik, seinen eigenen Wortschatz und seine spezifische Dialogizität.31
Dies bedeutet zunächst einmal, dass wir – entgegen manchen kulturpessimistischen Vorurteilen – davon ausgehen können, dass die Menschen heute eine luzide Sprachgewandtheit besitzen, um ihren Alltag zu bewältigen. Über Sprache identifizieren sich Milieus und Individuen gleichermaßen. Dies ist ein Sachverhalt von hoher homiletischer Bedeutsamkeit. Wir können bei den Hö31 Anderegg, Über Sprache, 366.
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rerinnen und Hörer der Predigt eine Sprachgewandtheit voraussetzen, mit der sie sich in ihrem Alltag bewegen, auch wenn sie selbst nicht die Sprache einer hochkulturell orientierten Schicht beherrschen mögen. Menschen hören Unterschiede der Sprache, auch dort, wo sie diese Sprache selbst nicht sprechen. Welchen Sprach-Unterschied markiert also eine Predigt der Gefühle? Johannes Anderegg hat vorgeschlagen, von der tentativen Sprache als der Sprache der Religion zu sprechen. Und er charakterisiert diesen Sprach-Modus folgendermaßen: Wenn ich einem Freund oder einer Freundin erklären will, weshalb mich die Verse von Kohelet bewegen, rede ich nicht so, dass sich die Lektüre des Kohelet erübrigt. Ich versuche so zu reden, dass sich unser beider Aufmerksamkeit auf den Text richtet, und ich versuche mitzuteilen, was mir in diesem Text zum Zeichen wird und inwiefern mir etwas zum Zeichen wird. […] Es ist ein vorsichtiges und ein vorläufiges Reden, das uns in der Erwartung zum Text zurückkehren lässt, er mache bisher nicht Wahrgenommenes wahrnehmbar. Nichts von dem, was so beredet wird, lässt sich schwarz auf weiß, als Resultat nach Hause nehmen. Es ist ein Reden der Annäherung, das sich nachzeichnend und nachtastend, immer wieder selbst in Frage stellt: ein tentatives Reden. […] Das tentative Reden bewegt sich zwischen poetischer Sprache und Sprache des Alltags gewissermaßen auf schmalem Grat. Aus dem Alltäglichen sich lösend, ist es Annäherung an die besondere Zeichenhaftigkeit, an die Metaphorik poetischer Sprache, und es ist dabei immer in der Gefahr, die Metaphorik, um die es hier geht, zu reproduzieren oder aber zurückzufallen in die alltagssprachlichen Konventionen. Tentativ ist dieses Sprechen aber auch unter dem Aspekt des Dialogischen: Es zielt auf Verständigung über das, was nicht selbstverständlich ist, aber seine Verständlichkeit ist nicht, wie beim alltäglichen Sprachgebrauch von vornherein gegeben. Auch in bezug auf den oder die Gesprächspartner ist das tentative Reden nicht mehr als Annäherung – aber auch nicht weniger.32
Dies erinnert an die Überlegungen Niebergalls zum einladenden und respektvollen Charakter einer Predigt der Gefühle. Das, was Anderegg als tentative Sprache bezeichnet, lässt sich genauer charakterisieren als Sprache der Anmutung. Der deutsche Begriff der Anmutung hat keine Entsprechung in der frankophonen und angelsächsischen Sprachwelt. Er ist ein genuin germanischer Begriff. Zugleich führt der Begriff an einen Zusammenhang heran, der so wiederum nur im frankophonen und angelsächsischen Sprachraum besteht. In den Begriff grace ist eine doppelte Bedeutungslinie eingezeichnet – grace als theologischer Begriff und grace als ästhetischer Begriff. Im Deutschen verwenden wir dafür zwei Begriffe. Gnade als theologischer Begriff, und der ästhetische Begriff heißt im Deutschen »Grazie« oder auch »Anmut«. Anmutung heißt also: Etwas kommt in seiner Anmut auf mich zu und bewegt, berührt oder streift mich in meiner Gefühls- und Wahrnehmungswelt. 32 A.a.O., 377 f.
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6 In vierfacher Hinsicht lässt sich eine Sprache der Anmutung als die Sprache einer Predigt der Gefühle näher beschreiben: (1) Bereits viele Texte der Bibel sprechen selbst eine Sprache der Anmutung – von den Psalmen über die Visionen der Propheten bis hin zu den Gleichnissen Jesu. Dieses Potential sollten Prediger und Predigerinnen nutzen. Die Sprache ihrer Predigt kann sich der Sprache dieser Texte gleichsam anverwandeln, ohne dabei zu einer gegenwartsverlorenen oder milieuverengten »Sprache Kanaans« zu werden. Dies Sprache der biblischen Texte gewinnt dann neue Gestalt, wenn sie den Gefühlsgehalt, der in ihnen aufbewahrt ist, aufspürt und in unsere Gegenwart zu übersetzen versucht. Eine Predigt der Gefühle ist – wie bereits Luther und Niebergall sahen – den biblischen Texten nicht äußerlich, sondern reicht an deren »Glutkern« heran. (2) Über Gefühle zu sprechen ist prekär. Prekär deshalb, weil die Sprache damit in das Intimste der Menschen heranreicht. Die Sprache der Anmutung gewährt eine Diskretion, die es erst möglich macht, über Gefühle zu sprechen. Die Hörerinnen und Hörer der Predigt müssen spüren, dass ihnen der Prediger und die Predigerin nicht zu nahe treten und ihnen gleichwohl nahe sind. (3) Dies wird am besten dann gelingen, wenn die Predigenden selbst ihre eigene Gefühlswelt so sensibel wie möglich erkunden. Sie werden aber ihre eigene Gefühlswelt nicht zur Norm für Andere machen. Nur wer sensibel gegenüber den eigenen Gefühlen ist, kann den Gefühlen anderer gegenüber sensibel sein. Auf diese Weise kann die Vielheit der Gefühlswelten, die in einem Gottesdienst aufeinander treffen, zur Darstellung gebracht werden. (4) In ihren Gefühlen sind die Predigenden und die Hörer und Hörerinnen miteinander verbunden. Die Predigt gibt ihnen die Möglichkeit, diese ihre Gefühlswelt im Lichte der in den biblischen Texten zum Vorschein kommenden »fremden« Gefühlswelt distanziert in den Blick zu bekommen. Dabei ist diese Distanzierung, dort wo eine Predigt gelingt, verbunden mit einer erneuten Annäherung an die eigene Gefühlswelt. (5) Wilhelm Gräb hat bereits in seiner Habilitationsschrift aus dem Jahre 1988 ein Verständnis der homiletischen Aufgabe skizziert, das im Kontext meiner Überlegungen zu einer Predigt der Gefühle und für die Gefühle neu zu sprechen beginnt: Sich selbst wahrnehmend hat der Prediger immer auch seine Hörer als die in ihren individuellen und psychosozial verdichteten Lebensbezügen vom Evangelium Angeredeten im Blick. Es ist deshalb das Faktum der Predigt, auf dessen kommunikative, auch noch die Verständigung über den eigenen Geltungsanspruch einschließende Realisierung der Prediger so ausgerichtet wird, dass er sich seine Hörer im Prozess der Predigtvorbereitung nicht allein als Adressaten seiner Rede vorstellig macht, sondern
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als Partner eines Gesprächszusammenhangs. Sie sind ihm diejenigen, die an ihrem Ort und auf ihre Weise mit vollziehen, was er mit der Inszenierung seiner Predigt zur Darstellung bringt. Auf diese Weise realisiert der Prediger seine Predigt so dass er sich zugleich handelnd von dem unterscheidet, was durch sein Handeln zum Glauben angeboten wird. Seine Predigt wird zur zeugnishaften Darstellung dessen, der das Bezeugte selber sich im Zeugnis bezeugen lässt. Was er erwartet, ist gerade nicht die uniforme Wiederholung seiner eigenen Rede, sondern die Vielstimmigkeit derer, denen sie zum Medium der Gabe des den rechtfertigenden Glauben hervorrufenden Heiligen Geistes wird.33
Literatur Anderegg, Johannes, Über Sprache des Alltags und Sprache im religiösen Vollzug, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 95 (1998), 366 – 378. Augustin, Bekenntnisse (Confessiones), hg. v. Bernhardt, Joseph, Berlin/Darmstadt/ Wien 1968. Augustin, Vier Bücher über die christliche Lehre (De doktrina christiana), München 1925. Drobner, Hubertus R., Augustinus von Hippo, Predigten zum Weihnachtsfest, Frankfurt a.M. 2003. Gehring, Hans-Ulrich, Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik. Rezeption in Martin Luthers Predigt und bei Hans Robert Jauß, Neukirchen–Vluyn 1999. Gräb, Wilhelm, Predigt als Mitteilung des Glaubens. Studien zu einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht, Gütersloh 1988. Luther, Martin, D. Martin Luthers Werke, 120 Bände, Weimar 1883 – 2009. Marx, Karl/Engels, Friedrich, Über Religion, Berlin 1958. Nembach, Ulrich, Predigt des Evangeliums. Luther als Prediger, Pädagoge und Rhetor, Neukirchen-Vluyn 1972. Niebergall, Friedrich, Die moderne Predigt, in: Hummel, Gert (Hg.), Aufgabe der Predigt, Darmstadt 1971, 9 – 74. Ders., Wie predigen wir dem modernen Menschen? Eine Untersuchung über Motive und Quietive, Tübingen/Leipzig 1902. Rössler, Dietrich, Überlieferung und Erfahrung. Gesammelte Aufsätze zur Praktischen Theologie, Tübingen 2006. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Die Idee der deutschen Universität. Die fünf Grundschriften aus der Zeit ihrer Neubegründung durch klassischen Idealismus und romantischen Realismus, Bad Homburg vor der Höhe 1959. Ders., Hermeneutik und Kritik, Frankfurt a.M. 1977. Ders., Kurze Darstellung des Theologischen Studiums zum behuf einleitender Vorlesungen, hg. v. Scholz, Heinrich, Hildesheim 41977. Ders., Praktische Theologie, Berlin 1850. Ders., Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Stuttgart 1969. 33 Gräb, Predigt als Mitteilung, 262 f.
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Hans-Martin Gutmann
Trauer – das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit
1 Lassen sich die Symbole und Bekenntnisse, die Erzählungen und dogmatischen Formulierungen der protestantisch-christlichen Religion in der spätmodernen Gesellschaft auf heute gegebene Weisen von individueller Selbstthematisierung, Wahrnehmung des Anderen und Erleben von Gemeinschaft sinnvoll beziehen? Wo liegt der Punkt, wo liegt der Raum, die Ebene (oder welche Metapher man hier wählen mag), an dem diese Aufeinanderbeziehung gelingt? Wie können Menschen zu solchen Gelingenssituationen beitragen, die als Professionelle im Pfarramt oder im Lehramt für solche Vermittlungsleistung einzustehen haben? Es ist ein wesentliches Verdienst Wilhelm Gräbs für den gegenwärtigen praktisch-theologischen Diskurs, immer von Neuem auf diese für die Gestaltfindung protestantisch-christlicher Religion in der Moderne schlicht grundlegende Frage hingewiesen zu haben. Sie richtet sich beispielsweise auf Problematisierungen, wie die Rechtfertigungsverheißung als bedingungslose Zusage göttlicher annehmender Liebe ohne vorherige religiöse Leistung den heute lebenden Zeitgenossinnen und Zeitgenossen sinnvoll zugesagt werden kann – wenn für diese die Wirkungs- und Sinnlosigkeit, zumindest fehlende Verbindlichkeit religiöser Leistungen für die Selbstvergewisserung eines modernen Menschen oft ohnehin ausgemachte Sache zu sein scheint. Die Frage wird brisant in der kulturell und religiös pluralisierten Gesellschaft, wie der Glaube an den dreieinen Gott, der sein menschliches ebenso wie sein göttliches Gesicht im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi ein für allemal gezeigt hat, im interreligiösen Dialog mit jüdischem und in anderer Weise muslimischen Monotheismus bewahrt werden kann – wenn für protestantische Christenmenschen heute diese für das christliche Bekenntnis unaufgebbaren Basisaussagen selbst oft unverständlich, schlimmer noch: unerheblich geworden sind. Solche Probleme sind Gegenstand biblisch-theologischer und systematisch-theologischer akademischer Forschung und Lehre, und mit professionell auf kirchliche, schulische und
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Hans-Martin Gutmann
öffentlich-mediale Handlungszusammenhänge gerichtetem Blick sind dies auch zentrale Gegenstände praktischer Theologie heute. Die Erinnerung an Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers Rede von Religion – in Differenz zu Moral und Metaphysik – als »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« tritt in manchen dieser Diskurse als Platzhalter eines mit der Moderne kompatiblen Vermittlungspunktes zwischen theologischer Tradition und dem Lebensgefühl der Leute dort auf, wo ältere Basisaussagen protestantischer Theologie nicht mehr zu ›funktionieren‹ scheinen. Aber leistet dies wirklich schon der Rückbezug auf Schleiermachers Formulierung »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« – in dem Sinne, in dem Schleiermacher selbst diese Formel verwendet hat? Können wir wirklich annehmen, dass heute lebende Zeitgenossen und Zeitgenossinnen durch einen Blick in den Sternenhimmel dieses basalen Lebensgefühls innewerden, die nicht nur (was für Rudolf Bultmanns Entmythologisierungs-Theorem einmal metaphorische Platzhalter modernen Lebensgefühls waren) Flugzeug und Rasierapparat benutzen, sondern auch Facebook im Web 2.0, satellitengestützte Wegefindungshilfen im PKW und Fernkommunikation von Deutschland z. B. nach Australien via Skype kompetent und selbstverständlich handhaben? Heute lebende Menschen, die – wenn sie denn ins Kino gehen – sich von Blockbustern wie Avatar auf eine dreistündige interstellare Traumreise mitnehmen lassen? Können wir wirklich damit rechnen, dass für solche Menschen heute die Anschauung des bestirnten Firnaments ein Innewerden der eigenen verschwindenden Rolle im Universum als religiöses Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit hervorruft? Oder muss nicht – analog zur nötigen Aktualisierung der Frage Luthers, was heute das bindende und zerstörende ›Gesetz‹ sei – ebenso gefragt werden, was für Menschen heute »schlechthinnige Abhängigkeit« bedeutet – aber auch, was die Rede von Gefühl eigentlich meint? Ich schlage die Überlegung vor, dass »schlechthinnige Abhängigkeit« für heute lebende Zeitgenossen und Zeitgenossinnen in alltäglicher Kommunikation und Arbeit eher dann erfahrbar wird, wenn die abstrakte Mächtigkeit eines unüberschaubar irrational sich gebärdenden Finanzkapitalismus in seinen Konsequenzen nicht nur als verborgene Grundmelodie das Lebensgefühl verunsichert, sondern eigene Lebensgewissheit erbarmungslos trifft: beispielsweise dann, wenn man oder vor allem frau trotz lebenslanger Arbeitsleistung im Alter wegen zu geringen Haushaltseinkommens aus vielen Partizipationsmöglichkeiten in Konsum, Kultur und Vergemeinschaftung ausgeschlossen werden; oder beispielsweise dann, wenn trotz dauernder, oft lebenslang geübter Anstrengung, geforderte Leistungserwartungen zu erfüllen, der eigene Arbeitsplatz verschwindet (so in jüngerer Zeit bei Schlecker, Neckermann und perspektivisch bei Opel/Bochum); oder beispielsweise dann, wenn trotz Erwerbsarbeit das Geld
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Trauer – das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit
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nicht zum Leben reicht (bei den working poor) oder eigene Ersparnisse in grenzenlos unüberschaubaren Finanztransaktionen von Bankern verschwinden. Unter alltäglichen Lebensbedingungen, so meine Vermutung, artikuliert sich gerade in diesem Feld des Ökonomischen, genauer : Finanzökonomischen vor allem ein Innewerden »schlechthinniger Abhängigkeit« als unabweisbare Lebenserfahrung, durch eigenes Vermögen, eigene Leistung, eigene Anstrengung im Entscheidenden für eigene Lebenssicherung nichts beitragen zu können. Unter nicht-alltäglichen Bedingungen, als Alltagsunterbrechung, Krisenerfahrung und Abbruch von Vertrautheit, artikuliert sich »schlechthinnige Abhängigkeit« heute vor allem im Trauerfall. Dies ist meine zweite Hypothese. Der Einbruch dieses Nicht-Alltäglichen im Trauerfall bleibt mit dem Alltäglichen in Differenz oder als Steigerung verbunden. Trauer über den Tod eines geliebten Menschen, über den Abbruch einer Liebesbeziehung, über den Verlust von Lebensträumen (und hier kann ein link zu alltäglichen Erfahrungen schlechthinniger Abhängigkeit liegen): dies vor allem provoziert heute das Innewerden »schlechthinniger Abhängigkeit« als unausweichlich-plötzliche Erfahrung: Ich habe mein Leben nicht in der Hand. Alles, was ich von mir selbst aus zu meiner Lebensgewissheit beitragen kann oder lange beitragen konnte, alles, was die vertraute Beziehung zum geliebten Menschen zum basalen Gefühl des In-der-Welt-zu-Hause-Seins einmal beisteuern konnte, ist plötzlich nicht mehr. Im Abbruch wird die Tiefe der Abhängigkeit meiner Lebensgewissheit von diesen Vertrautheitsmustern in Beziehung erst zugänglich, auf die ich alltäglich ohne große Reflexion immer rekurrieren und mich verlassen konnte. »Schlechthinnige Abhängigkeit« zeigt sich in Krise und Unterbrechung des Alltäglichen zuerst als und in Trauer. Aber, und dies ist ebenso neu zu reflektieren und durch bloße Zitation der Schleiermacher’schen Formel nicht einfach schon gesichert: Was bedeutet in diesem Zusammenhang Gefühl? Ist Gefühl der Raum in meinem Innern, dessen ich in meinem intimen Bei-mir-selbst-Sein gewissermaßen automatisch innewerden kann? Oder ist Gefühl der Raum in meinem psychischen Haushalt, der mir unter Bedingungen alltäglicher Kommunikation und Selbstwahrnehmung gerade entzogen ist (in den unterschiedlichen Traditionen der Psychoanalyse als unbewusstes Es, als Schatten oder als vorsprachlich-beglückende Erfahrung des eigenen Spiegelbildes, die als narzisstische Grundfigur lebenslang die Stelle des Ich besetzen kann)? Und, noch grundlegender gefragt: Ist Gefühl etwas, das sich allein im Innern von Individuen so und so aufbaut, in ihrem psychischen Habitus – oder ist Gefühl zugleich Atmosphäre, die sich auch im äußeren Raum ausbreitet, auch jenseits der psychischen Gestimmtheit einzelner und diese anstoßend und umfassend? Verschiedene Gesprächsbeiträge aus einer philosophischen neuen Phänomenologie gehen in diese Richtung und sind auch im praktisch-theolo-
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Hans-Martin Gutmann
gischen Gespräch rezipiert worden.1 Man kann, so die hier vorausgesetzte Wahrnehmung, Gefühl als Atmosphäre im Raum erspüren, auch wenn man von der eigenen emotionalen Gestimmtheit noch nicht involviert sein muss. Ein Alltagsbeispiel: Ich komme in ein Zimmer, in dem Streit herrscht, ohne dies vorher zu wissen, und spüre, dass hier dicke Luft vorherrscht. Die Beziehung zwischen Gefühl als Atmosphäre im äußeren Raum und Gefühl als emotionale Gestimmtheit in der psychischen Situation eines Individuums soll dabei nicht einlinig-hierarchisch fixiert werden: Es kann vorkommen, dass Menschen von einer Atmosphäre mitgerissen werden – beispielsweise dann, wenn sie in eine ekstatisierte Masse hineingeraten, beispielsweise in einer Randale bei einer aus dem Ruder gelaufenen politischen Demonstration. Umgekehrt werden Atmosphären im äußeren Raum von der psychischen Gestimmtheit von Menschen beeinflusst – in einem Maße, dass Atmosphären ohne Anwesenheit von Menschen, die so oder so emotional gestimmt sind, in der alltäglichen Wirklichkeit nicht vorkommen (bzw. von ihnen gar nicht wahrgenommen werden können). Nimmt man diese Spur auf – Gefühl sei etwas, das nicht nur in der emotionalen Gestimmtheit von Menschen beheimatet ist, sondern sich auch im äußeren Raum als Atmosphäre aufbaut – dann hat dies weitgehende Konsequenzen für das Verständnis von Trauer und auch für die Klärung der Frage, welche Chancen und welche Aufgaben die seelsorgerliche und gottesdienstliche Arbeit der evangelischen Kirche in diesem Feld haben.
2 In seelsorgerlicher und gottesdienstlicher Arbeit mit trauernden Menschen wird vielfältig über Prozessverläufe von Trauer nachgedacht – beispielsweise von der Schock-Phase über die kontrollierte Phase, die Phase der Regression bis hin zur Annahme der Realität des Todes/des Verlustes und dem Aufbau einer neuen Beziehungsfähigkeit, die die Realisierung des Verlusts des zu betrauernden Menschen einschließt. Es wird über Stationen der Trauerarbeit nachgedacht mit spezifischen Traueraufgaben, beispielsweise: den Tod realisieren; den Verlust validieren; Trauerreaktionen auslösen; die Lebens- und Beziehungsgeschichte von Verstorben und Hinterbliebenen rekonstruieren, den Abschied gestalten und zur Hinwendung zum Leben ermutigen. Es wird realisiert, dass Trauer kein in linearer Zeitstrecke sicher abschließbarer Prozess ist, sondern zyklisch verläuft, bereits abgeschlossene Trauerphasen noch einmal durchlebt und in solche Zyklen aufnehmenden und zugleich überschreitenden rituellen und ästheti1 Vgl. Nord, Realitäten des Glaubens.
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Trauer – das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit
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schen Inszenierungen hilfreich begleitet werden kann. In all diesen Konzepten wird damit gerechnet, das Trauergefühle sich im psychischen Innenraum von betroffenen Menschen aufbauen, dass diese Gefühle durchlebt und durchlitten werden müssen in all ihrer Schmerzhaftigkeit und Abgründigkeit, dass sie aber auch in z. B. rituellen und ästhetischen Gestaltungsprozessen nach außen gebracht und gerade auf diese Weise hilfreich bearbeitet werden können. Wird nun – nicht als radikale Alternative, aber als erweiterte Wahrnehmung – realisiert, dass das Gefühl der Trauer nicht allein und vielleicht nicht zuerst ein innerpsychisches Phänomen darstellt, sondern sich im äußeren, die trauernden Individuen umhüllenden, sie einschließenden und in ihrer psychischen Gestimmtheit beeinflussenden Raum aufbaut, so wird die gottesdienstliche und seelsorgerliche Begleitung von Trauerprozessen sich anders gestalten. Sie wird – in räumlichen Metaphern gesprochen – in Trauergefühle nicht hinein-, sondern aus ihnen herausführen. Es geht dabei, wie gesagt, nicht um eine vollständige Umkehrung. Trauernde Menschen brauchen, um von geliebten Anderen Abschied nehmen und das eigene Leben nach dem Verlust gestalten zu können, auch Zeit und Raum, Erinnerung, Verzweiflung und Schmerz zuzulassen und für diese Gefühle angemessenen Ausdruck zu finden. Wird aber zugleich realisiert, dass Trauer auch eine im äußeren Raum sich aufbauende Atmosphäre ist mit für die trauernden Menschen belastender und bisweilen zerstörerischer Mächtigkeit, dann liegt die Aufgabe gottesdienstlicher und seelsorgerlicher Begleitung von Trauernden darin, sie aus dieser zerstörerischen Atmosphäre herauszuführen bzw. sie in ihren Ressourcen zu unterstützen, sich selbst auf diesen Weg zu begeben. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein weiteres Mal an eine Überlegung Martin Luthers erinnern, zeitlich Jahrhunderte vor Schleiermachers Rede vom »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit«, aber, so scheint mir, mindestens ebenso angemessen für die Identifizierung zentraler Lebensprobleme in der Spätmoderne. Luthers »Sermon von der Bereitung zum Sterben«2 von 1519 zielt auf die Vorbereitung des sterbenden Menschen auf die Überschreitung der Todesgrenze. Und die in diesem Text formulierten Überlegungen können zugleich für einen heilsamen Umgang mit Gefühlen der Trauer öffnen. Was Luther hier anmutet, zeigt – in räumlicher Metaphorik – eine hinausführende und eine hineinführende Bewegungsrichtung. Wenn sich ein/e Sterbende/r aufs Sterben (von Luther als »neue Geburt« verstanden) vorbereitet, soll sie/er zerstörerische Atmosphären verlassen. Nämlich: Er soll Angstbilder der Todesfurcht verlassen, »damit der die blöde Natur zur Furcht des Todes und zur Liebe und Sorge des Lebens treibe, dadurch der Mensch, zu viel beladen mit solchen Gedanken, Gottes vergesse«. Er soll sich aus Grübeleien über verfehltes 2 Martin Luther, Sermon, 61 ff.
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Hans-Martin Gutmann
Leben befreien: »Die Sünde wächst und wird groß, auch durch ihr zu vieles Ansehen und zu tiefes Bedenken. Dazu hilft die Blödigkeit unseres Gewissens, das sich selbst vor Gott schämt und greulich straft. Da hat der Teufel dann ein Bad gefunden.«3 Und vor allem soll er Angstbildern den Rücken kehren, die (z. B. in der Vorstellung von einer Hölle und von all dem, was verstorbenen Menschen dort widerfahren könnte) sich jenseits der Todesgrenze ausdehnen. Ihre ängstigende Macht verbindet sich damit zugleich mit Größenphantasien, wissen zu können, was sich jenseits der Todesgrenze ereignen wird: »[D]enn ich will alles wissen, was Gott weiß, und ihm gleich sein, dass er nichts mehr wisse denn ich, und also Gott nicht Gott sei«.4 Die hinausführenden Bewegungen werden, so Luther, durch eine hineinführende Bewegung in eine neue, heilsame Atmosphäre aufgenommen, die den sterbenden – und analog den trauernden – Menschen mit befreiender Macht einhüllt. Sondern deine Augen, deines Herzens Gedanken und alle deine Sinne gewaltiglich kehren von demselben Bild, und den Tod stark und emsig ansehen nur in denen, die in Gottes Gnade gestorben, und den Tod überwunden haben, vornämlich in Christo, darnach in allen seinen Heiligen.5
So verliert die Todesfurcht ihre Macht. Durch die Ein-Bildung in Christus wird der Tod selbst »im Leben erwürgt und überwunden.«6 Der heillose Zwang, über eigenes Versagen nachzusinnen, wird durch die Hinein-Bewegung in die heilsame Atmosphäre entmächtigt, die sich mit der Anschauung und dem Hineinfühlen in das Bild des Gekreuzigten aufbaut: Sondern musst abkehren deine Gedanken und die Sünde nicht, denn in der Gnade Bild ansehen, und dasselbe Bild mit aller Kraft in dich bilden und vor Augen haben. Der Gnade Bild ist nichts anderes, denn Christus am Kreuz.7
Und an die Stelle zerstörender Größenphantasien über ein Schicksal jenseits der Todesgrenze tritt neue Lebensgewissheit – auch im Angesicht von Sterbenmüssen und Trauer : »Darum sieh das himmlische Bild Christum an […], sieh, in dem Bild ist überwunden deine Hölle und deine ungewisse Vorsehung gewiss gemacht.«8
3 4 5 6 7 8
A.a.O., 65. A.a.O., 66. A.a.O., 67. A.a.O., 68. Ebd. A.a.O., 69.
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Trauer – das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit
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3 Die seelsorgerliche und gottesdienstliche Bearbeitung von Trauerprozessen findet heute ihren Ort im Kontext einer umfassend lebendigen medialen Kultur, die auch die kirchliche Arbeit so oder so beeinflusst.9 Trauergefühle stehen im Zentrum beispielsweise von Werken der populären Musikkultur und des Kinos. Ich gebe zwei Beispiele: 1. Haltet die Welt an (Glashaus 2005, Cassandra Steen, Moses Pelham, Martin Haas. Label 3p) ist ein intensiver Song über die Trauer, die das Lebensgefühl besetzt hält und jede Lebendigkeit nimmt und die gerade deshalb so bedrückend ist, weil sie noch keinen Ausdruck gefunden hat. Es hilft nicht, sich selber gut zu zureden, ebenso wenig wie das Zureden der Freunde hilft. Dies ist ein Akt der Verzweiflung – ein stummer Schrei eines Menschen voller Leid und seiner Wunde, die nicht heilt. Es ist ein letzter Kampf gegen das woran es liegt; wie ein Vogel mit nur einem Flügel, der bestimmt nicht fliegt.
Der erste Schritt, der den Fluss der Trauer in Gang bringt, ist vielleicht der härteste: zu realisieren, dass der Tote wirklich tot ist, dass geteiltes Leben auf die vertraute Weise nicht fortgesetzt werden kann. Der erste Schritt ist die Klage. Sie verbindet sich sofort mit dem Schrei des Protestes: »Bei Gott es fehlt ein Stück – haltet die Welt an! Es fehlt ein Stück – sie soll stehn! Und die Welt dreht sich weiter und dass sie sich weiterdreht, ist für mich nicht zu begreifen […] merkt sie nicht, dass einer fehlt?« Wahrnehmen, dass der Tote wirklich tot ist, Klage und Protest: der Fluss der Trauer durchbricht die Verhärtung des Nicht-wahr-haben-Wollens und SoTuns-als-ob. Die Trauer ist in Fluss gekommen, und der wird seine unerwarteten Windungen und Unterbrechungen haben, aber nicht wieder vollständig umkehren: Nach und nach gelingt es vielleicht, sich dem Geschenk des Lebens wieder zu öffnen – und auch dem, der das Leben schenkt. Der langsame, intensive Soul der musikalischen Gestalt dieses Songs eröffnet einen Raum, bringt in Fluss, geht ins Herz, so dass Trauer provoziert, die Realisierung des Todes erleichtert und auch Schutz gegenüber dem Bedrohlichen und Zerstörerischen des Todes angeboten wird. 2. »Nokan – Die Kunst des Ausklangs« (Japan 2008; Regie: Yojiro Takita) ist ein langsam erzählter, langsam geschnittener, wunderbar fotografierter und gespielter Film über die Würde und die Kraft des traditionellen japanischen Rituals der Bestattungsvorbereitung, Trauer ins Fließen zu bringen, für die Hin9 Beispielsweise entsteht gegenwärtig in Hamburg eine Dissertationsschrift von Swantje Luthe. Swantje Luthe nimmt hier eine Spur auf, die sie in ihrer Examensarbeit zu »Virtuelle(n) Friedhöfe(n). Gedenkstätten im Internet aus praktisch-theologischer Perspektive« (unveröffentlicht, Hamburg 2011) aufgenommen hat.
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Hans-Martin Gutmann
terbliebenen den Abschied von den verstorbenen Geliebten, Vätern, Müttern, Kindern zu eröffnen – und zugleich einer neuen Beziehung zu den Verschiedenen, aber auch unter den Lebenden Raum zu geben. Der Protagonist Daigo übernimmt eine Arbeitsstelle in einem Bestattungsinstitut. Die Arbeit ist ihm eklig – und sie gilt kulturell-religiös als unrein. Faszinierend für Daigo ist jedoch von allem Anfang an die Schönheit und Kraft des traditionellen Rituals, die er in genauer Beachtung der vorgegebenen Bewegungen und Sprechhandlungen durchführt – und in einer großen Innigkeit in der Zuwendung zum/zur Verstorbenen. Bei diesem Ritual ist die Trauergemeinschaft der Hinterbliebenen anwesend, es findet – der Aussegnung in dem Prozess der Evangelischen Bestattung in Deutschland vergleichbar – am Lebensort des/der Verschiedenen, im Trauerhaus der Hinterbliebenen statt. Gesicht und Körper der/des Toten werden vom Ritualleiter intensiv, fast zärtlich berührt. Das Gesicht wird geschminkt. Der ganze Körper wird mit langsamen Bewegungen gewaschen, wobei der Körper durch ein Gewand bedeckt bleibt. Am Schluss wird der/die Verstorbene in ein feierliches Totengewand eingehüllt und in den offenen Sarg gehoben. Jetzt können sich die Hinterbliebenen von ihrem/ihrer Verstorbenen verabschieden: sie/ihn noch einmal berühren, Liebe und Schuldgefühl, Klage und Anklage, Trauer äußern. Immer von Neuem wird gezeigt, wie in die zunächst erstarrten, manchmal anklagend-aggressiven Beziehungen unter den Hinterbliebenen und gegenüber dem/der Verstorbenen nach und nach zu anderen werden. Heilsamere Atmosphäre zieht ein. Streit kann laut werden und so Gestalt gewinnen, vor allem aber : Zärtlichkeit und Trauer gegenüber dem/der Toten kann empfunden und zum Ausdruck gebracht werden. Und schließlich wird auch der Protagonist selbst in seiner zentralen Lebenskrise verwandelt, als er aus Zufall seinen eigenen Vater, den er lebenslang gehasst hat, von dem er sich nach dessen Trennung von Frau und Familie verraten gefühlt hat, selber in langsamen, zugewandten und zärtlichen Gesten auf seine Bestattung vorbereitet. Kirchliches Handeln in seelsorgerlicher und gottesdienstlicher Begleitung von Trauerkrisen findet seinen Weg im Kontext medialer Kultur, und diese Arbeit wird – beispielsweise in der Musikauswahl bei Bestattungsgottesdiensten je nach Geschmack und Milieuzugehörigkeit der Trauernden – so oder so auch direkt beeinflusst. In Erinnerung an Martin Luthers Überlegungen und in Rezeption von populärkulturellen Werken, die gerade in diesem Feld oft hochgradig kompetent gemacht sind, sollen professionelle Begleiter und Begleiterinnen im Raum evangelischer Religion einen Weg der Trauer unterstützen helfen, der aus zerstörerischen Gefühlen »schlechthinniger Abhängigkeit« herausführt, ohne Schmerz über den Verlust und Sehnsucht nach dem Verschiedenen zu verleugnen. Einen Weg, der sich nach und nach zu neuem Leben hinwenden kann; wobei der Gefühlsraum, der in evangelischer Verheißungspredigt mit der Gestalt und dem Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi
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Trauer – das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit
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zugesagt wird, auch eine neue Möglichkeit der Begegnung und Beziehung zu den Verschiedenen öffnen wird. Eine Begegnungsmöglichkeit, die die Toten in ihrem bisherigen Leben tot sein lässt, aber zugleich als weiter lebende Mitbewohner und Mitbewohnerinnen der ›Gemeinschaft der Heiligen‹ in Christus wahrnehmbar und annehmbar machen kann. Die seelsorgerliche Begleitung der Befreiung von zerstörerischen Trauergefühlen kann sich analog zur Grundbewegung des evangelischen Bestattungsgottesdienstes entfalten, die zum Schluss noch einmal skizziert werden soll: Freiwerden von zerstörerischen Gefühlen, Hinwenden zu einem heilsamen und bergenden Gefühlsraum, der in der evangelisch-christlichen Religion – in Differenz und Respekt gegenüber anderen Religionen, aber auch populärkulturellen Inszenierungen – unaufgebbar mit dem Namen des dreieinen Gottes und der Geschichte Jesu Christi verbunden bleibt. Voten und Gebete, Psalmen und Lieder, Körpergesten und Bewegungsrichtungen des evangelischen Bestattungsgottesdienstes sollen so ausgewählt und angeordnet werden, dass sie die Bewegungen des Freiwerdens von Angst-Bildern und die Hinwendung zum Gefühlsraum heilsamer Macht über Leben und Tod öffnen und den sie begleitenden Emotionen Gestalt geben können. In der Bestattungspredigt kann diese Bewegung auf die unaustauschbare Individualität dieser versammelten Trauernden zugespitzt werden. Schuldgefühle und Hilflosigkeit benennen, Vergebung erbitten und zusagen, Danken und Abschied nehmen. Predigt und Voten des Bestattungsgottesdienstes sollen ein Abfließen von Trauer unterstützen, Dank und Abschied gegenüber dem Verschiedenen sollen eine Gestalt finden können. Aufgabe der Predigt bei einem Bestattungsgottesdienst ist vor allem, von belastenden ›Verschuldungen‹ zwischen Lebenden und Toten freizusprechen. Klagen und Protestieren: Der Tod vernichtet Lebensmöglichkeiten, trennt Liebende, entfaltet zerstörerische Macht. Emotionen wie Wut, Hass und Verzweiflung sollen ausgesprochen werden und eine Gestalt finden können; insbesondere Psalmen, Klagelieder, das Hiobbuch bieten Texte, die einen Raum eröffnen für ein Abfließen dieser Gefühle. Gedenken: Dabei soll die Bestattungspredigt bei den Trauernden eine Haltung gegenüber der Lebensgeschichte des Verstorbenen unterstützen, die nicht am vergangenen Leben festhängt, sondern dieses gelebte Leben gewesen sein und – mit allem, was es gewesen ist – gut sein lässt. Und dem Verstorbenen soll die Rechtfertigungsverheißung so zugesagt werden, dass auch er sein Leben gut sein lassen kann. Es ist ein wichtiger Inhalt im Seelsorgegespräch, das die Trauerfeier vorbereitet, dass sich Pfarrer/in und Hinterbliebene darüber verständigen, ob und in welcher Weise es hilfreich ist, dass die Hinterbliebenen im Bestattungsgottesdienst selbst aktiv werden. Hier können Symbole ihren Platz finden, die in intensiver Weise die Lebendigkeit und das unverwechselbare Gesicht des/der
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Hans-Martin Gutmann
Verschiedenen noch einmal vergegenwärtigen. Oft kann es in diesen mit Klärungen und Besorgungen oft randvoll gefüllten Tagen aber hilfreich sein, einmal gerade nicht selbst aktiv werden zu müssen, sondern das an sich geschehen und das sich zusagen zu lassen, was vom Evangelium her an Heilsamen gerade in diesem besonderen Trauerprozess zugesagt werden kann. Segnen und die Auferstehungsverheißung zusagen: Es ist auch für Hinterbliebene hilfreich, wenn diese Sprechhandlungen an die Verstorbenen ausgerichtet werden – und nicht als reflexive Mitteilung über ein Geschehen an die Trauergemeinde. Die Trauernden können Segen und Verheißung auch für sich selbst hören: Eine/r unter ihnen wird der/die nächste sein, der/die dem Verstorbenen folgt: »Der dreieinige Gott + sei dir gnädig im Gericht und schenke dir das ewige Leben.« Du hast jetzt Dein Leben und auch alle Angst-Bilder losgelassen. Dir gilt die Verheißung: Wie Du jetzt zum Leib Christi gehörst, wirst du einmal auferstehen.
Literatur Luther, Martin, Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519), in: Luthers Werke für das christliche Haus, hg. v. W. Kawerau u. a., Sechster Band: Erbauliche Schriften, Braunschweig 1891. Nord, Ilona, Realitäten des Glaubens. Zur virtuellen Dimension christlicher Religiosität, Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs 5, Berlin/New York 2008.
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Annette Haußmann
Emotionen in der Pflege. Die Rolle von Emotionen im Bewältigungsprozess bei pflegenden Angehörigen. Psychologische und praktisch-theologische Perspektiven
Im Laufe eines Lebens gibt es verschiedene Ereignisse, die mit großen Veränderungen verbunden sind. Solche Lebensveränderungen, insbesondere mit hoher Belastung einhergehende Krisenfälle, müssen durch eine Anpassung an die neue Situation verarbeitet und bewältigt werden. Dies geschieht durch eine gedankliche und gefühlsbezogene Auseinandersetzung mit dem Ereignis. Der englische Begriff ›Coping‹ (to cope = mit etwas zurechtkommen, meistern), der auch in der deutschen Forschung gebräuchlich ist, wird hier synonym mit ›Bewältigung‹ verwendet. Emotionen sind in verschiedener Hinsicht in diesen Bewältigungsprozessen bedeutsam. Einerseits kommen sie auf individueller Ebene im Umgang mit eigenen Gefühlen im Sinne einer Emotionsregulation, andererseits in zwischenmenschlichen Beziehungen zum Tragen. Eine dritte Dimension eröffnet sich, wird die Transzendenz im Rahmen religiösen Copings einbezogen. Alle drei Ebenen verschränken sich in komplexen Zusammenhängen miteinander, die hier am Beispiel der Gefühle von Leiden und Mit-Leiden dargelegt werden sollen. Zunächst werden emotionspsychologische Grundaspekte angesprochen, dem schließt sich eine Betrachtung der Bedeutung von Emotionen in Bewältigungsprozessen an, wobei besonders auf Belastungen pflegender Angehöriger eingegangen wird. Als Beispiel für konkrete Emotionen in der Pflege wird auf die Bedeutung von Leiden und Mit-Leiden in der Partnerbeziehung Bezug genommen. Ein Ausblick auf die Anschlussfähigkeit emotions- und religionspsychologischer Forschung für die Praktische Theologie schließt den Beitrag ab. Sowohl die Wahrnehmung des Leidens, das daraus resultierende subjektive Gefühl, wie auch dessen kognitive Bewertung und Deutung wirken sich in der Pflege auf die psychische Belastung aus. Dabei ist die Rolle der Emotionen durchaus ambivalent: Durch Empathie zum Partner induziertes Mit-Leiden motiviert einerseits zu Fürsorge und ruft Gefühle von Nähe und Liebe hervor, kann aber andererseits zu Angst und Traurigkeit und einer gesteigerten Depressivität führen. Für die Seelsorgelehre und die empirische Religionsfor-
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Annette Haußmann
schung innerhalb der Praktischen Theologie können wertvolle Einsichten aus der Coping-Forschung gewonnen werden.
1.
Emotionspsychologische Grundlagen
Die existierende Vielzahl an Emotionstheorien bietet je nach psychologischer Disziplin ebenso vielfältige Definitionsmöglichkeiten. Traditionell sind Motivations-, Kognitions- und Emotionspsychologie eng miteinander verbunden, sie betrachten das Verhalten, Denken und Fühlen nur aus jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln.1 Exemplarisch kann die Definition von Philip Zimbardo und Richard Gerrig als Einstieg weiterführen: Emotion ist demnach »[e]in komplexes Muster körperlicher und mentaler Veränderungen, darunter physiologische Erregung, Gefühle, kognitive Prozesse und Reaktionen im Verhalten als Antwort auf eine Situation«2. Emotion umfasst also Gefühl als subjektives Erleben, kognitive Reaktionen und verhaltensbezogene Elemente. In diesem Emotionskonzept wird die klassische Trias der Ebenen des Verhaltens, Gefühls und Denkens aufeinander bezogen und als miteinander vernetzt verstanden. Gegenüber der Emotion sind die Begriffe »Gefühl«, das subjektives Erleben in den Vordergrund rückt, »Stimmung«, die eine länger anhaltende Gefühlsdisposition bezeichnet und »Affekt«, der eine kurzlebige emotionale Reaktion bezeichnet, abzugrenzen.3 Entwicklungspsychologisch früh entwickeln sich Erkennen und Ausdruck von Emotion im zwischenmenschlichen Zusammenleben. Kinder lernen von ihren Eltern Regeln in Bezug auf die Angemessenheit des emotionalen Ausdrucks und die damit verbundene Gefühlsregulation. Diese Fähigkeit der Familie, emotional angemessen zu reagieren, wird auch als affektive Responsivität bezeichnet. Wie in der Familie mit Gefühlen umgegangen wird, prägt auch die späteren Beziehungen. Lernt ein Kind beispielsweise, dass Gefühle besser unterdrückt und nicht geäußert werden, wird es ihm später eher schwer fallen, über Gefühle zu sprechen. Diese Regeln, ob implizit oder explizit, bewusst oder unbewusst gesetzt bzw. befolgt, haben Auswirkung auf Emotionsregulation, Kommunikation und den Umgang mit Stress und Konflikten.4 Diese frühe Prägung gilt es auch für die Coping-Forschung zu bedenken. Emotionen spielen auch im Bezug auf Identität, Selbstwert und psychische Gesundheit eine wichtige Rolle. Ist das emotionale innere Bezugssystem bei1 2 3 4
Vgl. Rost, Emotionen, 4 f. Zimbardo/Gerrig, Psychologie, 547. Vgl. Sokolowski, Emotion, 299. Vgl. Hülshoff, Emotionen, 245 f.
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Emotionen in der Pflege
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spielsweise durch erhöhte Belastung oder Stress gestört, hat das gravierende Folgen für die Psyche. Affektive Erkrankungen als Störung der Stimmungslage und des subjektiven Gefühls, v. a. Depressionen oder Burn-out, können durch chronische Stressexposition auftreten. In der Klinischen Psychologie kommt den Emotionen daher eine besondere Stellung zu. Im Bemühen um ein Verständnis der Entstehung und Behandlung affektiver Störungen nutzt die kognitive Verhaltenstherapie die Konzepte der kognitiven Bewertungstheorien von Emotion. Sie geht davon aus, dass die negative emotionale Selbst-, Welt- und Zukunftssicht durch Arbeit an den verzerrten Gedankenmustern sowie an der Emotionskompetenz, d. h. bessere emotionale Bewältigung, korrigiert werden kann.5 Noch immer gilt die Aufmerksamkeit der Emotionstheorien der Frage nach dem Verhältnis von Gefühl, Verhalten und Denken. Während William James davon ausging, dass die körperliche Reaktion dem Gefühl vorausgeht6, wird seit der kognitiven Wende in den 1970er Jahren der Verbindung von Denk- und Interpretationsprozessen und Gefühl mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Kognitive Theorien gehen davon aus, dass die körperliche Reaktion erst kognitiv interpretiert ihre jeweilige emotionale Qualität erhält.7 Neuropsychologische Untersuchungen weisen außerdem darauf hin, dass Emotionen auf zwei Weisen entstehen können: einerseits über einen schnellen affektiven Verarbeitungsweg, bei dem keine kognitive Beteiligung stattfindet und eher unbewusste Prozesse wirksam sind, sowie über eine verfeinerte Emotionsverarbeitung, bei der eine kognitive Bewertung, Beurteilung oder auch Revidierung der Emotion stattfindet.8 Lazarus’ Theorie der kognitiven Bewertung geht noch einen Schritt weiter als die frühen kognitiven Theorien, indem die Situation, in der das Gefühl auftritt, einer mehrstufigen Bewertung unterzogen wird. Sein Konzept war sowohl für die Bewältigungsforschung, als auch für die Emotionsforschung ein Meilenstein.
5 Vgl. Hautzinger, Klinische Psychologie, 336 f. 6 Seine prominente These: »Wir sind traurig, weil wir weinen«, James, Principles of Psychology, 450. 7 Z.B. Theorie von Schachter/Singer: »Precisely the same state of physiological arousal could be labelled ›joy‹ or ›fury‹ […] or any of a great diversity of emotional labels depending on the cognitive aspects.« Schachter/Singer, Emotional state, 398; vgl. Sokolowski, Emotion, 297. 8 Sokolowski, Emotion, 327.
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2.
Annette Haußmann
Religiöses Coping im Bewältigungsprozess9
Der Bedeutung von Emotionen kommt im Prozess der Verarbeitung schwieriger Lebensereignisse eine besondere Stellung zu, denn eine plötzliche Veränderung im Leben geht mit hoher Emotionalität einher, die sowohl negativ wie positiv je nach persönlicher Einschätzung des Ereignisses und vorhandenen Ressourcen ausfallen kann. Die Bewältigung schwieriger Lebensereignisse ist ein Prozess, der dazu führt, dass die bisherigen Lebenseinstellungen und -überzeugungen grundlegend hinterfragt und neue Sinndeutungen gesucht werden.10 Bewältigung so verstanden, kann mit dem Religionspsychologen Kenneth Pargament folgendermaßen definiert werden: »Coping is a search for significance in times of stress«11. Die Schwierigkeit der Erforschung von Religiosität in ihrer Wirkung auf den Bewältigungsprozess liegt vor allem darin, dass es sich bei Religiosität um ein multidimensionales Phänomen handelt, das sich in Verhalten, Emotionen und Einstellungen manifestiert, aber auch mit anderen Variablen interagiert und in ihrer Wirkung und Funktionalität differiert. Hier sollen darum einige Konzepte dargelegt werden, die in der Coping-Forschung zentrale Bedeutung erlangt haben. Lazarus’ transaktionales Stressbewältigungsmodell12 weist auf die Funktion kognitiver Bewertung von Stressereignissen hin, die eine wichtige Rolle in der Entstehung von Emotionen spielen. Ein Lebensereignis wird der kognitiven Bewertung in mehreren Schritten unterzogen. Je nach Valenz, Relevanz und persönlicher Bedrohung oder Herausforderung wird das Ereignis im ersten Schritt als Stressfaktor eingestuft. Anschließend findet eine zweite Bewertung statt, in der sich das Individuum Fragen nach den Handlungsmöglichkeiten in der Situation stellt. Zunächst werden die Ressourcen im Sinne von Bewältigungsfähigkeiten überprüft, die der Einzelne hat. Hierunter fallen sowohl soziale und materielle, als auch kognitive und emotionale Ressourcen. Damit konnte die hohe Variabilität von Personen bezüglich ihres Belastungsempfindens erklärt werden13, indem außerdem Persönlichkeitsfaktoren, gelerntes Verhalten und die grundsätzliche Wahrnehmung einer Situation einbezogen wurden. Lazarus unterschied außerdem zwei Varianten des Copings. Zum einen das problembezogene Verhalten als »konkrete Versuche, mit dem Ziel, das bestehende 9 Der Forschungsstand zum religiösen Coping kann hier nur holzschnittartig nachgezeichnet werden. Eine ausführlichere und prägnante Darstellung religiösen Copings findet sich bei: Klein/Lehr, Religiöses Coping. 10 Vgl. Weyel, Suche nach Sinn. 11 Pargament, Religion and Coping, 90. 12 Lazarus/Folkman, Stress, appraisal and coping. 13 Für Personen, die selbst unter hoher objektiver Belastung geringes Stress-Empfinden zeigten, prägte sich der Begriff ›Resilienz‹.
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Emotionen in der Pflege
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Problem zu lösen […] bzw. zu überwinden«14. Dem gegenüber steht das emotionale Coping, das »eine Verringerung der emotionalen Beanspruchung intendiert«15 und das sowohl innere Emotionsregulation sowie soziale emotionale Unterstützung umfasst: »Examples of emotion-focused coping include focusing on positive aspects of the situation, mental or behavioral disengagement, and seeking emotional support from others.«16 Letzteres wird eher dann als Bewältigungsvariante gewählt, wenn Belastungen mit geringer oder keiner Kontrollierbarkeit einhergehen.17 Susan Folkman, eine Mitarbeiterin von Lazarus, erweiterte das Modell um eine dritte Komponente: die sinnbezogene oder bedeutungsorientierte Bewältigung (meaning-based coping)18, wobei verschiedene Quellen der Sinnstiftung in Betracht kommen, darunter auch religiöse oder spirituelle Einstellungen. Emotionale und problemorientierte Bewältigung können nach Folkman nur über einen gewissen Zeitraum, nicht aber über längere Zeit die Belastung senken. Dann müssen Lebensziele und Lebenseinstellungen neu überdacht werden. Diese Form der Bewältigung taucht v. a. in Situationen chronischer Krankheit oder nicht reversibler Veränderungen auf. Im Fall pflegender Angehöriger, die sich auf eine Manifestation der Pflegesituation auf längere Sicht hin einstellen müssen, besonders dann, wenn beide Partner bereits ein höheres Alter erreicht haben, spielt demnach die Neuorientierung und religiöse Bewältigung eine besondere Rolle. Formen des sinnbasierten Copings können dadurch zur psychischen Gesundheit beitragen, »dass sie positive Emotionen generieren können, die zu einer Fortsetzung der Bewältigungsbemühungen motivieren«19. Kenneth Pargament erweiterte das Konzept von Folkman und untersuchte explizit religiöse Copingformen. Seine empirischen Studien legten das Augenmerk auf die ambivalente Rolle der Religiosität in der Bewältigung. Demnach ist den persönlichen Glaubensüberzeugungen keine genuin positive Wirkung zuzuschreiben, sondern die Funktion der Religiosität hängt maßgeblich von Glaubensinhalten und den damit verbundenen Gefühlen ab. Pargament unterscheidet deshalb negatives und positives religiöses Coping. Sowohl verhaltensbezogene Praktiken wie z. B. Gebet und Gottesdienstbesuch, kognitive Einstellungen wie z. B. ein christliches Welt- und Menschenbild, als auch emotionale und motivationale Dimensionen sind unter religiöses Coping zu fassen.20 Darüber hinaus ist noch die soziale Ebene zu nennen, die in Form von sozialer 14 15 16 17 18 19 20
Klein/Lehr, Religiöses Coping, 335. Ebd. Penley u. a., Association of Coping, 552. Vgl. a. a. O. Folkman, Positive psychological states. Klein/Lehr, Religiöses Coping, 336. Vgl. Braam, Religion und Depression, 275.
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Unterstützung in Glaubensgemeinschaften, z. B. in Kirchengemeinden, in Krisensituationen hilfreich sein kann. In der Mehrzahl durchgeführter CopingStudien ließ sich eine positive Wirkung von Religiosität im Sinne einer niedrigeren Depressivität der belasteten Personen feststellen.21 Besonders Vertrauen auf Gott und positive Gefühle in der Gottesbeziehung scheinen dafür entscheidend zu sein.22 Religiosität kann so eine lebensdienliche Bewältigungsressource werden. Auch negative Auswirkungen religiöser Bewältigung müssen jedoch berücksichtigt werden. Religiöse Deutungen können Menschen auch zusätzlich belasten. Beispielsweise kann durch ein negativ verdunkeltes Gottesbild oder die Betonung von Schuld, Sündigkeit und Machtlosigkeit des Menschen depressive Stimmung verstärkt werden.23 Für Pargament lässt sich Religiosität als eine Suche nach Sinn beschreiben: »religion is a search for significance in ways related to the sacred«24. Religiosität wird als anthropologische Grundkonstante verortet, die dem Individuum Orientierung im Blick auf Selbst- und Weltverständnis durch die Beziehung zum Transzendenten, bzw. dem Heiligen, liefert. Theologisch wird die Lebenssinndeutung mit dem Dasein Gottes im menschlichen Leben verbunden: »Dieser Ausgriff auf einen absoluten Sinngrund ist die Präsenz Gottes in den vielfach abbrüchigen Geschichten unseres Lebens. Diese Gottespräsenz gibt uns auch in den Erfahrungen des Absurden und Desaströsen, im Fragmentarischen und im Bewusstsein unserer Endlichkeit diese Gewissheit, auf keinen Fall vergeblich zu leben. Sie spricht sich aus in dem Glauben, dass Gott mit uns ist, auch wenn es gar nicht danach aussieht.«25 Sowohl kognitive Überzeugungen als auch religiöse Gefühle müssen sich letztlich in der konkreten Erfahrung bewähren. Ein Mensch, der Religiosität und Glaube als unterstützend erlebt hat, indem er beispielsweise im sozialen Kontext religiöser Gemeinschaft positive Erfahrungen gemacht hat, kann im Krisenfall leichter auf positive religiöse Bewältigungsstrategien zurückzugreifen. Religiöses Coping kann dann als eine Form der Praxis gelebter Religion verstanden werden, die in soziale Kommunikation, Sozialisation und lebensgeschichtliche Zusammenhänge eingebettet ist und ist deshalb sehr gut anschlussfähig an seelsorgerliche Ansätze, welche – wie dies Wilhelm Gräb im Anschluss an Friedrich Schleiermacher entfaltet hat – die lebensweltlich kontextuierte Frage nach dem Sinn als zentrale religiöse Perspektive identifizieren.26
21 22 23 24 25 26
Vgl. Metaanalyse zu Depressionsstudien von Smith u. a., Religiousness and depression. Vgl. den Beitrag von Birgit Weyel, »…im Himmel gefühlt« in diesem Band. Braam, Religion und Depression. Pargament, Religion and Coping, 32. Gräb, Religion, 64. Vgl. a. a. O.
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Emotionen in der Pflege
3.
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Psychische Belastungen pflegender Angehöriger
Durch eine Krankheit ist nicht nur die kranke Person selbst, sondern auch der soziale Zusammenhang elementar betroffen. Im Fall einer Pflegesituation, die den Betroffenen in einen Zustand der Angewiesenheit auf andere Menschen versetzt27, bricht die Frage auf, wie mit dieser Veränderung von Rollen- und Aufgabenverteilung sowie der erhöhten Stressbelastung umgegangen werden kann. Alle in die Pflege involvierten Personen müssen die Situation gemeinsam bewältigen. Mehr noch als in der individuellen Krankheitsverarbeitung steht damit das Thema der Emotionalität im zwischenmenschlichen Miteinander und der Umgang mit der Krankheit im Familiensystem im Zentrum. Oftmals schmälern die Unsicherheit und Unkontrollierbarkeit der Krankensituation die aktiven problembezogenen Bewältigungsmöglichkeiten zusätzlich, wodurch dem emotionalen und religiösen Coping ein größeres Gewicht zukommt. Studienergebnisse aus den USA weisen darauf hin, dass religiöse Einstellungen und Praktiken Stress und Depression bei pflegenden Angehörigen vermindern können28 und es sind bereits Studien zur unterstützenden Wirkung auf den Verarbeitungsprozess von ›Spiritual Counseling‹ (einer Form der Seelsorge) bei pflegenden Angehörigen vorhanden29. In Deutschland ist religiöses Coping bei pflegenden Angehörigen noch weitgehend unerforscht. Um einen Großteil der pflegebedürftigen Menschen kümmern sich nahestehende Angehörige, meist sind es (Ehe)Partner und Partnerinnen oder Kinder. 76 % davon sind Frauen, die diesen Dienst übernehmen.30 Durch die Pflege sind die Angehörigen einer erhöhten psychischen Belastung ausgesetzt, die durch finanzielle, soziale und körperliche Faktoren noch verstärkt werden kann. Weitere Studien belegen, dass nicht nur die Lebensqualität als eingeschränkt erlebt wird, sondern mehr als die Hälfte der Angehörigen unter psychischen Problemen leidet.31 Affektive Erkrankungen, die mit einer Störung des emotionalen Gleichgewichts eines Menschen einhergehen, gehören zu den weit verbreiteten psychischen Problemen bei Angehörigen. Besonders gehäuft treten unipolare Depressionen, emotionale Anpassungsstörungen und Burnout-Syndrom auf.32 Aufgrund demografischer Veränderungen werden künftig mehr kinderlose Menschen gepflegt werden müssen, so dass diese Aufgabe Menschen 27 Diese Angewiesenheit kann sich je nach Krankheit plötzlich (z. B. bei Schlaganfall) oder über einen längeren Zeitraum (z. B. bei Demenz) entwickeln. Der Bewältigungsprozess ist auch von der zeitlichen Anpassungsmöglichkeit an die Situation abhängig. 28 Choi u. a., Caregiver’s Spirituality. 29 Glueckauf u. a., Spiritual Counseling. 30 Kofahl u. a., In guten wie in schlechten Zeiten. 31 LeBlanc u. a., Caregiver Stress. 32 Z.B. Rainer u. a., Pflegende Angehörige.
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derselben Alterskohorte, meist die (Ehe)Partner, übernehmen müssen.33 Über die Hälfte von Schlaganfall-Pflegenden leidet unter depressiven Symptomen, wobei heterogene Verläufe von Belastung und Depressivität in den wenigen vorhandenen Längsschnittstudien identifiziert wurden.34 Als konkrete Problembereiche geben Angehörige neben der persönlichen, v. a. zeitlichen, Einschränkung und der körperlichen Belastung wie Erschöpfung und Schlafmangel durch die Pflege hauptsächlich emotionale und zwischenmenschliche Schwierigkeiten an. So sind Ängste vor der als unkontrollierbar erlebten Situationsverschlechterung oder einem drohenden Partnerverlust, Schuldgefühle und gereizter oder aggressiver Umgang miteinander häufig genannte belastende Faktoren. Zudem spielt die Beschäftigung mit dem Leiden des anderen eine große Rolle.35 Letzterer Faktor und seine Auswirkungen sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.
4.
Die Bedeutung von Leiden und Mit-Leiden in der Pflege
Gerade in Krisenzeiten wie einer Pflegesituation haben Emotionen für die Bewältigung eine – allerdings ambivalente – Schlüsselfunktion. Eine Forschergruppe aus Pittsburgh hat dem Leiden (suffering) und dem daraus resultierenden Mit-Leiden36 (compassion) des Partners37 besondere Aufmerksamkeit für den Bewältigungsprozess und der psychischer Belastung bzw. dem Depressionsrisiko gewidmet. Für die Bedeutung von Emotionen in der Pflege kann sie als Rahmentheorie fungieren, die für die Zusammenhänge zwischen Kognition, Motivation und Emotion erhellend ist, aber auch die Zwiespältigkeit erlebter und rezipierter Gefühle und ihrer beziehungsinternen Reaktionen aufdecken kann. Die Forscher gehen von der These aus, dass sich Leiden durch Übertragungsphänomene38 auf beide Partner auswirkt und einen weitreichenden Ein33 Kofahl u. a., In guten wie in schlechten Zeiten. 34 Visser-Meily u. a., Psychosocial Functioning. 35 Problembereiche aus der Studie mit Pflegenden von Schlaganfallpatienten von Beische u. a., Problemlöse-Ansatz. 36 Der Begriff ›compassion‹ wird hier mit analog zum Leiden als ›Mit-Leiden‹ wiedergegeben, da er in der Bedeutung zwischen Mitleid und Mitgefühl variiert. Compassion hat aber auch in der christlichen Tradition die Bedeutung von Erbarmen und Barmherzigkeit. 37 Die Forschungsgruppe konzentrierte auf die Partner, aber natürlich spielt Mit-Leiden auch in der Beziehung zwischen allen Familienmitgliedern und Personen, die in die Pflege involviert sind, eine Rolle. 38 Obwohl Anklänge vermutet werden könnten, geht es nicht um Übertragungsphänomene im Sinne psychoanalytischer Konzepte, die das Hineintragen bestimmter lebensgeschichtlich geprägter Erfahrung in eine neue Situation bezeichnen (vgl. Klessmann, Seelsorge, 271), sondern um die Übertragung von Gefühlen bzw. Emotionen zwischen Personen.
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Emotionen in der Pflege
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fluss auf die Bewältigung hat.39 Das vom Pflegebedürftigen empfundene und nach außen kommunizierte Leiden bezüglich seiner Krankheit und Situation umfasst drei Dimensionen: die individuell empfundenen körperlichen Gefühle (z. B. Schmerz), deren psychische Manifestation (z. B. Depression) und die existenzielle bzw. spirituelle Dimension (z. B. Hoffnungslosigkeit), in der das Leid in einen größeren Zusammenhang eingebettet ist. Abhängig davon, auf welche Weise und mit welcher Intensität der Kranke sein Leiden nach außen mitteilt und dieses vom Gegenüber wahrgenommen wird, entsteht Mit-Leiden: Der Pflegende leidet mit und möchte das Leid reduzieren. Schulz u. a. nennen es »a sense of shared suffering, combined with a desire to alleviate or reduce it«40. Die Effekte des Mit-Leidens lassen sich auf emotionaler und motivationaler Ebene verstehen. Auf emotionaler Ebene kann es zu verschiedenen Reaktionen führen: Das beim Pflegenden durch das Mit-Leiden hervorgerufene Gefühl kann ähnlich (Angst als Reaktion auf Angst), komplementär (Liebe als Reaktion auf Angst) oder defensiv (Ärger als Reaktion auf Angst) sein.41 Positive (Liebe, Zuwendung, Nähe) wie negative Gefühle (Angst, Traurigkeit) können gleichermaßen in Folge von Mit-Leiden auftreten. Die Wahrnehmung des Leidens motiviert dann zu altruistischem Hilfeverhalten für den Erkrankten in dem Versuch, das Leiden des anderen aber auch die eigenen negativen Gefühle zu reduzieren. Der Zusammenhang von Leiden des Kranken und Mit-Leiden des Pflegenden ist dabei von Persönlichkeit, familiärer Prägung, Geschlecht42, der Beziehungsnähe und der emotionalen Regulationsfähigkeit der Partner abhängig.43 Nicht nur interindividuell, auch je nach Dauer der Pflege und der Krankheitssituation sind unterschiedliche emotionale Reaktionen denkbar. Damit wird die ambivalente Bedeutung des Mit-Leidens klar : Sowohl positive als auch negative emotionale Reaktionen können daraus entstehen, die sich ihrerseits sowohl auf die Motivation zur Sorge und Pflege als auch auf die psychische Gesundheit des Pflegenden auswirken.44 In einer Langzeitstudie konnte gezeigt werden, dass ein Zusammenhang zwischen wahrgenommenem Leiden des 39 »Importantly, we believe that this direct spread of suffering from one person to another is an understudied pathway that can shed light on the widespread phenomenon that caregiving is deleterious for the caregivers’ psychological and physical health«. Monin/Schulz, Interpersonal Effects, 691. 40 Schulz u. a., Patient Suffering, 6. 41 Vgl. Monin/Schulz, Interpersonal Effects, 686. 42 Frauen nehmen die Emotionen anderer Menschen offenbar intensiver wahr und haben damit ein erhöhtes Risiko für negative Konsequenzen der Pflege. vgl. Monin/Schulz, Interpersonal Effects, 687. 43 Vgl. a. a. O. 44 In der medizinpsychologischen Fachsprache hat sich für ein Burnout im Pflegeberuf auch der Terminus ›compassion fatigue‹ (Mitgefühlserschöpfungssyndrom) eingebürgert. Die ambivalente Bedeutung des Mitgefühls hat also auch in der Reflexion von Professionalität Berücksichtigung gefunden.
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Kranken und der Depressivität der pflegenden Angehörigen besteht: Je stärker das wahrgenommene Leiden des Gepflegten, umso ausgeprägter waren die depressiven Symptome des Pflegenden.45 Es wird vorgeschlagen, den Voraussetzungen der Gefühlsübertragung im Rahmen der Pflege mehr Beachtung zu schenken: »researchers [should] pay attention to which people and in what kinds of relationships people are most vulnerable to emotional contagion.«46 Auch die spirituelle bzw. religiöse Dimension spielt in diesem Modell der Bewältigung eine Rolle: Jede Religion hat ihr eigenes Verständnis von Leiden und seiner Bedeutung für menschliches Leben entwickelt. Gerade im Christentum kommen Leid und Schmerzen und ihrer Einbettung in der Gottesbeziehung eine besondere Stellung zu. Wie Menschen Leid und Leiden verstehen und für sich religiös deuten, wirkt sich sowohl auf die Wahrnehmung des Leidens, als auch auf den Ausdruck und damit auf das Mit-Leiden des Partners aus. Auf der Deutung der Emotion und ihrer Einbindung in einen weltanschaulich-religiösen Rahmen, d. h. der kognitiven Interpretationsleistung des zugrundeliegenden Gefühls47, liegt also innerhalb von Bewältigungsprozessen ein besonderer Schwerpunkt. Mehr noch als in gängigen Thesen zu religiösem Coping wird hier besonders berücksichtigt, dass die religiöse Einstellung interaktive und nicht nur individuelle Effekte hat: »Perceiving that a loved one has lost his or her will to live or faith in religion is likely to be very distressing for caregivers.«48 Gefühlsbezogene Bewältigung ist also dahingehend vergleichbar mit religiöser Bewältigung, dass sie sowohl als Ressource dienen, als auch belastend in der Situation der Pflege sein kann. Die hier gelegten Anknüpfungspunkte für die empirische Religionsforschung in der Praktischen Theologie und die Untersuchungen zum religiösen Coping liegen auf der Hand, wurden aber bisher noch kaum in den Blick genommen. Nicht nur Leid und Mit-Leiden sind Emotionen, die im Bewältigungsprozess Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben, auch andere Gefühle sind, gerade für die Depressionsforschung bei pflegenden Angehörigen, zu berücksichtigen und mit Religiosität und religiösem Coping in Beziehung zu setzen: Induzierte oder erlebte Schuldgefühle, Versöhnungswünsche und Wiedergutmachungsbestrebungen, aber auch Trauer und Erwartung hängen einerseits vom familiären Regelwerk ab, führen andererseits zu mitunter heftigen aggressiven oder depressiven Verstimmungen.49
45 Schulz u. a., Dementia Patient Suffering. 46 Monin/Schulz, Interpersonal Effects, 691 [Hervorhebung im Original]. 47 Vgl. Lazarus’ Modell der transaktionalen Stressbewältigung, in dem der kognitiven Bewertung zentral ist, s. 2. Absatz. 48 Monin/Schulz, Interpersonal Effects, 687. 49 Hülshoff, Emotionen, 246.
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Emotionen in der Pflege
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Praktisch-theologische Implikationen
1. Empirische Religionsforschung: Die in der Coping-Forschung beschriebenen Konzepte sind durchaus anschlussfähig für praktisch-theologische Forschung. Eine Aufnahme und Weiterführung der Ergebnisse ist deshalb wünschenswert, sowohl im Sinne kritischer Reflexion vorhandener Studien und Modelle, als auch durch ergänzende empirische Religionsforschung seitens der Praktischen Theologie. Die sinnvolle praktisch-theologische und seelsorgerliche Rezeption setzt voraus, dass aktiv am interdisziplinären Forschungs-Diskurs teilgenommen wird. Wenn bekannt ist, was pflegende Angehörige in ihrem (religiösen) Bewältigungsverhalten bewegt und emotional antreibt, kann eine fruchtbare Übertragung in die praktische Seelsorgearbeit stattfinden. Grundlagenforschung und theologische Theorie-Arbeit sollten sich andererseits mit Praxisfeldern vernetzen, in denen die seelsorgerliche Arbeit mit pflegenden Angehörigen bereits stattfindet. Im interdisziplinären Wissenschaftsdiskurs gilt es für die Praktische Theologie, christlich-theologische Relevanz und Deutungen zu kommunizieren und das Feld religiösen Copings nicht nur Medizin, Psychologie, Soziologie und anderen empirischen Wissenschaften zu überlassen. Nicht zuletzt eröffnet sich dadurch für die Poimenik die Möglichkeit, »ihren weitgehend selbstverständlichen Bezug auf christliche Religion neu und vertieft zu reflektieren«50. Es lohnt sich, auch über das soziologische Paradigma hinaus, das in der empirisch-theologischen Forschung stärker etabliert ist, Blicke in andere benachbarte Wissenschaften zu werfen und deren Perspektiven zu integrieren. 2. Anschlussmöglichkeiten für die Seelsorge(lehre): Eine Berücksichtigung der Coping-Forschung kann für die Seelsorge und die Seelsorgelehre fruchtbar werden. Die praktisch-theologische Reflexion der dort verwendeten Konzepte und Studienergebnisse kann einen wichtigen Beitrag zur Seelsorgelehre leisten. Laut Morgenthaler gehören zur Seelsorge viele negative Ereignisse, darunter »eine massierte Konfrontation mit menschlichem Leid, mit Krankheit, Sterben, Tod, Abschied, Behinderung Marginalisierung, Gewalt, Ungerechtigkeit und Verelendung«51, mit denen emotional und kognitiv umgegangen werden muss. Seelsorge kann – unter Voraussetzung eines diesbezüglichen Grundverständnisses – Bewältigungsprozess- und Verhalten von belasteten Angehörigen unterstützen. Die Coping-Forschung wird zu Teilen deshalb bereits in manchen Seelsorgelehrbüchern erwähnt und ansatzweise diskutiert.52 In Verbindung mit der systemischen Seelsorge, die die Funktion des Familiensystems und den kommunikativen Zusammenhängen und Strukturen in den Blick nimmt, kön50 Morgenthaler, Pastoralpsychologie. 51 Ders., Seelsorge, 366. 52 Z.B. a. a. O., 172 ff.
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nen sinnvolle Vernetzungen mit der familiären Coping-Forschung53 entstehen. Religiosität kann dann auch in ihrer Rolle und Funktionalität innerhalb des Familiensystems wahrgenommen und berücksichtigt werden. Für Angehörige kann es sehr entlastend sein, wenn in der Seelsorge ein Ort entsteht, in dem Emotionen in ihrer Ambivalenz, zwischen Angst und Trauer, Fürsorge und Liebe, geäußert werden dürfen. Die seelsorgerliche Arbeit mit dieser Ambivalenz kann auch ihrerseits mit der religiösen Erfahrung verknüpft werden: »Die Erfahrung der Angst führt direkt in die Ambivalenz des Glaubens, in die Anfechtung, ohne die religiöse Erfahrung nicht zu haben ist.«54 Aber auch für die seelsorgerliche Beziehung selbst kann der Zusammenhang zwischen Leiden und Mit-Leiden Aufschluss geben. Was sich in emotionalen Reaktionsmustern in Paarbeziehungen zeigt, kann – sicherlich in abgeschwächter bzw. veränderter Form – auch für zwischenmenschliche VertrauensBeziehungen Erhellung bringen. Für die seelsorgerliche Beziehung kann das ambivalente Verhältnis zwischen der Emotion Mit-Leiden bzw. Mit-Gefühl und resultierender Hilfe-Motivation deutlich machen, dass emotionale Involviertheit und Empathie ebenfalls ambivalent betrachtet werden müssen. Einerseits ermöglichen Mit-Leiden und emotionale Beteiligung an Situation und Gefühlen des Gegenübers eine Vertrauens- und Verstehensbasis und schafft die Grundlagen für Kommunikation und Solidarität mit dem Leidenden, evozieren aber für die Person des Seelsorgenden gleichermaßen negative wie positive Emotionen, mit denen umgegangen werden muss. Die Professionalität der Seelsorge legt deshalb nahe, eigene Reflexion auf die Ursache und den Umgang mit Leiden zu betreiben und emotionale Übertragungsphänomene wahrzunehmen. Die Reflexion eigener Emotionalität gehört mit zum Berufsbild und der professionellen Ausübung der Seelsorge. Seelsorgende sind vor eigener Überlastung und schwierigen Lebenssituationen nicht gefeit: »[z]ur Personkompetenz in der Seelsorge gehört es deshalb, sich diese Zusammenhänge in beruflichen Situationen bewusst zu machen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und einen Weg zur Bewältigung entsprechender Schwierigkeiten zu finden.«55 Psychologische Emotionstheorien und -forschung können zur Selbstreflexion und Weiterentwicklung der Seelsorgelehre verhelfen. Ein ambivalentes Mit-Leidens-Konzept schlüsselt für die Seelsorgetheorie die empathische Grundhaltung, die in der Seelsorgetheorie immer wieder betont wird, als komplexes Konstrukt auf. Die Rezeption von Coping-Forschung kann im Kontext der Seelsorge sowohl für den
53 So bieten z. B. familientheoretische Modelle, die Strukturen des familiären Copings untersuchen, und dyadische Coping-Forschung Anknüpfungspunkte zur systemischen Seelsorge. Vgl. z. B. Bodenmann, Dyadic Coping. 54 Klessmann, Seelsorge, 231. 55 Morgenthaler, Seelsorge, 368.
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Seelsorgesuchenden wie den Seelsorger, sowie für die Praxis als auch für die Theorie der Seelsorgelehre wertvolle Einsichten liefern. Durch die Berücksichtigung der religiösen und existenziellen Dimension der Gefühle ist die unmittelbare Verknüpfung von Glaube und Leidensverständnis gesetzt: Religiosität kann einen Rahmen für die Wahrnehmung und die Verarbeitung von Leid, Leiden und anderer Gefühle geben. Im Prozess der Bewältigung und Sinnsuche können mit seelsorgerlicher Unterstützung Ressourcen des christlichen Glaubens (neu) entdeckt werden. Wilhelm Gräb definiert Seelsorge als »paradigmatische[n] Fall einer religiösen Kommunikation, die sich als Praxis lebensgeschichtlicher Sinndeutung vollzieht«56. Religiöses Coping und dessen seelsorgerliche Unterstützung kann im Anschluss daran als eine bestimmte Form dieser religiös-kommunikativen Sinndeutung verstanden werden. Den kognitiven Bewertungsmodellen zufolge geht mit jedem Stressereignis notwendigerweise ein Prozess der Deutung und Sinnsuche einher, der Emotionalität und Kognitionen gleichermaßen einschließt. Nicht zuletzt kann damit der Leitbegriff der lebensgeschichtlichen Sinndeutung in der Seelsorge durch religionspsychologische Coping-Forschung und -Theorien präzisiert werden. Gerade weil die Deutung von Lebensereignissen im Coping eine so entscheidende Rolle spielt, hat die Seelsorge die Aufgabe, religiöse Sinndeutungen und die Suche danach zu unterstützen.
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Annette Haußmann
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Jan Hermelink
Lust und Unlust im Pfarrberuf. Eine Skizze zur Rolle des Gefühls in der Pastoraltheologie
Mustert man die zur Zeit sehr lebhafte Debatte zum Pfarrberuf1 im Blick auf das Thema ›Gefühl‹, so ergibt sich ein erstaunlicher Befund. Während einige Autor/ innen, etwa I. Karle und Chr. Grethlein, aber auch M. Klessmann die spezifischen emotionalen Erfahrungen, die das pastorale Handeln begleiten, allenfalls am Rande zum Thema machen, wird dieser Aspekt bei M. Josuttis oder U. WagnerRau ausführlich und an zentraler Stelle bedacht. Auch die empirische Erforschung des Pfarrberufs fragt seit einiger Zeit nicht nur nach Arbeitszeit und Kontaktdichte der Berufstätigen, sondern auch nach ihrer Zufriedenheit und ihrer emotionalen Belastung2. Erstaunlich ist dieser Befund in zweierlei Hinsicht. Zum Einen wird die pastoraltheologische Debatte, so pointiert Wilhelm Gräb, im gesamten »neuzeitlichen Protestantismus« durch eine »Unsicherheit im Selbstverständnis des evangelischen Pfarrers«, also durch ein berufsspezifisches Selbstgefühl grundiert3 – diese historische Einsicht wird in der gegenwärtigen Gesprächslage nur partiell festgehalten. Und zum Anderen stellt die neuere philosophische Debatte heraus, dass Gefühle nicht allein als gänzlich subjektive Stimmungen (»feelings«) verstanden und auch nicht auf die Motivation zum Handeln reduziert werden können, sondern dass »sie auf etwas in der Welt gerichtet sind und es als in bestimmter Weise seiend repräsentieren«4. Gefühle erschließen die Wirklichkeit in einer spezifischen, subjektiv-evaluativen Weise, die aber doch ein eigentümliches »Wissen über die Welt vermitteln« kann.5 Von daher dürften 1 Aktuelle Überblicke finden sich bei Klessmann, Das Pfarramt und Schneider/Lehnert, Berufen – wozu? 2 Vgl. zuletzt Magaard/Nethöfel, Pastorin und Pastor. 3 Gräb, Die kulturelle Bedeutung, hier 304 f. Ähnlich urteilt auch Rössler, Grundriss, 120 f. 4 Döring, Einleitung, 14. 5 A.a.O., 17. Im Anschluss an den sprachphilosophischen Diskurs, der solche ›welthaltigen‹ Gefühle als Emotionen bezeichnet und diese Differenz auch im alltäglichen Sprachgebrauch findet (vgl. a. a. O., 227ff), gebrauche ich im Folgenden dort, wo es um den Wirklichkeitsbezug geht, »Gefühl« und »Emotion« im Wesentlichen synonym.
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auch die spezifischen Gefühle, die den Pfarrberuf begleiten, nicht allein die unhintergehbare (religiöse) Subjektivität dieser Praxis markieren, sondern jene Gefühle erschließen zugleich die eigentümliche Wirklichkeit des Berufs, sie vermitteln ein spezifisches »Wissen über [seine] Welt«. Diese leitende Vermutung kann hier nur skizzenhaft, an exemplarischen Beiträgen zum Pfarrberuf entfaltet werden. Gefragt wird jeweils danach, welche Gefühle thematisiert und welche Aspekte der beruflichen Wirklichkeit auf diese Weise erschlossen werden. Auf dieser Basis ist dann jeweils – und am Ende zusammenfassend – zu eruieren, was die Thematisierung ›pastoraler Gefühle‹ für die theoretische: die pastoraltheologische Klärung und Orientierung des Berufs zu leisten vermag.
1.
Friedrich D.E. Schleiermacher: Lust und Unlust an der Kirche, Beunruhigung und Klärung des religiösen Gefühls
In seiner »Kurzen Darstellung des theologischen Studiums« leitet Schleiermacher die Leitsätze zur praktischen Theologie, die die konkreten »Regeln« des pastoralen Handelns betreffen, mit einer ganz grundsätzlichen Bemerkung ein: Wie die philosophische Theologie die Gefühle der Lust und Unlust an dem jedesmaligen Zustand der Kirche zum klaren Bewusstsein bringt: so ist es die Aufgabe der praktischen Theologie, die besonnene Tätigkeit, zu welcher sich die mit jenen Gefühlen zusammenhängenden Gemütsbewegungen entwickeln, mit klarem Bewusstsein zu ordnen und zum Ziel zu führen.6
Die pastoralen »Tätigkeiten« werden hier insgesamt durch spezifische Gefühle oder »Gemütsbewegungen« fundiert. Auf diese Weise verankert Schleiermacher das pastorale Handeln einerseits in seiner Theorie der (christlichen) Frömmigkeit als des ›Gefühls der schlechthinnigen Abhängigkeit‹, das sich im christlichen Leben mit je spezifischen ›sinnlichen‹ Gefühlen verbindet, die ihrerseits durch den Gegensatz von Lust und Unlust strukturiert sind. Auch und gerade das pastorale Handeln ist insofern ein religiös bestimmtes Handeln. Das professionelle Handeln der Geistlichen, in dem sich »kirchliches Interesse und wissenschaftlicher Geist vereinigt« finden7, wird dann insbesondere durch die Gefühle bestimmt, die sich auf einen bestimmten Gegenstand richten: auf den »jedesmaligen Zustand der Kirche«. Das pastorale Handeln stellt insofern grundlegend, schon im Hinblick auf sein emotionales Fundament ein kirchliches Handeln dar ; jenes Handeln ist – wie Schleiermacher betont – 6 Schleiermacher, Kurze Darstellung, § 257. 7 A.a.O., § 258.
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durchgehend und in jeder Hinsicht »Kirchenleitung«, und zwar auch insofern, als die pastoralen Akteure durch ihre je eigene, je besondere Freude und ihr Leiden an den kirchlichen Verhältnissen motiviert sind. Die zitierte Grundbestimmung macht andererseits deutlich, dass diese gleichsam ›kirchlichen Gefühle‹ zwar die Theologie, die Theorie der Kirchenleitung fundieren, dass diese Gefühle aber von den einzelnen theologischen Disziplinen doch alsbald reflexiv bearbeitet und transformiert werden: Die philosophische Theologie überführt jene Gefühle in ein »klares Bewusstsein« vom Wesen des Christentums und der (evangelischen) Kirche; und die praktische Theologie ist dann nurmehr an der »besonnenen«, eben durch jene theoretische Arbeit durchgeklärten Tätigkeit interessiert, die sie ihrerseits »zu ordnen und zum Ziel zu führen ist«. Die Gefühle der Lust und Unlust an den kirchlichen Verhältnissen erfahren mithin eine doppelschichtige Bearbeitung; sie erscheinen im Ergebnis nur noch als Motivation, dazu allenfalls als begleitende Stimmung der pastoralen Praxis. Einen eigenständigen, gleichsam präreflexiven Zugang zu den Umständen und Eigenarten jener Praxis stellen die ›kirchlichen Gefühle‹ offenbar nicht dar ; in der Entfaltung der Praktischen Theologie spielen sie darum, so weit ich sehe, für das Berufsverständnis im Ganzen keine entscheidende Rolle. Anders ist dies freilich im Blick auf dasjenige Feld des pastoralen Handelns, in welchem die persönlichen, unvertretbar subjektiven Verhältnisse in besonderer Weise zum Thema werden, nämlich bei der Seelsorge.8 Hier erörtert Schleiermacher zunächst sehr ausführlich, wie die religiöse Freiheit der Einzelnen durch das seelsorgliche Handeln nicht gefährdet, sondern gestärkt werden kann – unter keinen Umständen »darf der Geistliche sein eigenes persönliches Gefühl zu dem des anderen machen«9 : Die eigenen Gefühle des Pfarrers treten zugunsten des »Gemeingefühls« oder der »Persönlichkeit des anderen« programmatisch zurück.10 Emotionen sind in dieser Poimenik also nicht auf der Seite des Geistlichen bedeutsam, sondern vielmehr – in Gestalt eines »beunruhigten religiösen Gefühls« – auf der Seite derer, die seelsorgliche Ansprüche erheben.11 Hier unterscheidet Schleiermacher dann näherhin zwischen einer religiösen Beunruhigung im engeren Sinne, wie sie durch religiöse Zweifel oder »Skrupel« etwa bezüglich der göttlichen Gnade oder der »Lehre von den letzten Dingen« entsteht12, sodann der Verunsicherung durch soziale Beziehungen, etwa Ehestreitigkeiten, und schließlich den seelsorglichen Aufgaben angesichts der Erfahrung von Krankheit, Sterben und Tod. 8 9 10 11 12
Vgl. zum Folgenden Schleiermacher, Die praktische Theologie, 428 ff. A.a.O., 452. A.a.O., 453. Vgl. a. a. O., 447. Vgl. a. a. O., 448 ff.
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Auch bei der Entfaltung der einzelnen seelsorgerlichen Tätigkeiten fällt freilich auf, dass Schleiermacher die pastorale Aufgabe weniger im unmittelbaren Eingehen auf die jeweiligen Gefühle sieht, als vielmehr in deren dialogischer Bearbeitung. Die »Trostgründe« angesichts religiöser Zweifel ergeben sich wesentlich daraus, dass man »den andern in Klarheit über die Sache zu bringen« versucht13 ; die Seelsorge am Kranken- und Sterbebett besteht vor allem darin, »gegen die Superstition zu kämpfen«14, also abergläubische Vorstellungen etwa bezüglich des Krankenabendmahls zu korrigieren. Auch im Blick auf die seelsorgliche Praxis wiederholt sich die Tendenz, ›negative‹ Gefühle der Beunruhigung dadurch zu bearbeiten, dass sie – durch sprachliche Mittel – einer kognitiven Klärung zugeführt werden. Schleiermacher zufolge fördert das pastorale Handeln die religiöse Freiheit und Selbständigkeit der Einzelnen durch eine dialogische Klärung und Differenzierung der vielfältigen, tendenziell verworrenen Gefühle, die der individuellen Frömmigkeit zugrunde liegen. Der Geistliche arbeitet insofern wesentlich an (religiösen) Gefühlen, nicht zuletzt an seinen eigenen Gefühlen der Lust und Unlust an der kirchlichen Situation; und er tut dies so, dass er – für sich selbst wie für andere – die vielfältigen, lebensbestimmenden Gefühle einerseits auf ihren religiösen Grund bezieht und auf diese Weise mit dem christlichen ›Gemeingefühl‹ vermittelt, und dass er die derart qualifizierten Gefühle andererseits dialogisch-reflexiv in ein ›klares Bewusstsein‹ überführt. Einen eigenständigen Zugang zur Wirklichkeit stellen Gefühle für den Pfarrer dann insofern dar, als sie ihm den spezifisch religiösen Charakter seiner beruflichen Aufgabe vor Augen stellen.
2.
Ernst Lange: Beängstigende Freiheit, Überdruss und Vergnügen
Noch vor der programmatischen »Wiederkehr der Pastoraltheologie« (W. Steck) in den 1970er Jahren15 hat Ernst Lange die zeitgenössische »Schwierigkeit, Pfarrer zu sein«, in einigen Aufsätzen äußerst aufschlussreich zum Thema gemacht.16 In diesen Aufsätzen wird die berufliche Erfahrung vielschichtig und differenziert beschrieben, und zwar unter Rekurs auf eine ganze Reihe von Gefühlen: Der pastorale Alltag ist – Lange zufolge – geprägt von Überlastung 13 14 15 16
A.a.O., 450 und 452. A.a.O., 461. Vgl. Steck, Die Wiederkehr; vgl. Rössler, Grundriss, 122 ff. Vgl. zum Folgenden Lange, Predigen als Beruf, bes. 142ff: »Die Schwierigkeit, Pfarrer zu sein« (1972), und 167ff: »Glaube und Anfechtung im Alltag eines Gemeindepfarrers«.
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und Resignation, von Überdruss und Melancholie, von Angst und auch von der »Rebellion des Ich«17. Die Krisen der Frömmigkeit wie der kirchlichen Institution, dazu die alltäglichen Schwierigkeiten, die Lange so sorgfältig wie eindrücklich beschreibt – dies alles kann sich unversehens auswachsen […] zu einem Anfall der Hoffnungslosigkeit, zu einem Gefühl, man sei in diesem Beruf buchstäblich und im übertragenen Sinn von Gott und allen guten Geistern verlassen, zum Verlust von Zuversicht und Gewissheit.18
Langes Aufsätze können gelesen werden als der Versuch, dieses basale, alle einzelnen Tätigkeiten begleitende Gefühl umfassender Überforderung der Pfarrer (und Pfarrerinnen) theoretisch zu bearbeiten. Dabei lassen sich verschiedene Argumentationsstrategien unterscheiden. Zunächst richtet Lange den Blick auf das Verhältnis von kirchlicher Institution und »ihrem Mann vor Ort«, dem einzelnen Pfarrer in der Gemeinde. Dieser »Konflikt in der Vertikalen«19 ist für Lange einerseits bestimmt durch einen stetig, bis zur Absurdität anwachsenden und insofern zutiefst bedrohlichen Katalog von institutionellen Pflichten und Erwartungen – und andererseits durch die Freiheit, die die Institution den Pfarrern lässt und lassen muss, wenn es um die konkrete Erfüllung jener Pflichten bzw. um eine entsprechende Prioritätensetzung geht. Die volkskirchliche Institution, die sich »über sich selbst«, über ihre Aufgaben und Strukturen »nicht klar und vor allem intern nicht einig werden kann«, diese Institution mutet ›ihren‹ Amtsträgern vor Ort daher nichts weniger zu als die »Bedrängnis der Freiheit«20 : ein Gefühl struktureller Überforderung, das auf dem Hintergrund struktureller Offenheit entsteht. Das Gefühl wachsender Verwirrung und Überlastung erklärt Lange sodann mit einem »Konflikt in der Horizontalen«: mit der irreduziblen, auch widersprüchlichen Vielfalt volkskirchlicher Erwartungen.21 Hinsichtlich der verschiedenen »Bezugsgruppen«, denen sich das pastorale Handeln gegenübersieht, fällt auf, wie auch deren »Zumutungen« mit einem sehr emotional gefärbten Vokabular charakterisiert werden. So geht es der volkskirchlichen Mehrheit um »Stabilisierung« und »Vergewisserung«, das vereinskirchliche Segment ist geprägt von vielfältigen Enttäuschungen und »Frustrationen«, und die reformkirchliche Gruppe wird an anderer Stelle prägnant beschrieben als »Versammlung von ernstlich Angefochtenen, mindestens von Beunruhigten«22. 17 18 19 20 21 22
Vgl. Lange, a. a. O., 161ff, 169, 174ff, 182ff – Zitat 176. A.a.O., 162 Vgl. zum Folgenden a. a. O. 145 – 148; dort auch die Zitate. A.a.O., 149. Vgl. etwa a. a. O., 120ff, 150ff; Zitate 150, 152. Ders., Chancen des Alltags, 302 f.
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Es ist offensichtlich, dass die spezifischen Gefühle, die das pastorale Handeln begleiten und prägen, hier auf die Adressaten dieses Handelns projiziert werden – und umgekehrt. Eine weitere Umgangsform mit der emotionalen Belastung des Pfarrers besteht in deren dezidiert religiöser Deutung. Nicht nur hinsichtlich der Predigtarbeit kann Lange davon reden, dass der »Widerstand der Situation« gegen die Verheißung für den Prediger »die Qualität der Anfechtung« annehmen kann23, sondern mit dieser Figur – »eine Situation der Kirche in der Welt, des Glaubens in der Wirklichkeit, die ihn mundtot macht, die ihm seine Gewissheit nimmt, ihn gegenüber sich selbst in Illusionsverdacht bringt«24 – mit diesem Verständnis von Anfechtung deutet Lange auch die Gefühle von Angst und Bedrängnis, Überdruss und Melancholie, die den pastoralen Alltag prägen. Die berufstypischen Gefühle werden zurückgeführt auf die »reformatorische Grunderfahrung vom Sich-Verbergen, vom Verstummen Gottes, von der Krisis aller religiösen Gewissheit, die der Kern der Anfechtung ist«25 ; mit anderen Worten: die spezifische pastorale Emotionalität wird – nicht nur, aber auch – als Gotteserfahrung gedeutet. Von hieraus eröffnen sich für Lange zwei Umgangsweisen mit der pastoralen Gefühlswelt. Zum Einen weist er – unter Rekurs auf Bonhoeffers bekannte Formulierung – darauf hin, dass »die gebotene Ergebung sich heute in einem ungleich stärkeren Maße unter der Gestalt des aktiven Widerstands gegen die Bedingungen unserer Anfechtung vollzieht«26 – von daher können diverse »Instrumente des gebotenen Widerstands« entfaltet werden, etwa eine stärkere Professionalisierung oder eine stärkere Beteiligung der Gemeinde: strukturelle Reformansätze, die gerade nicht an der subjektiv-emotionalen Berufserfahrung ansetzen, sondern an deren institutionellen Bedingungen. Zum Anderen jedoch hält Lange fest: »[N]iemand überwindet Anfechtung durch Aktion, Reform, Innovation.« Daher führen seine Überlegungen schlussendlich in eine theologische Deutung gerade des ›aktiven‹ Umgangs mit der emotionalen Belastung. In der Angst und dem Überdruss, die das Pfarramt prägen, ist auch eine »tiefreichende Solidarität« mit den Leidenden zu erkennen, mit den »Menschen, die zwischen Anfang und Ende Hilfe« und Beistand brauchen.27 Und Lange kann von daher behaupten, dass gerade die strukturelle Offenheit des Pfarrberufs, seine »beängstigende Freiheit« auch eine Erfahrung vom »Vergnügen, Pfarrer zu sein« eröffnet – eben weil in dieser Freiheit die von Gott
23 24 25 26 27
Ders., Zur Aufgabe, 63. Ders., Glaube und Anfechtung, a. a. O., 170. A.a.O., 167. A.a.O., 171.; das folgende Zitat a. a. O., 189. A.a.O., 166.
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selbst zugemutete Freiheit zum Ausdruck kommt, »die eigene Subjektivität als verantwortete Subjektivität« zu gestalten.28 Ernst Langes durchgehender, mitunter enervierender Rekurs auf Gefühle und Gefühlslagen eröffnet der pastoraltheologischen Reflexion dann in mindestens drei Hinsichten einen eigentümlichen Zugang zur Erfahrungswirklichkeit des Berufs: Zum Ersten markieren die Gefühle von Überdruss und Resignation die mitunter ›absurde‹, jedenfalls aber irreduzible Vielfalt der Aufgaben und Erwartungen, mit denen die pastorale Praxis heute umgehen muss. Sodann verweisen jene Gefühle auf die institutionellen Bedingungen, auf die elementare ›Unschlüssigkeit‹ der volkskirchlichen Organisation, die ›ihren Mann [und ihre Frau] vor Ort‹ mitunter in die Verzweiflung treibt. Und schließlich erlaubt die emotionale Beschreibung der Berufserfahrung auch deren pointiert religiöse Deutung: als Widerfahrnis von Anfechtung, als Erfahrung »beängstigender Freiheit, als »Zeugnis […] für das Geschehen von Kreuz und Auferstehung«29.
3.
Manfred Josuttis: Angst, Neid, Schuld – und Lebenslust
In den beiden Bänden »Der Pfarrer ist anders« (1982) und »Der Traum des Theologen« (1988), die programmatisch »die Konfliktzonen der pastoralen Existenz zu erhellen bemüht« sind30, benennt, entfaltet und analysiert Manfred Josuttis eine ganze Fülle unterschiedlicher Gefühle: die Unsicherheit gegenüber der Gemeinde31, den Neid auf Kolleginnen und Kollegen32, Schuldgefühle angesichts eines relativ hohen Einkommens33, aber auch die schwer zu bändigende Lebenslust, die in der pastoralen Sexualität zum Ausdruck kommt34. Auf diese Weise realisiert Josuttis (jedenfalls in den 1980er Jahren) seine Überzeugung, dass die Pastoraltheologie neben historischen, dogmatischen und gesellschaftstheoretischen auch »tiefenpsychologische Konzepte« benötigt, um eine »kritische Reflexion« der Berufswirklichkeit zu leisten.35 In welcher Weise der Rekurs auf Gefühle diese kritische Erhellung befördert, lässt sich etwa an den beiden Kapiteln zeigen, die den pastoralen Umgang mit dem Tod thematisieren. 1982 setzt Josuttis an der pastoralen Erfahrung im Umkreis von Bestattungen an, er analysiert diese Erfahrungen soziologisch und 28 29 30 31 32 33 34 35
A.a.O., 163 f. A.a.O., 166. Josuttis, Der Pfarrer, 26. A.a.O., 59 ff. Ders., Der Traum, 159 ff. Ders., Der Pfarrer, 152 ff. A.a.O., 170 ff. A.a.O., 25.
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vor allem tiefenpsychologisch, nämlich in der Spannung von Todesgewissheit, Unsterblichkeitswahn, Todesfurcht und -sehnsucht; den Abschluss bildet eine Entfaltung des »Bekenntnis[ses] zu dem Gott, der die Toten lebendig macht«, das jene Ambivalenzen und Widersprüche aufnimmt, differenziert und »in Richtung auf Gott transzendiert«36. 1988 werden »vier Erlebnisformen gegenüber der Zukunft« unterschieden: »die Angst, der Wahn, die Sehnsucht und die Hoffnung« – wobei die Hoffnung »jene Balance zwischen positivem und negativen Zukunftserleben [ist], die ein Weiterleben überhaupt erst ermöglicht«37. Und im Weiteren entfaltet Josuttis »die lutherische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium« als ein »kritisches und befreiendes Potenzial«, denn das Gesetz »deckt den Wahn auf«, das Evangelium »tröstet die Ängstlichen«38. Der Rekurs auf die jeweiligen Gefühle, die bestimmte Handlungsfelder begleiten, vor allem aber deren »tiefenpsychologische« Analyse eröffnet einen erheblich vertieften Zugang zu den intra- wie interpsychischen Konflikten, die die pastorale Berufstätigkeit prägen – in ähnlicher Weise entfaltet Josuttis etwa die Ambivalenz von Angst und Aggression in der Predigt oder von Allmachtsund Ohnmachtserfahrung im Pfarrkonvent.39 Gleichwohl bietet die psychologische Analyse doch offenbar nur die Basis, auf der dann Grundfiguren der dogmatischen Überlieferung, vor allem das Schema Gesetz/Evangelium entfaltet und als Handlungsorientierung empfohlen werden. Dieser Überbietungsgestus wird in Josuttis neuerem, ›religionsphänomenologisch‹ fundierten Ansatz noch einmal verstärkt: Hier erscheinen die komplexen pastoralen Gefühlswelten, die berufsspezifischen Erlebnisse, Ängste und Aggressionen jeweils nur noch als vorläufige Abschattung der Begegnung mit einer »transpsychischen« und »transpsychologischen Realität«, die nun ihrerseits als »anziehend und abschreckend, zerstörerisch und beglückend erlebt werden kann«40.
4.
Ulrike Wagner-Rau: Trauer, Schuld, Wut, Scham – und die Lust an der Veränderung
In ihrem neuesten Beitrag »Auf der Schwelle« (2009) nutzt Ulrike Wagner-Rau ihre pastoralpsychologische Expertise, um die Spannung »hoher Druck – wenig Struktur«, in der sie den Pfarrberuf gegenwärtig sieht, auch in ihrer emotionalen Dimension zu entfalten.41 Das »Erleben von Orientierungsnot« und die Angst, 36 37 38 39 40 41
»Der Pfarrer und der Tod«, in: Josuttis, Der Pfarrer, 107 – 127, hier 126 f. »Die Zukunft«, in: Ders., Der Traum, 195 – 213, hier 196, 199. A.a.O., 208 f. A.a.O., 38ff, 158 ff. Ders., Die Einführung, vgl. 121 ff. Vgl. zum Folgenden Wagner-Rau, Auf der Schwelle, 22 ff.
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»nicht zu genügen«, werden von Wagner-Rau konkretisiert im Blick auf die vielfältigen und anspruchsvollen beruflichen Kontakte, auf die seelsorgliche »Begegnung mit dem Leiden und der Angst« und auf den »Druck öffentlicher Rechtfertigung«, unter dem das private Leben steht.42 Und schließlich wird auch die pastorale Gottesbeziehung in der »Spannung von Forderung und Zuwendung«, von Wunsch und Enttäuschung zum Thema: »Auch Pfarrerinnen und Pfarrer müssen immer wieder mit dem Schweigen Gottes zurechtkommen.«43 Ähnlich wie Lange weist Wagner-Rau auf den »schwach strukturierten Rahmen« hin, der als schöne und schwierige Freiheit erlebt werden kann – »[p] sychologisch gesehen gehören Freiheit und Struktur zusammen«; die Psyche braucht ein »spürbares Gegenüber, das Freiraum gibt, aber auch Grenzen setzt«44. In diesem Sinne werden Verfahren wie kollegiale Beratung, Supervision und Selbstreflexion wichtig – und zugleich »das Gebet und andere spirituelle Räume des ›Lassens‹«: die spezifisch religiöse Akzeptanz der pastoralen Emotionalität. Besonders aufmerksam bedenkt Wagner-Rau die Folgen, die der gegenwärtige »Prozess kirchlichen Wandels« für das pastorale Erleben und Handeln hat.45 Detailliert beschreibt sie Sorgen, Trauer, Verunsicherung, »auch Kränkungen und Wut«, Schuld- und Schamgefühle, die sich mit diesem Wandel verbinden – und sie benennt die »Freude an der Veränderung«, die Kreativität und die Lust zu neuem Handeln, die diese Prozesse ebenfalls auslösen: »Es muss Stellen und Projekte geben« für Menschen, »die Lust am Verrückten haben«46. Es ist daher Aufgabe der Kirchenleitung, wechselseitige Entwertung zu verhindern, Neid und Rivalität einzugrenzen und so das »Recht beider Seiten zu hüten«47. Wiederum bemüht sich die Autorin um eine differenzierte Beschreibung der Gefühle, die sich mit der kirchlich-institutionellen Transformation verbinden, wieder fordert sie einen methodischen Umgang mit den Emotionen, und zugleich hält sie fest: »Neid und Konkurrenz […] sind wohl unausweichlich. Was bleibt, als dies wahrzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen?«48 Der durchgehende Rekurs auf die emotionale Dimension ermöglicht es auch Wagner-Rau, die Vielschichtigkeit, die Ambivalenzen und Konflikte der pastoralen Wirklichkeit präzise in den Blick zu bekommen. Besonders deutlich wird, wie sehr die pastoralen Gefühle in der Gegenwart institutionell induziert sind: Ängste, Kränkungen, Wut und Scham entstehen derzeit vor allem im Kontext 42 43 44 45 46 47 48
Zitate a. a. O., 22 – 24. A.a.O., 26. Alle Zitate dieses Absatzes a. a. O., 28. Vgl. zum Folgenden a. a. O., 63 ff. Zum Zitat vgl. den Untertitel des Buches. A.a.O., 70. A.a.O., 66. A.a.O., 70.
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kirchlicher Transformationsprozesse. Auch Wagner-Rau skizziert Verfahren und Methoden, die jene Gefühle strukturieren und begrenzen; deutlicher als andere sieht sie jedoch, dass die emotionalen Erfahrungen, die den Pfarrberuf begleiten, damit nicht zu Verschwinden gebracht werden. Daran ändert auch die religiöse Deutung nichts: Die kirchliche »Kultur von Feier, Klage, Dank und Gotteslob« transzendiert jene pastorale Gefühlswelt nicht, sie ermöglicht aber eine Deutung als geschenkte Freiheit, als Erfahrung der »Mehrstimmigkeit des Lebens« selbst.49
5.
Pfarrer/innen-Befragung in der Nordkirche: Stress, Stolz, Zufriedenheit – und kaum Glaubenszweifel
Seit jeher artikuliert sich die spezifische Wirklichkeit des pastoralen Berufs nicht nur in ausgeführten Pastoraltheologien, sondern auch in einer Fülle von literarischen und (auto-)biographischen Zeugnissen – auch und gerade hier wird die emotionale Dimension jener Wirklichkeit vielfältig zum Thema. Einen neuen Zugang zur pastoralen Erfahrungswelt bieten darüber hinaus seit einigen Jahren landeskirchliche Repräsentativbefragungen, die sich – im Interesse der Institution selbst – den spezifischen Belastungen, aber auch der ›Zufriedenheit‹ der Pfarrer/innen widmen.50 Die Art und Weise, in der hier Gefühle thematisiert werden, sei exemplarisch an der jüngsten Befragung in den drei Kirchen aufgezeigt, die seit 2012 die »Evangelisch-lutherische Kirche in Norddeutschland« bilden.51 Um das akademisch-pastoraltheologische Bild der pastoralen Gefühle zu ergänzen, auch zu korrigieren, sind sowohl die Fragen bedeutsam, wie sie in Zusammenarbeit von Kirchenleitung und Pastorenvertretung ausgearbeitet sind, als auch die Antworten, die die Pfarrer/innen selbst gegeben haben. Was die Fragen angeht, so wird hier versucht, die »Stressfaktoren« (Frage 1.12), den »Erwartungsdruck« (1.16) und die »besonderen Belastungen«52 des Pfarrberufs ebenso sorgfältig zu eruieren wie die Faktoren, die zur beruflichen Zufriedenheit (Frage 9) und zum Selbstbild erfolgreichen Arbeitens (3.2) beitragen. Die Befragung vermeidet also die Fokussierung auf ›negative‹ Gefühle und sie versucht, ähnlich wie die neuere Pastoraltheologie, die pastorale Gefühlswelt so zu differenzieren, dass die Verhältnisse und Umstände deutlich werden, die jeweils eine emotionale Reaktion auslösen. Dabei stehen Fragen nach den finanziellen und den Wohn-Verhältnissen sowie nach dem Eindruck 49 50 51 52
A.a.O., 70 f. Vgl. den Überblick bei Bölts/Nethöfel, Pfarrberuf heute. Vgl. Magaard/Nethöfel, Pastorin und Pastor. Die Befragung fand im Frühjahr 2010 statt. Frage 7.7. – zum Pfarrhaus.
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von kirchlichen Leitungsinstanzen im Vordergrund. Von den vielfältigen, im Einzelnen schwer zu deutenden Ergebnissen der Befragung seien hier lediglich vier Aspekte hervorgehoben. Als »berufliche Stressfaktoren« treten vor allem die »zunehmende Arbeitsverdichtung«, die »Erwartungen meiner Gemeinde/meines Arbeitsfeldes« und die »diffuse Vielfalt der pastoralen Tätigkeiten« hervor.53 Damit bestätigt sich der von Lange bis Wagner-Rau artikulierte Eindruck, dass die unüberschaubare Vielfalt der Erwartungen sowie der zunehmende Leistungsdruck die pastorale Erfahrung zunehmend ›eintrüben‹. Im Blick auf das Pfarrhaus (Frage 7.6) fällt auf, dass es ›nur‹ von einem Drittel der Bewohner/innen als »große Belastung« empfunden wird; diese Belastung resultiert in erster Linie aus der »Schwierigkeit, gleichzeitig Wohneigentum anzuschaffen«, also für die Zeit der Pensionierung vorzusorgen, und aus der finanziellen Belastung54, sodann aus der »sozialen Kontrolle«. Auch an anderen Antwortmustern zeigt sich, dass es nicht zuletzt materielle, das eigene Einkommen bzw. die Ausgaben betreffende Aspekte sind, die das berufliche Selbstgefühl negativ beeinflussen. Umso bedeutsamer ist das – auch in den Vorgängerstudien erzielte – Ergebnis, dass die Pfarrer/innen mit ihrer beruflichen Situation außerordentlich zufrieden sind.55 Des Näheren speist sich diese Zufriedenheit aus der Wahrnehmung des direkten Umfeldes: der Kerngemeinde, der Teilnehmenden an Veranstaltungen, der Familie, auch des Kirchenvorstands – insgesamt »dem Arbeitsklima […] im pastoralen Tätigkeitsfeld«56. Erhebliche Unzufriedenheit lösen dagegen »kirchliche Strukturveränderungen« sowie der »Umgang der Kirchenleitung mit den Pastor/innen« aus (Frage 9.2). Hier bestätigt sich die Vermutung Wagner-Raus, dass inzwischen vor allem die kirchliche Großorganisation und deren Wandel zu einer emotionalen Belastung der Pfarrer/innen geworden sind. Im Horizont der pastoraltheologischen Debatte erscheint schließlich besonders ein Ergebnis so überraschend wie bedenkenswert: Eine emotionale Belastung durch eigene »Glaubenszweifel, meine Glaubensungewissheit« geben nur 9 % der Befragten zu Protokoll; kaum mehr sehen sich durch Glaubens-
53 Frage 1.12. Alle genannten Items erhielten mindestens 50 %, im ersten Fall 64 % Zustimmung. 54 Zustimmung von 68 % bzw. 40 %. Dafür spricht auch die hohe Unzufriedenheit mit der sog. Schönheitsreparaturpauschale, vgl. Frage 9.2. 55 Frage 9.1: 23,6 % sind sehr zufrieden, 47,6 % ziemlich zufrieden; nur 2,3 % sind sehr, 9,3 % ziemlich unzufrieden. 56 Einzelne Ergebnisse zu Frage 9.5. (Wertschätzung, je über 70 %), das Arbeitsklima wird in Frage 9.2 als stärkster Zufriedenheitsfaktor genannt.
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zweifel bei anderen belastet.57 Bedrückend mag das »Fehlen von christlichem Wissen« oder von »religiösem Interesse« bei anderen Menschen wirken – die eigene Gottesbeziehung hingegen scheint bei den befragten Pfarrer/innen weder Angst noch Verunsicherung auszulösen.
6.
Resümee: Die aufschlussreiche Komplexität der pastoralen Gefühlswelt – und die Schwierigkeit ihrer religiösen Deutung
Was leistet die Thematisierung der Gefühle, die das pastorale Handeln begleiten, für die Erhellung der Wirklichkeit des Berufes, auch für seine Orientierung? Vier Hinsichten seien hier genannt; sie alle verdienen breitere und genauere Erforschung. Zunächst illustrieren der theoretische wie der empirische Blick auf die spezifischen Emotionen, die mit dem Pfarrberuf verbunden sind, die hohe Komplexität dieser Berufserfahrung. An den ›pastoralen Gefühlen‹ zeigt sich, wie sich hier subjektive Befindlichkeit und Wahrnehmung der vielfältigen sozialen Wirklichkeit, wie sich Selbstgefühl und die Gefühle anderer Menschen verbinden, die der Pfarrerin begegnen. Es zeigt sich, wie die Erfahrung einzelner Praxisfelder, insbesondere der Seelsorge, mit einer emotionalen ›Färbung‹ der gesamten Praxis, ja der beruflichen ›Existenz‹ zusammengeht. Und nicht zuletzt vermag die Beachtung der Gefühle im Pfarrberuf daran zu erinnern, wie dieser als belastend und vergnüglich, als lustvoll und beängstigend wahrgenommen werden kann. Sodann lässt der Blick auf die emotionalen Komponenten des Pfarrberufs gut erkennen, wie sich die Wirklichkeit dieses Berufs verändert, welche neuen Herausforderungen hier ›empfunden‹ werden, ja sich – vor aller Reflexion – gleichsam ›aufdrängen‹. Dabei fällt dem Kirchentheoretiker besonders ins Auge, wie die bereits von Schleiermacher benannte »Lust und Unlust an dem jedesmaligen Zustand der Kirche« inzwischen das pastorale Gefühlsleben bestimmt. Mehr und mehr sind es die Veränderungen der kirchlichen Struktur, der organisatorischen Rahmenbedingungen ihrer Praxis, mit denen die Pfarrer/innen innerlich beschäftigt sind – und zwar kaum als Quelle der Lust. Werden die Gefühle im Pfarrberuf als eine spezifische Form der Wirklichkeitswahrnehmung ernst genommen, so wie Lange, Josuttis und Wagner-Rau es je auf ihre Weise versuchen, dann ergibt sich weiterhin die Chance, das pastorale Handeln nicht nur anhand kognitiver oder pragmatischer Schemata, sondern in gewisser Weise viel basaler zu strukturieren. Der pastoraltheologische Umgang 57 Frage 2.3. Die im Folgenden genannten Items erhielten 33 % bzw. 40 % Zustimmung.
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mit Gefühlen zeigt sich – seit Schleiermacher – als deren Transformation »zum klaren Bewusstsein«, als deren differenzierte, theoretisch angeleitete Reflexion. Die emotionale Entlastung, die in dieser praktisch-theologischen Strategie liegen mag, ist freilich wesentlich darauf angewiesen, dass die jeweiligen Gefühle genau wahrgenommen, in ihrer Ambivalenz gewürdigt und auch ausgehalten werden – sonst dürfte die theologisch-theoretische Deutung, entgegen ihrer Absicht, eher als Entwertung der unhintergehbar subjektiven Berufserfahrung erscheinen. Eben eine dezidiert religiöse, dann auch theologische Deutung der pastoralen Gefühlswelt scheint allerdings, nicht nur ausweislich der Pfarrerbefragungen, durchaus problematisch. Dass sich gerade in den (Selbst-)Gefühlen der Pfarrer/ innen die Grundlage der eigenen Frömmigkeit artikuliert, wie Schleiermacher es andeutet, dieser enge Konnex von beruflicher Emotionalität und persönlichem Glauben scheint immer schwerer nachzuvollziehen. Lange wie Wagner-Rau müssen für diesen Bezug einen erheblichen Argumentationsaufwand betreiben; und bei Josuttis wird die Emotionalität durch die theologische Deutung zunehmend überformt und marginalisiert. – Und wenn es stimmt, dass die Gefühle, jedenfalls die Gefühle der Unlust im Pfarrberuf sich derzeit nicht zuletzt auf den Wandel der kirchlich-organisatorischen Rahmenbedingungen richten, dann erscheint eine Deutung dringend nötig, die eben diesen Wandel sowohl psychologisch als auch theologisch zu würdigen und in Gefühle der Zufriedenheit (wenn schon nicht der Lust) zu transformieren vermag. So markiert das Thema »Gefühle im Pfarrberuf« schließlich, aber nicht zuletzt ein wichtiges Forschungsfeld zwischen pastoraltheologischer und ekklesiologischer Reflexion, zwischen Praktischer und Systematischer Theologie.
Literatur Bölts, Stefan/Nethöfel, Wolfgang, Pfarrberuf heute. Studien und Befragungen, Berlin 2010. Döring, Sabine A., Allgemeine Einleitung: Philosophie der Gefühle heute, in: Dies. (Hg.), Philosophie der Gefühle, Frankfurt a.M. 2009, 12 – 65. Gräb, Wilhelm, Die kulturelle Bedeutung des religiösen Berufs, in: Ders., Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen. Eine Praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998, 304 – 318. Josuttis, Manfred, Der Pfarrer ist anders. Aspekte einer zeitgenössischen Pastoraltheologie, München 1982. Ders., Der Traum des Theologen. Aspekte einer zeitgenössischen Pastoraltheologie 2, München 1988. Ders., Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität, Gütersloh 1996.
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Klessmann, Michael, Das Pfarramt. Einführung in Grundfragen der Pastoraltheologie, Neukirchen-Vluyn 2012. Lange, Ernst, Chancen des Alltags. Überlegungen zur Funktion des christlichen Gottesdienstes in der Gegenwart, Stuttgart/Gelnhausen 1965. Ders., Predigen als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgik und Pfarramt, hg. v. R. Schloz, München 1982. Ders., Zur Aufgabe christlicher Rede (1968), in: Ders., Predigen als Beruf, a. a. O., 52 – 67. Magaard, Gotthart/Nethöfel, Wolfgang (Hg.), Pastorin und Pastor im Norden. Antworten – Fragen – Perspektiven. Ein Arbeitsbuch zur Befragung der Pastorinnen und Pastoren in der Ev.-Luth. Landeskirche Mecklenburgs, der Nordelbischen Ev.Luth. Kirche und der Pommerschen Ev. Kirche, Berlin 2011. Rössler, Dietrich, Grundriss der Praktischen Theologie, Berlin/New York 1986. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. v. J. Frerichs, SW I/13, Berlin 1850. Ders., Kurze Darstellung des Theologischen Studiums zum Behelf einleitender Vorlesungen, Berlin 21830. Schneider, Nikolaus/Lehnert, Volker A., Berufen – wozu? Zur gegenwärtigen Diskussion um das Pfarrbild in der Evangelischen Kirche, Neukirchen-Vluyn 2009. Steck, Wolfgang, Die Wiederkehr der Pastoraltheologie, in: PTh 70 (1981). Wagner-Rau, Ulricke, Auf der Schwelle. Das Pfarramt im Prozess kirchlichen Wandels, Stuttgart 2009.
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»Wut des Nicht-Verstehens« – Anmerkungen zur Hermeneutik der Gefühle bei Demenz »›A‹ wie Alzheimer, ›A‹ wie Angst. Angst vor dem Verlust von Kompetenzen und dem gewohnten Lebensstil. Angst vor dem Verlust von Körperkontrolle, Autonomie, Selbstachtung und Würde. Vor dem Verlust der eigenen Identität […] Jahre voller Scham und Liebe, Schmerz und Freude. Denn die Gefühle bleiben, auch die guten.«1
Wer mit Demenz zu tun hat, muss sich mit starken Gefühlen in dem weiten Spektrum von bedrohlicher Lebensangst bis zu elementarer vitaler Lebenslust auseinandersetzen. Das gilt für die Betroffenen, die Angehörigen, die Pflegenden, Seelsorgerinnen und Seelsorger sowie für die Wissenschaften verschiedener Provenienz wie Medizin, Pflegewissenschaft und nicht zuletzt die Theologie. Dabei sind neben den im Eingangszitat genannten Gefühlen unbedingt weitere zu berücksichtigen: sinnlicher Genuss auf der einen Seite, Einsamkeit, Schuld, Depression und Trauer auf der anderen und nicht zuletzt die immer wieder thematisierte Wut, die in dynamischer Wechselwirkung bei Betroffenen und Begleitern unter Umständen auch zur Quelle von Aggressionen werden kann.2 Rudi Assauer hat als einer der prominenten Alzheimer-Patienten nach Bekanntwerden seiner Erkrankung für diese Wut als exemplarische Ursachen das Nicht-Verstehen, warum »es so gekommen ist«, und das überwältigende Gefühl der Ohnmacht, nichts gegen den langsamen Verfall unternehmen zu können, genannt.3 Eine solche nicht selten mit Verzweiflung gepaarte »Wut des NichtVerstehens« kann alle, die in Demenzprozesse involviert sind, aus unterschiedlichen Perspektiven erfassen, weil Betroffene in radikaler Weise sich selbst und die Welt nicht mehr verstehen, weil Angehörige den ehemals vertrauten erkrankten Menschen in dem Sich-selbst-und-anderen-fremd-Werden nicht mehr verstehen und dabei auch in ihrem eigenen Selbstverständnis erheblich erschüttert und herausgefordert werden oder weil aus Sicht der professionellen Beschäftigung mit dem Phänomen Demenz, insbesondere der Alzheimer-Demenz, trotz erheblichen Forschungsaufwandes Ursachen und Wirkungszusammenhänge im Kontext von physiologischen Veränderungen im Gehirn und psychosozialen Faktoren immer noch nicht hinreichend verstanden sind, um 1 Lakotta, Die Reise, 9. 2 Im schlimmsten Fall führt diese Spirale dann auch zu Gewalterfahrungen. Vgl. Weissenberger-Leduc/Weiberg, Gewalt und Demenz. 3 Vgl. Osterkorn, Reise, insbes. 41.
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durch therapeutische Interventionen nicht nur Verzögerungen im Krankheitsverlauf zu erreichen oder Symptome zu lindern, sondern heilende Behandlungen zu ermöglichen.4 Schleiermacher hat in seinem berühmten Diktum von der »Wut des Verstehens« in der dritten Rede »Über die Religion« gegen eine rationalistisch verengte Weltbemächtigung Protest eingelegt, die jeglichen Sinn für das nicht in utilitaristischen Nützlichkeitserwägungen Aufgehende wie Kunst und Religion fundamental verstellt.5 Die Grundhaltung dieser Kritik vermag auch die Richtung anzuzeigen, in der der »Wut des Nicht-Verstehens« bei Demenz, die sich gerade angesichts der Grenzen der Leistungsfähigkeit der Rationalität einstellt, begleitend und seelsorgerlich zu begegnen ist. In diesem Sinne gilt es, sich von den Leitbildern der alleinigen Vorherrschaft der Ratio in der Konstitution des Personseins zu verabschieden und stattdessen die grundlegende Bedeutung von Emotionalität und Relationalität für die Kontinuität des Personseins zu entdecken, sich von den einseitig funktionalen Idealen der Nützlichkeits- und Leistungsgesellschaft zu befreien, um mit den Betroffenen das vermeintlich Sinnlose auszuhalten bzw. Sinnhaftes jenseits des kognitiven Kompetenzverlustes festzuhalten, den starken Gefühlen emphatisch zu begegnen und dabei mit den eigenen Gefühlen achtsam umzugehen und nicht zuletzt auch Phantasie, Kreativität und Spiritualität in Anschlag zu bringen, um dem unfassbaren Geschehen Ausdruck zu verleihen. Da Demenz ein vieldimensionaler Prozess ist, erweist es sich für den Verlauf von erheblicher Tragweite, wie die oder der Betroffene bzw. das Umfeld das Geschehen wahrnimmt, »deutet und damit umgeht«6. Dabei sind gerade von den Angehörigen erhebliche psychische Anpassungsleistungen gefordert, damit auch sie durch »positive gedankliche Umbewertung und Akzeptanz der Situation«7 eine emotionale Entlastungsreduktion für sich selbst zu erfahren vermögen, ohne dass bei dem immensen Leid, das Demenz zweifellos verursacht, irgendetwas »schön« geredet werden könnte. Eingedenk dieser Grenzen der Deutung und der Empathie wird dennoch im Folgenden das vielschichtige und vielstimmige hermeneutische Bemühen um das Verstehen dieser Gefühle in den Mittelpunkt gestellt, da sie für das Demenzerleben und seine Bewältigung von so zentraler Bedeutung sind. Dabei sollen auch kulturelle und theologische Deu-
4 Vgl. dazu exemplarisch die Bestandsaufnahme in dem medizinischen Lehrbuch von Wallesch/ Förstl, Demenzen, und dem vor allem für die Pflegewissenschaft ausgerichteten Überblick bei Kastner/Löbach, Handbuch Demenz. 5 Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 252. 6 Willberg/Mildner, Demenz. 7 Wallesch/Förstl, Demenzen, 384.
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tungsmuster mit in den Blick genommen werden8, die das individuelle Erleben in umfassendere Horizonte des Verstehens von Menschsein einzeichnen. Das ist auch deshalb bedeutsam, weil sich die »Konstitution der Gefühle […] in einem bestimmten Sinne als Konstitution der Erkenntnis der Gefühle«9 begreifen lässt und von daher sich wandelnde kulturelle Einstellungen zur Demenz auch zu einer veränderten Wahrnehmung ihrer Äußerungsformen inklusive ihrer besonderen Gefühlssprache führen können. In dem gegebenen Rahmen können diesbezüglich allerdings nur exemplarische Akzente gesetzt werden, die auf die umfängliche Forschungsliteratur verwiesen bleiben.10
1.
Gefühle (bei Demenz) verstehen
Gefühle verstehen sich nicht von selbst, sondern sind ihrerseits in ihrem Zustandekommen und ihren Kommunikationsbedingungen deutungsbedürftig bzw. schon immer in vielfältige Deutungsprozesse verwoben. Davon zeugen die verschiedenen Theorien, die Gefühle im Spannungsfeld von Biologie, Hirnphysiologie, Medizin, Philosophie und Psychologie zu verstehen suchen. Das Verstehen der Gefühle bei Demenz partizipiert in unterschiedlicher Form an dieser Vielfalt der Zugänge. Dabei sollen Gefühle im Folgenden im Sinne subjektiver Wahrnehmung als »bewusste seelische Regung«11 verstanden werden, die in Verbindung von Körperempfindungen und Bewertungen das Individuum erleben lassen, dass es »in etwas involviert«12 ist. Der Sachverhalt, dass die Gefühle jenseits des Verlustes der kognitiven Kompetenzen in der Regel bis zum Schluss der Demenzerkrankung erhalten bleiben, verdankt sich wohl vor allem dem besonderen Aufbau des Gehirns. Während Sprache, Kognition und wesentliche Teile des Kurz- und Langzeitgedächtnisses in Arealen des Großhirns angesiedelt sind, die von der Zerstörung der Neuronen zuerst betroffen sind, haben die Gefühle weitgehend im evolutionär älteren und tiefer liegenden limbischen System ihren Ort, wo z. B. bewertet wird, ob eine Empfindung »behaglich oder unbehaglich, positiv oder negativ ist«13. Trotz dieser vorrangigen Lokalisation des Gefühlszentrums im 8 Zum Eingebettetsein der Deutungen und Wertungen von Gefühlen in kulturelle Semantiken und Grammatiken vgl. z. B. Landweer, Verständigung, 82. 9 Hastedt, Gefühle, 77. 10 Für den praktisch-theologischen Diskurs relevant sind vor allem die beiden Grundlagenwerke, die ihrerseits den Forschungsstand umfänglich aufarbeiten: Fröchtling, »Und dann habe ich…« und Roy, Demenz. 11 Galliker, Psychologie, 16. 12 Heller, Theorie der Gefühle, 19. 13 Galliker, Psychologie, 44.
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limbischen System sind jedoch auch viele andere Stellen im Gehirn am Zustandekommen der Gefühle beteiligt, so dass man trotz einer Trennung des emotionalen vom kognitiven Bereich keine vollständige Isolation beider annehmen kann: »Gefühl und Verstand bilden ein Paar, das in seiner Grenzziehung aufeinander verwiesen ist.«14 Von daher gibt es auch im Demenzprozess Kopplungen von Gefühlen und Wertungen, die kognitive Anteile mit einbeziehen. Durch die zunehmend nicht mehr funktionierenden Neuronenverbindungen entstehen jedoch auch für die Betroffenen und Angehörigen überraschende Verbindungen, die u. a. auch zu Panikattacken infolge von Wahnbildern und Halluzinationen führen können. Der Geist schafft sich auch sonst nicht materielle intentionale Objekte, auf die sich Gefühle richten können, aber im Verlauf einer Demenz können sich diese intentionalen Objekte in besonderer Weise in den illusionären Bereich verschieben, sodass die zustande kommenden Emotionen bezüglich ihres Objektes »unrichtige«15 Überzeugungen haben können. Dieses komplexe Wechselverhältnis wird für den Verlauf der Demenz z. B. an folgendem Bild eines geschichteten Regalsystems deutlich: Emotionale Erinnerungen bleiben wesentlich länger erhalten als das reine Zeit- und Faktengedächtnis, denn ›the emotional flavor of events and impressions can be stored and recalled much longer‹ […]. Auf seine Weise ist das emotionale Buchregal akkurat. […] Dies führt dazu, dass Menschen Gegenwärtiges auf dem Gefühlshintergrund der Vergangenheit erleben und deuten. In den behavioural stages 3 und 4 benötigt das emotionale Buchregal dann die Unterstützung eines sensorischen Buchregals, um Zugänge aufrechtzuerhalten. Hier betont Jones […] die besondere Bedeutung von Regalen gefüllt mit Gerüchen, mit Tasterlebnissen, mit Berührungserfahrungen, mit Gehörtem und Gesehenem.16
Die Verschiebungen im Verhältnis von Kognition, Emotion und Sensorik können sowohl als Verstörung als auch als Chance zum Aufrechterhalten der Kommunikation im Demenzverlauf erfahren werden. So kann im frühen und mittleren Stadium gerade die Konzentration auf die emotionalen Kompetenzen zu einer Stützung des Selbstwertgefühls der Betroffenen führen, wie folgende Selbstaussage zeigt, die von entsprechenden Einsichten der Forschung gestützt wird: »[M]an entwickelt eine sehr feine Ader für die Gefühlswelt. Auch wenn ich nicht alles genau verstehe, was Sie mir sagen – gefühlsmäßig ist es klar. Sie kommen rein, ich gucke Sie mir an, und ich weiß, wie es Ihnen geht.«17 Angesichts solcher Selbstwahrnehmungen, die zeigen, 14 15 16 17
Hastedt, Gefühle, 87. Vgl. zu den Grundlagen dieser Interpretation Lyons, Emotion, insbes. 98. Fröchtling, »Und dann habe ich…«, 97. Lakotta, »Ich bin ja noch ich«, 38. Vgl. zu dieser Sensibilität auch Klessmann, Wenn Eltern Kinder werden, 37, 45, 50.
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dass Menschen in der Demenz an emotionaler Ausdrucksfähigkeit gewonnen haben, so als hätten sie durch die Auflösung ihres (kognitiv begründeten) Selbstkonzeptes einen besseren Zugang zu ihrem eigenen organismischen Erleben gefunden [,]
ist es erstaunlich, wie wenig Studien man »der emotionalen Lebensqualität von Dementen gewidmet hat«18. Bei weiterem Fortschreiten des kognitiven Abbaus lässt sich dann jedoch das gegenwärtige emotionale Erleben bei Dementen nicht mehr sicher dem jeweils involvierenden Etwas zuordnen, weil in Überblendungen von Vergangenheit und Gegenwart Verknüpfungen von gegenwärtigen Reizen mit z. T. weit zurückliegenden Erinnerungen, u. U. auch traumatischen, hergestellt werden, die dann die Gefühle von damals ganz gegenwärtig sein lassen. In der Kommunikation mit Dementen19 kommt es in dieser Phase vor allem darauf an, den jeweiligen Gefühlszustand durch »leibliche Resonanz«20 aufzunehmen und zu spiegeln sowie zu versuchen, den zunächst unverständlichen Ursachen und Verknüpfungen der wahrnehmbaren Gefühle emphatisch verstehend nachzugehen. Im Anschluss an das obige Bild könnte man auch sagen: Vom noch akkuraten Regal der Emotionen müssen die Bezüge zu den zusammengestürzten Regalen der Kognition und Erinnerung so weit wie möglich durch Bezüge auf Bekanntes der Biographie und Versatzstücke der Selbstnarrationen, wie sie eben noch geäußert werden können, hergestellt werden, wobei die Verarbeitung der Emotionen selbst im Zentrum steht. Der Betreuer muss »Einblick in die Wahrnehmungswelt des Menschen mit Demenz gewinnen und zu begreifen suchen, wie dieser seine Realität deutet«21. Diese Grundhaltungen sind insbesondere im Gefolge personzentrierter Psychotherapie, wie sie im Ausgang von Carl Rogers humanistischer Psychologie entfaltet worden ist, in verschiedene Pflegekonzepte bei Demenz eingegangen, so z. B. in die Validationstherapie nach Naomi Feil22 oder das Demenzpflegemodell nach Tom Kitwood23. Der bleibende Respekt vor der Subjektivität des dementen Menschen, die persönliche Wertschätzung und das emotionale Wohlergehen stehen dabei im Zentrum. Denn auch in seiner Krankheit und in der spezifischen Weise, wie der Einzelne sich emotional in ihr zeigt und zu ihr verhält, wird seine unverwechselbare Persönlichkeit erkennbar, auch wenn kein reflexives kognitives Selbstverhältnis mehr artikuliert werden kann. Feil und Kitwood verwehren sich gegen das Bild, der Demente höre auf, Person zu sein und könne nur noch als leere Körperhülle 18 19 20 21 22 23
Hier und zuvor: Morton, Die Würde wahren, 30 f. Vgl. Haberstroh/Neumeyer/Pantel, Kommunikation. Vgl. Landweer, Verständigung, 83 – 86. Morton, Die Würde wahren, 30. Feil, Validation. Z.B. Kidwood, Demenz.
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betrachtet werden.24 Dagegen wird vor allem von Kitwood der relationale Aspekt des Selbstseins betont. So wie sich das Subjekt ursprünglich im Austausch mit anderen ausbildet, erhält es sich auch in diesem Austausch. Die Dementen verlieren ihre »Bedürfnisse nach Bindung, Trost, Identität, Beschäftigung und Einbeziehung in eine Gruppe«25 nicht, sind aber zunehmend darauf angewiesen, dass andere diese stützenden Beziehungen zu ihnen aufrechterhalten, wobei vertraute primäre Bezugspersonen von zentraler Bedeutung sind. Im Prozess der Begleitung geht es nach Kitwood um Anerkennen, Verhandeln, Zusammenarbeiten, Spielen, Timalation (sinnliche Stimulierung), Feiern, Entspannen, Validation, Halten und Erleichtern.26 Im Spätstadium wird es schließlich immer wichtiger, die Kommunikation über non-verbale Wege aufrecht zu erhalten. Noch einmal im Sinne des Regalbildes gesprochen: Jetzt braucht das emotionale Regal selbst Stützung durch sinnliche Anregungen und Repräsentationen sowie Bewegungsmuster, die Erinnerungen und Gefühle aufbewahren. Diese Kanäle müssen den Zugang zu den Emotionen selbst offen halten. Wenn man sich emotionale Schemata nach Elliot zusammengesetzt denkt aus symbolischen, perzeptiven, körperlichen und motivationalen Elementen27, dann kann man wohl im Spätstadium der Demenz vermuten, dass sich das emotionale Erleben immer stärker auf das Element des Leiblichen, d. h. die unmittelbaren Körperempfindungen und ihren Ausdruck konzentriert. Man kann auch sagen, dass »das leibliche Sein das zentrale Erlebens- und Orientierungsorgan«28 bleibt und dass sich »durch das Leibgedächtnis […] die Kontinuität des menschlichen Daseins«29 vermittelt. Deshalb bleiben die Berührungen bis zum Schluss das wichtigste Kommunikationsmittel.
24 Vgl. Morton, Die Würde wahren, 139. 25 A.a.O., 153; vgl. zur Relationalität nach Kitwood dort auch 140 f. Es ließen sich in diesem Kontext auch interessante Bezüge zum Pyramidenmodell der Bedürfnisse nach Maslow herstellen, wonach Sicherheitsbedürfnisse, Bindungsbedürfnisse und Selbstachtungsbedürfnisse für den menschlichen Gefühlshaushalt zentral sind und aufeinander aufbauen. Vgl. Galliker, Psychologie der Gefühle, 193 – 195. 26 Vgl. Kitwood, Demenz, 174 f. und die erläuternde Zusammenfassung dazu bei Morton, Die Würde wahren, 163. 27 Vgl. Galliker, Psychologie der Gefühle, 234 f. 28 Roy, Demenz, im Manuskript 185. 29 A.a.O., 186.
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Wut des Nicht-Verstehens
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Literarisch-kulturelle und theologisch-hermeneutische Deutungen der Emotionalität bei Demenz
Demenz kann nicht nur als Symbolkrankheit der alternden Gesellschaft begriffen werden30, sondern sie verlangt aufgrund ihrer Bedrohlichkeit für das Selbstverständnis des Menschen selbst nach symbolischer Bearbeitung. Deshalb hat sie »Konjunktur im westlichen Kulturbetrieb. […] Das Problem ist interessant, ungelöst zudem; es spukt durch die Köpfe, verlangt nach Bearbeitung, und die Künstler nehmen die Herausforderung an.«31 Neben den Romanen und Erzählungen, die die Möglichkeitsräume der Fiktion nutzen, um die existentielle Wucht der Erkrankung intensiv zum Ausdruck zu bringen32, sind vor allem diejenigen Autoren interessant, die selbst direkte Erfahrungen mit der Demenzerkrankung verarbeiten, um sie dann in überindividuelle Deutungshorizonte einzustellen. Im Folgenden sollen von daher in knapper Form Jonathan Franzen33, Tilman Jens34 und Arno Geiger35 herangezogen werden, die im Spannungsfeld von Liebe, Enttäuschung und dem Ringen um eine neue Beziehung zu ihrem demenzkranken Vater exemplarisch zeigen, dass Demenz nicht nur den Betroffenen verändert, sondern auch veränderte Sicht- und Verstehensweisen der Begleiter von sich selbst und der Gesellschaft, in der sie leben, hervorbringt.
2.1.
Narrative und metaphorische Verdichtungen der Emotionalität
Jonathan Franzen hat besonders eindrücklich betont, wie die Erfahrung der Demenzerkrankung des Vaters ihn zur Sinnsuche anregt und in die Narration treibt: »Unablässig suche ich nach einem Sinn in den zwei Jahren, die auf den Verlust seines vermeintlichen ›Ich‹ folgten, und unablässig finde ich ihn.«36 Vieles kommt dabei auf die feine Wahrnehmung von Mimik, Gestik und Körperhaltung an, auf den liebenden Blick, der die Fähigkeit der Zuschreibung von vollgültigem Personsein wider den Augenschein verleiht:
30 So Lakotta, Die Reise, 11. 31 Stock, Vergessen erzählen, in: http://www.zeit.de/2008/16/Alzheimer (Zugriff am 4. 3. 2013). 32 Vgl. z. B. ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Suter, Small World; Franzen, Die Korrekturen; Hagena, Der Geschmack; Block, Wie ich mich einmal in alles verliebte; Obermüller, Es schneit. 33 Franzen, Das Gehirn, 61. 34 Jens, Demenz. 35 Geiger, Der alte König. 36 Franzen, Das Gehirn, 61.
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Selbst als die verbleibenden Teile seines Ichs noch kleiner und fragmentierter wurden, betrachtete ich ihn weiterhin hartnäckig als ein Ganzes. Noch immer liebte ich, ganz spezifisch und individuell, den Mann, der da in dem Bett gähnte. Und wie konnte ich aus dieser Liebe nicht Geschichten bilden – Geschichten eines Mannes, dessen Wille intakt genug geblieben war, dass er das Gesicht wegdrehte, wenn ich versuchte, ihm den Mund mit einem feuchten Lappen abzuwischen.37
Die Geschichten, die der Sohn von seinem Vater erzählt, rücken in die Leerstellen ein, die der Vater selbst nicht mehr füllen kann. Imaginationskraft ist gefordert, um dem Gegenüber das narrative Selbst zuzuspielen und zu sichern. Dabei kommt es in der Kombination aus den Versatzstücken der eigenen Wahrnehmung und den Selbsterzählungen des anderen bzw. den Erzählungen anderer über ihn zu Neu- und Umdeutungen dieses Lebens, die in vielen Fällen zugleich zur Neuordnung der eigenen narrativen Identität zwingen. Wie schmerzhaft ein solches Neuerzählen im Zuge der Wahrnehmungstransformationen durch die Demenz sein kann, führt Tilman Jens vor. Seine Beschreibungen und Deutungen, die er dieser Erkrankung beimisst, sind zunächst von einer spezifischen »Wut des Nicht-Verstehens« gekennzeichnet, die Vater und Sohn je unterschiedlich erfasst. Dabei werden bei Jens in sehr nachdrücklicher Weise die Emotionen des Vaters und insbesondere ihr körperlicher Ausdruck selbst zum Thema. Wut und Verzweiflung spielen eine exemplarische Rolle: Manchmal aber wird er wütend, presst eine schmerzverzerrte Grimasse ins schmal gewordene Gesicht. Er ballt die Fäuste, noch einmal ein Aufbäumen der Vitalität. Er schreit, haut und spuckt um sich. Die Verzweiflung mobilisiert ungeahnte Kräfte.38
Vor allem jedoch werden Schmerz und Ohnmacht auf Seiten des Sohnes deutlich, der sich ganz neu und anders zu seinem Vater ins Verhältnis setzen muss. Wie problematisch und riskant dann allerdings die Hermeneutik im Sinne des Verstehenwollens auch werden kann, wird ersichtlich, wenn der Sohn dem Demenzgeschehen weitreichende, generalisierende Deutungen zuschreibt. Denn Tilman Jens arbeitet sich nicht nur an dem ehemaligen Über-Ich des Vaters ab, das sich in dessen Arbeitsaskese, in seinem Bildungsideal und in der zentralen Bedeutung der Sprache im Kontext von Autonomie und Wertschätzung manifestiert hat und nun in der Krankheit quasi ad absurdum geführt wird und damit in eins das Selbstbild des Vaters überhaupt, sondern er muss auch die immense Enttäuschung verarbeiten, dass sein Vater, der sich als konsequenter Demokrat und Pazifist verstand, als Querdenker und integrer Wissenschaftler, sich vorgeblich nicht an eine Mitgliedschaft in der NSDAP erinnern kann und einen 37 A.a.O., 63. 38 Jens, Demenz, 10.
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Aufsatz aus der eigenen Frühzeit verdrängt hat, der mit NS-Vokabular gespickt war. Jenseits der nachvollziehbaren Absicht, diese Enttäuschung zu ver- und bearbeiten, die in doppelsinniger Weise einen Abschied vom Vater bedeutet, geht der Sohn aber noch einen Schritt weiter, indem er die Demenz quasi direkt als Folge und als Reaktion auf dieses Nicht-Erinnern-Wollen und auf diese Verdrängungsprozesse interpretiert. Alzheimer wird zu einer Deutung der Verfassung der Nachkriegsgeneration. Der darin enthaltene Kurzschluss jedoch ist übergriffig, weil hier eine Deutungsmacht ins Spiel kommt, gegen die sich der Betroffene nicht mehr wehren kann: »Mit 80 Jahren flüchtet mein aufrechter Vater in ein ach-so-deutsches Doppelleben.«39 Dieses unhintergehbare Problem der Zuschreibung und ihrer Grenzen gilt es in jeder Hinsicht kritisch mit zu bedenken, wenn Bilder und Deutungen in fiktionalem und biographischem Rahmen zur Verarbeitung der Demenz herangezogen werden. Schließlich sind es jedoch gerade die sich verändernden Emotionen und »Wertungen« des Vaters selbst, die den Weg zu einer Neuwahrnehmung jenseits des Gefühls des Scheiterns erlauben: Jetzt, da er fort ist, habe ich einen ganz anderen Vater entdeckt, einen kreatürlichen Vater – einen Vater, der einfach nur lacht, wenn er mich sieht, der sehr viel weint und sich Minuten später über ein Stück Kuchen, ein Glas Kirschsaft freuen kann.40
Tilmann Jens ist froh, dass er dem lange drohenden Wunsch des Vaters nach Selbsttötung im Falle eines Autonomieverlustes nicht nachkommen muss, weil dieser zögert, den eigenen »Thesen über ein menschenwürdiges Sterben zu folgen«41 – Aber schön ist es doch! Ein tiefer Seufzer. Dann fallen ihm die Augen zu. […] [A]ber schön ist es doch. Redet so einer, der zum Sterben entschlossen ist? […] Ein Zwar-istes-schrecklich-aber-schön-ist-es-manchmal-noch-immer ist keine Grundlage, um einen schwerkranken Mann aus der Welt zu schaffen.42
Anders als Jens zieht Arno Geiger die Demenzerkrankung nicht zur Analyse der Verfasstheit der Nachkriegsgeneration heran, sondern deutet vielmehr die spätmoderne Gegenwartskultur allgemein in ihrem Spiegel: Alzheimer ist eine Krankheit, die, wie jeder bedeutende Gegenstand, auch Aussagen über anderes als nur über sich selbst macht. Menschliche Eigenschaften und gesellschaftliche Befindlichkeiten spiegeln sich in dieser Krankheit wie in einem Vergrößerungsglas… Der Überblick ist verloren gegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr
39 40 41 42
A.a.O., 71. A.a.O., 140. A.a.O., 130. A.a.O., 132 f.
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überschaubar, pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme und Zukunftsängste. Von Alzheimer reden heißt, von der Krankheit des Jahrhunderts reden.43
Geiger demonstriert damit, wie im Reden über die Demenz der je eigene Sinngrund immer mit fraglich wird. Es gilt zu lernen, »dass man für das Leben eines an Demenz erkrankten Menschen neue Maßstäbe braucht.«44 Für Geiger ist es die Notwendigkeit zu lernen, was auch in der personzentrierten Pflege zentral ist, nämlich sich mit Hilfe der Phantasie und Empathie wertschätzend in den Vater zu versetzen: »Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm.«45 Der Sohn wandert in die Welt des Vaters, wird zu seinem Reisebegleiter im Möglichkeitsraum der verschobenen Bedeutungen in der dementiellen Überlagerung von Vergangenheit und Gegenwart und eröffnet dem Vater damit wieder Fenster zur Realität, durch die er mittels des physiologischen Ausdrucks seines realen Wohlbefindens schaut: Der tägliche Umgang mit ihm glich jetzt immer öfter einem Leben in der Fiktion. Wir richteten uns in all den Erinnerungslücken, Wahnvorstellungen und Hilfskonstruktionen ein, mit denen sein Verstand sich gegen das Unverständliche und die Halluzinationen wappnete. Der einzig verbliebene Platz für ein Miteinander, das sich lohnte, war die Welt, wie der Vater sie wahrnahm. […] So schlugen wir einen Weg ein, der von der nüchternen Wirklichkeit wegführte und über Umwege zur Wirklichkeit zurückkehrte. […] Das freute ihn. Er strahlte und nickte. Das Nicken und Strahlen waren die Rückkehr zur Wirklichkeit. Die objektive Wahrheit kam oft unter die Räder, es kümmerte mich nicht, denn sie war wertlos. Gleichzeitig gewann ich zunehmend Freude daran, wenn meine Erklärungen in das Reich der Fiktion abgleiten durften, es gab dabei nur den einen Maßstab: Je beruhigender für den Vater, desto besser.46
Geiger hat im Rahmen seiner hermeneutischen Bemühungen vor allem das auch in der Fachliteratur oft beschriebene Phänomen der empfundenen Entortung, der Heimatlosigkeit, bzw. der unstillbaren Sehnsucht nach einem Zuhause als Symbol für den Verlust an Sicherheit und Geborgenheit zum Ausdruck gebracht: Wenn er sagte, dass er nach Hause gehe, richtete sich diese Absicht in Wahrheit nicht gegen den Ort, von dem er weg wollte, sondern gegen die Situation, in der er sich fremd und unglücklich fühlte […] Mit der Krankheit nahm er die Unmöglichkeit, sich geborgen zu fühlen, an den Fußsohlen mit […] Und seine Familie konnte täglich beobachten, was Heimweh ist… Und erst Jahre später begriff ich, dass der Wunsch, nach Hause zu gehen, etwas zutiefst Menschliches enthält. Spontan vollzog der Vater, was die Menschheit vollzogen hatte: Als Heilmittel gegen ein erschreckendes, nicht zu enträtselndes Leben hatte er einen Ort bezeichnet, an dem Geborgenheit möglich sein 43 44 45 46
Geiger, Der alte König, 58. A.a.O., 11. Ebd. A.a.O., 117 f.
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würde, wenn er ihn erreichte. Diesen Ort des Trostes nannte der Vater Zuhause, der Gläubige nennt ihn Himmelreich.47
Metaphern spielen eine große Rolle, um das nicht Darstellbare darstellbar zu machen. Die Betroffenen selbst lassen auf semantischer Ebene in der Frühphase eine Metaphorisierung der Sprache erkennen,48 um insbesondere die Gefühle des Verlustes und der Angst zu bezeichnen. So äußert eine Betroffene nach der gestellten Diagnose: In der Sekunde hatte ich ein Bild vor Augen: ein Loch. Das Salzbergwerk in Berchtesgaden. Da falle ich hinein. Immer wieder sehe ich vor mir Stufen, ich will sie nach oben gehen, aber ich gehe sie nach unten, und dann ist da nichts. Nur Dunkel. Und dann kommt diese Angst.49
Ebenso sind diejenigen, die das Geschehen begleiten, auf Bilder der Deutung angewiesen. So finden sich in der Literatur Naturmetaphern für die kognitiven Verlusterfahrungen wie verschluckende Flut, Sein im Fluss, wabernder Nebel oder Schneegestöber.50 Daneben sind aber vor allem die Bilder der Reise, des Weges und eben des Exils erhellend, auf die sowohl Arno Geiger als auch die Theologin Fröchtling besonders eingehen: Menschen mit Demenz erleben ihren Alltag oft als eine Art Leben im Exil. Dabei spielen […] Aspekte wie Heimatlosigkeit, Fremdheit, Strafe, Ortlosigkeit und das Gefühl der Gottverlassenheit in der Regel im Verlauf eines Demenzprozesses eine zunehmend große Rolle.51
Entsprechend brauchen sie das Gefühl, dass sie auf dem Weg ins Niemandsland nicht allein gelassen werden, dass ihnen emotionales Asyl gewährt wird: »Emotionale Zugänge sind Wege aus dem ›Aus‹ der krankheitsbedingten Isolation, da sie Gemeinschaft wieder neu möglich machen und ›Pfade in Utopia‹ ermöglichen.«52
47 48 49 50 51 52
A.a.O., 56. Vgl. Fröchtling, »Und dann habe ich…«, 51. Lakotta, »Ich bin ja noch ich«, 37. Vgl. dazu Kumlehn, Vom Vergessen erzählen, 204 – 206. Fröchtling, »Und dann habe ich…«, 209. A.a.O., 22.
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2.2.
Theologische und philosophisch-anthropologische Deutungsmuster im Zeichen der Demenz
Wenn nach theologischen Deutungsmustern für das Verstehen des Demenzgeschehens gesucht wird, zeigt sich die Grundstruktur, dass in der Radikalität der Demenzerfahrung etwas aufgedeckt wird, das sich allgemein als existentielle Grundverfasstheit des Menschseins auslegen lässt. So wird z. B. von der imagoDei-Vorstellung aus das Angewiesensein des Menschen auf eine grundlegende Gottesbeziehung entfaltet, die ihm unverlierbar jenseits aller Leistungen und konkreten Äußerungsformen des Personseins seine Würde qua Menschsein zuspricht. Von der fundierenden Gottesbeziehung aus wird dann auch das leibhaft emotionale Sein in Beziehung im Kontext der Demenz weiter entfaltet. Dabei spielen die Aspekte der unhintergehbaren Fragmentarität jeder menschlichen Identität im Anschluss an Henning Luther und die damit einhergehende Perspektive erhoffter eschatologischer Vollendung eine wesentliche Rolle.53 Nimmt man die zunehmende Reduktion auf ein emotionales Kernbewusstsein, das ein elementares Sich-Fühlen und ein gefühlsbasiertes In-BeziehungSetzen zum Anderen bewahrt und darin auch die Kontinuität des Personseins setzt, zum Ausgangspunkt, dann legt es sich nahe, Schleiermachers Denkfigur des unmittelbaren Selbstbewusstseins, das als Gefühl elementarer Daseinsgewissheit im jeweiligen Augenblick verstanden werden kann, zu vertiefender Auslegung dieser Verfasstheit heranzuziehen.54 Fühlen steht hier für die Empfänglichkeit des Menschen und sein Insichbleiben, das allem Denken und Tun und Aussichheraustreten voraus liegt. Man könnte auch sagen, es steht für die Passivität, die aller Spontaneität vorgeordnet ist. Das Gefühl wird präreflexiv verstanden und im Rahmen der Demenz könnte man es sowohl als prä- als auch als postreflexiv begreifen. Das Grundgefühl verdankter Existenz wird zugleich als Ort der Ursprungserfahrung von Religion gedeutet, die sich als »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« als in Beziehung mit Gott begreift, den sie als Grund aller Formen relativer Freiheit und relativer Abhängigkeit menschlichen Seins anspricht. Während sonst von dem Gefühl als Repräsentation der dem Menschen unverfügbar voraus liegenden Einheit in aller Differenz die Entfaltung des Menschen im Rahmen des Zusammenspiels aller Bewusstseinselemente her gedacht wird, liegt im Rahmen der Deutung der Demenz die umgekehrte Blickrichtung vor. Jetzt erfährt sich der Mensch unter zunehmender 53 Vgl. dazu die Darstellungen bei Fröchtling, »Und dann habe ich…«, 186 – 204 und Roy, Demenz, 98 – 209. 54 Vgl. dazu Schleiermacher, Der christliche Glaube, §§ 3 u. 4. Die Literatur zur Auslegung dieser Paragraphen ist Legion und deshalb sei hier nur verwiesen auf die entsprechenden Angaben in Kumlehn, Symbolisierendes Handeln, 201 – 208.
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Reduktion seiner Selbsttätigkeit im Sinne der spontanen Möglichkeiten der Weltgestaltung durch Denken und Tun auf das emotionale und relationale Sein im Hier und Jetzt zurückgeführt und erlebt eine zunehmende Abhängigkeit, der symbolischer Verweisungscharakter auf das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit als Ausdruck des alles umgreifenden Gottesverhältnisses des menschlichen Seins in deutender Perspektive zugesprochen werden kann.55 Will man den Aspekt der Fragmentarität deutend verstärken, legen sich dagegen differenztheoretische Zugänge nahe, die nicht das transzendental verstandene Gefühl als vorausgesetzten Einheitspunkt elementarer Daseinsgewissheit setzen, sondern von einem Urgrund radikal verstandener Differenz ausgehen, aus der dann alle als unhintergehbar erfahrenen Differenzen hervorgehen sollen. Differenztheorien im Zuge der Phänomenologie Heideggers, Derridas, Waldenfels’ u. a. fordern auf, im Zeichen bleibender Differenz über die Grenzen des Rationalen und des Sagbaren nachzudenken.56 Vor diesem Hintergrund werden die Erfahrungen des Nicht-Verstehens im Zuge des Demenzgeschehens symbolisch transparent für die Erfahrung, dass in jedem Verstehen ein Nicht-Verstehen mitgesetzt ist, das jeder Identität Differenz eingezeichnet ist. Es kommt zu einer Betonung des Widerständigen, des (Sinn) abgrundes, des Traumatischen, des Risses, der Fremdheit, der prinzipiellen Gebrochenheit, der Unheilbarkeit usw. Obwohl dieser Ansatz zweifellos Sprache für die Abgründe des Erlebens von Demenz gewinnen lässt, besteht die Gefahr, dass jedes Bemühen um Verstehen unter diesem Vorzeichen justiert werden kann und vor allem auch die Betonung der Abgründigkeit die möglichen positiven Emotionen und ihren Ausdruck im Demenzverlauf unterbestimmt lässt.57 Verstehen und Nicht-Verstehen, Aufmerksamkeit für Fremdes im Eigenen und Eigenes im Fremden bleiben auch in der Demenzhermeneutik aufeinander verwiesen. Anders gesagt: In der Begleitung der Demenz bleibt es aufgegeben, metaphorische (Sprach)Bilder, Formen verbaler und non-verbaler Kommunikation sowie Rituale zu finden und anzubieten, die beiden Grenzerfahrungen und -bestimmungen und den sich mit ihnen verbindenden starken Gefühlen Ausdruck verleihen können – der elementaren emotional vermittelten Daseinsgewissheit und Daseinsfreude sowie den Erfahrungen des radikalen Fremdwerdens, der Risse und Differenzen im Erleben von »Entortung« und des Fallens »aus der Zeit«. Den Betroffenen helfen insbesondere Formen der Kreativität wie Musik und Kunst58, um eine eigene Sprache für ihre Gefühle zu finden. Das machen sich inzwischen nicht nur die verschiedensten Formen der 55 Vgl. dazu Müller-Hergl, Die Herausforderung, 109. 56 Auch hier aufgrund des begrenzten Raumes nur ein exemplarischer Literaturhinweis: Kimmerle, Philosophien der Differenz. 57 Vgl. Kumlehn, Dynamis der Differenz, 53. 58 Spreti, Ich bin wieder wer, und Werfel, Künstlerische Arbeit.
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Biographiearbeit59, sondern auch in vielfältiger Weise Ansätze der seelsorgerlichen Begleitung und Entwürfe für Gottesdienste mit Menschen mit Demenz zu eigen, die stark auf Emotionalität, Berührung und symbolische Kommunikation setzen.60
Literatur Block, Stefan Meril, Wie ich mich einmal in alles verliebte, Köln 2008. Depping, Klaus, Altersverwirrte Menschen seelsorgerlich begleiten, Bd. 1: Hintergründe, Zugänge, Begegnungsebenen, 3Hannover 2008. Eglin Anemone u. a., Tragendes entdecken. Spiritualität im Alltag von Menschen mit Demenz. Reflexionen und Anregungen, Zürich 2009. Feil, Naomi, Validation: Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen, München 2000. Franzen, Jonathan, Das Gehirn meines Vaters, ursprünglich als zweiteiliger Essay in der Süddeutschen Zeitung vom 8.6. u. 15. 6. 2002 erschienen, wiederabgedruckt in: Spiegel Wissen 1/2010, 51 – 63. Ders., Die Korrekturen, Hamburg 2002. Fröchtling, Andrea, »Und dann habe ich auch noch den Kopf verloren…« – Menschen mit Demenz in Theologie, Seelsorge und Gottesdienst wahrnehmen, Leipzig 2008. Galliker, Mark, Psychologie der Gefühle und Bedürfnisse. Theorien, Erfahrungen, Kompetenzen, Stuttgart 2009. Geiger, Arno, Der alte König in seinem Exil, München 2011. Haberstroh, Julia/Neumeyer, Katharina/Pantel, Johannes, Kommunikation bei Demenz. Ein Ratgeber für Angehörige und Pflegende, Berlin/Heidelberg 2011. Hagena, Katharina, Der Geschmack von Apfelkernen, Köln 2008. Hastedt, Heiner, Gefühle. Philosophische Bemerkungen, Stuttgart 2005. Heller, Agnes, Theorie der Gefühle, Hamburg 1981. Jens, Tilman, Demenz. Abschied von meinem Vater, Gütersloh 2009. Kastner, Ulrich/Löbach, Rita, Handbuch Demenz, München 22010. Kidwood, Tom, Demenz – der personzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen, Bern 2000. Kimmerle, Heinz, Philosophien der Differenz. Eine Einführung, Würzburg 2000. Klessmann, Edda, Wenn Eltern Kinder werden und doch die Eltern bleiben. Die Doppelbotschaft der Demenz, Bern 72012. Kumlehn, Martina, Dynamis der Differenz. Differenztheoretische Impulse für religiöse Bildungsprozesse im Zeitalter des Pluralismus, in: Klie, Thomas/Korsch, Dietrich/ Wagner-Rau, Ulrike (Hg.), Differenzkompetenz. Religiöse Bildung in der Zeit, Leipzig 2012, 45 – 60. 59 Vgl. exemplarisch Wickel, Biografiearbeit. 60 Vgl. dazu Fröchtling, »Und dann habe ich…«, 217 – 476; Roy, Demenz, 210 – 303; Eglin u. a., Tragendes entdecken.; Plothe/Tholen, Für den Augenblick; Depping, Altersverwirrte Menschen.
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Dies., Symbolisierendes Handeln. Schleiermachers Theorie religiöser Kommunikation und ihre Bedeutung für die gegenwärtige Religionspädagogik, Gütersloh 1999. Dies., Vom Vergessen erzählen. Demenz und narrative Identität als Herausforderungen für Seelsorge und theologische Reflexion, in: Dies./Klie, Thomas (Hg.), Aging – AntiAging – Pro-Aging. Altersdiskurse in theologischer Deutung, Stuttgart 2009, 201 – 212. Lakotta, Beate, »Ich bin ja noch ich«. Rita Dechant, Christian Zimmermann und Helen Merlin über ihren Alltag als Demenzkranke, ihre Strategie beim Outing und ihren Umgang mit dem allmählichen Verlust der Selbständigkeit, in: Spiegel Wissen 1/2010, 34 – 41. Dies., Reise in den Sonnenuntergang, in: Spiegel Wissen 1/2010, Die Reise ins Vergessen. Leben mit Demenz, 9 – 17. Landweer, Hilge, Verständigung über Gefühle, in: Großheim, Michael (Hg.), Leib und Gefühl. Beiträge zur Anthropologie, Berlin 1995, 71 – 86. Lyons, William, Emotion, in: Döring, Sabine A. (Hg.), Philosophie der Gefühle, Frankfurt a.M. 2009, 83 – 109. Morton, Ian, Die Würde wahren. Personzentrierte Ansätze in der Betreuung von Menschen mit Demenz, Stuttgart 2002. Müller-Hergl, Christian, Die Herausforderung sozialer Beziehungen, in: Schindler, Ulrich (Hg.), Die Pflege dementiell Erkrankter neu erleben: Mäeutik im Pflegealltag, Hannover 2003, 109 – 122. Obermüller, Klara (Hg.), Es schneit in meinem Kopf, München/Wien 2006. Osterkorn, Thoma, Reise in die Schatten. Porträt eines Mannes, der gegen das Vergessen kämpft, in: Stern Nr. 6/2012, 2. 2. 2012, 34 – 49. Plothe, Ursula/Tholen, Ivonne, Für den Augenblick. Gottesdienste mit Demenzkranken und ihren Angehörigen, Göttingen 2011. Roy, Lena-Katharina, Demenz in Theologie und Seelsorge, Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs 13, Berlin/Boston 2013. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. 1, hg. v. Martin Redeker, Berlin 1960. Ders., Über die Religion. Reden an die gebildeten unter ihren Verächtern, in: KGA I, 2, Berlin/New York 1984. Spreti, Flora Gräfin von, Ich bin wieder wer – Kunsttherapie bei Patienten mit Alzheimer-Demenz, in: Aldebert, Heiner (Hg.), Demenz verändert. Hintergründe erfassen – Deutungen finden – Leben gestalten, Schenefeld 2006, 176 – 192. Stock, Ulrich, Vergessen erzählen, in: http://www.zeit.de/2008/16/Alzheimer (Zugriff am 4. 3. 2013). Suter, Martin, Small World, München 1997. Wallesch, Claus-Werner/Förstl, Hans (Hg.), Demenzen, 2Stuttgart/New York 2012. Weissenberger-Leduc, Monique/Weiberg, Anja, Gewalt und Demenz. Ursachen und Lösungsansätze für ein Tabuthema in der Pflege, Wien 2011. Werfel, Beate, Künstlerische Arbeit mit einem an Demenz erkrankten Mann, in: Aldebert, Heiner (Hg.), Demenz verändert. Hintergründe erfassen – Deutungen finden – Leben gestalten, Schenefeld 2006, 193 – 200. Wickel, Hans Hermann, Biografiearbeit mit dementiell erkrankten Menschen, in:
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Martina Kumlehn
Hölzle/Christina, Jansen/Irma (Hg.), Ressourcenorientierte Biografiearbeit: Grundlagen – Zielgruppen – Kreative Methoden, 2Wiesbaden 2011, 254 – 269. Willberg, Hans-Arved/Mildner, Heidrun, Demenz. Der langsame Abschied. Ein Ratgeber für betroffene Angehörige, Neukirchen-Vluyn 2012.
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Ursula Roth
Gottesdienstgefühle
1.
Gottesdienst erleben
Auf die Frage danach, wie sie Gottesdienste erleben, antworten Gottesdienstbesucherinnen und Gottesdienstbesucher häufig mit der Beschreibung der Gefühle, die sie bei den einzelnen Sequenzen eines Gottesdienstes empfinden.1 Das beginnt mit dem Betreten des Kirchenraums, der für viele emotional stark besetzt ist: positiv im Sinne eines Raumes, der Gefühle von Sicherheit, Schutz und Geborgenheit auslösen kann und in dem man sich ›wohl fühlen‹2 kann, aber auch negativ, wenn der Raum nicht dem entspricht, was man jeweils selbst unter einem ›schönen‹ Kirchenraum versteht. Ich habe mir natürlich eine Kirche ausgesucht, wo ich mich zu Hause fühle, wo ich mich wohl fühle, wo ich gewisse Elemente finde, die mir wichtig sind. Da gibt es andere Kirchen, die man betritt, wo man denkt, ja, es ist interessant architektonisch oder von der Kunstgeschichte, aber nee, da fühlst du dich nicht zu Hause. Da wirst du nicht warm. […] Aber, ich sag’ mal, das Empfinden, ob ein Raum ein Zuhause ist oder nicht, ist sehr unterschiedlich. Prinzipiell denke ich aber schon, dass so ein Gefühl wichtig ist für das Erleben, für das Sich-fallen-lassen. Und wo ich mich sehr unwohl fühl’, das sind die neumodischen Kirchen, das mag ich auch nicht. Da geh’ ich ganz ungern rein, weil […] bei mir ist es halt so, ich verbinde das auch immer noch mit so’n bisschen Flair. Das […] ist mir halt auch … für mein Wohlbefinden wichtig, also die Kirche muss nach Kirche aussehen und nicht irgendwelche neumodischen Ecken und Kanten haben.3
Auch die musikalische Gestaltung des Gottesdienstes ruft Emotionen hervor und rührt bisweilen zu Tränen. Manche fühlen sich besonders durch die Musik getragen und empfinden durch sie Vertrautheit und Geborgenheit.
1 Vgl. dazu Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben. 2 So ein zentrales, von mehreren Interviewpartnern verwendetes Stichwort, vgl. a. a. O., 174 ff. 3 A.a.O., 175 f.
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Ursula Roth
Ja, das also … das ist … da bin ich ganz gerührt. Das … ja, das trägt mich richtig. Das ist fast … wenn das richtige Lied kommt, ist das für mich fast das Wichtigste.4 [Da] fühl ich mich zu Hause. Es ist so wie nach Hause kommen.5 [H]ach, so ein guter Bachchoral, da geht einem schon das Herz auf.6
Von intensiven Gefühlen erzählen Gottesdienstbesucherinnen und Gottesdienstbesucher auch mit Blick auf die Liturgie. Je nachdem, wie vertraut jemand mit den liturgischen Stücken ist, je nachdem, wie sehr die liturgische Gestaltung dem eigenen Frömmigkeitsstil entgegenkommt, kann Liturgie als »ein Stück Heimat«7 wahrgenommen werden. Die vertrauten liturgischen Texte und Wechselgesänge lösen – durch die Erinnerung an frühere Gottesdienste, aber auch durch die Differenz und Distanz zum Alltag – Gefühle von »Geborgenheit und Orientierung und Klarheit«, »von Sicherheit«8 aus. [I]ch mag nun mal diese ganze Liturgie, liturgischen Gesänge. Das mag ich halt unheimlich gerne. Vom Gefühl her.9
Von den unterschiedlichen Abschnitten eines Gottesdienstes wird insbesondere das Abendmahl als emotional dichte Sequenz beschrieben. Manche verbinden gerade mit dem Abendmahl besondere spirituelle Erfahrungen, manche genießen vor allem das Erleben von Gemeinschaft. … wobei ich eben auch durchaus das Fühlen brauche. Und – ich überleg’ jetzt gerade – wann mal, wann mal so im Gottesdienst eigentlich auch so ein Gefühl, das ist beim Abendmahl. Das ist da, wo es dann manchmal wirklich auch, wo du dann das Gefühl hast, ja, da schwingt was, da ist was.10 Manchmal finde ich es ganz schön. Also gerade wenn die ganze Gemeinde so, sind ja häufig nicht so viele, also wenn die dann im Altarraum stehen und die sich dann wirklich alle anfassen, das finde ich dann wirklich schon sehr schön.11
Andere, die den Abendmahlsempfang in besonderer Weise als Vergegenwärtigung der Leidensgeschichte Jesu erleben, verbinden mit diesem Abschnitt Gefühle, die sich in ihrer Intensität sogar körperlich Ausdruck verschaffen können – in Gänsehaut, zitternden Händen, einer wie zugeschnürt empfundenen Kehle, Tränen. 4 5 6 7 8 9 10 11
A.a.O., 118. A.a.O., 120. A.a.O., 126. A.a.O., 103. A.a.O., 103 f. A.a.O., 105. A.a.O., 157. A.a.O., 154.
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Oh ja, das ist, das spielt auch eine große Rolle für mich, das Abendmahl. Das passiert oftmals, also es passiert mir oft, dass mir dann immer die Tränen kommen, nech, wenn, das ist der Leib Jesu, das ist, ja, da kommen mir oftmals die Tränen. Ich versuche es dann immer zu unterdrücken, aber es ist, es ist schön. Das ist irgendwie ein, das ist immer so schwer zu beschreiben, ein Dabeisein, wenn das Abendmahl gegeben wurde, wie Jesus in der Höhle war, und man fühlt sich irgendwie, als wenn man dabei, dabei ist. Also im übertragenen Sinne so dabei, das kann ich so schwer beschreiben, also für mich, für mich ist es traurig und auch wieder schön, beides spielt sich so bei mir ab. Es ist eine Traurigkeit und anschließend so […], wenn sie uns dann entlässt und der Segen dann noch kommt, […] das ist irgendwie, ja, als wenn ich dabei gewesen bin. Also, ich weiß nicht, ob ich das so richtig beschreibe. Das ist so, als wenn ich dabei bin, als wenn ich mit dabei war. So ein komisches Gefühl ist das manchmal. Nicht immer, aber ich kann schon fast sagen ›fast immer‹. Das ist, ich krieg’ Gänsehaut, und dann kommen mir die Tränen, und ich versuch’ das zu unterdrücken, damit man das dann nicht sieht. Das ist schön.12
Gleichwohl verstehen sich solche ›Abendmahlsgefühle‹ keineswegs von selbst. Sie sind abhängig davon, wie sehr jemand mit der Abendmahlstradition generell vertraut ist und wie sehr die Abendmahlsfeier dem je eigenen religiösen Feierstil entspricht. Das wird in den Aussagen jener Gottesdienstteilnehmer deutlich, die dem Abendmahl nichts abgewinnen können bzw. dabei sogar ein ›Gefühl des Unbehagens‹ empfinden. Also, ich weiß das nicht, ich hab noch nie, noch nie irgendetwas empfinden können beim Abendmahl. […] Ich geh zwar zum Abendmahl, aber ich hatte das noch nie, dass es mich irgendwo berührt.13 Muss ich leider gestehen, ich hab da noch nie dran Teil genommen, […] weil ich das persönlich nicht wichtig finde, Abendmahl zu feiern … Also, ach ne, das ist auch falsch gesagt, ich finde es irgendwie wichtig, dass man es macht, natürlich, dass man mal eingedenkt, was Jesus für uns getan hat, aber ich finde, es reicht mir schon, wenn ich zuguck’, wenn die Leute das Abendmahl feiern. Das reicht mir schon. Und es liegt auch daran, dass ich irgendwie selber ja, ’ne Art Unwohlsein dafür hab’, […] dass ich mich unwohl fühle. Und dass man einfach, wenn man aufsteht und dann in einer Art Kreis denn da steht und dann ’ne Oblate in den Mund bekommt, dann trinkt, das ist so … so …, weiß ich nicht, das ist für mich so ein Gefühl von Unbehagen … also für mich ist es kein angenehmes Ereignis.14
Schließlich empfinden viele auch den Empfang des Schluss-Segens als emotional sehr bewegend.
12 A.a.O., 155 f. 13 A.a.O., 159. 14 A.a.O., 160 f.
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Wenn der Segen ausgesprochen wird, dann fühl’ ich mich ganz geschützt. … kriegt man in dem Moment auch mal ein Gefühl, äh, von Zufriedenheit.15
Daneben können auch andere Sequenzen im Gottesdienst – etwa die Begrüßung, die Gebete, Phasen der Stille – als emotional dicht erlebt werden. Das gilt auch für das Hören der Predigt, auch sie kann einem nahe gehen. Das berührt mich auch sehr oft sehr. Wie mir die Tränen manchmal kommen. Und das ist so schön. Es ist einfach herrlich. Es ist einfach herrlich. Das ist das Schönste, was es gibt.16
Gottesdienste sprechen die Mitfeiernden auch, ja vielleicht sogar besonders auf der Gefühlsebene an. Sie können bewirken, dass Menschen gerührt sind, betroffen sind, sich freuen, sich getröstet fühlen, geborgen und geschützt. Unter welchen Umständen, wann und wo im gottesdienstlichen Ablauf Menschen besonders mit-fühlen können, hängt von ganz unterschiedlichen Faktoren ab: von dem je eigenen Frömmigkeitsstil, der Vorliebe für musikalische und liturgische Traditionen, der aktuellen Stimmungslage, der Vertrautheit mit der lokalen Liturgietradition etc. Dabei hängt die Intensität der Gefühle nicht notwendig davon ab, ob man im Gottesdienst selbst aktiv wird oder den Gottesdienst eher passiv, zusehend und zuhörend, mitfeiert. Wer in der Rolle des Zuschauers und Zuhörers Worte der Predigt, liturgische Texte und Gesänge als passenden Ausdruck für das eigene religiöse Gefühl entdeckt, oder wer das Mitsingen und Mitsprechen des Kirchenbanknachbarn gleichsam stellvertretend für den eigenen religiösen Ausdruck wahrnimmt, muss emotional nicht notwendig weniger involviert sein als derjenige, der die dargebotenen Texte und Lieder aktiv für den eigenen religiösen Ausdruck aufgreift, die Gebete mitspricht, in den Gemeindegesang mit einstimmt, sich an den liturgischen Wechselgesängen versucht und die Einladung zum Empfang des Abendmahls nicht ausschlägt.
2.
›Gefühl‹: (k)ein gottesdiensttheoretischer Terminus
Das Gefühl wurde als Gegenstand der praktisch-theologischen Reflexion des Gottesdienstes bislang nur am Rande berücksichtigt. Peter Cornehl beispielsweise hatte, als er den Gottesdienst einer funktionalen Analyse unterzog17, die emotionale Seite des Gottesdiensterlebens mit im Blick. Von den vier rekonstruierten Grundfunktionen des Gottesdienstes – Orientierung, Expression, 15 A.a.O., 166 f. 16 A.a.O., 145. 17 Vgl. zuletzt Cornehl, Der Evangelische Gottesdienst, Bd. 1, 66 – 72.
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Affirmation, Integration – beziehen sich insbesondere die expressive und die affirmative Funktion auf die emotionale Wirkung des gottesdienstlichen Geschehens. In seiner expressiven Funktion wird der Gottesdienst als Ort erfahren, an dem ganz unterschiedliche Ausdrucksformen für die Bewältigung bedrängender und beglückender Widerfahrnisse bereitstehen. Durch diese Ausdrucksformen werden Gefühle wie Angst, Verzweiflung, Scham, Freude, Dankbarkeit, Hoffnung darstellbar und mitteilbar, gerade auch dann, wenn die eigenen Worte fehlen. In seiner affirmativen Funktion zielt der Gottesdienst auf Vergewisserung, Versöhnung, Trost, Stärkung ab – und das nicht nur als Momente des Erkennens und Verstehens, sondern gerade auch als Momente subjektiven Erlebens und Empfindens. Im gegenwärtigen praktisch-theologischen Diskurs begegnet die Kategorie des Gefühls besonders auch in jenen Studien, die sich der Erforschung der Perspektive der Gottesdienstbesucherinnen und –besucher widmen. Erhoben wird dabei nicht nur, welche Motive Gottesdienstbesucher in den Gottesdienst führen, was sie vom Gottesdienst erwarten und welches Grundverständnis gottesdienstlicher Praxis ihre Teilnahme am Gottesdienst prägt. Das Augenmerk gilt auch – so etwa in der jüngsten Studie von Uta Pohl-Patalong18 – der Frage, wie Gottesdienstteilnehmer den Gottesdienst erleben. Und das heißt eben immer auch: was sie dabei empfinden und wie sie (sich) dabei fühlen. Ein prominenter Terminus des gottesdiensttheoretischen Diskurses ist der Begriff des Gefühls bislang gleichwohl nicht geworden. Die praktisch-theologische Vernachlässigung des emotionalen Aspektes dürfte mehrere Gründe haben. Zum einen resultiert sie wohl aus einem spezifisch protestantischen Vorverständnis vom evangelischen Gottesdienst. Diesem ist von Anbeginn an ein pädagogischer, diskursiver Grundzug eingeschrieben.19 Den öffentlichen Gottesdienst brauche es, so Martin Luther, vor allem, umb der eynfeltigen und des jungen volcks willen, wilchs sol und mus teglich ynn der schrifft und Gottis wort geubt und erzogen werden, das sie der schrifft gewonet, geschickt, leufftig und kuendig drynnen werden, yhren glauben mehren20.
Schriftlesung und Predigt rücken in Luthers Gottesdienstreform ins Zentrum des Gottesdienstes; diesem wird die Aufgabe zugewiesen, den Glauben verständlich zu machen und die Christen zur Selbstverständigung über ihren Glauben anzuregen. Von den vielen Aspekten der Gottesdienstreform Luthers hat insbesondere dieser kognitive, auf Verstehen ausgerichtete Grundcharakter des Gottesdienstes das evangelische Gottesdienstverständnis bis heute geprägt. 18 Vgl. Anm. 1. 19 Vgl. Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 38 f., 67, 73 f. 20 Luther, Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts, 73.
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Zum anderen zeigt sich im weitgehenden Ausblenden des emotionalen Aspekts gottesdienstlicher Praxis eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der theologischen Relevanz der Gefühlskategorie. Die Kategorie des Gefühls stand und steht bis heute vielfach unter dem Verdacht, dem Bereich von »Innerlichkeit, Gefühligkeit und Illusion«21 verhaftet zu sein. Hatte Friedrich Schleiermacher insbesondere im Rahmen seiner ›Reden über die Religion‹ dem Gefühlsbegriff zentrale Bedeutung zugewiesen22 und hatte Rudolf Otto daran anknüpfend das numinose Gefühl zum religionsphilosophischen Angelpunkt erhoben23, so schien der Begriff des Gefühls gleichwohl mit der Theologie des 20. Jahrhunderts großteils nicht vermittelbar – weder mit einer am Offenbarungsbegriff noch mit einer an der Vernunft orientierten theologischen Rekonstruktion des christlichen Glaubens. Mit der Wiederentdeckung des Erfahrungsbegriffs und später des Begriffs des Erlebnisses trat gegen Ende des 20. Jahrhunderts zwar wieder eine subjektorientierte Reflexion religiöser Praxis in den Vordergrund. Der Gefühlsbegriff wurde dabei allerdings nicht in gleicher Weise rehabilitiert. So offensichtlich die Relevanz des Gefühlsbegriffs ist, wenn es darum geht, aus rezeptionsästhetischem Interesse nach dem Erleben der Gottesdienstteilnehmer zu fragen, so ertragreich erweist er sich auch als werkästhetische Kategorie. Mit Hilfe der Kategorie des Gefühls ließe sich der Ablauf der gottesdienstlichen Sequenzen auf deren gefühlsevozierende Wirkmomente hin untersuchen, darauf, welche musikalischen Details, welche Momente gestischen Ausdrucks, welche Textpassagen, welche Details der Raumgestaltung bei Gottesdienstteilnehmern bestimmte Gefühle auslösen und bewirken, dass diese sich geborgen fühlen, geschützt, angenommen oder eben auch unbehaglich, ertappt, überführt, schuldig, oder gar genervt, wütend oder angeekelt. Es wäre zu überlegen, ob sich der agendarische Ablauf nicht nur in einem bestimmten Gedankengang, einem spezifischen Verstehensprozess, sondern auch in einer Entwicklungslogik emotionaler Wirkmomente widerspiegelt. Innerhalb des praktisch-theologischen Diskurses gibt es unterschiedliche Versuche, die diachrone Logik des evangelischen Gottesdienstes zu skizzieren. Michael Meyer-Blanck etwa beschreibt den Gottesdienst – analog zu der dem Evangelischen Gottesdienstbuch eingezeichneten Gliederung – als vierschrittigen Entwicklungsprozess, der mit der Spannung von erfahrener Distanz zu Gott und ersehnter Nähe zu Gott einsetzt24, über die Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens und die »Dialogaufnahme mit Gott« in Gebet und Lesung hin zur »leibliche(n) Kontaktaufnahme mit Christus«25 im Abendmahl führt, bevor der 21 22 23 24 25
Ritter, Art. Erfahrung, 55. Vgl. auch Lauster, Theologie der Gefühle, 63. Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 73 (Orig.pag.106 ff.). Vgl. Otto, Das Heilige, 8 ff. Vgl. Meyer-Blanck, Inszenierung des Evangeliums, 60. A.a.O., 101.
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Segen wieder den Abschied und den Übergang zum Alltag markiert. Mit einer anderen Pointierung rekonstruiert die US-amerikanische Theologin Jana Childers den Gottesdienstablauf als Drama in vier Akten. Der dramatische Konflikt entstehe durch die religiös-existentiellen Fragen der Gemeindeglieder, durch deren Zweifel an Gott und an sich selbst, und spitze sich durch weitere Entdeckungen und Verwicklungen zu, etwa durch Einsichten in die Verkehrtheit und Sündhaftigkeit des eigenen Lebens. Den dramatischen Höhepunkt und die Umkehr sieht Childers in jenen liturgischen Sequenzen, in denen durch die Neuorientierung an der göttlichen Wirklichkeit auch ein neuer Blick, eine neue, heilsame Einschätzung der eigenen Situation möglich wird. Nach dieser Lösung des Ursprungskonflikts führt der letzte Akt mit gedrosseltem dramatischem Tempo zum Segen, mit dem die Gemeinde entlassen wird.26 Im Rahmen der von Michael Meyer-Blanck und Jana Childers rekonstruierten Verlaufslogiken des agendarischen Gottesdienstes wird die Gefühlsdimension nur gelegentlich explizit erwähnt. Gleichwohl implizieren deren Beschreibungen spezifische Vorstellungen des körperlich-emotionalen Empfindens der Gottesdienstteilnehmer. Für Michael Meyer-Blanck, der den Gottesdienst grundsätzlich als Annäherung an Gott, als »Dialogaufnahme mit Gott« und »leibliche Kontaktaufnahme mit Christus«27 begreift, gewinnt dieses Grundmuster je nach spezifischem Proprium ganz unterschiedliche Gestalt. Der Gottesdienst kann einsetzen mit der Inszenierung der Sehnsucht nach der Nähe Gottes, der Ehrfurcht, die das Bewusstsein zur prinzipiellen Distanz Gottes begleiten kann, der Scham, die entsteht, wenn das eigene Handeln mit einem Mal im Horizont des göttlichen Urteils steht, der Geborgenheit in der Begegnung mit dem liebenden, segnenden Gott. Bei Jana Childers stehen jene Gefühle im Vordergrund, die mit dem Prozess des liturgisch-dramatisch initiierten Erkenntniszugewinns verbunden sind: Zweifel an Gott und an sich selbst, Scham über das eigene Scheitern, den eigenen Irrtum, Gewissheit, Freude, Mut und Zuversicht angesichts der neuen Identifizierung im Licht göttlicher Barmherzigkeit.
3.
Katharsis und Performanz
Welche Bedeutung im Kontext kultureller Inszenierungen den Gefühlen zukommt, mag der Blick auf die Theaterpraxis und Theatertheorie erhellen. Denn seit jeher wird dem Theater die Aufgabe zugewiesen, bei Menschen bestimmte Gefühle hervorzurufen und ihnen dadurch neue Erfahrungshorizonte, neue Erkenntnisse zu eröffnen. Das zeigt bereits die älteste Tragödientheorie, die 26 Vgl. Childers, Performing the Word, 130 f. 27 Meyer-Blanck, Inszenierung, 101.
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Poetik des Aristoteles. Dieser hatte den Gedanken, dass Dichtung die Affekte 5keor und v|bor erzeuge, aus der Tradition übernommen und in seine Tragödientheorie integriert. =keor und v|bor stehen dabei nicht nur für etwas innerlich Gefühltes, sondern bezeichnen starke, mit körperlichen Symptomen verbundene Affekte, einen »von Schrecken umgebene(n) Schauder«, einen »tränenreiche(n) Jammer« und »ein die Wehklage suchendes Sehnen«28. Aristoteles fügt dem allerdings etwas Neues hinzu, das den tragödientheoretischen Diskurs bis heute prägt. Eine Tragödie bestimmt Aristoteles nun als Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, […] – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schauder hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.29
Mit dem Begriff der j\haqsir sucht er zu bestimmen, mit welcher Wirkabsicht die beiden genannten Affekte hervorgerufen werden. Dabei überträgt er den Begriff j\haqsir aus dem kultisch-religiösen und dem medizinischen Bereich auf die Bereiche der Musik und der Tragödie. Wie kultische und medizinische Reinigungshandlungen das Ziel haben, störende Zustände oder störende Stoffe zu beseitigen, so verfügt Aristoteles zufolge auch die Tragödie über eine kathartische, von störenden Affekten befreiende Wirkung. Wie Betroffene sich nach einer kultischen oder medizinischen Purgierung angenehm erleichtert und befreit fühlen, so gehe auch die tragische Katharsis mit Vergnügen und Lustempfinden einher.30 Nach der Wiederentdeckung der aristotelischen Poetik in der Renaissance gelang es erst Gotthold Ephraim Lessing, den Begriffen 5keor, v|bor und j\haqsir den ihnen entsprechenden Ort innerhalb der Tragödientheorie zuzuweisen. Lessing verbindet den Grundsatz, dass das Trauerspiel Leidenschaften erregt, mit dem ethischen Anspruch, das Trauerspiel habe den Zuschauer zu bessern, indem er davon ausgeht, »daß das Trauerspiel gerade durch die Erzeugung von Leidenschaften bessern kann«31. Er nimmt die aristotelische Bestimmung der Tragödie wieder darin ernst, dass er es als deren Wirkung ansieht, 5keor und v|bor kräftig hervorzurufen. Die Affekte sollen dem Zuschauer nicht nur vorgeführt werden, sondern dieser selbst soll in den Zustand der Affekte geführt werden. Ziel der theatralen Darstellung sei, dass der Zuschauer die 28 So Gorgias über die Wirkung der Poesie; Übersetzung Schadewaldt, Furcht und Mitleid. 144. Vgl. Diels, Die Fragmente, 82 [76.] B 11.9.: »vq_jg peq_vobor ja· 5keor pok}dajqur ja· p|hor vikopemh^r«. 29 Aristoteles, Poet. 6. 1449b 24 ff. (di ’ 1k]ou ja· v|bou peqa_mousa tµm t_m toio}tym pahgl\tym j\haqsim). 30 Zur kathartischen Wirkung der Musik vgl. Aristoteles Pol. H 7. 1342a 4 – 28. 31 Lessing in einem Brief an Friedrich Nicolai im November 1756: Lessing, Briefwechsel, 160 f.
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dargestellten »Leidenschaften selbst fühlt, und nicht bloß fühlt, ein anderer fühle sie«32. ›Katharsis‹ versteht Lessing nun als einen Akt der Reinigung, der durch die Affekte Mitleid und Furcht ausgelöst wird und sich zugleich auf diese bezieht. Die Tragödie soll unser Mitleid und unsere Furcht erregen, »um diese und dergleichen Leidenschaften […] zu reinigen.«33 Diese Reinigung bestehe dabei »in der Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten«34. Lessing rekurriert dabei auf die Nikomachische Ethik des Aristoteles, genauer auf dessen les|tgr-Lehre. Wie Aristoteles davon ausgegangen sei, dass »bei jeder Tugend […] sich diesseits und jenseits ein Extremum findet, zwischen welchem sie inne stehet«, so müsse auch die Tragödie, »wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen vermögend sein; welches auch von der Furcht zu verstehen«35. Die Tragödie befreit auf diese Weise ebenso von einem Übermaß an Mitleid und Furcht, wie sie auch den Mangel des einen oder der anderen behebt. Seit Lessing hat sich die aristotelische Tragödientheorie vielfältig im theatertheoretischen Diskurs niedergeschlagen. Zwar kommen die zentralen Begriffe – 5keor, v|bor, j\haqsir – im Kontext des modernen Diskurses über das Theater kaum vor. Doch das grundlegende Moment, dass der Zuschauer durch die theatrale Darstellung in neue Gefühlswelten, neue Erfahrungsräume versetzt wird und dadurch an Verwandlungs- und Erneuerungsprozessen teilhat, nimmt gerade im Kontext der modernen, in der Theateravantgarde des frühen 20. Jahrhunderts wurzelnden Theatertheorie einen zentralen Stellenwert ein. Das transformative Potential theatraler Kunst gewinnt insbesondere im Rahmen der performativitätstheoretischen Rekonstruktion der Theaterpraxis an Kontur. Dabei wird jenes Verständnis von Performativität vorausgesetzt, welches sich im kulturwissenschaftlichen Forschungsdiskurs zur Theatralität kultureller Praxis herausgebildet hat – als Begriff, der die theatralen Aspekte ›Inszenierung‹, ›Korporalität‹ und ›Wahrnehmung‹ zu bündeln und dadurch das Zusammenspiel von theatraler Produktion und Rezeption zu beschreiben vermag. Als performativ gelten dementsprechend solche kulturellen Vorgänge, die sich in der synchronen Produktion und Rezeption von Zeichen vollziehen und nichts als die Erfahrung der Beteiligten hinterlassen. Der Aspekt der Performativität betont damit verschiedene Facetten theatraler Ereignisse: Performanzen sind erstens Live-Ereignisse, die die leibliche Ko-Präsenz von Zeichenproduzenten und Zeichenrezipienten voraussetzen.36 Charakteristisch ist 32 33 34 35 36
A.a.O., 161. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 591 (77. Stück). A.a.O., 595 (78. Stück). A.a.O.; zur aristotelischen les|tgr-Lehre vgl. Aristoteles EN B 5 f. Vgl. dazu Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, 58, 114 ff.
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für sie die ›feedback-Schleife‹, die Rückkopplung von Zeichenproduktion und Zeichenrezeption: Die Akteure handeln nicht nur, sondern nehmen das Publikum beim Wahrnehmen wahr und spielen ihre Reaktion darauf wiederum in ihre Handlung ein. Das Gegenüber von Akteuren und Publikum ist ein schillerndes Verhältnis, in dem beide Gruppen immer wieder die Rollen von Handeln und Zusehen wechseln.37 Performanzen sind zweitens ›transitorisch‹, d. h. sie sind prozesshaft, sie erschöpfen sich in ihrem Vollzug und sind kein Instrument zur Herstellung von etwas jenseits ihrer selbst. Performative Ereignisse sind somit einzigartig und nicht exakt reproduzierbar, da sie nur im Moment ihres Vollzugs greifbar sind und kein materielles Produkt hinterlassen. Aufgrund ihres Vollzugscharakters haben Performanzen – drittens – ein transformatives Potential.38 Ihnen eignet ein spezifischer Realitätsakzent, denn sie konstituieren Wirklichkeit, indem sie mittels der Inszenierung bestimmter Ausschnitte oder Aspekte der Wirklichkeit allen Beteiligten neue, Körper und Geist, Verstand und Gefühl bewegende Erfahrungen ermöglichen; sie schaffen Erfahrungsräume, in denen bisherige Wirklichkeit(en) neu erschlossen und Facetten eines anderen Selbst- und Weltverständnisses erprobt werden können. ›Transformation‹ kann dabei in den einzelnen Theaterkonzeptionen durchaus Unterschiedliches bedeuten. Vor dem Hintergrund der TheateravantgardeBewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstand etwa der Münchner Theaterreformer Georg Fuchs die theatrale Kunst als »rhythmische Bewegung des menschlichen Körpers im Raume«, die ausgeübt werde »in der Absicht, andere Menschen in dieselbe Bewegung zu versetzen, hinzureißen, zu berauschen«39. Der »höchste und letzte Endzweck der ganzen Zusammenkunft« sei »der, in eine höhere, – ›über–wirkliche‹ Bewußtseinsform einzutreten«40. Eine ganz andere, ungleich radikalere Wirkung auf das Theaterpublikum erhoffte sich Antonin Artaud in den 1930er Jahren mit seinem Konzept des ›Theaters der Grausamkeit‹. Artaud wollte bei den Zuschauern mittels körperlicher, gewaltsamer Bilder und ungewohnter Licht-, Klang- und Geräuscheffekte gleichsam Trancezustände hervorrufen, um die Einzelnen auf diese Weise von dem Einfluss der kranken, degenerierten Gesellschaft zu heilen.41 Das Theater ist der einzige Ort auf der Welt und das letzte umfassende Mittel, das uns noch verbleibt, den Organismus direkt zu erreichen und in Zeiten der Neurose und der
37 38 39 40 41
A.a.O., 63 ff. A.a.O., 305 ff. Fuchs, Die Schaubühne, 36. A.a.O., 60. Artaud, Das Theater : »Bei dem Degenerationszustand, in dem wir uns befinden, wird man die Metaphysik via Haut wieder in die Gemüter einziehen lassen müssen.« (106)
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niederen Sinnlichkeit wie derjenigen, in der wir gründeln, diese niedere Sinnlichkeit durch körperliche Mittel zu attackieren, denen sie nicht widerstehen wird.42
Indem er das Theater als quasimagisches Heilungsritual bestimmt, glaubt er, »jene religiöse, mystische Sinngebung wiederzufinden, für die unser Theater überhaupt kein Gespür mehr besitzt«43. Auch Bertolt Brecht intendiert mit seinem Theaterkonzept die Transformation der Zuschauer, die er allerdings nicht – wie Artaud – mittels körperlichsinnlicher Schockerfahrungen, sondern durch die aufklärende, aufdeckende Vorführung der gesellschaftlichen Situation herbeizuführen sucht. Brecht zielt mit dem Programm des ›epischen Theaters‹ darauf ab, dem Zuschauer einen neuen, »fremden Blick«44 auf die Wirklichkeit zu eröffnen und in ihm eine kritische Haltung zu fördern. Dem Theater weist er die Aufgabe zu, den Zuschauer zur Reflexion anzuregen und ihn zum Umdenken zu bewegen. Der Zuschauer soll die Wirklichkeit und sich selbst (darin) neu einzuschätzen lernen, indem er die Wirklichkeit als veränderbar und sich selbst als verantwortlich Handelnden entdeckt. Vom Zuschauer des epischen Theaters erhofft Brecht somit folgende Reaktionen: »Das hätte ich nicht gedacht. – So darf man es nicht machen. – […] Das muß aufhören. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe.«45 Die beabsichtigte Transformation ließe sich als Erkenntnisprozess beschreiben, der mit einem Gefühlswandel verbunden ist: Dem Gefühl der Erschütterung und des Entsetzens folgt das Gefühl eigener Verantwortung sowie der Mut, selbst tätig zu werden. So unterschiedlich die Konzepte theatraler Kunst auch sind, für Peter Brook verfolgen sie gleichermaßen die Wirkabsicht, die Zuschauer innerlich zu berühren und zu verändern. Das Theater könne in unterschiedlicher Weise als Linse fungieren und nicht nur die Wirklichkeit vergrößert, verkleinert, verzerrt oder gebrochen widerspiegeln, sondern auch – als Brennglas – wirklichkeitsverändernde Prozesse in Gang setzen. Theater will das Publikum mit neuen Erfahrungen, neuen Sichtweisen, neuen Empfindsamkeiten konfrontieren, will erlösen, will reinigen und erneuern.46 Die theatrale Erfahrung kann bisweilen neue Perspektiven auf die Wirklichkeit öffnen. »A few hours could amend my thinking for life.«47 Theater gelangt an sein Ziel, »when a door opens and our vision is transformed«48. 42 43 44 45 46 47 48
A.a.O., 86. A.a.O., 49. Brecht, Kleines Organon, 681. Ders., Über eine nichtaristotelische Dramatik, 265. Vgl. Brook, The Empty Space, 89 f., 124. A.a.O., 124. Ders., The Open Door, 115.
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Gottesdienst als transformative Performanz
Auch der Gottesdienst ist eine kulturelle Performanz. Auch er ist ein gemeinsam und gleichzeitig hervorgebrachtes Ereignis ko-präsenter Akteure und Rezipienten, auch der Gottesdienst ist grundsätzlich transitorisch, insofern er allein im Vollzug seiner selbst besteht, ohne etwas anderes als die Erfahrung aller Beteiligten zu hinterlassen. Auch der Gottesdienst lässt sich als ›transformative Performanz‹ begreifen, denn auch er hat sein Ziel darin, die Beteiligten in einen Transformationsprozess zu verwickeln. Gottesdienste verändern Menschen: Sie bewegen, stärken, trösten, ermutigen, bereichern den Glauben und orientieren ihn neu, oder verstören und verunsichern auch heilsam. Sie erschließen Menschen einen Erfahrungsraum, in dem Wirklichkeit anders, neu zur Ansicht kommen kann, sich andere Gefühle einstellen können und sich das Welt- und Selbstverhältnis der einzelnen neu justieren kann. Im Austausch – oder auch: in der »lebendigen Circulation«49 – unter Menschen unterschiedlicher religiöser Prägung, in der Wahrnehmung vernachlässigter Facetten des christlichen Glaubens, im körperlich-sinnlichen Miterleben der liturgischen Handlungen sowie in der Konfrontation mit Gefühlen wie Scham, Schuld, Furcht, Hoffnung, Geborgenheit und unverdientem Angenommensein entsteht ein Erfahrungsraum, der neue Perspektiven auf die Wirklichkeit öffnen kann – sei es für die Dauer des Gottesdienstes selbst, sei es darüber hinaus.50 Vom Gottesdienst kann eine kathartische Wirkung ausgehen – im Sinne einer Neuorientierung, Rückbesinnung, einer hermeneutischen Wende der individuellen Sinndeutung des eigenen Lebens, einer Reinigung und Befreiung von Deutungsmustern, in denen die Dimension des Unbedingten ausgespart bleibt. Im Gottesdienst gelangt der christliche Glaube in Musik, Sprache und Korporalität zur Darstellung, er ist eine Aufführung, eine Inszenierung. Gegenstand der Darstellung ist allerdings keine fiktive story, sondern die »religiösen Gemüthszustände«51 der Gottesdienstteilnehmer, deren Sinndeutungen und Selbstvergewisserungen. In heilsamer Weise werden diese ›Gemüthszustände‹ nicht schlicht abgebildet, sondern werden doppelt überblendet und dadurch neu ansichtig. Zum einen verweist der Gottesdienst zurück auf die Ursprungsszenen des Christentums, zum anderen nimmt er symbolisch einen Zustand vorweg, in dem alles zweckgerichtete Handeln, alles ›wirksame Handeln‹, als vollendet gedacht ist. Der liturgisch aufgespannte Erfahrungsraum wird auf diese Weise durch vergangene und als noch ausstehend geglaubte Szenen überblendet. Der 49 Schleiermacher, Die praktische Theologie, 50. 50 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, 313. 51 Schleiermacher, Die praktische Theologie, 103.
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Gottesdienst lässt durch diese Überblendungen Wirklichkeit neu ansichtig werden, macht sie neu erfahrbar, fühlbar, verstehbar, und kann auf diese Weise Sinndeutungsmuster auch über den Moment hinaus verändern – nicht nur intellektuell, sondern gerade auch das unmittelbare Selbst- und Weltverhältnis betreffend. Das Erleben eines Gottesdienstes ist stets mit Gefühlen verbunden. Das Confiteor im Eingangsteil des Gottesdienstes kann die schmerzliche Erinnerung an Verletzungen und Kränkungen wecken, die man anderen wissentlich oder versehentlich zugefügt hat. Möglich, dass Gefühle der Schuld wach werden, der Scham, der Reue, oder auch der Wunsch nach Vergebung. Die Sequenz des Gnadenzuspruchs zielt darauf ab, Befreiung von Schuld nicht nur als theoretisches Gedankenkonstrukt, sondern auch tatsächlich als authentisches Gefühl der Freude, der Erleichterung, des Trostes am eigenen Leibe erfahren zu können. Auch beim Hören der biblischen Lesung und der Predigt sind Gefühle involviert. Möglich, dass sich die Zuhörer angesichts der Erzählung von der Heilung des Gelähmten gelöst und lebendig fühlen, möglich, dass sie – nicht nur am Karfreitag – erschrecken angesichts der Drastik der Passionserzählung. Möglich, dass der Empfang von Brot und Wein beim Abendmahl verbindend und versöhnend empfunden werden kann und der Segen am Ende des Gottesdienstes die Gottesdienstbesucher mit dem Gefühl von Stärkung, Schutz und Heimat entlässt. Die Rekonstruktion einer Topographie der Gottesdienstgefühle, also jener Gefühle, die sich im Einzelnen während des Gottesdienstverlaufs einstellen, steht bislang aus, ebenso die Klärung der Frage, welche der hervorgerufenen Gefühle eigentlich spezifisch religiöse Gefühle sind. Erst die Berücksichtigung der Gefühlsebene wird das praktisch-theologische Verständnis des Gottesdienstes an das Erleben aller Beteiligten und das heißt: an die Wirklichkeit gottesdienstlicher Praxis zurückbinden und dadurch neu fundieren.
Literatur Aristoteles, Poetik, griech./dt., übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994/2002. Artaud, Antonin, Das Theater und sein Double, Frankfurt a.M. 1969. Brecht, Bertolt, Kleines Organon für das Theater, in: Gesammelte Werke, Bd. 16, Frankfurt a.M. 1967, 659 – 708. Ders., Über eine nichtaristotelische Dramatik, in: Gesammelte Werke, Bd. 15, Frankfurt a.M. 1967, 229 – 336. Brook, Peter, The Empty Space, New York 1969. Ders., The Open Door. Thoughts on Acting and Theatre, New York 1993. Childers, Jana, Performing the Word. Preaching as Theatre, Nashville 1998.
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Thomas Schlag
Emotion, Entwicklung und Emergenz. Gemeindeentwicklung in der Spannung zwischen individueller Religion und institutioneller Orientierung
1.
Bewegte Zeiten der Gemeindeentwicklung
Nimmt man gegenwärtige Programme der Kirchen- und Gemeindeentwicklung näher in Augenschein, so ist unübersehbar, dass diese sich durch eine stark emotional geprägte Semantik auszeichnen – und dies gilt keineswegs nur für Entwürfe evangelikaler Provenienz1: Die Gemeinde der Zukunft soll aufbrechend, bunt, lebendig und dynamisch sein, mutig Profil zeigen, Herzen und alle Sinne ansprechen. Sie soll als aktive Größe im Sozialraum erkennbar werden, fest gefahrene Haltungen und Strukturen aufbrechen und diese gegebenenfalls so wirkungsvoll wie möglich verändern. Menschen sollen sich in ihrer Kirchengemeinde wohlfühlen, diese als stimmigen Ort erleben und sich darin dauerhaft beheimaten2. Dementsprechend werden die Kriterien für attraktive gemeindliche Angebote benannt: Gottesdienste sollen Emotionen wecken, fröhlich sein, natürlich für »Jung und Alt« und für unterschiedliche oder für einzelne Milieus offen und ansprechend sein. Bildungsangebote, etwa im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit, sollen auf die ganze Person abzielen, geistreich sein und am besten ganz neue Erlebniswelten eröffnen. In der Erwachsenenbildung gilt es, leibhaftige spirituelle Wege zu beschreiten und existentielle Erfahrungen der besonderen Art zu machen. Kein Wunder, dass hierbei auch auf die Pfarrpersonen wesentliche Anforderungen zukommen: Ihnen wird die Aufgabe zugeschrieben, empathisch und authentisch zu sein, sich als Person ganz und gar auf die Menschen ihrer Gemeinde und ihr Pfarramt einzulassen und sich in ihrer pastoralen Existenz mit den eigenen Emotionen als wahre Menschen zu erweisen. Inmitten ihrer Ge1 Vgl. nur die einzelnen Beschreibungen von Reformprojekten auf der von der EKD verantworteten Homepage. Zugriff am 05. 01. 2013 unter : http://www.kirche-im-aufbruch.ekd.de/ praxis.php. 2 Dies einer der Zentralbegriffe des EKD-Impulspapiers Kirche der Freiheit. Vgl. Kirchenamt der EKD, Kirche der Freiheit.
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Thomas Schlag
meinde geht es darum, überzeugungsstark den Aufbau einer gemeinsamen Gefühlswelt zu befördern, und durch das persönliche Auftreten ihr Amt glaubwürdig nach innen und außen zu vertreten.3 Sie sollen emotional intelligent sein, wahrnehmend und wachsam kommunizieren, geistlich leiten4 oder sich die Rolle des Intendanten zu eigen machen5 und damit den bedeutsamen Kristallisations- und entscheidenden Fixpunkt für die Entwicklung der ganzen Gemeinde darstellen.6 Ganz offenkundig sind die Metaphern einer solchen emotional geprägten Sprachlandschaft dazu gedacht, wesentliche Grund- und Zielkategorien für Gemeindeentwicklungsprozesse und die entsprechenden Leitbilder darzustellen. Abgezielt wird auf die Profilierung, Entfaltung und Verdeutlichung von Gemeinde als lebendiger, bewegter und bewegender Einheit. Dynamik, Aufbruch und Neustart nach innen wie nach außen signalisieren überzeugende Erkennbarkeit. Durch ausdrücklich glaubwürdige Akteure soll offenbar wiederbelebt werden, was an sonstigen Nahbereichsstrukturen verloren gegangen ist, indem neue strong ties ausgebildet werden sollen, die auch auf Gefühlsebene Verlässlichkeit und Verbindlichkeit erzeugen. Durch eine solche gemeindliche Praxis und Kommunikation wird darauf abgezielt, emotionale Selbstvergewisserung zu ermöglichen und zugleich die eigene sowie die potentiell neue Klientel zu mobilisieren. Einen wesentlichen Attraktor sieht man dabei in der Erzeugung familienähnlicher warmherziger Verlässlichkeitsstrukturen sowie individuell passgenauer und kollektiv zu begehender und zu feiernder Gefühlswelten. In praktisch-theologischer Hinsicht ist hier interessant, dass die Zukunft der Gemeinde als Institution und Organisation gleichsam selbst in theologisch expressive Sprachgestalt gekleidet wird: So finden sich emotionale Redefiguren einer christologisch grundierten embodied ecclesiology oder einer beweglichdynamischen ökonomischen Trinität, die ihren direkten Niederschlag im Ausdrucksleben der Gemeinde finden kann und soll.7 3 Vgl. dazu durchaus auch kritisch Pachmann, Pfarrer sein, sowie vielfältige pastoraltheologische Perspektiven und Klärungen in Sommer/Koll, Schwellenkunde. 4 Vgl. etwa Hermelink, Pastorales Wirken sowie von anderer Seite her Böhlemann/Herbst, Geistlich leiten. 5 Vgl. Gundlach, Zur Zukunft. 6 Gegenwärtige Beschreibungen des pfarramtlichen Berufsprofils erwecken den durchaus zwiespältigen Eindruck, als ob sich dies einerseits tatsächlich alles leisten ließe und andererseits, als ob Personen mit einem solchen Profil tatsächlich immer noch in großer Zahl ausgerechnet Theologie studieren und in das Pfarramt eintreten wollen. 7 In systematisch ausführlicher und aufschlussreicher Weise kann hier verwiesen werden auf die Grundlegung für den anglikanischen Bereich bei Moynagh, Church, v. a. die Abschnitte »Towards a Theological Rationale«, 97 – 193 und »How do Contextual Churches Emerge?«, 197 – 221.
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Emotion, Entwicklung und Emergenz
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Für die Umsetzung solcher Visionen wird innerhalb der gegenwärtigen Gemeindeentwicklungsbewegung auch über die kulturellen Grenzen und Kontexte hinausgeschaut, um dort gleichsam die emotionale Seite von Kirche und Gemeinde noch genauer kennen zu lernen. Vielfache Reisen von Pfarrkonventen, Ausbildungskursen, Kirchenleitungen und auch der praktisch-theologischen Fachzunft etwa zu den Megachurches der USA, den zahlenmäßig explodierenden Gemeinden in Südkorea und China oder zu neuen Gemeindeaufbauprojekten in Großbritannien veranschaulichen dies eindrücklich. Man erwartet sich gleichsam von den kulturellen Formationen des Gemeindelebens ganz anderer Kontexte Inspiration und Motivation für das eigene Gemeindesein und die kirchentheoretische Theoriebildung. So werden nicht zufällig seit einigen Jahren verstärkt Gemeindemodelle aus dem angelsächsischen Raum prominent rezipiert, man denke nur an Willow Creek, die so genannten fresh expressions oder das Phänomen der emerging churches. Und nicht selten kommen die Expediteure von solchen Begegnungen mit der leidenschaftlichen wie leidvollen Hoffnung zurück, dass solche Emotionalität auch hierzulande bitter nötig wäre, aber zugleich ein Ding der Unmöglichkeit darzustellen scheint. Nun spricht aber selbst eine solche emotional getönte Rede von der bewegten und lebendigen Gemeinde noch keineswegs automatisch für sich selbst. Emotionale Lebendigkeit stellt jedenfalls per se noch kein ausreichendes Qualitätsmerkmal dar. Insofern sind die Dinge durchaus komplexer, heikler und auch ekklesiologisch herausfordernder, als dies in den einschlägigen Programmen oftmals zum Ausdruck gebracht wird. Es geht jedenfalls bei weitem nicht nur um die passenden Umsetzungsstrategien, sondern ganz grundlegende konzeptionelle Grundüberlegungen dazu, wie man sich Gemeinde zukünftig überhaupt vorstellen will. Ganz grundsätzlich wird zu Recht darauf hingewiesen, dass der Begriff »Gemeinde« selbst schon »in besonderem Maße mit Interessen verbunden und mit Emotionen besetzt [ist], was seine Wahrnehmung und Klärung nicht gerade erleichtert«8. Dass innerhalb gegenwärtiger Gemeindeentwicklungen intensive Zukunftsüberlegungen in dieser gleichsam bewegten Hinsicht stattfinden, ist prinzipiell zu begrüßen. Gegen vitale Erfahrungen in und mit kirchengemeindlichem Leben sind erst einmal so wenige Vorbehalte anzubringen wie gegen die Suche nach einem profilierten Gemeindeleben. Und man mag vielleicht mit guten Gründen sagen, dass das Problem nicht die auf eine lebendige Gemeinde abzielenden Reformprogramme sind, sondern gerade eine kirchlich gerne kultivierte Depression mit Hang zur gepflegten Lethargie. Und doch bedürfen selbst
8 Pohl-Patalong, Gemeinde, 242; vgl. dazu auch Hermelink, Doppelsinnigkeiten.
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die überzeugungsstärksten Aufbruchsprogramme einer näheren Beleuchtung – ja, vielleicht gerade diese in besonderer Weise. Insofern stellen sich grundlegende Fragen, die im Folgenden näher beleuchtet und bearbeitet werden sollen: So soll im Folgenden bedacht werden, ob mit der eingängigen Semantik von Emotion und Entwicklung unter Umständen ein neues ekklesiologisches Paradigma gleichsam unter der Hand etabliert werden soll, das das über einen langen Zeitraum gewachsene volkskirchliche Selbstverständnis und dessen spezifischen Umgang mit den vielfältigen individuellen religiösen Vollzugsformen und Deutungsmustern von Religion massiv untergraben könnte. Die anstehenden Fragen von Gemeindeentwicklung mitsamt den offenen Fragen nach Steuerung und Leitung bedürfen folglich ekklesiologischer Kriterien und der konzeptionellen theologischen Klärung. Notwendig ist eine theologische Kriteriologie über den angemessenen Richtungssinn gegenwärtiger und zukünftiger Gemeindeentwicklung. Diese Klärung wird im Übrigen alsbald noch dringlicher werden, da in absehbarer Zeit weitreichende Kooperationsund Fusionsstrategien notwendig sind – dies wird die Frage nach der emotionalen Verbundenheit mit der je eigenen Kirche und Gemeinde und deren profilierter Ausrichtung nochmals in ganz neuer Weise auf den Plan rufen. Konkret soll die These entfaltet werden, dass Gemeindeentwicklung – wie immer sie im Einzelnen konzeptionell ansetzt – vom Boden einer fundamental theologisch-anthropologischen und kirchentheoretischen Klärung aus zu konzipieren ist. Eine sachgemäße und zukunftsfähige Ekklesiologie muss mit dem Blick auf die individuelle freiheitliche Religionspraxis als emergentes Freiheitsgeschehen einsetzen. Dafür ist zu reflektieren, ob die intendierten Neu- und Ausgestaltungen gemeindlicher Praxis konzeptionell und ganz praktisch tatsächlich die notwendige Offenheit und Akzeptanz für die je individuellen religiösen Bedürfnisse und Ausdrucksgestalten von Freiheit und Bindung, Nähe und Distanz sowie Individualität und Gemeinschaft zeigen. Dazu erscheint es notwendig, in den folgenden Abschnitten vor allem erst einmal die grundlegenden Fragen zu identifizieren, und nicht sogleich für alle Aspekte fertige Lösungen zu präsentieren. Die weiteren Ausführungen stecken insofern den weitergehenden Problemhorizont ab, da gerade die grundlegende ekklesiologische Reflexion inmitten der gegenwärtigen Entwicklungsdynamiken häufig unterbelichtet bleibt. Für die Entfaltung dieses Vorhabens gilt es im Folgenden zuerst einmal zentrale Herausforderungen zu benennen.
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Emotion, Entwicklung und Emergenz
2.
Herausforderungen
2.1.
Religionsbezogene Herausforderungen
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Es hat den Anschein, als ob bestimmte Phänomene individueller religiöser Wahlentscheidungen vor dem Urteil mancher Gemeindeentwicklungstheoretiker nur schwer bestehen können. Oftmals zeigt sich ein eher zwiespältiges Verhältnis gegenüber einer Religionspraxis, die vermeintlich nicht den Standards des christlichen Gemeindelebens entspricht: sei dies nun das, was man landläufig Patchwork-Identität nennt, sei es das, was dann leicht abfällig und spöttisch als Weihnachtschristentum bezeichnet wird. Mit guten Gründen identifiziert W. Gräb hier als weiterreichendes Problem, dass Kirche und Theologie die »von der Religionssoziologie diagnostizierte Individualisierung als Gefahr für den Bestand der kulturellen und religiösen Intuitionen«9 ansehen. Nebenbei bemerkt: Sollte hier tatsächlich »Institutionen« gemeint gewesen sein, so handelt es sich allerdings um einen wunderbaren Verschreiber. Die Frage ist, ob und wenn ja, wie hier Kriterien für eine Gemeindeentwicklung gesetzt werden, die dem individuellen religiösen Ausdruck den notwendigen Raum geben, und zwar sowohl im Blick auf die Gemeindeglieder wie auch die Leitenden der Gemeinde. Für die konzeptionelle Gemeindeentwicklung ist deshalb die Berücksichtigung individueller Religiosität konstitutiv, da ansonsten der Freiraum für individuelle Suchbewegungen, religiöse Lebensgeschichten und die notwendige Optionsvielfalt gemeindlicher Frömmigkeitspraxis massiv eingeschränkt zu werden droht.10
2.2.
Emotionsbezogene Herausforderungen
Gerade weil, wie angedeutet, innerhalb der gegenwärtigen Gemeindeentwicklung »viel Emotion« im Spiel ist, stellt sich die Frage, was denn darunter im Einzelfall zu verstehen ist.11 Diese gilt hinsichtlich der unterschiedlichen Aus9 Gräb, Die religiöse Konstitution, 133. 10 Vgl. dazu auch Kumlehn, Kirche. 11 Eine ausführlichere Analyse der Bedeutung von Emotionen innerhalb gegenwärtiger Leitbilder kirchlicher Reformprogramme steht bisher ebenso aus wie die empirische Analyse dieser Dimension in verschiedenen kirchlichen Praxisfeldern, sieht man einmal von ritualtheoretischen und auf den Gottesdienst bezogenen Studien insbesondere in performativer Ausrichtung ab, vgl. v. a. Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung; im Bereich der Seelsorgelehre zeichnet sich eine steigende Aufmerksamkeit ab, wie etwa verschiedene Forschungsprojekte im Bereich der Tübinger Praktischen Theologie (B. Weyel) zeigen; für die Pastoraltheologie und Religionspädagogik ist hier noch hermeneutisches Neuland zu identifizieren, vgl. Schreiner, Art. Emotionales Lernen, 401 f.
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Thomas Schlag
drucksformen ebenso wie im Blick auf deren Initiierung im Kontext gemeindlichen Lebens. Werden unter »Emotionen« primär gestaltbare oder gar machbare Gefühlsäußerungen verstanden, die auch ihre äußerliche Erkennbarkeit finden müssen oder können sich diese nicht auf ganz andere, gleichsam protestantisch unaufgeregte Weise zeigen? Geht man eher von der prinzipiellen Unverfügbarkeit solcher emotionaler Bewegtheit aus oder von der Möglichkeit der bewussten Initiierung? Nebenbei bemerkt »funktionieren« in klassischen europäischen Sonntagsgottesdiensten eben auch importierte Gospel- oder Lobpreiselemente in der Regel nur sehr bedingt, so dass die internationalen Kirchenexpediteure hier zu Unrecht frustriert sind, wenn der Transfer offenkundig immer wieder misslingt. Ist also für eine lebendige Gemeindeentwicklung überhaupt nur ein bestimmter Emotionscode möglich und gibt es gar einen bestimmten unausgesprochenen Kodex dessen, was geglaubt oder emotional ausgedrückt werden muss, damit Gemeinde lebendig sein kann? Der herausfordernde Punkt ist insofern, ob eine expressive Glaubensartikulation – erfolgt diese nun in leiblicher oder in verbaler Form – überhaupt als Grundkriterium für legitime Teilhabe ausgegeben werden kann. Denn zumindest kann die Gefahr auftreten, dass die äußeren Zeichen der sichtbaren Kirche zum entscheidenden Kriterium für die Einschätzung der Lebendigkeit einer Gemeinde angesehen werden. Ein Grundproblem ergibt sich jedenfalls dann, wenn bestimmte Entwicklungsprozesse durch ihre emotionale Aufladung hin zu einem sehr dezidierten Gemeindebild gesteuert werden sollen. Dies wird dann besonders schwierig, wenn bestimmte »warme« Begriffe und Leitbilder theologisch und spirituell so weit aufgeladen werden, dass sie Pluralität unterbinden oder subkutane Homogenisierungsabsichten tragen. Emotionale Expressivität kann damit unter der Hand sogar zur werkgerechten Teilnahmebedingung werden. Nimmt aber die gemeindliche Kommunikationskultur die extreme Form und kollektive Eindeutigkeitssemantik an, dann droht damit die diskursive und bildungsorientierte Kultur gerade unterlaufen zu werden, bei der individuelle religiöse Bedürfnisse gerade nicht mehr mit einer prinzipiellen Offenheit und Akzeptanz rechnen können. Tatsächlich ist von Pfingsten her Begeisterung in und für Gemeinde durchaus angebracht. Allerdings ist kritisch zu erwägen, ob hier nicht die individuelle Einstimmung kolossal ignoriert und damit plurale Begeisterungsformen zugunsten eines kollektiven Gefühlslebens unterschätzt werden. Kurz gesagt: Die emotional ausgerichtete Rede von Gemeinde zeigt sich als eine herausfordernde Zielsetzung für zukünftige Entwicklungsprozesse. Sie ist zugleich aber auch nicht ohne Risiko – und der Preis profilierter Eindeutigkeit ist beileibe nicht zu unterschätzen.
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Emotion, Entwicklung und Emergenz
2.3.
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Entwicklungsbezogene Herausforderungen
Auch die Verwendung des Entwicklungsbegriffs in den entsprechenden Reformdebatten bringt eine Reihe grundlegender Herausforderungen und Anfragen mit sich.12 So können durch allzu einlinige Vorstellungen die bereits erwähnten problematischen Homogenisierungstendenzen unter der Prämisse vermeintlich eindeutiger Zielorientierung noch weiter befördert und verstärkt werden. Problematisch ist etwa ein gewissermaßen determiniertes, teleologisches Verständnis im Sinn einer ganz bestimmten Vorstellung von Gemeinde bzgl. deren Praxis mitsamt den entsprechenden Kommunikationscodes. Gerade dann, wenn Gemeinde unter der Leitvorstellung eines warmen Nahraumes Heimat ermöglichen und gar Nestwärme vermitteln soll, läuft das Entwicklungsparadigma Gefahr, abweichende individuelle Orientierungspotentiale zu unterschätzen oder gar zu ignorieren. Dies kann selbst dort zum Problem werden, wo vom Empowerment die Rede ist, denn die Frage ist natürlich auch in diesem Zusammenhang, wozu denn im Einzelnen befähigt werden soll. Dazu kommt, dass sich mit bestimmten Entwicklungsprogrammen dann auch früher oder später das Bedürfnis nach Messbarkeit des Erreichten verbindet. Bei Verwendung des Entwicklungsbegriffs ist deshalb dessen Funktion – gar sein Gebrauch als Metapher für eine bestimmte Steuerung – zu prüfen. D.h. es ist zu fragen, ob es dabei primär um bestimmte institutionelle und organisatorische oder tatsächlich um individuell orientierte Entwicklungsoptionen gehen soll. In diesem Zusammenhang ist dann aber auch zu fragen, wonach gelingende Entwicklung bemessen werden soll, wenn es hoffentlich nicht allein bestimmte zu erreichende Kennzahlen sind. Die Rede von »Entwicklung« darf jedenfalls weder zum hysterischen Aktivismus noch zur nur noch rein technischen Umsetzung verleiten. Um es schon hier vorwegzunehmen: Die Frage nach der Qualität der Gemeindeentwicklung ist nicht ohne die Grenzen ihrer Bestimmbarkeit und Messbarkeit zu stellen – und diese Grenzen liegen theologisch sowohl im Faktum individueller religiöser Praxis wie in der prinzipiellen Bestimmungsoffenheit gemeindlicher Lebensäußerungen. Manche gegenwärtigen Gemeindeentwicklungsprogramme unterschätzen den Aspekt des Bewegtwerdens – so etwa ein eher evangelikal-missionarischer Ansatz, andere sozusagen den Aspekt des Bewegtwerdens – so etwa ein eher liberaler Ansatz. 12 Interessanterweise liegen bisher ebenfalls noch keine systematischen Untersuchungen zum Entwicklungsparadigma und seiner semantischen Verwendung innerhalb gegenwärtiger Kirchenreformprogramme vor, so dass hier ebenfalls dringender Forschungsbedarf zu identifizieren ist; vgl. Schlag, Wachstum.
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Thomas Schlag
Es soll folglich sowohl unter dem Label der Emotion wie unter dem der Entwicklung viel Neues initiiert und aufgebaut werden. Was aber im Einzelnen hier entstehen und was durch die gegenwärtigen Zielsetzungen emotionaler Entwicklungsdynamik tatsächlich erreicht werden kann, ist noch weitgehend unklar. So sind hier ebenfalls erhebliche Herausforderungen gegeben, auch den Entwicklungsbegriff näher zu bestimmen und dafür eine bewusst entwicklungsoffene ekklesiologische Konzeption stark zu machen.
2.4.
Ekklesiologische Herausforderungen
Von den bisher schon genannten Herausforderungen aus ist offenkundig, dass sich mit Anspruch einer stark auf Emotionen setzenden Gemeindeentwicklung grundlegende ekklesiologische Fragen stellen. Denn wenn gegenwärtige Gemeindeentwicklungsmodelle intensiv auf einer hohen emotionalen Zumutung sowie aktive Beteiligung aufbauen, zielen sie möglicherweise unter der Hand vor allem auf eindeutige Commitments sowie die zweifelsfreie Einstimmung und explizite Zustimmung ihrer Mitglieder ab. Wie lässt sich aber, so ist zu bedenken, die je individuelle Orientierung in religiösen Fragen mit einer solchen gemeinsamen Religionspraxis von Gemeinde zusammendenken, die ja gerade von Formen des diskursiven und rituellen Miteinanders lebt? Die Spannung zwischen Individualität und Sozialität ist dabei ebenso neu zu bedenken, wie die Frage der Konstitutionsbedingungen von Gemeinde überhaupt: Trägt kurz gesagt: die Bewegtheit der Einzelnen die Gemeinde oder ist es so, dass Gemeinde Bewegtheit überhaupt erst ermöglicht? Dazu kommt als ein weiterer Aspekt die Frage der Partizipation an gemeindlicher Praxis bzw. der möglichen Zugehörigkeitskriterien zur Gemeinde überhaupt ins Gespräch: Braucht es eine bestimmte persönliche emotionale Beteiligung, Eigenaktivität und Eigenentwicklung, damit sich Gemeinde überhaupt konstituieren kann oder ist die Existenz von Gemeinde die Bedingung für diese persönliche Beteiligung? Im Folgenden soll durch die Orientierung am Begriff der emerging churches bzw. der emergenten Kirche ein Antwortversuch im Blick auf die benannten Herausforderungen unternommen werden.
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Emotion, Entwicklung und Emergenz
3.
Emergenz als Leitbegriff einer konstruktiven Gemeindeentwicklungstheorie
3.1.
Zur gegenwärtigen Rede von den emerging churches
405
Der Begriff der Emergenz taucht seit einigen Jahren verstärkt innerhalb der Gemeindeentwicklungsprogramme auf. Offenbar wird er als besonders geeignet angesehen, Intentionen und Zielsetzungen gemeindlicher Reformüberlegungen und -prozesse in eine eingängige Semantik zu kleiden. Dabei scheint sich die im Bereich der Natur- und auch der Geisteswissenschaften intensiv geführte Diskussion um den Emergenzbegriff in diesen kirchlichen Debatten allerdings kaum niederzuschlagen. Gleichwohl sei an dieser Stelle wenigstens kurz auf diese nicht-theologische Begriffsdebatte eingegangen, weil davon interessante Anregungen für den Bereich der praktisch-theologischen Reflektion über das Verständnis einer emergenten Gemeinde und deren Ausdrucksformen hervorgehen.13 Von einer starken Emergenz kann nur dort die Rede sein, wo sich eine qualitative Transformation hin zu etwas Neuem ereignet, die aus dem Bisherigen so gar nicht abgeleitet und auch nicht mehr darauf hin zurückgeführt oder gar reduziert werden kann. Als »emergent« kann auch die sich selbst steuernde Aktivität eines ganzen Systems bezeichnet werden, das sich eben nicht nur an seine Umwelt anpasst, sondern sich aufgrund bestimmter Herausforderungen oder geänderter Rahmenbedingungen zu einer ganz neuen Form und Existenzweise irreduzibel umbildet. Es kann so zu einem System als Entität werden, das mehr ist als die Summe seiner Teile.14 Emergenz kann somit als »Erzeugungen auf der Systemebene durch lokale Interaktionen unabhängig agierender Elemente«15 verstanden werden. Plastische Beispiele aus dem Bereich der Soziologie sind hier entstehende Menschenströme und Wanderbewegungen, die anfangs aus einzelnen Individuen bestehen, dann aber durch bestimmte Dynamiken zu ganz neuen Formationen führen können. Im Bereich des Denkens und der Kommunikation können sich bestimmte einzelne Gedankeninhalte herausbilden, die zwar aus einzelnen Informationsbausteinen oder grammatischen Strukturen bestehen, dann aber zu etwas substantiell Neuem führen, das sich nicht linear aus diesen einzelnen Strukturelementen ableiten lässt. Wichtig ist hier zugleich, dass erst durch die Relationalität der je einzelnen, anfangs unabhängigen Elemente zu13 Vgl. dazu die Beiträge aus unterschiedlicher disziplinärer Sicht in Greve/Schnabel, Emergenz. 14 Vgl. Mayntz, Emergenz, 161. 15 A.a.O., 167.
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einander ein solcher Umwandlungsprozess möglich ist. In komplexeren Emergenzmodellen wird sogar davon ausgegangen, dass die Interaktion von Systemteilen durch nichtlineare Dynamiken bestimmt wird und Phasenwechsel, Umkipp- und Verzweigungsphänomene enthält, so dass sich Interaktionseffekte schwer oder überhaupt nicht vorhersagen lassen.16 In diesem Zusammenhang beinhaltet Emergenz den Aspekt einer grundlegend dialektischen Dynamik von gestaltbarer Initiierung und unverfügbarer Entwicklung hin zu solchen Transformationsprozessen. Gelegentlich wird innerhalb der Abhandlungen zu den emerging churches zwar Bezug auf diese Grundeinsichten genommen. Im Wesentlichen stellt sich allerdings der Eindruck ein, als ob der Begriff des Emergenten eher dem alltagsprachlichen Gebrauch entnommen worden ist, um ihn dann als eine Art ausgezeichneter Metapher für eine neu entstehende Kirche und neue Gemeindebildungen und damit für die eigenen Reformabsichten und Transformationsvisionen zu verwenden. Einflussreich für die deutsche Diskussion ist hier ohne Frage die Rezeption der emerging churches im englischsprachigen Raum, die seit etwa zehn Jahren verstärkt stattfindet.17 Schon für die amerikanische Ursprungsbewegung gilt, dass diese von großer innerer Pluralität gekennzeichnet ist und über eine evangelikale Ausrichtung im engeren Sinn hinausgeht.18 Gleichwohl können einige Grundcharakteristika im Folgenden benannt werden: Im Begriff selbst soll die Dynamik und Bewegung von konzeptionellen Gemeindeaufbrüchen und neu gebildeten Gemeinden zum Ausdruck gebracht werden, die sich im Unterschied zu den klassischen Strukturbildungen oftmals als soziale und kommunitäre Netzwerke konstituieren. Dabei zeichnet es diese Bewegungen aus, dass sie sich bewusst in die jeweiligen kulturellen Kontexte hineinbegeben und damit in bisher unerforschten Gebieten der lokalen Lebenswirklichkeit erscheinen wollen, um so den eigenen Wirkungsradius auf bisher unerreichte Personen und Personengruppen auszuweiten. Gebaut werden sollen netzwerkartige gemeindliche Gegenwelten gegen die überkommenen institutionellen Strukturen und deren vermeintliche oder tatsächliche Langweiligkeit sowie deren Trägheit und Altersstarrsinn. Inhaltlich wird in durchaus schillernder Weise mit der Gegenwartskultur umgegangen bzw. bestimmte Postmoderne- und Zeitgeistströmungen sollen bewusst mit dem Evangelium verknüpft werden, um so zu neuen zeitgemäßen 16 Vgl. a. a. O., 175. 17 Vgl. Carson, Emerging Church; Kimball, Emerging Church; Vogt, Das 1x1 sowie Bachmann/ Künkler/Faix, Emerging Church. Aufschlussreich ist die im wahrsten Sinn des Wortes fundamentalistische Kritik von Ebertshäuser, Aufbruch, der allerdings eindrückliche Charakterisierungen der Bewegung unternimmt. 18 Vgl. Bielo, Emerging Evangelicals.
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Emotion, Entwicklung und Emergenz
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Formen von Verkündigung und Evangelium zu führen. Diese Forderung einer kulturbewussten Öffnung zeigt sich bis hinein in die Entwicklung neuer liturgischer Formen, die ebenfalls stark auf kulturelle Anknüpfungspunkte und aktive Teilhabe setzen. So soll etwa die Wortverkündigung bewusst für die Gestaltung und den echten Dialog unter den Teilnehmenden geöffnet werden. Theologisch wird all dies immer wieder mit der zentralen These verbunden, dass Gott selbst sich in der jeweiligen Kultur offenbart und dementsprechend seinem Wirken gleichsam Raum und Aktionsfläche bereitet werden muss. Gemeinde soll gleichsam im Sinn einer Kooperation vertikaler und horizontaler Relationen weiterentwickelt werden: Als von Gott her gestiftete und durch die Inkarnation für alle Welt sichtbar gewordene Größe erlangt sie ihre überzeugende Manifestation erst durch die horizontalen Beziehungen der Glieder untereinander. Mit der Metapher des Emergenten soll zudem die Vision möglichst flacher kirchlicher Hierarchien und die grundsätzliche Offenheit für breite Partizipation in der Mitgestaltung gemeindlicher Entwicklungsprozesse signalisiert werden. So erscheint es konsequent, wenn diese Konzeption von Gemeinde als »postmoderne Heimatkunde«19 tituliert und dabei versucht wird, Heimatgefühl und postmodernes Lebensgefühl miteinander zu verbinden. Zugleich wird dabei immer auch auf eine Transformation im Sinn der Umwandlung der Welt durch die christliche Botschaft und damit auf eine grundlegende Gesellschaftsrelevanz abgezielt.20
3.2.
Rückfragen an die Programmatik
Nun ergeben sich allerdings von dort aus erhebliche Rückfragen an diese ekklesiologische Programmatik. In inhaltlicher Hinsicht kann der Emergenzbegriff aufgrund seiner dynamischen Konnotation durchaus eine gewisse Suggestivität erzeugen und dessen Verwendung unter der Hand mit bestimmten Immunisierungsstrategien und Allmachtsphantasien verbunden werden. So ist es wohl kein Zufall, dass zumindest in mancher der deutschen Bewegungen eine 19 Vgl. Faix/Weißenborn, ZeitGeist; Faix/Weißenborn/Aschoff, ZeitGeist 2. 20 J. Reimer, der selbst durch den Band »Die Welt umarmen. Theologie des gesellschaftsrelevanten Gemeindebaus«, hervorgetreten ist, formuliert dazu in einem Interview: »Der Pietismus und die deutschen Freikirchen haben sich der Gesellschaft durch den nach dem 2. Weltkrieg intensiv gelebten Nonkonformismus und die theologische Abgrenzung von einer im Säkularismus verfangenen Gesellschaft entfremdet. Die Volkskirche hat sich dagegen weitgehend der Gesellschaft angepasst und hat damit ihr spirituelles Profil verloren. Beide Gruppen positionieren sich vor allem in der bürgerlichen Mitte und sind damit für andere Teile der Gesellschaft unattraktiv.« (Interview in: http://buecheraendernleben.wordpress.com/2012/03/31/tobias-faix-johannes-reimer-die-welt-verstehen/ [Stand: 1. 11. 2012])
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Art Kulturevangelikalismus gewittert wird, der aber letztlich weder die Postmodernen noch die Evangelikalen anspreche. Zu erwähnen ist übrigens, dass viele der deutschsprachigen Protagonisten dieser Stoßrichtung in vornehmlich evangelikalen Kreisen, also in dezidiert ausgerichteten Gemeinden oder an einschlägigen Ausbildungsstätten verortet sind. Man sollte insofern manche Unternehmungen dieser Richtung genauer darauf hin prüfen, ob es sich hier um den Versuch einer offenbarungspositivistischen Kolonialisierung der postmodernen Lebenswelten handelt. Jedenfalls ist nicht auszuschließen, dass sich hier der Anspruch einer Deutungsmacht zeigt, bei dem zwar individuelle religiöse Äußerungen auf den Blick ernst genommen werden, diese letztlich aber doch nur als ein Zwischenstadium zur Gemeindehomogenisierung angesehen werden. Es ist insofern nicht auszuschließen, dass die Rede von Emergenz auch funktional und strategisch verwendet werden soll, um ganz bestimmte Formen und Ausdrucksgestalten von Gemeinde zu favorisieren, andere aber bewusst abzulehnen oder hinauszudrängen. Die immer wieder betonte Offenheit für Pluralität könnte dann zwar die Akzeptanz unterschiedlicher Erscheinungsformen des christlichen Glaubens meinen, nicht aber unbedingt auch die Offenheit für die Pluralität unterschiedlicher religiöser Welt- und Lebensdeutungen. Dies zeigt sich schon in den leicht verräterischen Titeln wie »Die Welt verändern«21 oder »Die Welt umarmen«, wodurch »die Welt« vornehmlich als Gegenüber erscheint und damit das eigene Trachten nach Kontextualität offenbar ein klares missionarisches Interesse trägt. Die immer wieder eingeforderte Kontextualisierung droht folglich, gerade die klassische Unterscheidung zwischen einem individuellen, kirchlichen und öffentlichen Christentum zu unterlaufen, indem alles unter das Banner eines gemeindlichen Christentums gestellt und authentische Emotionalität und lokale Gemeinschaftlichkeit zum Brennpunkt kirchlicher Emergenz gemacht wird. So läuft eine solche Rede von Emergenz Gefahr, letztlich weder individualitätsoffen noch reflektierbar und kritisierbar zu sein. Es deutet gleichwohl manches darauf hin, dass der Begriff der Emergenz durchaus auch für Fragen der Gemeindeentwicklung eine inspirierende Deutungsgröße sein kann. Allerdings ist es dafür notwendig, den Begriff selbst nochmals theologisch so zu interpretieren, dass er tatsächlich die handelnden und betroffenen Akteure selbst sachgemäß mitberücksichtigt. Dafür hat nun der Claremonter Theologe Philipp Clayton einen interessanten Deutungsversuch unternommen, der im Folgenden kurz nachgezeichnet werden soll. 21 Vgl. Faix/Reimer/Brecht, Die Welt verändern; vgl. auch Faix/Künkler, Die verändernde Kraft sowie Faix/Reimer, Die Welt verstehen.
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3.3.
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Eine theologische Deutung des Emergenzprinzips
In ausführlicher Auseinandersetzung mit dem reduktionistischen und deterministischen Menschenbild der Neurowissenschaften wirft Clayton die Grundfrage auf, wie sich von dort aus noch vom freien Willen und überhaupt von der Freiheit des Individuums reden lasse. Clayton nimmt für seine Erörterung das – naturwissenschaftlich zwar verwendete, aber lediglich biologistisch verstandene – Muster der Emergenz auf. Er transformiert es nun allerdings innerhalb einer theologischen Anthropologie in das Deutungskonzept eines sich in Anschauung des Unendlichen entfaltenden Freiheitsgeschehens und individuellen Freiheitshandelns. Für seine »metapyhsisch offene Emergenztheorie«22 entwickelt Clayton die folgende Argumentationsfigur : Sowohl in naturbezogener, sozialer wie in kultureller Hinsicht komme es nach dem Muster der Emergenz zu ständig neuen Formen der Komplexität und Kausalität. Dabei ereignen sich nun aber im Sinn der immer wieder neuen kreativen Formen des Werdens permanent Transzendierungsvorgänge: »Je komplexer die Lebensform, desto mehr Offenheit zeigt sie und desto mehr transzendiert sie ihre unmittelbare Umwelt«23. Den Menschen komme dabei unter allen Wesen eine besondere Fähigkeit zu: »er ist unbestreitbar das sich am radikalsten selbsttranszendierende Wesen«24, und damit in seinem Sein geistiges Subjekt und freier vernünftig-moralischer Handlungsträger.25 Anhand Schleiermachers Denkfigur der Religion als transzendenzoffene Erfahrung des Unendlichen stellt Clayton dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisanspruch diese theologisch-anthropologische Freiheitstheorie als alternative Deutung der Wirklichkeit und ihrer komplexen Veränderungsprozesse gegenüber : Demnach ist es die individuelle religiöse Erfahrung selbst, durch die sich in aller Freiheit die Welt neu erschließt. Im Sinn einer Emergenz des freien Geistes heißt dies: Die Religion steigt aus dem Boden der menschlichen Erfahrung empor wie das Quellwasser aus der Erde und fließt über alle Bereiche der menschlichen Erfahrung. Sie motiviert unsere tiefsten ethischen Verpflichtungen; sie fließt durch unsere intimsten persönlichen und emotionalen Bindungen; und sie spornt unsere hochfliegendsten Spekulationen über das Wesen der Realität an.26
22 23 24 25 26
Clayton, Die Frage, 154. A.a.O., 153. Ebd. Vgl. a. a. O., 170. A.a.O., 143 f.
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Freiheit stellt dann selbst eine emergente Eigenschaft dar, die von biologischen und physischen Voraussetzungen zwar abhängig bleibt, nicht aber auf diese reduziert werden kann.27 Diese Fähigkeit zur Selbsttranszendierung ist für Clayton nun zwar einerseits ein hochindividuelles Welterschließungsprinzip, hat aber – und darin liegt das weiterreichende theologische Argument – ihren Grund in der Imago-Dei-Korrelation als Beziehung zu einem unendlichen Grund.28 Dementsprechend zitiert er aus Schleiermachers Monologen: Jenseits der zeitlichen Welt liegt ihnen ja die Gottheit, und die Gottheit anzuschaun und zu loben haben sie den Menschen nach dem Tode auf ewig befreit von den Schranken der Zeit: aber es schwebt schon jetzt der Geist über der zeitlichen Welt, und solches Schauen ist Ewigkeit, und unsterblicher Gesänge himmlischer Genuss. Beginne darum schon jetzt dein ewiges Leben in steter Selbstbetrachtung.29
Oder um es pointiert zu sagen: Die Rede von der Emergenz verweist mit ihrem Bezugspunkt der je individuellen Selbsttranszendierung und Horizontüberschreitung auf Gottes Gegenwart und Wirken selbst. Theologisch gesehen, so kann man im Anschluss an Clayton folgern, verweist diese Begriffsverwendung von Emergenz auf die göttliche, die Welt durchwirkende Macht selbst30, die überhaupt erst das religiöse Gefühl und seine freie Bewegtheit ermöglicht und beidem die entscheidende Zielrichtung gibt. Man könnte geradezu von einer starken Emergenz freien Gefühlslebens sprechen, um so den weltverändernden Charakter dieses göttlichen Wirkens in seinem unbedingten Transformationscharakter deutlich zu machen. In Claytons Argumentation findet sich somit eine Deutung von Emergenz, die gerade die je individuelle freie Welterschließung zu ihrem Ausgangs- und Zielpunkt hat und damit einem naturalistischen Menschenbild entschieden widerspricht. Dieses Geschehen »von oben«, wie Clayton formuliert, ist folglich auf die freie Zustimmung des Individuums angewiesen. Und noch mehr : Der Mensch bleibt in seiner Weltdeutung und Horizonterweiterung nicht für sich allein, er kann diese nur bedingt für sich alleine unternehmen. Sondern diese Emergenz des freien Geistes bedarf auf der Relation zu anderen Individuen und der gemeinsamen Kommunikation. Die Emergenz des freien Geistes erlangt ihre Bedeutsamkeit erst im je individuellen und freien Gefühl einerseits und in gemeinsamer Kommunikation und Geselligkeit andererseits. In diesem Sinn ist individuelle 27 28 29 30
A.a.O., 8. Vgl. a. a. O., 170. Schleiermacher, Monologen (1829), 339, nach Clayton, a. a. O., 144. Inwiefern diese Denkfigur mit der Rede von der Emergenz des Namens Gott selbst in Bezug gesetzt werden könnte, wäre weiter zu prüfen, vgl. Bader, Die Emergenz.
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religiöse Freiheit emergentes Geschehen höchster individueller Passivität eines Bewegtwerdens und zugleich größtmöglich freie Aktivität individueller und gemeinsamer Selbstbewegung. Diese theologische Fassung des Freiheitsbegriffs hat nun zwei wesentliche Konsequenzen, die es gerade im Blick auf meine kritischen Rückfragen an die Bewegung der emerging churches zu bedenken gilt: Zum einen sind alle kollektivistischen Zumutungen, sich als Individuum notwendigerweise in eine bestimmte Richtung bewegen und entwickeln zu müssen, in Frage gestellt. Zum anderen kann Emergenz nicht durch eine emotionale Initiation von außen her erzeugt werden, sondern beruht auf der Emergenz des freien Geistes selbst. Man mag zwar durch eine inkarnatorische Redefigur der Emergenz ihre ekklesiologische und christologische Deutung zu geben versuchen und sich dadurch gleichsam heilige Lebendigkeit versprechen. Allerdings wird damit unter Umständen die Grundfigur eines sich frei zeigenden Geistes inmitten der Gemeinde seiner freien Glieder unterlaufen und damit der Geschenkcharakter gelingender Gemeinschaft überhaupt negiert. Das Erscheinen und Sich-Ereignen göttlicher Offenbarung entzieht sich ebenso prinzipiell der Verfügung wie eine angemessene Rede davon: Vom Inkarnierten oder gar dem anbrechenden Reich Gottes – in Gestalt der je eigenen Gemeinde! – zu sprechen, kann bestenfalls annäherungsweise geschehen. Als semantische Zielformulierung jedoch überschreitet eine solche Rede die Grenzen des Menschenmöglichen.
4.
Ekklesiologische Konsequenzen
4.1.
Ekklesiologische Deutung
Die vorangegangenen Überlegungen sind nun aber nicht nur in kritischer, sondern auch in konstruktiver Hinsicht für die Frage der Rede von Emotion und Entwicklung als Leitkategorien gegenwärtiger Gemeindeentwicklung bedenkenswert. Emergenz als eine gleichsam dynamische Freiheitsgeschichte kann als grundlegendes sowie kritisches Orientierungs- und Gestaltungsprinzip für die komplexen Anforderungen und Prozesse zukünftiger Gemeindeentwicklung begriffen werden. Denn ein solches Verständnis des Bewegtwerdens im Sinn der Emergenz des freien Geistes vermag der individuellen Emotion und der institutionellen Entwicklung einen angemessenen und auch gemeinsam sich offen entwickelnden Richtungssinn zu geben. Der Gedanke einer starken Emergenz findet seine ekklesiologische Analogie in der rechtfertigungstheologisch grundierten Zusage, von der Gnade Gottes je für sich selbst hören und dieser gewiss werden zu können. Verkündigung und sakramentales Geschehen machen dieses Ur-
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sprungsgeschehen in je wieder neuem und überraschendem Sinn erlebbar. Oder wie es W. Gräb im Blick auf die Figur des Franz Biberkopf und dessen existentielle Bedürftigkeit in wiederum emergenzorientierter Hinsicht klar macht: Die Erlösung aber ist die radikale Selbsttranszendierung, die Überschreitung des eigenen Ichs, über die Grenzen seiner eigenen Möglichkeiten hinaus. Diese Selbsttranszendierung ist die Voraussetzung der Neubegründung eines Menschen aus der Kraft des Jenseits.31
Dies hat dann unmittelbare Bedeutung für die Frage nach den Konstitutionsbedingungen von Gemeinde: In theologischem Sinn machen nicht die Glieder Gemeinde, indem sie nach innen und außen eindrucksvoll handeln, sondern Gemeinde wird zuallererst durch ihr Bewegtwerden von außen her konstituiert. Nicht durch die emotionale Aktivität einzelner Glieder erschließt sich der tiefere Sinn von Gemeinde, sondern gerade durch die immer wieder emergenten Entfaltungen ganz anderer Art.
4.2.
Gemeinde und Partizipation
Dieses Grundverständnis von Gemeinde als einer sich von Gott her entfaltenden und im individuellen freien Bewusstsein nachvollziehbaren Größe hat Konsequenzen für die Frage der Partizipation in der Gemeinde. Es braucht Raum zur Entfaltung und Expression des Gemeinde-Seins als eines emergenten Geschehens. Von dort aus kann dann dem je individuellen Gefühl und der Reflektion freie Entfaltung zukommen, während zu viel Entwicklungshysterie und -technokratie diesen Freiheitsraum gerade beschränkt und begrenzt. Diese Freiheitsbestimmung hat dann auch Auswirkungen auf die Frage der Bedingungen von Zugehörigkeit und Mitgliedschaft. Diese ist in einem möglichst weiten Sinn zu sehen und bemisst sich neben der Taufe auch daran, ob Menschen sich von dieser Gemeinde Wesentliches für ihr eigenes Gefühlsleben versprechen. Damit ist auch die gemeindliche Offenheit für verschiedene Modelle und Modi von Teilhabe zu verknüpfen. Neben der emotionalen Expression ist auch Raum für individuelle Impression zu eröffnen und eine Kultur offener Gestaltungsformen intensiv zu pflegen. Erst so wird Identitätsbildung und Beheimatung auf einer persönlichen Ebene wirklich möglich. Erst wenn dies berücksichtigt wird, kann der Anspruch auf eine Kontextualisierung in missionarischer Absicht legitim sein. Gemeinde ist damit nicht zuerst als lernende Organisation zu fassen, sondern 31 Gräb, Die religiöse Konstitution, 150.
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als Gemeinschaft der Glaubenden, die reflektierend über ihren eigenen Glauben und ihre Teilhabe an der Gemeinde Auskunft geben können. Zur lernenden Organisation kann sie überhaupt erst werden, wenn sie sich als hörende Gemeinde versteht und das Gehörte oder als das als Gehört-Verstandene wiederum im gemeinsamen Gespräch und Gebet, in Feier und in Reflexion miteinander abwägt. Wessen Wort innerhalb der Gemeinde tatsächlich hörbar ist, stellt eine Frage des dauerhaften Reflexionsprozesses dar – die exklusive Deutung kann jedenfalls von niemandem in der Gemeinde zweifelsfrei für sich beansprucht werden, selbst wenn dieser sich als besonders begabter Deuter oder pastoraler Pionier ausgäbe. Dies bedeutet dann aber auch, dass Gemeinde sich durch ihre je einzelnen Glieder an sehr unterschiedlichen Orten und in sehr verschiedenen Formen frei entfalten kann und muss – sie ist in ihren Vollzügen jedenfalls nicht notwendigerweise an die klassischen eigenen Gebäude und »Heimatorte« gebunden. Dies gilt insbesondere dann, wenn es um die konkrete Entwicklung etwa hin zu neuen Zusammenschlüssen von Gruppen, aber auch von Gemeindekooperationen und Gemeindefusionen geht. Allerdings ist zu betonen, dass diese Heimatorte selbst natürlich Markenzeichen der eigenen emergenten Traditionen und Inhalte sind und auf diese nicht vorschnell verzichtet werden sollte. Somit kann es nicht darum gehen, alle bisherigen inhaltlichen Verbindlichkeiten und Verbindungsräume ad acta zu legen oder abzuschaffen – eine Frage, die sich ganz konkret in Fragen der Umund Neunutzung sowie des Verkaufs kirchlicher Räume mehr und mehr stellt. Gerade hier wird sich zeigen müssen, was gemeinsam trägt und wovon man zukünftig gemeinsam ausgehen kann. Aber auch innerhalb kirchlicher Räume werden sich Menschen nur dann in ethischer Hinsicht orientieren lassen, wenn sie selbst am Diskurs über mögliche und notwendige Urteile und Entscheidungen zuvor tatsächlich umfassend partizipieren können. Diese partizipatorischen Grundkriterien sind nun auch dort in Anschlag zu bringen, wo es um die Frage konkreter Kommunikationspraxis innerhalb des gemeindlichen Lebens geht:
4.3.
Religiöse Praxis und deren gemeinsame Deutung
Wie schon angedeutet, muss eine sinnvolle Gemeindeentwicklung Raum für unterschiedliche Ausdrucksformen, Gestaltungen und Lebens- sowie Gefühlsäußerungen ermöglichen. Individuelle Sinnsuche und institutionelle Verbindlichkeit im Sinn eines emergenten Geschehens stellen sich erst im Diskurs und in der gemeinsamen Abwägung her. Diese emergente Perspektive zeigt sich deutlich in der folgenden Überlegung W. Gräbs:
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Die gelebte Religion, auch die christlich gelebte Religion, findet sich nicht einfach in der Kirche. Es gibt sie überhaupt nicht so, wie es die Kirche als gesellschaftliche Institution gibt. Gelebte Religion entsteht in Kommunikation. Sie ist ein kommunikativer Tatbestand.32
Emotional bedeutsame, emergente und gruppenkonstituierende Verbindlichkeit bedürfen der geselligen Kommunikation und Reflexion – und dies tatsächlich im Sinn der freien Zirkulation des religiösen Bewusstseins, um einmal die bewährte Formulierung aufzunehmen. W. Gräb formuliert hier im Anschluss an Schleiermacher, dass »die sinnlich-leibliche Selbst- und Welterfahrung mit ihrer reflexiven Bewusstheit zusammenfällt […], wenn das Gefühl einen Lebensmoment des Individuums ausfüllt«33. Die gegenwärtig viel gebrauchte Rede von der Kommunikation des Evangeliums ist somit als ein auf individuellem Gefühl und gemeinsamem Austausch basierendes Kommunikationshandeln zu deuten, für das die Gemeinde Raum eröffnet und wodurch sie in ihrem Tiefensinn immer wieder neu erkennbar und erlebbar wird. Das, wenn man so will, zentrale Gemeindeprinzip ist das der individuellen und institutionellen Offenheit für das Emergente, Überraschende und deshalb gerade Nicht-Steuerbare. Dies bedeutet dann auch, dass sich Kommunikation des Evangeliums in erster Linie ereignet. Diese kann zwar angeregt, aber nicht gemacht werden – auch nicht durch einen noch so hohen Grad an Emotion. Dass diese Kommunikation ihrerseits wiederum theologischer Deutungsmuster bedarf, und somit die spezifische Kompetenz der theologisch professionellen Akteure und deren inhaltlicher Orientierungsfunktion nicht zu unterschätzen ist, sei an dieser Stelle mindestens erwähnt.34 Nun stellt sich die Frage, wie dieses theologische Grundmuster der Emergenz als einer Art freiheitstheoretischer Ekklesiologie für die konkreten Überlegungen zur Gemeindeentwicklung fruchtbar gemacht werden können.
4.4.
Orientierungen für die Gemeindeentwicklung
Dass man Emergenz weder zu steuern noch zu planen vermag, sollte nach den bisherigen Ausführungen unmittelbar einleuchten. Viel angemessener erscheint es deshalb, von Gemeinde als Ermöglichungsbasis für individuelle und gemeindliche Entfaltungs- und Freiheitsspielräume zu sprechen. Die Prinzipien 32 Gräb, Von der Religionskritik, 133 f. 33 Ders., Individualität als Manifestation, 283. 34 Vgl. zur exemplarischen Konkretisierung dieses Aspekts Schlag/Schweitzer, Brauchen Jugendliche Theologie?, sowie der daran anschließende Diskussionsband Schlag/Schweitzer, Jugendtheologie.
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individueller Dynamik und institutioneller Verbindlichkeit der Gemeinde müssen dafür miteinander in einer produktiven Spannung zueinander stehen können. Dabei sollte der dialektische Grundgedanke von Unverfügbarkeit und Gestaltbarkeit, von »Bewegt werden« und »Sich-Bewegen« einerseits zur Aktivität befähigen und motivieren, andererseits kann er aber auch entlastend und befreiend wirken. Die Figur der Emergenz des freien Geistes verweist dafür auf die Notwendigkeit, dasjenige, was sich als Gemeinde entwickelt und was als gemeinsames Leitbild ausgegeben wird, jeweils dem kritischen Betrachten und Überprüfen unterziehen zu können. Denn Gemeindeentwicklung ist ohne die permanente Offenheit für prinzipielle Veränderbarkeit im Sinn eines semper reformanda nicht zu konturieren. Zugleich werden dann aber auch erhebliche Emergenzräume weit über den eigenen gemeindlichen Bereich hinaus eröffnet: Gemeindliche Bewegung und Beweglichkeit haben folglich nicht nur einen inneren Richtungssinn, sondern müssen ihren dynamischen Charakter mindestens ebenso deutlich und stark nach außen zeigen. Anders gesagt: In guter Gemeindeentwicklung geht es nicht nur darum, sich als emotional bewegte Gemeinde nach innen selbst zu vergewissern, sondern durch die eigene Praxis weitreichende Gedanken- und Veränderungsprozesse anzustoßen. Diese Außenwirkung setzt voraus, sich durch die göttliche Verheißung gelingender Verwandlungsprozesse tatsächlich anstoßen und bewegen zu lassen. Dafür entspricht die Bitte um den Heiligen Geist der Kategorie der Emergenz mindestens ebenso gut wie die vernunftmäßige Planung, Steuerung, Leitung und Führung der Gemeinde. Für die Praxis einer sich entwickelnden Gemeinde bedeutet dies, dass sichtbare Wortverkündigung nicht auf intellektuelle Formen begrenzt werden kann, sondern der ganzen Variationsbreite religiöser Ausdrucksgestalten bedarf. Und dabei ist daran zu denken, dass sich die emotionale Freude über gelingende Erfahrungen mit Gemeinde gerade im hiesigen kulturellen Kontext oftmals eher in den kleinen Zeichen und in kleinen Signalen, oftmals sogar im Stillen und nicht sogleich im Expressiven zeigt. Insofern gibt die Offenheit für religiöse Lebendigkeit Raum für eine erhebliche Variationsbreite des je individuellen religiösen Gefühlsausdrucks. Diese Offenheit für gleichberechtigte Teilhabe ist gerade dann ins Spiel zu bringen, wenn die Vorstellungswelten etwa über »gute« Gottesdienste, »angemessenes« Feiern oder »gebührliche« Erscheinungsweisen wieder einmal erheblich auseinandergehen. Für milieu- oder kirchenkulturell bedingte Irritationen sind insofern immer »beide« Seiten verantwortlich. Gemeinde in ihrem freien Sinn zeigt sich schließlich immer wieder im gemeinsamen Handeln: durch Gebet und solidarische Praxis, eben nicht im Gegenüber der sonstigen Welt, sondern in ihrem verwickelten und verbundenen Miteinander. In ethischer Hinsicht ist damit die Aufgabe einer öffentlich ver-
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antwortlichen Gemeinde offenkundig35 : Gesellschaftlich relevante Veränderungen können gerade nicht durch die Vorgabe bestimmter Maximen unter Absehung individueller Urteilsfindung und Präferenzen erfolgen, sondern ergeben sich durch die Sensibilisierung für individuelle Gewissensprüfung und die Selbstverständigung der Gemeinde, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden.
5.
Schluss
Die vorangehenden Ausführungen hatten das Ziel, Gemeinde als Institution der Freiheit zu profilieren, und zwar einer Freiheit, die auf eine letzte Wirklichkeit ausgerichtet ist und sich doch zugleich in ihren Entwicklungsprozessen ihrer Verantwortung bewusst ist, die individuellen Lebenslagen ihrer Glieder so ernst wie möglich zu nehmen. Die christliche Gemeinde ist in ihrer Bewegtheit und Entwicklung immer in einem Werden von Gott her und auf Gott hin zu denken. Es macht den Geschenkcharakter von Gemeinde aus, dass sie für all diejenigen offen ist, die zur Freiheit von Gott her und als Person in Relation mit anderen auf Gott hin berufen sind. Die Emergenz dieser freiheitlichen Praxis liegt gerade im Werden der gemeinsam je neu zu entdeckenden Einsicht in das je individuelle Gottesverhältnis. Hörende Gemeinde beginnt mit der ernsthaften Aufmerksamkeit aufeinander und dies ohne subkutane Vergemeinschaftungs- und Homogenisierungsabsichten. Wenn sich Gemeinde folglich theologisch gesprochen in der Kraft des Heiligen Geistes entwickelt, stellen alle Steuerungs- und Leitungsprozesse demgegenüber nur relative, wenn auch notwendige Bemühungen dar. Der Gedanke einer theologisch grundierten Emergenz ermöglicht dann gerade aus inhaltlichen Gründen die gelassene und zugleich konzentrierte, die emotionale und die hoffnungsvolle Mitwirkung an den erforderlichen nächsten Entwicklungsschritten zu neuen Ausdrucksformen einer lebendigen Gemeinde. Dafür aber ist es notwendiger denn je, dass sich die Theologie – vielleicht nicht »zur Religionshermeneutik«36 erweitert – aber doch um eben jene religionshermeneutische Perspektive selbstbereichert, um so die unterschiedlichsten Phänomene gegenwärtiger kirchlicher wie außerkirchlicher Religionskultur »in den sie konstituierenden Vollzügen zu verstehen«37 zu suchen.
35 Vgl. Schlag, Öffentliche Kirche. 36 Vgl. Gräb, Von der Religionskritik, 140. 37 Ebd.
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Friedrich Schweitzer
Gefühl in der Religion von Kindern und Jugendlichen. Perspektiven einer religionspädagogischen Modellbildung
Kaum jemand würde wohl die Bedeutung von Gefühlen für die religiöse Entwicklung im Kindes- und Jugendalter bestreiten. Der Vorwurf, dass eine religionspädagogische Darstellung oder Konzeption einseitig kognitiv ausgerichtet sei, stellt geradezu eine kritische Standardanfrage dar. Insofern steht die religionspädagogische Aufmerksamkeit auf die emotionale Dimension außer Frage. Sie entspricht einer offenbar selbstverständlichen Intuition und zugleich einer Auffassung von (Praktischer) Theologie, die Religion als »lebensgeschichtliche Sinndeutung« im Bezug auf gelebte Religion versteht.1 Gleichzeitig fällt jedoch auf, dass es noch immer schwer fällt, die Bedeutung von Gefühlen religionspädagogisch angemessen aufzunehmen. Dem entspricht es, dass der Begriff »Gefühl« in entsprechenden Standardwerken fehlt und auch in Lehrbüchern, in denen die kognitive Entwicklung dargestellt wird, kein paralleles Kapitel zur emotionalen Entwicklung geboten wird.2 Aus meiner Sicht geht dieser Befund nicht einfach auf eine allgemeine Gefühlsvergessenheit oder auf einen prinzipiellen religionspädagogischen Kognitivismus zurück, sondern es ist eine unzureichende Modellbildung, welche die fehlende Aufmerksamkeit für Gefühle hier bedingt. Die wenigen bislang in der Religionspädagogik vorliegenden Versuche, die emotionale Dimension stärker in den Vordergrund zu rücken, setzen eher bei Einzelfragen oder bei besonderen Aspekten der emotionalen Entwicklung an.3 Die am weitesten reichenden Ausnahmen hiervon sind die Untersuchungen von Martin Schreiner, der sich aber
1 Zu diesem Verständnis vgl. bes. Gräb, Lebensgeschichten. 2 So fehlt ein Eintrag »Gefühl« etwa im Lexikon der Religionspädagogik (hg. von Mette/Rickers); allerdings wird »Emotionales Lernen« berücksichtigt, vgl. Schreiner, Art. Emotionales Lernen. Lämmermann etwa behandelt die »kognitivistisch-strukturalistische Religionspsychologie« (220 ff.), bietet aber kein Kapitel zur emotionalen Entwicklung (allerdings zur »tiefenpsychologischen Sicht«, 133 ff.). 3 Als Überblick zu dieser dünnen Spur vgl. Schreiner, Art. Emotionales Lernen; vgl. auch die Angaben im Folgenden bei Abschnitt 3 und 4.
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auf den Begriff des Gemüts bezieht, nicht auf den des Gefühls, sowie von Elisabeth Naurath zum Mitgefühl.4 Ehe die Frage nach Bedeutung von Gefühlen für die religiöse Entwicklung im Kindes- und Jugendalter material aufgenommen werden kann, sind deshalb systematische Klärungen erforderlich. Im Folgenden nehme ich vier unterschiedliche Konstellationen auf, die sich m. E. dazu eignen, die Modellbildung weiter voranzutreiben.
1.
»Gefühl« als eigener Weltzugang: Zur Grundlegung der modernen Religionspädagogik
Für die Grundlegung der modernen Religionspädagogik, wie sie bis heute weithin maßgeblich ist, sind Bestimmungen wesentlich geworden, die vor allem in den Schriften Friedrich Schleiermachers erstmals in zusammenhängender Gestalt greifbar werden.5 Dazu gehört an erster Stelle ein anthropologisch ausgerichteter Religionsbegriff, der Religion als einen eigenen Weltzugang identifiziert, der nicht auf andere Weltzugänge reduziert werden kann. Nicht zuletzt aufgrund dieses Religionsbegriffs und seiner Verknüpfung mit religiöser Bildung kann Schleiermacher als »Vater der modernen Religionspädagogik« bezeichnet werden. Seinen klarsten Ausdruck findet Schleiermachers Religionsverständnis schon in den »Reden über die Religion« von 1799, wo auch die Verbindung zwischen Religion und Gefühl unmittelbar greifbar wird. Bekanntlich unterscheidet Schleiermacher hier grundsätzlich zwischen Metaphysik, Moral und Religion. Metaphysik lässt sich dabei in heutiger Terminologie, zumindest in vieler Hinsicht, mit Wissenschaft umschreiben, während Moral auf das Handeln des Menschen und dessen normative Ausrichtung zielt. Religion ist von beidem zu unterscheiden, nämlich als »Anschauung« und »Gefühl«. So verstanden konkurriert Religion weder mit Moral noch mit Wissenschaft. In Schleiermachers eigenen Worten: Religion entsagt hiermit, um den Besitz ihres Eigentums anzutreten, allen Ansprüchen auf irgend etwas, was jenen angehört, und gibt alles zurück, was man ihr aufgedrungen hat. Sie begehrt nicht, das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht, aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des
4 Vgl. Schreiner, Gemütsbildung; Naurath, Gefühl. 5 Zu dieser Sicht vgl. Schweitzer, Religionspädagogik, 38 ff.
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Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.6
Erläutert wird dies dann so: »Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen.«7 Zwischen den verschiedenen Weltzugängen soll demnach keine Konkurrenz bestehen. Genau dadurch erweist sich Religion nach Schleiermacher als »das notwendige und unentbehrliche Dritte zu jenen beiden«8. Besonders in der dritten Rede arbeitet Schleiermacher heraus, dass die so verstandene Religion eine eigene Entwicklung aufweist, die bereits in der Kindheit einsetzt. Ihren Kern besitze diese Entwicklung in dem bei Kindern (und später auch bei Jugendlichen oder Erwachsenen) zu beobachtenden religiösen Verlangen – der »Sehnsucht junger Gemüter nach dem Wunderbaren und Übernatürlichen«9, als Ausdruck dessen, was Schleiermacher als »Sinn« des Menschen bezeichnet: »Der Sinn strebt den ungeteilten Eindruck von etwas Ganzem zu fassen.«10 Religion als Gefühl oder Weltzugang hat demnach ihren eigenen Modus, der sich auch auf Entwicklung und Bildung bezieht. Dieser Modus unterscheidet sich vom notwendig zergliedernden Erkennen, das eine Trennung von Subjekt und Objekt voraussetzt, so wie dies auch für das als Moral bezeichnete Handeln gilt, das auf die Welt als sein Objekt verändernd einwirkt. Der religiöse Modus bezieht sich demgegenüber so auf die Welt, dass sich das Subjekt gerade nicht von ihr abtrennen oder isolieren lässt, ohne den »ungeteilten Eindruck von etwas Ganzem« aufzulösen oder zu zerstören. Maßgeblich geworden insbesondere für die heutige Religionspädagogik ist die mit Schleiermachers Argumentation verbundene anthropologische Erkenntnis, dass die menschliche Entwicklung von Anfang an nicht in (wissenschaftlichem) Erkennen und (moralischem) Handeln aufgeht. Religion ist eine eigene Domäne und bedarf einer besonderen Form der Bildung, woraus sich zugleich eine konstitutive Begründung für die Religionspädagogik ergibt. Wichtig ist, dass es sich dabei um eine anthropologische Begründung handelt – vor allem im Unterschied zu einer theologischen, die unter den Voraussetzungen der Moderne nicht mehr auf ungeteilte Zustimmung rechnen kann, aber auch
6 7 8 9 10
Schleiermacher, Über die Religion, 49. A.a.O. A.a.O., 50. A.a.O., 106. A.a.O., 108.
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einer psychologischen, die – wie im Folgenden deutlich werden soll – weit enger angelegt ist. In der Bildungsdiskussion der Gegenwart findet eine solche Begründung religiöser Bildung aus der Verschiedenheit von Weltzugängen ihren Widerhall etwa in Jürgen Baumerts Unterscheidung zwischen den für sein Bildungsverständnis konstitutiven »Modi der Weltbegegnung«. Im Unterschied zur »kognitiv-instrumentellen Modellierung der Welt«, zur »ästhetisch-expressiven Begegnung und Gestaltung« sowie zur »normativ-evaluativen Auseinandersetzung mit Wirtschaft und Gesellschaft« gehört Religion in dieser bildungstheoretischen Sicht zur »konstitutiven Rationalität«.11 Diese Unterscheidung hat in der Religionspädagogik auch entsprechende Beachtung gefunden, was das Interesse an einer bildungstheoretisch-anthropologischen Grundlegung belegt.12 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die moderne Religionspädagogik und damit auch deren Verständnis der Religion von Kindern und Jugendlichen bei Schleiermacher einen konstitutiven Bezug auf Gefühl aufweist. Gefühl wird dabei anthropologisch bestimmt, in Unterscheidung von Metaphysik und Moral als Form des Erkennens und des normativ bestimmten Handelns im Bezug auf die Transformation von Welt. Anders ausgedrückt, spricht Schleiermacher von Gefühl nicht in einem psychologischen, sondern in einem anthropologischen Sinne. Dies wurde, wie im nächsten Schritt gezeigt werden soll, in der weiteren Diskussion nicht immer beachtet.
2.
»Emotion« statt »Kognition«? – Probleme einer »gefühlspsychologischen« Fundierung der Religionspädagogik
Durchgesetzt hat sich im 19. Jahrhundert in der Religionspädagogik zunächst nicht Schleiermachers Grundlegung der Disziplin im »Gefühl«, sondern weithin – mit der sehr wirksamen Pädagogik der Herbartianer – eine eher kognitive Psychologie.13 Bildung bezieht sich in diesem Verständnis auf die Vorstellungen des Menschen, die zumeist mit dem für diese Psychologie grundlegenden Begriff des »Gedankenkreises« gefasst werden. Religiöse Entwicklung wird dann als Bildungsprozess ausgelegt, der eine Ordnung zuvor ungeordneter »Gedankenmassen« bedeutet. Diese Voraussetzung ist wichtig, um die weitere Entwicklung der Diskussion, 11 Vgl. Baumert, Bildungsvergleich, 106ff 12 Vgl. etwa Dressler, »Religiös reden«, 69 ff. 13 Vgl. dazu sowie zum Folgenden Schweitzer, Religion, 231 ff.
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nun im frühen 20. Jahrhundert, verstehen zu können, die sich zwar auf Schleiermacher beruft, dessen Religionsverständnis aber ganz ins Psychologische wendet. Bei einflussreichen Autoren wie Richard Kabisch findet sich so eine ausdrückliche Berufung auf Schleiermacher sowie zugleich eine Religionspädagogik ausdrücklich auf »psychologischer Grundlage«.14 Neu daran ist weniger der Einfluss der Psychologie, die schon den Herbartianern als Ausgangspunkt diente – neu ist vielmehr die Entscheidung für eine andere Psychologie, die sich nicht mehr ausschließlich an Gedanken und Vorstellungen orientiert. Bestimmend für Kabischs Religionsverständnis sind die Begriffe »Gefühl« und »Erfahrung«.15 Eine hervorgehobene Bedeutung besitzen für ihn insbesondere die frühen gefühlsbestimmten Erfahrungen der »Übergewalt« der Natur und der Erwachsenen sowie des Gewissens. Von »Gefühls-Psychologie« spricht vor allem Friedrich Niebergall – schon im Titel eines seiner Bücher : »Jesus im Unterricht auf gefühls-psychologischer Grundlage«.16 Bekanntlich spielen bei Niebergall Emotionen – in Gestalt der von ihm so genannten »Quietive« und »Motive«– auch sonst eine hervorragende Rolle, etwa bei seinem Verständnis von Homiletik.17 Auch die Predigt soll sich »gefühls-psychologisch« ausrichten. Entscheidend bei diesen Konzeptionen aus dem frühen 20. Jahrhundert ist für den vorliegenden Zusammenhang der Ebenenwechsel, der sich hier im Vergleich zu Schleiermachers Grundlegung der Religionspädagogik im »Gefühl« vollzieht. War Schleiermacher daran gelegen, mit dem Gefühlsbegriff eine anthropologische Bestimmung von Religion zu gewinnen, die es erlaubt, Religion vom Erkennen und Handeln abzugrenzen, so begegnet bei Kabisch und Niebergall ein Gefühls- oder Emotionsbegriffs, der sich nur noch auf die Psychologie stützt. Anders formuliert, geht es nun um unterschiedliche »Seelenvermögen«, wobei das emotionale vom kognitiven Vermögen abgegrenzt werden muss. Schleiermachers Gefühlsverständnis ist zwar ebenfalls von bestimmten kognitiven Prozessen abzugrenzen, seiner Gesamtanlage zufolge jedoch ist dieses Verständnis so weit gefasst, dass es auch die kognitive Dimension mit einschließt, zumindest in bestimmter Hinsicht. Schleiermachers Abgrenzung bezieht sich auf objektivierende Formen der Erkenntnis, nicht hingegen auf sämtliche Vorstellungen im Denken. Zur Kennzeichnung der Sichtweisen aus dem frühen 20. Jahrhundert verwende ich deshalb nicht den anthropologischen Begriffs des Gefühls, sondern den psychologischen Emotionsbegriff. Dabei bringt eine Grundlegung der Re14 15 16 17
Vgl. Kabisch, Religion. Vgl. a. a. O., 26 f., 66 ff. Vgl. Niebergall, Jesus. Vgl. Ders., Wie predigen wir.
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ligionspädagogik im Begriff der Emotion, wie sie vermögenspsychologisch angestrebt werden kann, gewichtige Folgeprobleme mit sich. Der vermögenspsychologische Emotionsbegriff schließt von Anfang an eine Einseitigkeit ein, eben weil es bei diesem Begriff ausdrücklich nur um einen Teil der menschlichen Erfahrung sowie die Abgrenzung vom Kognitiven geht. Bei Schleiermacher beschreibt »Gefühl« einen Modus aller menschlichen Erfahrung – der Emotionsbegriffs hebt stattdessen, jedenfalls bei den hier genannten, freilich einflussreichen religionspädagogischen Autoren, auf nur einen Teilbereich dieser Erfahrung ab. Besonders leicht zu erkennen ist die religionspädagogische Problematik des Emotionsbegriffs etwa bei der Curriculumtheorie, wie sie die Religionsdidaktik später eine Zeitlang prägte18 : Hier wurde in der Regel zwischen »kognitiven«, »affektiven« und »enaktiven« Lernprozessen oder Lernzielen unterschieden. Diese Unterscheidung ist zwar auch hier so gemeint, dass keiner dieser drei Aspekte übergangen werden soll. Sie führt zugleich aber nicht zu einer eigenen Würdigung des Gefühls im Sinne Schleiermachers, sondern zu einem bloß additiven Denken. Als kritische Frage lässt sich im Blick auf diese Entwicklung zusammenfassend formulieren, dass der Übergang vom »Gefühl« zur »Emotion« eine Verengung des Blicks auf die Religion von Kindern und Jugendlichen mit sich brachte, die es dann in der weiteren religionspädagogischen Diskussion sehr schwer machte, noch zu einer angemessenen, eben nicht auf vermögenspsychologisch gefasste Emotionen verkürzten Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang zwischen religiöser Entwicklung und Gefühl zu gelangen.
3.
Zur emotionalen Dimension in der religiösen Entwicklung im Horizont des menschlichen Lebenszyklus und der Identitätsentwicklung
Besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und hier vor allem in der Zeit seit den 1970er Jahren werden die Frage nach dem Zusammenhang von Gefühl und Religion sowie die auf Religion bezogenen Emotionen in der Religionspädagogik an erster Stelle in einem psychoanalytisch bestimmten Horizont aufgenommen. Gleichsam als »religionspädagogischer Klassiker« steht dafür Erik H. Erikson mit seinem Modell des menschlichen Lebenszyklus, der bis hinein in von der Religionspädagogik ausgehende Darstellungen zur Religionspsychologie19 hier wohl einen größeren Einfluss ausgeübt hat als jeder 18 Vgl. etwa Heinemann, Lernziele. 19 Vgl. etwa Fraas, Religiosität.
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andere Psychologe. Mit Eriksons Theorien kommt ein Begriff von Gefühl ins Spiel, der deutlich komplexer ist als der vermögenspsychologisch konzipierte Begriff der Emotion. Psychoanalytisch gesehen speisen sich alle menschlichen Gefühle oder Emotionen aus dem Es als Triebzentrum, verstanden als ursprüngliche menschliche Veranlagung. Davon zu unterscheiden ist das wesentlich kognitiv operierende, im Sinne des so genannten Realitätsprinzips agierende Ich, das den Menschen allererst zu rationalem Handeln befähige. Erikson hat dieses von Sigmund Freud entwickelte Modell allerdings in entscheidender Hinsicht modifiziert, indem er es in einen sozialen Horizont einzeichnet.20 Nach Erikson ist die menschliche Entwicklung nicht nur psychosexuell, sondern immer psychosozial bestimmt. Die mit dem psychosozialen Modell beschriebene Gefühlswelt erstreckt sich deshalb stets ins Soziale und ist konstitutiv von der sozialen Erfahrungswelt mitbestimmt. Gerade im Blick auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch und damit auch auf Eriksons Religionspsychologie ist dies gut zu erkennen. Religion erscheint hier als Sehnsucht und als Verlangen, das nur von Gott her befriedigt werden kann Im Anschluss an seine Luther-Studie nennt Erikson drei »Sehnsüchte«, die für ihn den Hauptgegenstand der Religion ausmachen: Eine dieser Sehnsüchte ist das einfache, inbrünstige Verlangen, mit wohltuenden Substanzen versorgt zu werden – eins zu sein mit einem mütterlichen Urgrund. Dieses Ziel wird durch das gütig und bejahend zugeneigte Gesicht der Barmherzigkeit symbolisiert, die dem Gläubigen die Gewissheit gibt, dass alle, die an ihre Brust zurückkehren, bedingungslos angenommen werden. […] Ziel seiner zweiten Sehnsucht ist die väterliche Stimme des lenkenden Gewissens, die dem einfachen Paradies der Kindheit ein Ende setzt und tatkräftiges Handeln gutheißt und bestätigt. Aber sie weist ihn auch auf die Unanwendbarkeit schuldhafter Verstrickung hin und droht mit dem Wetterleuchten des Zorns. Den drohenden Ton dieser Stimme – wenn notwendig, durch teilweise Unterwerfung und mancherlei Selbstbeschneidung – zu wandeln, ist das zweite drängende Verlangen, das religiösem Bemühen zugrundeliegt. Die Gottheit muss um jeden Preis dazu gebracht werden, kundzutun, dass sie in ihrer Gnade Schuld und Strafe um der Erlösung willen selbst geplant habe. Schließlich zeigt der Spiegel das reine Selbst, den ungeborenen Kern der Schöpfung, in dem Gott ›ein lauter Nichts‹ ist. […] Die östliche Mystik kennzeichnet Gott vielfach auf diese Weise. Dieses reine Selbst ist das Selbst, das nicht mehr an dem Konflikt zwischen Recht und Unrecht krankt, das keiner Fürsorge und keines Wegweisers zu Vernunft und Wirklichkeit mehr bedarf.21
Eriksons Begriff des Grundvertrauens (»basic trust«, häufig auch als »Urvertrauen« übersetzt), der seinem Gesamtverständnis der menschlichen Entwick20 Vgl. dazu Schweitzer, Lebensgeschichte, 71 ff. 21 Erikson, Luther, 291 f.
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lung ebenso zu Grunde liegt wie seiner Religionspsychologie, ist weit offener, zugleich aber auch weit weniger klar umrissen als der Begriff der Emotion, wie er in der empirischen Psychologie verwendet wird. Zumindest in gewisser Hinsicht weist dieser Begriff Parallelen zu Schleiermachers anthropologischem Gefühlsverständnis auf, was auch erklärt, warum der Begriff des Grundvertrauens systematisch-theologisch mehrfach rezipiert worden ist und sich dabei als theologisch anschlussfähig erweist.22 Weithin Beachtung gefunden haben auch Eriksons Bezeichnungen der von ihm mit polaren Begriffspaaren beschriebenen psychosozialen Krisen, und hier vor allem die positiven Begriffe – neben dem Grundvertrauen speziell »Autonomie« und »Identität«. Für die Religionspädagogik und darüber hinaus ist der Identitätsbegriff zu einer Art Leitkategorie geworden.23 Auch diese Begriffe sind hier so angelegt, dass sie immer zugleich kognitive und emotionale Dimensionen aufweisen bzw. einschließen. Weniger rezipiert wurde hingegen Eriksons Versuch, im Bezug auf die normativen Krisen im Lebenszyklus jeweils auch »Grundkräfte« zu beschreiben. Im vorliegenden Zusammenhang verdienen diese Grundkräfte sowie die ihnen wiederum polar gegenüberstehenden »Antipathien« besondere Aufmerksamkeit. Denn diese Grundkräfte weisen ebenfalls eine besondere Nähe zu Religion und zur emotionalen Entwicklung auf. Im Einzelnen nennt Erikson: Hoffnung, Wille, Zielgerichtetheit, Kompetenz, Treue, Liebe, Fürsorge und Weisheit.24 Die von Erikson gewählten Begriffe stehen im Schnittpunkt zwischen Psychologie, Anthropologie und Theologie und ließen sich unschwer als Gerüst für eine eigene Theorie der religiös-emotionalen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter nutzen, vielleicht sogar auch für eine Religionspsychologie insgesamt. Ein wesentlicher erster Schritt bestünde dabei darin, die genannten Grundkräfte im Blick auf ihren religiösen Gehalt genauer zu untersuchen, als dies Erikson selbst geleistet hat. Vor allem Hans-Jürgen Fraas hat versucht, eine religionspsychologisch fundierte Religionspädagogik im Ausgang von Eriksons Theorie des menschlichen Lebenszyklus zu entwerfen, in der solche Zusammenhänge weiter herausgearbeitet werden.25 Dass sich aber auch bei Erikson keineswegs alle für Kinder und Jugendliche in religiöser Hinsicht wesentlichen Emotionen oder Gefühle berücksichtigt finden, zeigt etwa die bereits erwähnte Studie Elisabeth Nauraths mit ihrem Schwerpunkt bei der Prosozialität und den damit verbundenen Emotionen.26
22 23 24 25 26
Vgl. etwa Pannenberg, Anthropologie. Vgl. dazu Schweitzer, Identität. Erikson, Lebenszyklus, 36 f. Vgl. Fraas, Glaube. Vgl. Naurath, Gefühl.
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4.
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Aspekte der religiös-emotionalen Entwicklung im Kindesund Jugendalter
Nachdem in den vorangehenden Abschnitten vor allem allgemeine Bestimmungen im Vordergrund standen, soll es nun um eine inhaltliche Beschreibung der religiös-emotionalen Entwicklung gehen. Auch an dieser Stelle stoßen wir auf die Frage nach einer tragfähigen Modellbildung. Denn im Blick auf die wissenschaftliche Diskussion zum Thema Emotion und Religion wiederholt sich der Befund, dass es weithin an grundlegenden Klärungen mangelt. Im vorliegenden Zusammenhang sind dabei drei Hinsichten hervorzuheben: 1. Schon die begriffliche Bestimmung von Emotion stellt insofern vor Probleme, als selbst innerhalb einzelner Teildisziplinen, die hier besonders angesprochen sind, also etwa der Psychologie, immer wieder das Fehlen klarer Begriffsbestimmungen beklagt wird. 2. Eine Beschreibung von Gefühl im Kindes- und Jugendalter, sei es mit oder ohne Bezug auf Religion, setzt darüber hinaus eine Antwort dazu voraus, von welchen Gefühlen oder Emotionen im Einzelnen gesprochen werden muss. Welche Gefühle sind zentral, welche bei allen Menschen anzutreffen usw.? Auch in dieser Hinsicht kann eher von vorläufigen Vorschlägen gesprochen werden als von eindeutigen Befunden, insbesondere im Blick auf die religionspsychologische oder -pädagogische Anschlussfähigkeit. 3. Da für das Kindes- und Jugendalter mit mehrfachen grundlegenden Veränderungen zu rechnen ist, die sich zumindest in einem weiten Sinne als Entwicklung beschreiben lassen, muss über einer allgemeine Identifikation von Gefühlen und Emotionen, die für Kinder und Jugendliche (besonders) bedeutsam sind, hinaus auch angegeben werden, wie sich die entsprechenden Emotionen im Laufe der Zeit ändern oder, um eine alternative Möglichkeit zu nennen, welche Gefühle in welchem Abschnitt der Entwicklung im Kindesund Jugendalters besonders hervortreten. Diese Probleme betreffen allesamt die Möglichkeit einer material-inhaltlichen Beschreibung von Gefühlen und Emotionen im Kindes- und Jugendalter. Daher ist es nicht erstaunlich, dass sich die ungelösten Fragen auch in den bislang nur wenigen religionspädagogischen Arbeiten zu Gefühlen in der Religion von Kindern und Jugendlichen unmittelbar widerspiegeln.27 Solange nicht feststeht, auf welche Gefühle sich eine solche Beschreibung beziehen soll, kann auch keine stimmige, in sich zusammenhängende Beschreibung im Blick auf Religion gelingen. 27 Vgl. neben der bereits genannten Literatur bes. Zwergel, Emotionale Verankerung; Sistermann, Symbole; Staudigl, Emotionale Lernprozesse (bezieht sich eher auf Werte).
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Auch angesichts dieser Einschränkungen, die aus der Notwendigkeit weiterer Klärungen und entsprechender Analysen erwachsen, lassen sich in allen drei genannten Richtungen zumindest Ansatzpunkte benennen, die für eine Beschreibung von Gefühlen der Religion von Kindern und Jugendlichen wichtig sind. Zum Verständnis von Emotion: Der für ältere, vor allem im frühen 20. Jahrhundert anzutreffende religionspädagogische Sichtweisen maßgebliche gefühlspsychologische Ansatz ist insofern überholt, als er mit einer heute nicht mehr als tragfähig angesehenen Vermögenspsychologie arbeitete.28 Gefühle lassen sich nicht als ein separates Vermögen des Menschen begreifen, dem dann andere Vermögen wie etwa die des Erkennens in diskreter Form gegenüberstehen. Emotion und Kognition sind nach heutigem Verständnis durchweg eng aufeinander bezogen und in ihrer Entwicklung miteinander verschränkt. Emotionen ermöglichen und motivieren kognitive Prozesse und setzen diese zugleich voraus. Emotionen beruhen beispielsweise auf Wahrnehmungen und können insofern durchaus als Folge bestimmter Kognitionen angesprochen werden. Zugleich gehen Emotionen aber auch in den Wahrnehmungsprozess ein. Der religionspädagogisch plausible Hinweis auf die Notwendigkeit, kognitive Engführungen (vor allem in der Schule!) zu überwinden, darf nicht zu einem anti-kognitiven Verständnis führen, so als ergäbe sich aus der bloßen Addition von Kognition und Emotion bereits ein Ganzes. Welche Emotionen? Prinzipiell ist davon auszugehen, dass die Reihe möglicherweise bedeutsamer Emotionen unendlich ist. Die Identifikation bestimmter Emotionen ist Ausdruck kultureller Traditionen und Situationen, die beispielsweise allererst die Mittel für eine sprachliche Bezeichnung von Gefühlen bereitstellen. Gefühle, die sprachlich nicht identifiziert werden, können auch nicht kommuniziert werden. Möglicherweise werden sie dem Einzelnen nicht einmal bewusst. Die Bedeutung bestimmter Gefühle für das Menschsein ist sodann eine anthropologische Frage, die sich empirisch nicht abschließend beantworten lässt. Die empirische Untersuchung von Emotionen setzt bereits ein Wissen darüber voraus, welche Emotionen zu untersuchen sind. Insofern greifen hier normative und empirische Zugangsweisen notwendig ineinander. In der psychologischen bzw. sozialwissenschaftlichen Literatur zu Emotionen werden anthropologische Fragen aber kaum weiter diskutiert. In einem Lehrbuch beispielsweise, das ausdrücklich einer »Bestandsaufnahme zum Thema ›emotionale Kompetenz‹« gewidmet ist29, werden folgende
28 Vgl. etwa die Darstellungen bei Stemmler, Psychologie; Kuhl, Persönlichkeitspsychologie. 29 Petermann/Wiedebusch, Emotionale Kompetenz, 6.
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Emotionen genannt: Freude, Ärger, Traurigkeit, Angst, Überraschung, Interesse, Stolz, Scham, Schuld, Neid, Verlegenheit, Empathie.30 Dass es sich dabei durchweg um wichtige Emotionen handelt, die im Leben von Menschen eine zentrale Rolle spielen (können), ist kaum zu bezweifeln. Fragen brechen jedoch im Blick auf die Vollständigkeit dieser Auflistung auf und damit hinsichtlich anderer Emotionen, die hier fehlen. Vor dem Hintergrund der im vorangehenden Abschnitt angesprochenen Entwicklungstheorie Eriksons fällt beispielsweise auf, dass in der Auflistung Vertrauen und Hoffnung nicht genannt werden – beides Emotionen, die gerade aus theologisch-religionspädagogischer Perspektive nicht übergangen werden sollten. Religionspädagogisch besonders interessant ist, dass das emotionspsychologische Lehrbuch, auf das wir uns hier beziehen, Emotionen ausdrücklich in eine Entwicklungsperspektive rückt und, ganz im Sinne der gegenwärtigen emotionspsychologischen Diskussion31, zwischen »primären« und »sekundären« Emotionen unterscheidet. Zu den primären Emotionen (auch bezeichnet als »Basisemotionen«) zählen demnach: Freude, Ärger, Traurigkeit, Angst, Überraschung und Interesse; zu den sekundären Emotionen (»selbstbezogene, soziale Emotionen«) hingegen: Stolz, Scham, Schuld, Neid, Verlegenheit und Empathie.32 Als Kriterium für die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Emotionen gilt dabei, »dass das Kind sich seiner selbst bewusst und zur Selbstreflexion fähig ist« und dass es »sozial anerkannte Verhaltensstandards und -regeln« kennt33. Dies verweist darauf, dass die emotionale Entwicklung immer auch mit Erziehung und Sozialisation verbunden ist. Dies gilt noch mehr für den sprachlichen Ausdruck von Emotionen (sog. »Emotionsvokabular«34). Weiterreichend stellt der Zusammenhang zwischen Emotion und Erziehung ein eigenes Thema dar, zu dem dann beispielsweise auch das Familienklima gehört, etwa im Blick auf unterschiedliche Formen der Kommunikation über Emotionen.35 Insgesamt ist leicht zu sehen, dass in allen diesen Hinsichten – angefangen beim Ausdruck von Emotionen über deren sprachliche Artikulation bis hin zu Erziehungsformen – immer auch Religion und religiöse Erziehung eine wichtige Rolle spielen können, was in der Emotionspsychologie aber nicht weiter erforscht wird. Dass dies jedoch durchaus sinnvoll wäre, belegen exemplarisch die beiden religionspädagogischen Untersuchungen, auf die am Ende dieses Abschnitts noch hingewiesen werden soll. 30 31 32 33 34 35
A.a.O., 33. Vgl. den Überblick bei Stemmler, Emotionsprozess. Petermann/Wiedebusch, Emotionale Kompetenz, 33. A.a.O., 36. Vgl. a. a. O., 42 ff. Vgl. a. a. O., 85 ff.
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Zu den sehr wenigen Untersuchungen, die in neuerer Zeit direkt auf das Verhältnis zwischen Religion und Emotion bezogen sind, gehört die psychologisch-empirische Untersuchung von Hartmut Beile.36 Beile untersucht »religiöse Emotionen« bei Jugendlichen, wobei er die Jugendlichen nach Themen wie den folgenden befragt: Gefühl der Nähe Gottes/Ferne Gottes, Vertrauen, Geborgenheit, Dankbarkeit, Freude, Angst, Wut, Zweifel, Sehnsucht, Stolz.37 Die Grenze dieses Verfahrens liegt allerdings darin, dass dabei die Fähigkeit, Emotionen artikulieren und bewusst über sie kommunizieren zu können, vorausgesetzt werden muss. Schon die gewählte Form der direkten Befragung macht dies deutlich.38 Umso bemerkenswerter ist es, dass Beile zumindest von vielen Jugendlichen gehaltvolle Antworten auf seine auf religiöse Emotionen bezogenen Fragen erhielt.39 Darüber hinaus zeigte sich bei dieser Untersuchung ein enger Zusammenhang zwischen den von den Jugendlichen jeweils beschriebenen religiösen Emotionen einerseits und der Entwicklung des religiösen Urteils im Sinne Fritz Osers andererseits.40 Dieser Zusammenhang kann nach beiden Seiten hin gelesen werden: Die kognitive Entwicklung beeinflusst die Emotionen, aber Emotionen können auch die kognitive Entwicklung beeinflussen.41 Nicht als empirische Untersuchung, aber als grundlegende systematisch-religionspädagogische Erschließung einer bestimmten Emotion – des Mitgefühls – ist auf die bereits mehrfach erwähnte Darstellung von Elisabeth Naurath hinzuweisen. Naurath versteht »Mitgefühl als Parameter einer emotionalen Ontogenese des Individuums«.42 Ihr besonderes Interesse richtet sich auf die Entwicklung von Empathie und Prosozialität, die bereits in der frühen Kindheit einsetze.43 Insgesamt wird hier, auch im Blick auf die (religions-)pädagogische Praxis, ein grundlegender Zusammenhang zwischen Gefühl und religiöser Erziehung bzw. Bildung herausgearbeitet, dem exemplarische Bedeutung im Blick auf Gefühl in der Religion von Kindern und Jugendlichen zukommen dürfte.44
36 37 38 39 40 41 42 43 44
Beile, Religiöse Emotionen. A.a.O., 142 ff. Zum eingesetzten Instrument vgl. a. a. O., 249 ff. Vgl. a. a. O., 142 ff. Vgl. a. a. O., 196 ff. Vgl. a. a. O., 210 ff. Naurath, Gefühl, 104. Vgl. a. a. O., 124. Vgl. a. a. O., 223 ff.
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5.
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Ausblick
Vorliegender Beitrag bietet nur ansatzweise eine inhaltliche Antwort auf die Frage nach Gefühl in der Religion von Kindern und Jugendlichen. Stattdessen wurde die Notwendigkeit einer angemessenen Modellbildung als Voraussetzung einer solchen Antwort herausgearbeitet, und dies im Blick auf mehrere Ebenen: die Konstitution der modernen Religionspädagogik als Disziplin durch die Identifikation eines eigenen Weltzugangs, das Verhältnis zwischen Kognition und Emotion, in der Religionspädagogik stark rezipierte psychoanalytische Modelle sowie schließlich der zeitgenössischen Emotionsforschung. In allen diesen Hinsichten konnten bedeutsame Anschlussmöglichkeiten benannt werden, traten aber auch offene Fragen zutage, die auf weitreichende Forschungsdefizite verweisen. Insofern stellt die religionspädagogische Modellbildung zum Zusammenhang von Gefühl und Religion eine vordringliche Aufgabe dar. Als Ausblick soll daher am Ende die These stehen, dass die Religionspädagogik durch eine systematische Darstellung von Gefühl in der Religion von Kindern und Jugendlichen nachhaltig profitieren könnte, im Blick auf die weitere Theorieentwicklung ebenso wie hinsichtlich der religionspädagogischen Praxis.
Literatur Baumert, Jürgen, Deutschland im internationalen Bildungsvergleich, in: Killius, Nelson/ Kluge, Jürgen/Reisch, Linda (Hg.), Die Zukunft der Bildung, Frankfurt a.M. 2002, 100 – 150. Beile, Hartmut, Religiöse Emotionen und religiöses Urteil. Eine empirische Studie über Religiosität bei Jugendlichen, Ostfildern 1998. Dressler, Bernhard, »Religiös reden« und »über Religion reden« lernen – Religionsdidaktik als Didaktik des Perspektivenwechsels, in: Grümme, Bernhard/Lenhard, Hartmut/Pirner, Manfred L. (Hg.), Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart 2012, 68 – 78. Erikson, Erik H., Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie, Frankfurt a.M. 1975. Ders., Der vollständige Lebenszyklus, Frankfurt a.M. 1988. Fraas, Hans-Jürgen, Glaube und Identität. Grundlegung einer Didaktik religiöser Lernprozesse, Göttingen 1983. Ders., Die Religiosität des Menschen. Ein Grundriss der Religionspsychologie, Göttingen 1990. Gräb, Wilhelm, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998. Heinemann, Horst, Lernziele und Religionsunterricht, Grundsätzliche Überlegungen und Modelle lernzielorientierten Unterrichts, Zürich u. a. 1970.
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Friedrich Schweitzer
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Birgit Weyel
»…im Himmel gefühlt«. Religiöse Gefühle am Beispiel von Jenseitsvorstellungen und Krankheitsbewältigung
Dem Gefühl kommt in der protestantischen Seelsorgelehre eine zentrale Funktion zu. Seelsorge ist wesentlich als ein Möglichkeitsraum zur Thematisierung von Gefühlen zu verstehen. Exemplarisch stellt Michael Klessmann in seiner Seelsorgelehre Gefühlspaare einander gegenüber : Angst und Vertrauen, Scham und Annahme, Schuld und Vergebung als Lebenskonflikte, die wesenhaft zum Menschsein dazugehören und die in der Seelsorge theologisch gedeutet werden können.1 Seelsorge wird dabei verstanden als die Ermöglichung von emotionaler Unterstützung durch Beziehung, die mit dem Gespräch über Lebenskonflikte konstituiert wird. Zum Selbstverständnis protestantischer Seelsorge, wie es bei Friedrich Schleiermacher grundgelegt worden ist, gehört die Dimension der Freiheit als Respekt vor der Unmittelbarkeit der individuellen Gottesbeziehung. Seelsorge als cura animarum specialis, die von einem Geistlichen ausgeübt wird, ist wesentlich als ein Verhältnis zu verstehen, das »der Natur der Sache nach nur freiwillig sein [kann] und es muß dies von Anfang an sein und bleiben«2. Die Rücksicht auf die geistige Freiheit und Selbständigkeit kommt im Gespräch dadurch zum Ausdruck, dass das persönliche Gefühl und das persönliche Leben des Einzelnen respektiert wird und der Seelsorger nicht »sein eigenes persönliches Gefühl zu dem des anderen«3 machen darf, vielmehr gilt: »die Persönlichkeit des andern muß frei gemacht und gesteigert werden«4. Vor diesem Hintergrund zielt die emotionale Unterstützung in einem Seelsorgegespräch auf die Selbstklärung5 des anderen, der »in dieser Situation Ansätze von Vertrauen,
1 Klessmann, Seelsorge, 225 ff. 2 Schleiermacher, Praktische Theologie, 443. Vgl. dazu auch Freiheit als Bedingung und Ziel evangelischer Seelsorge, in: Merle/Weyel, Seelsorge, 1 – 3. 3 Schleiermacher, Die praktische Theologie, 452. 4 A.a.O., 453. Im Original hervorgehoben. 5 Bei Schleiermacher explizit im abgrenzenden Verhältnis zur katholischen Beichte als Form eines Regiments über die Gewissen, das mit einem Machtgefälle seitens des Priesters verbunden ist.
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Birgit Weyel
Offenheit, Einfühlung und Wertschätzung erlebt«6. Die Thematisierung von Ambivalenzen, Lebenskonflikten und negativen Gefühlen wie Trauer und Angst, die in einer seelsorgerlichen Beziehung möglich ist, ist daher eine wichtige Bedingung für die Eröffnung von Lebensperspektiven. Hoffnung weist über die Gegenwart hinaus; Hoffnung entwirft Alternativen und Gegen-Bilder, die das Jetzt überschreiten oder ihm widersprechen. Je nach Situation bezieht sich Hoffnung auf kleine (dass man die nächsten Stunden einigermaßen schmerzfrei durchsteht), mittlere (dass man trotz unheilbarer Krankheit noch mal nach Hause kann) oder große (dass man wieder ganz gesund wird) Vorstellungen. Die Grenzen zwischen Hoffnung, Wunschdenken und Illusion sind fließend und nur im konkreten Einzelfall eindeutig zu ziehen.7
Im Verständnis von Hoffnung als Steigerung des Möglichkeitssinns liegt eine religiöse Grundausrichtung der Seelsorge, und zwar auch unabhängig von den konkreten Themen, die inhaltlich im Gespräch eine Rolle spielen. Es müssen also nicht dezidiert Themen der Religion sein, die die Seelsorgebeziehung religiös konnotieren. In der Hoffnung, die auf Zukunft ausgerichtet ist, liegt immer schon ein Transzendierungspotential, das über die faktischen Verhältnisse hinausgreift. Konkrete Vorstellungen und Konzeptualisierungen von Zukunft sind insofern immer auch schon mit religiösen Gefühlen verbunden, die im Einzelnen sehr unterschiedlich sein können. Der folgende Beitrag zur Theorie religiöser Gefühle im Kontext der Seelsorgelehre wird exemplarisch an zwei Beispielen die Wechselwirkungen von religiösen Konzepten, die das Leben nach dem Tod betreffen einerseits, und Gefühlen, die eine existentielle Dimension haben, andererseits darzustellen versuchen. Am Beispiel der Krankheitsbewältigung werden im Folgenden zwei Fallbeispiele in den Blick genommen und danach gefragt, wie die Betroffenen mit der krisenhaft erlebten Situation im Rückgriff auf religiöse Konzepte umgehen. Wie deuten die Betroffenen ihre Situation? Welche Funktion haben die ins Spiel gebrachten religiösen Konzepte und mit welchen Gefühlen sind sie verbunden?
1.
Krankheitsbewältigung und religiöses Coping
Die beiden Fallbeispiele, die ich vorstellen möchte, sind auf der Basis transkriptbasierter Erzählinterviews im Rahmen einer Pilotstudie zum Thema Krankheitsbewältigung und Jenseitsvorstellungen entstanden.8 Diese Studie 6 Klessmann, Seelsorge, 222. 7 A.a.O., 223. 8 Teile der Studie sind veröffentlicht. Vgl. Weyel, Leben mit Grenzen, 678 – 688; Dies., Suche nach Sinn; Dies., Gottesbilder.
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»…im Himmel gefühlt«
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wurde in Kooperation9 mit der psychoonkologischen Abteilung der Tübinger Universitätsfrauenklinik durchgeführt. Es ging zum einen um die Frage, welche Funktion die Religion beim Umgang mit einer gravierenden Erkrankung hat. Ist die Religion eine Ressource für den Umgang mit der Erkrankung? Wie religionsproduktiv sind Menschen, wenn sie mit einer problematischen Diagnose konfrontiert sind? Zum anderen ging es uns um die Frage, ob in der Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit Vorstellungen von einem Jenseits des Todes positive oder negative Rückwirkungen auf die Gefühlslagen der Betroffenen haben. Anders gesagt: Können eschatologische Vorstellungen emotionale Resonanzen wecken oder nicht? Die fünf, zum Teil sehr ausgedehnten Leitfadeninterviews mit vier Frauen und einem Mann, die mit einer Krebsdiagnose konfrontiert waren, haben explorativen Charakter. Sie beanspruchen selbstverständlich keine Repräsentativität, sondern sind als einzelne, freilich sehr ausführliche Fallbeispiele zu verstehen, die allerdings in einem Zusammenhang mit Studien zum Verhältnis von Religion und Krankheitsbewältigung interpretiert werden können, die quantitativ orientiert sind und daher eine größere Reichweite haben.10 Zunächst einige allgemeine Bemerkungen zum Thema der Krankheitsbewältigung. »Krankheit wird von den Betroffenen erlebt als Grenzerfahrung, in der das bisher als völlig fraglos und dauerhaft angenommene Fundament des alltäglichen Lebens […] ins Wanken gerät«11. Krankheit, wenn sie mit einer schwerwiegenden Diagnose verbunden ist, ist daher als ein major life event zu verstehen. Der Umgang mit der Krankheit durch die Betroffenen ist als eine aktive Suchbewegung vorzustellen. Bewältigungsverhalten ist eine Gegenbewegung zur Kontingenz der Erkrankung. Das Unbegreifliche will verstanden sein, das Sinnlose muss einen Sinn haben, um mit der Krankheit und ihren Zumutungen leben zu können. Ernst Cassirers Diktum, dass der Mensch ein animal symbolicum ist, lässt sich vielfältig illustrieren.12 Der aktive Umgang mit der Krankheit ist der Versuch, sich Residuen an Aktivität, Autonomie und Selbstbestimmung gegenüber dem Widerfahrnis zurückzuerobern.13 Medizinisch gesehen ist es durchaus gefordert, dass der Kranke sich zur therapeutischen Mitwirkung und 9 Namentlich mit Dr. med. Alexander Marm¦. 10 Eine Übersicht vermitteln etwa Zwingmann/Klein/Höfling, Messung von Religiosität/Spiritualität. 11 Klessmann, Seelsorge im Krankheitsfall, 390. 12 Vgl. Moxter, Ernst Cassirer, 108 – 120: insb. 111. 13 Kritisch gegenüber Sinnfindung als Paradigma der Seelsorge im Fall einer Krebsdiagnose hat sich Wolfgang Drechsel geäußert. Es ist wichtig, die Bedenken gegenüber imperativen Deutungen von außen festzuhalten, aber davon zu unterscheiden ist, wie Betroffene selbst mit ihrer Krankheit umgehen und dabei mit Sinnsuche und -findung gerade auf den »Sinnverlust unter den Bedingungen des radikalen Verwiesenseins aufs Endliche« reagieren (Drechsel, Der bittere Geschmack, 463).
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zu Verhaltensänderungen (compliance) motivieren kann. Für die Medizinpsychologie ist das Bewältigungsverhalten unter dem terminus technicus Coping daher schon länger ein Thema. Dass Religiosität und Spiritualität neben Sport, Selbsthilfegruppen und psychologischer Beratung Faktoren sind, die sich auf die Resilienz, die Lebensqualität, das Wohlbefinden und die Gefühlslagen der Kranken auswirken können, gewinnt seit einigen Jahren auch im deutschsprachigen Raum an Plausibilität. Religiöse Krankheitsbewältigung bzw. religiöses Coping kann in empirischer Perspektive mit Kenneth Pargament verstanden werden als »Suche nach Bedeutung in Beziehung auf das Heilige«.14 Hervorzuheben ist der Aspekt der Suche, dass es sich tatsächlich um unabgeschlossene Prozesse, um Suchbewegungen im Sinne einer offenen Queste handelt. Wilhelm Gräb hat das treffend formuliert: »Religion erfüllt nicht nur mit Sinn. Sie unterbricht Sinnerwartungen und relativiert Sinnfixierungen«.15 Das kreative Bemühen, der Krankheit einen Sinn zu verleihen, das Sinnlose mit Bedeutung zu versehen, ist kaum zu überschätzen. Eine erst kürzlich erkrankte Patientin sagt: [E]s kommen halt immer wieder diese Tiefpunkte, wenn mer dann alleine ist, wenn mer sagt: Warum genau ich? […] warum trifft es mich? […] Fünfzigtausend […] oder so? Frauen werden befallen, jede Siebte- ((leiser)) warum muss gerade ich die Siebte sein, ich hätt ja jetzt die Sechste sein können, und ein anderer die Siebte. […] Aber auf der anderen Seite hab i jetzt heut au mit ’ner Bettnachbarin gesprochen, die hat gesagt: ((lachend)) vielleicht sind wir dadurch vor jeder anderen Krankheit geschützt, ((lachend)) weil mer jetzt schon sowas haben. […] Muss man sich an sowas wieder festhalten. […] Vielleicht ist es wirklich so.16
Das Lösungsmodell der Bettnachbarin wird spielerisch ausprobiert, nicht als feste innere Überzeugung präsentiert, sondern mit kritischer Distanz zum Ausdruck gebracht. Eben dieser selbstreflexive Umgang mit der eigenen Sinnsuche spricht auch aus der Erzählung einer Frau, die bereits auf eine 17-jährige Krankheitsgeschichte zurückblickt: Und /ehm/ dann such ich immer nach Möglichkeiten, wenn etwas ist, das mich wirklich belastet […].. dass ich dann /ehm/ .. irgendein Strohhalm finde oder suche, dass mir das einfach auch hilft zu bewältigen .. und /ehm/ .. ich hab das Gefühl, dass mir das eigentlich gelingt. ((leiser)) Meistens.17
Skizzenhaft gesagt haben die bisherigen Coping-Studien gezeigt, dass der Religion immer dann eine Moderatorenrolle für die Krankheitsbewältigung zu14 Grundlegend dazu: Pargament, The Bitter. 15 Gräb, Sinn fürs Unendliche, 30. Vgl. auch die Überlegungen von Klessmann, Seelsorge, 258ff, der im Anschluss an Victor Frankl vom »Willen zum Sinn« spricht (260). 16 P 4, 32 – 36. 17 P 1, 60.
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kommt, wenn die Religion eine intrinsische Qualität hat, also die Glaubensinhalte auch emotionale Resonanzen erzeugen.18 Explizit religiöse Deutungen kommen häufig erst im Laufe einer längeren Krankheitsgeschichte in den Blick oder gewinnen erst dann an Zentralität. Religiöse Konzepte liegen vielfach im Archiv des lebensgeschichtlichen Gedächtnisses und werden erst dann für das eigene Bewältigungsverhalten abgerufen und aktiviert, wenn sich die Situation verschärft, sei es durch einen Rückfall oder durch eine depressive Verstimmung. Eine US-amerikanische Studie aus dem Jahr 2007 kommt zu dem Ergebnis, dass zu Beginn der Krankheit traditionelle und habitualisierte Konzepte angewendet werden. Insbesondere Protestanten stimmten der Aussage zu, die Krankheit sei eine Prüfung durch Gott, die dazu beitrage, ihren Glauben zu stärken.19 Dieses Konzept wurde als hilfreich empfunden und wirkte sich Stress vermindernd aus. Erst dann, wenn die Krankheit länger andauere und neuen Stress verursache, würden neue Konzepte gesucht, erdacht und ausprobiert. Diese dann zum Teil idiosynkratischen Formen religiöser Krankheitsdeutung wirken sich jedoch, so diese Studie20, eher depressivitätsfördernd aus. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie überhaupt erst im Laufe einer langen Krankheitsgeschichte die explizite Religion in die Krankheitsbewältigungsstrategien Eingang findet und dann zentral wird, gibt eine konfessionslose Migrantin aus Osteuropa. Sie hat die unterschiedlichen Krankheitsphasen immer wieder mit Verhaltensänderungen und Neuorientierungen in ihrem Leben verbunden. So hat sie ihre Berufstätigkeit eingeschränkt, Entspannungsübungen, das Singen in einem Chor und sportliche Aktivitäten in ihr Leben integriert und sich selbstkritisch mit ihrem Ehrgeiz auseinandergesetzt. Sie erkrankt wiederum schwer. Ihre Reaktion auf die erneute Erkrankung beschreibt sie so: Ja, dann war mir klar, also das ist unheimlich ((Stimme bricht)) ernst. Und ich weiß wie heute, ich lag da auf dem Zimmer, und /ehm/ war wirklich im Schock und hab gedacht: Was machsch du jetzt? […] Und /ehm/ auf dem Bett hab ich mir gedacht: Mensch du hast so viel geleistet, aber das da, das ist sowas von Schweres und sowas von Ernstes, dass du das nicht alleine schaffst, und wer kann dir helfen? Und da kam mir der Gedanke mit dem Gott. … Da hab ich mir gesagt, also da musch du diese diese diese Richtung gehen, sonst packsch du’s nicht. […]Da war mir klar, ich könnt dazu beisteuern, ja, aber dass das nicht reicht, das wusste ich, das hab ich gespürt, wenn ich das schaffen soll, wenn ich einigermaßen noch überleben soll, muss diese Sache einfach her. […] Jetzt will ich wieder zum Gott. .. so würde ich das jetzt formulieren.21
18 Vgl. Dörr, Religiöses Coping, 261 – 275: insb. 270. 19 Bjorck/Thurman, Negative Life Events, 165. 20 Die Übertragbarkeit von Studien zur Religiosität aus anderen religionskulturellen Kontexten wie den USA kann freilich nicht einfach vorausgesetzt werden. 21 P 1, 160 – 180.
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Die Patientin entwickelt eine enorme Energie bei der Umsetzung ihrer neuen Copingstrategie. Sie repräsentiert einen positiven Copingstil, den Kenneth Pargament als collaborative-style bezeichnet hat.22 Charakteristisch ist, dass der Mensch Eigenverantwortlichkeit übernimmt und zugleich die Überzeugung vertritt, dass Gott handelt. Ich möchte diese Patientin daher als ein Beispiel für positives Coping vorstellen. Sie selbst fasst ihre Erfahrungen mit der Krankheit zusammen: »wenn ich das so alles zusammenfasse, kommt heraus unter’m Strich eigentlich ein sehr schönes Gefühl .. ja?«23.
2.
Hoffnung. Religiöse Konzepte von einem Jenseits des Todes
2.1.
Der Himalaya. Oder »…im Himmel gefühlt«
Sehr positiv wirkt sich die Jenseitsvorstellung dieser Patientin aus, die an ihre Lebenserfahrungen anschließt. Als Kind schon sei sie eine begeisterte Bergsteigerin gewesen. Ihren Mann lernte sie in einer Wandergruppe kennen. Ihr Traum war es, einmal das Basislager des Mount Everest zu ersteigen. Und hab mir auch vorgestellt, dass wir eigentlich unser ganzes Leben lang auch nur auf die Berge gehen, ja? Und und die Alpen und dann irgendwann mal Himalaya, das war schon mein Traum von klein an, mit fünfzehn da hab ich mir schon gewünscht, dass ich –, da hab ich ein Buch gelesen, also Geschichte über Berge und da war eine Geschichte von den Alpen und da hab ich gesagt, also, in die Alpen solltesch Du mal gehen, und ich hab mir einfach gewünscht in eine Expedition als Mitglied zu sein, nicht ganz hoch auf Everest, da wusste ich, das ist nichts drin, aber halt dabei sein, […] also der Weg ist das Ziel, ja? ist auch so, ((leiser)) auch im Leben. ((lauter)) Und auf jeden Fall, /ehm/ als ich dann mit meinem Mann kennen gelernt habe, waren diese ganzen Träume wieder ganz nah, und ich hab ihm dann auch gesagt, dass ich mir das wüsche, irgendwann mal /ehm/ in den Himalaya zu gehen, und vor allem weil er auch so Bergsteiger war und Bergführer ja, also hat alles dafür gesprochen.24 22 Pargament, The Bitter and the Sweet. Pargament unterscheidet drei religiöse Bewältigungsstile: 1. den so genannten self-directing style. Hier löst der Mensch selbständig und eigenverantwortlich seine Probleme und glaubt zugleich an Gott, der im Hintergrund da ist und dem Menschen Ruhe, Gelassenheit und Kompetenz gibt; 2. den deferring-style, der sich völlig passiv und abwartend verhält. Hier wird alles Gott überlassen, schließlich 3. den collaborative style. Es ist daran gedacht, dass der Mensch Eigenverantwortlichkeit übernimmt und zugleich der religiösen Überzeugung ist, dass Gott handelt. Es handelt sich hierbei um eine active man – active God-Perspektive, von der insgesamt die positivsten Effekte ausgehen. Vgl. dazu auch die Studie von Anette Dörr, die die Copingstile für den deutschsprachigen Kontext adaptiert hat (Dörr, Religiöses Coping, 270). 23 P 1, 60 f. 24 P 1, 297 – 307.
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In einer schweren Phase der Erkrankung plant sie, sich diesen Traum zu erfüllen. »[…] hab ich geweint und hab gesagt: Siesch, und jetzt kann ich nicht nach – in den Himalaya gehen. .. ((atmet schwer aus)) und er [sc. ihr Mann] hat gesagt wir werden irgendwann mal das – die Tour machen«.25 Sechs Jahre lang rückte dieser Gedanke wieder in den Hintergrund. Nach dem Ende eines erneuten therapeutischen Intermezzos und durch eine Erbschaft finanziell begünstigt, setzt sie ihren Traum auch gegen die anfänglichen Widerstände ihres Mannes in die Tat um. Da wollte ich hin, das war der Weg […] das war, das erste Gefühl war : Jetzt bin ich angekommen. […] Ja? Ich bin dann die Pfade gegangen und hab gedacht: Das ist das. Das war also unheimlich stark emotionell. Und heute kann ich sagen, dass ich eigentlich auch sehr nah dem Gott war. […] Vielleicht war das eben diese Weite und diese Nähe zum Gott, das Ganze was mich unheimlich glücklich gemacht hat, in dem Moment, wo ich auch für mich selber [gedacht] habe: Jetzt hast Du alles erlebt, jetzt kann kommen was will, jetzt ((nachdrücklich)) hasch du das erlebt, was du immer wolltest.26
Ein Jahr später erkrankt sie erneut schwer, der Himalaya wird in dieser kritischen Situation zum Bild des Himmels. [A]lso auch wenn’s lustig klingt, als ich aus der Narkose erwachte, […] nach sieben Stunden Operation, war mein erster Satz /ehm/: Ach bin ich froh, dass ich schon im Himalaya war .. […] das sagt einfach aus, dass was mir das bedeutet hat, ja, […] egal ob jetzt von dem, weil ich mir das gewünscht hab, oder auch von dem, dass ich mich dort so so im Himmel gefühlt habe.27
Angesichts der Verschärfung der Situation wird die Himalaya-Reise zur Metapher für eine Jenseitserfahrung. Mehrfach bekräftigt sie, dass diese Erfahrung »ein Stück Himmel« gewesen sei. Ihre positive religiöse Copingstrategie wird anschaulich, als sie ihre zwiespältigen Emotionen schildert, eine befreundete Patientin, die im Sterben liegt, zu besuchen. Sie überwindet ihre Angst mit dem Gedanken, dass sie ja dann jemand habe, der sie im Himmel erwartet. Wörtlich sagt sie: »Also ich versuch dann immer aus solchen negativen Sachen ein bisschen für mich selber das .. positiv darzustellen, damit ich nicht nur in Angst lebe, sondern auch in in in guten Erwartungen.«28 Auf Gott kommt sie erst zu sprechen, als ich nachfrage. Gott sei, so erläutert sie, nicht vorstellbar. »Der ist nämlich für mich überall und über alles. Als aller- aller – nicht aller Macht, weil Macht ist kein schönes Wort, gehört nicht in mein Leben jetzt, ja, […] als aller Wissen und als aller Glauben und als aller Liebe. So einfach.«29 Die Jenseits25 26 27 28 29
P 1, 321 – 323. P 1, 146 – 150; 338 – 343. P 1, 417 – 423. P 1, 348 – 350. P 1, 406 – 408.
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vorstellungen der Patientin sind sehr dicht mit ihren Krankheitserfahrungen verwoben. Sie liegen auf den Krankheitsdeutungen auf, die sie in vielen lebensgeschichtlichen Etappen über einen langen Zeitraum von mehr als 20 Jahren immer wieder neu gebildet hat. Gott ist das Ziel der Seelenzustände (aller Wissen, aller Glauben, aller Liebe), und das Jenseits ist der Zielpunkt der veränderten Werteinstellungen, die sie durch die Krankheit schrittweise gewonnen hat. Das Jenseits ist durch eine Diesseitserfahrung emotional aufgeladen und bildlich vorstellbar geworden. Das Gefühl der Beheimatung und der Nähe Gottes, das sich mit dem Himalaya verbindet und in enger Verbindung mit ihrer identitätsstiftenden Bergleidenschaft steht, kann als ein Hinweis auf das zukünftige Leben und den Vorschein der Auferstehung gedeutet werden.
2.2.
Gott – ein Monster. Oder: »Aber was macht der nachher mit mir?«
Negativ ist dagegen das Copingverhalten eines hochreligiösen, 63-jährigen Patienten zu charakterisieren, der in seinem Elternhaus und noch in erster Ehe unter dem Einfluss der Zeugen Jehovas stand. Mit Mitte 20 hat er sich von den Zeugen abgewandt, sich scheiden lassen und ist nach einer kurzen Interimszeit Mitglied der evangelischen Landeskirche geworden und hat auch wieder geheiratet. Seine Sichtweise auf die Sekte und die in der Sekte verbliebenen Familienmitglieder ist durchweg ablehnend, nur das Verhältnis zu seinem inzwischen verstorbenen Vater bewertet er positiv. Er liest häufig in der Bibel seines Vaters, geht dessen Gebrauchsspuren nach. Der Vater sei zwar streng gewesen und habe seine Konversion verurteilt, aber als seinen Sohn habe er ihn trotzdem akzeptiert. Der Patient begründet seine Trennung von der Sekte ausdrücklich mit deren problematischen Gottesbild: »zu einem Gott, der sich als Monster darstellt und […] viele Milliarden umbringen würde, ((leise)) mit diesem Gott möchte ich eigentlich wenig zu tun haben.«30 Seit seiner Erkrankung vor zwei Jahren ist der Patient trotz einer sehr günstigen Prognose depressiv. Er spricht von einer puren, nackten Angst vor dem Tod. Er fürchtet sich vor dem Jenseits, weil der Gott, mit dem er es dann zu tun bekommen könnte, für ihn ein Monster geblieben ist. Meine Nachfrage nach Gottes Eigenschaften wird zwar mit dem Hinweis auf seine Güte beantwortet, der Patient illustriert die Güte dann aber lediglich, indem er die Langmut hervorhebt. Als ehemaliger Heizungsbauingenieur lässt er sich lange über Energieverschwendung aus und fragt, wie lange Gott sich das noch gefallen lassen werde. »Isch es vielleicht so, dass wenn die Ressourcen zu Ende gehen, dass des unsre Strafe isch und er sich auf nen andre 30 P 3, 14 – 16.
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Planet dann wirft und sagt: .. gibt noch andre Möglichkeiten«.31 Immer wieder bemüht er sich, eine monströse Gerichtsvorstellung zu verwerfen. An der Gerechtigkeit Gottes hält er unbedingt fest, diese ist für ihn aber klar eine iustitia distributiva. »Wenn es diesen .. Gott gibt, an den ich ja .. einigermaßen glaube, dann wird der für Recht und Ordnung .. irgendwann sorgen, aber wie, des isch ne? Frage.«32 Für ihn steht fest, dass er selbst in keinem Fall einen günstigen Ausgang des Jüngsten Gerichts für sich erwarten kann. Deutlich wird die nahezu verzweifelte Suchbewegung, eine Vorstellung zu gewinnen, mit der er leben könnte. Ob des vielleicht die Alternative zum Himmel isch, dass /ehm/ .. mein Geist vielleicht irgendwo .. aufbewahrt wird, und zu einem bestimmten Zeitpunkt irgendjemand .. beflügelt, Gutes zu tun, was ich versucht habe, was mir nicht immer gelungen ischt. Dass des vielleicht die die Alternative zum Himmel ischt.33
Unerträglich ist ihm der Gedanke, an einem dies irae mit seinen Taten konfrontiert zu werden. Erleichterung bringt ihm nur der Gedanke einer Reinkarnation eines Substrats seiner als gering eingeschätzten positiven Eigenschaften. Lieber noch ist ihm die Vorstellung, dass gar nichts mehr nach dem Tod kommt. »Und na wird- wenn i dann sterb, na kommt der und sagt dann mir alles, was .. schief g’laufen isch. .. Und na denk i immer : Vielleicht isch […] gar nix mehr nach’m Tod.«34 Die starke Prägung durch die Kindheit und Jugend ist unverkennbar. An die Stelle des Monstergottes ist kein positives Gottesbild getreten, zu dem der Mann ein positives Verhältnis gewinnen könnte. Er erzählt, dass Gesprächsversuche mit seiner Ehefrau, einer Pfarrerin und den Arbeitskollegen, in denen er seine quälenden religiösen Vorstellungen zu thematisieren versucht hat, trotz einem gewissen Bemühen, auf ihn einzugehen, früher (so die Arbeitskollegen) oder später (so die Pfarrerin) abgebrochen sind. Seine Gedanken, mit denen er wesentlich alleine ist, kreisen um die quälende Frage: »Aber was macht der nachher mit mir?«35 Dennoch hat die Religion durchaus eine hilfreiche Funktion zur Bewältigung der Krankheit: Ich glaub schon, dass mir die Religion insofern g’holfen hat, dass /ehm/ .. Prüfungen jedweder Art .. nicht willkürlich sind. Sondern irgendwie vielleicht- wenn i tatsächlich /ehm/ jetzt einigermaßen aus dieser Geschichte wieder raus komm, dann muss i sagen, dann .. hat’s ’n Wert g’habt des zu glauben, dass .. meine Zeit einfach no et komme isch,
31 32 33 34 35
P 3, 390. P 3, 125 f. P 3, 124. P 3, 420. P 3, 996.
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dass des noch nicht soweit ischt, dann hat’s ’n gewisser Grad von Religiosität, hat des dann au bewirkt, dass i des so glaube.36
2.3.
Religiöses Coping und die Dimension der Gefühle
Beide Fallbeispiele zeigen, dass die verwendeten eschatologischen Konzepte mit starken Gefühlen verbunden sind. Im ersten Fall des positiven Copings kann man von der Konzeptualisierung einer Hoffnung sprechen, die durch den Alltag trägt, ihn zu gestalten weiterhilft und darüber hinaus immer wieder neu eine Perspektive für die Zukunft eröffnet. Das emotionale religiöse Potential ist in der Gruppe derer, die diesen Coping-Stil pflegen hoch: »Ich fühle mich in meinem Glauben geborgen«, »Der Glaube an Gott hilft mir, in schwierigen Lebenssituationen nicht zu verzweifeln.« Diese Items korrelieren in Fragebogenerhebungen mit positivem Coping.37 In den von mir geführten Interviews insgesamt ergab die Liste der Codings als Nennungen positiver Gefühle insbesondere Dankbarkeit, Freude, Gelassenheit und Hoffnung. Im zweiten Fall des negativen Copings ist eine Angst präsent, die den Erkrankten nicht loslässt und ihm das Leben trotz einer weniger schweren Erkrankung sehr schwer macht. In beiden Fällen spielen biographische Prägungen eine entscheidende Rolle. Auf der einen Seite steht die aktive Suchbewegung der osteuropäischen Migrantin, die immer wieder nach vorne schaut, in schweren Krisensituationen neue Strategien entwirft und das Beste aus ihrem Leben zu machen versucht. Auf der anderen Seite sehen wir den verzweifelten Versuch des Heizungsingenieurs, mit dem Monstergott der Kindheit und Jugend zu leben und vielleicht auch mal sterben zu können. Beide Beispiele zeigen darüber hinaus höchst individuelle Konzepte, die auf klassische dogmatische Topoi wie Jüngstes Gericht, ewiges Leben, Gerechtigkeit und Versöhnung zwar anspielen, aber diese eklektisch und eigenständig umgeformt verwenden. Die Liste der Codings aus allen Interviews ergab unter anderen die Nennung negativer Gefühle der Angst, Aggression, Ohnmacht, Schuld, Traurigkeit, Verzweiflung und Wut. Lässt sich am Beispiel der Krankheitsbewältigung etwas für die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Religion und Gefühl gewinnen? Vieles spricht dafür, dass Denken, Fühlen und Handeln in Beziehung auf Gott eine enge Verbindung eingehen. Religion wird operationalisiert, indem sie weder auf kognitive Inhalte (Glaubensinhalte), noch auf religiöse Praxen reduziert wird, son36 P 3, 651 – 657. 37 Vgl. dazu besonders Murken/Möschl/Müller/Appel, Skalen zur Gottesbeziehung.
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dern mehrdimensional erfasst wird.38 Für die Frage nach Religion und Gefühl sind die Skalen zur Gottesbeziehung und zum religiösen Coping weiterführend, die Sebastian Murken und sein Team als Erhebungsinstrument entwickelt und validiert haben.39 Die Items schließen die affektive, kognitive und die praktische Relevanz der Gottesbeziehung ein und können sie abbilden. Sie zielen auf mögliche Zusammenhänge zwischen positiven Gefühlen gegenüber Gott, positiven Gefühlen in Beziehung auf das eigene Selbst, positive Einschätzungen im Blick auf Gottes Verhalten und positive Krankheitsbewältigung bzw. mit negativen Vorzeichen auf negative Gefühle gegenüber Gott, negative Gefühle in Beziehung auf das eigene Selbst, negative Charakterisierungen des Verhaltens Gottes und eine negative Krankheitsbewältigung.40
3.
Religion und Gefühl in empirischer Perspektive
Die beiden Fallbeispiele veranschaulichen, dass im Zusammenhang mit majorlife-events eine Sinnsuche einsetzen kann, die in engem Zusammenhang mit lebensgeschichtlichen Erfahrungen steht. Religiosität als »besondere subjektive Form von Lebensbewältigung«41 kommt insbesondere dann ins Spiel, wenn das Wechselhafte, Unsteuerbare und Zufällige der eigenen Lebensgeschichte und das Selbst als Subjekt dieser Lebensgeschichte42 in einen übergreifenden Sinnzusammenhang integriert werden. »Religiös ist dasjenige Sich-Verhalten in den verschiedenen Formen humaner Kultur, das deren Sinngehalt in der Transzendenz- und Unbedingtheitsdimension zu deuten in der Lage ist.«43 Diese integrative Deutung ist eine konstruktive, interpretative Leistung, die die gesamte Lebensgeschichte begleitet und im Prinzip unabschließbar ist. Mit der Zeit bilden sich bestimmte Muster heraus, etwa in der Gestalt eines Lebensmottos oder eines festumrissenen Kanons an Erzählungen, denen eine besondere Erschließungskraft zugewiesen wird. Solche Muster werden erst dann variiert, wenn eine Situation eintritt, die mit dem Selbstkonzept nicht mehr zusammenstimmt. Die mangelnde Kompatibilität bisheriger Selbstkonzepte mit der faktischen, durch Einschränkungen bestimmten, Lebenssituation macht einen Umbau der Vorstellungen nötig.44 Eben das ist plötzlich und radikal im Zu38 39 40 41 42 43 44
Vgl. dazu auch Gräb, Religion. Murken/Möschl/Müller/Appel, Skalen zur Gottesbeziehung, Einen prägnanten Überblick bietet die Tabelle a. a. O., 84. Oser/Gmünder, Mensch, 9. Vgl. dazu Gräb, Praktische Theologie. Gräb, Sinn fürs Unendliche, 30. Vgl. dazu auch im Blick auf das Alter: Weyel, Alter.
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sammenhang mit Krankheitserfahrungen der Fall. Beide Beispiele zeigen, wie einschneidend die Krebsdiagnosen eine religiöse Sinnsuche provoziert haben. Religiöse Gefühle lassen sich entsprechend bestimmen als Gefühle, die im Zusammenhang religiöser Referenz begegnen. Religion means »the feelings, acts and experiences of individual men in their solitude, so far as they apprehend themselves to stand in relation to whatever they may consider the divine.«45 Der Rekurs auf diskursive Repräsentanzen von Religion und damit der kognitive Gehalt konstituiert das Gefühl als ein religiöses Gefühl, genau dann, wenn diese Repräsentanzen religiös konnotiert sind. »Religious love, religious guilt, and so forth are religious only because of the context of religious apprehension in which they occur.«46 Im Rahmen empirischer Studien deutet sich an, dass die Religion und hier insbesondere die Gottesbilder und ihre emotionalen Konnotationen bei der Bewältigung von Krankheit und anderen major life events eine wichtige Rolle spielen können. Gefühlen kommt eine zentrale Rolle zu, weil an ihnen einsichtig wird, dass die Weltorientierung nicht auf aktive Weltgestaltung und ein vernünftiges Wahlverfahren reduziert werden kann, sondern Widerfahrnis ist.47 Nicht nur die empirische Gesundheitsforschung48, sondern auch die Seelsorge kann als Gelegenheit zur Erprobung von Sinndeutungen für das eigene Leben verstanden werden. Vieles spricht dafür, dass den Gefühlen gegenüber anderen, sich Selbst und gegenüber Gott eine Schlüsselfunktion zukommt.
Literatur Quellen Transkripte von halbstandardisierten Leitfadeninterviews zum Thema Religion und Krankheitsbewältigung mit an Brustkrebs erkrankten Patienten (P 1 und P 2). Die Interviews wurden von mir geführt und sind bei mir archiviert. Bei der Transkription und der Codierung waren Cäcilie Blume und Annette Haußmann beteiligt. Annette Haußmann hat auch die Liste der Codings erstellt.
45 46 47 48
Lash, Reflection, 31. Vgl. dazu auch Weyel, Religion und Gefühl. Watts, Emotion, 77. Lauster, Gefühle, 60. Zur empirischen Kulturwissenschaft vgl. Scheer, Feldforschung; Scheer, Protestantisch fühlen lernen.
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»…im Himmel gefühlt«
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Autoren
Roderich Barth, Prof Dr.; Professor für Systematische Theologie an der JustusLiebig-Universität Gießen Anja Berninger, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie (Ethik) an der Eberhard Karls Universität Tübingen Frank Thomas Brinkmann, Prof. Dr ; Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Justus-Liebig-Universität Gießen Lars Charbonnier, Dr.; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Theologie/Homiletik, Liturgik, Poimenik und Kybernetik an der Humboldt-Universität zu Berlin Sabine Döring, Prof. Dr.; Professorin für Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie (Ethik) an der Eberhard Karls Universität Tübingen Kristian Fechtner, Prof. Dr.; Professor für Praktische Theologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Andreas Feldtkeller, Prof. Dr.; Professor für Religions- und Missionswissenschaft sowie Ökumenik an der Humboldt-Universität zu Berlin Volker Gerhardt, Prof. Dr.; Professor für Praktische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin Elisabeth Gräb-Schmidt, Prof. Dr.; Professorin für Systhematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik an der Eberhard Karls Universität Tübingen
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Autoren
Albrecht Grözinger, Prof. Dr.; Professor für Praktische Theologie an der Universität Basel Hans-Martin Gutmann, Prof. Dr.; Professor für Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt Homiletik an der Universität Hamburg Annette Haußmann; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt Seelsorgelehre und Pastoraltheologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen Hans-Günter Heimbrock, Prof. Dr.; Professor für Praktische Theologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main Regine Herbrik, Dr.; Projektleiterin im Teilprojekt »Emotionalisierung der Religion« im Forschungscluster »Languages of Emotion« am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin Jan Hermenlink, Prof. Dr.; Professor für Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt Pastoraltheologie an der Georg-August-Universität Göttingen Jörg Herrmann, PD Dr.; Leiter der Evangelischen Akademie der Nordkirche in Hamburg Hubert Knoblauch, Prof. Dr.; Professor für Allgemeine Soziologie, insbesondere Theorie moderner Gesellschaften an der Technischen Universität Berlin Dietrich Korsch, Prof. Dr.; Professor für Systematische Theologie an der Philipps Universität Marburg Martin Kumlehn, PD Dr.; Privatdozent am Lehrstuhl für Praktische Theologie/ Homiletik, Liturgik, Poimenik und Kybernetik an der Humboldt-Universität zu Berlin Martina Kumlehn, Prof. Dr.; Professorin für Religionspädagogik an der Universität Rostock Matthias Mader ; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Religionssoziologie an der Theologischen Fakutät der Humboldt-Universität zu Berlin
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Kristin Merle, Dr.; Landeskirchliche Assistentin am Lehrstuhl für Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt Seelsorgelehre und Pastoraltheologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen Jörg Metelmann, Prof. Dr.; Assistenzprofessor für Kultur- und Medienwissenschaft an der University of St.Gallen Georg Northoff, Prof. Dr.; Research Unit Director am Institute of Mental Health Research an der University of Ottawa Ursula Roth, PD Dr.; Heisenberg-Stipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft Rolf Schieder, Prof. Dr.; Professor für Paktische Theologie/Religionspädagogik und -psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin Thomas Schlag, Prof. Dr.; Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik und Kybernetik an der Universität Zürich Friedrich Schweitzer, Prof. Dr.; Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik an der Eberhard Karls Universität Tübingen Birgit Weyel, Prof. Dr.; Professorin für Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt Seelsorgelehre und Pastoraltheologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen
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