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German Pages [225] Year 2016
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Lorenz B. Puntel Emmanuel Tourpe
Philosophie als systematischer Diskurs Dialoge über die Grundlagen einer Theorie der Seienden, des Seins und des Absoluten
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495860472
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Lorenz B. Puntel / Emmanuel Tourpe Philosophie als systematischer Diskurs
VERLAG KARL ALBER
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Dieses Buch verfolgt das Ziel, zu zeigen, dass Philosophie als eine grundsätzlich systematisch orientierte theoretische Tätigkeit zu verstehen und wie dieser systematische Charakter heute zu konzipieren ist. Der Haupttitel Philosophie als systematischer Diskurs ist eine Kurzformel für das im Buch vertretene Verständnis von Philosophie als der Theorie der allgemeinsten oder universalen Strukturen des universe of discourse. Diese Philosophie wird struktural-systematische Philosophie genannt. Sie versucht, der ganzen thematischen Breite der großen metaphysischen Tradition, einschließlich der großen Seinsfrage, und der universalen Ausrichtung der großen philosophischen Systeme der Neuzeit, besonders des deutschen Idealismus, gerecht zu werden. Aber radikal anders als diese großen Denktraditionen verfährt sie streng nach den methodischen Maßstäben und Instrumentarien, welche die heutige analytische Philosophie bereitstellt. So versteht sich diese Philosophie als analytisch orientiert, allerdings nicht im Sinne des analytischen Mainstream. Das Zentrum dieser Philosophie bildet der Begriff des Theorierahmens, der aus drei fundamentalen Arten von Strukturen besteht: den logischen/mathematischen, den semantischen und den ontologischen. Eine semantisch-ontologische Theorie der Wahrheit verleiht dem Theorierahmen seine endgültige Bestimmtheit. Dank der Darstellungsform in der Tradition der »Entretiens«, einer in der frankophonen Welt weit verbreiteten Mischung aus Dialogen und Interviews, bietet dieses Buch eine allgemein verständliche Einführung in die struktural-systematische Philosophie Lorenz B. Puntels.
Die Autoren Lorenz B. Puntel, Jahrgang 1935, war Schüler von Karl Rahner und Student bei Heidegger. Von 1978 bis 2001 war er Professor für Philosophie an der Universität München. Emmanuel Tourpe, Jahrgang 1970, hat in Leuven promoviert und sich in Straßburg habilitiert. Zurzeit lehrt er am Institut d’Etudes Théologiques in Brüssel.
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Lorenz B. Puntel / Emmanuel Tourpe
Philosophie als systematischer Diskurs Dialoge über die Grundlagen einer Theorie der Seienden, des Seins und des Absoluten
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48667-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86047-2
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort von Lorenz B. Puntel zur deutschen Ausgabe . . . . . .
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1 Auf der Suche nach Klarheit: von Hegel und Heidegger zur analytischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Philosophische Theorie und systematische Perspektive . . . .
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3 Im Zentrum der struktural-systematischen Philosophie: der Theorierahmen und die fundamentalen Strukturen . . . .
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Vorwort von Emmanuel Tourpe zur französischen Ausgabe
4 Die größte Herausforderung: eine Theorie des Seins als solchen und im Ganzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Schriften von Lorenz B. Puntel (Auswahl) Personen- und Sachverzeichnis
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Vorwort von Lorenz B. Puntel zur deutschen Ausgabe
In der gegenwärtigen französischen philosophischen Literatur ist die literarische Gattung Entretiens weit verbreitet. Im Deutschen wird man dafür wohl am besten den Term Dialoge (oder auch Gespräche, Unterredungen) verwenden. Entretiens sind nicht einfach Interviews. Höchstens würde man sagen können, dass Entretiens eine ganz spezielle Art von Interviews sind, nämlich solche, die nicht nur aus einfachen Fragen bestehen, sondern sich auch aus Kommentaren, Einwänden, Erläuterungen, Hinweisen vielfältiger Art und dergleichen zusammensetzen. Das vorliegende Buch enthält Entretiens/Dialoge, die der junge französische Philosoph Emmanuel Tourpe mit mir über die von mir entwickelte struktural-systematische Philosophie geführt hat. Als Emmanuel Tourpe mit einer entsprechenden Anfrage im Januar 2012 an mich herantrat, war meine erste Reaktion nicht nur große Überraschung, sondern auch ausgesprochene Skepsis, um nicht zu sagen offenes Misstrauen. Der Grund lag darin, dass ich mit einem solchen literarisch-philosophischen Genre nie eine nennenswerte Vertrautheit gehabt hatte. Im Gegenteil, ich war nie ein begeisterter Leser und noch weniger ein eifriger Studiosus philosophischer Werke, die im Geiste und in der Form der sokratisch-platonischen Tradition der »Dialoge« verfasst waren. Diese Situation ihrerseits ergab sich aus meiner philosophischen Gesamteinstellung, die betont rein theoretisch in einem engen Sinne orientiert war und ist. Es war und ist meine Überzeugung, dass die adäquate Form der Darstellung philosophischer Konzeptionen die Theorie ist, und zwar nicht nur in einem vagen, sondern in einem zumindest grundsätzlich strengen Sinn. Daher willigte ich nur mit einer gewissen Zurückhaltung in das von Emmanuel Tourpe geplante Projekt ein. Post factum sehe ich mich zu einer gewissen Korrektur meiner anfänglich skeptischen bzw. ablehnenden Einstellung veranlasst, denn nach meiner jetzigen Einschätzung stellt das vorliegende Buch eine bestimmte Form einer geglückten Kombination von dialogischer und 7 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
Vorwort von Lorenz B. Puntel zur deutschen Ausgabe
streng theoretischer Darstellung einer philosophischen Gesamtposition dar. Was die dialogische Seite anbelangt, so kommt sie durch die intelligenten und anregenden Fragen von E. Tourpe klar zum Zuge; da aber seine Fragen mir einen großzügigen Raum für teilweise sehr ausgedehnte Antworten problemlos gewähren, kommt die rein theoretische Perspektive ebenfalls klar zur Geltung. Inhaltlich gesehen, verraten die an mich gerichteten Fragen unzweideutig ihre Herkunft aus der Lage der heutigen französischen Philosophie. Obwohl sich E. Tourpe nicht als Anhänger der sogenannten French philosophy versteht, ist es nur allzu verständlich, dass er vor dem Hintergrund der philosophischen Diskussionen in der frankophonen Welt seine philosophische Gedankenwelt entwickelt. Das erklärt besonders den spezifischen Charakter der ersten Frage im ersten Kapitel, die grundsätzlich um meine Kritik der französischen Philosophie kreist. Das Buch kann in gewisser Weise als eine bestimmte, im deutschen Sprachraum etwas ungewöhnliche Form einer Einführung in die von mir entwickelte struktural-systematische Philosophie angesehen werden; in einer anderen Hinsicht kann es auch als eine ebenfalls ungewöhnliche Form einer Zusammenfassung dieser Philosophie verstanden werden. Sowohl als Einführung als auch als Zusammenfassung gelesen, erfüllen diese Entretiens/Dialoge allerdings nur dann ihre eigentliche Aufgabe, wenn man sie auf die beiden systematischen Werke, in denen die struktural-systematische Philosophie ihre bisherige eigentliche Darstellung gefunden hat, ständig zurückbezieht: Struktur und Sein und Sein und Gott, deren bibliographische Angaben im Haupttext zu finden sind. München / Augsburg, Januar 2014
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Vorwort von Emmanuel Tourpe zur französischen Ausgabe
Das vorliegende Buch hat einen exzeptionellen Charakter. Zum ersten Mal wird das Denken eines der anregendsten gegenwärtigen deutschen Denker in französischer Sprache in einer möglichst klaren und verständlichen Weise präsentiert. Es handelt sich um eine außergewöhnlich anspruchsvolle Philosophie; ich zögere nicht zu behaupten, dass sie auf derselben Höhe wie das Denken großer Gestalten der Denkgeschichte wie Thomas von Aquin, Hegel, Heidegger und Frege zu situieren ist. Lorenz B. Puntel hat eine sehr gute Reputation auf internationaler Ebene. Es ist höchste Zeit, dass ihm auch in unserem [französischen] Sprachraum die hohe Aufmerksamkeit gewidmet wird, die er verdient und die er bisher noch nicht erreicht hat. Es ist zu wünschen, dass das vorliegende Buch dazu beitragen wird, dass wir uns den weitreichenden Potentialitäten öffnen, die dieses sehr große gegenwärtige Denken in sich birgt. L. B. Puntel hat Philosophie, Theologe und Psychologie in Deutschland, Österreich, Paris und Rom studiert. Er war Schüler von Karl Rahner und Martin Heidegger, dessen Werk er hervorragend kennt. Von 1978 bis 2001 war er Philosophieprofessor an der Universität München. Während seiner langen Laufbahn hat er lange Lehr- und Forschungsaufenthalte an vielen Universitäten, besonders in Pittsburgh, Princeton und Harvard, absolviert. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen, besonders Englisch, Spanisch und Portugiesisch, übersetzt. In mehreren Ländern hat seine außergewöhnliche Fähigkeit, die kontinentale und die analytische Philosophie miteinander ins Gespräch zu bringen, viele Philosophen entscheidend beeinflusst, die den tiefen Graben zwischen den beiden Lagern der Gegenwartsphilosophie bedauern und nur allzu gern überwinden möchten. Die hier vorgelegten Gespräche wurden im Verlauf der Jahre 2012/ 13 per E-Mail geführt. Angesichts des Umstands, dass seine voluminösen Werke noch nicht ins Französische übersetzt wurden, hatte ich L. B. Puntel vorgeschlagen, diesen ungewöhnlichen Weg zu beschreiten, in 9 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
Vorwort von Emmanuel Tourpe zur französischen Ausgabe
der Hoffnung, dass eine einleitende, kurze, handliche und den Fragen eines französischsprachigen Publikums Rechnung tragende Darstellung seiner philosophischen Position den Weg zu deren Rezeption in der frankophonen Welt ebnen würde. Obwohl L. B. Puntel Französisch perfekt beherrscht, hat er es aus Gründen der Bewahrung der ursprünglichen sprachlichen Artikulation seiner Gedanken vorgezogen, seine Antworten auf meine Fragen in Deutsch zu formulieren. Da das Buch gleichzeitig auch in Deutschland erscheinen soll, war es außerdem naheliegend, seine Texte, die den bei Weitem größeren Teil des Buches ausmachen, gleich in Deutsch abzufassen. Meine Übersetzung seiner Antworten wurde von ihm selbst überprüft, so dass man sagen kann, dass man es hier mit einem Text zu tun hat, der seiner Intention genau entspricht. Die Rolle des naiv Fragenden, auf die ich mich zum Zweck der Gestaltung der Dialoge eingelassen habe, war nicht immer ganz kohärent, da einige der Fragen mit Absicht echte Infragestellungen waren. Wie man sehen wird, sind L. B. Puntels Antworten Musterbeispiele für Schärfe und Klarheit; sie haben mir, um es offen zu sagen, Entspannung von vielen oft außerordentlich schwerfälligen und beinahe undurchdringlichen deutschen Texten gebracht, mit denen ich vertraut bin. Was die Sprache anbelangt, die im Zentrum des vorliegenden Buches steht, so halte ich für meinen Teil an einer Konzeption fest, die eine größere Nähe zu G. Siewerths Ontologie der Sprache 1 als zu den analytischen Forderungen und Kriterien hat. Aber die Art und Weise, wie L. B. Puntel seine philosophische Sprache versteht und verwendet, hat mich nach und nach überzeugt, dass Metaphysik und Klarheit zusammengehören, ohne dass man damit den berüchtigten scholastischen Distinktionen verfällt. Einen wichtigen Punkt muss ich in diesem Vorwort klarstellen: Unsere Dialoge sind nicht endgültig abgeschlossen. Mit L. B. Puntels Zustimmung, habe ich sie absichtlich in dem Moment unterbrochen, als die philosophische Gottesfrage immer mehr an Weite zu gewinnen begann. Es ist gerade diese Weite, die eine Fortsetzung der in diesem Buch angefangenen Dialoge erforderlich macht. Es gäbe noch viel zu sagen in diesem Buch, das seiner Intention nach nur darauf abzielt, das 1 Gustav Siewerth, Wort und Bild: Eine ontologische Interpretation. Düsseldorf: Schwann. 1952. 51 S. – Franz.: Ontologie du langage (französisch und deutsch) / Préface de Brice Parain ; texte français, introduction et notes par Marc Zemb. Paris : Desclée de Brouwer, 1958. 187 S.
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Vorwort von Emmanuel Tourpe zur französischen Ausgabe
erste Alphabet und die Basissyntax des Puntelschen Denkens darzustellen. Es ergeht eine Einladung an den Leser, das Studium dieses Denkens fortzusetzen und sich nicht mit der raschen Lektüre des vorliegenden Buches zufriedenzugeben. Ich betrachte die nun folgenden Seiten als die, sicher noch basale und unzureichende, Präsentation einer der außerordentlich seltenen großangelegten Philosophien der Gegenwart, die das Potential besitzt, sowohl die Methode als auch den Diskurs und die Themenstellung der Metaphysik und der systematischen Philosophie als solcher grundlegend zu erneuern. Das bedeutet nicht, dass ich keine kritischen Fragen hatte und immer noch habe an die Adresse dieser Philosophie; aber man erlaube mir, dem Leser vorzuschlagen, dass er sich von der Stärke und der Rigorosität der hier präsentierten Antworten mitreißen lassen möge. Ich danke L. B. Puntel sehr, dass er akzeptiert hat, diese schwierige »pädagogische Übung« zu vollziehen, was viele abgelehnt hätten, ist es doch, wie man weiß, viel mühseliger, sich an Anfänger zu wenden als zu Spezialisten zu sprechen. Lasst uns wünschen, dass sich unsere Zeitgenossen die hier angebotene Chance nicht entgehen lassen werden, unseren gewöhnlichen Bezugsrahmen zu verlassen und in ein Universum des Denkens einzutreten, das sowohl außerordentlich innovativ als auch tief traditionell ist, wodurch der schöne Name ›Metaphysik‹ sein ursprüngliches Ansehen zurückerhält. 2 Emmanuel Tourpe, Januar 2014
Angesichts des besonderen Charakters dieser Dialoge werden nicht alle Bezugnahmen auf einen Autor durch genaue bibliographische Angaben belegt. Einige Passagen in den Antworten von L. B. Puntel wurden von ihm teilweise oder gänzlich aus seinen beiden Werken Struktur und Sein und Sein und Gott übernommen.
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1 Auf der Suche nach Klarheit: von Hegel und Heidegger zur analytischen Philosophie
ET 1/1 – In Frankreich und in den frankophonen Ländern ist Ihr Name besonders bei den Hegel-Spezialisten bekannt. Sie haben in der Tat mehrere wichtige Arbeiten über die großen Philosophen, über die wir noch sprechen werden, veröffentlicht. Ich erinnere mich, dass ich von einem Ihrer ersten Bücher, nämlich Analogie und Geschichtlichkeit 1, sehr beeindruckt war, einem Buch, das einen der bemerkenswertesten Beiträge zum Dialog zwischen Thomismus und Hegelianismus im 20. Jahrhundert darstellt; frankophone Autoren wie Emilio Brito und André Léonard haben sich in ihren Werken immer wieder auf dieses Buch bezogen. Man muss aber anerkennen, dass Sie außerhalb dieser spezialisierten Kreise in der frankophonen Welt wenig bekannt sind, während Sie in Deutschland, in den Vereinigten Staaten und in mehreren anderen Ländern als einer der anregendsten Denker unserer Zeit gelten. So sind Sie beispielsweise einer unter achtzehn international anerkannten Philosophen, denen in einem vor kurzem erschienenen Werk fünf Fragen über das, was die Metaphysik heute ist und sein könnte, gestellt wurden. 2 Dieser Bekanntheitsgrad gründet in einigen beachtlichen Werken, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Es ist daher etwas enigmatisch, dass ein so wichtiger Autor wie Sie in Frankreich fast gänzlich vernachlässigt wird. Wahrscheinlich wird sich diese Situation durch die Übersetzung und Veröffentlichung Ihres letzten Buches Sein und Gott 3 ändern, das ein extrem kritisches Werk gegen das postmoderne Denken ist. Bevor wir aber über dieses Werk reden, das wie eine Bombe 1 L. B. Puntel, Analogie und Geschichtlichkeit. Philosophiegeschichtlich-kritischer Versuch über das Grundproblem der Metaphysik. Freiburg/Basel/Wien: Herder Verlag, 1969. 2 A. Steglich-Petersen (ed.), Metaphysics. 5 Questions. Automatic Press, VIP, 2010, 91– 102. 3 L. B. Puntel, Sein und Gott. Ein systematischer Ansatz in Auseinandersetzung mit M. Heidegger, É. Lévinas und J.-L. Marion. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag, 2010.
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Auf der Suche nach Klarheit
in der französischen philosophischen Landschaft einschlagen dürfte, würde ich gern einige Vorfragen stellen: Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass Ihr Werk in den frankophonen Ländern beinahe unbekannt ist? Welches ist der Faktor, der bisher und Ihnen zufolge die Verbreitung Ihres Denkens im »anderen« Land der Philosophie verhindert hat? Gibt es einen Streitfall zwischen Ihnen und dem französischen Denken, der noch seiner Lösung harrt? Im Vorwort zu Ihrem soeben genannten Buch findet sich diesbezüglich eine vielsagende Bemerkung: Sie erklären, dass Ihr Buch eine ausführliche Auseinandersetzung mit den zwei wichtigsten Kritikern und Gegnern des systematischen Ansatzes enthält, den Sie im Buch darzustellen beabsichtigen, und fügen etwas ironisch hinzu: »Es sind – wie könnte das anders sein – zwei französische Autoren« 4, nämlich Emmanuel Lévinas und Jean-Luc Marion. LBP 1/1 – Es trifft zu, dass es einen »Streitfall« zwischen mir und dem französischen Denken gibt. Das dürfte der eigentliche Grund dafür sein, dass meine philosophische Konzeption in der frankophonen Welt bis heute beinahe unbekannt geblieben ist – »wenn man von gewissen kleinen Kreisen absieht«, auf die Sie hinweisen. Es gibt aber auch einige andere, wenn auch weniger wichtige Gründe. Ich möchte diese komplexe Lage etwas erläutern. Es ist eine Tatsache, dass French philosophy – die in Frankreich und in den frankophonen Ländern typische Art, Philosophie zu verstehen und zu betreiben – auf der internationalen Ebene einen Sonderstatus hat. Sie unterscheidet sich grundlegend von der in anderen Ländern betriebenen Philosophie. Dies betrifft das Verständnis, die Praktizierung und die konkrete Gestalt der Philosophie. In diesem Zusammenhang muss man auf eine auffallende Besonderheit der französischen Philosophie hinweisen: ihre Selbstgenügsamkeit, ihre praktizierte Unabhängigkeit von anderen Philosophien und ihre beanspruchte NichtAngewiesenheit auf sie. Wie man manchmal in der anglophonen Welt sagt, ist die French philosophy so etwas wie ein self-made ghetto und französische Philosophen hätten eine ghetto mentality. Das hat dazu geführt, dass die französische Philosophie sich immer mehr und immer radikaler in ihrer eigenen Welt eingekapselt hat. Zu dieser französischen philosophischen Welt können andersgeartete Philosophien nur schwerlich Zugang finden und auf sie einen nennenswerten Einfluss 4
Sein und Gott, VII.
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Auf der Suche nach Klarheit
ausüben. Ein beredtes Beispiel ist die kaum bestreitbare Tatsache, dass die analytische Philosophie, die bis vor kurzem beinahe ausschließlich das Markenzeichen der angelsächsischen Welt war und bis zu einem gewissen Punkt immer noch ist, in Frankreich nur sehr langsam Fuß fassen kann. Dass die von mir entwickelte Philosophie bis jetzt kaum Eingang in Frankreich gefunden hat, ist grundsätzlich darauf zurückzuführen, dass sie eindeutig nicht zu dieser »französischen« Art von Philosophie gehört; im Gegenteil, sie ist in pointierter Weise nicht-französisch und sogar anti-französisch orientiert. Das muss ich erläutern, denn diese Feststellung hat entscheidend mit meiner philosophischen Autobiographie und Entwicklung zu tun. Während meiner philosophischen Ausbildung und am Anfang meiner Laufbahn als Philosophieprofessor hatte ich mich intensiv mit der klassischen Metaphysik beschäftigt und mich dann allmählich der klassischen deutschen Philosophie, ganz besonders Hegel, zugewandt. Dem Studium Hegels habe ich dann ca. sechzehn Jahre gewidmet. In dieser Phase (bis etwa Ende der 1970er Jahre) meiner Entwicklung habe ich mich sehr intensiv auch mit der französischen Philosophie beschäftigt. Schon damals stellte ich fest, dass die bekanntesten französischen Philosophen sich so gut wie ausschließlich auf große deutsche Philosophen stützten, insbesondere Hegel, Nietzsche, Husserl und Heidegger. Diese meine damalige Feststellung erweist sich nachträglich als richtig, und zwar aufgrund einer treffenden Analyse des bekannten französischen Philosophen Alain Badiou. In einem Vortrag aus dem Jahre 2005 mit dem Titel Panorama de la philosophie française contemporaine 5 stellt er einige bemerkenswerte Thesen auf. Unter anderem versucht er, »die intellektuellen Operationen zu identifizieren, die diesen Philosophen gemeinsam sind [Badiou meint die französischen Philosophen]«. Die erste Operation charakterisiert er so: »Die erste Operation ist eine deutsche Operation oder eine auf die deutschen Philosophen abzielende französische Operation. In der Tat, die ganze französische Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist in
In: www.lacan.com/badfrench.htm. Die original englische Fassung des Vortragstextes hat den Titel »The Adventure of French Philosophy« und erschien in: New Left Review, September/October 2005. Alle nicht anders belegten Zitate im nachfolgenden Text beziehen sich auf diesen Text. 5
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Auf der Suche nach Klarheit
Wirklichkeit auch eine Diskussion des deutschen [philosophischen] Erbes.« Das ist ein bemerkenswertes Phänomen. Paradoxerweise hat die oben festgestellte »Selbsteinkapselung« der französischen Philosophie ihre Grundlage gar nicht in Frankreich selbst; vielmehr erfolgte sie auf der Basis einer »importierten Philosophie«, nämlich der deutschen. Aber Badiou macht einen weiteren Schritt, der mein eigenes Verhältnis zur französischen Philosophie sozusagen ex negativo beleuchtet. Er stellt die anschließende Behauptung auf: »Man kann daher sagen, dass die französischen Philosophen auf der Suche nach etwas in Deutschland waren, bei Hegel, bei Nietzsche, bei Husserl und bei Heidegger.« Das scheint mir absolut richtig zu sein. Und Badiou fragt dann: »Wonach suchte die französische Philosophie in Deutschland?« Und seine Antwort ist ebenfalls bemerkenswert: »Man kann es in einem Satz zusammenfassen: Sie suchte nach einem neuen Verhältnis zwischen dem Begriff und der Existenz, einem Verhältnis, dem viele Namen gegeben wurden: Dekonstruktion, Existenzialismus, Hermeneutik. Aber durch alle diese Namen hindurch hat man es mit einer gemeinsamen Bestrebung zu tun, nämlich dem Versuch, das Verhältnis zwischen Begriff und Existenz zu modifizieren und neu zu verorten.« Damit dürfte Badiou zumindest ein Grundcharakteristikum der French philosophy getroffen haben. Was mich in der ersten Periode meiner philosophischen Laufbahn zunehmend erstaunte, war die Art und Weise wie die französischen Philosophen die deutschen Philosophen interpretierten und sich aneigneten. Sehr früh realisierte ich, dass deren Interpretation bzw. Aneignung im buchstäblichen Sinne oberflächlich oder äußerlich war. Um die Formulierungen von Badiou teilweise zu verwenden: Sie suchten etwas bei den deutschen Philosophen, was dem eigentlichen Denken dieser Philosophen nicht entsprach; damit verfehlten sie die Tiefendimension des Denkens dieser Philosophen. Man kann es auch so sagen: Die deutschen Philosophen (vielleicht mit Ausnahme von Nietzsche) wollten reine Philosophie betreiben, nicht Philosophie irgendwie im Dienst und/oder unter dem Einfluss von äußeren Faktoren, welcher Art auch immer, wie das Leben, die Kultur, die Politik u. ä. Ein überaus wichtiger negativer Aspekt dieser französischen »Methode« der Interpretation und Aneignung deutscher Philosophen bestand bzw. besteht darin, dass die fundamentale problematische Seite des Ansatzes der deutschen Philosophen völlig verkannt wurde. Franzö16 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
Auf der Suche nach Klarheit
sische Philosophen übernahmen bzw. übernehmen einfach grundlegende Annahmen deutscher Philosophen, ohne sie gründlich zu untersuchen, geschweige denn in Frage zu stellen. Ein Musterbeispiel dieses Verfahrens ist J.-L. Marions Interpretation und Aneignung des Husserlschen phänomenologischen Ansatzes. Marion erhebt den Anspruch, Husserls Ansatz sozusagen zur Perfektion zu entwickeln, vor allem durch die »Reinterpretation« der Husserlschen Gegebenheit als Schenkung (donation). Aber die grundlegenden Annahmen Husserls stellt Marion nicht im Geringsten in Frage. Ich habe in meinem letzten Buch Sein und Gott ausführlich gezeigt, dass dieser Faktor das Proton Pseudos, den Grundfehler der Marionschen Denkrichtung darstellt. Indem ich mich in meiner philosophischen Doktorarbeit 6 sowohl mit der klassischen Metaphysik (Thomas von Aquin) als auch mit einigen klassischen deutschen Philosophen (Kant, Hegel) sowie mit Heidegger befasste und später in meiner Habilitationsschrift das Problem der Einheit des systematischen Denkens Hegels behandelte, entstand konsequenterweise eine Art zunehmende Entfremdung in Bezug auf die französische Philosophie. Dieser Prozess beschleunigte sich gewaltig, als ich Ende der 1970er Jahre die Beschäftigung mit Hegel beendete, nachdem ich zur Überzeugung gelangt war, dass sein Denken (ganz besonders seine Wissenschaft der Logik) grundsätzlich und hoffnungslos unklar, inkohärent und irreparabel ist. Das führte mich dazu, dass ich mich der analytischen Philosophie zuwandte. Und dadurch wurde meine Entfremdung in Bezug auf die französische Philosophie einfach zum totalen Bruch. Erst ab den 1990er Jahren konnte ich einen neuen philosophischen Standpunkt gewinnen, der seine erste noch partielle Exposition in meinem Buch Grundlagen einer Theorie der Wahrheit 7 und seine umfassende systematische Darstellung in meinem wichtigsten Buch Struktur und Sein. Ein Theorierahmen für eine systematische Philosophie 8 fand. Dieses Werk sowie die zwei weiteren Bücher, die ich inzwischen publiziert habe, wurden ins Englische, Portugiesische und Spanische übersetzt, nicht aber ins Französische, ungeachtet des Umstands, dass sich einige Kollegen aus Frankreich dafür eingesetzt haben. Mein philosophisches Denken passt einfach nicht in die französische philosophische Land6 7 8
Analogie und Geschichtlichkeit (vgl. oben Fußnote 1). Berlin: de Gruyter, 1990. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag, 2006.
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Auf der Suche nach Klarheit
schaft. Erst als ich in meinem letzten Buch zwei Koryphäen der französischen Philosophie, nämlich Emmanuel Lévinas und Jean-Luc Marion, einer grundsätzlichen und strengen Kritik unterzog, begann man in der frankophonen Welt auf mein Denken aufmerksam zu werden. Es gibt noch andere, weniger wichtige Gründe, die (teilweise) erklären, warum meine philosophische Konzeption in der frankophonen Welt bis jetzt beinahe unbekannt geblieben ist. Einer dieser Gründe ist die Tatsache, dass keines meiner Bücher ins Französische übersetzt wurde. Das hängt damit zusammen, dass meine Bücher in der Regel sehr voluminös sind. Nach meinen Erfahrungen erklärt sich kaum ein französischer Verleger bereit, die Übersetzung und Publikation solcher Werke in Angriff zu nehmen. ET 1/2 – Was für mich und die Leser in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse sein dürfte, ist Ihre Entwicklung in Richtung auf die analytische Philosophie. Bevor ich Sie weiter frage, ob und, wenn ja, in welchem Sinne die Entwicklung von einer großen philosophischen Tradition wie der klassischen metaphysischen oder der klassischen deutschen zu einer anderen ebenfalls bedeutenden philosophischen Tradition, nämlich der analytischen, für Sie einen philosophischen Fortschritt bedeutet, möchte ich Ihnen eine andere Frage stellen, eine Frage, die Sie vielleicht nicht erwarten, da sie sozusagen gegen den Strich geht: In welcher Hinsicht oder inwieweit sind Sie kein analytischer Philosoph? LBP 1/2 – Sie stellen mir eine zwar kaptiöse, aber sehr intelligente Frage. Um sie zu beantworten, muss ich vorher einige Vorbemerkungen machen und einige Unterscheidungen einführen. Die Frage setzt voraus, dass klar ist, was unter »analytischer Philosophie« zu verstehen ist. Das ist aber alles andere als klar. Darüber wird in der Gegenwart eine große und sehr intensive Diskussion geführt. Ich verweise auf das Buch von Hans-Johann Glock, What is Analytic Philosophy?, das anerkanntermaßen die beste Behandlung der im Titel des Buches formulierten Frage enthält. Glock schreibt: »Die Antwort auf die Titelfrage lautet: […] Die analytische Philosophie ist eine Tradition, die durch die Bande sowohl der gegenseitigen Beeinflussung als auch der Familienähnlichkeit zusammengehalten wird. […] Die analytische Philosophie enstand allmählich, als Freges Revolution im Bereich der formalen Logik mit den durch Moores und Russells Rebellion gegen den deut-
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Auf der Suche nach Klarheit
schen Idealismus provozierten Debatten über die Natur der Propositionen sowie mit der sprachlichen Wende des Tractatus eine Verbindung einging.« 9
Das dürfte der vermutlich kleinste gemeinsame Nenner für die heute übliche Bezeichnung ›analytische Philosophie‹ sein. Um zu erklären, in welchem Sinn ich selbst kein analytischer Philosoph bin, muss ich noch eine weitere Präzisierung einführen. Ich unterscheide drei Phasen in der Geschichte der analytischen Philosophie. Die erste Phase reicht von ihren Anfängen Ende des 19. Jahrhunderts bis etwa zum Ende des 2. Weltkrieges: Das ist die klassische analytische Philosophie. In dieser Phase wurde Metaphysik teils explizit und radikal abgelehnt, teils wurde sie kaum gepflegt oder einfach ignoriert. Die zweite Phase reicht vom Ende des 2. Weltkrieges bis heute, aber ohne Einbeziehung der heutigen Lage. Diese Phase ist charakterisiert durch eine beträchtliche Expansion in vielfältigen Hinsichten: Man kann sie die expandierende analytische Philosophie nennen. In dieser Phase wurde die Beschäftigung mit metaphysischen Fragestellungen (gemäß einem sehr engen Begriff von Metaphysik) allmählich akzeptiert und teilweise sehr intensiviert. Mit der dritten Phase ist die gegenwärtige analytische Philosophie gemeint. Sie ist schwer charakterisierbar. Ich unterscheide diesbezüglich den Mainstream und die Sonderformen der analytischen Philosophie. Mich selbst betrachte ich als einen analytischen Philosophen weder im Sinne der klassischen noch der expandierenden analytischen Philosophie; auch verstehe ich mich nicht als dem Mainstream der analytischen Philosophie zugehörig; vielmehr betrachte ich die von mir betriebene systematische Philosophie als eine Sonderform der analytischen Philosophie. Was mich dazu veranlasst, mich als analytischen Philosophen zu bezeichnen und zu betrachten, sind hauptsächlich drei Faktoren, die – allerdings in oft sehr unterschiedlicher Weise – alle Phasen der analytischen Philosophie charakterisieren: Klarheit, theoretische Strenge/ Rigorosität und Zentralität der Sprache. Es sind ebenfalls hauptsächlich drei Faktoren, die mich sehr deutlich von der klassischen und der expandierenden Phase sowie vom heutigen Mainstream der analytischen Philosophie unterscheiden. Sie machen mich aber nicht zu einem »nicht-analytischen« Philosophen, sondern charakterisieren meine Sonderform der analytischen Philoso9 J.-H. Glock, What is Analytic Philosophy? Cambridge: Cambridge University Press, 2008, 205.
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Auf der Suche nach Klarheit
phie. Es sind kritische Punkte, die in der einen oder anderen Weise alle anderen Phasen bzw. Formen der analytischen Philosophie betreffen. Der Kürze halber spreche ich im Folgenden nur von dem Mainstream der analytischen Philosophie. An erster Stelle lehne ich entschieden das ab, was ich den Fragmentarismus dieser Philosophie nenne, worunter ich ihren nicht-systematischen Charakter verstehe. Alle Fragen bzw. Themen werden isoliert, für sich, behandelt ohne Berücksichtigung ihrer Stellung im Gesamt der vorausgesetzten oder vorauszusetzenden philosophischen Konzeption. Ich merke in diesem Zusammenhang an, dass ich die Bezeichnung ›System der Philosophie‹ vermeide, und zwar wegen der negativen historischen Konnotationen, die diesem Ausdruck anhaften. Stattdessen spreche ich von systematischer Philosophie, genauer: von struktural-systematischer Philosophie, um den Charakter meiner philosophischen Konzeption zu kennzeichnen. An zweiter Stelle unterscheidet mich von dem Mainstream der analytischen Philosophie die Konzeption der Sprache. Beinahe alle analytischen Philosophen entwickeln ihre philosophischen Theorien unter Voraussetzung und auf der Basis der semantischen und ontologischen Strukturen, Voraussetzungen und Implikationen der natürlichen Sprache. Im Gegensatz dazu entwickle ich eine philosophische Sprache, die zwar anfänglich an die natürliche Sprache anknüpft, diese aber – besonders in semantischer und ontologischer Hinsicht – grundlegend transformiert. Die Konsequenzen für die systematische Konzeption sind beträchtlich. Der dritte Faktor, der mich von dem Mainstream der analytischen Philosophie unterscheidet, ist die mangelnde Radikalität der von dieser Philosophie gestellten und behandelten Fragestellungen. In der heutigen analytischen Philosophie wird zwar Metaphysik anerkannt und sogar weitgehend sehr intensiv diskutiert und entwickelt, aber es handelt sich um ein sehr eingeschränktes Verständnis von Metaphysik, das bis zu einem gewissen Punkt der traditionellen metaphysica generalis, die auch Ontologie genannt wurde und wird, und Teilen der traditionellen metaphysica specialis mit einigen zusätzlichen Themenstellungen wie dem Universalienproblem u. ä. entspricht. Das ist grosso modo die Fortsetzung der spätscholastischen Metaphysik. Als Ontologie ist diese Metaphysik die Wissenschaft des Seienden als Seienden, des ens quatenus ens, und einzelner Bereiche des Seienden. Die Metaphysik als Theorie des Seins wurde und wird überhaupt 20 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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nicht ins Auge gefasst und noch weniger entwickelt. Gegen die Metaphysik im Sinne der Theorie des Seienden als Seienden richtet sich Heideggers Vorwurf der Seinsvergessenheit zu Recht. Nicht nur hat die analytische Philosophie bisher keine Seinstheorie (auch nicht in Ansätzen) entwickelt, sondern es ist auch nicht zu sehen, wie sie dies ohne tiefgreifende Änderungen im Bereich der Semantik und der formalen Logik tun könnte. Der eigentliche Grund dafür ist der Umstand, dass diese Philosophie der natürlichen Sprache die absolute, ja exklusive Priorität einräumt. Da diese Sprache nur Sätze anerkennt, welche die Subjekt-Prädikat-Struktur haben, ermöglicht sie nur eine Artikulation von Seienden (»Objekten«), nicht von Sein. Das zeigt sich daran, dass so gut wie alle analytischen Philosophen die Prädikatenlogik erster Stufe, die Sätze mit der Subjekt-Prädikat-Struktur formalisiert, als das grundlegende formale Instrumentarium betrachten und benutzen. Eine echte Seinstheorie muss auf einer anders konzipierten – und das heißt: einer echt philosophischen – Sprache und damit Semantik sowie auf einer anderen formalen Logik beruhen. Wenn man für die Seinstheorie immer noch die Bezeichnung ›Metaphysik‹ verwenden will, dann könnte die Seinstheorie (etwa) metaphysica primordialis, primordiale oder ursprüngliche Metaphysik, genannt werden, wie ich vorgeschlagen habe. 10 ET 1/3 – Es dürfte klar sein, dass wir Ihre Antwort dahingehend verstehen müssen, dass sie um zwei Frage- oder Themenstellungen kreist, denen wir uns nacheinander zuwenden sollten. Zuerst, auf der formalen Ebene, geht es um die Frage, wie Sie System und Analyse in einer Gesamttheorie miteinander in Einklang zu bringen gedenken; sodann ist die Frage zu behandeln, wie Sie in Ihrer Theorie das Sein verstehen. Diese zweite Frage wird uns später beschäftigen, indem wir zunächst Ihre Beziehung zu Thomas von Aquin und Heidegger thematisieren werden. Die erste Frage, die ich gleich in Angriff nehmen möchte, betrifft das Verhältnis Ihrer Konzeption zum System Hegels. Es ist bekannt, dass Sie sich in der Hegelschen Philosophie ausgezeichnet ausVgl. dazu meinen Artikel: »Metaphysics: a Traditional Mainstay of Philosophy in Need of Radical Rethinking«, in: The Review of Metaphysics 65 (2011) 299–319. Es handelt sich bei diesem Artikel um den Text der keynote address, die ich anlässlich der Verleihung des renommierten Findlay Book Prize der Metaphysical Society of America, durch welchen die englische Ausgabe meines Buches Struktur und Sein ausgezeichnet wurde, in Atlanta, USA, im März 2011, gehalten habe.
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kennen. Es ist wichtig, dass wir verstehen, wie Sie in Ihrem Projekt einer primordialen Metaphysik dazu gelangen, die Ebene der von der analytischen Philosophie aufgezeigten Distinktionen und Abstraktionen mit der streng systematischen Ebene des Hegelschen Denkens auf der Basis einer echten und einleuchtenden, d. h. nicht rein scheinbaren und oberflächlichen, Kohärenz zu vereinbaren. Ist das Projekt einer analytisch orientierten Philosophie nicht mit der Idee eines Systems überhaupt wesentlich inkompatibel, es sei denn, dass Sie wie F. Ravaisson in seinem Bericht über die Philosophie im Frankreich des 19. Jahrhunderts 11, auf der Basis der Hypothese verfahren, dass eine latente Arbeit einer Synthese stattfindet, die sich einer »reinen Intuition/Einsicht (pure intellection)« 12 einer göttlichen Vollkommenheit verdankt, die im Herzen aller empirisch-ideativen Analysen am Werk ist? Ist das Ihre Perspektive? LBP 1/3 – Die Frage nach der Kompatibilität zwischen dem Projekt einer analytischen Philosophie und der Idee des philosophischen Systems (ganz speziell im Sinne Hegels) ist eine oft gestellte und behandelte Frage. Meiner Ansicht nach ist sie keine eindeutige Frage und deren Behandlung in der philosophischen Literatur ist sehr unzulänglich, insofern sie, um einen Ausdruck Heideggers zu verwenden, weit hinter dem Zu-Denkenden zurückbleibt. Der Hauptgrund ist dieser: Man »vergleicht« das »analytische Projekt« und die historisch entwickelte Idee des philosophischen Systems auf der Basis der Annahme, dass sie zwei wohl definierte und wohl bestimmte Größen sind. Aber das sind sie nicht. Was die analytische Philosophie anbelangt, habe ich schon in meiner Antwort auf Ihre vorhergehende Frage ausgeführt, dass diese Richtung alles andere als einheitlich ist. Wohl aber kann man sagen, dass es bei der analytischen Philosophie hinsichtlich eines philosophischen Projekts eine bestimmte Einstellung gibt, die grundsätzlich durch dreierlei charakterisiert ist: Klarheit über alles, theoretische Rigorosität in der Behandlung bzw. Darstellung, die Sprachlichkeit als Mittel der theoretischen Arbeit. Aber in ihrem gegenwärtigen Zustand kann man von einem »Projekt der analytischen Philosophie« nur in einem sehr F. Ravaisson, Rapport sur la philosophie en France au XIXe siècle. Paris : Hatier, 1864. R. Descartes, Oeuvres philosophiques. édition de F. Alquié. Paris: Garnier, 1967, Tome II, 481.
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allgemeinen und vagen, ich würde sagen höchstens programmatischen, Sinne sprechen. Meine Bemühung als analytischer Philosoph mit einer besonderen Ausrichtung auf systematische Philosophie besteht in dieser Hinsicht darin, die systematischen Potentialitäten der analytischen Einstellung zu entfalten, und zwar in einer radikalen Weise. Diese Potentialitäten sind immens, einfach unbegrenzt. Ich sehe kein grundsätzliches Problem in diesem Vorhaben. Freilich setzt die Durchführung des Projekts voraus, dass man die immer noch bestehenden sehr engen Grenzen der gegenwärtigen analytischen Philosophie dezidiert durchbricht. Die allerwichtigste Aufgabe in dieser Hinsicht sehe ich darin, eine echte Seinstheorie zu entwickeln; diese Theorie ist keine Ontologie, wenn man dieses Wort wörtlich versteht, nämlich als Theorie über Seiende. Wie ich schon ausführte, kann die Seinstheorie – im Unterschied zur allgemeinen und zur speziellen Metaphysik=Ontologie – primordiale Metaphysik genannt werden. Hegel wird zu Recht als der größte philosophische Systematiker angesehen. Man muss allerdings genauer hinsehen, um eine solche Charakterisierung richtig und angemessen zu begreifen und zu würdigen. Beim Systematiker Hegel unterscheide ich zwei zentrale Charakteristiken, mit denen er zwei zentrale Ansprüche hinsichtlich seiner Philosophie verbindet. Erstens will Hegel ein absolut umfassendes System der Philosophie in inhaltlicher Hinsicht entwickeln: Er intendiert, alle philosophischen Themen bzw. Gebiete zu erfassen. Zweitens erhebt Hegel in methodischer Hinsicht den Anspruch, einen streng notwendigen Zusammenhang zwischen allen philosophischen Themen/Gebieten und zwischen allen Elementen, die jedes Gebiet/Thema konstituieren, zu demonstrieren. Nach langen Jahren der intensivsten Beschäftigung mit Hegels Denken bin ich zu dem Schluss gekommen, dass keine dieser beiden zentralen Charakteristiken seiner Philosophie als erfüllt bzw. keiner der beiden damit verbundenen Ansprüche als eingelöst betrachtet werden können. Hegels Anspruch, alle philosophischen Themen/Gebiete zu behandeln, ist sicher einer der Hauptgründe, warum er eine so große Faszination auf viele Philosophen ausübt. Insbesondere sein Werk Phänomenologie des Geistes ist in dieser Hinsicht einmalig. In ihr will Hegel das ganze Spektrum aller Dimensionen und Erfahrungen des Bewusstseins, Selbstbewusstseins und Geistes umfassen und systematisch darstellen. Und sein späteres reifes System beansprucht, alle Themen und Gebiete in den drei großen Teilen des Systems, der Wissenschaft der Logik, der 23 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Naturphilosophie und der Philosophie des Geistes, zu verankern. Es ist aber offensichtlich, dass Hegels Anspruch ins Leere geht. Um einen Hinweis nur auf einen bestimmten Bereich zu geben, kann man sagen: Vor allem seit dem linguistic turn dürfte kein Zweifel bestehen, dass Hegel vor allem die ganze Dimension der Sprache, deren angemessene Beachtung eine wahre Revolution in der Philosophie herbeigeführt hat, beinahe vollständig ignoriert. Es gibt in seinen Werken an wenigen Stellen Hinweise auf die Sprache, aber sie sind nur marginal und artikulieren in keiner Weise die zentrale Bedeutung dieser Dimension. Eine Semantik fehlt so gut wie vollständig in Hegels System. Die Konsequenzen dieses Fehlens für Hegels Philosophie sind nicht nur weitreichend, sondern schlechterdings desaströs. Noch wichtiger ist die zweite Charakteristik: der Anspruch auf systematische Geschlossenheit und Rigorosität. Hegel gründet diesen Anspruch auf seine dialektisch-spekulative Methode, die als der Kern seines Denkens angesehen werden muss. Sie ist nämlich nach Hegel »der Gang der Sache selbst« 13. Diese Identifikation von Methode und Sache ist eine bemerkenswerte Einsicht, der ich – allerdings in völlig verwandelter Form –, wie wir sicher noch diskutieren werden, beipflichte. Aber die entscheidende Frage lautet: Wie versteht Hegel diese Identifikation? Wie versteht er »den Gang der Sache selbst«? Er versteht sie bzw. ihn dialektisch-spekulativ. In einer berühmten Passage aus der Einleitung in sein Hauptwerk Wissenschaft der Logik charakterisiert er kurz und bündig die zentrale Idee des dialektisch-spekulativen Denkens folgendermaßen: »Das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen, und um dessen ganz einfache Einsicht sich wesentlich zu bemühen ist, – ist die Erkenntniß des logischen Satzes, daß das Negative eben so sehr positiv ist, oder daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstracte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besondern Inhalts, oder daß eine solche Negation nicht alle Negation, sondern die Negation der bestimmten Sache, die sich auflöst, somit bestimmte Negation ist. […] Indem das Resultirende, die Negation, bestimmte Negation ist, hat sie einen Inhalt. Sie ist ein neuer Begriff, aber der höhere, reichere Begriff als der vorhergehende …« 14
13 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erstes Buch. Die Lehre vom Sein (1832). Gesammelte Werke, Band 21 (Hamburg: Meiner Verlag, 1984), 38. 14 Ebd.
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Die »bestimmte Negation«: das ist die Quintessenz des dialektischspekulativen Denkens. Aus einer These, dann aus der Negation1 der These (d. h. aus der Anti-these), und schließlich aus der Negation2 der Negation1 (der Anti-these) soll eine Synthese, etwas Positives, ein neuer, der höhere, reichere Begriff hervorgehen. Das aber leuchtet in keiner Weise ein. Hegel argumentiert dahingehend, dass die Negation1+2 »die Negation der bestimmten Sache« ist und dass daher das Resultat eine bestimmte Negation, etwas Höheres, Reicheres ist. Aber diese Schlussfolgerung ist eine nur scheinbare, was leicht zu zeigen ist. Was Hegel behauptet, nämlich dass die Negation immer eine Negation-einer-bestimmten-Sache ist, trifft zwar zu. Aber daraus folgt nicht, dass daraus etwas Positives resultiert. Der Grund ist: Die Negation ist sozusagen eine »rückbezügliche Relation«, die das Vorliegende oder Vorhergehende annihiliert, für nichtig erklärt, wodurch die »bestimmte Sache« einfach »ausgeschaltet« wird. Das »Resultat« eines solchen Vorgehens ist in keiner Weise etwas Positives, ein höherer, reicherer Begriff, sondern sozusagen ein großer leerer offener Raum, in dem nichts Bestimmtes zu finden ist. Dass Hegel aber sein ganzes System auf der Basis einer so konzipierten dialektisch-spekulativen Methode konstruiert, hat zur unmittelbaren Folge, dass ein solches System, um es etwas drastisch zu formulieren, eine Art Konglomerat vieler Elemente rein begrifflicher und sachlicher Art ist. Gerade der Zusammenhang zwischen diesen Elementen ist entweder rein zufällig oder aber rein arbiträr. Diese Kritik an Hegel habe ich in dem Aufsatz Lässt sich der Begriff der Dialektik klären? 15 ausführlich dargelegt und begründet. Erst jetzt kann ich mich explizit mit Ihrer Frage befassen: »Ist das Projekt einer analytisch orientierten Philosophie nicht mit der Idee eines Systems überhaupt wesentlich inkompatibel? …« Auf diese Frage kann keine eindeutige Antwort gegeben werden, da von einer Kompatibilität bzw. Inkompatibilität nur zwischen zwei eindeutigen Konzeptionen sinnvollerweise die Rede sein kann. Aber weder das Projekt der analytischen Philosophie (gemäß dem Mainstream dieser Richtung) noch die Idee eines philosophischen Systems (im Sinne Hegels) sind eindeutige Größen. Für meine Art zu denken ist eine solche Frage ohne Zuerst erschienen in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie – Journal for General Philosophy of Science, 27 (1996) 131–165; wieder abgedruckt in: L. B. Puntel, Auf der Suche nach dem Gegenstand und dem Theoriestatus der Philosophie, 223–254.
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nähere Bedeutung. Der Grund ist, dass ich eine systematische Konzeption zu entwickeln bemüht bin, die sich weder einem Denker oder einer Richtung zuordnen noch von einem Denker oder einer Richtung an der Entwicklung des eigenen Projektes behindern lässt. Dies schließt nicht aus, dass ich Inspirationen von bestimmten Denkern oder Richtungen anerkenne und akzeptiere. Sie verweisen darauf, dass eine Kompatibilität (vielleicht) möglich wäre, aber dann nur unter der Voraussetzung »der Hypothese, dass eine latente Arbeit einer Synthese stattfindet, die sich einer ›reinen Intuition (pure intellection)‹ einer göttlichen Vollkommenheit verdankt, die im Herzen aller empirisch-ideativen Analysen am Werk ist«. Und Sie fragen, ob das meine Perspektive ist. Ich halte eine Formulierung wie: »eine latente Arbeit einer Synthese … im Herzen aller empirisch-ideativen Analysen …« für zu vage und zu erklärungsbedürftig, um sie als Charakterisierung meiner eigenen Vorgehensweise in der Philosophie zu akzeptieren. Meine eigene Vorgehensweise habe ich in meinem Buch Struktur und Sein ausführlich erklärt. Was die Hypothese »einer göttlichen Vollkommenheit, die im Herzen aller empirisch-ideativen Analysen am Werk« sei, anbelangt, so sage ich, dass der Philosoph, der ein klares und angemessenes Verständnis seiner philosophischen Tätigkeit hat, eine solche Hypothese überhaupt nicht braucht und auch nicht für zulässig halten kann. Es genügt vollkommen, dass der Philosoph die immensen Potentialitäten des menschlichen Geistes beachet und sie ausschöpft. Dass diese Potentialitäten und ihre Leistungen in letzter Analyse nur von der Dimension des Göttlichen in uns her zu verstehen sind und dass diese Dimension als eine »göttliche Vollkommenheit« in uns wirkt, dies brauche ich weder zu bestreiten noch zu akzeptieren; aber ich bemerke dazu, dass eine solche Annahme, wenn überhaupt, erst post factum, d. h. nicht am Anfang und während, sondern erst im Rahmen des Resultats der ganzen philosophischen Arbeit und Darstellung gemacht werden könnte. ET 1/4 – Wenn man von der Hegelschen spekulativen »Vernunft« zum analytischen »Verstand« wechselt, so könnte sich ein Leser fragen, ob man damit nicht auf die Ebene des Kantischen Denkens zurückfällt, mit der Konsequenz, dass man dann eine rein regulative Idee des Ganzen vertreten müsste. Wenn man nur die Idee des Systems bewahrt, indem man sie ihres eigentlichen dialektischen Inhalts beraubt, geht dann damit nicht das Hegelsche Denken seiner ganzen Tiefe verlustig? 26 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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LBP 1/4 – Die von Ihnen angesprochene Unterscheidung zwischen (dialektisch-spekulativer) Vernunft und Verstand ist bekanntlich zentral bei Hegel. Dialektisch-spekulative Vernunft ist eine andere Bezeichnung für dialektisch-spekulative Methode. Nun habe ich soeben ausgeführt, dass ich diese Methode für grundsätzlich verfehlt und völlig ineffektiv halte. Aus dieser Ablehnung des Hegelschen dialektisch-spekulativen Denkens folgt aber in keiner Weise, dass die Alternative der Standpunkt Kants wäre, mit der Konsequenz, dass man höchstens zu einer rein regulativen Idee des Ganzen gelangen würde. Ihre Frage ist charakteristisch für eine Denkform, die sich grundsätzlich an einem fragwürdigen Vergleich zwischen philosophischen Autoren orientiert. Dazu sage ich, dass es zum verfehlten dialektisch-spekulativen Denken Hegels faktisch ganz andere Alternativen gibt und prinzipiell geben kann als nur die Kantische. Eine Alternative ist die von mir entwickelte struktural-systematische Philosophie, die sich nach meiner Überzeugung und Intention durch bedeutend größere systematische Weite, rigorose Klarheit und radikale Kohärenz als die Hegelsche Position auszeichnet. Damit ist die Antwort auch auf Ihre Frage gegeben: »Wenn man nur die Idee des Systems bewahrt, indem man sie ihres eigentlichen dialektischen Inhalts beraubt, geht dann damit das Hegelsche Denken nicht seiner ganzen Tiefe verlustig?« Nein, Hegels »Tiefe«, wie ich kurz angedeutet habe, ist eine nur scheinbare, eine rein oberflächliche. ET 1/5 – Wenn man bedenkt, wie viel Zeit und Energie Sie dem Studium und der Erforschung des Hegelschen Denkens gewidmet haben, wovon man tiefe Spuren schon in Ihrer Dissertation Analogie und Geschichtlichkeit findet, so kann man sich vorstellen, dass dieser intellektuelle »Vatermord« keine leichte Sache für Sie gewesen ist. So liegt es für mich nahe, Sie zu fragen, ob Sie diese Überwindung des Hegelschen Denkens als eine Zerrissenheit oder als eine Erfüllung erlebt haben. LBP 1/5 – Am Anfang meines zweiten Studienjahres habe ich am 1. Dezember 1957 mit der Lektüre und dem Studium von Hegels Phänomenologie des Geistes begonnen. Ich war so fasziniert, dass ich mit der Lektüre nicht aufhören konnte. Ich vernachlässigte alles andere, wochenlang. Hegels spekulativer Standpunkt schien alles zu transformieren, indem er mich in die umfassende Dimension des Denkens, des absoluten Wissens, des Begreifens aller Zusammenhänge des Geistes, der Geschichte, der Natur, der Kultur, der Religion usw. versetzte. Ein 27 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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lieber Freund in meinem Alter, der mein merkwürdiges Verhalten beobachtet hatte, kam am 24. Dezember zu mir, nahm mir mit verständnisvoller Zärtlichkeit das Buch Phänomenologie des Geistes aus den Händen und sagte: »Jetzt werden wir Weihnachten feiern …« Und wir feierten Weihnachten. Es war für mich ein seltsames »Hegelsches Weihnachten« … Das war meine tiefste philosophische Erfahrung. Meine weitere Entwicklung war eine Art »Durchwanderung« der großen weiten Dimension, die mir Hegel eröffnet hatte. Am Ende dieses langen Weges zeigte sich, dass die Hegelsche »umfassende Dimension« doch nicht umfassend genug war: ich überschritt sie … Die Überwindung des Hegelschen Denkens habe ich eher als das Erwachen aus einem schönen und faszinierenden »philosophischen Traum« erlebt, mit der unmittelbar nachfolgenden Sensation einer großen philosophischen Leere. Ich fand mich selbst als einen Philosophen ohne eigenen Stand vor; geblieben war mir zunächst ein Einziges: mein aus einer tiefen Überzeugung erwachsenes Bedürfnis nach philosophischer Klarheit und Rigorosität. In dieser Situation (es war um das Jahr 1980) fasste ich den Entschluss, solange in der Philosophie zu »schweigen« (ich meine: nichts Wichtiges zu publizieren), bis ich einen gründlich durchdachten neuen philosophischen Stand erreicht hätte. Konkret habe ich mich immer mehr und immer intensiver mit der analytischen Philosophie beschäftigt. Erst Ende der 1980er Jahre habe ich den ersehnten neuen Stand erreicht und das erste Ergebnis war das Buch Grundlagen einer Theorie der Wahrheit. 16 Anschließend erarbeitete ich das detaillierte Konzept einer umfassenden systematischen Konzeption der Philosophie, das 2006 mit der Publikation des Buches Struktur und Sein. Ein Theorierahmen für eine systematische Philosophie seinen vorläufigen Abschluss gefunden hat. ET 1/6 – Könnten Sie uns in einigen Zeilen die Form dieser systematischen Seinstheorie erklären? Anders gefragt, von welcher Struktur spricht Ihr Werk Struktur und Sein? Das ist doppelt kompliziert, denn einerseits ist das Erfordernis der didaktischen Klarheit und der möglichst großen Kurzfassung zu beachten, andererseits handelt es sich jetzt in unserem Dialog noch nicht um die Seinsfrage als solche, sondern nur um die Perspektive, aus welcher heraus Sie eine Seinstheorie zu entwickeln versuchen. 16
Berlin: de Gruyter, 1990.
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LBP 1/6 – Ihre Frage nimmt Bezug auf die zwei Begriffe, die im Haupttitel meines systematischen Buches Struktur und Sein erscheinen. Sie ist eine äußerst schwierige Frage, wie Sie selbst bemerken, auf die eigentlich die ganze struktural-systematische Philosophie die angemessene Antwort wäre. Aber das beachten Sie doch, indem Sie sagen, dass Sie (noch) nicht nach dem Sein selbst fragen, sondern nach der Perspektive, aus welcher heraus ich die Seinstheorie entwickele. Ich vestehe das als die Frage nach dem Ansatz zu einer oder der Theorie des Seins. Etwas, was in erster Linie betont werden muss, ist die Feststellung, dass sich die struktural-systematische Philosophie als Ganzes weder als eine Theorie des Seins versteht noch mit der Seinsfrage beginnt. Die Theorie des Seins wird später, am Ende der Gesamtdarstellung dieser Philosophie entwickelt, und zwar in einer Weise, die in der Geschichte der Philosophie und in der philosophischen Literatur ihresgleichen sucht. Sie bildet aber »nur« sozusagen die Krönung der Gesamtkonzeption. Am Anfang der Themenstellung und der Darstellung steht das, was ich die »Quasi-Definition« der systematischen Philosophie nenne, nämlich: Die systematische Philosophie ist die Theorie der allgemeinsten oder universalen Strukturen des uneingeschränkten universe of discourse. Am Anfang steht also der Begriff des uneingeschränkten universe of discourse. Diser Begriff, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts vom Logiker A. de Morgan eingeführt wurde, ist einerseits absolut umfassend und andererseits einwandfrei neutral, da er keine nähere Bestimmung enthält; dennoch ist er ausdrucksstark genug, um ein ganzes Programm anzuzeigen und dessen Durchführung in geordnete Bahnen zu lenken. Hier muss folgender Punkt betont werden: Man kann die Wichtigkeit dieses Anfangs gar nicht hoch genug hervorheben, was aber hier nicht im Detail gezeigt werden kann. Die ganze Darstellung der systematischen Philosophie, wie ich sie konzipiere, besteht im Grunde hauptsächlich darin, die ganze Tragweite und systematische Leistungsfähigkeit der beiden Begriffe »Struktur« und »uneingeschränktes universe of discourse« aufzuweisen. Hier sei in aller Kürze eine erste und sehr allgemeine Charakterisierung gegeben. Intuitiv kann »Struktur« als differenzierter und geordneter Zusammenhang oder als Beziehung und Wechselwirkung von Elementen einer Entität oder eines Gebietes oder eines Prozesses usw. charakterisiert werden. Strukturiertheit beinhaltet mithin die Negation des Einfachen wie des Zusammenhanglosen. In diesem intuitiven Sinne wird 29 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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»Struktur« als Ureinsicht, als Urbegriff oder auch als »Urfaktor« in jedem theoretischen Unternehmen sowohl vorausgesetzt als auch artikuliert. Im allgemeinsten intuitiven mathematischen Sinn ist Struktur eine Kollektion im Sinne eines Tupels, bestehend aus Elementen (Objekten, Entitäten irgendwelcher Art) und Relationen (in einem weiteren Sinne, der auch Funktionen und Operationen einschließt) zwischen diesen Elementen. Formal wird »Struktur« meistens als ein geordnetes Paar definiert, wobei dann allerdings »Relationen« in einem engeren Sinne verstanden werden, der Funktionen und Operatoren nicht einschließt. Die struktural-systematische Philosophie macht aus dem Begriff der Struktur einen umfassenden Gebrauch, indem sie ihn an den spezifischen Charakter der philosophischen Fragestellung und der philosophischen Theorie anpasst. So wird der zentrale Begriff des Theorierahmens entwickelt, in dessen Zentrum der Begriff der Struktur steht. Alles dreht sich um die drei fundamentalen Arten von fundamentalen Strukturen: den formalen (logischen und mathematischen), den semantischen und den ontologischen Grundstrukturen. Diese Dimension wird strukturale Dimension genannt; sie umfasst den ganzen Bereich des Subjekts, der Erkenntnis, der Begriffe, der Theorien. Die Grundidee der struktural-systematischen Philosophie ist die Einsicht, dass zwischen der strukturalen Dimension und dem uneingeschränkten universe of discourse ein Grundverhältnis obwaltet, wobei sich das Grundprogramm dieser Philosophie als der Aufweis und die Explizitmachung aller Aspekte und der ganzen Weite dieses Verhältnisses versteht. Das Resultat der Anwendung der Strukturen auf das universe of discourse sind die wissenschaftlichen und die philosophischen Theorien. Durch die Anwendung der Strukturen wird das universe of discourse immer weiter bestimmt. Das uneingeschränkte universe of discourse erscheint zunächst als die Gesamtheit der Daten und konstituiert das »Material« für die Strukturen. »Daten« werden hier weder im Sinne von J.-L. Marion als »Schenkung« (donation) noch im Sinne der Kantischen Tradition als das sinnliche Material und auch nicht im Sinne der empiristischen Tradition der sense data verstanden. Der Term ›Datum‹ wird als ein terminus technicus verwendet und bezeichnet das, was am Anfang eines theoretischen Unternehmens durch vortheoretische oder inchoativ-theoretische Sätze ausgedrückt wird. In der Terminologie von Struktur und Sein heißen Daten die anfänglich als Themen für die Theoriebildung 30 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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gegebenen Primsätze bzw. die durch solche Sätze ausgedrückten Primpositionen. Daten in diesem technischen Sinn sind theoretisch noch unbestimmt oder unterbestimmt. Deren nähere Bestimmung geschieht dadurch, dass sie in einen strukturalen Zusammenhang integriert werden. Am Anfang sind sie nur »Wahrheitskandidaten«, noch nicht bestimmte wahre Sätze bzw. wahre Primpropositionen. Auf dieser Stufe der Darstellung wird das uneingeschränkte universe of discourse als die Dimension des großen Datums aufgefasst. Die Strukturdimension und die Dimension des großen Datums erscheinen dann als die zwei Pole einer Beziehung. Das ist die völlig neue Gestalt der radikal transformierten Subjekt–Objekt-Beziehung. Mit der Anwendung der Strukturen auf das uneingeschränkte universe of discourse wird dieses genauer charakterisiert, und zwar zuerst als »Welt« bzw. »objektives Sein«. Hier also wird zum ersten Mal in relevanter Weise der Ausdruck ›Sein‹ eingeführt, aber zunächst nur in einem eingeschränkten Sinn, nämlich als objektives Sein. Die folgende Situation wird erreicht: Auf der einen Seite hat man die immense Dimension der Strukturen (mit allem, was dazu gehört: Subjekt(ivität), Erkenntnis, Geist, Sprache, ideale Entitäten usw. …), und, auf der anderen Seite, die objektive Welt bzw. das objektive Sein. Dieses ist der immense Bereich der individuellen Seienden, der Bereich der Seienden aller Art, der Geschichte usw., d. h. all der Sphären, die wir als die Welt als die Gesamtheit der seienden oder existierenden »Sachen« bezeichnen. In diesem systematischen Zusammenhang wird ab diesem Punkt nicht mehr hauptsächlich die Frage gestellt, wie sich die beiden Relata oder Pole aufeinander beziehen oder sich zueinander verhalten, das heißt: Es handelt sich nicht mehr um die Frage, deren Thema man graphisch folgendermaßen repräsentieren kann:
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Die neue weitere und viel radikalere Frage lautet vielmehr: Wie ist diese Beziehung oder diese Aufeinanderbezogenheit selbst allererst möglich und zu begreifen? Nicht mehr nur die Beziehung selbst zwischen den beiden Relata wird thematisiert, sondern die Dimension, die sie allererst ermöglicht. Die Antwort darauf lautet: diese gegenseitige Beziehung ist möglich durch eine beide Relata/Pole umfassende Dimension. Graphisch kann dies durch eine Klammer über den beiden Relata, eine Klammer, die beide umfasst (und damit auch einschließt), dargestellt werden: 31 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Kein anderes Wort bzw. kein anderer Begriff ist so geeignet, diese radikal unhintergehbare, ursprüngliche oder primordiale Dimension zu bezeichnen als der ohne jedwede Einschränkung zu verstehende Term bzw. Begriff »Sein«. Wenn es in der ganzen Geschichte der Philosophie und in der von Philosophen und von normalen Menschen benutzten Sprache eine eher intuitiv gegebene fundamentale Konstante bei der Verwendung des Terms/Begriffs »Sein« gibt, dann diese: Sein setzt absolut keinen anderen, ursprünglicheren Term/Begriff voraus, aber jeder andere Term/Begriff setzt Sein als den ursprünglicheren Term/Begriff voraus. ET 1/7: – Wenn ich richtig verstehe, ist das Sein Ihnen zufolge nicht nur und nicht einmal hauptsächlich im Sinne der einzelnen »Daten« des universe of discourse zu verstehen; vielmehr hat »Sein« den Sinn jener ursprünglichen Dimension, die sowohl die abstrakten Strukturen als auch die Daten des universe of discourse umfasst: das »Subjekt« im Sinne der strukturalen Dimension und das »Objekt« im Sinne der Dimension der einzelnen Daten des universe of discourse. Handelt es sich um eine in der Philosophiegeschichte gänzlich originale Konzeption? LBP 1/7: – Um weitreichende Missverständnisse zu vermeiden, muss man gerade am Anfang sehr sorgfältig mit dem Wort ›Sein‹ umgehen, und zwar sowohl terminologisch als auch sachlich. Sie verwenden das zweideutige französische Wort ›être‹, das sowohl »être=Sein« als auch »être=étant=Seiendes« bedeuten kann. Ich schlage daher vor, dass man, wie manche französische Philosophen schon heute tun, »être« im Sinn von »Sein« mit anfänglichem Großbuchstaben ›Ê‹ schreiben sollte: Être. Ihre Formulierung »Sein im objektiven Sinn der einzelnen ›Daten‹ des universe of discourse« ist nicht eindeutig. Objektives Sein=Être objectif meint die Totalität der Seienden=êtres=étants. Erst dann, wenn die Daten so weit begriffen werden, dass sie als Seiende=êtres=étants verstanden werden, wird klar, dass sie alle eine große Einheit, eine Totalität bilden, die im Allgemeinen als »Welt« bezeichnet, in der streng struktural-philosophischen Terminologie »objektives Sein=Être objectif« genannt und als solches begriffen wird. »Sein« meint also hier jene Dimension, die alle Seienden der Welt umfasst, in dem Sinne, dass sie 32 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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allen Seienden gemeinsam ist: Sie ist das einigende Band aller Seienden. Diese Dimension ist daher kein Seiendes mehr, sonst wäre sie nur ein weiteres Element in der Reihe der Seienden und das einigende Band wäre nicht erklärt. Die adäquate Bezeichnung für sie ist gerade »objektives Sein«. Die Bezeichnung »objektiv« muss hier eingeführt werden, weil es sich zunächst nur um die Totalität von Seienden handelt, welche im Allgemeinen die Welt heißt, wobei »Welt« dann präziser als der objektive Pol der schon erläuterten Beziehung von strukturaler Dimension und universe of discourse verstanden wird. Mit anderen Worten: das universe of discourse wird an dieser Stelle der systematischen Darstellung nur als Welt als die Totalität der Seienden, also als objektives Sein, bestimmt und thematisiert. Noch nicht thematisiert ist damit jene absolut umfassende Dimension, die beide Pole der genannten Relation, also die strukturale Dimension (mit allem, was sie einschließt) und die Welt als objektives Sein, umfasst. Wenn diese umfassende Dimension explizit thematisiert wird, so wird sie Sein simpliciter, im absolut uneingeschränkten und damit ursprünglichen oder primordialen Sinn genannt. Hier ist also der systematische Punkt erreicht, wo das Wort ›Sein‹ ohne jede Einschränkung eingeführt wird. Jede andere Bedeutung des so geschichtsträchtigen Wortes ›Sein‹ ist in der struktural-systematischen Konzeption ausgeschlossen. Eine solche Einführung des Wortes ›Sein‹ haben in gewisser Hinsicht nach meiner Kenntnis nur zwei Philosophen in etwa anvisiert: Hegel und Heidegger, aber nur Heidegger hat diesen Schritt wirklich vollzogen, dann aber nicht konsequent durchgeführt. Hegel seinerseits schreibt am Anfang seiner Wissenschaft der Logik: »Der Begriff der Logik […] selbst ist in der Einleitung als das Resultat einer jenseits liegenden Wissenschaft [nämlich der Phänomenologie des Geistes], damit hier gleichfalls als eine Voraussetzung angegeben worden. Die Logik bestimmte sich […] als die Wissenschaft des reinen Denkens, die zu ihrem Princip das reine Wissen habe, die nicht abstracte, sondern dadurch concrete lebendige Einheit, daß in ihr der Gegensatz des Bewußtseyns von einem subjectiv-für sich seyenden und einem Zweyten solchen Seyenden, einem Objectiven, als überwunden, und das Seyn als reiner Begriff an sich selbst, und der reine Begriff als das wahrhafte Seyn gewußt wird. Diß sind sonach die beyden Momente, welche im Logischen enthalten sind. Aber sie werden nun
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Auf der Suche nach Klarheit
als untrennbar seyend gewußt, nicht wie im Bewußtseyn jedes auch als für sich seyend …« 17
Es ist klar, dass hier von einer Überwindung der Subjekt–ObjektBeziehung die Rede ist. Die Frage ist aber: in welchem Sinne? Wie die zitierte Stelle zeigt, versteht Hegel die Überwindung als eine Angelegenheit nur der Betrachtung oder Darstellung: In der Phänomenologie erscheinen die beiden Pole als getrennte bis zur Stufe der Vernunft bzw. des absoluten Wissens, wo sie sich als identisch, als Selbstbeziehung, erweisen; in der Wissenschaft der Logik werden die verschiedenen Gestalten oder Stufen der phänomenologischen Unterscheidung bzw. Beziehung von Subjekt und Objekt nicht als erscheinende, sondern als rein abstrakte Strukturen aufgefasst. Es gibt bei Hegel eine strenge Entsprechung zwischen phänomenologischen Strukturen (Hegel nennt sie Gestalten des Bewusstseins bzw. des Geistes) und logischen Strukturen. Immer geht es ausschließlich um die Relata und deren Beziehung zueinander, wie das obige Diagramm
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gut illustriert. Nicht aber geht es Hegel darum, die beide Pole oder Relata umfassende Dimension zu thematisieren gemäß dem Diagramm:
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Wenn Hegel am Anfang der Wissenschaft der Logik das Sein einführt, so bezeichnet Sein nur die unmittelbare abstrakte oder logische Struktur, die der ersten phänomenologischen Gestalt des Bewusstseins, nämlich dem sinnlichen Bewusstsein, entspricht. 18 Hegels »Sein« hat keineswegs die Bedeutung, welche die struktural-systematische Philosophie diesem Wort verleiht, die Bedeutung, die durch die große obere Klammer im Diagramm
8 >
:
G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Gesammelte Werke, Band 21, 44–45. Zur Frage der Entsprechung zwischen phänomenologischen »Gestalten« und logischen »Denkbestimmungen« bei Hegel vgl. mein Buch: Darstellung, Methode und Struktur. Untersuchungen zur Einheit der systematischen Philosophie G. W. F. Hegels. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann, 2. Aufl., 1981, 132–144.
17 18
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Auf der Suche nach Klarheit
angezeigt wird. Hegel denkt nur die verschiedenen Gestalten der abstrakt, d. h. ihm zufolge logischen, Beziehung:
...
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Wenn Hegel am Ende der Wissenschaft der Logik wieder vom Sein spricht und es »als erfülltes Seyn, [als] de[n] sich begreifende[n] Begriff« 19, d. h. als absolute Idee bezeichnet, so handelt es sich um die höchste abstrakte bzw. logische Struktur, die als Identität der beiden unterschiedenen polaren logischen Strukturmomente begriffen wird. Im Gegensatz zu Hegel hat Heidegger die Dimension des Seins als die beide Pole der wie immer näher konzipierten und wie immer bezeichneten Subjekt–Objekt-Beziehung umfassende Dimension klar erreicht, wie dies in der Frage 3/1 ausführlich gezeigt werden wird. Hier ist anzufügen, dass Heidegger auf seinem weiteren Weg die von ihm prinzipiell herausgearbeitete ursprüngliche umfassende Dimension des Seins in keiner Weise konsequent expliziert hat; ganz im Gegenteil, er hat sich auf eine weitgehend dichterische Ebene begeben, die philosophisch von geringem Wert ist. Das Buch Sein und Gott enthält eine umfassende Kritik an Heideggers weiterer Entwicklung.
G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Zweiter Band: Die subjektive Logik (1816). Gesammelte Werke, Band 12. Hamburg: Meiner Verlag, 1981, 252.
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2 Philosophische Theorie und systematische Perspektive
ET 2/1 – Wenn ich Ihre Ausführungen richtig verstanden habe, begreift Ihre struktural-systematische Philosophie die Daten oder Seienden und die strukturale Dimension, die nach Ihnen aus den fundamentalen logisch/mathematischen, semantischen und ontologischen Strukturen besteht, sowohl im Hinblick auf das Sein als auch aus der Perspektive des Seins, wobei Sein im uneingeschränkten Sinn verstanden wird. Dabei werden die Daten in die strukturale oder theoretische Ebene integriert und erreichen dadurch einen hohen Grad von Intelligibilität. Ich nehme an, dass diese Prozedur damit alle Fragen bezüglich einer realistischen oder idealistischen Position von vorneherein als gegenstandslos erscheinen lässt, und zwar in dem Maße, in dem klar wird, dass solche Fragestellungen bzw. Positionen die gegenseitige Integration von Strukturen und Daten nicht beachtet. Erst auf der letzten und höchsten Ebene der systematischen Darstellung wird die große Frage nach dieser ursprünglichen Dimension, welche die ganze Dimension der Strukturen und die ganze Dimension der Daten umfasst, gestellt und behandelt. Sie nennen diese umfassende Dimension das primordiale Sein. Um möglichst jedes Missverständnis zu vermeiden, muss hier eine Frage gestellt werden. Ihre systematische Philosophie hebt deutlich und entschieden auf Universalität ab, indem sie die ganze Dimension der Daten zum Thema der theoretischen Tätigkeit erhebt, was übrigens Ihren Konflikt mit J.-L. Marion erklärt, von dem oben die Rede war. Wenn man Sie liest, so könnte man sagen, dass Sie versuchen, die universale, systematische und theoretische Dimension wieder ins Zentrum des philosophischen Denkens zu stellen, im klaren Gegensatz zu den heutigen Tendenzen und Richtungen, welche diese Dimension gänzlich beseitigt zu haben scheinen, indem sie sich ausschließlich auf das gegebene Existierende oder das Ereignis konzentrieren. Das ist eine formidable Revanche der philosophischen Vernunft: In einer Zeit, in welcher oft rein literarische, affektive, pseudo-mystische 36 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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oder poetische Betrachtungen ungehindert in den philosophischen Schriften erscheinen, kann man Ihren kompromisslosen Einsatz für die vollständige und konsequente Rehabilitierung der universalen und theoretischen Perspektive in der Philosophie nur bewundern. Gleichzeitig werden die Leser von Ihrem Vorhaben beeindruckt sein, Hegel auf seiner eigenen Ebene, d. h. auf der Ebene der Universalität, zu überwinden, indem Sie zeigen, wie Sie sagen, dass ihm die unverzichtbare Klarheit und die konsequent durchdachte Universalität der hinsichtlich aller ihrer Potentialitäten zu Ende gedachten und in Anspruch genommenen theoretischen Vernunft fehlen. Ein Punkt indes muss gleich am Anfang geklärt werden. Die von Ihnen anvisierte theoretische und systematische Universalität der sowohl die fundamentalen Strukturen als auch die Daten des uneingeschränkten universe of discourse umfassenden ursprünglichen Dimension ist wohl keine abstrakte Dimension; ganz im Gegenteil, denn Sie sprechen von der Aufeinanderangewiesenheit von Strukturen und Daten. Aber hier taucht die Frage auf: Gelingt es der theoretischen Ebene, auf der Sie sich situieren, das Konkrete und Wirkliche effektiv und radikal zu integrieren? Um die Frage in zweierlei Hinsicht etwas zu konkretisieren: Erstens, wie bezieht sich der Struktur(en)pol auf die Realität von Subjekten, die über das Vermögen der Reflexion verfügen und darüber hinaus sogar als substantielle Entitäten aufgefasst werden können? Zweitens, warum soll man die objektiven Daten auf die Daten limitieren, die im uneingeschränkten universe of discourse erscheinen, wobei Sie hinzufügen, dass dabei die normale Sprache nicht in Betracht gezogen wird? Meinem Eindruck nach, scheinen Sie sich dagegen zu sträuben, dass eigene biographische Daten oder Faktoren in Ihre philosophischen Schriften Eingang finden. Ist dem so, so könnten Leser fragen, ob das nicht ein Indiz dafür ist, dass Sie sich der Geschichte und der wirklichen Erfahrung entziehen wollen. Um zusammenzufassen: Verwischen Sie nicht in Wirklichkeit sowohl die moderne Entdeckung des Subjekts als auch die postmoderne Meditation des Ereignisses, indem Sie deren Konkretheit in der Struktur ohne Substanz und im uneingeschränkten universe of discourse ohne Wirkliches und ohne Ereignis(se) sozusagen neutralisieren? LBP 2/1 – Sie stellen mehrere Fragen, die aber grundsätzlich um ein einziges großes Thema kreisen. Um der Kürze und Klarheit willen wer37 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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de ich nicht das große Thema als solches, sondern Ihre einzelnen Fragen bzw. die von Ihnen angesprochenen einzelnen Punkte der Reihe nach kurz beantworten. Zunächst bemerke ich, dass Ihre Formulierung: »Sie versuchen, die universale, systematische und theoretische Dimension wieder ins Zentrum des philosophischen Denkens zu stellen« sehr treffend ist, wobei ich allerdings die drei Qualifikationen der gemeinten Dimension, die Sie nennen, nämlich universale, systematische und theoretische Dimension, invertieren und so formulieren würde: »theoretische, systematische und universale« Dimension. »Theoretisch« an erster Stelle, weil Theoretizität die erste fundamentale Charakteristik des philosophischen Denkens ausmacht; »systematisch« an zweiter Stelle, weil die theoretische Dimension auf der Grundlage aller Kriterien eines strengen theoretischen Diskurses artikuliert werden muss; zuletzt »universal«, weil die theoretische systematische Dimension absolut umfassend sein muss, soll sie als eine philosophische verstanden werden. Nun beziehen Sie sich auf »die heutigen Tendenzen und Richtungen, die diese [theoretische, systematische und universale] Dimension gänzlich beseitigt zu haben scheinen, indem sie sich auf das gegebene Existierende oder das Ereignis ausschließlich konzentrieren«. Dazu sage ich dreierlei. Erstens: Wenn die Behandlung des gegebenen »Existierenden« oder des Ereignisses nicht aus einer theoretischen, systematischen und universalen Perspektive heraus erfolgt, so mag sie alles Mögliche sein, nur keine echt philosophische. Anders formuliert: nicht nur gibt es keine Dichotomie oder Inkompatibilität zwischen theoretischer/systematischer/universaler Perspektive, einerseits, und dem gegebenen »Existierenden« oder dem Ereignis, andererseits, sondern im Gegenteil: zwischen beiden sehe ich einen unzertrennlichen Zusammenhang. Zweitens: Was die Mode oder den Mainstream der Zeit ist und sagt, stellt für mich absolut kein Kriterium für die Entscheidung dar, einen bestimmten philosophischen Weg zu gehen. Es gibt genug große Beispiele aus der Geschichte der Philosophie, die zeigen, dass die Philosophie in bestimmten Epochen durch Dekadenz charakterisiert war. Ob die Philosophie in der Gegenwart dekadent ist oder nicht, ist eine komplizierte Frage. Sie hat zwar nicht überall, aber doch in weiten Teilen sicher bedeutende positive Ergebnisse, ganz besonders hinsichtlich der Rigorosität des philosophischen Denkens, erzielt, aber aufs Ganze gesehen haben sich diese positiven Ergebnisse im Hinblick auf die systematische und universale Dimension der Philosophie bisher kaum ausgewirkt. 38 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Drittens: Um einen philosophisch adäquaten Weg zu wählen, lasse ich mich besonders von zwei absolut notwendigen (wenn auch nicht hinreichenden) Kriterien leiten: einem historischen und einem sachlichen. Das historische Kriterium ist die Feststellung, dass die theoretische, systematische und universale Perspektive so etwas wie den Ariadnefaden durch alle Epochen jenes großen Unternehmens bildet, das vor etwa 2500 Jahren in Griechenland initiiert wurde und das »Philosophie« heißt. Das sachliche Kriterium ist die grundlegende Annahme, dass die theoretische, systematische und universale Perspektive eine fundamentale und nicht eliminierbare Potentialität des menschlichen Geistes konstituiert. Sie fragen weiter: »Gelingt es der theoretischen Ebene, auf der Sie sich situieren, das Konkrete und Wirkliche« und, wie Sie auch sagen, »das gegebene Existierende oder das Ereignis« »effektiv und radikal zu integrieren?« Darauf möchte ich eine doppelte Antwort geben. Die erste betrifft speziell den Aspekt der »theoretischen Ebene«. Ihre Frage scheint eine Dichotomie zwischen der »theoretischen Ebene« und dem »gegebenen Existierenden oder dem Ereignis« vorauszusetzen. Auch hierzu wäre viel, sehr viel zu sagen, um eine ganze Reihe von grundlegenden und hartnäckigen Missverständnissen auszuräumen, die diesbezüglich unter vielen Philosophen grassieren. Wenn ein Philosoph über »das Konkrete, das Wirkliche, das Existierende, das Ereignis« spricht und diese »Sachen« artikuliert, wo sonst (oder: wo anders) »situiert« er sich als auf der theoretischen Ebene? Wollte man das leugnen, so würde man die fundamentale Annahme verwerfen, der zufolge Philosophie absolut wesentlich eine theoretische Aktivität ist, die wesentlich mit Begriffen umgeht. Die ganze Tragweite dieser simplen Feststellung ist immens – und dennoch wird sie von vielen Philosophen ignoriert. Diesbezüglich herrscht in weiten Teilen der heutigen Philosophie eine beträchtliche Konfusion. Es gibt keine prinzipielle Dichotomie zwischen der theoretischen Ebene und »dem gegebenen Konkreten, dem Wirklichen, dem Existierenden, dem Ereignis«, sondern nur die mögliche (und oft vorhandene) Inadäquatheit bestimmter Formen der theoretischen Ebene (d. h. dessen, was ich »Theorierahmen« nenne) hinsichtlich der theoretischen Artikulation des Bereichs des »Konkreten, des Wirklichen, des Existierenden, des Ereignisses«. Gerade dieses Problem wird in der struktural-systematischen Philosophie sehr ausführlich behandelt. Ein wesentlicher Punkt dabei ist die Anerkennung und Annahme einer Pluralität von Theorierahmen, woraus die Aufgabe 39 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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entsteht, den adäquatesten, d. h. hier den die größte Intelligibilität und Kohärenz aufweisenden, Theorierahmen herauszuarbeiten. Auf dieses zentrale Thema werden wir ausführlich zurückkommen müssen. Die zweite Antwort richtet sich speziell auf die Dimension »des gegebenen Konkreten, des Wirklichen, des Existierenden, des Ereignisses«. Ihre diesbezügliche Frage nimmt Bezug auf den Umstand, dass die struktural-systematische Philosophie dadurch einen universalen Charakter hat, dass sie eine Theorie des Seins als solchen und im Ganzen entwickelt. Daraus entspringt die Sorge, dadurch würden das Konkrete, das Wirkliche, also die Seienden, dabei ganz besonders die menschlichen »Subjekte« und »Phänomene« wie Ereignisse, vernachlässigt oder gar ignoriert. Aber gerade das ist absolut nicht der Fall; denn die struktural-systematische Philosophie, wie ich schon dargelegt habe, thematisiert an erster Stelle die ganze Dimension der Welt mit allen ihren Bereichen (das heißt: anorganische und organische Natur, die Welt des Menschen mit seiner ontologischen, ethischen, sozialen Dimension), den Bereich des Ästhetischen, das Phänomen des Religiösen, dann sogar die Weltgeschichte, wie in Kapitel 4 von Struktur und Sein gezeigt wird. Erst dann wird die große Frage nach dem Sein als solchem und als Ganzes gestellt und behandelt. Zwei von Ihnen in diesem Zusammenhang aufgeworfene speziellere Fragen seien noch kurz angesprochen. Die erste zielt auf das gegebene Existierende, das Singuläre, das Wirkliche ab. Nun behandelt Struktur und Sein die Frage »Was ist ein Individuum in kategorialer oder strukturaler Hinsicht?« sehr ausführlich 1; darauf wird eine Antwort gegeben, die gerade sowohl den systematischen als auch den individuellen Charakter des Menschen gleichfalls thematisiert. Ihre zweite speziellere Frage bezieht sich auf »Ereignis (événement)«. Das stellt für die struktural-systematische Philosophie überhaupt kein Problem dar. Der Grund ist dieser: Diese Philosophie entwickelt eine Ontologie, die eine einzige ontologische Kategorie oder Struktur annimmt; sie wird »ontologische Primstruktur (oder auch Primtatsache)« genannt. Aber davon gibt es eine ganze Reihe von Formen: statische Primstrukturen, dynamische Primstrukturen, prozesshafte Primstrukturen, EreignisPrimstrukturen etc. Freilich muss man beachten, dass diese Aussagen nur wirklich verständlich sind, wenn man die sehr detailliert entwickelte Theorie der semantischen und ontologischen Strukturen in Struktur 1
Vgl. Struktur und Sein, 351–387.
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und Sein beachtet. Zu Ihrem Hinweis auf »die postmoderne Meditation des Ereignisses« möchte ich kurz bemerken, dass ich in Sein und Gott gezeigt habe, dass diese Denkrichtung einen nebulösen »Begriff« von Ereignis verwendet. Sie stellen die folgende weitere und sehr interessante Frage: »Verwischen Sie nicht in Wirklichkeit die moderne Entdeckung des Subjekts?« In Struktur und Sein vertrete ich die These von der Depotenzierung des Subjekts, die eine zentrale These meiner philosophischen Konzeption ist. »Depotenzierung« meint die Überwindung der Stellung, die das Subjekt in der Moderne gehabt hat und heute in gewisser Hinsicht immer noch hat. Aber »Depotenzierung« bedeutet nicht »Auslöschung (effacement)« und am allerwenigsten etwas im Sinne des im französischen Strukturalismus verbreiteten Slogans »der Tod des Subjekts«. Ich würde nicht einfach von »der modernen Entdeckung des Subjekts«, sondern von »der modernen Entdeckung und gleichzeitigen Entstellung des Subjekts« sprechen. Die Moderne hat das Subjekt zwar entdeckt, aber gleichzeitig auch entstellt. In aller Kürze kann man sagen: das Subjekt/Ich muss vom umfassenden primordialen Sein her, nicht das umfassende primordiale Sein vom Subjekt/Ich her verstanden und begriffen werden. Wie dieser Sachverhalt genau zu verstehen ist, habe ich in der oben angegebenen Passage von Struktur und Sein ausführlich gezeigt. Der wichtigste Aspekt dieser Thematik betrifft die Stellung des Subjekts auf der theoretischen Ebene. Hier kommt die genannte Depotenzierung voll zur Geltung – mit weitreichenden Konsequenzen. In aller Kürze: die zentrale Stellung des Subjekts, welche die Philosophie in der Moderne charakterisiert (hat), wurde bekanntlich von Kant in einer berühmten Behauptung oder These artikuliert: »Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können …« 2 Damit wird das Subjekt/Ich zur alles bestimmenden theoretischen Instanz. Diese philosophische Position wurde durch den linguistic turn radikal überwunden. In meiner Konzeption, wie schon kurz gezeigt, spielt die Sprache eine absolut zentrale Rolle; allerdings handelt es sich um eine philosophische Sprache. Von der Sprache her lässt sich nun grundsätzlich erklären, was ein theoretischer Diskurs ist: Es ist der Diskurs, der aus deklarativen Sätzen I. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Akademie-Ausgabe, Berlin: de Gruyter, 1968, Band IV, B 131.
2
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besteht. Ich nenne solche Sätze fachterminologisch einfach theoretische Sätze. Die Struktur solcher Sätze wurde von Wittgenstein in seinem Tractatus in aller Kürze so charakterisiert: »Die allgemeine Form des [deklarativen, theoretischen] Satzes ist: Es verhält sich so und so.« 3 Die genaue Interpretation des Wittgensteinschen Satzes zeigt, dass die Struktur des deklarativen bzw. theoretischen Satzes aus einem theoretischen Operator und einem Satz als Argument des Operators besteht. Wittgensteins Formulierung ist aber elliptisch. Wenn man sie aufschlüsselt, ergibt sich: Der theoretische Operator ist »es verhält sich so dass«; anschließend folgt ein Satz (bei Wittgenstein nur angezeigt durch »so und so«). Der Satz als Argument wird in der Logik angegeben durch eine Konstante oder Variable, z. B. durch einen griechischen Buchstaben, etwa: φ. Als Anzeige des theoretischen Operators benutze ich das Symbol: T . Die formalisierte Struktur des theoretischen Satzes (φ). Beispiel: der theoretische (wissenschaftliche) Satz: ist daher: T »Die Erde kreist um die Sonne« hat die Struktur: »Es verhält sich so dass (die Erde um die Sonne kreist)«. Das Bemerkenswerte im Fall des theoretischen Satzes ist die Tatsache, dass er überhaupt keinen Bezug zu irgendeinem Subjekt (oder zu ähnlichen Faktoren) beinhaltet. Alle echten wissenschaftlichen und philosophischen Theorien bestehen aus theoretischen Sätzen, beinhalten daher keine Beziehung auf irgendein Ich/Subjekt. Die – besonders bei analytischen Philosophen – sehr weit verbreitete Darstellungsform, in der die meisten Sätze die erste Person Singular oder Plural als Subjekt haben (»ich behaupte, ich vermute, ich glaube …, wir denken …«), sind zwar theoretische Sätze, aber solche, die den theoretischen Operator auf eine der Formen der Subjektivität einschränken. Beispielsweise sind die theoretischen Sätze der Kantischen Transzendentalphilosophie so strukturiert: »Aus-der-Perspektive-der-transzendentalen-Subjektivität-verhält-es-sich-so-dass … z. B. die Sonne den Stein erwärmt« (Beispiel aus der Kritik der reinen Vernunft). Damit wird nicht die echt universale theoretische Dimension erreicht. Diese ist erst dann erreicht, wenn der theoretische Operator streng als solcher, ohne jedwede Einschränkung, die formulierten Sätze bestimmt. Wenn Sie sagen: »Sie sträuben sich dagegen, dass eigene biographische Daten oder Faktoren in Ihre philosophischen Schriften Eingang finden, so könnten Leser fragen, ob das nicht ein Indiz dafür ist, dass Sie 3
L. Wittgenstein, Tractatus 4.5.
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sich der Geschichte und der wirklichen Erfahrung entziehen wollen«, so erwidere ich darauf Folgendes: Ein Philosoph kann selbstverständlich die Geschichte seines Denkens »erzählen«, aber indem er das macht, stellt er keine Theorie dar, sondern er erzählt eben eine Geschichte. Die Darstellung einer echten Theorie setzt voraus, dass das Subjekt sich auf die absolut universale theoretische Dimension erhoben hat. Auf dieser Ebene erscheint das Subjekt überhaupt nicht mehr in seiner Individualität, in seiner Geschichte, kurz: in seiner Partikularität. Auch auf der universalen Ebene ist das Subjekt zwar nicht abwesend; es ist dort durchaus präsent, aber als erhoben auf die Ebene der absoluten Universalität. Diese Überwindung der Partikularität durch Erhebung zur Universalität ist eine der fundamentalsten Potentialitäten des menschlichen Geistes. Auf der Ebene der Universalität braucht das Subjekt nicht mehr als solches in Erscheinung zu treten, d. h. explizit genannt zu werden … Ich habe diese Konzeption in Struktur und Sein ausführlich dargelegt. Zu klären ist noch ein letzter Punkt, den Sie in einer kleinen »Nebenfrage« ansprechen: »Warum soll man die objektiven Daten auf die Daten limitieren, die im uneingeschränkten universe of discourse erscheinen«, wobei Sie hinzufügen, »dass dabei die normale Sprache nicht in Betracht gezogen wird?« Dazu ist zu sagen: Es gibt keine Einschränkung der Daten nur auf die Dimension des universe of discourse. Das universe of discourse, von dem in der Quasi-Definition der systematischen Philosophie die Rede ist, ist absolut uneingeschränkt. Es ist einfach widersprüchlich zu behaupten, es gäbe etwas oder es könne etwas geben, was nicht zum universe of discourse gehört. Auch nur die wie abstrakt auch immer gemeinte Annahme von etwas jenseits oder außerhalb des universe of discourse setzt schon einen sprachlichen Bezug zu einem solchen etwas-angeblich-außerhalb-des-universe-of-discourse voraus – und damit wäre ein solches etwas doch ein Element des uneingeschränkten universe of discourse. Die von der struktural-systematischen Philosophie angenommene bzw. herausgearbeitete philosophische Sprache stellt keine Einschränkung dar, denn diese Sprache ist nichts anderes als die Sprache, die daraus resultiert, dass die sogenannte normale Sprache von Obskuritäten, Unbestimmtheiten, Inkorrektheiten, Oberflächlichkeiten und Einschränkungen aller Art befreit wird. ET 2/2 – Ein wichtiger Punkt, der die Grundlagen Ihres Denkens betrifft, bedarf der Klärung. Sie haben von der »Quasi-Definition« der systematischen Philosophie gesprochen. Warum diese Zurückhaltung? 43 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
Philosophische Theorie und systematische Perspektive
Würden Sie einen Nachteil darin sehen, eine vollständige Definition zu präsentieren? Ist dies darauf zurückzuführen, dass die von Ihnen entwickelte struktural-systematische Philosophie ihren Grund nicht in sich selbst haben kann? Was fehlt noch, damit man eine in jeder Hinsicht vollständige Definition erreichen kann? LBP 2/2 – Um der Klarheit willen wiederhole ich zuerst meine »QuasiDefinition« der struktural-systematischen Philosophie: Die systematische Philosophie ist die Theorie der allgemeinsten oder universalen Strukturen des uneingeschränkten universe of discourse. Der Ausdruck »Quasi-Definition« besagt weder eine Zurückhaltung noch eine Unvollständigkeit der Definition. Die Definition als solche ist eine vollständige Definition. Wie ich in Struktur und Sein erläutert habe, besagt dieser Ausdruck so viel wie: eine programmatische Definition, also eine Definition, die ein auszuführendes Programm anzeigt. Der Partikel »Quasi« besagt also hier: unausgeführtes oder noch nicht ausgeführtes oder noch auszuführendes Programm. Um das zu verstehen, muss man Folgendes beachten: Eine Definition im strengen Sinne kann am Anfang oder am Ende einer Abhandlung stehen, je nachdem, welchen methodischen Stellenwert ihr ein Autor beimisst. Wenn es sich vornehmlich allererst darum handelt, herauszufinden, was mit einem bestimmten Begriff gemeint ist, so wird in der Regel die Definition erst am Ende und als Resultat einer Untersuchung erscheinen. Aber im Prinzip kann die Definition (auch im Fall des Wahrheitsbegriffs) am Anfang stehen; dann hat sie den Sinn, dass die Darstellung der philosophischen Konzeption die Aufgabe hat, die Definition »auszuführen«. In diesem Sinne hat »Definition« denselben methodischen Stellenwert wie etwa »These«: Ein Autor kann seine Darstellung damit beginnen, dass er sagt: »Ich möchte folgende These vertreten«. Seine Ausführungen haben dann die Aufgabe, die These zu verdeutlichen und zu begründen. Oder der Autor kann ein bestimmtes Problem behandeln und am Ende seiner Ausführungen zusammenfassen, indem er die These formuliert, die sich aus seiner Untersuchung ergibt. Welcher Weg gewählt werden sollte, entscheidet sich am jeweiligen konkreten Fall und an der Behandlungsweise des Autors. Im Falle einer umfassenden Theorie wie der systematischen Philosophie empfiehlt sich die Gesamtdefinition am Anfang zu bringen, damit der Leser besser orientiert ist. Das ist der Weg, den die struktural-systematische Philosophie wählt und geht. Um diesen, wenn man so will, »antizipatorischen« Charakter der Ge44 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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samtkonzeption hervorzuheben, wird der Ausdruck ›Quasi-Definition‹ verwendet. (Man kann sicher darüber streiten, ob es sich um eine glücklich gewählte Bezeichnung handelt.) Der Definition als solcher fehlt also nichts. Wenn man unbedingt von einem »Fehlen« sprechen wollte, dann müsste man sagen: Der (Quasi-)Definition fehlt noch die Ausführung. Die kleine »Zwischenfrage«, die Sie einschieben, nämlich: »Ist dies darauf zurückzuführen, dass die von Ihnen entwickelte struktural-systematische Konzeption ihren Grund nicht in sich selbst haben kann?«, ist Ausdruck einer sehr weit verbreiteten Einstellung bei Philosophen: Man stellt sofort die Frage nach der Selbstbegründung. Diese für die ganze moderne Zeit, speziell aber für die klassische deutsche Philosophie, charakteristische Frage birgt in sich ein tiefes Missverständnis, denn sie wird auf der Basis von grundlegenden ungeklärten Voraussetzungen gestellt. Was ist nämlich unter »Grund« und »Begründung« zu verstehen? Die Beantwortung dieser Frage setzt die Klärung vieler fundamentaler Begriffe und theoretischer Zusammenhänge voraus, wie noch zu zeigen sein wird. An dieser Stelle genüge es zu sagen, dass die Begründung der Richtigkeit der formulierten (Quasi-)Definition nicht am Anfang, sondern am Ende des theoretischen Vorhabens, das Philosophie heißt, allererst in Angriff genommen werden kann – und muss. ET 2/3 – Einverstanden. Man kann annehmen, dass eine Definition sich in methodischer Hinsicht »in fieri« befindet und dass der Prozess, der zu der in jeder Hinsicht vollständigen Definition führt, als eine progressive Grundlegung der systematischen Philosophie aufzufassen ist. Ihr Werk Struktur und Sein zeigt in der Tat eine klare Progression von Etappe zu Etappe, von Ebene zu Ebene, und zwar in der folgenden Reihenfolge: Globalsystematik Theoretizitätssystematik Struktursystematik Weltsystematik Gesamtsystematik Metasystematik. Bevor wir auf die detaillierte Beschreibung des Inhalts dieser Stufen bzw. Ebenen eingehen, könnten Sie uns das dabei angenommene und angewandte Progressionsgesetz erläutern? Der unvorbereitete Leser, der sich zum ersten Mal das Inhaltsverzeichnis Ihres umfangreichen Werks anschaut, könnte sich fragen, wie es möglich sei, von einer Globalsystematik, die auf den ersten Blick schon einen umfassenden Charakter zu haben scheint, zu einer Gesamtsystematik fortzuschreiten; 45 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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ferner wie die Welt nur als eine Art mittlerer Term erscheint, schließlich wie es ein »Jenseits (Meta-)« hinsichtlich einer so umfassenden Systematik geben kann. LBP 2/3 – Zunächst ist zu vermerken, dass die Fragen, die ein Leser beim Lesen des Inhaltsverzeichnisses eines Werks hat oder haben kann, sinnvollerweise nicht allein schon bei dieser anfänglichen Beschäftigung mit dem Werk eine Antwort erhalten können. Jeder intelligente Leser weiß, dass er die Antwort auf seine anfänglichen Fragen erst bei der konkreten und detaillierten Lektüre des Werks finden kann bzw. wird. In Abwandlung der berühmten Formulierung Hegels, dass der Philosoph »die Anstrengung des Begriffs auf sich nehmen muss«, ist hier zu sagen: Keinem Leser kann die »Anstrengung der Lektüre bzw. des Studiums« eines Werks erspart bleiben. Die wichtige und sachliche Frage, die Sie stellen, betrifft die Gesamtarchitektonik, also die Innenstrukturiertheit der struktural-systematischen Philosophie. Ein Punkt muss gleich betont werden: Diese systematische Philosophie ist kein axiomatisch aufgebautes System: Sie geht nicht von einigen Grundprinzipien oder Grundaxiomen aus und daher besteht ihre Darstellung nicht darin, dass sie aus ihnen immer weitere Schlussfolgerungen (»Theoreme«) ableiten sollte oder könnte. Dieser Punkt wird näher erläutert, wenn die Methode der struktural-systematischen Philosophie behandelt wird. Die Architektonik dieser Philosophie ist kein axiomatisches System, sondern eine Art Netzwerk, das dadurch charakterisiert ist, dass alles mit allem zusammenhängt, wie in einem Netz. Um sie richtig zu verstehen, muss man im gegenwärtigen Zusammenhang zwei Gesichtspunkte beachten. Der erste betrifft die allgemeine Perspektive: Die ganze Darstellung verläuft von der nur anfänglichen und damit minimalen Bestimmung der systematischen Philosophie zu ihrer Vollbestimmung. Der systematische Fortgang ist daher ein Fortschritt hinsichtlich der immer weiteren und größeren Bestimmung des mit der (Quasi-)Definition gemachten Anfangs. Der zweite Gesichtspunkt betrifft eine Grundeinteilung der struktural-systematischen Philosophie in zwei Hälften: In der ersten Hälfte, welche die Kapitel 1 bis 3 umfasst (mit den Überschriften »Globalsystematik«, »Theoretizitätssystematik«, »Struktursystematik«), wird der noch abstrakte Theorierahmen dargestellt. In der zweiten Hälfte mit den Kapiteln 4 bis 6 (mit den Überschriften: »Weltsystematik«, »Gesamtsyste46 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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matik«, »Metasystematik«) wird der herausgearbeitete Theorierahmen auf die Dimension der Daten bzw. des großen Datums angewandt. Das geschieht konkret in der Weise, dass mit den einfachsten oder, wenn man will, primitivsten Daten angefangen und danach gefragt wird, in welcher Weise sie miteinander zusammenhängen. Durch immer weitere Fragen werden immer weitere Zusammenhänge herausgearbeitet, zunächst bis jene Totalität erreicht wird, die gewöhnlich als Welt bezeichnet wird. Die diesbezügliche Theorie wird Weltsystematik genannt. Dann wird der höhere Zusammenhang zwischen der so verstandenen (objektiven) Welt und der Dimension der Strukturen thematisiert; dabei wird jene absolut umfassende Dimension erreicht, der in der struktural-systematischen Philosophie die Bezeichnung ›primordiales Sein‹ gegeben wird. Damit fängt eine neue große Etappe an, die Gesamtsystematik, welche die primordiale Seinsdimension thematisiert. Schließlich wird in der Metasystematik der ganze bisherige Prozess zu begreifen versucht. Wenn Ihre Frage unterstellt, dass »die Welt nur als eine Art mittlerer Term« erscheint und dass es ein »Jenseits (Meta-)« hinsichtlich einer so umfassenden Systematik gibt, so ist das eine Unterstellung, die mit der struktural-systematischen Philosophie nichts zu tun hat. Wie schon erläutert, unterscheidet die struktural-systematische Philosophie terminologisch zwischen Welt und Sein. Diese Philosophie verwendet diese Terme streng nach eigenem explizit geklärtem Verständnis, nicht aber auf der Basis irgendeines in der normalen Sprache und/oder in der Geschichte der Philosophie vorkommenden ungeklärten »Verständnisses«. Aber um das klarzumachen, muss man auf die einzelnen Etappen des systematischen Prozesses effektiv eingehen. Das sollte die Aufgabe sein, die uns bevorsteht. Hier war es nur darum zu tun, zunächst nur die ganz allgemeine »Richtung« kurz zu beschreiben. ET 2/4 – Ich denke, dass wir jetzt die methodische Vorgehensweise der struktural-systematischen Philosophie erfassen: Es handelt sich um einen methodisch-theoretischen Prozess der fortschreitenden Bestimmung, genauer: der (Selbst)Bestimmung des systematischen Theorierahmens. Aber wie soll man den von Ihnen mehrmals erwähnten Theorierahmen selbst näher konzipieren? Er scheint ja die fundamentale und letzte Bedingung dafür zu sein, dass man Zugang zur inneren Architektonik und Strukturiertheit der von Ihnen entwickelten systematischen Philosophie gewinnen kann. Ist dieser Theorierahmen ein 47 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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univoker Begriff oder eine univoke Basis oder ist auch er eine Art Prozess, der eine Progression nach Stufen oder Ebenen beinhaltet? LBP 2/4 – In der Tat ist der Begriff des Theorierahmens absolut zentral. Dieser Begriff ist eine Modifizierung und beträchtliche Erweiterung des von R. Carnap eingeführten Begriffs des Sprachrahmens (linguistic framework). Es wird von der grundsätzlichen Einsicht ausgegangen, dass jede theoretische Fragestellung, jede theoretische Frage, jede theoretische Aussage, jede Argumentation, jede Theorie usw. nur verständlich und einschätzbar ist, wenn sie als in einem Theorierahmen situiert aufgefasst wird. Wird diese Voraussetzung nicht gemacht, so bleibt alles unbestimmt: der Sinn einer Frage, einer Aussage, ihre Bewertung usw. Zu jedem Theorierahmen gehören als konstitutive Momente vor allem eine Sprache (mit ihrer Syntax und ihrer Semantik), eine Logik, eine Begrifflichkeit und alle Elemente, die einen theoretischen Apparat ausmachen. In der Nichtbeachtung und besonders in der meistens vorherrschenden Verkennung dieses grundlegenden Tatbestandes kann die Quelle unzähliger und verhängnisvoller Fehler, die Philosophen zu allen Zeiten begangen haben, gesehen werden. Um nur ein Beispiel an dieser Stelle anzuführen: Die in der Neuzeit und besonders in der klassischen deutschen Philosophie in den Mittelpunkt gerückte Frage nach Begründung bzw. Selbstbegründung und auch Letztbegründung der Philosophie war meistens eine Frage im »luftleeren«, d. h. »theorieleeren« Raum. Ohne die Explikation einer Sprache, einer Logik, einer Begrifflichkeit, grundlegender Annahmen und Voraussetzungen usw. wurde, kaum war eine Aussage aufgestellt, gleich nach deren Begründung gefragt und eine solche verlangt. Die Voraussetzungen für eine sinnvolle Frage nach Begründung wurden nicht im Mindesten geklärt. Im Gegensatz dazu wird in der strukturalsystematischen Philosophie eine Auffassung über philosophische Begründung streng unter Beachtung der genannten Einsicht in die zentrale Stellung des Theorierahmens vertreten. Der für die struktural-systematische Philosophie entwickelte Theorierahmen ist nicht als der einzige, absolute, sondern als der heute bestmögliche Theorierahmen zu verstehen. Diese Grundthese, die das grundsätzliche Gerüst oder auch die grundsätzliche Architektonik der vertretenen systematischen Philosophie bildet, wird durch die weitere These spezifiziert, dass es eine Pluralität von Theorierahmen geben kann und auch tatsächlich gibt. Diese zweite These wirft eine Reihe 48 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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von schwierigen Problemen auf, wie z. B.: Wie sind diese pluralen Theorierahmen einzuschätzen? Sind wahre philosophische Aussagen nur in einem – dem (angeblich) »absoluten« – Theorierahmen möglich? Sind theoretische Aussagen, die nicht in diesem absoluten Theorierahmen aufgestellt werden, falsch? Gibt es überhaupt einen solchen absoluten Theorierahmen und, wenn ja, ist er uns Menschen überhaupt zugänglich? Die struktural-systematische Konzeption versteht sich als eine systematisch ausgewogene Konzeption: Jeder Theorierahmen ermöglicht wahre Aussagen, aber wahre Aussagen nicht auf gleicher Ebene. Aussagen sind immer wahr relativ zu einem Theorierahmen; absolut wahre Aussagen sind wahr relativ zu allen Theorierahmen. Diese Relativität ist eine spezifische Form eines moderaten widerspruchsfreien Wahrheitsrelativismus. Der philosophische Theorierahmen ist von hoher Komplexität. Als ein Ganzes genommen, besteht er aus zahlreichen partikulären Theorierahmen, die als die Stufen des Prozesses der Herausbildung des vollständigen systematischen Theorierahmens zu verstehen sind. Am Anfang ist der philosophische Theorierahmen in dem Sinne nur sehr global bestimmt, dass er nur ganz allgemeine Elemente (Begriffe usw.) enthält. Im Zuge des Prozesses der Konkretisierung und systematischen Bestimmung des Theorierahmens kommen neue Elemente hinzu, so dass Schritt für Schritt jeweils weitere, bestimmtere, leistungsfähigere Subtheorierahmen als konkretere Formen des allgemeinen Theorierahmens hervortreten. Die Gesamtdarstellung im Buch Struktur und Sein ist die Nachzeichnung dieses Prozesses der Konkretisierung und näheren Bestimmung des (allgemeinen) systematischen Theorierahmens. ET 2/5 – An diesem Punkt Ihrer Darstellung werden sich Leser viele Fragen stellen. Ich denke etwa an die folgende Frage: Ist die Sprache immer ein artikulierter (propositionaler) Diskurs? Könnte man nicht eine »Ursprache« in Betracht ziehen, die dem mit einem theoretischen Operator versehenen Diskurs zugrunde liegt und sich auf einen solchen theoretischen Diskurs nicht reduzieren lässt? Wäre die Wahrheit in diesem Fall nicht wesentlich sowohl als Manifestation als auch als Artikulation zu verstehen? Sind die Obskuritäten und Oberflächlichkeiten der »normalen« (»natürlichen«) Sprache wesentlich Abfälle der Sprache, die man im Schmelztiegel der Universalität bereinigen muss? Oder verhält es sich nicht vielmehr so, dass es in diesem Bereich eine vor-reflexive »Welt« gibt, die sich ausdrückt und ebenfalls das Sein repräsentiert? 49 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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LBP 2/5 – Die formulierten Fragen und Einwände erweisen sich als beinahe unvermeidlich, wenn man die in vielfacher Hinsicht konfuse Situation, in der sich die heutige Philosophie (aufs Ganze gesehen) befindet, zur Kenntnis nimmt und sie zu beseitigen versucht. Einschränkend muss man aber hinzufügen, dass es sich um Fragen und Einwände handelt, die nicht eigentlich aus der Denkform der analytischen Philosophie, sondern explizit aus der Denkform bestimmter Strömungen der sogenannten kontinentalen Philosophie, besonders der Phänomenologie und der Hermeneutik, ergeben. Um sie überzeugend zu beantworten bzw. zu entkräften, muss man zunächst eine fundamentale Thematik behandeln, die allererst die Basis für die adäquate Beantwortung bzw. Entkräftung bereitstellt. Gemeint ist eine Thematik, die einen grundlegenden Aspekt der absolut einmaligen Eigenart der Philosophie betrifft: ihren theoretischen Charakter. Alles hängt davon ab, wie man diesen Charakter versteht. Zu fragen: »Ist die (philosophische) Sprache immer ein artikulierter (propositionaler) Diskurs?« heißt, eine gegenstandslose Frage zu stellen. Der philosophische Diskurs ist wesentlich ein theoretischer Diskurs. Wie ich gezeigt habe, besteht ein theoretischer Diskurs wesentlich aus theoretischen Sätzen, wobei theoretische Sätze solche sind, denen – explizit oder (meistens) implizit – der theoretische Operator »es verhält sich so dass …« vorangestellt ist. Daran kommt kein Philosoph vorbei. Es ist leicht zu zeigen, dass der Hinweis auf »eine ›Ursprache‹, die dem mit einem theoretischen Operator versehenen Diskurs zugrunde liegt und sich auf einen solchen theoretischen Diskurs nicht reduzieren lässt«, ebenfalls gegenstandslos und leicht zu widerlegen ist. Alle Philosophen, auch diejenigen, die am radikalsten die Sprache und die Philosophie zu revolutionieren versucht haben oder noch immer versuchen, setzen das voraus, was sie in Frage stellen, nämlich den theoretischen Charakter des philosophischen Diskurses. Man denke an Derrida, an Heidegger, an Karl Marx, an Wittgenstein und an andere: Alle diese Philosophen artikulieren ihre anscheinend so revolutionäre Philosophie immer und ausschließlich in einem theoretischen Diskurs. Alle Sätze, die man in ihren Schriften findet, sind theoretische Sätze, haben also die Struktur: »es verhält sich so dass (z. B. φ)«. Wer das leugnen wollte, den sollte man auffordern, ein einziges Gegenbeispiel zu bringen. Was wäre »eine ›Ursprache‹, die dem mit einem theoretischen Operator versehenen Diskurs zugrunde liegt und sich auf einen solchen 50 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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theoretischen Diskurs nicht reduzieren lässt«? Wäre eine solche Sprache noch eine philosophische Sprache? Wo wäre sie zu finden? Wie wäre sie zu konzipieren? Solche Vorstellungen entspringen aus einer tiefen Konfusion und einem tiefen Missverständnis. Man verkennt die spezifische theoretische Eigenart der Philosophie, mit der Konsequenz, dass man von ihr etwas erwartet oder sogar verlangt, was die Philosophie von ihrem Wesen her nicht erfüllen kann. Man erwartet und verlangt nämlich, dass die Philosophie das leisten sollte, was beispielsweise nur die Dichtung, die religiöse Sprache, die politische Sprache usw., von ihrem jeweiligen Wesen her, leisten können und sollen. Diese grundlegende Konfusion zwischen verschiedenen Sprachen kann man besonders beim »mittleren« Heidegger (ab 1935) und beim späten Heidegger finden. Sein »Gesamtdiskurs« besteht aus drei völlig verschiedenen Komponenten, die häufig einfach nebeneinander bestehen und meistens eine seltsame Konfusion oder eine Vermengung bilden. Es sind dies: die theoretische Komponente, die dichterische Komponente und die prophetisch-eschatologische Komponente. Im Buch Sein und Gott wurde diese Interpretation ausführlich dargelegt und begründet. 4 Ihr Hinweis auf eine »Ursprache«, die den Effekt hätte, dass »Wahrheit … wesentlich sowohl als Manifestation als auch als Artikulation« zu verstehen wäre, basiert auf der Annahme, dass Artikulation der Wahrheit und Manifestation der Wahrheit im Falle der theoretischen Sätze getrennte Größen sind; durch diese Sätze würde Wahrheit nur artikuliert, nicht aber manifestiert. Aber diese Annahme ist völlig unbegründet. Weder kann es Artikulation ohne Manifestation noch Manifestation ohne Artikulation geben. Das ist ein großes zentrales Thema in der struktural-systematischen Philosophie. Sie fragen weiter: »Gibt es nicht in diesem Bereich eine vor-reflexive ›Welt‹, die sich ausdrückt und ebenfalls das Sein repräsentiert?« Eine solche Frage ist charakteristisch für die Philosophie der Subjektivität. Aber was wäre diese »Welt«? In welcher Sprache würde sich diese »Welt« ausdrücken und »das Sein repräsentieren«? Der Philosoph, der dies behauptet, sollte die entsprechende Ursprache präsentieren. Einige Philosophen sprechen nicht (nur) von »vorreflexiver«, sondern auch von »vorprädikativer« (Dimension), so z. B. Heidegger in Sein und Zeit: »Alles vorprädikative Sehen des Zuhandenen ist an ihm selbst schon 4
Vgl. Kapitel 2, Abschnitt, 2.9.
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verstehend-auslegend.« 5 Man diskutiert seit langem darüber, ob »vorprädikativ« bei Heidegger »vorsprachlich« meint. Das wäre aber kaum nachvollziehbar, da Heidegger mit »vorprädikativ« das »schlichte Sehen« charakterisiert, das aber »an ihm selbst schon verstehend-auslegend« ist. Aber Auslegung geschieht immer schon sprachlich. Die struktural-systematische Philosophie kann einem gewissen berechtigten Kern der Intuition, die der Vorstellung einer Ursprache und einer vorreflexiven bzw. vorprädikativen »Welt« zugrunde liegt, durchaus Rechnung tragen und gerecht werden, und zwar durch den zentralen Begriff des Theorierahmens. Die natürliche Sprache ist deswegen ungeeignet für philosophische Theorien, weil sie primär der Kommunikation, nicht der Darstellung dient. Aber sie enthält auch ein Segment bestehend aus deklarativen, d. h. theoretischen Sätzen, die durch einen vorausgesetzten Theorierahmen bestimmt sind. Beispielsweise ist der umgangssprachliche Satz: »die Sonne im Sommer geht um 6.30 Uhr auf« ein deklarativ-theoretischer Satz, dessen Gebrauch auf einem bestimmten Theorierahmen basiert. Aber dieser Theorierahmen ist sehr primitiv und kann daher nicht die Artikulation einer anspruchsvollen philosophischen Theorie ermöglichen. Daher bemüht sich die struktural-systematische Philosophie, den möglichst besten Theorierahmen herauszuarbeiten, was dann eine entsprechende Sprache voraussetzt. Es sei angefügt, dass in Struktur und Sein der Begriff einer transparenten ursprünglichen bzw. universalen Sprache eingeführt und erläutert wird. Jetzt kann verdeutlicht werden, was gemeint war, als oben von »einem gewissen berechtigten Kern der Intuition, die der Vorstellung einer Ursprache und einer vorreflexiven bzw. vorprädikativen ›Welt‹ zugrunde liegt«, die Rede war. Man könnte den »berechtigten Kern« der genannten Intuition darin sehen, dass dem menschlichen Geist die Potenzialität eignet, den jeweiligen vorausgesetzten und in Anwendung befindlichen Theorierahmen zu hinterfragen und eventuell zu überwinden. Dass dies möglich ist, zeigt, dass sozusagen, »im Hintergrund« etwa der normalen Sprache bzw. einer bestimmten philosophischen Sprache bzw. eines bestimmten Theorierahmens immer schon ein potentieller großer Raum von weiteren, adäquateren und damit mit höherer Intelligibilität versehenen Theorierahmen vorhanden ist. M. Heidegger, Sein und Zeit, Gesamtausgabe, Frankfurt am Main: Klostermann, 1977, Band 2, § 32.
5
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3 Im Zentrum der struktural-systematischen Philosophie: der Theorierahmen und die fundamentalen Strukturen
ET 3/1 – In Ihrem Buch Sein und Gott unterwerfen Sie J.-L. Marions Phänomenologie einer strengen Kritik. Gibt es bei diesem Autor ein Problem bezüglich des Theorierahmens? LBP 3/1 – Die Diskussionen über Marion leiden unter einer grundlegenden Schwäche, die so charakterisiert werden kann: Man untersucht kaum die Frage: Warum und wie gelangt Marion zu seiner ungewöhnlichen Konzeption über Gott? Auf diese Frage lässt sich eine Antwort geben. In aller Kürze lautet sie: Was erklärt, dass Marion seine Konzeption entwickelt, ist ein fundamentaler Fehler am Anfang, an der Basis, ein proton pseudos, nämlich: Marions unkritische, sogar dogmatische Übernahme des Husserlschen phänomenologischen Ansatzes, gekoppelt mit dem Versuch, diesen Ansatz dadurch zu transformieren oder auch zu korrigieren und zur vollen Entfaltung zu bringen, dass die Subjekt-Objekt-Beziehung einer totalen Umkehrung unterzogen wird, mit dem Ergebnis, dass dadurch die nach seiner Auffassung echte, ursprüngliche Idee der reinen Phänomenalität allererst adäquat artikuliert wird. Marion erhebt den umfassenden Anspruch, den phänomenologischen Ansatz zur philosophia prima zu erheben. Und in der Tat muss man sagen, dass sich seine Grundthesen, insofern man sie noch als streng philosophisch (und damit nicht als explizit theologisch) charakterisieren kann, aus diesem phänomenologischen Ansatz, so wie er ihn versteht, ergeben. Nun kann man leicht zeigen, dass dieser Ansatz grundsätzlich verfehlt ist, so dass das ganze darauf aufgebaute Denkgebäude ebenfalls verfehlt ist. Dieser Grundfehler des Marionschen phänomenologischen Ansatzes kann man mit Recht das Proton Pseudos seiner Konzeption nennen. Im Rahmen unserer Dialoge kann dieser Sachverhalt nur sehr kurz dargestellt, ja eigentlich mehr oder weniger nur angedeutet werden. Eine ausführliche Behandlung dieser ganzen Problematik findet sich im Kapitel 4 des Buches Sein und Gott. 53 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Man muss von der Grundtatsache ausgehen, dass Husserls phänomenologischer Ansatz (in seiner späteren streng transzendentalen Ausrichtung) rein subjektivitätsphilosophisch orientiert ist. Alle phänomenologischen Aussagen, Thesen u. ä. sind innerhalb der Subjekt–ObjektBeziehung situiert. Was diesen Ansatz von anderen subjektivitätsphilosophischen Ansätzen unterscheidet, ist die phänomenologisch verstandene Art der Beziehung zwischen den beiden Polen der Beziehung. Bei Husserl wird die Beziehung so verstanden: Das »Subjekt« ist die konstituierende Instanz oder Dimension, das »Objekt« die konstituierte Dimension. Weder von Husserl noch von den ihm folgenden Phänomenologen und so auch nicht von Marion wird dieses Subjektivitätsdenkschema einer gründlichen Analyse unterzogen. Es wird als solches nicht thematisiert, geschweige denn in Frage gestellt. Marion übernimmt dieses Denkschema oder diesen »Theorierahmen«, wobei er aber die Beziehung Subjekt als konstituierende Dimension und Objekt als konstituierte Dimension umkehrt: Ihm zufolge ist das Subjekt die konstituierte, das »Objekt«, in Husserls und Marions Sprache: die Gegebenheit, die konstituierende Dimension, welche von Marion näher als Gabe, als Schenkung, als donation, verstanden wird. Marions Umkehrung der Subjekt-Objekt-Beziehung ist keine Überwindung der Subjektivitätsphilosophie, sondern stellt nur eine neue Variante eben der SubjektObjekt-Beziehung dar. Hier geschieht in analoger Weise das, was Heidegger über die metaphysischen Sätze geschrieben hat: »Die Umkehrung eines metaphysischen Satzes bleibt ein metaphysischer Satz.« 1 Entsprechend gilt hier: die Umkehrung der Subjekt–Objekt-Beziehung bleibt eine Subjekt-Objekt-Beziehung. Gemäß dem phänomenologischen Ansatz werden die beiden Pole der Subjekt–Objekt-Beziehung ausschließlich hinsichtlich ihres gegenseitigen Verhältnisses thematisiert: Die Subjektivität (bzw. das Ich, das Bewusstsein) ist reine (bei Husserl konstituierende, bei Marion konstituierte) Intentionalität hinsichtlich der (bei Husserl dadurch konstituierten, bei Marion dadurch konstituierenden) Objektivität (bzw. Gegebenheit). Damit ist es klar, dass das, was beide Pole der Beziehung an ihnen selbst sind, also der Seinscharakter des Subjekts und der Seinscharakter des Objekts, völlig ungedacht und unthematisiert bleiben.
1
M. Heidegger, Brief über den Humanismus, Gesamtausgabe, Band 9, 328.
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Niemand hat diesen Grundfehler des phänomenologischen Ansatzes so treffend und so klar aufgewiesen wie Husserls Hauptschüler, nämlich Heidegger. Um das zu zeigen, genügt es hier, eine kleine Passage aus einem außerordentlich interessanten Brief Heideggers an Husserl vom 22. Oktober 1927 zu zitieren, in welchem Heidegger sich gegen Husserls Verfahren der Reduktion und damit gegen dessen absolute Privilegierung der transzendentalen Subjektivität wendet und den Ansatz von Sein und Zeit erklärt. Die wichtigste Passage lautet: »Übereinstimmung besteht darüber, daß das Seiende im Sinne dessen, was Sie [Husserl, LBP] ›Welt‹ nennen, in seiner transzendentalen Konstitution nicht aufgeklärt werden kann durch einen Rückgang auf Seiendes von ebensolcher Seinsart. Damit ist aber nicht gesagt, das, was den Ort des Transzendentalen ausmacht, sei überhaupt nichts Seiendes – sondern es entspringt gerade das Problem: welches ist die Seinsart des Seienden, in dem sich ›Welt‹ konstituiert? Das ist das zentrale Problem von ›Sein und Zeit‹ – d. h. eine Fundamentalontologie des Daseins. Es gilt zu zeigen, daß die Seinsart des menschlichen Daseins total verschieden ist von der alles anderen Seienden und daß sie als diejenige, die sie ist, gerade in sich die Möglichkeit der transzendentalen Konstitution birgt. […] […] Das Konstituierende ist nicht Nichts, also etwas und seiend – obzwar nicht im Sinne des Positiven. Die Frage nach der Seinsart des Konstituierenden selbst ist nicht zu umgehen. Universal ist daher das Problem des Seins auf Konstituierendes und Konstituiertes bezogen.« 2
Hier wird »Sein« eindeutig nicht als objektiver »Gegenpol« zur Subjektivität bzw. zur theoretischen Dimension und dergleichen, sondern als umfassende ursprüngliche Dimension aufgefasst. »Sein« meint also hier jene Dimension, die sowohl die ganze Sphäre der konstituierenden Subjektivität (bzw. der theoretischen Dimension) als auch die Sphäre der konstituierten Welt umfasst. Das ist ein Gedanke, der für Husserls transzendental orientierte Phänomenologie undenkbar gewesen wäre. Man muss wohl diesen Schritt Heideggers für eine der bedeutendsten philosophischen Leistungen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts halten. »Sein« als umfassende ursprüngliche Dimension, die 2 E. Husserl: Husserliana, Gesammelte Werke. Band IX, 1962, Anlage I, 601–602 (Kursiv in den drei letzten Sätzen nicht im Original).
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nicht nur und nicht hauptsächlich rein objektiv, sozusagen als Objektpol in der Beziehung zwischen Erkennendem und seinem »Objekt«, und auch nicht einseitig als Akt (actus essendi), wie bei Thomas von Aquin, verstanden wird, umfasst auch die riesige Dimension dessen, was man zusammenfassend die Dimension der Theoretizität nennen kann: Diese ihrerseits umschließt nicht nur die Subjektivität im traditionell-neuzeitlichen Sinne, sondern auch alles, was zum Bereich des Theoretischen gehört. Es muss gleich hinzugefügt werden, dass Heidegger auf seinem weiteren Weg die von ihm prinzipiell herausgearbeitete ursprüngliche umfassende Dimension des Seins in keiner Weise konsequent expliziert hat; ganz im Gegenteil, er hat sich auf eine weitgehend dichterische Ebene begeben, die philosophisch von geringem Wert ist. Eine umfassende Kritik Heideggers ist im schon mehrmals zitierten Buch Sein und Gott (Kapitel 2) zu finden. Folgendes Diagramm (s. S. 59) kann Husserls phänomenologische Grundposition illustrieren. Es zeigt, was bei Husserl gedacht und thematisiert und was bei ihm nicht gedacht und nicht thematisiert wird. Husserls (und Marions) Position ist charakterisiert durch die explizite Thematisierung ausschließlich derjenigen Elemente des Diagramms, die 1) durch die beiden gefüllten kleinen Kreise (innerhalb der nicht gefüllten größeren Kreise) und 2) durch die im Fettdruck gezeichnete Linie zwischen diesen gefüllten Kreisen angezeigt werden. Das heißt, es werden ausschließlich das Subjekt/Ich/Bewusstsein–für-die-Gegebenheit und die-Gegebenheit-für-das-Bewusstsein thematisiert, indem die Konstitutions- bzw. Korrelationsbeziehung, die zwischen beiden obwaltet, beschrieben wird. Hingegen bleiben bei Husserl (und bei Marion) alle Elemente ungedacht/unthematisiert, die i) durch die beiden nicht gefüllten größeren Kreise, und ii) durch alle punktierten Linien angezeigt sind. Das heißt, ungedacht/unthematisiert bleiben sowohl die Seinsart des Ich/Subjekts/Bewusstseins und die Seinsart der Gegebenheit als auch die Beziehungen zwischen dem seienden Ich/Subjekt/Bewusstsein und der seienden Gegebenheit. Man muss beachten, dass zwischen dem seienden Subjekt/Ich/Bewusstsein und der seienden Gegebenheit auch eine Beziehung besteht, nicht aber die Beziehung des Konstituierenden bzw. des Konstituierten, sondern eine Beziehung zwischen Seienden. Diese Beziehung zwischen Seienden ist aber die Beziehung zwischen zwei »Elementen«, die am Sein oder an der Seinsdimemsion teilhaben. Ohne die Annahme der 56 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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beide Seiende umfassenden und ermöglichenden Seinsdimension ist die Beziehung zwischen ihnen nicht zu begreifen. Das ist der genaue Punkt, auf den Heidegger hinweist. Damit erweist sich die Seinsdimension als jene Dimension, die beide »Pole« der phänomenologisch-transzendental verstandenen Subjekt-Objekt-Beziehung im Sinne Husserls (und Marions) umfasst. Marion nimmt davon keine Notiz, im Gegenteil: Er schreibt lange Texte über Husserl und Heidegger, in denen er zu zeigen versucht, dass Husserls Position derjenigen Heideggers weit überlegen ist. Ihm zufolge muss das Seinsdenken einer noch radikaleren Reduktion unterzogen werden, und zwar durch den Gedanken der (Neu)Interpretation der Husserlschen Gegebenheit als Schenkung (donation). Aber damit bleibt Marions Denken immer im Rahmen der Subjektivitätsphilosophie radikal verankert. Seine umfassend programmatische Formel lautet: »›Ich‹-außerhalb-des-Seins« (»›Je‹-hors-d’être«). 3 Das absolut unverrückbare Zentrum seines Denkens ist immer das Ich/Je, wenn auch als umgekehrtes Ich/Je. In einer neueren Arbeit habe ich ausführlich gezeigt, dass Marions in der vorhergehenden Fußnote zitierte Buch Réduction et donation [Reduktion und Schenkung] den entscheidenden Punkt, wie Heidegger ihn in dem oben zitierten Brief darstellt, total verfehlt. 4 Aber Marion blieb sich treu. Seine fundamentale Einstellung, die sich im Prinzip »›Ich‹-außerhalb-des-Seins« artikuliert, bleibt die allesbestimmende Perspektive, die jede Form einer Seinsphilosophie radikal ausschließt. Diese Perspektive führt Marion dazu, eine erstaunliche zentrale Behauptung bzw. These aufzustellen, die ihresgleichen in der ganzen Philosophiegeschichte sucht. In Bezug auf Gott spricht Marion von der »Hauptidolatrie«, die er als »die Idolatrie des Seins selbst« (»… idolâtrie – la principale, l’idolâtrie de l’Être même«) 5 bezeichnet. Unter bestimmten zusätzlichen Annahmen ergibt sich diese erstaunliche These aus dem konsequent entwickelten phänomenologischen Ansatz, wie 3 J.-L. Marion, Réduction et donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoménologie. Paris: Presses Universitaires de France, 1989, 2ème édition 2010, chapitre V, 240 ff. 4 Vgl. L. B. Puntel, »Eine fundamentale und umfassende Kritik der Denkrichtung JeanLuc Marions«, in: H.-B. Gerl-Falkovitz (Hrsg.), Jean-Luc Marion – Studien zum Werk. Dresden: Verlag Text & Dialog, 2013, 47–101; vgl. bes. 77 ff. 5 J.-L. Marion, »L’impossible pour l’homme – Dieu«, Conférence, No 18, Printemps 2004, 329–369; Zit. 339.
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Marion ihn versteht. Zeigt man, dass Marions These über Gott in jeder Hinsicht inakzeptabel ist, so wird klar, wo das Proton Pseudos der ganzen Konzeption zu suchen ist. ET 3/2 – An diesem Punkt unserer Dialoge erscheint es mir wichtig festzustellen, dass wir langsam eine entscheidende Wende vollziehen. Ihr Denken hat nicht den Ehrgeiz, eine philosophische Konzeption neben anderen Konzeptionen zu vertreten, sondern erhebt den Anspruch, die gegenwärtige beste philosophische Gesamttheorie zu sein, wobei Sie die Qualifikation »die beste« als diejenige Gesamtposition verstehen, welche die höchste heute erreichbare und faktisch erreichte Intelligibilität, Kohärenz und Sachadäquatheit aufweist. Das bedeutet nicht, wie Sie klar gesagt haben, dass diese Position ein geschlossenes System wäre, das sozusagen einfach über den anderen möglichen Denkrichtungen schwebt; in der Tat, die explizite Konfrontation und der permanente Dialog mit anderen Theorierahmen scheint ein konstitutives Element Ihrer systematischen Position zu sein. Aus diesem Grund würde ich Ihre Philosophie eine offene systematische Philosophie nennen. Wenn Sie einverstanden sind, würde ich vorschlagen, dass Sie uns in diese umfassenden Tiefen anhand von vier großen Fragestellungen leiten. Die erste hat die vierstufige Methode zum Gegenstand, die Sie in Ihrem Buch ausführlich darstellen. Die zweite betrifft die Begriffe der Theorie und der Wahrheit, die wir bisher nur am Rande gestreift haben. Die dritte hat es mit der mathematischen/logischen, der semantischen und der ontologischen Strukturdimension zu tun. Schließlich richtet sich die vierte auf die Art und Weise, wie Ihre Philosophie, die sich, ohne einem selbstwidersprüchlichen Relativismus zu verfallen, anti-fundamentalistisch versteht, ihr Verhältnis zum »Grund (fondement)« begreift. Freilich werden wir nicht in der Lage sein, alle Dimensionen Ihres Denkens in Betracht zu ziehen, aber jedenfalls sollten wir so weit kommen, dass wir dessen Grundcharakteristik und zentrale Idee in nuce erfassen. Um den Anfang zu machen: Wie konzipieren Sie Ihre Methode? LBP 3/2 – Das Wort ›Methode‹ ist ein weitgehend vages und umfassendes Wort, unter welches viele, manchmal sehr disparate Dinge subsumiert werden. Ungeachtet dieser Bedenken wird dieser Ausdruck bzw. die damit bezeichnete Thematik in der struktural-systematischen Philosophie verwendet, und zwar als Bezeichnung für eine vierstufige Prozedur. Hinsichtlich der Frage nach einer oder der philosophischen 58 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Methode besteht kein Konsens unter Philosophen, auch nicht in einem minimalen Sinne. Auch im Verlauf der Geschichte der Philosophie hat es keinen nennenswerten Konsens gegeben. Höchstens wäre zu sagen, dass sich in der Praxis des Philosophierens bestimmte Regeln, Gewohnheiten und Standards herausgebildet haben, die zumindest von vielen Philosophen in einer bestimmten Weise, wenn auch sehr uneinheitlich, akzeptiert bzw. angewandt werden. Bekanntlich werden in der Philosophie viele sogenannte »philosophische« Methoden zur Anwendung gebracht, beispielsweise: die sokratische, die phänomenologische, die hermeneutische, die transzendentale, die dialektische, die analytische, die axiomatische, die Netzwerkmethode u. a. Es ist hier nicht der Ort, diese Methoden im Einzel59 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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nen zu untersuchen und zu bewerten. Es genüge festzustellen, dass grundsätzlich jede dieser Methoden Elemente enthält, die philosophisch verwertbar sind. Inakzeptabel ist aber der in der Regel erhobene Anspruch, dass eine bestimmte Methode als die (exklusive) philosophische Methode betrachtet werden kann. Die in der struktural-systematischen Philosophie entwickelte und angewandte Methode ist eine sehr komplexe Methode. Diese Komplexität erklärt sich daraus, dass die philosophische Theoriebildung zahlreiche und sehr verschiedenartige Aufgaben beinhaltet, für deren Bewältigung verschiedene Prozeduren angewandt werden müssen. In einer systematischen Hinsicht lässt sich diese Vielfalt von Methoden auf vier Methodenstufen reduzieren. Damit ist eine vollständige Methode gemeint, die genauer als eine vierstufige verstanden wird. Stark vereinfachend, kann man auch von vier philosophischen Methoden sprechen, wobei diese Formulierung allerdings immer so zu verstehen ist, dass die vier Methoden als vier unverzichtbare Schritte in der philosophischen Gesamtvorgehensweise zu betrachten sind. Eine in jeder Hinsicht vollständige Darstellung müsste die philosophische Methode als ganze und detailliert beschreiben und charakterisieren. Bevor die einzelnen Stufen der struktural-philosophischen Methode kurz beschrieben und erläutert werden, sind zwei Hinweise angebracht. Der erste betrifft einen Punkt, der in der ganzen Diskussion über Methoden in der Philosophie bisher fast gänzlich ignoriert wurde. Es handelt sich um das Verhältnis zwischen Methode und Theorierahmen. In der Antwort auf eine früher gestellte Frage habe ich schon ausgeführt, was ein Theorierahmen ist und welchen zentralen Platz er in der Philosophie einnimmt. Meine These hier ist die folgende: Eine philosophische Methode setzt einen Theorierahmen voraus, sie basiert auf einem immer schon implizit oder explizit vorausgesetzten und am Werk befindlichen Theorierahmen. Daraus folgt, dass die Frage nach der Methode nicht adäquat gestellt und noch weniger geklärt werden kann, ohne dass die Frage nach dem Theorierahmen gestellt und geklärt wird. Es stellt sich dann heraus, dass die philosophische Methode als die Art und Weise zu konzipieren ist, wie der Theorierahmen analysiert und zur Anwendung gebracht wird. Dieser zentrale Gedanke wird im Folgenden näher erläutert, und zwar einmal durch den zweiten noch gleich zu gebenden Hinweis und sodann durch die Kurzdarstellung der struktural-systematischen Methode. Der zweite Hinweis ist eine kurze Charakterisierung und Kritik 60 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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einiger der wichtigsten heute verwendeten philosophischen Methoden. Man kann nicht sagen, dass diese Methoden ohne jeden Wert seien. Deren Schwäche und daher auch Nicht-Akzeptierbarkeit besteht in deren Einseitigkeit und Exklusivität. In der Regel berücksichtigt und pflegt jede auf einseitige und exklusive Weise nur einen bestimmten Aspekt des Gesamtverfahrens der philosophischen Theoriebildung, wobei dieser Aspekt meistens inadäquat gedeutet wird oder sich als Ergebnis einer problematischen oder sogar falschen Annahme herausstellt. Einige Beispiele mögen diese Behauptung verdeutlichen und erhärten. Die Methode der Metaphysik in der aristotelischen Tradition besteht im Wesentlichen darin, dass bestimmte Grundbegriffe und aus ihnen gebildete und als selbstevident charakterisierte Prinzipien (principia per se nota) angenommen werden. Zu den wichtigsten Grundbegriffen gehören der Begriff des Seienden als Seienden, die Substanz als die Hauptbedeutung von Seiendem, die Ursache(n) u. a. Wichtigste Prinzipien sind das Nicht-Widerspruchsprinzip, das Kausalitätsprinzip, das Prinzip vom zureichenden Grund u. a. Im Licht dieser Grundbegriffe und Prinzipien werden dann einzelne Analysen von Phänomenen, Themen und dergleichen durchgeführt. Ein klassisches Beispiel dieser Methode sind die »fünf Wege (quinque viae)« des Thomas von Aquin. Eine solche philosophische Methode basiert auf einem weitestgehend einfach vorausgesetzten Theorierahmen, der einer strengen kritischen Analyse nicht standhält. Am Beginn der Neuzeit ist die Perspektive des Subjekts dominant geworden, zunächst in der Weise, dass alles dem Zweifel unterzogen wurde. Entsprechend wird alles dem Gesichtspunkt der Suche nach Gewissheit untergeordnet. Die fundamentale Gewissheit wird in der berühmten Behauptung Descartes’ gefunden: »Je pense donc je suis« 6 – Cogito ergo sum: Diese Wahrheit bildet dann das fundamentum inconcussum für die ganze Philosophie. Es ist leicht zu sehen, dass diese Vorgehensweise, die auf den ersten Blick unerschütterlich zu sein scheint, im Grunde sehr naiv ist. Das zeigt sich ganz einfach daran, dass sich die Frage sofort aufdrängt: Was ist unter »Sein« zu verstehen? Um diese Frage zu beantworten, muss nichts weniger als eine ganze Philosophie entwickelt werden. Eine der wichtigsten philosophischen Methoden ist die auf Kant R. Descartes, Discours de la méthode, quatrième partie. R. Descartes, Oeuvres philosophiques. Édition de F. Alquié. Paris: Éditions Garnier, 1963. Tome I, 604.
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zurückgehende transzendentale Methode: Sie besteht darin, dass die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung untersucht und herausgearbeitet werden. Gegenwärtig gibt es viele und vielfältige Formen dieser Methode. Wie man sie näher versteht, hängt davon ab, wie man »Erfahrung« versteht. Bei Kant selbst ist die Methode von einer hochproblematischen Frage bestimmt, nämlich: »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« 7 Der Begriff des »synthetischen Urteils« oder »Satzes« kann heute nicht mehr als selbstevident angenommen werden wie zur Zeit Kants. Alle heute vertretenen Formen der transzendentalen Methode können am besten als Formen eines Theorierahmens angesehen werden, in dessen Mittelpunkt das erkennende Subjekt steht. Die struktural-systematische Methode unterscheidet sich grundsätzlich von diesen Formen dadurch, dass in ihr das erkennende Subjekt eine nur untergeordnete Rolle spielt. Eine andere weit verbreitete Methode ist die dialektische Methode. Sie ist gänzlich vom Phänomen der Negation und des Widerspruchs bestimmt. In aller Kürze seien die drei wichtigsten Probleme genannt, welche diese Methode aufwirft. Erstens: Indem diese Methode sich an einem einzelnen und nicht zentralen Phänomen gänzlich orientiert, nämlich dem Phänomen der Negation und des Widerspruchs, ist es nicht nachvollziehbar, dass die ganze Theoriebildung auf der Basis dieses Faktors konzipiert wird. Zweitens: Die Begriffe der Negation und des Widerspruchs werden in und von dieser Methode nur rein allgemein intuitiv und damit nur vage aufgefasst; das kann nicht die Basis für eine umfassende Methode bilden. 8 Drittens: Der Theorierahmen, den diese Methode voraussetzt, wird von den dialektisch denkenden Philosophen überhaupt nicht thematisiert. Eine philosophische Methode, die heute immer mehr an Bedeutung und Verbreitung gewinnt, ist die von Husserl initiierte phänomenologische Methode. Das ehrgeizige Ziel dieser Denkrichtung wurde von Husserl als folgende programmatische Devise formuliert: »Wir wollen auf die ›Sachen selbst‹ zurückgehen.« 9 Was sind aber die »Sachen selbst«? Diese Devise blieb weitgehend nur ein leerer Slogan, wie I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 19. Vgl. dazu meine Arbeit: »Lässt sich der der Begriff der Dialektik klären?«, in: L. B. Puntel, Auf der Suche nach dem Gegenstand und dem Theoriestatus der Philosophie. Philosophiegeschichtlich-kritische Studien. Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, 223–254. 9 E. Husserl, Logische Untersuchungen, 2. Band, 2. Teil. Husserliana, Band XIX/1 (Den Haag: Nijhoff, 1984), Einleitung § 2, 10. 7 8
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die Entwicklung der Husserlschen Phänomenologie gezeigt hat. Das wird klar, wenn man die zentrale Idee der phänomenologischen Methode analysiert, die Husserl »das Prinzip aller Prinzipien« nennt und dahingehend charakterisiert, »daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär […] darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt …« 10 Er formuliert das Superprinzip auch so: »Vernünftig oder wissenschaftlich über Sachen urteilen, das heißt […], sich nach den Sachen selbst richten, bzw. von den Reden und Meinungen auf die Sachen selbst zurückgehen, sie in ihrer Selbstgegebenheit befragen und alle sachfremden Vorurteile beiseitetun.« 11 Doch solche Formulierungen wie: »[Was sich uns in der originären Intuition darbietet ist] einfach hinzunehmen, als was es sich gibt« bzw. »die Sachen [sind] in ihrer Selbstgegebenheit [zu] befragen« sind missverständlich und irreführend. In Wirklichkeit verfährt die Phänomenologie, wie sie von Husserl in ihrer endgültigen Gestalt charakterisiert und verstanden wurde, gerade nicht so, denn sie führt eine Reihe von Reduktionen ein, d. h. von neuen Einstellungen des Subjekts bzw. des Ich bzw. des Bewusstseins hinsichtlich »der Sachen«. Was sich »originär« (das heißt wohl: am Anfang) »darbietet«, die anfängliche »Selbstgegebenheit« der Sachen, ist gerade nicht dasjenige, was die Phänomenologie als die »genuine« »Sache selbst« oder als das »genuine« »Phänomen« auffasst. Die Phänomenologie verfehlt ihr »ursprüngliches« Ziel, die »Sachen selbst« zu artikulieren. Der allgemeine Grund hierfür ist die Tatsache, dass Husserl zwar die Idee immer adäquaterer Theorierahmen in einer gewissen Weise erfasst, diese Idee aber in keiner Weise angemessen artikuliert hat. Das wird klar, wenn man zwei Aspekte seiner phänomenologischen Methode näher analysiert. Der erste ist die Tatsache, dass die phänomenologische Methode absolut nur im Rahmen der Subjekt–Objekt-Beziehung situiert ist und zur Anwendung gebracht wird. Im Zentrum stehen das Subjekt bzw. das Ich und seine Leistungen. Das Subjekt/Ich ist das Konstituierende, der Gegenstand das Konstituierte, das »phänomenologische« Phänomen. Die Subjekt-Objekt-Beziehung wird aber nie als solche thematisiert. Der zweite Aspekt ist eine Kon10 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Husserliana, Band III/1 (Den Haag: Nijhoff, 1976), § 24, 51. 11 Ebd. § 19, 41.
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sequenz aus dem ersten: Husserl vertritt eine ausschließlich mentalistische Konzeption und verwendet daher eine rein mentalistische Terminologie und Begrifflichkeit; die Sprache mit ihrem immensen Reichtum an Begrifflichkeiten und Ausdrucksmöglichkeiten spielt dabei keine nennenswerte Rolle. Diese Position hat zur Konsequenz, dass im Rahmen der phänomenologischen Methode nur bestimmte Fragestellungen überhaupt formuliert und behandelt werden; die sogenannten großen Fragen, vor allem die Seinsfrage, haben darin keinen Platz. Die heute wichtigste philosophische Methode dürfte die analytische sein. Wie ich schon in einem früheren Zusammenhang gezeigt habe, ist es kaum möglich, den Begriff der analytischen Methode heute genau zu charakterisieren. Für die im gegenwärtigen Zusammenhang zu behandelnde Frage dürfte das dort Gesagte ausreichen. ET 3/3 – Wie stellt sich Ihre eigene Methode im Unterschied zu denjenigen Methoden dar, die Sie gerade einer kritischen Analyse unterzogen haben? LBP 3/3 – Die struktural-systematische Methode hat einen umfassenden Charakter, indem sie versucht, allen wichtigen Aspekten einer philosophischen Theoriebildung gerecht zu werden. Die der vierstufigen Methode zugrundeliegende Idee ist einfach: Angesichts des Datums bzw. der Data – sei es ein einzelnes Phänomen oder Ereignis, sei es ein ganzer Bereich von Daten oder sogar das Gesamtdatum, d. h. das universe of discourse – ist die theoretische Aufgabe in folgender Weise zu bewältigen: Zuerst müssen (die) Strukturen für das Datum (und damit (die) Strukturen des Datums) gesucht werden, womit das Theoriematerial bereitgestellt und eine erste (informale) Artikulation einer Theorie vorgelegt wird (= erste Methodenstufe). Sodann ist dieses Theoriematerial (also die in der Form einer informalen minimalen Theorie eruierten Strukturen) gemäß der strengen Theorieform zur Darstellung zu bringen, d. h., eine Theorie im eigentlichen oder strengen Sinne ist zu formulieren (= zweite Methodenstufe). In der Folge müssen die so dargestellten einzelnen Theorien in einen systematischen Rahmen integriert werden, was bedeutet, dass ein Theoriennetz, also eine systematische Gesamtkonzeption, herausgebildet wird (= dritte Methodenstufe). Schließlich ist zu untersuchen, ob die einzelnen formulierten Theorien und das Theoriennetz, in welches sie integriert wurden, theoretisch adäquat sind, d. h. ob die Kriterien für Theoretizität, zu denen 64 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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hauptsächlich die Wahrheit gehört, erfüllt sind; mit anderen Worten, auf dieser Stufe wird die Frage der Bewährung thematisiert (= vierte Methodenstufe). In der philosophischen Praxis werden diese vier Schritte kaum so gesehen; noch weniger kann gesagt werden, dass sie in dieser Reihenfolge vollzogen werden und schon gar nicht, dass sie alle überhaupt vollzogen werden. Die zweite und die dritte Stufe der Methode werden in fast allen philosophischen Schriften nicht einmal in Ansätzen erreicht. Meistens besteht der faktische Status der so genannten philosophischen Theorien in nichts anderem als in einer irgendwie zustande gebrachten Anzahl von Aspekten der ersten und der vierten methodischen Stufe, wobei die meisten Konzeptionen das, was hier »Bewährung« genannt wird, als »Begründung« (in einem reichlich vagen Sinne) bezeichnen und verstehen. In anspruchsvolleren philosophischen Darstellungen wird nur die zweite Methodenstufe übersprungen. In diesem Fall werden die als Resultat der Anwendung der ersten Methodenstufe nur informal bzw. minimal formulierten Theorien direkt – das heißt unter Umgehung der zweiten Methodenstufe – in ein (dann ebenfalls nur informal artikuliertes) Theoriennetz einbezogen. Es ist klar, dass die so konzipierte struktural-systematische Methode eine idealisierte Methode ist, da, wie schon gesagt, in der philosophischen Praxis alle vier Methoden(stufen) kaum jemals zur Anwendung kommen. Sie repräsentiert den Idealfall einer philosophischen Theorie. Daraus folgt aber keineswegs, dass die so verstandene Methode irgendeine bedeutungslose Abstraktion ist; vielmehr übt sie die Funktion einer wichtigen regulativen Idee hinsichtlich der philosophischen Theoriebildung aus. Unter Beachtung der ganzen Komplexität einer vollständig durchgeführten philosophischen Methode ist es nämlich allererst möglich, über den jeweiligen Status einer bestimmten in der Erarbeitung befindlichen oder schon vorgelegten philosophischen Theorie Klarheit zu schaffen bzw. zu erhalten. ET 3/4 – Der systematische und idealisierte Charakter ihrer vierstufigen Methode ist sehr klar; könnten Sie aber ein Beispiel geben, das die theoretische Behandlung eines Themas anhand der Anwendung der vierstufigen Methode gut illustriert? Ist es zu früh, ein zentrales Thema als Beispiel in Betracht zu ziehen, etwa das Thema der Erkenntnistheorie?
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LBP 3/4 – Das ist ein guter Vorschlag. Aber zuerst sollte die mit der Thematik der Methode sehr eng verbundene Frage nach dem Begriff der Theorie im engeren Sinn angesprochen und behandelt werden. Danach kann ein konkretes Beispiel gegeben werden, das sowohl die Methode als auch den Begriff der Theorie illustriert. Dafür eignet sich die Thematik der Erkenntnis bzw. des Wissens, eine Thematik, die gerade an dieser Stelle der Darstellung ihren systematischen Ort hat. ET 3/5 – Außer der Frage nach der Methode, die wir oben angesprochen haben, verweisen Sie oft in Ihren Ausführungen auf den Begriff des Theorierahmens. Was beinhaltet dieser Begriff, der ohne Zweifel einen schlechterdings zentralen Platz in Ihrem Denken einnimmt? Ich denke, dass wir jetzt zur Thematisierung der wichtigsten Grundlagen Ihrer struktural-systematischen Philosophie gelangen. LBP 3/5 – Bedeutung und Verwendung des Ausdrucks/Begriffs Theorie haben eine große und bewegte Geschichte gehabt. Spätestens seit Anfang des 19. Jahrhunderts wird dieser Ausdruck bzw. Begriff in der Philosophie und in den Wissenschaften grundsätzlich insoweit einheitlich verwendet, als damit nur eine intuitive Grundbedeutung gemeint ist; daraus folgt nicht, dass von diesem Begriff eine einheitliche Erklärung oder gar Definition gegeben wurde oder heute verfügbar ist. Bei den gegenwärtigen Philosophen kann man einen beinahe inflationären Gebrauch des Ausdrucks ›Theorie‹ feststellen, insofern jede vorgelegte Konzeption von den meisten Philosophen problemlos als Theorie qualifiziert wird. Der primäre Ort der Verwendung des Ausdrucks/Begriffs Theorie sind aber heute immer noch die Wissenschaften, und zwar sowohl die formalen Wissenschaften (formale Logik und Mathematik) als auch die anderen (empirischen) Wissenschaften. Hier finden sich einige bedeutende, wenn auch nicht einheitliche Charakterisierungen und Definitionen des Theoriebegriffs. In der Regel wird heute unter dem Begriff einer philosophischen Theorie etwa Folgendes verstanden: Eine Meinung (Konzeption) über ein der Philosophie zugerechnetes Thema wird in der Weise formuliert, dass der eine oder andere vorkommende Begriff irgendwie thematisiert, vielleicht erklärt wird, dass anschließend Behauptungen (»Thesen«) aufgestellt und dass zu deren Stützung Gründe bzw. Argumente ins Feld geführt, ferner dass die Gründe bzw. Argumente, die zugunsten anderer (Alternativ-)Konzeptionen sprechen, kritisiert bzw. widerlegt 66 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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werden. Von einer »Theorie« im Sinne eines Gebildes, das hinsichtlich der in ihm vorkommenden Elemente (sprachlicher, logischer, begrifflicher, argumentativer, ontologischer usw. Art) auch nur minimal explizit bestimmt würde, kann dabei in den allermeisten Fällen kaum die Rede sein. Wirft man einen Blick in die Philosophiegeschichte, so stellt man leicht fest, dass bei einigen Philosophen ein »Theorie-Bewusstsein« bis zu einem gewissen Punkt explizit vorhanden war, angefangen mit Aristoteles über Thomas von Aquin, Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant u. a. bis zur analytischen Philosophie. Die philosophische Darstellungsform, die dabei am ehesten eine gewisse Nähe zum modernen Theoriebegriff aufweist, ist die axiomatische Methode, d. h. jene Methode (mit ihren teilweise sehr unterschiedlichen Formen), die in gewisser logisch-begrifflich-argumentativer Hinsicht mit Prinzipien (oder Axiomen) operiert. Ein berühmtes Beispiel ist z. B. Spinoza mit seiner Bestimmung und Anwendung der philosophischen Methode more geometrico. So nützlich und auch einleuchtend dieses »theoretische« Verfahren ist, muss doch gesagt werden, dass es weder den heutigen theoretischen Erfordernissen und Standards genügt, noch dass es sich ihnen annähert. Im gegenwärtigen Kontext ist es nicht möglich, auf diese außerordentlich komplexe Begriffsgeschichte und Diskussionslage im Einzelnen einzugehen. Sinnvoll und möglich ist hier nur der Versuch, die zentrale Idee desjenigen Begriffs von Theorie in aller Kürze zu erläutern, der in der struktural-systematischen Philosophie vertreten und zur Anwendung gebracht wird. Dieser Begriff ist von zwei wissenschaftstheoretischen Richtungen inspiriert, die heute wohl als die wichtigsten überhaupt gelten: der sogenannten »Standard-Konzeption (received view)« und dem »semantischen Ansatz (semantic approach)«. 12 Gemäß der ursprünglichen Version der ersten Richtung ist eine Theorie eine Klasse von Sätzen. Genauer formuliert, ist eine wissenschaftliche Theorie T ein in einer wissenschaftlichen Sprache L mit den Mitteln der mathematischen Logik artikuliertes axiomatisches System, das einige Bedingungen erfüllt. Wesentlich für diesen Theoriebegriff ist der Begriff eines Modells von T. Die Theorie T ist zunächst ein uninterpretiertes formales System. Ein Modell von T ist eine Interpretation der angenommenen wissenschaftlichen Sprache, in welcher alle nicht-logischen Axiome von T 12
Für das Folgende vgl. Struktur und Sein, 161–188.
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gültig sind. Diese Standard-Konzeption stellt die wichtigste Form dessen dar, was J. Sneed und W. Stegmüller später »statement view of theories – Aussagenkonzeption von Theorien« genannt haben, und zwar im Gegensatz zu der von diesen beiden Autoren entwickelten »non-statement view of theories – Nicht-Aussagenkonzeption von Theorien«. Die zweite Richtung, der semantic approach, ist für den in der systematisch-strukturalen Philosophie vertretenen Theoriebegriff von ungleich größerer Bedeutung. Gemäß dieser Richtung ist eine wissenschaftliche Theorie nicht eine Klasse von Sätzen, sondern eine Klasse von Modellen (im Sinne von mathematischen Strukturen). Es gibt mehrere Varianten dieser Richtung. Hier soll nur eine dieser Varianten kurz erwähnt werden, die sogenannte strukturalistische Konzeption von Theorien, deren wichtigste Vertreter J. Sneed, W. Stegmüller, C. U. Moulines u. a. sind. In dieser Konzeption hat eine formale (formalisierte) Sprache keinen zentralen Platz. Die Theorie wird als das geordnete Paar hK, Ii aufgefasst, das aus dem Strukturkern K und der Menge der Intendierten Anwendungen I besteht. Der Strukturkern wird durch nicht weniger als sechs Komponenten näher bestimmt. Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden. ET 3/6 – Darf ich Sie kurz unterbrechen. Ich fürchte, dass die meisten unserer Leser nicht verstehen, worauf Sie sich hier beziehen. Können Sie diese beiden Denkrichtungen auch Lesern, die mit der angelsächsischen Wissenschaftstheorie nicht vertraut sind, in einer verständlichen Form darlegen? LBP 3/6 – Sehr stark vereinfachend, kann man sagen: Eine Theorie ist eine Art abstrakte Entität, die nur in dem Maße Sinn hat, als sie – in welcher Form auch immer – einen Bezug zur Welt (bzw. zu einem Teil oder einem Phänomen oder einer Menge von Phänomenen in der Welt) aufweist. Dieser Bezug kann verschiedentlich gesehen und gekennzeichnet werden. Am trefflichsten dürfte die Formulierung sein: Eine Theorie macht explizit, wie es sich in der Welt verhält. Meistens wird aber der »Sinn« der Theorie so charakterisiert: Eine Theorie sagt etwas über die Welt, eine Theorie artikuliert etwas über etwas in der Welt, eine Theorie erklärt etwas in der Welt usw. Die Frage, die sich dann stellt, lautet: Wie geschieht dieses »Explizieren«, dieses »Sagen über«, diese »Artikulation«, diese »Erklärung«? Es wurde soeben ge68 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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sagt, dass eine Theorie eine abstrakte Entität ist. Die beiden oben dargestellten unterschiedenen Richtungen sind zwei verschiedene Weisen, den abstrakten Charakter der Entität, die Theorie heißt, zu verstehen oder zu erklären. Die erste Richtung, die Aussagenkonzeption von Theorien, versteht/erklärt den ontologischen Bezug von der (formal gedeuteten) Sprache her, und zwar indem dieser Bezug als ein komplizierter Prozess mit mehreren Stufen charakterisiert wird. Im Gegensatz dazu erklärt die zweite Richtung, die Nicht-Aussagenkonzeption von Theorien, den Bezug der Theorien zur Welt/Realität von der Dimension der mathematischen Strukturen her. Bekanntlich interessiert sich die Mathematik nicht für die Dimension der Sprache; ihr geht es ausschließlich um Strukturen, die sowohl von der sie ausdrückenden Sprache als auch von jedem Inhalt abstrahieren. Die beiden genannten Richtungen sehen sich mit einem Grundproblem konfrontiert: Wie gelangt man von der Sprache (erste Richtung) bzw. von der Dimension der Strukturen (zweite Richtung) zur Welt bzw. zu einem bestimmten Phänomen oder Teil der Welt? ET 3/7 – Kehren wir zur Darstellung Ihrer Position zurück. Hat das, worum es in diesen Fragen geht, die sich mit dem semantischen oder formalen Charakter dieser Theorien befassen, irgendeine Bedeutung für die Philosophie? Handelt es sich nicht um rein wissenschaftliche Probleme und Lösungen, die darauf abzielen, ausschließlich der Dimension der empirischen oder mathematischen Erkenntnis Klarheit und Legitimität zu verschaffen? LBP 3/7 – Die Frage, die sich jetzt aufdrängt, lautet in der Tat: Wie sollte die Philosophie – zumal die systematisch orientierte Philosophie – heute verfahren? Sollte sie sich für einen der in den formalen und empirischen Wissenschaften vertretenen Theoriebegriffe entscheiden, und wenn ja, für welchen? Wenn nein, wie sollte sie ihr Vorgehen theoretisch gestalten? Da die von mir anvisierte systematische Philosophie sich im strengen Sinne als theoretisch orientiert versteht, muss sie auf der Basis bzw. im Rahmen eines klaren Theoriebegriffs entwickelt werden. Es geht also darum, die Frage zu klären: Wie ist ein klarer philosophischer Theoriebegriff zu konzipieren? Es ist hier nicht möglich, diese sehr komplexe und schwierige Frage in dem Sinn zu beantworten, dass am Ende die in jeder Hinsicht perfekte oder auch nur zureichende Definition eines angemessenen klaren Theoriebegriffs steht; ob ein solches 69 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Ziel heute erreichbar ist, mag dahingestellt bleiben. Aber ein solcher Begriff soll hier zumindest grundsätzlich charakterisiert werden. Ein Problem der Anwendung oder Heranziehung der oben dargelegten Theoriebegriffe entsteht schon aus dem Umstand, dass diese Theoriebegriffe für die formalen Wissenschaften bzw. die empirischen Wissenschaften entwickelt wurden. Da die Philosophie weder eine formale noch eine empirische Wissenschaft ist, folgt unmittelbar daraus, dass sie keinen der Theoriebegriffe, welche diesen Wissenschaften eigen sind, ohne weiteres übernehmen kann. Diese Einsicht gilt konsequenterweise auch dann, wenn man – als Wissenschaftsphilosoph bzw. als Wissenschaftstheoretiker – der Meinung ist, dass einer der dargelegten Begriffe der »richtige« bzw. »angemessene« Begriff für die jeweilige Wissenschaft ist. Ich vertrete die Auffassung, dass keiner der heute in den Wissenschaften formulierten bzw. vertretenen Theoriebegriffe, isoliert genommen, als der in jeder Hinsicht »richtige« oder »angemessene« gelten kann – auch nicht für die anvisierte(n) Wissenschaft(en); a fortiori gilt das dann auch, wenn man als Philosoph einen dieser Begriffe für einen rein philosophischen Gebrauch übernehmen wollte. Der Philosoph kann aber die Grundzüge eines angemessenen philosophischen Theoriebegriffs herausarbeiten, indem er sich von jedem dieser Theoriebegriffe explizit inspirieren lässt. »Explizit inspiriert werden« heißt hier, dass die dargelegten Theoriebegriffe Korrekturen zu unterziehen sind, und zwar in der Weise, dass im Vergleich aller dargelegten Theoriebegriffe die Schwächen und Einseitigkeiten jedes einzelnen aufgedeckt und beseitigt werden. Was das formale bzw. empirische »Anwendungsgebiet« der dargelegten Theoriebegriffe angeht, so ist die Aussage, dass die Philosophie weder eine formale noch eine empirische Wissenschaft ist, zu präzisieren: Die Philosophie ist zwar weder rein noch vorwiegend eine formale oder empirische Wissenschaft, sie enthält aber eindeutig formale und empirische Elemente. Schon aus diesem Grund liegt es nahe, die erwähnten Theoriebegriffe eingehend zu berücksichtigen. Hinzu kommt aber noch ein weiterer Gesichtspunkt: Auch wenn es zutrifft, dass die genannten Theoriebegriffe von ihrer Entstehung und Zielsetzung her faktisch im Hinblick auf formale bzw. empirische Wissenschaften entwickelt wurden, so folgt daraus nicht, dass sie ausschließlich für eine Verwendung im Gebiet dieser Wissenschaften tauglich sind; es ist durchaus möglich, dass sie ein »theoretisches Potential« beinhalten, das weit über die rein formalen und die rein empirischen Wissenschaf70 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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ten im engeren Sinne hinaus reicht. Wie weit dies im Hinblick auf die Philosophie der Fall ist, das ist im Einzelnen zu prüfen. Man kann also sagen, dass diese Theoriebegriffe zunächst oder primär, nicht aber exklusiv, im Hinblick auf formale bzw. empirische Wissenschaften konzipiert wurden. ET 3/8 – Es ist klar, dass Ihr Theoriebegriff eine Art Knotenpunkt darstellt, indem er ein vollständiges und komplexes Verhältnis zu den Theorierahmen der Wissenschaften unterhält, ohne sich ihnen zu unterordnen. Jeder Leser wartet nun darauf, dass Sie uns Ihre philosophische Version des Theoriebegriffs präsentieren, eine Version, die das Gesamt der bisher in der Geschichte des Denkens benutzen Theorierahmen in dem Sinne umfasst, dass sie die formale Struktur des allen diesen Theorierahmen gegenüber stärkeren und höheren systematischen Theorierahmens artikuliert. LBP 3/8 – Ich möchte nun in aller Kürze die Grundzüge eines, wie ich ihn nennen werde, strukturalen Theoriebegriffs darstellen, den ich als den für die struktural-systematische Philosophie geeigneten Theoriebegriff halte. Als der zentrale Punkt des strukturalen Theoriebegriffs erweist sich der Begriff der Struktur. Obwohl diese Konzeption damit eine Ähnlichkeit mit gewissen Einsichten hat, die den »semantischen Ansatz« – und besonders dessen strukturalistische Variante – leiten, unterscheidet er sich von den verschiedenen Varianten dieses »strukturalistischen« Ansatzes in den drei folgenden wesentlichen Gesichtspunkten: Erstens wird Struktur im strukturalen Konzept anders aufgefasst, und zwar nicht hinsichtlich der rein abstrakten Definition dieses Begriffs, sondern hinsichtlich des näheren Verständnisses des Definiens und der Arten von Strukturen, die für die Bestimmung des Theoriebegriffs wesentlich oder relevant sind. ET 3/9 – Eine gewisse Generation des französischen Publikums, die Leser Derridas eingeschlossen, wurde von einem gewissen Typus des Strukturalismus tief beeinflusst. Das ist der Grund, warum ich Sie für einen Augenblick gleich unterbreche. Könnten Sie klarmachen, worin der Unterschied zwischen Ihrer strukturalen Konzeption und dem gewöhnlichen oder weit verbreiteten (commun) Strukturalismus besteht? Welche Rolle spielt dabei das definiens? 71 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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LBP 3/9 – Wie man weiß, gibt es seit einigen Jahrzehnten eine Art chaotische Verwendung des Ausdrucks ›Struktur‹ und seiner derivativen Formen, woraus die vielen »Strukturalismen« entstanden sind. Für meine Konzeption verwende ich nicht den Ausdruck »Strukturalismus«. Dieser Umstand war ein wichtiger Punkt, der mich lange zweifeln ließ, ob es angebracht sei, den Ausdruck ›Struktur‹ an zentraler Stelle meiner philosophischen Konzeption zu verwenden. Ich habe mich dann doch dazu entschlossen, und zwar aufgrund der Überlegung, dass ich genau explizieren sollte, was ich unter »Struktur« verstehe und welche genaue Rolle dieser Begriff in der Entwicklung meiner Konzeption spielen würde. Ich denke, dass es mir gelungen ist, dieses strenge Kriterium einzuhalten, so dass keine Missverständnisse entstanden sind und auch keine entstehen können, sofern ein Leser genau das beachtet, was in Struktur und Sein ausgeführt wird. Damit ist auch die Antwort auf Ihre Frage im Prinzip gegeben; aber ich werde sie etwas weiter erläutern. Zunächst muss ich aber einwenden: Was nennen Sie »gewöhnlichen oder weitverbreiteten Strukturalismus (structuralisme commun)«? Meinen Sie das, was nach dem 2. Weltkrieg in Frankreich »Strukturalismus« genannt und zur großen Mode wurde? Nun dazu muss man feststellen, dass der »französische Strukturalismus«, international gesehen, keineswegs als »gewöhnlicher oder weitverbreiteter Strukturalismus (structuralisme commun)« bezeichnet werden kann; im Gegenteil: Man wird wohl sagen müssen, dass es sich um eine sehr eigenartige und sogar eigenwillige Haltung und Denkform handelt. Um einen kleinen Hinweis zu geben: der französische Strukturalismus wurde entscheidend durch Ferdinand de Saussure in seinem Cours de linguistique générale (1916) geprägt, obwohl Saussure den Ausdruck ›Struktur‹ nie verwendet hat. Saussure fasst jede Sprache als ein semiotisches System auf, in welchem die Elemente nur durch die Relationen der Äquivalenz und des Gegensatzes, die sie miteinander und gegeneinander unterhalten, definierbar sind; das Ensemble dieser Relationen bilden die Struktur (nach Saussure: das System). In Frankreich wurde dieser Ansatz, also der in der Sprache als semiotischem System konkretisierte Begriff der Struktur, auf viele Themen und Bereiche angewandt, von der Anthropologie eines Claude Lévi-Strauss bis hin zur Charakterisierung (und Kritik) des ganzen metaphysischen Denkens bei Derrida. Man muss beachten, dass nicht der Begriff der Struktur als solcher verallgemeinert wurde; vielmehr hat man einen schon konkretisierten Begriff von Struktur verallgemeinert, 72 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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nämlich den auf die Sprache als semiotisches System angewandten Begriff. Dieser Umstand ist es, der die seltsame Rolle erklärt, welche der Begriff der Struktur im französischen Strukturalismus gespielt hat (und irgendwie immer noch spielt). Das kann sehr deutlich gezeigt werden, wenn man Derridas sonderbare, ja phantasievolle Interpretation des Strukturbegriffs analysiert. Er behauptet, in der Geschichte des Begriffs der Struktur habe ein Ereignis (événement) stattgefunden, das die Form eines Bruchs (rupture) und einer Verdoppelung (redoublement) hatte. Bevor sich dieser Bruch ereignete, sei der Struktur immer ein Zentrum gegeben worden: »Man hat […] immer gedacht, dass das seiner Definition nach einzige Zentrum in einer Struktur genau dasjenige ist, das der Strukturalität sich entzieht, weil es sie beherrscht. Daher lässt sich vom klassischen Gedanken der Struktur sagen, dass das Zentrum sowohl innerhalb der Struktur als auch außerhalb der Struktur liegt. […] [D]ie ganze Geschichte des Begriffs der Struktur vor dem Bruch […] [muss] als eine Reihe einander substituierender Zentren, als eine Verkettung von Bestimmungen des Zentrums gedacht werden. Das Zentrum erhält nacheinander und in geregelter Abfolge verschiedene Formen oder Namen. Die Geschichte der Metaphysik wie die Geschichte des Abendlandes wäre die Geschichte dieser Metaphern und dieser Metonymien. Ihre Matrix wäre […] die Bestimmung des Seins als Präsenz in allen Bedeutungen dieses Wortes.« 13
Derrida zufolge ereignete sich der Bruch, als man anfing, »diese Dezentrierung als Denken der Strukturalität der Struktur« 14 zu denken. Die Strukturalität zu denken, heißt aber nach Derrida, die Strukturalität zu wiederholen oder zu verdoppeln. Als die Vollstrecker dieses Bruchs nennt er Nietzsche, Freud, Heidegger. Ihm zufolge begann man zu denken, dass das Zentrum »kein fester Ort ist, sondern eine Funktion, eine Art von Nicht-Ort, worin sich ein unendlicher Austausch von Zeichen abspielt. Mit diesem Augenblick bemächtigt sich die Sprache des universellen Problemfeldes. Es ist dies auch der Augenblick, da infolge der Abwesenheit eines Zentrums oder eines Ursprungs alles zum Diskurs wird […], das heißt, zum System, in dem das zentrale, originäre oder transzendentale Signifikat niemals absolut, außerhalb eines Systems von Differenzen, präsent ist. Die Abwesenheit eines transzen-
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J. Derrida, Die Schrift und die Differenz. Frankfurt: Suhrkamp, 1976, 423–424. Ebd. 424.
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dentalen Signifikats erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche.« 15
Zu Derridas sonderbaren, ja sogar phantasievollen Aussagen über Struktur bemerke ich nur zweierlei. Erstens: seine Aussagen haben wenig bis nichts mit dem Begriff und dem Stellenwert des Strukturbegriffs in der Geschichte der Philosophie und in einer systematischen Philosophie zu tun. Zweitens: in sachlich-systematischer Hinsicht genügt es, auf einen zentralen Selbstwiderspruch in Derridas Denkwelt hinzuweisen. Das ist ein performativer Selbstwiderspruch (contradictio exercita): Wenn das Denken so zu konzipieren wäre, wie Derrida den Begriff der Struktur, die Metaphysik, den Diskurs, die Sprache usw. auffasst und charakterisiert, dann steht all das in einem krassen Widerspruch zu seinem eigenen Diskurs; denn, so dunkel sein Diskurs auch sein mag, er ist doch wohlstrukturiert, und zwar nicht nur grammatikalisch, sondern auch darstellungsmäßig, sogar (zumindest in vielen Passagen) auch argumentativ. Wie kann dann Derrida eine solche wohlstrukurierte Artikulationsform benutzen, um die These zu formulieren und zu erklären, dass »der (genuine?) Diskurs« das ist, was er in den obigen Zitaten beschreibt? Seine Sätze sind theoretische Sätze mit einer genauen Struktur. Damit widerspricht der von ihm entwickelte Diskurs dem, was er behauptet: ein performativer Selbstwiderspruch. Es ist sonderbar, dass Derrida ziemlich genau diese Sachlage beschreibt. Sich auf Heideggers »Destruktion der Metaphysik« beziehend, schreibt er: »Diese destruktiven Diskurse (und alles ihnen Entsprechende) sind aber allesamt in einer Art von Zirkel gefangen. Er beschreibt die Form des Verhältnisses zwischen der Geschichte der Metaphysik und ihrer Destruktion: es ist sinnlos, auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten, wenn man die Metaphysik erschüttern will.« 16
Es wird hier davon abgesehen, Derridas seltsame »Interpretation« der Metaphysik einer kritischen Analyse zu unterziehen. Diese Sätze wurden hier nur aus dem Grund angeführt, weil Derrida gleich anschließend einen weiteren bemerkenswerten Satz formuliert, der nicht mehr nur auf die Metaphysik bezogen ist, sondern ganz allgemein gelten soll:
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Ebd. Ebd. 425.
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»Wir verfügen über keine Sprache – über keine Syntax und keine Lexik –, die nicht an dieser Geschichte [der Geschichte der Metaphysik, LBP] beteiligt wäre. Wir können keinen einzigen destruktiven Satz bilden, der nicht schon der Form, der Logik, den impliziten Erfordernissen dessen sich gefügt hätte, was er gerade in Frage stellen wollte …« 17
Derrida versäumt es aber, diese richtige Aussage auf sein eigenes philosophisches Vorgehen zu beziehen. Und so bleibt der performative Selbstwiderspruch bestehen, den man in Form einer Frage artikulieren kann: Wie kann Derrida in einer theoretischen Sprache das ausdrücken, was dieser Sprache total widerspricht, ja sie destruiert? Die theoretische Sprache ist absolut universal, indem sie allererst den letzten, höchsten und umfassenden Raum für alles schafft, was eben »zur Sprache kommt«, was gesagt wird. Das (Aus)Gesagte setzt diese umfassende, absolut universale theoretische Sprache und deren unbedingte und universale Geltung voraus. Derridas Verfahren kann nur als Ergebnis einer in der Philosophie nicht akzeptierbaren Naivität betrachtet werden. Der in der Gegenwart verwendete Strukturbegriff hat mit dem im französischen Strukturalismus verwendeten und dem durch Derrida uminterpretierten oder angeblich überwundenen Begriff der Struktur kaum etwas gemein. Der von mir gebrauchte Begriff der Struktur hält sich formal streng an den mathematischen Begriff; inhaltlich werden die im Definiens vorkommenden Begriffe (Basismenge oder das Material, Ensemble der Relationen und Funktionen) immer im Hinblick auf die Daten, welche die Basismenge bilden, näher interpretiert. Das ganze Verfahren kann dann so beschrieben werden: Durch die Applikation des Begriffs der Struktur auf die Daten wird der Begriff der Struktur näher bestimmt oder konkretisiert; dies bedeutet, dass die Struktur sich als die Struktur-der-Daten erweist und dass die Daten als strukturierte Daten begriffen werden. In der struktural-systematischen Philosophie gibt es keine »rigide« Anwendung des Strukturbegriffs auf Daten; vielmehr orientiert sich die Anwendung immer an der philosophischen Bearbeitung der vorhandenen und zu thematisierenden Daten. ET 3/10 – Bei Ihrem Versuch, Ihre Unterscheidung vom Strukturalismus zu erklären, haben Sie bisher den ersten Punkt ausgeführt. Nach dem langen Exkurs über den französischen Strukturalismus, können Sie den zweiten Punkt erläutern? 17
Ebd. 425.
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LBP 3/10 – Zweitens wird das Verhältnis von Struktur(en) und Sprache in der struktural-systematischen Philosophie nicht nur irgendwie (marginal) anerkannt, sondern als wesentlich betrachtet. Drittens wird davon ausgegangen, dass die Explikation des Bezugs der Struktur(en) zur ontologischen Ebene (zum universe of discourse, zur Welt, zum Sein) unverzichtbar und schlechterdings zentral ist. Der in der struktural-systematischen Philosophie angenommene bzw. vorausgesetzte strukturale Theoriebegriff basiert auf der Annahme der folgenden drei Basiskomponenten: Sprache (L), Struktur (S) und Universe of discourse (U). Freilich müssen diese drei Komponenten akkurat und detailliert bestimmt, d. h. expliziert, werden. Man kann aber unter einer bestimmten Rücksicht die Komponenten L (Sprache) und S (Struktur) zusammenlegen, indem man der Einsicht Rechnung trägt, dass die Dimension der Sprache zum Begriff der Struktur gehört, da Struktur ohne ihren Sprachbezug nicht adäquat definiert werden kann, d. h. man könnte dann die Verbindung von L (Sprache) und S (Struktur) als LS oder SL oder hL, Si anzeigen und dafür nur »Struktur« sagen. So hätte man einen dyadischen philosophischen Theoriebegriff, also das geordnete Paar: hLS, Ui oder hSL, Ui oder hhL, Si, Ui. Damit ist der zentrale Gedanke erreicht und als elementarer philosophischer Theoriebegriff artikuliert, der im Titel des Buches Struktur und Sein knapp angedeutet wird (wobei aus sprachlich-stilistischen Gründen ›Sein‹ anstelle von ›universe of discourse‹ erscheint) und der ganzen in diesem Werk dargestellten Konzeption der systematischen Philosophie zugrunde liegt. Wie in einem weiteren Kontext zu zeigen sein wird, müssen drei Grundarten von Strukturen angenommen werden: formale (logische/ mathematische), semantische und ontologische. Hier muss hinsichtlich des Zusammenhangs von Struktur(en) und Sprache auf einige fundamentale Gesichtspunkte hingewiesen werden. (i) Geht man von einer rein syntaktisch aufgefassten, rein formalen Sprache aus, so gibt es im Prinzip unzählige Möglichkeiten einer Interpretation dieser Sprache, d. h. einer Einführung von Modellen für diese Sprache. Sprachphilosophen haben viel Energie auf diese Aufgabe und die damit gegebenen Probleme aufgewendet und daraus manche berühmt gewordene Thesen entwickelt, wie die These der Unbestimmtheit von Sprache, der ontologischen Relativität usw. Auch das berühmte Löwenheim-Skolem-Paradox muss in diesem Kontext gesehen werden. 76 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Geht man nämlich von einer rein syntaktisch bestimmten Sprache aus, so gibt es nichts Fixes oder Vorgegebenes hinsichtlich einer Interpretation. Mit jedem Ausdruck der Sprache kann man dann im Prinzip jede mögliche Bedeutung oder jeden möglichen semantischen Wert verknüpfen. Alles ändert sich, wenn man methodisch nicht von der »nackten«, d. h. uninterpretierten, Sprache, sondern von einer bestimmten Interpretation der Sprache ausgeht. Man spricht dann von dem »intendierten Modell« der Sprache. Mit dieser Konzeption lassen sich die angesprochenen Probleme in diesem Bereich in grundsätzlicher Hinsicht überwinden. ET 3/11 – Hätten Sie noch ein Beispiel, um diesen Sachverhalt zu erläutern? Was heißt insbesondere Ihre Behauptung: »Geht man von einer rein syntaktisch bestimmten Sprache aus, so gibt es nichts Fixes oder Vorgegebenes hinsichtlich einer Interpretation«? LBP 3/11 – Das ist ganz einfach und wurde im Prinzip schon in der vorhergehenden Antwort erklärt. Anders dargelegt: Eine Sprache ist grundsätzlich ein semiotisches System, ein System von Zeichen. Die Frage ist dann: Was kann man mit einem solchen System von Zeichen anfangen? Die Antwort lautet: Man muss das System, also die Zeichen, bestimmen, man muss zeigen, was man mit den Zeichen anfangen kann. Die erste Bestimmung, die man von einem solchen System angeben kann bzw. muss, ist die syntaktische. Sie besteht darin, dass man bestimmte Beziehungen zwischen den Zeichen, rein als Zeichen betrachtet, angibt, ohne dass man zunächst annimmt, dass die Zeichen überhaupt etwas bedeuten. Damit kann man eine erste Klassifikation von Zeicheneinheiten einführen. Erst die zweite Bestimmung, die man die semantische nennt, verleiht den Zeichen eine Bedeutung. Dieses semantische Verfahren nennt man eine Interpretation einer Sprache. Wenn man nun von einem reinen System von Zeichen ausgeht, kann man sowohl die syntaktische als auch die semantische Bestimmung nur stipulativ einführen. In diesem Fall sind weder die syntaktische noch die semantische Bestimmung fixiert. Unter den im Prinzip unendlich vielen Möglichkeiten der Einführung einer syntaktischen und einer semantischen Bestimmung (also einer Interpretation) kann man einen bestimmten Zweck im Auge haben, in dem Sinne, dass man intendiert, etwa eine Sprache aufzubauen, die geeignet ist, etwa ein bestimmtes Phänomen oder einen bestimmten Bereich adäquat zu ar77 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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tikulieren. In diesem Fall spricht man von einer intendierten Interpretation. Geht man aber von einer schon gebrauchten Sprache aus, so heißt das, dass es sich auch hier um ein semiotisches System handelt, aber im radikalen Unterschied zu dem bisher beschriebenen semiotischen System sind jetzt die Zeichen sowohl syntaktisch als auch semantisch schon bestimmt. Das ist der Fall mit unseren »normalen« kolloquialen Sprachen. Hier hat der Philosoph, wie er hier konzipiert wird, die Aufgabe, nicht einfach blind diese vorgegebene syntaktische und semantische Bestimmung zu übernehmen, sondern beide zu überprüfen, vielleicht sogar zu modifizieren. Das ist es, was die struktural-systematische Philosophie sehr gründlich macht. Das Resultat ist das, was diese Philosophie die transparente philosophische Sprache nennt. ET 3/12 – Welchen Sachertrag erbringt die Konzeption, die Sie soeben dargelegt haben? LBP 3/12 – Mit der kurz dargelegten Konzeption lassen sich die angesprochenen Probleme in diesem Bereich in grundsätzlicher Hinsicht lösen. Das wird deutlich, wenn man den zweiten und dritten Punkt erläutert. (ii) Ein fundamentaler Punkt des Zusammenhangs von Struktur (en) und Sprache ist die »Einbindung« der Ebene der Strukturen in die Sprachebene; damit werden alle jene Vorteile bewahrt, die mit dem sogenannten »rein logischen« Theoriebegriff gegeben sind. (iii) Schließlich ist hervorzuheben, dass erst die Einbindung der Sprache in die Dimension der Struktur es ermöglicht, der Komponente U (Universe of discourse) und damit der ontologischen Ebene voll gerecht zu werden. Das geschieht dadurch, dass der zentrale Begriff der Wahrheit eingeführt und geklärt wird. Nur dann macht es nämlich Sinn, im Zusammenhang einer Theorie davon zu sprechen, dass eine Theorie über »die Welt (das Universum, das Sein)« spricht und somit wahr oder falsch ist. Die zentrale Aufgabe für den hier anvisierten Theoriebegriff besteht darin, das Verhältnis zwischen der Sprache L und der Strukturdimension S, einerseits, und der Dimension des universe of discourse (der Welt, des Seins) U, andererseits, genau zu bestimmen. Dies ist die Haupt- oder eigentliche Aufgabe der systematischen Philosophie. Im gegenwärtigen Zusammenhang ergibt sich die folgende wichtige Frage: 78 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Wenn das Verhältnis zwischen der Sprache/Strukturdimension und der Seinsdimension so zentral ist, sollte dann nicht dieser Faktor »Verhältnis« als eine eigene (wesentliche) Komponente des philosophischen Theoriebegriffs anerkannt und damit explizit eingeführt und namhaft gemacht werden? Man hätte dann vier wesentliche Komponenten des philosophischen Theoriebegriffs: die Sprache L, die Strukturdimension S, die ontologische Ebene U (das universe of discourse oder das Sein, die Wirklichkeit), schließlich die Dimension des Verhältnisses zwischen LS (bzw. SL bzw. hL, Si) und U, für welche das mathematische Symbol ›Ð‹ eingeführt werden könnte. Da Sprache und Struktur, wie oben gezeigt wurde, aufs Engste miteinander verbunden sind, könnte man dennoch von drei Elementen sprechen, wobei das erste Element ein zusammengesetztes wäre, nämlich LS (bzw. SL bzw. hL, Si). Eine Theorie wäre demnach das Tripel: hLS, Ð, Ui oder hSL, Ð, Ui oder hhL, Si, Ð, Ui. Die Komponente »Verhältnis«, die durch das Symbol ›Ð‹ angezeigt wird, wird als die Theorie der Wahrheit voll expliziert, die eines der zentralen Themen der struktural-systematischen Philosophie ist. ET 3/13 – Darf ich Sie an die Zusage erinnern, die Sie früher gemacht haben, dass Sie den Begriff der Methode und der Theorie anhand eines wichtigen Beispiels illustrieren würden? Ich denke, dass der gegenwärtige Kontext unserer Dialoge der geeignete Ort dafür ist. LBP 3/13 – Erkenntnis und/oder Wissen ist einer der am meisten verwendeten Terme bzw. Begriffe, sowohl im täglichen Leben als auch im wissenschaftlichen und philosophischen Bereich. Zweifellos gibt dieser Term/Begriff Anlass zu einer der zentralsten Fragen der Philosophie. Die struktural-systematische Philosophie vertritt diesbezüglich eine ganz besondere und ganz pointierte Position – im Gegensatz zur Erkenntniskonzeption, die im Rahmen des Mainstream der analytischen Philosophie vertreten wird. Diese Konzeption soll hier in aller Kürze dargestellt werden, und zwar in der Weise, dass die Behandlung dieses Themas gleichzeitig als Beispiel für die Illustration sowohl der oben dargestellten struktural-systematischen Methode als auch des strukturalen Begriffs der Theorie dienen soll. Die Aufgabe besteht also jetzt darin, zu erklären, wie der struktural-systematische Philosoph bei der Behandlung des Themas »Erkenntnis/Wissen« methodisch verfährt und zu welcher Theorie der Erkenntnis er dabei gelangt. Die erste Stufe der struktural-systematischen Methode besteht 79 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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darin, dass das Thema einer ersten Analyse unterzogen wird. Das Thema Erkenntnis und/oder Wissen stellt sich anfänglich als eine Reihe von Daten dar, über die zuallererst Klarheit zu schaffen ist. Diese Klärung führt zu einer ersten Herausarbeitung des Zusammenhangs oder genauer: der Zusammenhänge unter den geklärten Daten. Diese Zusammenhänge sind die Strukturen, welche die Intelligibilität der Daten gewährleisten. Wurden die Strukturen herausgearbeitet, erfolgt dann eine erste Formulierung einer Theorie über das Thema, in diesem Fall über Erkenntnis/Wissen: eine Erkenntnistheorie. Jetzt sollen diese einzelnen Schritte kurz beschrieben werden. Die Daten hinsichtlich Erkenntnis/Wissen sind nicht nur vielfältig, sondern in gewissem Sinne chaotisch. Es gibt in der Umgangssprache unzählige Weisen, wie diese beiden Terme verwendet werden. Gibt es aber dabei einen – zumindest minimalen – gemeinsamen Nenner? Eine Analyse scheint dies nicht zu bestätigen. Das wird klar, wenn man die beiden deutschen Terme »Erkenntnis« und »Wissen« analysiert, wie sie heute verwendet werden und wie sie in der Geschichte der Philosophie verwendet und verstanden wurden. Im Deutschen werden Erkenntnis und Wissen oft synonym verwendet und verstanden; aber die Bedeutungsgleichheit reicht nicht sehr weit, was sich sofort daran zeigt, dass »Erkenntnis« auch eine Pluralform (»Erkenntnisse«) hat, »Wissen« aber keine Pluralform zulässt. Das ist anders beispielsweise in der französischen Sprache, in der die Terme »connaissance« und »savoir« sowohl eine Singularform als auch eine Pluralform haben. Wieder anders ist es im Englischen: Im Gegensatz zum deutschen Term »Erkenntnis« wird »knowledge« nur im Singular verwendet. Ein Wort für »Wissen« kennt die englische Sprache nicht. Der große Philosoph der Vergangenheit, der wie kein anderer die Erkenntnistheorie (in der Form einer Erkenntniskritik) ins Zentrum der Philosophie gerückt hat, war Kant. Aber bei Kant haben die Terme »Erkenntnis« und »Wissen« eine ganz eigene Bedeutung: »Wissen« besagt eine bestimmte Art des Glaubens oder Überzeugtseins seitens eines Subjekts, während »Erkenntnis« überhaupt keinen Glauben bzw. kein Überzeugtsein involviert. Erkenntnis bei Kant meint einfach das Resultat der Applikation der kognitiven Strukturen der transzendentalen Subjektivität (konkret: der reinen Begriffe a priori, d. h. der Kategorien) auf das uns durch die Sinne zugeführte und zuerst durch die apriorischen (reinen) Formen der sinnlichen Anschauung, nämlich Raum und Zeit, geformte Material – und dies ohne jeden Bezug auf 80 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Einstellungen wie Glauben, Überszeugtsein u. ä. Für den Kantischen Plural »Erkenntnisse« haben die traditionellen Übersetzungen der Kritik der reinen Vernunft ins Englische gesagt: »modes of knowledge«. Aber die neueste Übersetzung von Guyer/Wood 18 verwendet für »Erkenntnis« das ungewöhnliche Wort »cognition« (und dann für »Erkenntnisse«: »cognitions«), während das Kantische »Wissen« mit »knowledge« widergegeben wird. ET 3/14 – Ich schlage vor, dass wir die erste Methodenstufe näher analysieren. LBP 3/14 – Die sich hier aufdrängende Frage lautet jetzt: Was kann, was sollte der Theoretiker mit dieser chaotischen Datenlage hinsichtlich der Ausdrücke ›Wissen/Erkenntnis‹ tun? Konkret gefragt: Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, einen überzeugenden Begriff, eine kohärente und einleuchtende Theorie der Erkenntnis bzw. des Wissens zu formulieren? Die gibt es, allerdings unter einer negativen und einer positiven Voraussetzung (oder Bedingung). In negativer Hinsicht darf der Theoretiker nicht das Ziel verfolgen oder den Anspruch erheben, allen Vorkommnissen der Terme ›Erkenntnis/Wissen‹ in der kolloquialen Sprache nachzugehen und ihnen gerecht zu werden; der Grund hierfür ist die Unmöglichkeit eines solchen Vorhabens wegen der Chaotizität der Daten. In positiver Hinsicht muss sich der Theoretiker von den Kriterien der Intelligibilität und der Kohärenz leiten lassen. Für das Folgende ist zu bemerken, dass die deutschen Terme ›Erkenntnis‹ und ›Wissen‹ in der struktural-systematischen Philosophie als Synonyme verstanden und verwendet werden, ungeachtet der teilweise sehr verschiedenartigen syntaktischen Vorkommnisse dieser Terme, wie oben gezeigt wurde. Wie unten erklärt wird, basiert die hier vertretene Konzeption auf den Kriterien der Intelligibilität und der Kohärenz. Auf dieser Basis ist es dann möglich, eine erste allgemeine Analyse der Daten vorzunehmen. Sie führt zur Feststellung, dass eine kohärente und intelligible Rede von Erkenntnis/Wissen drei wesentliche Faktoren einschließt. Erstens: Ein Subjekt ist bei Erkenntnis/Wissen immer explizit genannt oder implizit vorausgesetzt; es ist sozusagen immer »am Werk«. Erkenntnis/Wissen ist eine Handlung oder ein Zustand eines I. Kant, Crtique of Pure Reason. Translated and edited by P. Guyer and A. W. Wood. Cambridge: Cambridge University Press, 1997.
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Subjekts, und zwar eines Subjekts, insofern es eine bestimmte Einstellung einnimmt oder eine bestimmte Handlung vollzieht. Diese Handlung bzw. Einstellung ist die des Glaubens oder der Überzeugung. Zweitens: dieser Glaube oder diese Überzeugung betrifft die Wahrheit des dabei Intendierten, d. h. des Gegenstands der dabei aufgestellten Behauptung. Drittens: das Subjekt glaubt bzw. ist überzeugt, dass sein Glaube bzw. seine Überzeugung gerechtfertigt ist. Glaube/Überzeugung, Wahrheit und Rechtfertigung: das sind die drei Faktoren oder genauer: die drei Relationen, die jedwede Daten hinsichtlich der Thematik Erkenntnis/Wissen strukturieren. Erkenntnis/Wissen ist daher eine bestimmte Struktur, bestehend aus den Daten und den drei genannten Relationen. An diesem Punkt angelangt, beginnt für den Theoretiker die zweite Stufe der Methode: die Erarbeitung einer genauen Theorie. Für den hier betrachteten Fall der Erkenntnis bzw. des Wissens geht es um eine »Minitheorie« oder um eine »definitionale Theorie«. Eine solche Theorie besteht darin, dass das Verhältnis zwischen der herausgearbeiteten Struktur (den drei genannten Relationen) und den geklärten Daten genau artikuliert wird. Im Falle einer definitionalen Theorie besteht die Theorie einfach aus einer Definition. Der Zusammenhang zwischen den bisher herausgearbeiteten »Elementen«, also den drei genannten Relationen als der Struktur und den betroffenen Daten, lässt sich exakt folgendermaßen darstellen (E/W = Erkenntnis/Wissen): (E/W) Das Subjekt S erkennt/weiß, dass P genau dann, wenn (i) S glaubt/ist überzeugt, dass P (wahr ist) (ii) S glaubt/ist überzeugt, dass sein Glaube/seine Überzeugung, dass P (wahr ist), gerechtfertigt ist. Die dritte Stufe der Methode hat die Aufgabe, die erarbeitete Theorie in das Ganze der systematischen Philosophie einzuordnen. Dieser Schritt in der struktural-systematischen Philosophie ist von besonderer Bedeutung. Die Frage lautet hier: Welcher Stellenwert kommt dieser Theorie im Ganzen der systematischen Philosophie zu? Die Antwort lautet: der Stellenwert dieser Theorie ist kein zentraler, sondern ein sehr untergeordneter. Im Gegensatz zur ganzen modernen Tradition der Philosophie, die das Subjekt ins Zentrum der Philosophie stellt und damit der Erkenntnistheorie einen schlechterdings zentralen Platz zuweist, wird das Subjekt und damit auch die Erkenntnis bzw. das Wissen in 82 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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der struktural-systematischen Philosophie »depotenziert«. Der Grund dafür ist von umfassender systematischer Bedeutung: Die strukturalsystematische Philosophie, wie oben erklärt, beachtet streng den theoretischen Charakter der Philosophie und alle Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Nun besteht die Wissenschaft und damit auch die Philosophie aus theoretischen Sätzen. Diese haben die Struktur »Es verhält sich so dass … (z. B.: die Erde um die Sonne kreist)«. Theoretische Sätze haben aber keinen Bezug auf Subjekte und sind somit, streng genommen, nicht Ausdruck einer Erkenntnis oder eines Wissens gemäß der oben entwickelten definitionalen Theorie. Diese Konzeption steht im Gegensatz zu weitverbreiteten Verwendungen der Terme »Erkenntnis/Wissen« in der Geschichte der Philosophie bis heute. Es ist sehr üblich, von den »Erkenntnissen der Wissenschaft«, vom »wissenschaftlichen Wissen« u. ä. zu sprechen. Das sind sprachliche Gewohnheiten, die völlig unpräzise sind. Wenn man nämlich versucht, die mit der Verwendung solcher Formulierungen intendierte Bedeutung exakt zu eruieren, stellt sich leicht heraus, dass sie bei der Verwendung etwa der Pluralform »Erkenntnisse« einfach nur dies meinen bzw. meinen können: die (bestätigten) wissenschaftlichen Theorien. Nicht aber meinen sie im Letzten: die Meinung, die Überzeugung, den Glauben der Subjekte, das heißt hier: der Wissenschaftler/Philosophen, bezüglich der Wahrheit wissenschaftlicher/philosophischer Theorien. Wenn Letzteres bewusst intendiert wird, dann wird immer auf die Subjekte (in diesem Fall die Wissenschaftler bzw. die Philosophen) explizit Bezug genommen. Diese Klarstellung macht auch deutlich, dass die synonyme Gleichstellung der Terme »Erkenntnis« und »Wissen«, von der oben die Rede ist, in dem Sinne gerechtfertigt ist, dass sie philosophisch normiert wird. Schließlich wird der Theoretiker die vierte Stufe der Methode in Angriff nehmen, nämlich die endgültige Begründung oder Bewahrheitung der dargelegten (definitionalen) Theorie. Dieser Punkt ist im Falle der hier vertretenen »Minitheorie der Erkenntnis bzw. des Wissens« besonders wichtig und interessant. Der Erweis des Wahrheitsstatus der Theorie erfolgt in besonderer Weise durch einen Vergleich und eine Auseinandersetzung mit anderen Konzeptionen. ET 3/15 – Wollen Sie sagen, dass Sie selbst Ihre eigene Erkenntnistheorie mit einem gewichtigen Einwand konfrontieren? Handelt es sich um die vierte Methodenstufe? 83 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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LB 3/15 – Genau. Im vorliegenden Fall gibt es eine sehr weit verbreitete Theorie, welche der hier vorgelegten und verteidigten Theorie frontal widerspricht. Das ist gerade die auf den britischen Philosophen Edmund Gettier zurückgehende (von ihm aber nicht verteidigte) definitionale Theorie der Erkenntnis/des Wissens, die durch die Formel: »Knowledge is true justified belief« (TJB) überall bekannt ist und meistens akzeptiert wird. 19 Dazu ist zunächst zu sagen, dass diese Formel ut jacet keineswegs eindeutig ist, denn sie kann problemlos auch als Ausdruck der oben formulierten Theorie verstanden werden. Sie enthält nämlich gerade die drei Terme bzw. Faktoren bzw. Begriffe, die für eine adäquate Theorie der Erkenntnis bzw. des Wissens wesentlich sind. Erst wenn man die exakte Theorie formuliert (d. h. erst wenn man die zweite Methodenstufe explizit durchführt), erscheinen die tiefen Differenzen: Alles hängt nämlich davon ab, wie man den Zusammenhang, d. h. also: die Strukturalität der drei Terme/Begriffe/Faktoren artikuliert. Die exakte Gestalt der Theorie im Sinne Gettiers (= E/WGettier) ist die folgende: (E/WGettier) Subjekt S erkennt oder weiß, dass P genau dann, wenn (1) P (wahr ist), (2) S glaubt/ist überzeugt, dass P (wahr ist), (3) der Glaube/die Überzeugung von S, dass P (wahr ist), gerechtfertigt ist. Es gibt zwei grundsätzliche Differenzen zwischen dieser Definition von Gettier (E/WGettier) und der oben vorgelegten struktural-systematischen Definition (E/W). Erstens: Die Bedingung (1) von (E/WGettier) erscheint nicht in (E/W); zweitens: die Bedingung (ii) von (E/W) ist nicht identisch mit der Bedingung (3) von (E/WGettier): Dass der Glaube/die Überzeugung des Subjekts S, dass P (wahr ist), gerechtfertigt ist, erscheint in (E/W) im Skopus eines weiteren oder höheren Glaubens/ Überzeugtseins (zweiter Ordnung) des Subjekts S, in (E/WGettier) aber nicht. Das sind wesentliche Unterschiede. Wie ist nun die als (E/W) artikulierte Theorie zu rechtfertigen? Der Beweis dafür ist ganz einfach. Es wird meistens anerkannt, dass Gettiers Definition im Wesentlichen das traditionelle schon bei Platon 20 zu findende Verständnis von Erkenntnis artikuliert. In dieser Hinsicht hat Gettier nur die in dieser 19 20
E. Gettier, »Is Justified True Belief Knowledge?«. Analysis 23, 1963, 121–123. Vgl. seinen Dialog Theaitetos 201 c-d.
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langen Tradition vermutlich (meistens implizit) vertretene Theorie explizit formuliert; er selbst hat aber gegen diese Auffassung von Erkenntnis Einwände in Form von Gegenbeispielen erhoben. Seitdem wurde und wird immer noch eine außerordentlich intensive Diskussion darüber geführt. Es ist nun interessant zu bemerken, dass sich Gettiers Gegenbeispiele gegen die Bedingung (3) von (E/WGettier) richten und dass auch die nachfolgenden Diskussionen fast ausschließlich diese Bedingung problematisiert haben und immer noch problematisieren. Dass diese Bedingung äußerst problematisch ist, soll keineswegs bestritten werden. Doch das allergrößte Problem wirft Bedingung (1) auf, ein Problem, welches fast immer völlig unbemerkt blieb und immer noch bleibt. Darauf soll im Folgenden eingegangen werden. Eine Definition hat nur Sinn, wenn angenommen wird, dass die Definientia (also »die Bedingungen«) erfüllt oder zumindest erfüllbar sind. Also nimmt die Gettier-Definition an, dass Definiens/Bedingung (1), dass p wahr ist, erfüllt ist oder sein kann. Aber die Erfüllung impliziert, dass die Wahrheit von p ausgesagt oder artikuliert wird. Wenn dem so ist, so ist klar, dass die Wahrheit von p als schon erfasst vorausgesetzt sein muss, damit überhaupt von der Erfüllung der Bedingung (1) gesprochen werden kann. Was heißt aber diese Erfassung der Wahrheit von p anderes, als dass die Wahrheit von p als schon erkannt vorausgesetzt sein muss, damit die Bedingung (1) als erfüllt gelten kann? Die Definition stellt mithin einen perfekten Zirkel dar: Sie setzt voraus, was zu zeigen ist. Ein zusätzliches Argument gegen diese Definition weist auf einen anderen Sachverhalt hin. Wenn laut Definiens/Bedingung (1) die Wahrheit von P schon erfasst sein muss, so verlieren die Bedingungen (2) und (3) von E/WGettier jeden Sinn; denn deren Sinn sollte darin bestehen, dass die Erlangung der Wahrheit von P gesichert wird. Aber wenn die Wahrheit von P schon feststeht und erfasst ist, ist die Frage nach einer Sicherung der Erlangung der Wahrheit von P vollständig überflüssig – und daher sinnlos. Damit ist der Wahrheitsstatus der vorgelegten Theorie über Erkenntnis/Wissen bestätigt und das Ziel der vierten Stufe der Methode erreicht. ET 3/16 – Könnten Sie den Unterschied zwischen Ihrer und Gettiers Definition in einer Art Kurzformel zusammenfassen?
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LBP 3/16 Die Haupteinsicht, die sich aus der struktural-systematischen Konzeption von Erkenntnis/Wissen ergibt, kann kurz so angegeben und zusammengefasst werden: Die einzige intelligible und kohärente Weise, den Begriff von Erkenntnis/Wissen zu klären, besteht darin, diesen Begriff auf der Basis eines essentiellen und expliziten Bezugs auf ein Subjekt, genauer: auf eine Einstellung und/oder Handlung eines Subjekts, zu definieren. Diese Einstellung/Handlung ist die eines bestimmten Glaubens oder einer bestimmten Überzeugung eines Subjekts. Daraus folgt, dass der Faktor Wahrheit, der ein integrierendes Element von Erkenntnis/Wissen ist, nicht aus der Sphäre oder aus dem Skopus der Einstellung/Handlung des Subjekts, d. h. seines Glaubens bzw. seiner Überzeugung, gelöst werden darf, was in Gettiers Definition geschieht. Vielmehr ist von Wahrheit nur immer im Skopus des Glaubens/der Überzeugung eines Subjekts die Rede. Mit anderen Worten: Der Glaube/die Überzeugung des Subjekts, dass P wahr ist, ist ein Glaube/eine Überzeugung erster Stufe (= Glaube1/Überzeugung1); diese(r) seinerseits/ihrerseits ist das Objekt oder liegt im Skopus eines Glaubens/einer Überzeugung zweiter Stufe des Subjekts (= Glaube2/ Überzeugung2). »Wahrheit« im Falle der Erkenntnis »besteht« nicht unabhängig von der Einstellung eines Subjekts, die Glaube/Überzeugung heißt; sondern »kommt vor« immer nur im Skopus dieser Einstellung eines Subjekts. ET 3/17 – Es scheint mir, dass wir jetzt über das nötige begriffliche Instrumentarium verfügen, das uns ein besseres Eindringen in Ihre Philosophie ermöglicht. Alles ist vorbereitet, aber wir haben noch nicht angefangen, dieses Instrumentarium effektiv zur Anwendung zu bringen. Natürlich ist es uns nicht möglich, die ganze Arbeit nachzuvollziehen, die Sie in Struktur und Sein auf allen Ebenen, die Sie unterscheiden und thematisieren, geleistet haben. Wir werden den kürzeren Weg einschlagen müssen, indem wir hauptsächlich den direkt metaphysischen Aspekten Ihres Denkens unsere besondere Aufmerksamkeit widmen werden. Ich denke an Themenstellungen, die wir bisher höchstens gestreift haben, wie diejenigen, die den Grund, die Wahrheit und Gott betreffen. Bevor wir die tiefsten Fragen, die im Zentrum Ihrer Philosophie stehen, angehen, ist es angebracht, dass Sie, wenn auch ganz allgemein und einfach, vielleicht mit Hilfe des einen oder anderen Beispiels, erklären, wie Sie die »semantischen« und »ontologischen« Strukturen, die 86 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Sie im vorhergehenden Kapitel erwähnt haben, genau verstehen und welchen Stellenwert Sie ihnen in Ihrer Gesamtkonzeption zuschreiben. Jeder kennt beispielsweise J. Maritains Konzeption über die drei Stufen der Abstraktion: Es handelt sich um die physische, die mathematische und die ontologische oder metaphysische Abstraktion, die er in seinem Buch Die Stufen des Wissens 21 dargelegt hat. Man würde gern wissen, ob irgendein positives Verhältnis zwischen dieser Theorie und Ihrer struktural-systematischen Philosophie besteht. Man kann vermuten, dass genau in diesem Punkt der Schlüssel zum Eindringen in Ihre Behandlung der größten und wichtigsten Fragen liegt. LBP 3/17 – Sie beziehen sich auf J. Maritains Verständnis und Darstellung der thomistischen Abstraktionslehre. Diese Lehre ist in der einen oder anderen Form weit verbreitet, aber sie ist auch sehr problematisch. Wie immer man sie näher verstehen mag, hat sie wenig bis nichts mit der struktural-systematischen Theorie der Strukturen zu tun. Das sei kurz erläutert. Die Abstraktionslehre ist grundsätzlich eine ontologische Theorie und erst in abgeleiteter Weise eine methodologische Theorie der Klassifikation von philosophischen Disziplinen. Die Theorie basiert auf einer These über das Verhältnis zwischen Materialität und Intelligibilität, nämlich der These von der indirekten oder umgekehrten Proportionalität zwischen diesen beiden Größen. Das heißt: Je materieller ein Seiendes ist, desto weniger intelligibel ist es, bzw. je intelligibler ein Seiendes ist, desto immaterieller ist es. Die Abstraktionslehre unterscheidet drei Ebenen oder Stufen dieses Verhältnisses; sie werden die drei »Abstraktionsstufen« genannt. Man geht von den materiellen Seienden (den sinnlichen Körpern) aus und begreift ihre spezifischen sinnlichen Qualitäten, und zwar so, dass man dabei eine erste Stufe der Abstraktion vollzieht: Man abstrahiert (nur) von den kontingenten und strikt individuellen Besonderheiten dieser materiellen Seienden. Das ist der Bereich derjenigen Wissenschaft, die seit Aristoteles die Physik genannt wird. Eine zweite Stufe der Abstraktion ist gegeben, wenn von allen sinnlichen Eigenschaften, mit Ausnahme nur der Quantität, abstrahiert wird. Das ist nach Aristoteles und der traditionellen Metaphysik der Bereich der Mathematik. Die dritte Stufe der Abstraktion ist dann erreicht, wenn alle Seienden unter völliger Abstraktion J. Maritain, Die Stufen des Wissens oder durch Unterscheiden zur Einung. Mainz: Grünewald Verlag, 1954.
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von jeder Materialität betrachtet werden. Es wird dann angenommen, dass dies bedeute, die Seienden würden nicht als sinnliche Seiende, nicht als quantitative Seiende, sondern als Seiende tout court oder simpliciter betrachtet: Das ist gemäß dieser Auffassung der Bereich der Metaphysik, die nach Aristoteles die Wissenschaft des Seienden als Seienden ist. Es würde hier zu weit führen, diese Konzeption einer ausführlichen kritischen Betrachtung zu unterziehen. Im Hinblick auf die hier zu behandelnde Thematik genügt es, darauf hinzuweisen, dass sie nur ein Teil einer ganzen philosophischen Konzeption ist. Von entscheidender Bedeutung ist es einzusehen, dass diese Konzeption sehr beschränkt ist, insofern sie nur zwei Bereiche der Realität thematisiert, dann aber eine große Aussage über alle Seienden macht. Man kann in Aristoteles’ Schrift Kategorienlehre die eigentliche inhaltliche Herausarbeitung der dritten Abstraktionsstufe, der metaphysischen Stufe, finden. Die Hauptkategorie, die Kategorie der Substanz, ist nicht beschränkt auf einen Bereich, sondern gilt in absolut allen Bereichen und wird dann, etwa bei Thomas von Aquin, sogar auf Gott angewandt. Die struktural-systematische Theorie der Strukturen ist völlig anders orientiert. Ganz allgemein kann man sagen, dass das, was in der (traditionellen) Abstraktionslehre – auf völlig unzureichende Weise – intendiert wird, in der struktural-systematischen Philosophie durch den zentralen Begriff des Theorierahmens systematisch geleistet wird. Wie aus schon früher Dargelegtem hervorgeht, werden die verschiedenen Wissenschaften dadurch voneinander unterschieden und dann klassifiziert, dass der jeder Wissenschaft zugrundeliegende Theorierahmen herausgearbeitet wird. Diese Zusammenhänge müssen nun im Einzelnen expliziert werden. ET 3/18 – Auf welche Weise kommen Sie dazu, die Doktrin der Abstraktionsstufen zu kritisieren und zu überwinden, und zwar durch den Gedanken des Theorierahmens? LBP 3/18 – Indem ich im Einzelnen erkläre, was ein Theorierahmen ist. Es wurde schon gesagt, dass der Begriff der Struktur für die strukturalsystematische Philosophie absolut zentral ist. Die Strukturen bilden den Kern des Theorierahmens. Sie sind das Ergebnis der Thematisierung der drei wesentlichen Bestandteile, die einen Theorierahmen konstituieren: der Logik, der Sprache (Semantik) und des Bezugs zur »Realität« 88 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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(Ontologie und Seinstheorie). Der struktural-systematische Theorierahmen akzeptiert nicht nur, sondern radikalisiert in systematischer Hinsicht den linguistic turn. Die Sprache bildet den eigentlichen Mittelpunk dieses Theorierahmens, allerdings nicht die normale oder natürliche oder kolloquiale Sprache, sondern eine sorgfältig ausgearbeitete absolut transparente philosophische Sprache. Nun wird diese Sprache einerseits durch die Logik strukturiert und bildet andererseits eine unzertrennliche Verbindung mit der Ontologie (und Seinstheorie), so dass gesagt werden kann: Semantik (der philosophischen Sprache) und Ontologie (und Seinstheorie) sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Es ergibt sich daraus, dass es drei Arten von fundamentalen Strukturen gibt: die formalen (logischen und mathematischen) Strukturen, die semantischen Strukturen und die ontologischen Strukturen. Meiner Auffassung nach unterscheiden sich Logik und Mathematik nicht grundsätzlich, das heißt genauer: Sie sind zwei Subdisziplinen oder Teile einer einzigen einheitlichen umfassenden formalen Wissenschaft. Die logischen/mathematischen Strukturen sind die allgemeinsten Strukturen überhaupt: Sie strukturieren jeden theoretischen Satz und damit auch jede durch diesen Satz ausgedrückte Proposition. Aber sie haben auch einen klaren ontologischen und seinstheoretischen Bezug: Sie strukturieren nämlich auch die Sachen selbst, welche die ontologische »Seite« der durch die theoretischen Sätze ausgedrückten Propositionen sind. (Diese Zusammenhänge sind noch zu erklären.) Wie der ontologische Bezug der formalen Strukturen genau zu verstehen ist, ist eine in der analytischen Philosophie der Gegenwart vieldiskutierte Frage. Um hier klar zu sehen, muss man eine Unterscheidung einführen, die wohlbekannt ist, obwohl sie kaum adäquat verstanden wird: Das ist die Unterscheidung zwischen Formalität und Allgemeinheit. Dass die logischen/mathematischen Strukturen formale Strukturen sind, scheint selbstverständlich zu sein. Formalität wird aber heute fast ausschließlich negativ gedeutet, insofern gesagt wird, dass die formalen Strukturen nichts Inhaltliches »besagen«, dass sie keinen Inhalt haben. Das ist aber eine einseitige und völlig inadäquate Auffassung. »Strukturen« »besagen« nichts, bezeichnen nichts, drücken nichts aus, das heißt: sie sind keine sprachlichen Entitäten; vielmehr sind sie Entitäten sui generis. Das sei kurz erläutert. Die kritisierte Auffassung übersieht eine wesentliche Unterscheidung, nämlich die Unterscheidung zwischen Satz und dem Expressum des Satzes. Formale logische/ mathematische Strukturen sind das Expressum logischer/mathemati89 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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scher Sätze. Jedes Expressum ist ein Inhalt sui generis; in diesem Fall handelt es sich um einen formalen, nicht um einen »konkreten« Inhalt (welcher Art auch immer). Solche formalen Inhalte sind beispielsweise: Negation, Konjunktion, Äquivalenz, alle Junktoren etc. Die andere Charakteristik der logischen/mathematischen Strukturen ist deren Allgemeinheit. Diese muss als absolut uneingeschränkt verstanden werden, da diese formalen Strukturen nicht auf etwas Beschränktes – welcher Art auch immer – reduziert werden können. Sie sind koextensiv mit der »Realität«, wie immer man »Realität« näher bezeichnen mag: als Welt oder Sein im Ganzen. Oft werden diese Strukturen als »abstrakt« bezeichnet; das ist richtig, wenn Abstraktheit in diesem Fall im Zusammenhang mit Allgemeinheit begriffen wird: Indem sie uneingeschränkt sind, abstrahieren die logischen/mathematischen Strukturen, wenn sie als solche genommen werden, von jeder Partikularität. Das schließt in keiner Weise aus, dass sie auf partikuläre Gebiete Anwendung finden können. Die Frage, wie sich Formalität und Allgemeinheit zueinander verhalten, ist ebenfalls eine vieldiskutierte Frage. Meistens werden sie so interpretiert, dass entweder Formalität oder Allgemeinheit als die eigentliche Charakteristik der logischen/mathematischen Strukturen betrachtet wird. Es ist zumindest schwer, wenn nicht gerade unmöglich, zu sehen, wie auf der Basis nur der Formalität den logischen/mathematischen Strukturen ein ontologischer Bezug zugeschrieben werden kann. Auf der Basis der Allgemeinheit hingegen ist der ontologische Bezug zumindest sehr naheliegend und wird auch explizit vertreten. Berühmt ist eine Äußerung B. Russells, der diese These in aller Ausdrücklichkeit vertritt: »Ich behaupte, dass die Logik ebenso wenig ein Einhorn annehmen darf, wie die Zoologie; denn die Logik, nicht anders als die Zoologie, hat es eindeutig mit der realen Welt zu tun, wenngleich hinsichtlich ihrer abstrakteren und allgemeineren Strukturen [features].« 22
Auch W. V. Quine, einer der berühmtesten analytischen Philosophen, schreibt: B. Russell, Introduction to Mathematical Philosophy. London: Allan and Unwin, 1919, 169. Der englische Text lautet: »Logic, I should maintain, must no more admit a unicorn than zoology can; for logic is concerned with the real world just as truly as zoology, though with its more abstract and general features.«
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»[D]ie Vereinfachung und Klärung der logischen Theorie, zu der eine kanonische logische Schreibweise beiträgt, ist nicht nur algorithmischer, sondern auch begrifflicher Art. […] Das Streben nach dem einfachsten, klarsten Gesamtmuster kanonischer Schreibweise und das Streben nach fundamentalen Kategorien – nach einer Darstellung der allgemeinsten Züge der Wirklichkeit – sind nicht zu unterscheiden. Man wende nicht ein, solche Konstruktionen seien Sache der Konvention und nicht Diktate der Wirklichkeit – denn ließe sich dasselbe nicht von der Physik sagen? Es gehört freilich zum Wesen der Realität, dass uns die eine physikalische Theorie weiter hilft als die andere – aber das gleiche gilt auch für kanonische Schreibweisen.« 23
Die logischen/mathematischen fundamentalen Strukturen sind gerade diese »allgemeinsten Züge der Wirklichkeit«. Mit anderen Worten, diese Strukturen sind die allgemeinste ontologische (und seinstheoretische) Dimension. Zwei ganz verschiedene Einwände können gegen diese Auffassung erhoben werden. Erstens kann gesagt werden, dass es in der formalen Logik nicht um Strukturen, sondern um Regeln, um Normen für das richtige Argumentieren geht; die Logik sei ja eine normative Disziplin. Dazu ist aber zu sagen, dass logische Regeln oder Normen die Ebene der Strukturen voraussetzt; sie basieren auf Strukturen und sind die »pragmatischen Derivate« der logischen Strukturen. Zweitens kann man einwenden, dass die logischen Strukturen nicht zur ontologischen Dimension gehören, da sie nur die sprachlich artikulierten theoretischen Diskurse strukturieren. Darauf ist zu erwidern, dass dieser Einwand auf einer einseitigen und falschen Trennung von »theoretischem Diskurs« und »Realität oder ontologischer Ebene« basiert. Der theoretische Diskurs artikuliert gerade das, was »die Sachen, also die ontologischen Elemente« sind. Wenn der theoretische Diskurs dabei logische Strukturen ins Werk setzt, können diese nicht als abseits der ontologischen
W. V. Quine, Wort und Gegenstand. Stuttgart: Reclam, 1980, § 33, 281–282 (Übersetzung teilweise modifiziert; Hervorhebung nicht im Original). Englischer Text: »[T]he simplification and clarification of logical theory to which a canonical notation contributes is not only algorithmic, it is also conceptual. […] The quest of a simplest, clearest overall pattern of canonical notation is not to be distinguished from a quest of ultimate categories, a limning of the most general traits of reality. Nor let it be retorted that such constructions are conventional affairs not dictated by reality; for may not the same be said of a physical theory? True, such is the nature of reality that one physical theory will get us around better than another; but similarly for canonical notations.« (Hervorhebung nicht im Original)
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Ebene stehend aufgefasst werden. Diese These setzt allerdings eine ganz bestimmte semantische und ontologische Theorie voraus; diese wird im Folgenden kurz darzustellen sein. ET 3/19 – Sie haben ausführlich über die formalen, d. h. die logischen und mathematischen, Strukturen gesprochen. Wie fassen Sie die anderen Strukturen auf? LBP 3/19 – Die struktural-systematische Erklärung der beiden anderen Arten von fundamentalen Strukturen, der semantischen und ontologischen, basiert auf drei Einsichten oder Thesen. Die erste lautet: Die Sprache ist absolut zentral für die Philosophie; sie ist unumgänglicher Ausgangs- und Bezugspunkt für die ganze philosophische Darstellung. Eine der wichtigsten Konsequenzen daraus ist, dass der Bezug zur Wirklichkeit nur sprachlich erfolgt; eine weitere Konsequenz ist, dass die Strukturen der Wirklichkeit und die Strukturen der Sprache eine grundsätzliche Konformität haben (müssen). Diese Einsicht wird durch die These »Semantik und Ontologie sind zwei Seiten ein und derselben Medaille« artikuliert. Die zweite Einsicht oder These besagt, dass die zentrale sprachliche Einheit nicht das Wort, sondern der Satz ist. Das ist die These vom semantischen Primat des Satzes. Die struktural-systematische Philosophie versteht und entwickelt diese These völlig anders als alle analytischen Autoren (wie etwa Quine, Davidson u. a.), die vorgeben, diese These vom semantischen Primat des Satzes zu vertreten, wie das noch im Einzelnen zu zeigen sein wird. Die dritte These/Einsicht ist von unmittelbarer und grundlegender Bedeutung für die Antwort auf Ihre Frage. Die These besagt, dass alle »Elemente«, aus denen die drei Hauptbestandteile des Theorierahmens (Logik, Sprache [Semantik], Ontologie) bestehen, auf Strukturen reduziert werden können bzw. müssen. Das bedeutet also, dass alle logischen Regeln, wie oben gezeigt, als pragmatische Derivate logischer Strukturen zu deuten sind; ferner werden alle jene Elemente, die den »theoretischen Apparat« ausmachen, wie »Bedeutung«, »Begriff«, »Sinn«, »Kategorie«, »semantischer Wert«, »Proposition«, »Sachverhalt« u. ä. ebenfalls als Strukturen erklärt; schließlich werden auch alle ontologischen Elemente, wie »Objekt (Gegenstand)«, »Eigenschaft«, »Relation«, »Tatsache«, »Prozess«, »Ereignis« u. ä., ebenfalls auf Strukturen reduziert. Diese Thesen werden im Buch Struktur und Sein ausführlich 92 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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erläutert und begründet. Hier kann dazu nur etwas Allgemeines gesagt werden. Die struktural-systematische Philosophie geht von zwei Grundannahmen aus. Erstens: Die Sprache, die für die Philosophie und die Wissenschaft(en) eine schlechterdings zentrale Bedeutung hat, kann nur eine Sprache sein, deren Semantik einen realistischen Charakter hat; dabei ist zu beachten, dass das Wort ›Realismus/realistisch‹, wie es heute verwendet wird, außerordentlich äquivok ist: Es kann mehrere und ganz verschiedene Bedeutungen haben. Hier wird das Wort in folgendem schlichten Sinn verstanden: Die Semantik einer Sprache ist dann realistisch, wenn die (deklarativen oder theoretischen) Sätze dieser Sprache einen Bezug zur Realität, zur Wirklichkeit artikulieren, wie immer man »Realität/Wirklichkeit« verstehen mag. Damit sind alle Auffassungen über Sprache ausgeschlossen, die besonders rein pragmatisch orientiert sind (wie z. B. die Wittgenstein zugeschriebene Auffassung, der zufolge »meaning is use«). Zweitens: Auf der Basis der These vom Primat des Satzes ist die für die Philosophie und die Wissenschaften relevante Sprache (hinsichtlich ihres deklarativen Teils) als die Gesamtheit der Sätze aufzufassen. Betrachtet man nun die normale (natürliche oder kolloquiale) Sprache, so wird deutlich, dass (fast) sämtliche Sätze dieser Sprache die Subjekt-Prädikat-Struktur haben (wie z. B. der Satz: »Sokrates ist ein Philosoph«). Die eigentliche (natürliche) Semantik dieser Sprache kann die kompositionale Semantik genannt werden, d. h. die Semantik, die auf dem Kompositionalitätsprinzip basiert. Eine ganz einfache Formulierung dieses Prinzips im Hinblick auf den Satz lautet: »Die Bedeutung (oder der semantische Wert) des Satzes ist eine Funktion der Bedeutungen (oder der semantischen Werte) seiner subsententialen Komponenten.« Gemäß dieser Semantik hat das Subjekt (der Name oder der singuläre Term) ein Denotat, das im Allgemeinen »Objekt« genannt wird, während das Prädikat eine Bezeichnung hat, wobei es in der analytischen Philosophie zwei ganz verschiedene Interpretationen dieser Bezeichnung gibt. Gemäß der »intensionalen« Interpretation, bezeichnet das Prädikat eine Entität, genannt Eigenschaft (bzw. Relation); gemäß der »extensionalen« Interpretation designiert das einstellige Prädikat nur die Menge der Objekte (bei mehrstelligen Prädikaten [Relationen]: die Menge der Tupel von Objekten), auf die es Anwendung findet. Gemäß der intensionalen Interpretation des Prädikats wird anschließend die Komposition der beiden semantischen Werte (oder Bedeutungen), 93 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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d. h. des Namens oder singulären Terms und des Prädikats (der Relation) als die Entität verstanden, die dann Proposition oder Sachverhalt genannt wird. Auf der Basis der schon formulierten These, der zufolge Semantik und Ontologie zwei Seiten ein und derselben Medaille sind, muss nun gesagt werden, dass diese kompositionale Semantik eine ganz bestimmte, ihr »konforme« Ontologie impliziert: Man kann sie Substanzontologie nennen. Das in diesem Zusammenhang in der analytischen Philosophie exzessiv verwendete Wort ›Objekt‹ ist in letzter Analyse das, was seit Aristoteles »Substanz« genannt wurde und wird. Das muss allerdings präzisiert werden. Das Wort ›Objekt‹ denotiert immer jene Entität, von der (in intensionaler Hinsicht) eine Eigenschaft oder Relation prädiziert wird: »Objekt« wird also immer als zugrundeliegende Entität für Prädikationen vorausgesetzt. (Ähnliches gilt für die extensionale Interpretation des Prädikats.) Aber die Prädikation kann verschiedene Grade haben, je nachdem, ob das Objekt, von dem eine Eigenschaft/Relation prädiziert wird, wieder von einem »tieferliegenden« Objekt prädiziert wird bzw. werden kann oder nicht. Wenn das Objekt, von dem eine Eigenschaft oder Relation prädiziert wird, die allerletzte Basis darstellt, die selbst nicht von irgendetwas Weiterem prädizierbar ist, dann kann und muss dieses Objekt als Substanz im eigentlichen Sinne verstanden werden. Die struktural-systematische Philosophie vertritt nun – gegen beinahe die ganze metaphysische Tradition – die konsequenzenreiche These, dass die Substanzontologie nicht akzeptiert werden kann. Die grundlegende Entität Substanz ist nicht intelligibel und deren Annahme ist inkohärent. Der Beweis für diese große These wurde ausführlich im Buch Struktur und Sein geführt. 24 ET 3/20 – Es ist natürlich unmöglich, in unserem Dialog fortzufahren, ohne auf die immense Tragweite Ihrer letzten These einzugehen. Da sie von Ihnen, einem so guten Kenner, nicht nur der Fregeschen, sondern auch der aristotelisch-thomistischen und hegelschen Tradition, aufgestellt wird, erfordert diese These eine unmittelbare Erklärung, eine solche, die nicht nur darin bestehen kann, dass Sie auf die einschlägigen Ausführungen in Ihrem Buch Struktur und Sein verweisen. Es ist daher wichtig, dass Sie diesen Punkt genau klarstellen, und zwar nicht so sehr 24
Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 3.2.2.3, S. 249–267.
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auf der Basis der in Ihrem Buch streng befolgten präzisen und rigorosen analytischen Vorgehensweise, sondern mittels einer gewöhnlichen und allgemein verständlichen Begrifflichkeit, wie sie in der klassischen Tradition verwendet wird. Erst auf diese Weise werden unsere Leser in Ihr intendiertes Denken tief eindringen können. Wie würden Sie also einer Leserschaft, die weder Frege noch die analytische Philosophie kennt, zeigen, dass die Ontologie der Substanz einen philosophischen Irrtum darstellt? Ich bitte um Nachsicht für meine Aufforderung, dass Sie den strengen Weg Ihrer analytischen Demonstration für eine Weile verlassen. Ein temporäres Verweilen im allgemein üblichen Vokabular der Philosophie erscheint erforderlich, wenn man will, dass alle unsere Leser Ihnen folgen. LBP 3/20 – Zuerst ein Wort zu Frege und Hegel, Autoren, zu welchen Sie mich in Verbindung bringen. Meine Konzeption von Semantik und Ontologie hat mit Frege nur das gemeinsam: Die Sprache steht im Mittelpunkt aller philosophischen Betrachtungen. Aber innerhalb dieses ganz allgemeinen Rahmens unterscheidet sich meine Position von der seinigen grundlegend. Frege orientiert sich ausschließlich an einer Sprache, deren Grundstruktur die der natürlichen Sprache ist: Das ist eine Sprache, deren Sätze die Subjekt-Prädikat-Struktur haben. Frege versucht zwar, die Vagheit dieser Sprache zu überwinden, aber er behält die Grundstruktur Subjekt-Prädikat bei. Ich lehne das ab. Aus »seiner« Sprache gewinnt Frege eine ganz eigenartige Semantik und Ontologie, die sich total von der meinigen unterscheidet. Um das hier nur anzudeuten (mehr ist hier nicht möglich): Seine Ontologie besteht aus Funktionen und Objekten; die Objekte, weiter expliziert, sind dann letzten Endes als Substanzen zu verstehen, wie oben erläutert wurde. Der Sinn der (deklarativen) Sätze ist nach Frege zwar ein Gedanke, d. h. das, was heute Proposition oder Sachverhalt genannt wird; aber die Referenz (in Freges Terminologie: »die Bedeutung«) von Sätzen sind wieder Objekte, wenn auch solche einer speziellen Art, nämlich: das Wahre bzw. das Falsche. Diese Konzeption hat mit der struktural-systematischen Konzeption kaum etwas gemeinsam. Was Hegel anbelangt, muss man grundsätzlich sagen, dass Hegels Denken überhaupt nicht an der Sprache orientiert ist. »Substanz« ist bei ihm eine Denkbestimmung, die ihren systematischen Ort in der »Logik des Wesens« hat. Ihm zufolge sind die zu dieser Sphäre gehörenden Denkbestimmungen nicht die adäquaten; sie müssen nach Hegel durch 95 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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adäquatere (Hegel sagt sogar: »wahrere« 25) Denkbestimmungen »aufgehoben« werden. Das zeigt, dass Hegel keine »Ontologie der Substanz« vertreten hat. Sie schreiben mir die Behauptung zu, »dass die Ontologie der Substanz einen philosophischen Irrtum darstellt«. Das ist nicht ganz richtig. Meine ganze Konzeption über Theorierahmen und meine Theorie der Wahrheit schließen die Anwendung des Begriffs »Irrtum« in diesem Fall aus. »Substanz« ist eine ontologische Kategorie im Zentrum eines seit Aristoteles dominierenden Theorierahmens. Nur innerhalb eines Theorierahmens kann man sinnvollerweise von »Irrtümern« reden. Im Falle verschiedener und miteinander konkurrierender Theorierahmen kann man sinnvollerweise von größerer bzw. kleinerer Intelligibilität und in gewisser Hinsicht auch von größerer bzw. kleinerer Kohärenz, nicht aber von »Irrtum/Irrtümern« im strengen Sinne sprechen. Der Substanz-Theorierahmen stellt keinen Irrtum dar, sondern er ist dem struktural-systematischen Theorierahmen weit unterlegen, weil er weit weniger intelligibel und weit weniger kohärent ist. Ihre Frage sollte also lauten: Warum behaupte ich, dass die Substanzontologie weniger intelligibel und weniger kohärent, d. h. von minderer Qualität ist? Um das zu zeigen, präsentiere ich insbesondere zwei Argumente. Das erste Argument basiert auf dem Gesichtspunkt der Intelligibilität. Er besagt: »Substanz« ist keine intelligible Entität. Warum? Substanz ist eine duale Kategorie, d. h. hier: von ihr kann man nur sprechen im Zusammenhang mit den Bestimmungen, die von ihr prädiziert werden: Das sind die Eigenschaften bzw. Relationen. Daher ist die Prädikatenlogik erster Stufe das adäquate logische Instrumentarium, um ganz exakt über Substanz und Eigenschaften/Relationen zu sprechen. Man hat eine Entität und von dieser Entität prädiziert man Eigenschaften/Relationen. Beispiel: »Cäsar wurde ermordet«. Formalisiert heißt das: Fa, wobei a = Cäsar, F = wurde ermordet. Was ist aber diese »Entität«, im In einer Rezension einer Schrift eines anonymen Verfassers mit dem Titel Über die Hegelsche Lehre oder: absolutes Wissen und moderner Pantheismus (Leipzig: Kollmann Verlag, 1829) schreibt Hegel: »Der Verfasser [der Schrift] lässt sich auf seine Weise mit dem Begriffe des Substantialitätsverhältnisses ein, wie dasselbe in der Logik, und zwar in deren zweiten Teil, dem Wesen, abgehandelt ist; im dritten Teil der Logik, welche von dem Begriffe und der Idee handelt, sind wahrere Formen an die Stelle der Kategorien von Substanz, Kausalität, Wechselwirkung, die daselbst kein Gelten mehr haben, getreten.« (G. W. F. Hegel, Berliner Schriften 1818–1831, hrsg. von J. Hoffmeister. Hamburg: Meiner Verlag, 1956, 351) (Hervorhebungen nicht im Original).
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Beispiel: »Cäsar« bzw. der Wert von »a«? Man führe nun ein Gedankenexperiment durch: Man denke hinsichtlich von a = Cäsar alle (realen und möglichen) Bestimmungen weg. Was bleibt dann aus a = Cäsar übrig? Es bleibt eine völlig bestimmungslose, völlig indeterminierte »Entität« übrig. Aber wie kann dann etwas von ihr prädiziert werden? Eine solche »Entität« ist nicht intelligibel. Nicht-intelligible Entitäten sollte man in der Philosophie nicht annehmen. Das andere Argument stützt sich auf das Kriterium der Kohärenz: Wenn man die Kategorie der Substanz annimmt, so verfällt man einer Inkohärenz, mit der Konsequenz, dass man nichts erklärt. Das lässt sich so zeigen. Es wird angenommen, dass die »Substanz« jener ontologische Faktor ist, der die Identität eines Seienden durch alle Mutationen, Entwicklungen u. ä. »gewährleistet« oder »garantiert«. Beispiel: ein konkreter Mensch, so sagt man, ist er selbst und derselbe (der identische) Mensch von seiner Geburt an durch alle Phasen seines Lebens hindurch bis zu seinem Tod. Man argumentiert weiter so: Ohne einen stabilen, immer identisch bleibenden Faktor, wäre die Identität des Individuums über die Zeit hinweg nicht zu begreifen; dieser Faktor sei eben die Substanz, die allen Eigenschaften/Relationen, damit allen Mutationen, Entwicklungen usw. zugrunde liege und immer dieselbe, die identische Entität im strengsten Sinne bleibe. Auf den ersten Blick scheint dieses Argument stichhaltig und daher unwiderlegbar zu sein. Es ist es aber keineswegs, ganz im Gegenteil. Dieses Argument ist inkohärent, indem es eine Konsequenz hat, die absolut inakzeptabel ist. Das lässt sich leicht zeigen. Zur vollen Realität eines Individuums gehört alles, was mit ihm und zu ihm passiert, kurz: seine ganze Geschichte, voll mit kleinen und großen Ereignissen. Die Frage drängt sich jetzt auf: Wie beziehen sich alle diese Ereignisse seiner Geschichte zu ihm als Individuum? Es handelt sich um seine, ihm eigene Geschichte. Wenn angenommen wird, dass der Substanzbegriff der das Individuum definierende Faktor ist, dann folgt daraus, dass die Geschichte des Individuums die Geschichte der es konstituierenden Substanz ist: Alles, was in dieser Geschichte passiert, betrifft im strengsten Sinn die Substanz, die das Individuum ist. Aber »betreffen« besagt eine Bestimmung und damit eine Modifikation der oder in der Substanz; das bedeutet, dass die Substanz aufgrund des Werdens oder der Entwicklung keineswegs dieselbe Entität bleibt; bliebe sie identisch, absolut unverändert, »untouched«, so wäre die Geschichte des Individuums nicht die-Geschichte-des-Indivi97 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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duums. Das kann aber nicht angenommen werden, weil es absurd wäre, den Menschen in dieser Weise von seiner eigenen Geschichte abtrennen zu wollen; ein solcher Mensch wäre nicht der reale Mensch. Seit Aristoteles und in der ganzen Geschichte der Philosophie wird das Kategorienpaar Substanz-Akzidens gebraucht, als ob es sich um ein selbstevidentes und unproblematisches Denk- und Ontologieschema handelte. Demnach ist die Substanz das identisch Bleibende und die Akzidenzien das Veränderliche. Die Implikationen des »Verhältnisses« zwischen Substanz und Akzidenzien hat man nie herausgearbeitet und geklärt. Wollte man sagen, dass die »Substanz selbst« sich ändert, was für eine Entität wäre sie dann? Was wäre ihre Identität? Dieses Denkund Ontologieschema Substanz–Akzidens ist überhaupt nicht geeignet, die Realität von Individuen wie den Menschen zu erfassen und zu artikulieren. Es erstaunt sehr, dass die tiefe Inkohärenz, die diesem Denkschema anhaftet, kaum gesehen wurde und wird. ET 3/21 – Auch wenn man den von Ihnen vorgelegten Erläuterungen und Begründungen nicht beipflichtet, besonders aus dem Grund, weil die Beziehung Substanz-Akzidens gerade im Hinblick auf eine Klärung des Verhältnisses von Individuum und Zeit eingeführt wurde, muss man dennoch sagen, dass Sie eine sehr klare Darstellung Ihrer Position präsentieren. Sie basiert nicht einfach, wie bei Benveniste 26, auf einer Kritik der aristotelischen Kategorien; auch lässt sie sich nicht mit Derridas Einstellung in Verbindung bringen, die das ganze Register der im Herzen des Verhältnisses zwischen Zeichen und Sinn verborgenen Präsenz in Frage stellt. Ihre Position wird auf der Basis der, wie Sie sie nennen und verstehen, transparenten philosophischen Sprache entwickelt. In dieser Sprache und in deren Semantik finden Sie eine Ontologie, und zwar eine Ontologie ohne Substanz. Viele Fragen tauchen hier auf, die darauf zurückzuführen sind, dass sich unsere gewöhnlichen Vorstellungen als völlig untauglich herausstellen. Sie vertreten einen Strukturalismus, aber einen solchen ganz neuer Art, und eine Philosophie, die sich als streng systematisch orientiert versteht, die aber den Charakter einer grundsätzlichen Offenheit beibehält.
26 E. Benvéniste, « Catégories de pensée et catégories de langue » (1958), in Problèmes de linguistique générale, Paris, Gallirmard, 53–74.
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Unsere Perplexität ist vielleicht noch größer als am Anfang unseres Dialogs, umso mehr, Sie ahnen es schon, als man nicht ohne Weiteres bereit ist, die Ontologie der Substanz aufzugeben. Viele Widerstände sind zu erwarten, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob man die Substanz einfach verwerfen oder sie nur neu definieren sollte. Aber man muss Ihnen die Möglichkeit geben, dass Sie vor allem Ihre Demonstration zu Ende führen, um sicher zu sein, dass man Sie gut verstanden hat. Welche Konsequenz ziehen Sie aus dem, was Sie soeben ausgeführt haben? LBP 3/21 – Man muss das Paradigma (oder, wie ich zu sagen vorziehe, den Theorierahmen) der Substanz aufgeben. Dafür braucht man Gründe wie die beiden oben dargestellten. Die Ontologie der Substanz ist eine in der normalen Sprache und in den Denkgewohnheiten der westlichen Menschen, Philosophen und Nicht-Philosophen, seit weit über zweitausend Jahren, fest verankerte Vorstellung – und von daher ist es verständlich, dass es einen starken Widerstand gibt, diese Vorstellung fallen zu lassen. Aber ein echter Philosoph sollte sich nicht an Vorstellungen, sondern an den strengen Kriterien der Intelligibilität und der Kohärenz orientieren. Sie fragen, ob man nicht vielleicht die Substanz nur umdefinieren könnte oder müsste. Das ist eine gute Frage. Hier muss man aber Folgendes beachten. Hinsichtlich des Wortes ›Substanz‹ muss man eine entscheidende Unterscheidung machen, und zwar zwischen dem (weitverbreiteten) Gebrauch dieses Wortes in der normalen oder Umgangssprache, einerseits, und der im strengen Sinne philosophischen Verwendung des Wortes, andererseits. Oft (nicht immer) wird »Substanz« in der normalen oder Umgangssprache einfach als Synonym von »Individuum, Einzelding«, besonders im Falle von Menschen und Lebewesen, gebraucht. In dieser Hinsicht bestünde die philosophische Aufgabe darin, entweder die umgangssprachliche Bedeutung des Wortes zu übernehmen oder diese Bedeutung neu zu definieren. Was den streng philosophischen Gebrauch in der Philosophiegeschichte angeht, so wurden mit dem Wort ›Substanz‹ verschiedene Charakterisierungen assoziiert; so bestimmt z. B. Descartes die Substanz als dasjenige, was als Existierendes von nichts anderem abhängig ist [ita existit ut nulla alia re indigeat ad existendum 27] und Kant als »die Beharrlichkeit des Realen in 27 R. Descartes, Principia philosophiae I (1644/47), Hrsg. von Ch. Adam/P. Tannery, Band 8, Teil 1, 24.
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der Zeit, d. i. die Vorstellung desselben, als eines Substratum der empirischen Zeitbestimmung überhaupt, welches also bleibt, indem alles andre wechselt« 28. Aber es ist leicht zu zeigen, dass alle diese verschiedenen Charakterisierungen grundsätzlich auf dem Denk- und Ontologieschema Substanz(=Substratum)-Bestimmungen basieren. Eine bedeutende Ausnahme dürfte Leibniz bilden, der das Wort ›Substanz‹ verwendet, mit diesem Wort aber eine Bedeutung verbindet, die nicht mehr das genannte Schema voraussetzt. Darauf wird später einzugehen sein. Ich halte es für besser, eine Konzeption zu entwickeln, für deren Bezeichnung das Wort ›Substanz‹ nicht mehr verwendet wird, andernfalls entsteht eine schwer überwindbare Konfusion. ET 3/22 – Bedeutet die Aufgabe des Terms bzw. der Kategorie »Substanz«, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dass man gleichzeitig eine ganz bestimmte Philosophie der Sprache aufgibt, nämlich diejenige, die eine »kompositionale Semantik« vertritt? LBP 3/22 – Man muss in der Tat kohärenterweise sagen: Da die nicht akzeptierbare Substanzontologie das Implikat der kompositionalen Semantik ist, da diese Semantik die eigentliche (natürliche) Semantik der natürlichen Sprache ist und da diese aus Subjekt-Prädikat-Sätzen besteht, so folgt aus dem bisher Aufgezeigten, dass die kompositionale Semantik und damit auch die Sprache als Gesamt von Subjekt-Prädikat-Sätzen aufzugeben sind. Eine völlig neue Konzeption von Sprache muss entwickelt werden. Was ist die Alternative? Zunächst muss man feststellen, dass es eine andere Semantik gibt, die oft die kontextuale Semantik genannt wird. Sie basiert auf einem Prinzip, das Frege formuliert und das sein Interpret Michael Dummett »Kontextprinzip« genannt hat. Dieses Prinzip hat eine – allerdings nur in gewisser Hinsicht – umwälzende Bedeutung gehabt und hat sie immer noch. Oft wird es das Prinzip oder die These vom Primat des Satzes genannt. In einer der Formulierungen, die in Freges Schriften zu finden sind, lautet es: »Nur im Zusammenhang eines Satzes bedeuten die Wörter etwas.« 29 Aber es besteht kein Konsens über die richtige Interpretation des Prinzips bei Frege. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Akademieausgabe, Band III, 2. Auflage, B 183. G. Frege, Die Grundlagen der Arithmetik. Breslau: Koebner, 1884. Zit. nach der Centenarausgabe. Hamburg: Meiner 1986, § 62.
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Man muss zwei sehr verschiedene Versionen des Prinzips unterscheiden: eine schwache und eine starke. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass die schwache Version den Satz als Subjekt-Prädikat-Satz versteht, während die starke Version dies ablehnt. In einer bestimmten Hinsicht ist die schwache Version des Kontextprinzips mit dem Kompositionalitätsprinzip durchaus kompatibel. Anders als dieses Prinzip versteht die schwache Version des Kontextprinzips die Bedeutung oder den semantischen Wert eines Satzes nicht als eine Funktion der subsententialen Komponenten des Satzes; vielmehr wird die Bedeutung oder der semantische Wert des Satzes als der primäre und bestimmende Faktor verstanden, von welchem her die jeweilige spezifische Bedeutung oder der jeweilige spezifische semantische Wert der subsententialen Komponenten allererst bestimmt wird. In dieser Hinsicht, also hinsichtlich der Frage, ob die Priorität der semantischen Deutung den subsententialen Komponenten oder dem Satz als Ganzem zukommt, unterscheiden sich das Kompositionalitätsprinzip und die schwache Version des Kontextprinzips und sind damit miteinander inkompatibel. Aber in einer anderen ganz bestimmen Hinsicht sind das Kompositionalitätsprinzip und die schwache Version des Kontextprinzips durchaus miteinander kompatibel, insofern nämlich beide den jeweils spezifischen semantischen Wert jeder der beiden subsententialen Komponenten des Satzes (Subjekt bzw. Prädikat) annehmen, wenngleich sie diesen Wert auf unterschiedliche Weise deuten. ET 3/23 – Ist aber der Gegensatz von kompositionaler Semantik und jener kontextualen Semantik, die Ihnen zufolge auf einer schwachen Version des Kontextprinzips basiert, nicht schon seit langem dadurch gelöst, dass eine mittlere Position eingenommen wird, der zufolge ein Ausgleich der beiden Ansätze erreicht wird? Vom Standpunkt der Pädagogik der Lektüre gibt es seit langem niemand mehr, der auf einseitige Weise entweder die syllabische Methode oder die globale Methode verteidigt; hingegen werden semi-syllabische oder semi-globale Positionen vertreten. Warum sollte man dann auf einem unversöhnlichen Gegensatz zwischen beiden Semantiken beharren? LBP 3/23 – Wie ich schon sagte, gemäß einer »schwachen« Interpretation des Kontextprinzips, ist dieses Prinzip in einer Hinsicht kompatibel mit dem Kompositionalitätsprinzip. Das ist, wenn Sie so wollen, »eine mittlere Position, der zufolge ein Ausgleich der beiden Ansätze erreicht 101 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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wird«. Aber dadurch werden grundlegende Probleme weder gesehen und noch weniger gelöst, wie wir dies im weiteren Verlauf unserer Dialoge darstellen sollten. Im Übrigen muss ich darauf hinweisen, dass die kompositionale Semantik und die kontextuale Semantik kaum etwas mit »(semi-)syllabischer bzw. (semi-)globaler Methode« zu tun haben. Ein pädagogischer Gesichtspunkt spielt für die Philosophie keine bestimmende Rolle. Der philosophische Punkt, auf den es hier (wie überall sonst in der Philosophie) ankommt, ist der Gesichtspunkt der Intelligibilität und der Kohärenz. ET 3/24 – Wenden wir uns daher – »mit Furcht und Zittern« (Paulus, Brief an die Philipper 2:12) – der starken Version einer kontextualen Semantik zu. LBP 3/24 – Im absoluten Gegensatz zur schwachen Version des Kontextprinzips vertritt die struktural-systematische Philosophie eine starke Version des Kontextprinzips, der zufolge dieses Prinzip mit dem Kompositionalitätsprinzip in keiner Weise vereinbar ist. Aber das bedeutet dann, dass Sätze mit der Subjekt-Prädikat-Struktur nicht mehr für die Philosophie und die Wissenschaften angenommen werden. Nur Sätze ohne Subjekt und Prädikat kommen dann in Betracht, wie z. B. »Es regnet«, »es grünt«. Diese Sätze werden in der struktural-systematischen Philosophie Primsätze genannt. Im Lichte des oben Ausgeführten dürfte der Grund für diese große These auf der Hand liegen: Nur Sätze ohne die Subjekt-Prädikat-Struktur können kohärenterweise eine nicht-akzeptierbare Substanzontologie vermeiden. Dann aber ist das Kontextprinzip so etwas wie eine Selbstverständlichkeit, denn die Primsätze haben keine subsententialen Komponenten, die für sich eine eigene Bedeutung oder einen eigenen semantischen Wert beanspruchen könnten. Die von der struktural-systematischen Philosophie vertretene kontextuale Semantik hat einen realistischen Charakter, das heißt hier zunächst: Jeder Primsatz drückt etwas aus, hat einen Informationsgehalt. Dieses Expressum wird eine Primproposition genannt. Zu beachten ist, dass das sonst oft äquivok verwendete Wort ›Proposition‹ hier weder direkt noch indirekt mit »Satz« identifiziert werden darf. Satz ist eine sprachliche, (Prim)Proposition eine nicht-sprachliche Entität. Der Umstand, dass die hier verteidigte philosophische Sprache keine Sätze mit der Subjekt-Prädikat-Struktur anerkennt, muss präzisiert werden. Aus ihr folgt nicht, dass Sätze mit dieser syntaktischen Struk102 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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tur in der Philosophie nicht mehr verwendet werden können; das wäre schlechterdings impraktikabel. Aber das Entscheidende in der Philosophie ist nicht die Syntax, sondern die Semantik. In der hier angenommenen philosophischen Sprache werden die verwendeten Sätze mit der syntaktischen Subjekt-Prädikat-Struktur semantisch nicht auf der Basis des Kompositionalitätsprinzips, sondern der starken Version des Kontextprinzips (re)interpretiert. Subjekte bzw. Prädikate werden dann als Abbreviaturen (einer hohen Anzahl) von Primsätzen reinterpretiert. Man betrachte beispielsweise den Satz: »Sokrates ist ein Philosoph«. Der Name »Sokrates« wird dann reinterpretiert als eine Abbreviatur von Primsätzen der Form: »Es verhält sich griechisch«, »es verhält sich geboren 469 v. C.«, »es verhält sich Lehrer von Platon« … usw. usf. Das Prädikat »ist ein Philosoph« wird semantisch transformiert in den Primsatz »… es verhält sich Philosoph«. Die Transformation des ganzen Satzes ergibt dann einen hochkomplexen Primsatz, der die Menge der durch den Namen »Sokrates« abbreviierten Primsätze plus (zuzüglich) des durch das Prädikat »ist ein Philosoph« abbreviierten Primsatzes »es verhält sich Philosoph« artikuliert. Wenn diese Primsätze wahr sind, so heißt das, dass sie jeweils eine wahre hochkomplexe Primproposition ausdrücken; die Konjunktion aller dieser wahren Primsätze drückt die Konjunktion aller durch diese wahren Primsätze ausgedrückten wahren Primpositionen. Wie sind dann die wahren Primpositionen zu verstehen? Diese Frage leitet über zur Thematik der dritten Art der fundamentalen Strukturen: Das sind die ontologischen Strukturen. ET 3/25 – Alles, was Sie hier in einer analytischen Sprache sagen, scheint im Einklang mit der Ablehnung einer Substanzontologie zu stehen. Aber wodurch ersetzen Sie die Ontologie der Substanz? LBP 3/25 – Da Semantik und Ontologie zwei Seiten ein und derselben Medaille sind, folgt daraus, dass die Ontologie sich aus der kurz dargestellten kontextualen Semantik ergibt. Der zentrale Punkt wird im Rahmen der noch zu behandelnden semantisch-ontologischen Theorie der Wahrheit zu erklären sein. Hier genügt es, die zentrale Idee kurz darzustellen und zu erläutern. Es ist anzusetzen bei dem Punkt, der bei der Darstellung der semantischen Strukturen erreicht wurde: die wahre Primproposition. Was ist eine wahre Primproposition? Die etwas vereinfachende Antwort lautet: Eine wahre Primproposition ist einfach eine Primtatsache. 103 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Es ist hochinteressant, gleich zu bemerken, dass dieser Gedanke schon von Frege formuliert wurde, wobei er allerdings die Voraussetzungen, die Implikationen und die Tragweite dieses Gedankens weder eingesehen und noch weniger herausgearbeitet hat. In seinem berühmten Aufsatz Der Gedanke (1918) stellt er die Frage: »Was ist eine Tatsache?« und gibt darauf die lapidare Antwort: »Eine Tatsache ist ein Gedanke, der wahr ist.« 30 Unzweifelhaft ist das erste »ist« des zweiten Satzes als Identität zu verstehen: Tatsache = wahrer Gedanke; damit gilt auch umgekehrt: wahrer Gedanke = Tatsache. Nun versteht Frege »Gedanke« als den Sinn des Satzes und den Sinn des Satzes als das, was der Satz ausdrückt, als das Expressum des Satzes. Das heißt also: in der heute üblichen Terminologie wäre Freges These so zu formulieren: Eine wahre Proposition ist eine Tastsache. Und in der struktural-systematischen Terminologie lautet die These: Eine wahre Primproposition ist eine Primtatsache. Primtatsache ist die einzige Art von Entität (in der traditionellen Terminologie wäre zu sagen: die einzige Kategorie), welche die struktural-systematische Philosophie anerkennt. Das muss jetzt noch etwas näher erläutert werden. Man muss zwischen einfachen Primtatsachen und komplexen Primtatsachen unterscheiden. Komplexe Primtatsachen bilden eine Konfiguration. Die sogenannten Dinge der Welt, besonders die menschlichen Individuen, sind Konfigurationen von Primtatsachen. Um das vorher behandelte Beispiel wieder aufzunehmen: Sokrates ist die Konfiguration aller Primtatsachen, die mit den wahren Primpropositionen identisch sind, welche durch die den Namen ›Sokrates‹ abbreviierenden Primsätze ausgedrückt werden. Ferner muss man eine ganze Reihe von verschiedenen Arten von Primtatsachen unterscheiden: statische und dynamische, prozesshafte, ereignishafte Primtatsachen; dann in einer anderen Hinsicht: physikalische, geistige, abstrakte, konkrete usw. Es gibt so viele Arten von Primtatsachen, wie es verschiedene Arten von Seienden gibt. ET 3/26 – Damit die Dinge auch einem Leser, der nicht ein fleißiger Anhänger der analytischen Philosophie ist, klar werden: Wie würden Sie ihm in schlichten Worten das erklären, was Sie eine Primtatsache nennen, und was ist neu und original in dieser Konzeption im Vergleich G. Frege, »Der Gedanke«, in: G. Frege, Logische Untersuchungen, hrsg. von G. Patzig. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2. Aufl. 1976, 50.
30
104 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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zur klassischen Philosophie? Einem solchen Leser kann das alles recht abstrakt erscheinen … LBP 3/26 – Ich denke, dass jeder Leser problemlos versteht, was eine Tatsache ist: Etwas, was durch einen Satz ausgedrückt wird, und in der Welt (in der Realität) ist oder besteht oder geschieht (oder im Vergangenheitsmodus: geschehen ist …). Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, zu zeigen, als was oder wie eine Tatsache genau zu verstehen ist. Das hängt entscheidend davon ab, was für eine Ontologie ein Philosoph vertritt. Wenn man etwa das ganz allgemeine Wort ›Entität‹ verwendet, um jedes »Element« der Welt (bzw. der Realität, des Seins im weitesten Sinne) zu bezeichnen, so ist philosophisch zu fragen, welche Art von Entität eine Tatsache ist. Die ganz traditionelle Ontologie und Metaphysik kannte (bzw. kennt) vor allem die folgenden Entitäten: Substanzen/Objekte, Eigenschaften/Relationen und Tatsachen. Besonders (nicht ausschließlich) in der heutigen analytischen Philosophie werden auch Prozesse, Ereignisse usw. als Entitäten anerkannt; dabei wird die Substanzontologie (meistens unter der grundlegenden Bezeichnung »Objekt«) entweder explizit beibehalten oder implizit vorausgesetzt. Näher betrachtet, ist eine Tatsache gemäß der traditionellen (und auch der analytischen) Konzeption jene Entität, die aus der Verbindung eines Objekts (bzw. einer Substanz) mit einer Eigenschaft/Relation resultiert. Designiert wird sie sprachlich durch den Satz bzw. die Formulierung (beispielsweise): »(Die Tatsache) dass Sokrates ein Philosoph ist«. Somit sind Tatsachen im Rahmen der traditionellen (und analytischen) Ontologie sekundäre oder derivative Entitäten. So konzipiert, haften ihnen all die Probleme dieser Substanz- bzw. Objektontologie an, die oben behandelt wurden. Wie diese Ontologie, so sind auch die so verstandenen Tatsachen nicht akzeptabel. Die struktural-systematische Konzeption unterscheidet sich radikal von der traditionellen Konzeption (und auch von der Konzeption des Mainstream der analytischen Philosophie). Entscheidend dabei ist die schlechterdings zentrale Stellung der Sprache, und zwar nicht der normalen (oder »lebensweltlichen«), sondern der transparenten philosophischen Sprache. Es ist nun wichtig, die »innere Logik« der neuen Konzeption zu verstehen. In aller Kürze: Wenn die Substanzontologie, bestehend aus Substanzen (und damit Objekten), Eigenschaften/Relationen und daraus zusammengesetzten Entitäten, die dann Tatsachen genannt werden, nicht akzeptabel ist, wie oben gezeigt wurde, und 105 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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wenn diese substanzontologische Konzeption eine Funktion einer (d. h. der normalen) Sprache ist, die aus Sätzen mit der Subjekt-PrädikatStruktur besteht, dann folgt daraus direkt, dass auch diese (die normale) Sprache philosophisch inakzeptabel ist; dann ist daraus die Konsequenz zu ziehen, dass Sätze mit der semantisch interpretierten Subjekt-Prädikat-Struktur nicht mehr angenommen werden können. Daraus folgt: Es muss eine andere Sprache mit anders strukturierten Sätzen eingeführt und benutzt werden. Die Sätze dieser anderen Sprache dürfen dann nicht aus einem Subjekt und aus einem Prädikat bestehen. Es sind Sätze der Form »es regnet«. (Solche Sätze gibt es auch schon in der normalen Sprache; aber dort sind sie nur eine Randerscheinung, die theoretisch überhaupt keine Rolle gespielt hat und spielt.) Die Partikel ›es‹ ist kein Subjekt im eigentlichen Sinne und damit ist auch »regnet« kein Prädikat im eigentlichen Sinne. Die Sätze ohne Subjekt und Prädikat werden Primsätze genannt. Nun gilt weiter, dass jeder deklarative oder theoretische Satz einen bestimmten Inhalt ausdrückt; dieser wird heute »Proposition« genannt. Aber die Proposition, die durch einen Primsatz ausgedrückt wird, ist eine ganz spezielle Proposition, insofern sie sich vom üblichen Begriff der substanzontologisch bzw. objektontologisch aufgefassten Proposition radikal unterscheidet. Aus diesem Grund werden die Propositionen, die durch Primsätze ausgedrückt werden, Primpropositionen genannt. Ein weiterer, der letzte, Schritt der »inneren Logik« der strukturalsystematischen Philosophie besteht in der Klärung des Begriffs der Primproposition. Dies erfolgt durch den Begriff der Wahrheit. Diese Aufgabe wird bewältigt, indem eine semantisch-ontologische Wahrheitstheorie entwickelt wird. Darauf müssen wir noch ausführlich eingehen. Hier genüge es zur Klärung des Begriffs der Primtatsache zu sagen: Eine wahre Primproposition ist identisch mit einer Entität in der Welt (in der Realität, im Sein); diese Entität wird dann Primtatsache genannt. Man kann also eine Primtatsache im Sinne der struktural-systematischen Philosophie nur dann richtig verstehen, wenn man sie in ihrem Bezug auf eine philosophische Sprache folgenderweise begreift: Ein wahrer Primsatz drückt eine wahre Primproposition aus und eine wahre Primproposition ist eine Primtatsache. Noch ein letzter, ein terminologischer Punkt ist kurz zu klären. Meistens hat der Ausdruck ›Tatsache‹ in der normalen (lebensweltlichen) Sprache die Konnotation von etwas Empirischem. Aber in der analytischen Philosophie werden oft Formulierungen wie: »logical 106 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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facts«, »semantical facts« usw. verwendet. Dann hat der Ausdruck ›Tatsache/fact‹ eine nicht auf Empirisches eingeschränkte, sondern eine umfassende Bedeutung. Die struktural-systematische Philosophie verwendet den Ausdruck ›Tatsache/fact‹ ebenfalls gemäß einer umfassenden Bedeutung – faute de mieux. Dann ist jede »Entität«, die ein »Element« (im Sinne von: Bestandteil) der Welt, der Realität, des Seins im Ganzen ist, eine Tatsache, genauer: eine Primtatsache. Man muss zugeben, dass diese umfassende Verwendung des Terms ›Tatsache/fact‹ leicht Anlass zu Missverständnissen geben kann. Aber wenn der Gebrauch des Terms genau erklärt wird, wie das hier geschieht, dann muss man von jedem Philosophen (und jedem Leser) erwarten, dass er diesen Gebrauch des Terms ›Tatsache/fact‹ (bzw. ›Primtatsache/prime fact‹) mit der erläuterten Bedeutung genau beachtet und damit Missverständnisse vermeidet. ET 3/27 – Schließen wir wieder an Ihren Gedankengang an und fragen, indem wir jetzt Ihre analytische Ausdrucksweise verwenden: Was ist das Verhältnis zwischen den Primsätzen, den Primpropositionen, den semantischen Strukturen, den Primtatsachen und den ontologischen Strukturen? LBP 3/27 – Die Antwort auf Ihre Frage ist jetzt ganz einfach. Laut Definition besteht »Struktur« aus einer Menge von »Daten« (bzw. »Entitäten« jeder Art) und einer Menge von Relationen (oder Funktionen oder Operationen) bezüglich dieser Daten. Genau dies ist der Fall bei den Primsätzen, den Primpropositionen und den Primtatsachen. Primsätze bestehen aus einem oder mehreren Sprachzeichen, die durch eine bestimmte Relation miteinander verbunden werden – und damit strukturiert sind: Das ist die Relation des Ausdrückens. Ein Primsatz ist ja dadurch charakterisiert, dass er etwas, ein Informationsgehalt (eine Primproposition), ausdrücken kann. Dadurch erweist sich der Primsatz als eine bestimmte sprachliche Struktur. Dass eine Primproposition eine (semantische) Struktur ist, ist leicht zu zeigen: Auch hier gibt es eine Menge von Sprachzeichen, die durch eine bestimmte Relation miteinander verbunden sind, nämlich die Relation des Ausgedrücktseins, des Expressum. Und das ist genau das, was die Primproposition meint. Daraus folgt, dass Primtatsachen ebenfalls ontologische Primstrukturen sind. Hier muss man nun zwischen einfachen und komplexen Primtatsachen bzw. Primstrukturen unterscheiden. Eine Primtatsache als sol107 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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che ist eine einfache Entität im strengen Sinne. Wie kann sie dann eine Struktur sein? Sie stellt den Fall einer minimalen Struktur im folgenden Sinn dar: In diesem Fall handelt es sich um ein »Datum«, das durch die Relation der Selbstidentität sozusagen mit sich selbst »verbunden« ist: Das »Datum« als Primtatsache ist durch die Selbstidentität konstituiert. Somit ist die Primtatsache eine ontologische Struktur. ET 3/28 – Wollen Sie sagen, dass, von einem sowohl metaphysischen wie analytischen Standpunkt aus, Datum und Relation äquivalent sind? Ich nehme an, dass Sie die traditionelle Substanz oder das phänomenologische Datum nicht einfach durch eine strukturale Relation ersetzen wollen. Das wäre zu einfach … LBP 3/28 – Zunächst: Die Formulierung »sowohl metaphysischer wie analytischer Standpunkt« ist ambig und äquivok; alles hängt davon ab, wie man »analytisch« versteht. Wenn man darunter das versteht, was die analytische Philosophie charakterisiert, dann ist die Formulierung inkorrekt, denn es gibt auch eine (heute sehr intensiv betriebene) analytische Metaphysik. Wenn man aber »analytisch« in einem traditionellen und auch heute noch normal vertretenen Sinne versteht, dem zufolge »analytisch« der korrelative Begriff zu »synthetisch« ist, dann macht die Formulierung Sinn. Die andere Formulierung, mit der Sie meine Position charakterisieren, nämlich »Datum und Relation sind äquivalent«, stellt ein Missverständnis meiner Position dar. Auch Ihre weitere Formulierung »reine strukturale Relation« ist ungenau und irreführend. Ich erläutere nun meine Position, was zum Ergebnis haben wird, dass diese Formulierungen dadurch »desambiguiert« werden. Um meine These in diesem Zusammenhang richtig zu verstehen, muss man zwei Hinsichten unterscheiden. In einer ersten Hinsicht ist die These überhaupt keine grundsätzlich neue These, allerdings nur in der folgenden Hinsicht: Jeder Philosoph, welcher Couleur auch immer, setzt immer schon voraus, dass jede Entität, die dieser Philosoph annimmt, die folgende minimale »Bedingung« erfüllt: Jede Entität ist mit sich selbst identisch, formal: a = a oder x = x. Würde man das leugnen, dann wäre es total unbestimmt, wovon man überhaupt redet. Nun ist die Selbstidentität eine Relation, die im abstrakten oder im konkreten Sinne genommen werden kann. Abstrakt ist die Relation dann, wenn sie in der Disziplin »Logik« abgehandelt wird; konkret ist sie, wenn sie sozusagen auf einen bestimmten Inhalt, welcher Art auch immer, ange108 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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wandt wird, wobei dies auch, noch genauer: besonders in der Ontologie geschieht. Die These von der Selbstidentität jeder (angenommenen) Entität ist in diesem konkreten Sinne zu verstehen. Diese Selbstidentitätsrelation bestimmt einen Inhalt oder eine Entität, der/die als Datum »vorgegeben« ist. Das ist der minimale Fall einer Struktur im eigentlichen Sinne. Bei jeder Struktur gibt es nämlich die Ebene des Strukturierenden und die Ebene des Zu-strukturierenden (= dessen, was strukturiert werden soll, oder, in anderer Hinsicht, des (schon) Strukturierten). Beides ist im Fall der Entität, die ich »Primtatsache« und »ontologische Primstruktur« nenne, gegeben. Es wird nun klar, dass die von Ihnen benutzte Formulierung »Datum und Relation sind äquivalent« inkorrekt ist. Wenn die Entität ein Datum ist, so gilt: Das Datum kann überhaupt nicht verstanden werden, wenn es nicht identisch mit sich selbst ist. Datum und »Relation der Selbstidentität« können nur unterschieden werden, wenn die Relation der Selbstidentität im abstrakten Sinne genommen wird; aber wenn von »Datum« die Rede ist, dann hat die Relation der Selbstidentität immer schon automatisch einen konkreten Sinn. Man muss daher sagen: Die Entität, »Datum« genannt, ist immer schon, automatisch, eine selbstidentische Entität. Es gilt dann nicht: »Datum und Relation sind äquivalent«, sondern »Datum und Relation der Selbstidentität sind identisch«. Nur von »Datum« zu sprechen, ist in diesem Zusammenhang missverständlich; denn »Datum« ist eine elliptische, eine verkürzte Formulierung; die adäquate Formulierung ist: »das selbstidentische Datum« = die durch die Relation der Selbstidentität strukturierte Entität. Das gilt für jedes Datum überhaupt: für konkrete physikalische Daten bis zu solchen angeblich jenseits jeder Logik und begrifflicher Strenge liegenden »phänomenologischen Daten«, auch wenn letztere im Stile J.-L. Marions als »Schenkung (donation)« (um)interpretiert werden, denn auch »Schenkung (donation)«, wie immer man es näher verstehen will, ist eine ontologische (und damit konkrete) Struktur, zumindest im erläuterten minimalen Sinn von Struktur. In Wirklichkeit aber ist die ontologische (konkrete) Struktur »Schenkung (donation)« eine hochkomplexe Konfiguration von (ereignishaften) einfachen und komplexen Primtatsachen bzw. von (ereignishaften) einfachen und komplexen ontologischen Primstrukturen. Das zeigt, dass es sich nicht darum handelt, »die traditionelle Substanz oder das phänomenologische Datum einfach durch eine strukturale Relation [zu] ersetzen«. Das, worum es sich handelt, ist äußerst ein109 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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fach: Es geht darum zu verstehen, was es überhaupt heißt, von einem »Datum« zu sprechen, wie ein »Datum« überhaupt zu identifizieren ist. Aufgrund der Formulierung »das selbstidentische Datum« ist das Datum nur im absolut minimalen Sinne bestimmt: als eine einfache ontologische Struktur, eine Primtatsache. Erst auf dieser Basis wird man konkret beschreiben können, wie in diesem Fall das so verstandene und identifizierte Datum, d. h. diese ontologische Struktur, konkret aussieht. Dieser spezifische Charakter des Datums wird durch ein Qualitativum angezeigt: ein empirisches Datum, ein physikalisches Datum, ein mentales Datum, ein logisches Datum, ein phänomenologisches Datum usw. Ein Datum, welcher Art auch immer, wird nicht einfach durch »eine strukturale Relation« ersetzt. Das Datum wird als eine konkrete Struktur verstanden. Die Formulierungen »Struktur des Datums« und »Datum als konkrete (ontologische) Struktur« sagen dasselbe. Die traditionelle Substanz wird nicht gerade durch eine einfache Primtatsache bzw. eine einfache ontologische Primstruktur ersetzt, sondern durch eine Konfiguration einfacher und komplexer Primtatsachen, die als ontologische Primstrukturen erklärt werden. Um das genauer zu erläutern, muss man die zweite Hinsicht darstellen, die oben erwähnt wurde. Sie besteht darin, dass man fragt, welche Art von Entitäten (oder eher traditionell gefragt: welche Kategorie von Entitäten) man in der Philosophie überhaupt annimmt oder welche man in der Philosophie annehmen soll? Sind es: Objekte, Substanzen, Eigenschaften, Relationen, Prozesse, Ereignisse usw.? Aus den oben schon angegebenen Gründen nimmt die struktural-systematische Philosophie eine einzige Art (oder traditionell gesprochen: eine einzige Kategorie) von Entitäten an: die Primtatsachen, die als ontologische Primstrukturen gedeutet werden. Aber in der Realität, wenn man sie adäquat erfasst und artikuliert, kommen nicht (oder kaum) einfache, sondern (nur) komplexe Primtatsachen, also Konfigurationen, vor. Eine Konfiguration besteht entweder aus reinen einfachen oder zusätzlich aus schon komplexen Primtatsachen bzw. ontologischen Strukturen. Eine Konfiguration ihrerseits ist dann die höchste Primtatsache bzw. die höchste ontologische Primstruktur, wenn sie die anderen einfachen und/oder schon komplexen ontologischen Primstrukturen (= Primtatsachen) vollständig und definitiv ihrerseits »gestaltet«, d. h. strukturiert. Dies gilt ganz besonders im Fall einer sogenannten konkreten »Entität« bzw. eines konkreten Individuums wie eines Tieres, vor allem aber eines Menschen. 110 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Jetzt kann ihre Frage: »[Ersetzen Sie nicht] die traditionelle Substanz oder das phänomenologische Datum […] einfach durch eine strukturale Relation«? genauer beantwortet werden. Die strukturalsystematische Konzeption gibt den Begriff der Substanz, wie er in der traditionellen Metaphysik und Ontologie verstanden wurde und wird, auf. Insofern findet eine »Ersetzung« statt, aber diese Ersetzung muss richtig verstanden werden. An die Stelle der Substanz tritt der Begriff einer Konfiguration von einfachen und/oder komplexen ontologischen Primstrukturen (= Primtatsachen), und das in dem Sinne, dass diese Konfigurationstheorie die Aporien der Substanzkonzeption überwindet und damit eine überlegene Kohärenz und Intelligibilität aufweist. Könnte oder sollte man aber nicht besser von einer Umdefinition des Begriffs der Substanz sprechen, so dass man sagen würde: Eine Substanz ist eben eine solche Konfiguration etc. (wie gerade dargestellt)? Das ist ein terminologisches Problem. Wie oben gezeigt wurde, wäre dies dann möglich und verständlich, wenn man unter »Substanz« so etwas wie: Einzelseiendes/Einzelding gemäß vor allem dem umgangssprachlichen Gebrauch des Terms ›Substanz (bzw. Objekt)‹ verstünde. Einige (wenige) Philosophen verwenden manchmal das Wort ›Substanz‹ in diesem Sinne. Aber man muss bedenken, dass es einen philosophischen Gebrauch des Wortes ›Substanz‹ in der ganzen Geschichte der Philosophie seit Aristoteles gibt, dem zufolge Substanz so verstanden wurde und wird wie oben dargestellt. Da diese traditionelle philosophische Konzeption nicht intelligibel und nicht kohärent ist, wie gezeigt wurde, würde es zu einer enormen Konfusion führen, wollte man heute das Wort ›Substanz‹ zur Bezeichnung einer Konfiguration von einfachen und komplexen ontologischen Primstrukturen (Primtatsachen) verwenden. Es gibt in der Philosophiegeschichte ein bemerkenswertes Beispiel für eine »Umdefinition« des Begriffs, genauer des Wortes ›Substanz‹, nämlich bei Leibniz. Er behielt das Wort ›Substanz‹ bei und zusätzlich kannte und benutzte er voraussetzungs- und konsequenterweise nur Sätze mit der Subjekt-Prädikat-Struktur; das sind Annahmen, welche die struktural-systematische Philosophie ablehnt. Dennoch hat Leibniz eine Konzeption entwickelt, die große Ähnlichkeit mit der strukturalsystematischen Theorie hat. Sehr kurz und vereinfachend gesagt, verstand Leibniz unter der Bezeichnung ›Substanz‹ eine Entität, die durch den conceptus completus bestimmt (oder sogar definiert) ist. Vereinfacht gesagt, ist der conceptus completus die Totalität der Bestimmun111 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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gen (determinationes), die von der Substanz prädiziert, d. h. der Substanz beigelegt werden. Leibniz’ Ausdrucksweise ergibt sich aber aus der Konzeption der Sprache als bestehend aus Sätzen mit der SubjektPrädikat-Struktur und ist daher denkbar ungeeignet, seine große Idee zu artikulieren: Nach dieser Ausdrucksweise ist bzw. wäre eine Substanz im Sinne Leibniz’ ein X, dem eine Totalität von Prädikaten (im Sinne von Bestimmungen) beigelegt werden bzw. würden. Das ist die charakteristische Ausdrucksweise einer Substanzontologie, die Ausdrucksweise der Prädikatensprache bzw. -logik erster Stufe. Wenn man aber nicht Leibniz’ Ausdrucksweise, sondern seine Grundidee beachtet, so ist zu sagen: Was Leibniz »Substanz« in Wirklichkeit, d. h. seiner Idee nach, nennen möchte, ist eine Totalität im Sinne einer Konfiguration von unter sich zusammenhängenden (ontologischen) Bestimmungen. Diese Idee schließt so etwas wie ein Subjekt oder eben Substratum aus, dem Prädikate als Bestimmungen zugeschrieben werden. Ein Vergleich mit der struktural-systematischen Konzeption bringt zwei große Unterschiede zu Tage: Erstens verwendet die struktural-systematische Konzeption nicht das Wort ›Substanz‹ ; zweitens sind die »Faktoren«, welche die das Individuum definierende Totalität bilden, nicht (vage) Prädikate/Bestimmungen (determinationes), sondern Primtatsachen, d. h. ontologische Primstrukturen. Als Fazit kann man feststellen: Ungeachtet der bemerkenswerten Ähnlichkeit, sind die Unterschiede (besonders der zweite) von kaum hoch genug einzuschätzender Bedeutung. ET 3/29 – Ich schlage vor, dass wir ein letztes Mal auf den Begriff der Struktur zurückkehren, um jedem Missverständnis aus dem Wege zu gehen. Besonders im französischen Kontext ist dieser Ausdruck sehr überfrachtet und polysemantisch. Ich würde gerne sicher sein, dass wir von ein und derselben Sache sprechen. LBP 3/29 – Manche Leser, vor allem solche, die im Rahmen der traditionellen bzw. der kontinentalen Philosophie denken, haben in der Tat oft große Schwierigkeiten, die struktural-systematische Konzeption, in deren Mittelpunkt der Begriff der Struktur steht, zu verstehen. Sie missverstehen sehr leicht diese Konzeption. Einige der Gründe hierfür werden im Folgenden genannt und analysiert. (1) Sie verstehen »Struktur(en)« als etwas rein Statisches (so wie eine geometrische Figur). Das ist ein Missverständnis. Es gibt viele Ar112 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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ten von Strukturen: statische, dynamische, prozessuale, ereignishafte etc. Alles hängt von den jeweiligen Primtatsachen ab, die ebenfalls sein können: statische, dynamische, prozessuale, ereignishafte etc. »Daten« oder »Entitäten«. (2) Viele Leser reduzieren Strukturen auf abstrakte Strukturen. Auch das ist ein Missverständnis. Strukturen sind nur dann abstrakt, wenn sie rein als solche, also ohne eine Applikation auf ein »Material« (d. i. auf ein Datum, eine Entität, eine Primtatsache usw.) betrachtet werden. Aber ontologische Primstrukturen sind jene, welche die verschiedenen Bereiche der vorgegebenen Daten (also: der phänomenologischen, physikalischen, mentalen usw. Daten) konfigurieren, d. h. eben: strukturieren. (3) Der sehr weitverbreitete Gebrauch des Terms ›Struktur‹ in der heutigen Philosophie, den man als chaotisch bezeichnen muss, induziert viele Leser zur Konfusion. Fast nie wird der Ausdruck erklärt, auch nicht minimal; der Ausdruck wird einfach problemlos gebraucht. Im Gegensatz dazu ist die struktural-systematische Konzeption sehr bemüht, sowohl den (abstrakten) Begriff als auch dessen vielfältige Anwendungen genau zu definieren bzw. zu erläutern. Ein Beispiel für einen »sorglosen« und damit »ahnungslosen« Gebrauch findet man bei Heidegger, nicht zufälligerweise jenem Philosophen, der logische Strenge und wissenschaftstheoretische und metaphysische Begrifflichkeit radikal ablehnt. In seinem Hauptwerk Sein und Zeit kommt der Term ›Struktur‹ passim (ungefähr auf jeder zweiten Seite) vor, und zwar ohne dass der Term/Begriff erklärt wird. So spricht Heidegger von »Struktur der Rede« (§ 34), »Struktur der Auslegung« (§ 32), »existenzialen Strukturen« (§ 31), »zeitlichen Strukturen« (§ 67 d)), »fundamentalen Strukturen des Daseins« (§ 61), »ontologischen Strukturen« (§ 11), »elementarsten Strukturen des In-der-Welt-seins« (§ 63), »ontologischer Struktur des Seienden« (§ 68 b)), »kategorialer Struktur des Seienden« (§ 77), »ursprünglicher Struktur der Seinsganzheit« (§ 83) usw. Eine Erklärung findet man nirgends bei Heidegger. Ein letzter Punkt ist noch zu behandeln. Ist die struktural-systematische philosophische Sprache, der zufolge nur Sätze akzeptiert werden, die (in semantischer Hinsicht) nicht die Subjekt-Prädikat-Struktur haben, eine absolut neue oder vielleicht sogar revolutionäre Konzeption? Dazu ist zu sagen: Hinsichtlich ihres systematischen, d. h. hier: umfassenden Anspruchs und der kompromisslos konsequenten Weise, in der sie angewandt und verwendet wird, dürfte sie als wirklich neu 113 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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anzusehen sein. Zwar haben andere Philosophen den einen oder anderen Versuch unternommen, eine »neue« Sprache für die Philosophie zu entwerfen, wie z. B. Leibniz mit seinem Programm einer Characteristica Universalis, oder Carnap mit seinen wiederholten Versuchen, (ideale) Sprachen zu entwerfen; aber alle diese Versuche haben nie die Subjekt-Prädikat-Struktur der Sätze kompromisslos in Frage gestellt. Gerade das ist die neue und entscheidende Charakteristik der struktural-systematischen Konzeption der philosophischen Sprache. Die oben behandelte Einstellung bzw. Konzeption Leibniz’ ist bezeichnend: Sie ist Ausdruck einer schwer zu überwindenden Inkohärenz zwischen sprachlicher Artikulation und Denkinhalten. Der interessanteste Fall in Bezug auf diese ganze Problematik ist sicher der Fall Heidegger. Wie kein anderer Philosoph hat er versucht, völlig neue Wege in der Philosophie (oder, wie der spätere Heidegger zu sagen pflegte: im Bereich des Denkens) zu beschreiten. Die große Schwierigkeit für die Erfüllung dieser Aufgabe sah er hauptsächlich in der Sprache. Darüber klagte er ständig, indem er immer wieder von der Sprachnot sprach; letzten Endes ging er nicht über das Klagen und über leere Formulierungen hinaus. Eine typische Passage ist die folgende: »[Es] lässt sich fragen, ob es nicht eine Sprache des Denkens geben könne, die das Einfache der Sprache so spricht, dass die Sprache des Denkens gerade die Begrenztheit der metaphysischen Sprache sichtbar macht.« 31 Gleich anschließend heißt es bezeichnenderweise: »Darüber aber kann man nicht reden. Es entscheidet sich daran, ob ein solches Sagen glückt oder nicht.« Heidegger sagt kein Wort darüber, woran dieses »Glücken« erkennbar wäre, so dass man sagen muss, dass seine Aussage eine leere Behauptung ist und bleibt. Dann folgen zwei Sätze, die wieder für ihn charakteristisch sind, die aber schon das eigentliche Problem andeuten: »Was schließlich die natürliche Sprache anbetrifft, so ist nicht erst sie metaphysisch. Vielmehr ist unsere Interpretation der gewöhnlichen Sprache metaphysisch, an die griechische Ontologie gebunden.« Die eigentliche Schwierigkeit sieht Heidegger in einem ganz bestimmten Punkt: in der Subjekt-Prädikat-Struktur »unserer« Sprache. An einer anderen Stelle des zitierten Protokolls liest man nämlich: »In »Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag ›Zeit und Sein‹«, in: M. Heidegger, Zur Sache des Denkens. Tübingen: Niemeyer, 1969, 55. Der Text dieses Protokolls wurde von Heidegger selbst überprüft, approbiert und an einigen Stellen ergänzt.
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dem Versuch, das im Vortrag Gesagte zu besprechen, zeigte sich ein noch Gewagteres, als es der Vortrag selbst war. Dessen Wagnis liegt darin, dass er in Aussagesätzen von etwas spricht, dem diese Weise des Sagens wesensmäßig unangemessen ist.« 32 »Aussagesätze« sind nach Heidegger Sätze mit der Form »eines Verhältnisses von Subjekt und Prädikat« 33. Und am Ende des Vortrags Zeit und Sein bezieht sich Heidegger auf die Schwierigkeiten des Sagens (also der Sprache) und schreibt: »Ein Hindernis […] bleibt auch das Sagen vom Ereignis in der Weise eines Vortrags. Er hat nur in Aussagesätzen gesprochen.« 34 Mit Verwunderung fragt man sich, warum Heidegger nicht auf die Idee kam, eine philosophische Sprache zu entwickeln, die, in semantischer Hinsicht, nicht aus »Aussagesätzen« besteht, also aus Sätzen, die nicht die Subjekt-Prädikat-Struktur haben; gerade eine solche Idee verfolgt und realisiert die struktural-systematische Philosophie. Eine solche Sprache hat er irgendwie geahnt, kam aber nur so weit, dass er »den Ausdruck ›Es gibt‹« 35 »erörterte« und die Behauptung aufstellte: »Einige grammatische Erörterungen über das Es im ›Es gibt‹, über die Art dieser in der Grammatik als Impersonal- oder subjektlose Sätze bezeichneten Sätze, sowie eine kurze Erinnerung an die metaphysisch-griechischen Grundlagen der heute selbstverständlichen Auslegung des Satzes als eines Verhältnisses von Subjekt und Objekt deuteten die Möglichkeit an, das Sagen von ›Es gibt Sein‹, ›Es gibt Zeit‹ nicht als Aussagen zu verstehen«. 36
Über diesen allgemeinen Punkt kam Heidegger nie hinaus. Diese fundamentale Aufgabe für das Denken und damit für die Philosophie hat er nie in Angriff genommen. Auf die Gründe, welche diese grundlegende Defizienz des Heideggerschen Denkens erklären, kann hier nicht näher eingegangen werden. ET 3/30 – Mit Heidegger werden wir nicht viel weiter kommen. Kehren wir daher zurück auf die Frage, die uns beschäftigt, nämlich die Frage nach der struktural-systematischen Konzeption der Wahrheit. Was ist Wahrheit in einer Philosophie, in der Primsätze, Primpropositionen und Primtatsachen angenommen werden? 32 33 34 35 36
Ebd. 27. Ebd. 43. M. Heidegger, Zur Sache des Denkens, 25. Protokoll, 41. Ebd., 43.
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LBP 3/30 – Wie bekannt, ist die Theorie der Wahrheit eines der am meisten behandelten Themen der analytischen Philosophie. In der struktural-systematischen Philosophie hat die Theorie der Wahrheit eine Schlüsselrolle inne, insofern Wahrheit die höchste und definitive Einheit und die definitive jeweilige spezifische Funktion aller Komponenten des systematischen Theorierahmens artikuliert. Das bedeutet, dass diese Theorie einen systematischen Charakter hat. Man muss gleich präzisierend hinzufügen, dass sie eine Theorie der Wahrheit für die philosophische, nicht für die natürliche oder kolloquiale Sprache ist. Das hat zur Konsequenz, dass sie nicht den vielfältigen und chaotischen Vorkommnissen des Wortes ›Wahr(heit)‹ Rechnung tragen kann und Rechnung zu tragen braucht; vielmehr widmet sie sich der Aufgabe, eine kohärente und intelligible Artikulation der dem Gebrauch des Wortes ›Wahr(heit)‹ in der Geschichte der Philosophie und auch im alltäglichen Leben zugrundeliegenden Idee oder Intuition zur Darstellung zu bringen. Diese Idee oder Intuition wurde von niemand so klar und so zutreffend formuliert wie von Alfred Tarski, dem größten Wahrheitstheoretiker, der als obligatorischer Bezugspunkt für alle heutigen Wahrheitstheorien in der einen oder anderen Weise gilt. Tarski beschreibt das intuitive und allgemeine Verständnis von ›Wahr(heit)‹ so: »[E]ine wahre Aussage ist eine Aussage, welche besagt, dass die Sachen sich so und so verhalten, und die Sachen verhalten sich eben so und so.« 37 Wie die seit der Publikation des Tarskischen Werks (1933) geführten Diskussionen zeigen, besteht kein Konsens darüber, wie seine, in sich betrachtet, so klare Formulierung genau zu interpretieren ist. Ich werde aber noch zeigen, dass Tarski selbst und fast alle, die ihm folgen, in der von ihm bzw. von ihnen entwickelten Wahrheitstheorie die ganze Tragweite seiner soeben zitierten Charakterisierung des intuitiven Wahrheitsverständnisses nicht gesehen und nicht beachtet haben; ihm und seinen Anhängern ist eine fundamentale Inkohärenz unterlaufen. Meine im Folgenden kurz darzustellende eigene Theorie ist das Ergebnis von über drei Jahrzehnten Bemühungen um Klarheit über diese zentrale Thematik. Bevor ich die Grundzüge meiner eigenen Wahrheitskonzeption A. Tarski, Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen, in: K. Berka, L. Kreiser (Hg.), Logik-Texte. Kommentierte Auswahl zur Geschichte der modernen Logik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 3. Aufl. 1983, 445–546; zit. St. 450.
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darstelle, muss ich drei allgemeine Bemerkungen machen, um den Ansatz zu erklären, den ich wählen und entwickeln werde. (1) Sprachlich gesehen gibt es viele Formen der Verwendung des Ausdrucks ›Wahr(heit)‹ : das Substantiv ›Wahrheit‹ (»die Wahrheit ist das Ziel der Wissenschaft«), das Attribut ›wahr‹ (»ein wahres Urteil«), das Prädikat ›wahr‹ (»dieses Urteil ist wahr«, »dieser Satz ist wahr«), der Operator ›es ist wahr dass‹ (»es ist wahr dass die Erde um die Sonne kreist«), das Adverb ›wahrlich‹ (»es verhält sich wahrlich so dass …«). Der Hauptunterschied zwischen diesen Formen betrifft das Substantiv ›Wahrheit‹, einerseits, und alle anderen Wortformen, andererseits. Was das Substantiv ›Wahrheit‹ angeht, so muss man zwei Formen bzw. Bedeutungen unterscheiden. Gemäß der ersten, die keine grundsätzlichen Probleme aufwirft, meint ›Wahrheit‹ einfach die Menge der Entitäten, die als wahr bezeichnet werden. Demnach wird z. B. ein wahrer Satz oder eine wahre Proposition einfach »eine Wahrheit« genannt. Damit wird das Substantiv ›Wahrheit‹ als ein Kürzel für ›X ist wahr‹ verwendet. Eine zweite Form setzt die explizite oder implizite Verwendung von ›wahr‹ bzw. die Reduktion auf ›wahr‹ nicht voraus, vielmehr schließt sie eine solche Verwendung aus: Demnach wird Wahrheit als etwas sozusagen In-sich-Bestehendes, ohne jeden Bezug auf Geist, Sprache u. ä. verstanden. Diese zweite Form/Bedeutung kommt häufig in der Bibel vor (»Die Wahrheit wird Euch frei machen«), wobei dieser Gebrauch in der einen oder anderen Form in die westlichen Sprachen eingegangen und heute außerordentlich weit verbreitet ist. Der Philosoph, der wie kein anderer von dieser zweiten Form/Bedeutung des Substantivs »Wahrheit« Gebrauch gemacht hat, ist Heidegger. (Man kann allerdings auch Hegel nennen. 38) Heidegger stützt sich auf eine eigenwillige Deutung des griechischen Wortes Ἀλήθεια und spricht dann von der Wahrheit des Seins als Unverborgenheit, Offenbarkeit oder Lichtung. Das betrachtet er als das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit, das er der »Abkünftigkeit« des traditionellen Wahrheitsbegriffs entgegensetzt. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass im Fall der Wahrheit als Unverborgenheit kein Bezug zum Geist, zum Subjekt, zum Bewusstsein, zur Sprache mitgemeint, geschweige denn artikuliert ist, während ›wahr‹ diesen Bezug explizit Vgl. dazu L. B. Puntel, »Hegels Wahrheitskonzeption. Kritische Rekonstruktion und eine ›analytische‹ Alternative«. Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus – International Yearbook of German Idealism, 3, 2005, 208–242.
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beinhaltet. Allerdings hat Heidegger gegen Ende seines Lebens eine Art Selbstkorrektur – die einzige, die dokumentiert ist – bezüglich seiner Auffassung der Wahrheit vorgenommen. 1966 schrieb er: »Die Frage nach der Ἀλήθεια, nach der Unverborgenheit als solcher, ist nicht die Frage nach der Wahrheit. Darum war es nicht sachgemäß und demzufolge irreführend, die Ἀλήθεια im Sinne der Lichtung Wahrheit zu nennen.« 39
Mit Ausnahme des Substantivs ›Wahrheit‹ beinhalten alle anderen grammatischen Formen einen expliziten Bezug auf eine Instanz, die Wahrheit allererst artikuliert. Traditionell war diese Instanz der Geist, und zwar als theoretische Tätigkeit gemeint. Das Urteil wurde als der Ort angesehen, wo Wahrheit »situiert« ist (veritas est in iudicio). Der Bezug zur Welt, zu den »Sachen« wurde entsprechend durch den Begriff der Repräsentation, in der klassisch-deutschen Terminologie mit der Vorstellung, erklärt. Repräsentation/Vorstellung sind rein mentale Entitäten bzw. Relationen. Mit dem linguistic turn fand eine große Wende statt. Nicht mehr der Geist als die mentale Dimension, sondern die Sprache wird als »der Ort« der Wahrheit angesehen. Wahr sind dann Sätze und, konsequenterweise, das, was die Sätze ausdrücken: die Propositionen. Sie sind die Wahrheitsträger. (2) Wie oben gesagt wurde, kann ›Wahrheit/wahr‹ als Attribut, als Prädikat und als Operator verstanden bzw. verwendet werden. Der Gebrauch von ›wahr‹ als Attribut wirft keine Probleme auf, da er auf ›wahr‹ entweder als Prädikat oder als Operator reduziert werden kann. Von einem rein grammatischen Standpunkt aus kann man in der natürlichen Sprache ›wahr‹ sowohl als Prädikat als auch als Operator verwenden. Wird es als Prädikat angenommen, so kann es sowohl auf einen Satz als auch eine Proposition angewendet werden. Wird es auf einen Satz angewendet, so wird der Satz nominalisiert: Der Satz wird also wie ein Name bzw. ein Objekt behandelt, und ›wahr‹ erscheint dann als eine Eigenschaft des Satzes als Namen. Als Beispiel nehme man den Satz, der in der Geschichte der Wahrheitstheorie seit Tarski eine große Rolle gespielt hat und heute noch spielt: »Der Schnee ist weiß«. Wenn das Prädikat ›wahr‹ auf ihn angewandt wird, so wird der Satz nominalisiert, was sich daran zeigt, dass der Satz mit Anführungszeichen geschrieben wird. Man würde dann sagen: »(Der Satz) ›der Schnee ist weiß‹ ist wahr«. Formalisiert ergibt sich (›T‹ für »True«, ›p‹ für einen Satz): T›p‹. 39
M. Heidegger, Zur Sache des Denkens, 77.
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Meistens werden aber bei der Formalisierung anstelle der normalen Anführungszeichen die sogenannten »Quine corners« › ‹ gebraucht: T p . Das Prädikat ›ist wahr‹ kann auch auf eine Proposition angewandt werden, genauer auf eine Phrase, die mit ›dass‹ beginnt und die daher eine Proposition bezeichnet, wie z. B. »Dass Schnee weiß ist …« Die ausgedrückte Proposition ist die (Proposition-)dass-Schnee-weiß-ist. Dann kann gesagt werden: »Die (Proposition-)dass-Schnee-weiß-ist, ist wahr« oder einfach: »Dass-Schnee-weiß-ist, ist wahr«. Wie noch gezeigt werden soll, ist dieser Fall problemlos auf die Operatorversion von ›wahr‹ reduzierbar. Ganz anders verhält es sich mit dem Operator »es ist wahr dass …« Dieser Operator hat einen echten (d. h. nicht-nominalisierten) Satz, also einen Satz-als-Satz als Argument. Die Anwendung des Operators auf den Satz ›der Schnee ist weiß‹ ergibt: »es ist wahr dass der Schnee weiß ist«, formalisiert: Tp (oder T(p)). Die Prädikatversion setzt Sätze mit der Subjekt-Prädikat-Struktur voraus; das ist eine Annahme, welche die struktural-systematische Philosophie ablehnt, wie oben gezeigt wurde. Daraus folgt unmittelbar, dass die struktural-systematische Wahrheitstheorie die Operatorversion von ›wahr‹ akzeptiert. Eine weitreichende Konsequenz dieser Annahme ist die Tatsache, dass die für die Prädikatversion charakteristische Unterscheidung von Objektsprache und Metasprache in der Operatorversion nicht gegeben ist. Das ist leicht zu verstehen, wenn man die besonders von Quine und allgemein in der analytischen Philosophie angenommene und verwendete Unterscheidung zwischen »mention – Erwähnung« und »use – Gebrauch« beachtet. In der Prädikatversion wird der Satz in Anführungszeichen gesetzt, was bedeutet, dass von einer Metaebene aus über ihn gesprochen wird. Der nominalisierte Satz wird nur erwähnt, indem er nur als »Objekt« einer Betrachtung bzw. einer Sprache angesehen wird. Im Gegensatz dazu wird ›wahr‹ in der Operatorversion nicht erwähnt, sondern gebraucht; wahrheitstheoretische Aussagen unter Verwendung des Wahrheitsoperators werden daher im Rahmen einer einzigen Sprachebene aufgestellt. (3) Die dritte Vorbemerkung gilt der heutigen Diskussionslage über die Wahrheitstheorie. Die eigentlich relevanten Diskussionen finden nur im Rahmen der analytischen Philosophie statt. ET 3/31 – Was sind diese Diskussionen, die im Rahmen der analytischen Philosophie geführt werden? 119 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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LBP 3/31 – Das Spektrum der Konzeptionen ist durch zwei entgegengesetzte Richtungen charakterisiert: die substantialistische und die deflationistische. Die erste betrachtet »wahr« als einen positiven Begriff, einen Begriff mit eigenem angebbarem Inhalt; die zweite hingegen versteht »wahr« als einen Begriff, der, abgesehen von einer gewissen Nützlichkeit in mehr logischer Hinsicht, redundant ist. Die von mir vertretene Konzeption ist grundsätzlich substantialistisch, allerdings in einer bestimmten Hinsicht auch deflationistisch orientiert. Sie unterscheidet sich aber deutlich von allen heute diskutierten Wahrheitstheorien. Was die substantialistische Richtung anbelangt, so gibt es eine ganze Reihe von Konzeptionen, meistens in der Gestalt von Varianten der traditionellen Korrespondenztheorie. Sie werden hier nicht weiter betrachtet. Hingegen wird im Folgenden etwas Grundsätzliches über den wahrheitstheoretischen Deflationismus im Hinblick auf die Vorbereitung der Darstellung meiner eigenen Konzeption ausgeführt. Dabei beziehe ich mich auf die heute am weitesten vertretene Charakterisierung dieser Richtung. Die zentrale Aussage des Deflationismus kann anhand eines berühmtem Beispiels kurz dargestellt werden: »(Der Satz) ›Cäsar wurde ermordet‹ ist wahr« sagt dasselbe wie »(der Satz) ›Cäsar wurde ermordet‹«. Eine andere Formulierung mit ›wahr‹ als Prädikat einer Proposition lautet: »›Dass Cäsar ermordet wurde, ist wahr‹ sagt dasselbe wie ›Cäsar wurde ermordet‹«. Die deflationistisch verstandene Formulierung mit ›wahr‹ als Operator unterscheidet sich deutlich von den beiden genannten Formulierungen mit ›wahr‹ als Prädikat: »›Es ist wahr dass Cäsar ermordet wurde‹ sagt dasselbe wie ›Cäsar wurde ermordet‹«. Die Deflationisten berufen sich dabei auf Tarski und finden die Artikulation des Deflationismus in der von Tarski eingeführten berühmten »Konvention T«: T p p oder in der Operatorversion: Tp p. Man kann viele Gründe anführen, um zu zeigen, dass der so verstandene Wahrheitsdeflationismus keine adäquate Theorie der Wahrheit ist. Hier wird ein Argument gewählt, das die einschlägigen Positionen von Tarski und Quine einer kritischen Analyse unterzieht. Beide Autoren behandeln ›Wahr(heit)‹ ausschließlich als Prädikat. Die Konvention T wird normalerweise so erklärt: Der nominalisierte Satz p auf der linken Seite des Äquivalenzsymbols ›‹ ist ein Satz der Objektsprache, von dem angenommen wird, dass er in »denselben« in der Metasprache (auf der rechten Seite der Äquivalenz) erscheinenden Satz p »übersetzt« wird. Tarski betrachtete die Konvention T als das adäquate 120 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Kriterium für eine Definition von Wahr(heit). Quine pflichtet Tarski bei und charakterisiert Wahr(heit) einfach und treffend so: »Die Zuschreibung von Wahrheit hebt gerade die Anführungszeichen auf. Wahrheit ist Disquotation.« 40 Das ganze Problem besteht darin, zu klären, wie der Satz p auf der rechten Seite des Äquivalenzsymbols genau zu verstehen ist. Einfach zu sagen, wie das in der analytischen Literatur üblich ist, dass dieses p (gemäß der Prädikatversion von ›Wahr(heit)‹) ein Satz einer Metasprache ist, in welchen der nominalisierte Satz auf der linken Seite der Äquivalenz »übersetzt« wird, ist zwar eine richtige Feststellung, weicht aber dem eigentlichen Problem aus. Wo das Problem liegt, wird besonders deutlich, wenn man die Operatorversion verwendet. Dann lautet Tarskis Konvention T: »Es ist wahr dass p dann und nur dann wenn p«. Hier in der Operatorversion ist das erste p kein Satz einer Objektsprache und, konsequenterweise, ist das zweite p nicht mehr ein Satz einer Metasprache. Und damit wird hier deutlich, dass die Sätze p auf beiden Seiten des Äquivalenzsymbols absolut gleich sind. Für das »Cäsar-Beispiel« ergibt sich dann die Formulierung: »Es ist wahr dass Cäsar ermordet wurde genau dann, wenn Cäsar ermordet wurde«, also: Tp p. Das zweite Vorkommnis des Satzes ist dem ersten Vorkommnis absolut gleich. Es ist dann klar, dass die Formulierung eine bloße sinnlose Tautologie ist, die nichts sagt. Das ist offensichtlich nicht der Sinn der Verwendung von ›wahr‹, denn sonst müsste man annehmen, dass der so weit verbreitete Gebrauch von ›wahr‹ sinnlos ist. Ist das die Konzeption von Tarski und Quine? In meinen Schriften über die Wahrheitstheorie 41 habe ich – wie es scheint, als Einziger – gezeigt, dass diesbezüglich beiden bekannten Philosophen eine bemerkenswerte und weitreichende Inkohärenz unterlaufen ist. Zuerst sei Tarskis Inkohärenz aufgewiesen. Am Anfang seiner berühmten Monographie 42, präsentiert er zunächst das, was er als das traditionelle, intuitive Verständnis von ›Wahr(heit)‹ betrachtet. Seine schon oben zitierte W, V, Quine, Pursuit of Truth. Cambridge/MA: Harvard University Press, 1990, 80. Englischer Text: »Ascription of truth just cancels the quotation marks. Truth is disquotation.« 41 Vgl.: Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie. Eine kritisch-systematische Darstellung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1978; Sonderausgabe 2005; Grundlagen einer Theorie der Wahrheit. Berlin: De Gruyter, 1990; Struktur und Sein, Abschnitt 3.3. 42 Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen. (vgl. Fußnote 37), 445–546. 40
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Formulierung lautet: »[E]ine wahre Aussage ist eine Aussage, welche besagt, dass die Sachen sich so und so verhalten, und die Sachen verhalten sich eben so und so.« 43 Dazu sagt er, dass diese Formulierung »in Hinsicht auf formale Korrektheit, Klarheit und Eindeutigkeit […] offenbar viel zu wünschen übrig« lässt. Er präsentiert dann eine formalisierte Formulierung, von der er annimmt, dass sie das in der »intuitiven« Formulierung artikulierte Verständnis von ›Wahr(heit)‹ erfasst und artikuliert, nur eben genau, korrekt, klar und eindeutig. Seine Formulierung ist die schon angeführte berühmte Konvention T (hier mit »Quine-corners« wiedergegeben): p ist eine wahre Aussage genau dann wenn p: T p p. Es ist leicht zu zeigen, dass diese angeblich formal genaue, korrekte und eindeutige Formulierung, die eine außerordentlich große Geschichte gehabt hat und immer noch hat, die in der informalen (intuitiven, traditionellen) Formulierung treffend ausgedrückte eigentliche Idee der Wahrheit in keiner Weise erfasst und artikuliert. Das wird am kleinen Wort ›eben‹ deutlich, das in Tarskis zitierten Formulierung im Satz nach dem Äquivalenzsymbol erscheint. Dieses kleine Wort macht den entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Sätzen links und rechts der Äquivalenz aus. Es wird nämlich sofort klar, dass gemäß der auf dem Wahrheitsoperator »es ist wahr dass …« basierenden Formulierung Tp p, p auf der rechten Seite einfach und in jeder Hinsicht identisch mit p auf der linken Seite ist; aber dies widerspricht direkt der Tarskischen Charakterisierung des »intuitiven« Verständnisses von ›Wahr(heit)‹, denn p auf der rechten Seite wird von Tarski durch »eben« näher determiniert oder qualifiziert, sonst wäre die ganze Formulierung eine sinnlose reine Tautologie. Aber gerade dieser entscheidende Unterscheid wird in der Tarskischen Konvention T nicht beachtet, nicht erfasst, nicht artikuliert. In der Wiege der modernen analytischen Wahrheitstheorie, eben im Tarskischen Ansatz, ist ein Grundfehler enthalten, nämlich die aufgewiesene Inkohärenz, ein Grundfehler, der sich auf die meisten analytischen wahrheitstheoretischen Konzeptionen vererbt hat. 44 Ein besonders instruktiver Fall in dieser Geschichte ist Quine, ein Autor, dessen Schriften sich durch sprichwörtlich vorbildliche Klarheit Ebd. 450. Vgl. dazu die ausführliche Behandlung dieser ganzen Problematik in meinem Buch Grundlage einer Theorie der Wahrheit. Berlin: de Gruyter, 1990, 40–47.
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auszeichnen; umso bemerkenswerter ist es, festzustellen, dass er die Inkohärenz gar nicht bemerkt, die ihm unterläuft, obwohl sie in aller nur wünschenswerten Klarheit in seinen Texten dokumentierbar ist. Die klassische Stelle, an der dies geschieht, ist eine Passage aus seinem Buch Philosophy of Logic, in welcher Quine Tarskis Konvention T erläutert: »[Der Verteidiger von Propositionen] hat Recht, wenn er behauptet, dass die Wahrheit von der Realität abhängig sein sollte; das tut sie auch. Von sich aus ist kein Satz wahr; vielmehr macht ihn die Realität wahr. Der Satz ›der Schnee ist weiß‹ ist wahr, wie Tarski uns gelehrt hat, dann und nur dann, wenn der wirkliche Schnee wirklich weiß ist.« 45
Quine hat richtig gesehen, dass der Satz rechts von der Äquivalenz, der das Wörtchen ›eben‹ enthält, eine Qualifikation diese Satzes beinhaltet, die den Unterschied zum selben auf der linken Seite der Äquivalenz erscheinenden Satz markiert: Auf der rechten Seite ist vom wirklichen Schnee und von der wirklichen weißen Farbe die Rede, im Gegensatz zur linken Seite, wo nur ›Schnee‹ und ›weiß‹ erscheinen. Die Bedeutung von ›wahr‹ ist genau das, was die Anwendung des Operators ›es ist wahr dass‹ bewirkt, nämlich das, was in der Tarskischen Formulierung das Wörtchen ›eben‹ ausdrückt und was Quine in der soeben zitierten Passage »wirklicher Schnee« und »wirklich weiß« nennt. Aber Quine bemerkt nicht die Tatsache, dass dieser fundamentale Unterschied, den er doch explizit artikuliert, in der von ihm ohne Einschränkung akzeptierten Konvention T gerade nicht artikuliert wird; noch weniger bemerkt er die immense Tragweite dieses Sachverhalts im Hinblick auf die Wahrheitstheorie. Im Gegenteil: Gleich anschließend an die zitierte Passage heißt es: »Solange wir nur über die Wahrheit einzelner Sätze sprechen, ist die perfekte Theorie der Wahrheit das, was Wilfrid Sellars die Theorie des Verschwindens der Wahrheit genannt hat.« 46 Eine andere Formulierung dieser »Theorie« findet sich in einer neueren Schrift und wurde schon oben zitiert (dabei wird ›wahr‹ durchgehend als Prädikat, nicht als Operator verstanden): »Die Zuschreibung von Wahrheit hebt gerade die Anführungszeichen auf. Wahrheit ist Disquotation.« 47 Quine merkt nicht, dass ›wahr‹ eine emi45 W. V. Quine, Philosophy of Logic. Englewood Cliffs, N.J.: Prentice Hall, 1970, 10 (Kursiv nicht im Original). 46 Ebd. 11. 47 W. V. Quine, Pursuit of Truth, Harvard University Press: Cambridge/MA, 1990, 80.
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nent positive Bedeutung hat, nämlich jene Bedeutung, die bewirkt, dass ein Satz, durch die Qualifikation als »wahr«, einen besonderen Status erhält bzw. hat. ›Wahr(heit)‹ ist alles andere als redundant. Die disquotationale Theorie der Wahrheit ist eine banale »Theorie«, die alles offen lässt, die alles unerklärt lässt. ET 3/32 – Nachdem die Disquotationstheorie zurückgewiesen wurde, wie muss man die Wahrheit eines Satzes und konsequenterweise die Wahrheit des Expressum eines wahren Satzes, nämlich der Proposition, auffassen? LBP 3/32 – Hier setzt die Theorie an, die ich entwickelt habe und die ich struktural-systematische oder semantisch-ontologische Theorie der Wahrheit nenne. Sie ist das Ergebnis einer immensen Arbeit der Erforschung und der Auseinandersetzung mit den vielen Wahrheitstheorien, die inzwischen präsentiert wurden und heute vertreten werden. Diese Theorie kann allgemein-verständlich auf relativ einfache Weise dargestellt werden; aber die adäquate systematisch formulierte Theorie ist alles andere als einfach, besonders dann, wenn sie in formalisierter Form dargestellt wird. Hier soll möglichst konzise nur die einfache Form dargelegt werden; die adäquate Darstellung findet sich in meinen beiden Büchern Struktur und Sein und Sein und Gott. Ausgegangen wird von zwei Feststellungen: (1) Im strengen und eigentlichen Sinn wird ›Wahr(heit)‹ sogenannten »Wahrheitsträgern« zugeschrieben. Das sind vor allem zwei: deklarative (theoretische) Sätze und deren Expressa, die Propositionen. (Bis auf weiteres ist der Unterschied zwischen »Proposition« und »Primproposition« nicht von Bedeutung; der Kürze halber werde ich daher einfach »Proposition« sagen.) Traditionell wurde ›Wahr(heit)‹ auch – und an erster Stelle – jener mentalen Entität zugeschrieben, die Urteil heißt; da aber die struktural-systematische Philosophie die Sprache ins Zentrum der Philosophie rückt, haben mentale Entitäten wie Urteil, wenn überhaupt, nur einen völlig untergeordneten, einen sekundären Stellenwert. (Man kann sinnvollerweise auch Äußerungen (utterances) von Sätzen als Wahrheitsträger auffassen; doch dies geschieht nur im sehr derivativen Sinne, weswegen sie hier nicht weiter betrachtet werden.) Das Verhältnis zwischen Satz und Proposition in wahrheitstheoretischer Hinsicht ist ganz einfach: Ein Satz ist wahr dann und nur dann, wenn er eine wahre Proposition ausdrückt. Die Proposition ist demnach der eigent124 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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liche, der fundamentale Wahrheitsträger. Es kommt daher alles darauf an, zu erklären, was eine wahre Proposition ist. (2) Wenn ›Wahr(heit)‹ einen Satz bzw. eine Proposition qualifiziert, d. h. determiniert, so hat das zur Voraussetzung, dass der Satz und die Proposition qualifizierbar/bestimmbar sind. Beide sind daher noch zunächst undeterminierte oder jedenfalls nicht volldeterminierte Entitäten. Nun ist ›Wahr(heit)‹ die höchste oder maximale semantische Qualifikation/Determination, denn eine noch höhere ist nicht mehr vorstellbar. Zum Faktor »Wahr(heit)« kann nämlich in semantischer Hinsicht nichts mehr hinzugefügt werden. Alle anderen semantischen Begriffe, wie Bedeutung, Referenz usw., schließen (noch) nicht Wahrheit ein, sondern zielen erst auf Wahrheit hin, während Wahrheit alle anderen semantischen Begriffe (welcher Art auch immer) schon einschließt bzw. voraussetzt. Man kann zwar etwa in epistemologischer, modaler usw. Hinsicht weitere Qualifikationen von Wahrheit einführen, wie z. B. a priori oder a posteriori Wahrheit, kontingente oder notwendige Wahrheit usw. Doch semantisch gesehen, sind diese anderen Qualifikationen nichts anderes als Spezifikationen des Wahrheitsstatus von Sätzen/Propositionen; über den Wahrheitsstatus wird dabei nicht hinausgegangen, weil man über ihn nicht hinausgehen kann. Um eine konsistente und adäquate Wahrheitstheorie zu entwickeln, muss man radikal elementar vorgehen, d. h. ab ovo beginnen. Das bedeutet hinsichtlich der Sprache, dass man von einem Urfaktum ausgehen muss: Sprache ist zunächst grundsätzlich nichts anderes als eine Menge von Zeichen. Alles, was mit ihnen geschieht, sind dann nähere Determinationen der Zeichen; das ist ein Prozess, der irgendwann zu einer determinierten Konfiguration sprachlicher Zeichen führt, die dann als eine Sprache wie Deutsch, Französisch usw. gilt. Indem noch weitere Annahmen gemacht werden, von denen einige oben behandelt wurden, erreicht man eine weitere Determination einer solchen Sprache, indem man sie grundsätzlich als eine Menge von Sätzen begreift, wobei dann der Satz als die zentrale Spracheinheit verstanden wird. Aber der Satz ist zunächst eine rein syntaktische Konfiguration von Sprachzeichen. Wie kommt es aber dazu, dass mit diesen Zeichen bzw. mit dem Satz ein determinierter Sinn, eine determinierte Bedeutung assoziiert wird? Was die Sprache als ganze angeht, so ist das natürlich historisch zu erklären. Die Basis für die Entwicklung einer Wahrheitstheorie ist aber eine schon historisch konstituierte Sprache wie Deutsch, Französisch u. a. Eine solche Sprache wird dann grundsätzlich dadurch näher 125 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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determiniert, dass die Bedeutung der einzelnen Wörter etwa durch Gebrauch festgestellt und durch Wörterbücher festgesetzt wird. Aber auch auf dieser Basis ist der eigentliche Sinn oder die eigentliche Bedeutung etwa eines bestimmten Satzes, der eine Konfiguration von Sprachzeichen ist, nur grundsätzlich, vor allem syntaktisch, determiniert. Man nehme als Beispiel den irgendwo geäußerten oder einfach geschriebenen Satz ›Cäsar wurde ermordet‹. Wie ist er zu deuten, zu verstehen? Die einzelnen Wörter sind aufgrund des bestehenden Lexikons allgemein determiniert und können daher allgemein verstanden werden. Aber der Satz als Satz? Die Klärung des Problems, das hier auftaucht, bildet den eigentlichen Ansatz der in der struktural-systematischen Philosophie vertretenen Wahrheitstheorie. Hier wird ein enormer Raum von Undeterminiertheit und Unterdeterminiertheit der Sprache sichtbar. Der genannte Satz ›Cäsar wurde ermordet‹, in sich selbst betrachtet, ist semantisch gesehen höchstens unterdeterminiert, da er verschiedene Bedeutungen haben kann; denn im Prinzip kann der genannte Satz ein Beispiel eines grammatisch korrekten Satzes der deutschen Sprache sein oder er kann eine Reklame (etwa der Titel eines Films oder eines Romans) sein oder er kann ein Satz in einem historischen Buch sein usw. usf. Per se ist der Status des Satzes nicht determiniert. Wodurch, d. h. nach welchen Kriterien oder Faktoren wird der Satz determiniert und noch mehr voll determiniert? Die struktural-systematische Theorie der Wahrheit basiert entscheidend auf einer genauen Analyse des Prozesses der näheren Determination der Sätze der philosophischen Sprache bis hin zur höchsten Stufe der Volldetermination dieser Sätze. Wenn solche Sätze den Status als volldeterminierte Sätze erreichen, werden sie im eigentlichen Sinn als wahr bezeichnet. Kurz: Wahrheit von Sätzen heißt Volldeterminiertheit der Sätze. Da aber ein Satz dann und nur dann wahr ist, wenn er eine wahre Proposition ausdrückt, so gilt dasselbe von der Proposition: Eine Proposition ist nur dann wahr, wenn sie den volldeterminierten Status hat. Das ist nun im Einzelnen zu erläutern. Man kann drei semantische Ebenen oder Formen der Determination der Sprache und damit der Gesamtheit der Sätze dieser Sprache unterscheiden. Die zwei ersten sind nur implizit semantische Ebenen/Formen, erst die dritte ist die explizit semantische Ebene/Form. Die beiden ersten sind schon Determinationen der Sprache, aber nur in einem sehr eingeschränkten Sinn; erst die dritte ist die volldeterminierte Ebene/ Form. Das sei in aller Kürze im Einzelnen gezeigt. 126 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Die erste Ebene/Form kann die lebensweltlich–kontextuale Ebene/ Form genannt werden. Wenn Sprache ausschließlich dazu gebraucht wird, um Sätze im täglichen Leben zu äußern, dann kann nicht bestritten werden, dass die geäußerten Sätze semantisch determiniert sind; denn in der Regel gehen wir erfolgreich damit um, schaffen Kommunikation, verstehen, was wir meinen, und werden von anderen Sprachbenutzern verstanden. Im hier vorausgesetzten Normalfall enthält die Sprache auf dieser Ebene kein pragmatisches Vokabular, also keine Ausdrücke wie z. B. ›behaupten‹ und erst recht auch kein semantisches Vokabular wie ›Wahr(heit)‹. Die so rein lebensweltlich-kontextual determinierte Sprache ist eine Kommunikationssprache, keine theoretische, keine wissenschaftliche bzw. philosophische Sprache. Aber der Fluss der Kommunikation kann sehr schnell unterbrochen werden, etwa durch Fragen an einen Sprecher wie: »Wie meinen Sie das?« oder allgemein: »Welches ist der Status der von Ihnen geäußerten Sätze?« Damit ändert sich die Situation schlagartig: Ein Bruch tut sich auf zwischen der Sprache in ihrer »natürlichen«, d. h. unmittelbaren Verwendung und einer anderen Ebene bzw. mehreren anderen Ebenen. Dass der lebensweltliche Kontext aufgebrochen wird, heißt, dass die lebensweltlich-kontextuale Determiniertheit der Sprache fraglich wird und in jedem Fall nicht mehr als ausreichend und maßgebend erscheint; im strengen Sinn ist sie als solche verschwunden. Um welche neue Ebene der Sprachdetermination es sich handelt, kann nicht a priori gesagt oder abgeleitet werden, denn es gibt mehrere Möglichkeiten. Aber oft und oft und auf »natürliche« Weise kommt eine Ebene ins Spiel, die durch die Verwendung des pragmatischen Vokabulars charakterisiert ist. Diese sprachpragmatische Ebene ist die zweite Ebene der Determination der Sprache. Sie kann als eine sprachexterne-sprachinterne, also eine »gemischte« Ebene in folgendem Sinn bezeichnet werden: Auf dieser neuen Ebene wird Determiniertheit der Sprache dadurch herbeigeführt und angezeigt, dass eine Handlung (ein Akt) (also etwas Sprachexternes) von einem oder mehreren Sprechern vollzogen und gleichzeitig als eine solche Handlung sprachlich artikuliert wird. Diese sprachlich artikulierte Handlung determiniert den geäußerten Satz. Auf dieser Ebene wird dann gesagt: »Ich behaupte, ich glaube, ich vermute … dass …« Durch diese pragmatischen Ausdrücke wird die verwendete Sprache für die neu eingetretene Situation klar und ausreichend neu semantisch determiniert. Kurz: Jetzt weiß man, wie die geäußerten Sätze genau zu nehmen sind, was sie genau bedeuten. 127 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Die neben der kontextualen und der sprachpragmatischen Ebene dritte Ebene der Sprachdetermination ist die unvergleichlich wichtigste, weil sie die letztlich fundamentale Ebene ist: Das ist die Ebene, auf der das semantische Vokabular, und hier ganz besonders der zentrale semantische Ausdruck ›Wahr(heit)‹, situiert ist. In der Tat hat der Operator »Es-ist-wahr-dass« einen determinativen Charakter bezüglich der Sprache. Aber zwischen dem sprachpragmatischen Operator »es wird behauptet dass …« und dem Wahrheitsoperator »es ist wahr dass …« besteht ein radikaler Unterschied, der eine entscheidende Rolle in dem hier zu entwickelnden Ansatz spielt. Im Gegensatz zum sprachpragmatischen Operator beinhaltet der Wahrheitsoperator keinen Bezug zu irgendwelchen sprachexternen Faktoren wie lebensweltlichen Kontexten, Subjekten (Sprechern), Handelnden, Handlungen, Vollzügen und dergleichen. Der Wahrheitsoperator, wie überhaupt das semantische Vokabular, ist ein rein sprachinterner Determinator, oder besser, der eigentliche sprachinterne Determinator. Richtig müsste es heißen: Durch das Vorkommen des semantischen Vokabulars determiniert die Sprache sich selbst. Oder anders ausgedrückt: Das semantische Vokabular ist die sprachdeterminative Dimension der Sprache selbst. Dieser Faktor wurde schon vom eigentlichen Gründer der strengen (formalen) Semantik, nämlich Alfred Tarski, in eindrucksvoller Weise als eine Selbstverständlichkeit angesehen, wenn er beispielsweise in der folgenden schon oben zitierten Passage markant formuliert: »Eine wahre Aussage ist eine Aussage, welche besagt, dass die Sachen sich so und so verhalten, und die Sachen verhalten sich eben so und so.«
Von der Aussage – und man kann dann generalisierend sagen: von der Sprache überhaupt – sagt Tarski, dass sie, also die Aussage bzw. die Sprache selbst, »(be)sagt dass …«. Hier findet Selbstdetermination der Sprache statt. Bisher wurden (die) drei Ebenen der Sprachdeterminierung bzw. -determiniertheit nur unterschieden und jede für sich charakterisiert. Es stellt sich aber die Frage, ob sie in einer Beziehung zueinander stehen, und wenn ja, wie. Hier wird davon ausgegangen, dass die drei Ebenen einen Zusammenhang bilden, derart, dass die lebensweltlichkontextuale Sprachdetermination die sprachpragmatische voraussetzt und die sprachpragmatische Sprachdetermination ihrerseits die semantische Sprachdetermination voraussetzt. Umgekehrt setzt weder die semantische Sprachdetermination die beiden anderen Ebenen noch die 128 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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sprachpragmatische Sprachdetermination die lebensweltlich-kontextuale voraus. Dies bedarf einer Erklärung und Begründung. Um überhaupt intelligibel zu sein, muss die lebensweltlich-kontextuale Sprachdetermination dazu führen, dass ein in diesem Rahmen geäußerter Satz p einen ganz bestimmten Status hat. Wie sollte sonst die Determiniertheit der Sprache auf der lebensweltlich-kontextualen Ebene konzipiert werden? Der »frei« stehende Satz p kann in diesem Kontext nur verstanden werden, wenn er als implizite Behauptung, und nicht etwa als Ausruf, Reklame, Frage, grammatisches Beispiel u. ä. identifiziert wird. Ist dem so, dann impliziert die lebensweltlich-kontextuale Ebene die nächste, die sprachpragmatische Ebene der Sprachdetermination. Das heißt: Zu sagen, dass ein Satz p eine lebensweltliche/kontextuale Determiniertheit hat, heißt (im stärksten Fall) sagen, dass p behauptet werden kann, also einen Behauptbarkeitsstatus hat. Hier nun drängt sich eine Frage auf, die sich in analoger Weise im Fall der lebensweltlich-kontextualen Sprachdetermination aufdrängte: Was heißt es, dass ein Satz einen Behauptbarkeitsstatus hat? Was ist überhaupt eine Behauptung? Eine Antwort darauf kann man in der folgenden Aussage von Frege finden: »Um etwas als wahr hinzustellen, brauchen wir kein besonderes Prädikat, sondern nur die behauptende Kraft, mit der wir den Satz aussprechen.« 48 Daraus folgt, dass die Behauptung schon Wahrheit voraussetzt. »Behaupten« besagt etwas bezüglich »Wahrheit«, nämlich das »Hinstellen« [von Wahrheit]«. »Behaupten« ist daher nicht äquivalent zu »Wahrheit«, noch weniger ist es mit »Wahrheit« synonym. Daraus ergibt sich folglich, dass die sprachpragmatische Sprachdetermination nur unter Voraussetzung von »Wahrheit« überhaupt möglich, d. h. hier intelligibel ist. Damit setzt die sprachpragmatische die semantische Sprachdetermination voraus bzw. gründet auf ihr. Und damit erweist der Zusammenhang der drei Ebenen der Sprachdetermination die Fundamentalität der semantischen Ebene. Der einmalig spezifische Charakter des semantischen Vokabulars ist zu betonen: Dieses Vokabular ist in dem Sinne absolut, dass es keinen Bezug, keine wie immer zu konzipierende Relativität auf sprachexterne Faktoren jedweder Art beinhaltet. Durch das semantische Vokabular spricht die Sprache über sich selbst, sie qualifiziert, determiniert sich selbst. 48 G. Frege, Schriften zur Logik und Sprachphilosophie. Aus dem Nachlass. Hamburg: Meiner Verlag, 1978, 139.
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Das Ergebnis der bisherigen Ausführungen lautet: Die Anwendung des zentralen semantischen Begriffs »Wahr(heit)« auf Sätze und auf das, was die Sätze ausdrücken, nämlich die Propositionen, besagt die höchste Determination, die Volldetermination der Sätze/Propositionen. Demnach gilt: Ein wahrer Satz ist ein Satz, der volldeterminiert ist, und eine wahre Proposition, d. h. eine volldeterminierte Proposition, ausdrückt. Damit ist aber keine vollständige und keine adäquate Definition von Wahrheit erreicht. Das formulierte Resultat stellt nur sozusagen die »halbe« Definition dar. ET 3/33 – Wie soll man dann die »zweite Hälfte« Ihrer Definition der Wahrheit konzipieren? LBP 3/33 – Dies ist in der Tat noch zu zeigen – und es ist leicht zu zeigen. Volldetermination heißt zunächst: absolute Determination. Und das seinerseits heißt: Der Satz (bzw. die Proposition) wird weder relativ zu einer kontextual-lebensweltlichen Situation noch relativ zu einer bestimmten Handlung eines Subjekts (einer Behauptung) determiniert; vielmehr wird der Satz in sich selbst determiniert, und zwar hinsichtlich dessen, was das sprachliche Gebilde, genannt »Satz«, überhaupt ist und damit hinsichtlich dessen, was der Satz leisten soll. Sein »Wesen« und seine Leistung bestehen nun darin, im höchsten Maß – und das heißt auf der höchsten Stufe der Determination – das auszudrücken, was er ausdrücken soll: die Proposition als volldeterminierte Proposition. Eine weitere Determination des Satzes ist nicht mehr denkbar und wäre sinnwidrig. Es kommt also jetzt alles darauf an, zu zeigen, als was eine volldeterminierte Proposition zu konzipieren ist. Genau formuliert: Was heißt es zu sagen, dass eine wahre Proposition eine vollbestimmte Proposition ist? Das ist die entscheidende Frage, welche die semantisch-ontologische Wahrheitstheorie zu klären hat. Oberflächlich gesehen ist die vollbestimmte Proposition eine janusköpfige Entität: Einerseits ist sie vom Satz her als dessen Expressum zu sehen, andererseits weist sie in Richtung Realität (Welt, Sein). Eine Proposition, allgemein aufgefasst, ist die Art und Weise, wie Sprache sich zur Realität (zur Welt, zum Sein) verhält. Eine als wahr qualifizierte Proposition ist eine vollbestimmte Proposition. Die Aufgabe, eine positive Erklärung des Vollbestimmtheitsstatus der Proposition zu liefern, besteht näher darin, das Verhältnis (die Relation) zwischen Proposition und Realität (Welt, Sein) zu klären. Die traditionelle Auffas130 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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sung hat dieses Verhältnis als Korrespondenz zwischen Urteil bzw. Satz/Proposition und einer Entität (in) der Welt aufgefasst. Aber diese Auffassung krankt entscheidend daran, dass diese Korrespondenzrelation nicht wirklich geklärt wird. Es geht dieser Auffassung zufolge um eine Relation zwischen zwei völlig verschiedenen Entitäten, also zwischen zwei völlig differenten Relata. Dahinter steht eine große unverzichtbare Intuition, die aber in dieser Weise nie eine einleuchtende Erklärung gefunden hat. In der heutigen wahrheitstheoretischen Diskussion wurden die damit gegebenen Probleme intensiv diskutiert. Diesbezüglich sind mehrere Konzeptionen entwickelt worden, die aber das eigentliche Problem des Verhältnisses zwischen einer als wahr qualifizierten Entität (Urteil, Satz, Proposition) und einer Entität in der Welt nicht wirklich in Angriff nehmen; sie weichen vielmehr dem eigentlichen Kern des Problems aus. Ein Beispiel ist die unter der Bezeichnung ›Truthmaker‹ bekannte Konzeption, der zufolge ein Satz durch eine Entität (eine Tatsache) in der Welt wahrgemacht wird. Damit ist aber über das, was ›Wahr(heit)‹ bedeutet, nichts gesagt. Allerdings haben einige analytische Autoren neuerdings diesen Punkt eingesehen, ohne eine überzeugende Lösung des Problems anzubieten. 49 Die Hauptschwierigkeit in der gegenwärtigen Diskussion besteht darin, dass in der Regel eine völlig ungeklärte Ontologie vorausgesetzt wird. Mit welcher »Entität« der Welt soll dann ein Satz bzw. eine Proposition eine Korrespondenzrelation unterhalten? Es werden Objekte, Eigenschaften, oft auch Tatsachen, »Momente« u. a. angenommen. Aber wie werden diese Entitäten überhaupt erklärt? Es handelt sich durchgehend um Varianten einer Substanzontologie. Ich habe in meinen Schriften und oben auf die Probleme hingewiesen, die diese Substanzontologie aufwirft. Für die struktural-systematische Theorie der Wahrheit gibt es überhaupt keine Schwierigkeit zu erklären, wie das Verhältnis der vollbestimmten Primproposition zur »Welt« zu konzipieren ist, wie schon oben in einem anderem Zusammenhang gezeigt wurde. Nach dieser Ontologie ist die Welt die Gesamtheit der Primtatsachen, wobei die sogenannten »Dinge« oder »Seienden« nichts anderes sind als KonfiguraVgl. dazu: K. Mulligan/P. Simon/B. Smith, »Wahrmacher«, in: L. B. Puntel (Hrsg.), Der Wahrheitsbegriff. Neue Erklärungsversuche. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1987, 250–255; B. Smith/J. Simon, »Truthmaker Explanations«, in: http:// ontology.buffalo.edu/smith/articles/truthmakers/truthmaker_explanations.pdf.
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tionen von Primtatsachen. Zwischen wahren und damit vollbestimmten Primpropositionen und Primtatsachen besteht eine Identitätsrelation: Eine wahre Primproposition ist eine Primtatsache (wobei dieses »ist« als Identität zu deuten ist). Diese Theorie der Wahrheit ist keine Korrespondenztheorie im herkömmlichen Sinn, da diese die beiden Relata der Korrespondenz als verschieden, also als nicht identisch versteht, woraus sich dann unlösbare Probleme ergeben. Man muss aber betonen, dass in der struktural-systematischen Theorie die Grundidee der Korrespondenz doch beibehalten wird, dies aber nur unter der Voraussetzung, dass man die Identitätsrelation zwischen wahrer Primproposition und Primtatsache als Grenzfall der Korrespondenzrelation begreift. Ich möchte diese Kurzdarstellung der struktural-systematischen Wahrheitstheorie mit drei Schlussbemerkungen abschließen. (1) Ich habe die möglichst einfachste Form einer Darstellung dieser Wahrheitstheorie präsentiert. Hier war es möglich, nur die Hauptaspekte der Grundidee des Wahrheitsbegriffs rein informal-intuitiv zur Darstellung zu bringen. In anderen Schriften habe ich eine ausführliche und genaue Exposition, auch in einer formalisierten Version, präsentiert. (2) Wahrheit hat sich als eine Überstruktur herausgestellt, welche die drei fundamentalen Strukturen: die formalen (logischen und mathematischen), die semantischen und die ontologischen ihrerseits strukturiert: Wahrheit ist insofern eine Struktur von Strukturen. Diese Strukturen erweisen sich damit als Substrukturen der sie einenden Überstruktur Wahrheit. In jeder Theorie ist die so verstandene Wahrheit das einigende Band. (3) Mit der Darstellung der Wahrheitstheorie kommt die (äußerst kurze) Darstellung des allgemeinen (und abstrakten) Theorierahmens für die struktural-systematische Philosophie zum Abschluss. Ab diesem Punkt geht es darum, die beschriebene Strukturdimension auf alle Bereiche anzuwenden.
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4 Die größte Herausforderung: eine Theorie des Seins als solchen und im Ganzen
ET 4/1 – Wie situieren Sie Ihren Versuch einer metaphysischen Erneuerung – denn um eine solche handelt es sich wohl – im Vergleich zu anderen Philosophen, die dieselbe Zielsetzung haben oder die mindestens Brücken zwischen der analytischen und der kontinentalen Philosophie zu bilden beabsichtigen? Ich denke beispielsweise an Namen wie: Nancy Fraser, Martha Nussbaum, Seyla Benhabib oder auch Frédéric Nef, ohne die Bewegung der analytischen Thomisten zu erwähnen. Aber es gibt noch andere Namen. In Anbetracht dessen, was Sie uns über Ihr eigenes Denken gesagt haben, gehe ich wohl nicht fehl in der Annahme, dass die meisten dieser Versuche von Ihrem Standpunkt aus in gewisser Weise eine Grunddefizienz offenbaren, insofern sie den Gedanken des Systems oder die Vollständigkeit der Daten nicht beachten; das heißt, dass sie in gewisser Weise in einem unbewussten Nominalismus oder in einem KryptoSkotismus verfangen bleiben. Ich stelle absichtlich diese Frage, da wir jetzt schon die ontologische Dimension Ihres Denkens erreicht haben; in der Tat frage ich mich, ob nicht gerade die Ontologie die Thematik ist, die Ihr Denken am tiefsten von allen gegenwärtigen Ansätzen unterscheidet. LBP 4/1 – Zunächst möchte ich sagen, dass ich Bezeichnungen wie »unbewusster Nominalismus« und »Krypto-Skotismus« solange für sehr problematisch halte, als eine ausführliche Interpretation dieser Richtungen nicht vorliegt. Sonst läuft man Gefahr, eine sinnlose Scheindebatte zu führen. Nicht nur liegt eine solche klare Interpretation nicht vor, sondern sie kann auch nicht vorausgesetzt werden; denn es gibt eine ganze Reihe von Varianten der Richtung, die in der Philosophiegeschichte »Nominalismus« genannt wird; und was mit »KryptoSkotismus« gemeint sein könnte, entzieht sich meiner Kenntnis. Ihre andere Frage: »[…] Gehe ich fehl in der Annahme, dass die meisten dieser Versuche von Ihrem Standpunkt aus in gewisser Weise 133 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
Eine Theorie des Seins als solchen und im Ganzen
eine Grunddefizienz offenbaren, insofern sie den Gedanken des Systems oder die Vollständigkeit der Daten nicht beachten?« ist eine gute Frage, vorausgesetzt allerdings, man klärt, was mit »System« und mit »Daten« sinnvollerweise gemeint ist. Wie ich öfter in meinen philosophischen Schriften erläutert und betont habe, verwende ich nicht den Term ›System‹ zur Bezeichnung der struktural-systematischen Philosophie, weil dieser Term unüberwindbare missverständliche und unausrottbare Konnotationen hat. Von einem »philosophischen System« zu sprechen, evoziert nämlich sofort die Erinnerung an Systeme der Philosophie im Stil der deutschen Idealisten. Um solchen Vorstellungen und Missverständnissen aus dem Weg zu gehen, spreche ich stattdessen von systematischer Philosophie. Was ist unter »Daten« zu verstehen? Man kann dem Ausdruck »Datum« im gegenwärtigen Kontext einen guten Sinn geben, wenn man darunter »jedwede Sache« oder »jedwedes Thema« versteht, die/ das Gegenstand einer philosophischen Analyse ist bzw. sein kann, und das in dem Sinne, dass man in Bezug auf sie/es Fragen stellt oder stellen kann, die darauf abzielen, deren/dessen Intelligibilität und Kohärenz aufzuweisen. Hinsichtlich dieser beiden Gesichtspunkte, nämlich der allgemeinen systematisch-philosophischen Perspektive und der auf Intelligibilität und Kohärenz angelegten philosophischen Analyse von Daten jedweder Art, unterscheidet sich die struktural-systematische Philosophie deutlich, in vielerlei Hinsicht sogar sehr fundamental von dem Mainstream der heutigen analytischen Ontologie und Metaphysik. Das möchte ich in aller Kürze durch Hinweise auf drei Problemfelder zeigen. (1) Der radikalste Unterschied betrifft das Verständnis von Ontologie und Metaphysik. Bis zu einem gewissen Punkt und mit einigen zusätzlichen Themenstellungen knüpft die analytische Philosophie an die Tradition der vorkantischen Metaphysik an. Diese Tradition, die von Francisco Suarez im 16. Jahrhundert und später von Christian Wolff im 18. Jahrhundert in einer gewissen Hinsicht systematisiert wurde, war die scholastische Entwicklung jenes Konzepts von Metaphysik, die auf Aristoteles zurückgeht. Insbesondere drei berühmte Aussagen des Stagiriten stehen am Anfang dieser Tradition, nämlich: (i) »Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes untersucht und das demselben an sich Zukommende«. 1 (ii) »Das Seiende wird in mehrfacher Be1
Metaphysica Γ 1003 a 21–22.
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deutung ausgesagt, aber immer in Beziehung auf Eines und auf eine einzige Natur und nicht nach bloßer Namensgleichheit.« 2 (iii) »(D)ie Frage, welche von alters her so gut wie jetzt und immer aufgeworfen und Gegenstand des Zweifels ist, die Frage, was das Seiende ist, bedeutet nichts anderes als, was die Seiendheit (ousia, Substanz) ist.« 3 Diese Wissenschaft wurde später von Suarez und Wolff metaphysica generalis und seit Anfang des 17. Jahrhunderts auch ontologia genannt. Davon wurde die metaphysica specialis unterschieden, die drei Bereiche des Seienden betrachtete: die Welt als die Gesamtheit der Seienden der Natur (in der [philosophischen] Kosmologie), die Seele als das Wesen des menschlichen Seienden (in der [metaphysischen] Psychologie) und Gott als das höchste Seiende (in der [natürlichen] Theologie). Was in dieser Tradition und in deren Fortsetzung in der analytischen Philosophie einzig thematisiert wurde und wird, sind die Fragen nach dem Seienden als Seiendem und nach den Bereichen der Seienden. Mit Ausnahme von Thomas von Aquin wurde die Frage nach dem Sein selbst in der ganzen Tradition der Metaphysik nicht gestellt, geschweige denn behandelt. Der Aquinate hat aber teilweise das esse selbst zum Thema erhoben, indem er besonders Gott an erster Stelle als Esse per se subsistens (und nicht als primum oder summum ens) auffasste: Aber Thomas verstand unter esse nur den actus essendi; dies ist aber nur ein Aspekt oder nur eine Dimension des Seins als solchen. Die ganze Spätscholastik bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hatte die esseAuffassung des Thomas so gut wie vergessen. Die Wiederentdeckung der »Originalität des thomistischen esse« (C. Fabro) hat aber kaum über rein historische Interpretationen hinausgeführt. Die analytische Philosophie kennt überhaupt nicht die Seinsfrage als solche. Im Allgemeinen wird im Anschluss an Quine »Sein« mit »Existenz« identifiziert und »Existenz« wird als Status von Seienden bestimmt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf ein bemerkenswertes Phänomen hinzuweisen, das in einer Hinsicht Grund, in einer anderen Hinsicht aber Ausdruck der »Seinsvergessenheit« (nach Heideggers berühmtem Ausdruck) ist. Mit Ausnahme der deutschen Sprache besitzen alle westlichen Sprachen ein Wort, um sowohl das deutsche Wort ›Sein‹ als auch das deutsche Wort ›Seiendes‹ zu bezeichnen: ›être‹ (Französisch), ›being‹ (Englisch), ›ser‹ (Spanisch und Portugiesisch), ›es2 3
Ebd. Γ 1003 a 33–34. Ebd. 1028 b 2–4.
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sere‹ (Italienisch). Mit Ausnahme des Englischen haben alle romanischen Sprachen inzwischen (später) Äquivalente zum deutschen Wort ›Seiendes‹ gebildet: ›étant‹ (Französisch), ›ente‹ (Spanisch/Portugiesisch/Italienisch). Wenn in einer dieser Sprachen von einer Philosophie des »être«, »being«, »ser«, »essere« die Rede ist, so ist immer unklar, was damit wirklich gemeint ist. Es herrscht noch heute diesbezüglich eine außerordentlich störende Konfusion und Äquivokation, die für fundamentale philosophische Fehler und Irrwege verantwortlich zu machen ist. Um diese Konfusion a limine auszuschließen, wird (seit einigen Jahren) in allen meinen Schriften in Englisch und in den romanischen Sprachen der erste Buchstabe des dem deutschen Wort ›Sein‹ entsprechenden Wortes in diesen Sprachen großgeschrieben und der erste Buchstabe des dem deutschen Wort ›Seiendes‹ entsprechenden Wortes kleingeschrieben, also: ›Être – être (= étant)‹, ›Being – being‹, ›Ser – ser (= ente)‹, ›Essere – essere (= ente)‹. (2) Das Wort ›Ontologie‹ ist ebenfalls ambig. »On, ontos« im Griechischen bedeutet »Seiendes«, nicht »Sein«. Daher eignet sich der Term ›Ontologie‹ nur als Bezeichnung für eine Theorie des/der Seienden, nicht des Seins. Eine Seinstheorie ist daher keine Ontologie; sie ist eine ursprünglichere Disziplin als die Ontologie. In einem programmatischen Aufsatz, der in The Review of Metaphysics 4 erschienen ist, habe ich folgenden terminologischen Vorschlag gemacht: Die Seinstheorie sollte als primordiale Metaphysik, die Theorie des Seienden als Seienden als allgemeine Metaphysik und/oder allgemeine Ontologie, und die Theorie der (Bereiche der) Seienden als spezielle Metaphysik und/oder spezielle Ontologie bezeichnet werden. Die struktural-systematische Philosophie thematisiert ausdrücklich und umfassend die Seinsfrage und entwickelt damit eine primordiale Metaphysik. Darauf wird noch einzugehen sein. Das unterscheidet diese Philosophie grundlegend von der analytischen Philosophie als ganzer. Es sei aber angefügt, dass heute hie und da in der analytischen Philosophie einige wenige sehr zaghafte kleine Versuche unternommen werden, die Schwelle zur Entwicklung einer primordialen Metaphysik zu überschreiten; allerdings sind diese Versuche nicht so weit gediehen, dass sie eine nähere Betrachtung verdienen würden. Man wird eher sagen müssen, dass erst ganz langsam ein Problem»Metaphysics: a Traditional Mainstay of Philosophy in Need of Radical Rethinking«, in: The Review of Metaphysics 65, December 2011, 299–319.
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bewusstsein hinsichtlich des großen Themas der Seinsfrage im Entstehen begriffen ist. Ganz anders stellt sich die Problemlage im Bereich der Ontologie (im soeben genauer erläuterten Sinn) dar. In der analytischen Philosophie der Gegenwart gibt es nämlich eine außerordentlich intensive und expansive ontologische/metaphysische Bewegung. Es stellt sich daher die Frage, wie sich dieser Mainstream der (sowohl allgemeinen als auch speziellen) analytischen Metaphysik/Ontologie zur struktural-systematischen Ontologie, die sich ebenfalls als analytisch versteht, verhält. Die allgemeine Antwort lautet: Obwohl beide Ontologien sich als analytische Ontologien verstehen, könnte die Differenz zwischen ihnen kaum größer sein. Im Folgenden werden die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale kurz genannt und erläutert. (Wenn im Folgenden von »analytischer Ontologie« die Rede ist, so ist damit immer der Mainstream der analytischen Ontologie gemeint.) Schon vom Ansatz her wird der tiefe Graben zwischen der analytischen und der struktural-systematischen Ontologie nur allzu deutlich. Die analytische Ontologie wird auf der Basis und im Rahmen der natürlichen Sprache entwickelt, so dass alle fundamentalen Strukturen dieser Sprache angenommen werden. Dazu gehört an erster Stelle das Verständnis der Sätze als sprachlicher Einheiten mit der Subjekt-PrädikatStruktur. Und daraus folgt dann alles, was schon oben aufgewiesen wurde: Die Semantik dieser Sprache ist durch das Kompositionalitätsprinzip bestimmt, welches bei einigen Autoren mit einer schwachen Version des Kontextprinzips gekoppelt wird, woraus unmittelbar folgt, dass eine Substanz- bzw. Objektontologie angenommen und entwickelt wird. Das alles wurde schon oben detailliert gezeigt. Es gibt aber innerhalb der analytischen Philosophie eine sehr interessante ontologische Richtung, die in gewisser Hinsicht in der Mitte zwischen dem Mainstream der analytischen Ontologie und der struktural-systematischen Ontologie situiert ist. Diese Richtung lehnt die Substanzontologie ab und unterscheidet sich in dieser allgemeinen Hinsicht nicht von der struktural-systematischen Ontologie. Aber diese Richtung akzeptiert die normale Sprache und damit die Sätze mit der Subjekt-Prädikat-Struktur und geht damit Hand in Hand mit dem Mainstream der analytischen Ontologie. Eine kurze Analyse dieser Richtung offenbart die innere Inkohärenz, die sie durchdringt. Etwas anders gesagt: Aus der Perspektive der struktural-systematischen Philosophie bleibt diese Richtung auf halbem Wege stehen. Sie geht von 137 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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einer richtigen Feststellung der inneren Inkohärenz und Nicht-Intelligibilität der Substanz- bzw. Objektontologie aus und unternimmt es konsequenterweise, diese Inkohärenz und Nicht-Intelligibilität zu überwinden. Aber die Mittel, die sie anwendet, sind dafür nicht nur ungeeignet, sondern erzeugen eine neue völlig inkohärente Position. Die gemeinte Richtung ist besonders unter der generellen Bezeichnung ›Bündeltheorie(n)‹ (›bundle theory/theories‹) bekannt. Man kann die Grundidee auf Leibniz’ Begriff des conceptus completus zurückführen, wobei auch vor allem einige andere ältere Konzeptionen, besonders die von englischen Empiristen, vor allem Locke und Hume, und später auch von B. Russell, zu beachten wären. Stark vereinfachend kann man sagen, dass es zwei verschiedene Varianten einer Bündeltheorie gibt. Die eine sagt, dass ein Individuum ein Bündel von als Universalien aufgefassten Eigenschaften ist, die andere nimmt ebenfalls nur Eigenschaften an, versteht sie aber als partikuläre Eigenschaften oder abstrakte Partikuläre, als immer schon individuelle oder konkrete Eigenschaften, wie. z. B. die rote Farbe dieses Apfels, die rote Farbe dieses Autos, das Lächeln der Mona Lisa etc. Solche partikulären Eigenschaften bzw. abstrakte Partikuläre werden von vielen analytischen Philosophen »Tropen« genannt (nach einer Bezeichnung, die der Philosoph D. C. Williams 1953 eingeführt hat). Die entsprechende Theorie wird Tropentheorie genannt. Das große Problem, das diese Theorie aufwirft, ist das Problem, wie die Einheit oder der Zusammenhang dieser Tropen aufzufassen ist. Auf die Einzelheiten bzw. auf die Probleme dieser Konzeptionen brauchen wir hier nicht näher einzugehen, und zwar aus einem ganz einfachen und einleuchtenden Grund: Die struktural-systematische Philosophie basiert nicht auf den Annahmen, die bei diesen Konzeptionen schwierige Probleme erzeugen. Hingegen ist es sinnvoll, hier auf andere, weil ernstere, Probleme hinzuweisen, die sonst in der analytischen Diskussion entweder überhaupt nicht, oder höchstens nur völlig unzureichend gesehen und thematisiert werden. Das wichtigste dieser letzteren Kategorie zuzuordnende Problem ergibt sich aus der Tatsache, dass alle heute diskutierten Bündeltheorien die Strukturen der normalen Sprache problemlos akzeptieren und damit die Prädikatenlogik erster Stufe als das dazu geeignete logische Instrumentarium ebenfalls problemlos anwenden. Damit setzen sie immer eine Grundentität X voraus, von welcher sie dann bestimmte andere Entitäten (Eigenschaften als Universalien, Eigenschaften als abstrakte 138 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Partikuläre, also als Tropen …) prädizieren. Damit aber sehen sie sich genötigt, zu erklären, was diese Grundentität X überhaupt ist. Oben wurde gezeigt, dass eine Erklärung nicht möglich ist, woraus folgt, dass die angebliche Entität X gänzlich nicht-intelligibel ist. Im Allgemeinen muss gesagt werden, dass der Ausdruck »Eigenschaft«, und zwar sowohl im Sinne einer universalen Eigenschaft als auch im Sinne einer partikulären Eigenschaft (einer Trope) wesentlich ein korrelativer Begriff ist, d. h. es handelt sich immer um eine-Eigenschaft-von … (einem X). Damit wiederholt sich das soeben beschriebene Problem. Es ist nicht verwunderlich, dass manche analytische Tropentheoretiker dann außer den Tropen noch explizit eine Substanz postulieren. Aber darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden. Die struktural-systematische Ontologie vermeidet grundsätzlich all diese Probleme. Der entscheidende Punkt, wie mehrmals betont, ist die Einführung einer transparenten philosophischen Sprache, wobei eine der wesentlichen Charakteristiken dieser Sprache darin besteht, dass ausschließlich Sätze ohne die Subjekt-Prädikat-Struktur anerkannt werden. Um diesen wichtigen Sachverhalt noch einmal klarzustellen: Sätze mit der syntaktischen Subjekt-Prädikat-Struktur werden nicht abgelehnt simpliciter (das wäre einfach nicht machbar), sondern sie werden nur in Bezug auf die semantische Interpretation ausgeschlossen. In semantischer Hinsicht werden diese Sätze uminterpretiert und als Abbreviationen einer bestimmten Anzahl von Primsätzen, also von Sätzen ohne die Subjekt-Prädikat-Struktur, gedeutet. Man kann das Gesagte so zusammenfassen: Durch die Einführung einer philosophischen Sprache, die aus Primsätzen besteht, wird ein Theorierahmen angenommen und zur Anwendung gebracht, der sich von dem vom Mainstream der analytischen Ontologie vorausgesetzten und benutzten Theorierahmen auf der ganzen Linie radikal unterscheidet. Das entscheidende Unterscheidungsmerkmal zwischen beiden Theorierahmen ist leicht anzugeben: Es ist die Operation der Prädikation, die von der struktural-systematischen Philosophie bzw. Ontologie radikal abgelehnt, von der analytischen Philosophie bzw. Ontologie aber nicht weniger radikal angenommen und angewandt wird. Dieser Operation gemäß werden einem x/a Eigenschaften/Relationen beigelegt: Fx bzw. Fa. Die Entität x/a wird vorausgesetzt. Wie diese Entität zu konzipieren ist, bleibt nicht nur völlig ungeklärt, sondern ist auch nicht klärbar, wie oben gezeigt wurde. Diese Basis ist daher durch Nicht-Intelligibilität und Inkohärenz charakterisiert. 139 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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(3) Das dritte Problemfeld ist ganz anderer Art. Es betrifft die Haltung des Mainstream der analytischen Philosophie gegenüber der Wissenschaft, ganz besonders der Physik. Viele analytische Philosophen meinen, dass die Philosophie (d. h. ihre analytische Philosophie) ganz wesentliche philosophische (ontologische, metaphysische) Aussagen über die »Naturwelt« (die physikalische Welt) machen kann und soll. So entfalten sie ganze Konzeptionen über die immanente Strukturiertheit der physikalischen Welt. Beispiele dieser Einstellung in Frankreich sind Werke von Frédéric Nef 5 und Claudine Tiercelin 6. Die strukturalsystematische Philosophie vertritt diesbezüglich eine ganz andere, eine gegensätzliche Sicht. Sie hält die Aufgabe, die innere Strukturiertheit der physikalischen Welt als eine Aufgabe, die in die ausschließliche Kompetenz der physikalischen Wissenschaft fällt. Zwar kann, ja soll die Philosophie auch Aussagen über die physikalische Welt machen, aber diese Aussagen sind nur allgemeine Aussagen über den spezifischen Charakter des physikalischen Seinsbereichs im Unterschied zu anderen Seinsbereichen und im Ganzen des Seins. Es wurde oben dargestellt, dass die einzige Art oder Kategorie von Entitäten, welche die struktural-systematische Philosophie anerkennt, die Entität oder Kategorie »Primtatsache« bzw. »ontologische Primstruktur« ist. Das ergibt sich aus der These, dass einzig Primsätze, also Sätze ohne die Subjekt-Prädikat-Struktur, im theoretischen Bereich anerkannt werden. Daraus folgt nun, dass auch alle wissenschaftlichen Aussagen Primsätze sind, die Primpropositionen ausdrücken, welche, wenn sie wahr sind, mit Primtatsachen identisch sind. Alle physikalischen Entitäten, welcher Art auch immer, sind daher physikalische Primtatsachen bzw. Konfigurationen oder Konstellationen von Primtatsachen. Aber welche physikalischen Entitäten es gibt, welche Art von Strukturiertheit sie haben, welche Konstellationen sie bilden usw., darüber kann die Philosophie nach struktural-systematischer Konzeption nichts sagen. Diese Aufgabe ist die ausschließliche Domäne der Wissenschaft. Diese Sicht gründet auf der strikten Unterscheidung zwischen dem physikalischen Theorierahmen und dem philosophischen Theorierah5 Vgl. besonders sein Buch: Les proprietés des choses. Expérience et logique. Paris: Vrin, 2006. 6 Vgl. ihr Buch: Les ciment des choses. Petit traité de métaphysique scientifique réaliste. Paris: Les Éditions d’Ithaque, 2011.
140 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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men. Der Theorierahmen der Physik ist nichts anderes als der für das Gebiet der physikalischen Natur adäquate Theorierahmen. Das Verhältnis zwischen Philosophie und (physikalischer) Wissenschaft wird vom Gesichtspunkt des Theorierahmens radikal und total bestimmt. Das beinhaltet auch die Aufgabe, dieses Verhältnis positiv zu bestimmen, eine Aufgabe, die sich daraus ergibt, dass der struktural-systematische Theorierahmen viel umfassender ist als der physikalische Theorierahmen. Dieser entscheidende Gesichtspunkt wird von den analytischen Philosophen, wenn überhaupt, nur völlig unzureichend beachtet, während die struktural-systematische Philosophie ihn ins Zentrum ihres Verständnisses des Verhältnisses zwischen Philosophie und Wissenschaften rückt. ET 4/2 – Wie fassen Sie die Ontologie (in Ihrem soeben erläuterten und präzisierten Sinn) auf? LBP 4/2 – Man muss zuerst an dieser Stelle den systematischen Punkt explizit markieren, der in der systematischen Darstellung der struktural-systematischen Philosophie erreicht wurde. Dieser Punkt ist ein Wendepunkt. Bis jetzt wurden – zumindest in den Grundzügen – die großen Koordinaten des systematischen Theorierahmens erarbeitet: Es handelt sich um die Elemente, die in der Erarbeitung einer jeden philosophischen Theorie vorausgesetzt werden und zur Anwendung gelangen (müssen). Genauer formuliert, handelt es sich um die Herausarbeitung der Dimension der fundamentalen Strukturen. Damit wurden noch keine konkreten Daten oder Themen betrachtet. Erst ab diesem Punkt ist der Philosoph vollständig ausgerüstet, um die theoretische Behandlung der konkreten Daten oder Themen der Philosophie in Angriff zu nehmen. Ab jetzt wird es darum zu tun sein, diese Daten oder Themen mithilfe der erarbeiteten Strukturen oder unter Heranziehung der Strukturen in die theoretische Betrachtung einzubeziehen. Die Dimension der Strukturen (mit allem, was sie einschließt, vor allem die ganze epistemische Dimension, d. h. den Bereich des erkennenden Subjeks) und die Dimension der Daten/Themen erscheinen zuerst als zwei unterschiedene oder gar getrennte Dimensionen, so dass dann die Aufgabe ist, diese beiden Dimension irgendwie zueinander in Beziehung zu setzen oder ineinander zu integrieren. Hier muss man darauf achten, dass man diese Unterscheidung der beiden Dimensionen nicht gründlich missversteht. Die Unterscheidung 141 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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ist nicht eine Unterscheidung oder gar Trennung in dem Sinne, dass es sich um zwei voneinander völlig unabgängige oder gar einander grundsätzlich fremde Dimensionen handeln würde; vielmehr ist die Unterscheidung eine rein prozedurale oder methodische. Die Aufgabe besteht gerade darin, zu zeigen, dass diese auf der Oberfläche unterschiedenen Dimensionen im Grunde immer schon eine Einheit bilden: Strukturen sind immer schon Strukturen-der-Daten und Daten sind immer schon strukturierte Daten. Noch genauer gesagt, besteht die Aufgabe darin, zu zeigen, wie diese grundsätzliche Einheit genau zu verstehen ist und welche Form oder Formen sie hat. Diese Behauptungen müssen aber weiter differenziert und präzisiert werden, was ein neues weites Feld der philosophischen Theoriebildung eröffnet. Das wird klar, wenn man sagt, dass das uneingeschränkte universe of discourse beide Dimensionen, die Strukturen und die Daten/Themen, einschließt. Dieses »Einschließen« ist ein sehr komplexer Sachverhalt, denn in der struktural-systematischen Philosophie wird von Daten in einem dreifachen Sinn oder gemäß einem dreifachen Status gesprochen. (1) Gemäß dem ersten Sinn von Daten/Themen wird die Dimension der Strukturen selbst im abstrakten Sinne als Datum/Thema genommen. Genau das ist bisher getan worden, als der systematische Theorierahmen herausgearbeitet wurde; denn der Theorierahmen besteht im Wesentlichen aus den drei Arten der fundamentalen Strukturen und gerade diese wurden thematisiert. Das bedeutet, dass der Theorierahmen – und damit die Dimension der Strukturen – sich selbst zum Datum/Thema erhoben hat, wodurch eine selbstexplikative Theorie entstanden ist. (2) Im zweiten Sinn sind Daten von Strukturen im abstrakten Sinne unterschieden und daher nicht selbst Strukturen. Das muss aber richtig verstanden werden, wie schon oben gezeigt. Am Anfang der Theoriebildung erscheinen die Daten als von Strukturen unterschieden, aber im Rahmen der Theoriebildung stellen sie sich als strukturierte Daten und in diesem Sinne als konkrete Strukturen heraus. (3) Datum im dritten Sinn ist das Maximaldatum, worunter, noch ganz allgemein gesprochen, die Einheit von Datum/Daten im Sinne von (1) und von (2) zu verstehen ist. Datum als Maximaldatum bildet den Gegenstand der später zu entwickelnden Theorie des Seins als solchen und im Ganzen. Im gegenwärtigen Zusammenhang geht es zunächst um die 142 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Daten/Themen im Sinn von (2). Im Allgemeinen nennt man diese Dimension zunächst »die Welt«, »das Universum«, manchmal auch »die Natur« oder »die Realität«. In der struktural-systematischen Philosophie wird dafür die Bezeichnung »Welt« eingeführt und benutzt. Und so wird »Welt« im struktural-systematischen Sinn streng von »Sein« unterschieden, wobei »Sein« die Bezeichnung für Datum im dritten Sinn, also für das Maximaldatum ist. Die Theorie, welche die Welt in diesem technischen Sinne zum Gegenstand hat, wird Weltsystematik und die, welche das Sein als solches und im Ganzen thematisiert, Gesamtsystematik genannt. Wie ist die Welt (im erläuterten Sinn) zu begreifen? In rein systematischer Hinsicht ist die Welt die Gesamtheit der Seinsbereiche; Seinsbereiche sind Bereiche von Seienden, daher ist die Welt die Gesamtheit der Seienden. Diese Totalität der Seienden ist nicht das Sein selbst. Die Unterscheidung zwischen Seienden und Sein ist fundamental – eine Thematik, die in unseren Dialogen noch ausführlich zu behandeln sein wird. Nach der noch darzustellenden Konzeption ist Gott nicht ein Seiendes, nicht das höchste und nicht das erste Seiende, sondern überhaupt kein Seiendes. Er ist das voll explizierte Sein selbst, das notwendig und absolut ist. Demgegenüber sind alle Seienden kontingent und die Welt ist die Gesamtheit aller kontingenten Seienden. Wenn man nun die Gesamtheit der kontingenten Seienden nicht nur extensional charakterisiert, indem man aufzählt, was alles zur Welt gehört, sondern die Welt intensional, also die Welt als Welt, begreift, so ist die genaueste systematische Charakterisierung diese: Die Welt als Welt ist das Sein-der-Seienden. Dadurch ist der Unterschied zwischen der Welt-als-dem-Sein-derSeienden und Gott-selbst-als-dem-vollexplizierten-Sein-selbst, dem esse plenum, am Genauesten angegeben. Das muss allerdings noch genau dargestellt werden. Wenn man aus einer eher konkreten Perspektive von »der Welt« spricht, so ist zu sagen, dass unter »der Welt« das Gesamt der grundsätzlich erfahrbaren Dinge gemäß einem sehr weiten Begriff von Erfahrung zu verstehen ist. Am einfachsten kennzeichnet man in dieser Hinsicht die Welt extensional, indem man die einzelnen Seinsbereiche nennt. Das Buch Struktur und Sein enthält ein langes Kapitel über die Weltsystematik (Kapitel 4). Doch das Buch hat nicht die Aufgabe, eine ausgearbeitete Konzeption aller Seinsbereiche, welche die Welt bilden, zu präsentieren. Es will nur anhand einer kurzen Thematisierung einiger der wichtigsten Seinsbereiche, die eher als Beispiele betrachtet wer143 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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den, zeigen, wie der herausgearbeitete systematische Theorierahmen mit den fundamentalen Strukturen in seiner Mitte als Basis für eine Theorie der Welt und ihrer vielen Teile dienen kann. So werden insbesondere folgende Bereiche im Einzelnen behandelt: die »Naturwelt« (die rein anorganische oder rein physikalische und die organische Natur); die menschliche Welt mit ihren vielen Aspekten, u. a. besonders die philosophische Anthropologie (die heute weitgehend »Philosophie des Geistes« genannt wird), das sittliche Handeln und die sittlichen Werte (Ethik); die ästhetische Welt; die Weltgeschichte und das Weltganze mit den drei großen Dimensionen der naturwissenschaftlich-philosophischen Kosmologie, dem Phänomen des Religiösen und der Pluralität der Religionen. Was die struktural-systematische Philosophie »die Weltsystematik« nennt, bildet im Großen und Ganzem die Thematik dessen, was heute unter der Bezeichnung »analytische Metaphysik oder Ontologie« verstanden wird. Es dürfte klar sein, dass es sich um eine immense Thematik handelt. Darauf einzugehen, würde besonders die heutigen analytischen Metaphysiker bzw. Ontologen sehr interessieren. ET 4/3 – Ich wäre versucht, mich diesbezüglich den von Ihnen genannten heutigen analytischen Metaphysikern bzw. Ontologen anzuschließen, und Sie aufzufordern, die Darstellung Ihrer Konzeption der »Welt« weiter auszuführen. Abe ich fürchte, dass wir damit den Rahmen dieses Dialogs bei weitem überschreiten würden; deswegen ziehe ich vor, für die Vertiefung dieser Thematik einfach auf Ihr Buch Struktur und Sein zu verweisen. Es wäre nun angebracht, dass Sie die großen Optionen Ihrer »primordialen Metaphysik« explizit machen, die sich vornimmt, nicht nur die Seienden, sondern das Sein selbst zu thematisieren. LBP 4/3 – Als Erstes muss daran erinnert werden, dass die so genannte »Seinsfrage« eine der ältesten, wenn nicht gar die älteste aller philosophischen Fragen ist. Aber sie ist auch die Frage, die im Verlauf der Geschichte der Philosophie die vermutlich größten, häufigsten und disparatesten Wandlungen durchgemacht hat. Das wird daran ersichtlich, dass mit dem Wort ›Sein‹ viele verschiedene und disparate Bedeutungen assoziiert wurden. Um nur große Beispiele zu nennen: Aristoteles kennt und gebraucht nur das Wort ›ὄν‹, das nicht »Sein«, sondern »Seiendes« meint. Erst Thomas von Aquin wird dem esse eine wichtige 144 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Stellung im philosophischen und theologischen Denken zuschreiben. Besonders krass ist der Unterschied zwischen dem Verständnis von »Sein« bei Kant und bei Hegel. Beim kritischen Philosophen Kant ist »Sein […] offenbar kein reales Prädikat … […] Es ist bloß die Position eines Dinges, oder gewisser Bestimmungen an sich selbst« 7, während nach dem dialektisch-spekulativen Philosophen Hegel »das Seyn […] das unbestimmte Unmittelbare« 8 ist. Der große Erneuerer der Seinsfrage im 20. Jahrhundert war Heidegger, der die umfassende Behauptung aufstellte, die ganze Philosophiegeschichte sei durch ihre Seinsvergessenheit charakterisiert. Dazu ist zu sagen, dass Heideggers Behauptung weitestgehend zu Recht besteht. In der Tat, mit der partiellen Ausnahme von Thomas von Aquin, wurde das Sein in der großen Tradition der besonders christlich orientierten Metaphysik nicht thematisiert. Diese Metaphysik verstand sich ganz im aristotelischen Sinn als eine Theorie des Seienden als Seienden (ὄν ᾗ ὂν, ens quatenus ens). Der Aquinate hat die Unterscheidung zwischen esse und ens ganz klar gesehen, aber er verstand das esse nur als actus essendi, was ein sehr einseitiges und inadäquates Verständnis von esse ist; außerdem ist das esse=actus essendi bei ihm zwar ein zentraler Gedanke, bleibt aber gänzlich in die völlig inadäquate aristotelische ontologische Begrifflichkeit eingebettet. Wie kann die Seinsfrage behandelt werden? Zunächst muss eine Vorfrage gestellt werden: Wie ist die Seinsfrage zu verstehen? Genauer formuliert: Wie ist »Sein« zu verstehen? Hier werden eine Grundschwierigkeit und gleichzeitig ein Grundfehler offenbar, die oft in der Philosophiegeschichte zu finden sind. Paradigmatisch dafür ist wieder das Vorgehen des Philosophen, der die Seinsfrage erneuert hat: Heidegger. Am Anfang von Sein und Zeit stellt er »die Frage nach dem Sinn von Sein« 9. Und in seinen Texten zeigt sich die Unklarheit und die Konfusion hinsichtlich dessen, wie diese Frage zu verstehen ist bzw. wie Heidegger sie verstanden oder nicht verstanden hat. Meint Heidegger mit Sein den Ausdruck (das Wort) ›Sein‹ oder den Begriff »Sein«? Das ist bei ihm völlig unklar, weil beide Annahmen nebeneinander und völlig undifferenziert erscheinen. Wenn das Wort ›Sein‹ gemeint ist, dann hat »die Frage nach dem Sinn von Sein« die Aufgabe, mit dem Aus7 8 9
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 626. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erstes Buch. Gesammelte Werke, Band 21, 68. Sein und Zeit, Gesamtausgabe, Band 2, Überschrift der Einleitung.
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druck ›Sein‹ allererst einen bestimmten Bedeutungsinhalt, einen Begriff zu assoziieren. Wenn aber mit »Sein« ein bestimmter Begriff gemeint ist, dann kann mit »der Frage nach dem Sinn von Sein« nur gemeint sein, dass danach gefragt wird, um welchen Begriff es sich genauer handelt. Da ein Begriff vorausgesetzt wird, wäre die Aufgabe des Theoretikers, diesen Begriff – so minimal er auch sein mag – allererst zu explizieren, widrigenfalls wäre die Rede von »der Frage nach dem Sinn von Sein« eine sinnlose, weil leere Rede. In Sein und Zeit erfüllt Heidegger teilweise, nur faktisch und nicht mit methodischer Rigorosität diese Forderungen, wenn er anfangs feststellt: »Das ›Sein‹ ist der selbstverständliche Begriff. In allem Erkennen, Aussagen, in jedem Verhalten zu Seiendem, in jedem Sich-zu-sichselbst-verhalten wird von ›Sein‹ Gebrauch gemacht, und der Ausdruck ist dabei ohne weiteres verständlich.« 10 Wenn der Ausdruck ›Sein‹ »ohne weiteres verständlich« ist, so ist es unverständlich, wie Heidegger auf der nächsten Seite sagen kann: »Dieses durchschnittliche und vage Seinsverständnis ist ein Faktum«. Dann aber verfährt er korrekt, wenn er sagt: »Die Interpretation des durchschnittlichen Seinsverständnisses gewinnt ihren notwendigen Leitfaden erst mit dem ausgebildeten Begriff des Seins.« 11 Allgemein gilt nach Heidegger: Jedes Verstehen ist ein Seinsverstehen. Im weiteren Verlauf sagt Heidegger: »Sein besagt Sein von Seiendem« 12, dann identifiziert er Sein und Welt und schließlich Sein und Zeit. Heidegger hat zwar die Seinsfrage ins Zentrum seines Denkens gestellt, aber seine weitere Behandlung der Frage ist nicht nur hochproblematisch, sondern auch nicht nachvollziehbar. 13 Von bleibendem Wert ist hingegen seine Überwindung der transzendental-phänomenologischen Philosophie der Subjektivität, wie das oben im Rahmen der Frage 3/1 angeführte Zitat zeigt. Hier sei die Hauptpassage zitiert: »Das Konstituierende ist nicht Nichts, also etwas und seiend – obzwar nicht im Sinne des Positiven. Die Frage nach der Seinsart des Konstituierenden selbst ist nicht zu umgehen. Universal ist daher das Problem des Seins auf Konstituierendes und Konstituiertes bezogen.« 14 Ebd. § 1, 6. Ebd. 8. 12 Ebd. 9. 13 Vgl. dazu mein Buch Sein und Gott, Kapitel 2. 14 Husserliana, Gesammelte Werke. Band IX, 1962, Anlage I, 601–602 (Hervorhebungen nicht im Original). 10 11
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Hier mag die Frage interessant und aufschlussreich sein: Warum hat der spätere Heidegger (etwa ab Mitte der 1930er Jahre) eine Denkart entwickelt, die mehr Poesie als Philosophie ist? Die Antwort dürfte sein: Obwohl er inhaltlich Husserls transzendental-phänomenologische Position überwunden hat, blieb er dennoch in methodischer Hinsicht ein Phänomenologe, was hier heißt: Heidegger blieb immer dem reinen Sehen verhaftet. In seiner mittleren und späteren Phase hat Heidegger das Wort ›Denken‹ in exzessiver Weise verwendet, das Denken aber mit reinem Sehen gleichgesetzt. Dabei verfuhr er nur allzu deutlich auf inkohärente Weise, was leicht zu zeigen ist. Heidegger hat oft den großen Ausspruch getan: »Das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens.« 15 Nun dürfte es klar sein, dass das reine Sehen nicht mit dem (philosophischen) Fragen vereinbar ist, denn wer nur sieht, der fragt nicht. Andererseits dürfte ebenfalls evident sein, dass das Fragen eine bemerkenswerte Distanz zu der Sache voraussetzt, an die es sich richtet. Die Bedeutung dieses grundlegenden Sachverhalts wird später im Rahmen der Ausführungen über die systematische Theorie des Seins als solchen und im Ganzen offenbar werden. ET 4/4 – Wie begreifen Sie das »Sein als solches und im Ganzen«, das Sie soeben erwähnt haben? Man wird wohl nicht bei dem verführerischen, aber doch zutiefst undurchsichtigen Denkweg Heideggers stehenbleiben, und zwar weder in der ersten Phase seines Werkes, die Sein und Seiende zu sehr aneinander bindet, noch in der zweiten Phase, die auf das reine phänomenologische Anschauen oder Sehen fixiert bleibt. LBP 4/4 – Die Grundzüge der angedeuteten Theorie des Seins als solchen und im Ganzen soll in drei Etappen erarbeitet werden. [I] Zuerst wird die grundsätzliche minimale Bedeutung des Wortes ›Sein‹ herausgearbeitet. [II] Dann wird auf dreifache Weise gezeigt, wie die gesamtsystematische Stellung von Sein zu verstehen und zu rechtfertigen ist. [III] Erst in einem dritten großen Anlauf werden die inhaltlichen Grundzüge einer Explikation des Seins als solchen und im Ganzen herausgearbeitet. ET 4/5 – Beginnen wir also mit dem ersten Punkt.
15
Z. B. in: Vorträge und Aufsätze. Gesamtausgabe, Band 7, 36.
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LBP 4/5 – Zu [I]: Wenn die »Seinsfrage« anerkannt und gestellt wird, so besteht die allererste Aufgabe darin zu zeigen, was damit überhaupt gemeint ist. Das heißt, man muss eine grundsätzliche und minimale Bedeutung des Wortes ›Sein‹ voraussetzen und explizit machen. Beachtet man die Verwendung dieses Wortes in der normalen Sprache und in der ganzen philosophischen Tradition, so lässt sich sagen, dass die grundsätzliche und minimale Bedeutung von ›Sein‹ zwei »Momente« einschließt. Das erste Moment ist ein negatives: Sein ist die Negation von Nichts: Sein ist Nicht-Nichts. Das Wort ›Nichts‹ kann aber im relativen oder im absoluten Sinne genommen werden: Im relativen Sinne meint es die Negation von etwas Bestimmtem, etwa nicht-Mensch, nicht-Tier, nicht-grün, nicht-theoretisch usw. Im absoluten Sinne (als nihilum absolutum) meint Nichts die Negation nicht nur von etwas Bestimmtem, sondern von absolut Allem, wie immer man Alles auffassen mag. Das zweite Moment ist der Umstand, dass Sein die fundamentalste, die absolut nicht weiter hintergehbare »Dimension« darstellt. Mit »Dimension« ist hier das gemeint, was man das Charakteristische von allem und jedem nennen kann: von sogenannten realen Dingen, von sogenannten idealen Entitäten, von Begriffen, von Theorien usw. usf. »Sein« wird von allen diesen Dimensionen vorausgesetzt – aber »Sein« setzt absolut keine weitere, fundamentalere, ursprünglichere Dimension überhaupt voraus. Mit dem Wort ›Nichts‹ wurde in der Geschichte der Philosophie oft viel Missbrauch getrieben. Das vielleicht wichtigste Beispiel ist die Art und Weise wie Heidegger viele zentrale Aussagen unter Verwendung dieses Wortes gemacht hat, ganz besonders in seinem bekannten Text Was ist Metaphysik? Seine diesbezüglichen Ausführungen, die eine große Geschichte gehabt haben, basieren auf einer einfachen Konfusion zwischen relativem und absolutem Nichts. Auch das Nichts als die Negation der ganzen Dimension der Seienden ist immer noch Nichts nur im relativen, nicht im absoluten Sinne; nur die Negation des Seins selbst wäre Nichts im absoluten Sinne. Heidegger hat zwar die Absicht, zum Sein selbst vorzudringen; aber die Art und Weise, wie er dabei das Wort ›Nichts‹ verwendet, ist nicht nur konfus, sondern vor allem irreführend. Das kann hier nicht im Einzelnen gezeigt werden. Ich verweise auf die langen diesbezüglichen Ausführungen in meinem Buch Sein und Gott. 16 16
Vgl. 68 f., 78 f.
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ET 4/6 – Hinsichtlich der Entwicklung Ihrer Seinstheorie erwähnen Sie oben einen zweiten Punkt, der drei Wege einschließt. LBP 4/6 – Zu [II]: Hier drängt sich die Frage auf: Welche Bedeutung oder Funktion oder welche Stellung hat das Sein, wenn man es im Sinne der erarbeiteten grundsätzlichen minimalen Bestimmung versteht? Es handelt sich um eine umfassende, genauer: um die umfassendste Stellung, die überhaupt denkbar ist. Das kann man auf dreifache Weise oder auf drei Wegen zeigen. Es sind drei Weisen oder drei Wege der Explizitmachung der gesamtsystematischen Stellung der Seinsdimension. (1) Die erste Weise oder der erste Weg ist von einigen traditionellen Gedanken inspiriert, wobei aber diese neu durchdacht, teilweise korrigiert und angemessener artikuliert werden. Es handelt sich um einen direkten Weg in dem Sinne, dass er in der Feststellung und Beschreibung eines der zentralsten Strukturmomente des menschlichen Geistes besteht. Dieses Strukturmoment wird hier »die intentionale Koextensivität des menschlichen Geistes mit dem uneingeschränkten universe of discourse« genannt. Schon in der Antike hat Aristoteles diesen Gedanken in geradezu klassischer Weise formuliert, indem er die These aufstellte: ἡ ψυχὴ τὰ ὄντα πώϚ ἐστι πάντα (wörtliche Übersetzung: »Die Seele (der Geist) ist in gewisser Weise alle Seienden.«) 17 In der lateinischen metaphysischen Tradition wurde daraus eine Art Axiom: anima (est) quodammodo omnia. Die ganze Tragweite dieser häufig angeführten These wurde aber in keiner Weise erfasst und noch weniger gewürdigt. Die Phrase »in gewisser Weise« kann man mit dem Begriff »intentional« deuten. Der Sinn der Aristotelischen These könnte dann so wiedergegeben werden: »Der Geist ist intentional koextensiv mit der Totalität der Seienden«. Aristoteles spricht nur von »Seienden«, nicht von »Sein«. In dieser Hinsicht wäre die These des Aristoteles ein beredtes Zeugnis für die Richtigkeit der Heideggerschen Interpretation und Kritik der Metaphysik, der zufolge diese nur das/die Seiende(n), nicht aber das Sein selbst gedacht hat. Aber man kann über Aristoteles hinausgehen und die Rede von »allen Seienden« oder von »der Totalität der Seienden« überwinden, indem man stattdessen vom Sein, und zwar vom Sein als solchem und im Ganzen spricht. Die intentionale Koextensivität des Geistes mit dem Sein als sol17
ΠEΡI ΨYXHΣ (De anima) Γ 431 b 21.
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chen und im Ganzen ist ein Grundkonstituens des menschlichen Geistes. Es ist nicht so, dass der menschliche Geist dies oder jenes ist und dass er anschließend dieses »dies oder jenes« irgendwie »transzendiert« und dadurch zum Sein selbst gelangt. Wenn es noch Sinn macht, hier von »Transzendenz« zu reden, so müsste man sagen, dass der menschliche Geist diese »Transzendenz« selbst ist. Von einer »Transzendenz« kann man hier dennoch sprechen, aber nur in einem sehr relativen Sinn, insofern man den Sachverhalt vor Augen hat, dass der menschliche Geist von der Betrachtung einzelner »Dinge (Seienden)« ausgehen kann und meistens ausgeht und allmählich zur Betrachtung immer weiterer Zusammenhänge und schließlich zum Zusammenhang aller Zusammenhänge, nämlich der Dimension des Seins selbst, fortschreitet. Der noch darzustellende dritte Weg zur Erschließung der Seinsdimension wird sich als ein solcher Prozess herausstellen. Dass aber dieser Prozess, dieses Fortschreiten überhaupt stattfinden kann, gründet gerade darauf, dass der menschliche Geist sich sozusagen immer schon am Zielpunkt dieses Prozesses befindet. Einen nicht angemessenen oder höchstens nur halb-angemessenen Ansatz findet man bei Thomas von Aquin, insofern er auf explizite Weise von einem ursprünglichen Verhältnis des menschlichen Geistes (oder, wie er sagt, des menschlichen Intellekts) zum ganzen Bereich des »Seienden (ens)« spricht. Das zeigt seine in mehreren, aber grundsätzlich insignifikanten Variationen ständig wiederholte These: »Das Erste, was in den Intellekt fällt, ist Seiendes (ens)« 18 oder: »Seiendes […] ist jenes, was der Intellekt zuerst als das ihm Bekannteste begreift und in das er alles Begriffene auflöst, wie Avicenna zu Beginn seiner Metaphysik sagt.« 19 Es wurde aber schon mehrmals in unseren Dialogen gesagt, dass Thomas von Aquin durchaus zum Sein/esse (gemäß seinem Verständnis) gelangt. Dieser Umstand macht deutlich, dass man vorsichtig sein muss, wenn man über diese Thematik beim Aquinaten spricht. Hier ist die völlig andersgeartete berühmte Aussage eines anderen Autors anzuführen: Pascal. Sie artikuliert im Grunde denselben Grundgedanken, aber in einer völlig anderen Weise, die gerade deswegen hin»Primum […] quod in intellectum cadit, est ens.« (De Pot, q. 9, a. 7, ad decimumquintum). 19 »Illud […] quod primo intellectus concipit quasi notissimum, et in quod conceptiones omnes resolvit, est ens, ut Avicenna dicit in principio Mataphysicae suae [lib. I, c. ix].« Deutsche Übersetzung (teilweise modifiziert) nach: Thomas von Aquin, Von der Wahrheit. De veritate (Quaestio I), Lateinisch–deutsch. Hamburg: Meiner,1986, 5. 18
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sichtlich der hier behandelten These sehr aufschlussreich ist. In seinen Pensées heißt es: »Erkenne also, Hochmütiger, was für ein Widerspruch du dir selbst bist. Demütige dich, ohnmächtige Vernunft, schweige, törichte Natur: Lerne, dass der Mensch den Menschen um ein Unendliches transzendiert.« 20
Es ist höchst bemerkenswert, dass Pascal sich an den Menschen wendet, indem er dessen Vernunft ohnmächtig und dessen Natur töricht nennt, und dass er ihm gleichzeitig das Großartigste und Tiefste zuschreibt, das man von ihm sagen kann: Das, was seine Größe ausmacht, dass er nämlich sich selbst um ein Unendliches transzendiert. Es ist nur allzu deutlich, dass das Wort ›Mensch‹ in seinen beiden Vorkommnissen im Satz »der Mensch transzendiert den Menschen um ein Unendliches« nicht dieselbe Bedeutung hat. Man kann den Unterschied durch Indexierung kennzeichnen, indem man für das erste Vorkommnis ›Mensch1‹ und für das zweite ›Mensch2‹ schreibt. Die am jetzigen Punkt der Darstellung des systematischen Ansatzes zu artikulierende These kann nun so formuliert werden: Eine sinnvolle Transzendenz gibt es nur hinsichtlich von Mensch2; es ist gegenstandslos, eine wie immer geartete Transzendenz hinsichtlich von Mensch1 zu behaupten. Mit anderen Worten, Transzendenz ist ein sinnvoller Begriff nur in einem relativen, nicht in einem absoluten Sinn, das heißt: nur in einigen Hinsichten, nicht in jeder Hinsicht. Die Dimension von Mensch1, die nicht transzendiert werden kann, ist die Dimension, die hier die intentionale Koextensivität des menschlichen Geistes/Denkens mit dem uneingeschränkten universe of discourse genannt wird, wobei das uneingeschränkte universe of discourse als die universale Seinsdimension simpliciter zu verstehen ist. Diese nicht mehr transzendierbare universale Koextensivität schließt einen Bezug zum »konkreten« Menschen nicht aus, besagt aber, dass der »konkrete« Mensch, nämlich der Mensch2, von der universalen Seinsdimension her betrachtet werden muss; anders ausgedrückt: Sie impliziert einen radikalen Perspektivenwechsel. Nicht die universale Dimension wird aus der Perspektive des Menschen2 betrachtet und bestimmt, sondern umFranzösischer Originaltext: »Connaissez donc, superbe, quel paradoxe vous êtes à vous-même. Humiliez-vous, raison impuissante; taisez vous, nature imbécile: apprenez que l’homme passe infiniment l’homme« (B. Pascal, Pensées, in: Oeuvres complètes. Paris: Éditions Gallimard, 1954, No. 438, 1207; Ausgabe Brunschvicg, Nr. 434; Kursiv nicht im Original).
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gekehrt: der Mensch1,2 wird aus der universalen Perspektive allererst als das bestimmt, was er in Wahrheit ist. Ein weiterer – und in einer bestimmten Hinsicht der wichtigste – Philosoph, der den ersten Weg zur Erschließung der Dimension des Seins beschritten hat, ist (vor allem der junge) Heidegger. Eine diesbezügliche charakteristische Passage aus seinen Schriften lautet: »Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein. Diesem Seienden eignet, daß mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist. Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins.« 21 Zu diesem letzten Satz fügte Heidegger in seinem Handexemplar von Sein und Zeit die folgende aufschlussreiche Randbemerkung hinzu: »Sein aber hier nicht nur als Sein des Menschen (Existenz). Das wird klar aus dem Folgenden. Das In-der-Welt-sein schließt in sich den Bezug der Existenz zum Sein im Ganzen: Seinsverständnis.« 22 (2) Der zweite Weg ist der in gewisser Weise unmittelbarste und eleganteste. Er besteht darin, dass die universale Dimension des Seins als und durch das »Es« des theoretischen Operators »es verhält sich so dass …« und damit als die von jedem theoretischen Satz vorausgesetzte und artikulierte universale Dimension explizit gemacht wird. Um diesen Weg näher zu erläutern, ist zuerst darauf hinzuweisen, dass schon manche Philosophen es unternommen haben, die Seinsfrage dadurch zu klären, dass sie die in jedem Satz mit der Subjekt-Prädikat-Struktur vorkommende Kopula »ist« zu thematisieren versuchten. Wie immer es um die Erschließungskraft der Kopula bestellt sein mag, dieser Weg wird in der struktural-systematischen Philosophie nicht beschritten, und zwar schon aus dem Grund, weil diese Philosophie solche Sätze mit der Subjekt-Prädikat-Struktur – und damit mit der Kopula »ist« – nicht anerkennt. Der struktural-systematische Weg basiert auf einer vertieften gesamtsystematischen Erschließung aller Implikationen des theoretischen Operators, der, wie schon mehrmals in unseren Dialogen gezeigt wurde, jedem theoretisch verstandenen Satz explizit oder zumindest implizit vorangestellt ist. Jeder theoretische Satz hat nämlich die Struktur: »Es verhält sich so das (z. B. φ)«. Man kann den theoretischen Operator durch das Symbol › T ‹ repräsentieren. Dann lässt sich die formalisierte Struktur des theoretischen Satzes so angeben: T (φ). Im gegenwärtigen 21 22
Sein und Zeit § 4, S. 16. Ebd. § 4, S. 16 Fußnote a.
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Zusammenhang geht es nur darum, das ›Es‹ im Operator gesamtsystematisch zu deuten. Der Operator »es verhält sich so dass …« ist der absolut universale theoretische Operator, der keiner Beschränktheit irgendwelcher Art unterworfen ist. Seine Bedeutung für die Philosophie geht über seine reine Funktion, den theoretischen Status eines Satzes festzulegen, weit hinaus. Genauer müsste man sagen, dass seine eigentliche Bedeutung eben darin besteht, die ganze Tragweite des theoretischen Status von Sätzen anzuzeigen. Und diese Tragweite ist eine absolut umfassende. Um das zu zeigen, muss man über rein grammatische Analysen hinausgehen. »Es« ist zwar kein Subjekt im Sinne der Subjekt-Prädikat-Struktur von Sätzen, gleichwohl ist es eine allgemeine »Anzeige« einer sich in allen theoretischen Sätzen auf indirekte Weise artikulierenden Dimension. Aus einer systematisch-philosophischen Perspektive ist diese Dimension das uneingeschränkte universe of discourse, das, näher bestimmt, als die primordiale Dimension des Seins bezeichnet werden kann bzw. muss. Die Begründung dieser These besteht in einer einfachen Analyse der Struktur der theoretischen Sätze im Hinblick auf ihre Voraussetzungen und Implikationen. Man nehme den ganz einfachen Primsatz »es regnet«. Es leuchtet gleich ein, dass ›es‹ hier eine Anzeige nicht eines Objekts oder von etwas Ähnlichem, sondern von etwas nur ganz allgemein Bestimmtem ist, am besten würde man sagen: eine Anzeige einer Raumzeitstelle. Der Sinn wäre: Regen geschieht hier und jetzt. Indem aber dies artikuliert wird, wird schon auf andere und im Prinzip auf alle (realen oder möglichen) Raumzeitstellen Bezug genommen, »in denen« »es« regnet. Verallgemeinernd kann man dann sagen: Es wird schon auf die ganze »Dimension Regen« Bezug genommen. Philosophisch wird man einen Schritt weiter gehen können und müssen, indem man etwa sagt: Durch die Aussage »es regnet« nimmt man im Prinzip Bezug auf jede andere »Dimension« der sogenannten Welt und Realität: auf das, wozu eine explizite Beziehung besteht, aber auch auf alles, was nicht Regen ist. Wie weit kommt man und wohin gelangt man bei einer solchen Analyse des einfachen Primsatzes »es regnet«? Im Prinzip kann man auf der Basis einer sehr sorgfältigen und detaillierten Analyse zu einer absolut universalen Dimension gelangen. Eine interessante Variante dieses Verfahrens wird weiter unten als dritter Weg zur Erschließung der Dimension des Seins darzustellen sein. Im jetzigen Zusammenhang kann diese weitere Analyse des einfachen Primsatzes »es regnet« ganz anders, und zwar sehr verkürzt und 153 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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sehr unkompliziert, in Angriff genommen werden. Das geschieht dadurch, dass der in Frage stehende Primsatz – wie übrigens im Prinzip jeder einfache Primsatz – als ein theoretischer Satz analysiert und vollständig expliziert wird. Dann hat der Primsatz die explizite Gestalt: »Es1-verhält-sich-so-dass es2 regnet«. Die beiden Vorkommnisse von »es« sind indexiert. »Es2« ist eindeutig eine Anzeige einer speziellen Raumzeitstelle: derjenigen, in der es gerade »regnet«. Aber »Es1« ist eine Anzeige ganz anderer Art, d. h. eine Anzeige einer ganz anderen Dimension, nämlich der absolut universalen Dimension des uneingeschränkten universe of discourse. Das lässt sich in aller Kürze so zeigen: Im Gegensatz zu Es2, das die unmittelbare Anzeige einer bestimmten Raumzeitstelle ist, ist das Meta-Es1 auf nichts Bestimmtes, Einzelnes, Beschränktes bezogen, sondern ist offen für absolut alles, für alle Fälle des theoretischen Operators. Es1 ist die Eröffnung des unbeschränkten Raums der theoretischen Artikulation simpliciter. Es1 ist die Anzeige der absolut universalen Dimension. Wie könnte oder müsste diese Dimension bezeichnet werden? Die diesbezügliche struktural-systematische These lautet: Die absolut universale Dimension des theoretisch Artikulierbaren ist die Dimension des primordialen Seins. »Primordial« wird das Sein hier genannt, weil es nicht im Sinne des »objektiven Seins«, d. h. der Welt als der Dimension, die am Anfang der systematischen Darstellung den Gegenpol zur Strukturdimension bildet, verstanden wird. Begründet wird die These durch folgende Analyse: Die absolut universale Dimension, die vom »Es1« des jedem deklarativen Satz vorangestellten theoretischen Operators angezeigt wird, umfasst alle partikulären, alle Einzelfälle des uneingeschränkten universe of discourse. Aber dann drängt sich die Frage auf: Wie hängen diese Fälle zusammen? Im Prinzip lassen sich unendlich viele, vielfältige Zusammenhänge zwischen diesen Fällen aufweisen. Gibt es aber einen Faktor, der nicht nur einigen oder vielen, sondern absolut allen gemeinsam ist? Den muss es wohl geben, sonst könnte man nicht von den – und damit von allen – Fällen des uneingeschränkten universe of discourse sprechen. Man kann sicher Faktoren nennen, die allen Fällen des Artikulierbaren gemeinsam sind, z. B. die universale Ausdrückbarkeit usw. Aber diese Faktoren gründen doch in einer tieferen, ursprünglicheren Gemeinsamkeit. Diese besteht darin, dass alle solche »Fälle« zuerst und fundamental »seiende Fälle« sind; es sind Modi jener Gemeinsamkeit, die allen anderen, soweit vorhanden, Gemeinsamkeiten zugrunde liegen, näm154 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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lich jener Gemeinsamkeit, die Sein heißt. Wollte jemand diese These bestreiten, so müsste er in der Lage sein, eine noch fundamentalere oder ursprünglichere Gemeinsamkeit zu nennen. Es ist nicht einzusehen, wie das möglich sein könnte. Es muss bemerkt werden, dass »Sein« hier nicht nur das sogenannte aktuale, sondern auch das mögliche Sein bedeutet. Aus diesen Analysen ergibt sich, dass der simple Gebrauch des theoretischen Operators im Falle auch des einfachsten und bescheidensten deklarativen Satzes die universale Dimension, die Dimension des primordialen Seins, eröffnet und expliziert. ET 4/7 – Wir haben die beiden ersten Wege zur Erschließung der Seinsdimension zurückgelegt. Wie ist der dritte Weg zu begreifen und worin unterscheidet er sich von den beiden ersten Wegen? LBP 4/7 – (3) Im Unterschied zu den beiden ersten Wegen zur Erschließung der Seinsdimension ist der dritte Weg betont inhaltlich bestimmt. Es handelt sich um ein aufbauendes Verfahren, ein Verfahren von unten nach oben. Die struktural-systematische Philosophie fängt nicht mit der berühmten »Seinsfrage« an; vielmehr wird der Ausdruck ›Sein‹ an einem bestimmten Punkt des inhaltlich analysierenden und aufbauenden Verfahrens als geeignete Bezeichnung für einen bestimmten herausgearbeiteten Sachverhalt eingeführt. Das Verfahren besteht darin, dass von den einfachen Entitäten (den einfachen Primtatsachen bzw. den einfachen ontologischen Strukturen) ausgegangen wird, um auf dieser Basis weitere Strukturiertheiten oder Zusammenhänge bis hin zur Strukturiertheit aller Strukturiertheiten bzw. bis zum Zusammenhang aller Zusammenhänge zu explizieren. Das folgende Diagramm (auf S. 157) möge als Leitfaden sowohl für den allgemeinen Aufbau als auch für die einzelnen zu unternehmenden Schritte einer struktural-systematischen Seinstheorie dienen. Im Hinblick auf die Erschließung der Dimension des primordialen Seins genügt es, die ontologische »Makrostruktur« der Welt, des objektiven Pols im Verhältnis von Strukturdimension und universe of discourse, nur kurz zu charakterisieren. Ausgangspunkt sind die Daten im schon erläuterten technischen Sinn dieses Ausdrucks in diesem Buch. Diese Daten werden dann in einem ersten Schritt als Primsätze, die Primpropositionen ausdrücken, und diese, wenn sie wahr sind, als Primtatsachen aufgefasst. Primtatsa155 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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chen, und zwar auch die einfachen, sind ontologische Strukturen, genauer: ontologische Primstrukturen. 23 (Statt »Strukturen« kann man auch »Zusammenhänge« sagen; beide Ausdrücke werden in der struktural-systematischen Philosophie als synonyme Ausdrücke verstanden.) Die einfachen ontologischen Primstrukturen sind die »kleinsten oder minimalen« Strukturen/Zusammenhänge überhaupt. Als solche oder isoliert genommen, stellen sie eine Abstraktion dar. Aber die »konkreten«, d. h. »komplexen« Strukturen sind Konfigurationen von Primtatsachen, das heißt: sie sind komplexe Primtatsachen. Für eine erste Erläuterung der struktural-systematischen Philosophie genügt es, von jenen Konfigurationen auszugehen, die Individuen (im »robusten« Sinne) heißen, wie Lebewesen, Personen u. ä. Ein so verstandenes Individuum, z. B. ein bestimmter Mensch, ist eine hochkomplexe Struktur oder Konfiguration oder, wie hier meistens gesagt werden wird, ein hochkomplexer Zusammenhang. Im Diagramm wird dieser Zusammenhang »Zusammenhang 1« genannt. Die Individuen ihrerseits sind in weitere Zusammenhänge eingebettet. Sie hängen mit der Natur und allen ihren Phänomenen zusammen; aber vor allem hängen sie mit ihresgleichen zusammen: mit den anderen Individuen der Spezies, zu der sie gehören. Sie bilden mit ihnen einen Bereich der Welt. Der Zusammenhang, der einen Bereich konstituiert und definiert, wird im Diagramm als »Zusammenhang 2« bezeichnet. Hier muss man genau präzisieren, was man unter »der Welt« versteht. In der struktural-systematischen Philosophie wird eine Unterscheidung zwischen einer eingeschränkten und einer umfassenden Bedeutung dieses Wortes eingeführt. Gemäß der eingeschränkten Bedeutung heißt »die Welt« »die objektive Welt«, das heißt: das Gesamt der objektiven Seienden und von deren Bereichen; anders gesagt: Die objektive Welt ist jene Dimension, die den objektiven Pol in der Relation zwischen der theoretischen-strukturalen Dimension und der Dimension der Daten, die durch Anwendung der Strukturen erfasst und artikuliert wird, anzeigt. Die objektive Welt, wie sie hier verstanden wird, ist schon als strukturierte Welt zu verstehen; aber die Dimension der Strukturen als solcher, also als reine oder abstrakte Strukturen, die den Kern der theoretischen Dimension ausmachen, werden nicht als Bestandteile der so verstandenen objektiven Welt begriffen. 23
Für nähere Erläuterungen vgl. Struktur und Sein, Kapitel 3.
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Im Gegensatz zur eingeschränkten Bedeutung von »Welt« als »objektiver Welt« (hier kurz angegeben als »Welt«) wird Welt im umfassenden Sinne als integrale Welt (kurz angegeben als »WELT«) verstanden. WELT bezeichnet die Dimension, welche die theoretischestrukturale Dimension und die Dimension der objektiven Welt umfasst, oder welche die Einheit der beiden Dimensionen anzeigt. Die Unterscheidung zwischen »Welt« und »WELT« ist entscheidend für die struktural-systematische Gesamtkonzeption. Es ist relativ leicht zu zeigen, wie schon oben getan wurde, wie Welt, die objektive Welt, zu begreifen ist. Wie ist aber die WELT zu begreifen? Hier ist der Punkt erreicht, der für die Klärung der gegenwärtig behandelten Thematik schlechterdings zentral und entscheidend ist; denn jetzt drängt sich die Frage auf: Wie ist dieses Verhältnis zwischen den beiden Dimensionen – der »theoretischen« Struktur(en)dimension und der Welt-Dimension – zu begreifen? Nur zu sagen, dass »wir«, die Theoretiker, Strukturen auf die Bereiche der Welt bzw. auf die Welt als ganze »anwenden«, um sie zu begreifen, ist keine adäquate Antwort auf diese Frage; denn die spezifischere Frage drängt sich sofort auf: Wie ist diese »Anwendung« selbst möglich und zu verstehen? Es ist klar, dass sie nur möglich ist, wenn zwischen beiden Dimensionen eine grundsätzliche Gemeinsamkeit, eine Einheit vorausgesetzt wird, die das »Zusammentreffen« beider allererst ermöglicht. Wie ist aber diese Gemeinsamkeit, diese Einheit von theoretischer Struktur(en)dimension und Welt-Dimension aufzufassen? Es ist aufschlussreich zu bemerken, dass so gut wie die ganze analytische Philosophie diese Frage nicht stellt; im Gegenteil, diese Philosophie entwickelt alle ihre Theorien auf der Basis der Unterscheidung der beiden Dimensionen, aber die Differenz und dann die Einheit der beiden Dimensionen selbst thematisiert sie nicht. Wenn nun die meisten analytischen Philosophen einer Reduktion des menschlichen Geistes auf Physikalisches das Wort reden, so hat man Anlass sich darüber zu wundern; denn auf diese Weise wird die Dimension, die hier als die theoretische-strukturale Dimension bezeichnet wird und die man sonst die Dimension des Geistes, des Denkens, des Mentalen, die ideale Dimension u. ä. nennt, einfach auf ein physikalisches »Segment« der Welt reduziert. Damit wird in der Tat eine bestimmte Auffassung über das Verhältnis – und damit auch die Einheit – von Geist und Welt vertreten, aber eine solche, die den eigentlichen Fragepunkt vollständig verfehlt; denn der Geist (und damit die theoretische-strukturale Dimension) ist 158 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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nicht einfach ein physikalisches »Segment« oder »Element« (in) der Welt, sondern ist jener »Punkt« (in) der Welt, der die ganze Welt intentional umfasst, der mit der ganzen Welt intentional koextensiv ist. Doch auf diese sich von der analytischen Philosophie her aufdrängende Problematik soll in diesem Kontext nicht weiter eingegangen werden. Hier ist es zunächst wichtig, auf einen von Heidegger thematisierten Ansatz oder Weg zur Erschließung der Seinsdimension zu verweisen. Die phänomenologisch-transzendentale Position Husserls kritisierend, zeigt Heidegger, dass eine Dimension thematisiert werden muss, welche die konstituierende transzendental-phänomenologische Subjektivität und die konstituierte Dimension des Gegebenen/Datums bzw. der Daten umgreift. Heidegger gibt dieser Dimension die Bezeichnung ›Sein‹. Er schreibt: »Universal ist […] das Problem des Seins auf Konstituierendes und Konstituiertes bezogen.« 24 Im Rahmen der struktural-systematischen Philosophie werden die beiden differenten Dimensionen anders als in der Phänomenologie und bei Heidegger konzipiert, und zwar nicht als die Dimension der konstituierenden Subjektivität und die Dimension der konstituierten Gegenstände, sondern als die theoretische Struktur(en)dimension und die Dimension des Gegebenen/Datums/der Daten oder allgemein des uneingeschränkten universe of discourse. Dass beide aufeinander bezogen werden, ist nur dadurch zu erklären, dass es einen »Raum« oder eine Meta-Dimension gibt, der/die beide einschließt oder umgreift und damit deren Verhältnis zueinander erst ermöglicht. Dieser »Raum« oder diese »Meta-Dimension« wird hier als die Dimension des Seins bezeichnet. Hier wird dem Ausdruck ›Sein‹ keine andere inhaltliche Bedeutung zugeschrieben als diejenige, die sich als der auf Grund der bisherigen Analysen herausgearbeitete Sachverhalt ergeben hat, nämlich: Unter »Sein« wird der absolut universale Zusammenhang oder der Zusammenhang aller Zusammenhänge verstanden. Anders ausgedrückt: Diese absolut universale oder Urdimension ist die Einheit von theoretischer-strukturaler Dimension und uneingeschränktem universe of discourse. Außerhalb dieser Urdimension ist nichts vorstellbar, konzipierbar, thematisierbar und dergleichen. Es wird jetzt klar, dass unter der WELT die absolut universale Dimension des primordialen Seins zu verstehen ist. Aber ab diesem Punkt wird in der struktural-systematischen Philosophie im Allgemeinen 24
Husserliana, Bd. IX, 1962, Anlage I, 601–602 (Kursiv nicht im Original).
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Eine Theorie des Seins als solchen und im Ganzen
nicht mehr der Ausdruck ›die WELT‹, sondern nur noch der Ausdruck ›Sein‹ (bzw. ›die Dimension des Seins‹ oder ›das primordiale Sein‹) verwendet. Wenn der unqualifizierte Ausdruck ›Welt‹ verwendet wird, so bezeichnet er immer die objektive Welt im erläuterten Sinne. ET 4/8 – Eine terminologische Frage: Ist das von Ihnen anvisierte (primordiale) Sein dasselbe wie Existenz? LBP 4/8 – Bekanntlich wurden die beiden Ausdrücke ›Existenz‹ und ›Sein‹ in der Geschichte der Philosophie, vor allem in der großen Tradition der Metaphysik, manchmal identifiziert und manchmal unterschieden. Darauf kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. 25 Hier werden diese Ausdrücke bzw. Begriffe strengstens unterschieden. Der Ausdruck ›Existenz‹ hat eine unvergleichlich engere Bedeutung als ›Sein‹. ›Existenz‹ bezeichnet immer etwas in der Welt, in der »objektiven« Dimension, kurz: Existenz ist dasselbe wie »objektives Sein« oder »Sein von Seienden«, »Seiendes in der Welt«. Etwas existiert, wenn es ein Element der Welt, der objektiven Dimension ist. In der metaphysischen Tradition wurde Existenz oft oder sogar meistens als der Status der Dinge der Welt bezeichnet, insofern sie unabhängig vom Geist oder Intellekt »sind«. So wurde »Existenz« immer mit Bezug auf den Geist oder Intellekt bestimmt. Im Gegensatz dazu wird Sein hier als jene universale Dimension aufgefasst, die sowohl die Dimension des objektiven Seins, des Seins der Seienden, also der Welt, als auch die Dimension des Intellekts/Geistes (mit allem, was dazu gehört) umfasst. Es wäre daher absolut sinnlos und sinnwidrig etwa zu fragen, ob diese universale Dimension »existiert«. Von hier aus lässt sich im Hinblick auf die Gottesfrage sagen, dass die so weit verbreitete und so oft gestellte und behandelte Frage: »Existiert Gott?« eine zutiefst unklare und missverständliche Frage ist. Die große Aufgabe, mit der sich der Philosoph jetzt konfrontiert sieht, besteht darin, zu zeigen, wie »das Sein« näher zu verstehen und zu explizieren ist. Die struktural-systematische Philosophie schließt eine Theorie des Seins als ihre Krönung ein. Diese Theorie versteht sich als eine Theorie des Seins als solchen und im Ganzen.
Vgl. dazu beispielsweise: A. Keller, Sein oder Existenz? Die Auslegung des Seins bei Thomas von Aquin und in der heutigen Scholastik. München: Hueber Verlag, 1968.
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Eine Theorie des Seins als solchen und im Ganzen
ET 4/9 – An diesem Punkt unserer Dialoge dürfte ein Zitat aus Vergils Aeneis angebracht sein: »Der Hafen ist unbewegt und sicher vor dem Andrang der Winde und selbst gewaltig: Aber dicht dabei dröhnt der Ätna in schauerlichem Einsturz.« (III, 570)
Ich glaube, dass wir ein ganzes Stück vorangekommen sind; dennoch dürfte die Gefahr von Missverständnissen und eines inadäquaten Verständnisses Ihrer These noch nicht gänzlich gebannt sein. Eine große Sorgfalt ist erforderlich, damit wir verstehen können, was Sie im Auge haben, wenn Sie Ihre Seinstheorie entwickeln. Könnten Sie daher, mit der in bemerkenswerter Weise Ihre Ausführungen charakterisierenden Klarheit uns erklären, was Ihre Theorie eigentlich ist und bezweckt. Ich denke zum Beispiel an folgenden Punkt: Es ist zwar nicht möglich anzunehmen, dass Sie die Differenz von Sein und Seienden vernachlässigen (basiert Ihre Demonstration doch auf ihr), dennoch muss man darauf insistieren, dass man während dieses neuen ganzen Explikationsprozesses möglichst große Klarheit über die Frage nach Identität und Differenz haben muss. LBP 4/9 – Die beiden Begriffe der Identität und der Differenz spielen in vielen der bekanntesten metaphysischen Konzeptionen eine wichtige Rolle. Aber diese Rolle ist auch sehr beschränkt und vor allem sehr problematisch, wie noch darzustellen sein wird. Besonders wichtig im jetzigen Zusammenhang ist zunächst der Begriff der »Differenz« (oder »Unterscheidung«) zwischen »Sein« und »Seiendem/n«, der Begriff, den der erste Heidegger »ontologische Differenz« nannte. Andere Autoren, besonders in der christlich-metaphysischen Tradition, haben versucht, eine Differenz des Seins selbst oder im Sein selbst zu konzipieren; aber deren Versuche blieben weitgehend abstrakte Spekulationen. Die struktural-systematische Konzeption unterscheidet sich wesentlich von solchen Versuchen, was auf zwei Faktoren zurückzuführen ist. Erstens führt sie den Ausdruck und den Begriff »Sein« methodisch völlig anders als diese Konzeptionen ein, wie oben schon gezeigt wurde. Am Anfang wird die Formulierung »absolute primordiale Seinsdimension« verwendet, um den noch undifferenzierten Charakter des Seins hervorzuheben. Zweitens wird eine Gesamttheorie der absolut primordialen Seinsdimension in zwei Etappen entwickelt: zuerst als eine Subtheorie des Seins als solchen und dann als eine Subtheorie des Seins im Ganzen. 161 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
Eine Theorie des Seins als solchen und im Ganzen
(Aus Gründen der Einfachheit soll im Folgenden von einer Theorie des Seins als solchen und einer Theorie des Seins im Ganzen die Rede sein.) Am Anfang des ganzen Explikationsvorgangs erscheint »das Sein« noch un-differenziert, erst die Durchführung der Explikation bringt zum Vorschein, in welchem genauen Sinn eine »Differenz des Seins und im Sein« angenommen werden kann bzw. muss. Um die darzustellende Konzeption hier kurz zu antizipieren, kann gesagt werden: Am Anfang der Explikation wird eine grundlegende Differenz hinsichtlich des noch undifferenziert betrachteten »Seins« anvisiert, und zwar die Differenz zwischen dem Sein als solchem und dem Sein im Ganzen. Diese Differenz darf nicht als eine Art »realer Vorgang« des Seins oder im Sein aufgefasst werden; vielmehr ist sie eine Differenz im Explikationsvorgang. Im Rahmen der streng systematisch durchgeführten Explikation wird die Seinsdimension zuerst als das Sein als solches betrachtet; dabei werden dessen immanente Merkmale aufgezeigt. Erst danach wird die Explikation der Seinsdimension im näheren Sinne des Seins im Ganzen in Angriff genommen. Das führt zur grundlegenden These, dass die absolut primordiale Seinsdimension näher als Zwei-dimensionalität zu begreifen ist: Die Seinsdimension expliziert sich als die Differenz zwischen der absolut notwendigen Seinsdimension und der kontingenten Seinsdimension. Um das zu zeigen, wird ein auf der Einführung der Modalitäten Notwendigkeit-Möglichkeit-Kontingenz basierender zentraler Beweis durchgeführt. Diese Differenzierung ist nicht so zu verstehen, dass die absolut primordiale Seinsdimension als etwas Allgemeines zu begreifen wäre, das durch eine differentia specifica »konkretisiert« würde, ähnlich wie das Verhältnis zwischen Gattung und Art(en). Vielmehr erweist sich die Differenz als der einmalige und ursprünglichste Fall eines dem Sein selbst immanenten Verhältnisses, nämlich des Verhältnisses zwischen der absolut notwendigen und der kontingenten Seinsdimension. Die Explikation der so verstandenen inneren Differenz der primordialen Seinsdimension, also des Verhältnisses zwischen der absolut notwendigen und der kontingenten Seinsdimension, führt zu einer umfassenden Theorie, als deren Krönung eine (philosophische) Theologie erscheint. Diese summarische antizipierende Andeutung der struktural-systematischen Gesamtkonzeption kann jetzt im Einzelnen dargestellt, erläutert und begründet werden.
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Eine Theorie des Seins als solchen und im Ganzen
ET 4/10 – Das Sein als solches und im Ganzen und die Modalitäten der Notwendigkeit und Kontingenz sind also die beiden Pole, die Ihre Seinstheorie näher bestimmen. Dennoch erscheint es mir wichtig, das Verhältnis Ihrer Seinstheorie zu den großen »Ontologien« bzw. Philosophien des/der Seienden und des Seins der abendländischen Tradition zu beleuchten. LBP 4/10 – In der Tat, bevor das beschriebene Programm ausgeführt wird, empfiehlt es sich, die Besonderheit des angedeuteten Verfahrens und der sich daraus ergebenden Konzeption durch einen Vergleich mit anderen – in gewisser Hinsicht ähnlichen – philosophischen Ansätzen näher zu beleuchten. Es wird daher im Folgenden zunächst einiges über einige der in der Geschichte der Philosophie zu findenden wichtigsten Ansätze zu sagen sein: Aristoteles, Thomas von Aquin, neuere christliche Metaphysiker, Hegel, Heidegger. Hinsichtlich einiger dieser Ansätze wurde bisher schon einiges in verschiedenen Hinsichten ausgeführt. Über Aristoteles ist nur dies festzustellen: Er hat keine eigentliche Philosophie des Seins konzipiert und noch weniger entwickelt; er ist vielmehr der eigentliche Initiator jener Metaphysik, die er als die Wissenschaft des Seienden als Seienden definiert hat. Bemerkenswert war die Leistung des Thomas von Aquin. Zwar übernahm er grundsätzlich nicht nur die aristotelische philosophische Begrifflichkeit, sondern auch allgemein den vom Stagiriten entworfenen und benutzen Theorierahmen, dennoch ging er über »den Philosophen« (wie er Aristoteles bezeichnete) in einer wegweisenden Hinsicht entscheidend hinaus: Der Aquinate führte die Unterscheidung zwischen ens und esse ein. Aber er konzipierte das esse nur als actus essendi, als den höchsten ultimativen Akt der Seienden. Damit entstand ein grundlegendes Problem, das eine permanente Defizienz in seinem Denken und im Denken der ganzen von ihm ausgehenden Denkrichtung offenbarte. Alles, was nicht »Akt des Seins« ist (die Substantialität, das Wesen [essentia] etc.), blieb etwas anderes gegenüber dem esse, blieb dem esse äußerlich. Daraus entstanden die berühmten jahrhundertelangen Diskussionen über esse, essentia, existentia. Das esse wurde allmählich mehr oder weniger vernachlässigt, indem es einfach mit »Existenz« im banalen Sinn von »Realität« identifiziert wurde. Ab der Mitte der 1930er Jahre wurde im Rahmen der Thomistenschule die so genannte »Originalität« des esse bei Thomas »wiederentdeckt«; gleichzeitig begannen viele Thomisten, 163 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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die Entwicklung nach Thomas als eine zunehmende Logisierung oder Essentialisierung der Metaphysik zu deuten. Im Gegensatz dazu versuchten sie, aus Thomas von Aquin eine Art Existenzialisten zu machen, indem sie das esse bei Thomas einfach als »Existenz« verstanden. Diese ganze so genannte Renaissance des thomistischen esse-Denkens hat, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, nicht über Kontroversen hinsichtlich der richtigen Interpretation der Texte des Aquinaten hinausgeführt. Und die wenigen Versuche, die esse-Konzeption weiterzuführen, hat den entscheidenden Punkt, nämlich die völlig einseitige Identifikation des esse mit actus essendi, nicht wirklich in Frage gestellt und überwunden. Bei Thomas selbst wird diese Defizienz im Falle Gottes nachträglich, zu spät und auf beinahe künstliche Weise zu beseitigen versucht, indem Gott als ipsum esse per se subsistens verstanden wird; aber dann werden esse und essentia (und alle »reinen Vollkommenheiten«) in Gott sozusagen mit einem Federstrich identifiziert: »[Dei] solius essentia est suum esse […]. ipse solus est bonum per suam essentiam«. 26 Das ist eine Konstruktion, die deutlich zeigt, dass das Sein nicht angemessen thematisiert wird. Allerdings finden sich bei Thomas Hinweise auf die Sache, die hier zu thematisieren wäre, aber solche Hinweise blieben reine Hinweise. Der wohl interessanteste Text in dieser Hinsicht dürfte die folgende Passage aus dem wunderbaren 11. Kapitel des 4. Buches der Summa contra Gentiles sein: »In Gott ist all das, was zum Sinngehalt der Subsistenz, des Wesens oder des Seins selbst gehört. Es kommt ihm nämlich zu, nicht in Anderem zu sein, insofern er subsistiert. Es kommt ihm zu, etwas Bestimmtes zu sein, insofern er Wesenheit ist. Es kommt ihm zu, Sein-im-Akt zu sein aufgrund des Seins selbst.« 27
Dreimal, d. h. bei jedem der drei Momente, ist die Rede von esse: »non esse in aliquo–nicht in Anderem sein«––»esse quid–etwas Bestimmtes sein«––»esse in actu–im-Akt-sein«. Als was zeigt sich hier impliziterweise das, was man den Gesamtsinn des esse nach Thomas bezeichnen könnte? Es zeigt sich als eine Dreifalt: Diesem Text zufolge wird nämlich der Gesamtsinn des esse als das Einheitsgeschehen eines dreifaltigen Summa Theologiae I q. 6 a. 3 c. »In Deo est quicquid pertinet ad rationem vel subsistentis, vel essentiae, vel ipsius esse: convenit enim ei non esse in aliquo, inquantum est subsistens; esse quid, inquantum est essentia; et esse in actu, ratione ipsius esse. (Summa contra Gentiles, liber IV, caput 11)
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Gefüges im ursprünglichen Sinn verstanden. Das wäre die adäquate Konzeption des totum esse nach Thomas von Aquin, eine Konzeption, die aber bei ihm ungedacht und unthematisiert geblieben ist. ET 4/11 – In Ihren soeben gemachten Ausführungen erkennt man unschwer im Wesentlichen die Interpretation des Thomas von Aquin, die Sie in Ihrer glanzvollen Dissertation Analogie und Geschichtlichkeit vorgelegt haben und die von E. Brito, A. Léonard und M. Schulz fortgesetzt wurde. Ich teile Ihre umsichtige Lektüre des großen mittelalterlichen Denkers – im Gegensatz zu einer »aktualistischen« Schule (C. Fabro, E. Gilson, G. Siewerth), die, ungeachtet ihres hohen metaphysischen Niveaus, es versäumt, sei es das Wesen (die Essenz, essentia), sei es die Subsistenz, sei es beide gleichzeitig im und als das Ereignis des esse zu denken. Man sieht beispielsweise bei M. Bieler klar, zu welchem Typus von negativer Seinsphilosophie und zu welcher oberflächlichen Nachahmung des Heideggerschen Denkens die beschriebene Vernachlässigung führt. Nun sprechen Sie, abgesehen von Ihrer eigenen Interpretation, von Ausnahmen hinsichtlich der kritisierten Interpretationsrichtung. Ich für meinen Teil bin nicht abgeneigt zu denken, dass mindestens zwei Denker, die von G. Siewerth inspiriert wurden, über ihn aber hinausgingen, die Richtung Ihrer Thomasinterpretation eingeschlagen haben: Heinrich Beck (das Sein als Geist), und der geniale Hans André (das Sein als Natur). Ich sehe von der einmaligen Gestalt von Ferdinand Ulrich (das Sein als Liebe) ab; 28 auf ihn werden wir später zurückkommen. Würden Sie die beiden Autoren, Beck und André, für die nähere Bestimmung Ihrer Position in Betracht ziehen? Meiner Ansicht nach sollte vor allem der Zweite neu entdeckt werden in einer Zeit, die über keine Metaphysik der Natur verfügt. 29 Um nicht missverstanden zu werden: Ich behaupte nicht, dass zwischen diesen Denkern und Ihrer struktural-systematischen Philosophie irgendeine wie immer geartete Nähe besteht; vielmehr weise ich nur daraufhin, dass diese Denker der Totalität des Ereignisses des thomistischen esse Rechnung getragen haÜber die zuletzt genannten Autoren vgl. E. Tourpe, »Le thomisme ontologique de Gustav Siewerth, Ferdinand Ulrich et Hans André à l’arrière-plan de la pensée balthasarienne«, in: Revista Española de Teologia 65 (2005) 467–491. 29 Vgl. dazu G. Siewerth, Andrés Philosophie des Lebens, Salzburg: Müller, 1959. 28
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ben und dass sie versucht haben, diese bei Thomas nur summarisch artikulierte Denkrichtung weiter zu entfalten. LBP 4/11 – Ich denke, dass sich die von Ihnen zitierten Autoren in der Tat von Thomas von Aquin inspirieren ließen. In einem sehr weiten Sinne kann man sagen, dass sie die bei Thomas nur summarisch artikulierte Denkrichtung weiter zu entfalten versucht haben. Aber ich möchte betonen, dass mein eigener Weg sich in sehr radikaler Weise von ihnen unterscheidet, so dass ich nicht einmal sagen würde, dass sie mich inspiriert haben. In aller Kürze nenne ich vier Aspekte, welche die Differenz, die mich von ihnen unterscheidet, verdeutlichen. Es ist klar, dass hier nur einige Behauptungen mehr oder weniger thetisch aufgestellt werden können. (1) Die struktural-systematische Konzeption hat eine ganz andere Beziehung zum Denken des Thomas von Aquin als die Konzeption, welche die von ihnen genannten Autoren vertreten und zur Grundlage ihrer Spekulationen machen. Meine Position findet bei Thomas eine einzige These, die sie grundsätzlich bejaht: seine Unterscheidung zwischen esse und ens, aber diese These wird gleich wieder relativiert, indem betont wird, dass Thomas das esse auf actus essendi reduziert hat, woraus sich grundlegende Probleme und radikale Defizienzen ergeben. Die von Ihnen genannten Autoren ignorieren diesen fundamentalen Punkt total. Einer von ihnen, H. Beck, macht sogar den »Akt-Charakter des Seins« explizit zum Angelpunkt seiner ganzen Konzeption. Die struktural-systematische Philosophie versteht sich nicht als eine Art Weiterführung oder Vertiefung des thomastischen Denkens. (2) An zweiter Stelle ist der auffallende Mangel an methodologischer und theoretischer Strenge zu nennen. Das Verfahren der zitierten Autoren besteht aus einer Mischung aus Zitaten besonders aus den Schriften des Thomas von Aquin und gewagten intuitiven Annahmen und Behauptungen, welche die großen Themen »Sein« und »Gott« zu thematisieren vorgeben. Weder eine Klärung der verwendeten zentralen Begriffe noch eine Begründung der formulierten Thesen wird geliefert; von der ganzen Vorgehensweise kann man kaum sagen, dass sie auch minimale methodologische und theoretische Kriterien erfüllt. Man kann diesen Punkt zusammenfassend so charakterisieren: Der ganze von diesen Autoren vorausgesetzte »Theorierahmen« wir nicht im Mindesten geklärt, geschweige denn begründet. (3) Die Konzeption des Seins, die auf der Basis der beiden Faktoren 166 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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(1) und (2) entwickelt wird, stellt sich dar als eine Art Konglomerat von ungeklärten großen Begriffen und ungeprüften Intuitionen, das als Basis für außerordentlich gewagte Aussagen dient. Als Illustration braucht man nur einige dieser Begriffe anzuführen (unter Hinweis auf G. Siewerth): Apriorität der ersten Wahrheit, Identität, Differenz, Entäußerung des absoluten Seins, das Sein als absolute Aussage, das Sein als Aktualität, die Essentialität des Seins, das Sein als Realität, die Vermannigfaltigung des Seins, die Kontraktion und Division des Seins, die urbildliche Entfaltung des Seins (gemessen am Typus der Identität), das Sein als Gleichnis Gottes … Daraus soll eine Konzeption des Seins als Geist, als Natur, als Liebe u. ä. resultieren. Das alles wird schnell, absolut zu schnell behauptet. Ich finde keine Klarheit, keine Kohärenz und keine Begründetheit in solchen großen »Thesen«. (4) Schließlich ist noch zu sagen, dass alle von Ihnen zitierten Autoren das große Thema Sein und Gott auf völlig ungeklärter Basis behandeln. Von Anfang an ist schon von Gott die Rede. Es wird keineswegs geklärt, wie das geschieht bzw. geschehen soll. Wenn bei diesen Autoren von »Gott« die Rede ist, so ist immer der christliche Gott gemeint. Diese Vorgehensweise wirft damit das weitere Problem auf, wie gemäß dieser Richtung das Verhältnis von Philosophie und Theologie aufgefasst wird. Das bleibt völlig ungeklärt. ET 4/12 – Sie gelten als ein großer Hegel-Spezialist. Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Ihrer Seinstheorie und Hegels Konzeption des Seins in seinem System charakterisieren? LBP 4/12 – Zweifellos ist Hegel ein anderer großer Philosoph, der das »Sein« zu thematisieren versucht hat. »Sein« ist in seiner Wissenschaft der Logik die allererste, die unmittelbarste und ärmste »Denkbestimmung«, aber am Ende seines logischen Systems begreift er die spekulative Methode als absolute Idee und diese als »erfülltes Seyn, [als] der sich begreifende Begriff, [als] das Seyn als die concrete, eben so schlechthin intensive Totalität« 30. Ganz allgemein gesehen, gibt es eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dieser Hegelschen Sicht und der struktural-systematischen Konzeption. Aber diese Ähnlichkeit ist, grundsätzlich gesehen, rein oberflächlich, denn Hegel konzipiert den ganzen G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Band: Die Subjektive Logik (1816). Gesammelte Werke, Band 12 (Hamburg: Meiner Verlag, 1981) 252.
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Vorgang der näheren Bestimmung (der »Erfüllung«) des Seins als einen dialektisch-spekulativen Prozess, der sich von der struktural-systematischen Explikation der Seinsdimension toto coelo unterscheidet, wodurch sich zeigt, dass Hegels »Sein« und das struktural-systematische »Sein« völlig anders verstanden werden. Das sei in aller Kürze in der Weise gezeigt, dass der erste Schritt in Hegels Logik kurz analysiert und kommentiert wird. Es handelt sich um die berühmte Hegelsche Dialektik von Sein und Nichts, die so oft dargestellt, kommentiert und bewundert wurde. Man kann aber nicht sagen, dass ihr springender Punkt, nämlich ihre entscheidende Schwäche, erfasst wurde. Hegels Logik ist das System der (nach Hegel: aller) »Denkbestimmungen«. »Denken« versteht Hegel hier als »Denken als solches« 31. Dieser Ausdruck wird von ihm so verstanden: Es sind die Bestimmungen des Denkens, insofern sie rein als solche, d. h. als »was sie an ihnen selbst sind, ohne die abstracte, allen gleiche Relation auf Ich, ihre Bestimmtheit gegen und ihr Verhältniß zu einander« (48) betrachtet werden. Dadurch markiert Hegel seine radikale Opposition zu und Überwindung der Kantischen transzendentalen Konzeption der »reinen Verstandesbegriffe« (»Kategorien«). Hegels Projekt ist ein systematisches: Er möchte das ganze System der Denkbestimmungen in der Weise entwickeln, dass jede Denkbestimmung negiert wird und dadurch zu einer Negation der Negation führt, wodurch eine neue, positive Bestimmung erzeugt wird. Dieser Prozess gelangt zu seinem Ende, wenn die absolute Idee erreicht wird. Ich habe diese ganze Konzeption und das dialektisch-spekulative Verfahren einer eingehenden Kritik unterzogen und bin zum Ergebnis gelangt, dass das System völlig inkohärent ist und dass das Verfahren, wie es von Hegel konzipiert wird, überhaupt nicht funktionieren kann. 32 Hegels Logik fängt lapidar so an: »Das Seyn ist das unbestimmte Unmittelbare; es ist frey von der Bestimmtheit gegen das Wesen, so wie noch von jeder, die es innerhalb seiner selbst erhalten kann.« (68) Aber dann heißt es: »In seiner unbestimmten Unmittelbarkeit ist es [das
G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die objektive Logik. Erstes Buch, die Lehre vom Sein (1832). Gesammelte Werke, Band 21 (Hamburg: Meiner Verlag, 1984), 48. Die Seitenzahlen in Klammern im Haupttext verweisen auf diese Ausgabe. 32 Vgl. dazu meine Abhandlung: »Lässt sich der Begriff der Dialektik klären?«, jetzt in: L. B. Puntel, Auf der Suche nach dem Gegenstand und dem Theoriestatus der Philosophie, 223–254. 31
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Seyn] nur sich selbst gleich, und auch nicht ungleich gegen anderes, hat keine Verschiedenheit innerhalb seiner, noch nach aussen:« (68–69) Und so kommt Hegel schnell zum Ergebnis: »Das Seyn, das unbestimmte Unmittelbare ist in der That Nichts, und nicht mehr noch weniger als Nichts.« Dieselbe Art von »Analyse« führt Hegel hinsichtlich des Nichts durch: »Nichts, das reine Nichts; es ist einfache Gleichheit mit sich selbst, vollkommene Leerheit, Bestimmungs- und Inhaltslosigkeit. […] Nichts ist somit dieselbe Bestimmung oder vielmehr Bestimmungslosigkeit, und damit überhaupt dasselbe, was das reine Seyn ist.« Und so kommt Hegel zum berühmten Schluss: »Das reine Seyn und das reine Nichts ist also dasselbe.« (69) Diese paradoxe Aussage, über die so viel geschrieben wurde, ist das Resultat einer elementaren oberflächlichen und inkohärenten Fehlanalyse. Diese Fehlanalyse sei hier kurz rekonstruiert. Sie enthält zwei Fehlschritte. Der erste besteht darin, dass Hegel eine eklatante Inkohärenz begeht; denn, wenn das Sein »nur sich selbst gleich« ist, so ist es schon durch die Bestimmtheit oder Struktur der Sichselbstgleicheit charakterisiert und somit bestimmt. Gleichheit bzw. Sichselbstgleichheit ist ja die erste fundamentale Bestimmtheit von allem und jedem, wovon man überhaupt sinnvollerweise sprechen kann. Und Hegel macht davon explizit Gebrauch, übersieht aber dann vollständig, was er explizit formuliert hatte. Der zweite Fehlschritt ist Hegels Konfusion bei der Verwendung des Ausdrucks ›Nichts‹. Wenn Hegel sagt: »Es [das Sein] ist die reine Unbestimmtheit und Leere« und wenn er diese Aussage so erläutert: »Es ist nichts in ihm anzuschauen … Es ist eben so wenig etwas in ihm zu denken …«, so wird klar, dass er mit »nichts« (im Satz »Es ist nichts in ihm anzuschauen …) nur meinen kann: »etwas Bestimmtes«. Das reine Sein als solches besagt nichts Bestimmtes. Aber dieses »Nichts« ist ein relatives Nichts: Es besagt weder dies noch jenes noch Drittes usw.; es negiert dies und/oder jenes und/oder Drittes usw. Daher hat das verwendete »Nichts« eine Bedeutung, die nur auf etwas Bestimmtes relativ ist: Es ist nur die Negation von jeweils etwas Bestimmtem. Traditionell nannte man ein solches Nichts nihilum relativum. Es ist daher nicht absolutes Nichts, nihilum absolutum, nicht die Negation von Sein überhaupt, von Sein selbst oder von Sein als solchem. Sein selbst oder Sein als solches ist nicht etwas Bestimmtes. Daher wäre die richtige Negation von Sein selbst oder Sein als solchem das Nichts im Sinne von Nicht-Sein überhaupt und nicht das Nichts im Sinne von Nicht-etwas-Bestimmtes. 169 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Wenn man die Unterscheidung von Sein und Seienden beachtet, kann man besonders deutlich zeigen, worauf der Unterschied von relativem und absolutem Nichts letztlich hinausläuft: Auch die Negation aller Seienden würde nur ein relatives Nichts besagen, denn das Sein selbst wäre dadurch nicht betroffen. Erst wenn das Sein selbst oder als solches negiert würde, besagte dies das absolute Nichts als das absolute Nicht-Sein. Hegel ließ sich in seiner Analyse durch oberflächliche umgangssprachliche Wendungen und Vorstellungen irreleiten, obwohl er sonst das »vorstellende Denken«, das er mit der Umgangssprache assoziierte, ständig kritisierte. Es wird deutlich, dass sich seine Konzeption des Seins schon im ersten Schritt als verfehlt herausstellt. ET 4/13 – Sie unterscheiden sich sehr deutlich von Autoren, die Sie kennen und auch gelesen haben, wie E. Przywara 33, A. Chapelle 34 oder G. Siewerth 35. Aber Sie teilen mit ihnen die Überzeugung, dass ein Philosoph eine überzeugende Seinstheorie heute nicht entwickeln kann, ohne sich sowohl positiv als auch negativ nicht nur mit der Aristotelisch-thomistischen, sondern auch mit der Hegelschen und der Heideggerschen Denktradition intensiv zu befassen. Es erscheint daher logisch, Sie vor allem im Lichte Ihrer Werke des letzten Jahrzehnts zu fragen, wie Sie den Denkversuch des Meisters aus dem Schwarzwald sehen und wie Sie ihn in Ihrem eigenen Rahmen interpretieren. LBP 4/13 – Heidegger ist sicher der wichtigste Seinsdenker überhaupt. Sein Denkweg wurde schon öfter in unseren Dialogen kommentiert, sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht. Das soll hier nicht wiederholt werden. Hier werden nur zwei Aspekte in aller Kürze thematisiert. Der erste schließt sich unmittelbar an die letzten Ausführungen über das Sein bei Hegel an. Auch bei Heidegger in den ersten Jahren nach Veröffentlichung von Sein und Zeit findet sich eine ähnliche Konfusion hinsichtlich des Seins und des Nichts; allerdings hat diese Konfusion bei ihm einen eher rhetorischen Charakter. Der wichtigste diesbezügliche Text ist der Vortrag Was ist Metaphysik? aus dem Jahr E. Przywara, Analogia Entis. Metaphysik. Ur-Struktur und All-Rhythmus. Einsiedeln: Johannes-Verlag, 1962. 34 Cf. B. Pottier (éd.), Dieu à la source : la théologie d’Albert Chapelle. Brüssel: Lessius, 2010. 35 Cf. M. Cabada Castro, Sein und Gott bei Gustav Siewerth. Düsseldorf: Patmos, 1971. 33
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1929. 36 In diesem Text befindet sich der berühmte Satz: »Das Nichts selbst nichtet.« (114) Eine ganz einfache Analyse des Textes macht nur allzu deutlich, was Heideggers extrem eigenartiger und eigenwilliger Satz in Wahrheit meint. Heidegger will das Wesen der Metaphysik herausarbeiten. Dazu beschreibt er zuerst den normalen und wissenschaftlichen Weltbezug zum bzw. zu den Seienden. Die Einstellung der Wissenschaft beschreibt er so: »Erforscht werden soll [durch die Wissenschaft] nur das Seiende und sonst – nichts: das Seiende allein und weiter – nichts; das Seiende einzig und darüber hinaus – nichts. Wie steht es um dieses Nichts?« (105). Der Wissenschaft geht es nach Heidegger einzig und allein um das Seiende, wobei nach ihm gilt: »Die Wissenschaft will vom Nichts nichts wissen« (106). In seiner ungewöhnlichen und zu Missverständnissen leicht Anlass gebenden Art und Sprache beschreibt Heidegger in einem teils rhetorischen und teils dramatischen Stil nicht nur die Einstellung der Wissenschaft zum Nichts in seinem Sinne, sondern auch Phänomene wie die Freude, die Langeweile, vor allem aber die Angst. »Die Angst lässt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt. […] [W]ovor und worum wir uns ängsteten, war ›eigentlich‹ – nichts. In der Tat: das Nichts selbst – als solches – war da.« (112) Es ist klar, was Heidegger intendiert, wenn er vom Nichts spricht. Das sagt er sogar, wenn auch später im Text, ausdrücklich: »Das Nichts ist die vollständige Verneinung der Allheit des Seienden« (109), »das schlechthin Nicht-Seiende« (108). Gemäß der traditionellen Terminologie handelt es sich also nicht um das nihilum absolutum, sondern um das oder ein nihilum relativum. In einer ganz anderen Terminologie kann man das so ausdrücken: In eigenwilliger Weise verwendet Heidegger das Wort »das Nichts«, um eine Dimension in nur negativer Weise zu benennen. In positiver Weise ist diese Dimension durch das Wort »Sein« benannt: »Im Sein des Seienden geschieht das Nichten des Nichts.« (115). Alles, was Heidegger rhetorisch-dramatisch über »das Nichts« sagt, hat nur den Zweck, Folgendes zu zeigen: »Da-sein heißt: Hineingehaltenheit in das Nichts. Sich hineinhaltend in das Nichts ist das Dasein je schon über das Seiende im Ganzen hinaus. Dieses Hinaussein über da Seiende nennen wir die Transzendenz.« (115)«
M. Heidegger, Wegmarken. Gesamtausgabe, Band 9, 103–122. Die Seitenzahlen in Klammern im Haupttext verweisen auf diese Ausgabe.
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Diese Transzendenz nennt Heidegger dann das Sein. Was »nichten« angeht, so bedeutet es nicht: annihilieren, vernichten. Heidegger sagt explizit und unmissverständlich, dass das Nichten des Nichts »keine Vernichtung des ganzen Seienden an sich« (113; vgl. auch 114) ist. Bei Heidegger ist »nichten« ein intransitives Verb. Es handelt sich um eine jener eigenwilligen Formulierungen, die im Werk Heideggers oft zu finden sind, wie: »das Ding dingt«, »die Welt weltet«, »die Zeit zeitigt«, »der Raum räumt« usw. Heidegger verwendet sogar oft Formulierungen wie »es weltet« 37. Dann ist es nicht verwunderlich, dass er auch eine Formulierung wie »es nichtet« bildet. Zur Formulierung »das Nichts selbst nichtet« bemerkt Heidegger (in der 5. Auflage der Antrittsvorlesung, 1949) erläuternd: »[A]ls Nichten west, währt, gewährt das Nichts.« 38 Versteht man mit Heidegger »das Nichts« als »die Verneinung der Allheit des Seienden«, wie gezeigt, wirft das Prädikat »nichtet« kein logisches oder semantisches Problem auf. In einer völlig anderen Terminologie als der Heideggerschen besagt dann »das Nichts selbst nichtet« schlicht Folgendes: Die Verneinung der Allheit der Seienden, also die Dimension des Nicht-Seienden, »erscheint« als eine rein negative Dimension, wenn man will, als die Kehrseite der »positiven« Dimension, die »Sein« genannt wird. Heidegger hat oft auf den problematischen Charakter der Sätze mit SubjektPrädikat-Struktur hingewiesen. Daraus erklären sich seine soeben zitierten Formulierungen: »es nichtet«, »es weltet« usw. Er war aber nicht willens oder nicht fähig, eine entsprechende Semantik zu entwickeln. Stattdessen führte er immer weitere eigenwillige Formulierungen ein. Jeder Versuch, der diesen Charakter der Heideggerschen Schriften nicht beachtet, verfehlt gründlich den Sinn seiner Aussagen. Der zweite Aspekt betrifft Heideggers Anstrengungen, das Sein »effektiv« zu denken. Das ist ein ganz großes Thema. Hierzu können hier nur einige wenige Bemerkungen gemacht werden. Nachdem Heidegger, wie oben dargestellt, die Dimension des Seins erschlossen hatte, stellte sich ihm die Frage, wie das Sein zu denken sei. Beachtet man Heideggers umfangreiche, viele erst posthum herausgegebene Schriften, die alle um dieses große Thema kreisen, so kann nicht gesagt werM. Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie (1919), Gesamtausgabe, Band 56/57, 73: »In einer Umwelt lebend, bedeutet es [das Umweltliche] mir überall und immer, es ist alles welthaft, ›es weltet‹, was nicht zusammenfällt mit dem ›es wertet‹.« 38 Gesamtausgabe, Band 9, 114, Fußnote b. 37
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den, dass in ihnen eine klare und kohärente Konzeption zur Darstellung kommt. (Weitere Schriften sollen erst in Zukunft publiziert werden.) Was in dieser Masse von Texten seinen Niederschlag findet, sind eher die Ergebnisse immer neuer Versuche, das Sein zu denken. Auf diesem langen Denkweg gibt es aber einen Zeitpunkt, den Heidegger in der 4. Auflage von Der Brief über den Humanismus (1949) explizit angibt und ihn so charakterisiert: »[…] ›Ereignis‹ seit 1936 das Leitwort meines Denkens.« 39 In der Tat ist »Ereignis« das einzig Positive, das Heidegger »über« das Sein sagt, oder die einzige »Bestimmung«, die er vom Sein aussagt, wobei zu bemerken ist, dass Heidegger solche Formulierungen (»über«, »Bestimmung«) als völlig inadäquat bezeichnen würde. Wie konzipiert Heidegger das Ereignis, genauer: das Sein-als-Ereignis? Man muss zunächst feststellen, dass er das Sein selbst oder als solches, und zwar »das Sein ohne das Seiende« 40, denken oder thematisieren wollte, dass er aber (später) diese Aussage präzisierte, was hier bedeutet: relativierte: »Sein ohne das Seiende denken, heißt: Sein ohne Rücksicht auf die Metaphysik denken.« 41 Das bleibt aber gänzlich unklar, was an einer vielsagenden Korrektur, die Heidegger 1949 vorgenommen hat, ersichtlich wird. In einem der 1943 veröffentlichten 4. Auflage der Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? angefügten Nachwort hatte er geschrieben: »[…] zur Wahrheit des Seins gehört, dass das Sein wohl west ohne das Seiende, niemals aber ein Seiendes ist ohne das Sein.« 42 Aber in der 5. Auflage (1949) dieser kleinen Schrift korrigierte Heidegger in signifikanter Weise den letzten Satz: An Stelle von »wohl« sagte er »nie« und an Stelle von »niemals aber« hieß es: »dass niemals«. Die Passage lautet seitdem so: »[…] wenn anders zur Wahrheit des Seins gehört, dass das Sein nie west ohne das Seiende, dass niemals das Seiende ist ohne das Sein.« Wie ist dieses außerordentlich aufschlussreiche Schwanken zu erklären? Dass Heidegger eine solche Behauptung aufstellt, ist umso verwunderlicher, als er über die Implikationen seiner großen Aussage »[…] zur Wahrheit des Seins gehört, dass das Sein nie west ohne das Wegmarken, Gesamtausgabe, Band 9, 316 (mit ›a‹ markierte Fußnote). Vgl. dazu auch M. Heidegger, Identität und Differenz. Pfullingen: Neske, 1957, 29. 40 Zeit und Sein, in: Zur Sache des Denkens (Tübingen: Niemeyer, 1969), 2. 41 Ebd. 25. 42 Wegmarken, 306. 39
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Seiende« anscheinend nicht nachgedacht hat. Wenn nämlich »das Sein nie west ohne das Seiende«, dann ist dadurch behauptet, dass das Sein mit Notwendigkeit (»nie«) an das Seiende, so könnte man hier sagen, »angebunden« ist. Das wirft die schwerwiegende Frage auf: Wenn Sein nie west ohne das Seiende, was kann es dann heißen, das Sein selbst, als solches denken? Das bleibt gänzlich rätselhaft. Die weitere Entwicklung des Heideggerschen Denkens über Sein ist durch zweierlei Faktoren gekennzeichnet, die hier nur kurz charakterisiert werden können: durch die Explikation des Seins als Ereignis und durch die Explikation der sprachlichen Wendung »Es gibt« in der näheren Form »Es gibt Sein und es gibt Zeit«. 43 Der erste Faktor ist Heideggers etymologisch-phänomenologische Deutung des Wortes ›Ereignis‹. Er betont in aller Klarheit, dass das Wort ›Ereignis‹ als Leitwort seines Denkens nicht mehr das meint, was man allgemein als Geschehen (Geschehnis, sagt Heidegger), Vorkommnis und dergleichen zu nennen pflegt. Er weist daraufhin, dass dieses Wort ursprünglich bedeutet: »… er-äugen, d. h. erblicken, im Blick zu sich rufen, an-eignen« 44. Als was fasst er dann Ereignis auf? Aus seinen weiteren Erklärungen geht hervor, dass er »Ereignis« fast nur noch vom Wort ›eigen‹ her deutet. So entfaltet er in der textlichen Mitte (Kapitel V) seiner (auf die Jahre 1941/42 datierten und erst 2009 publizierten) wichtigsten seinsgeschichtlichen Abhandlung Das Ereignis den folgenden Wortschatz für die elf »Wesungsweisen« des Ereignisses, ihre Bezüge und Zusammenhänge: das Ereignis, das Ereignen, die Vereignung, die Übereignung, die Zueignung, die Aneignung, die Eigentlichkeit, die Eignung, die Geeignetheit, die Enteignung, das Eigentum. Es dürfte schwierig sein, in solchen Formulierungen mehr als weitestgehend leere Aussagen zu sehen, die aus eigenwilligen Spielen mit Worten bestehen. Wenn man aber vom normalen Sinn des Wortes ›eigen‹ ausgeht, so lässt sich in etwa nachvollziehen, was Heidegger sagt, mit der Konsequenz, dass das, was er sagt, im Hinblick auf eine umfassende Seinskonzeption außerordentlich dürftig, ja beinahe banal ist, und zwar deswegen, weil es grundsätzlich dem entspricht, was im alltäglichen Leben des Menschen geschieht oder geschehen kann, wenn dort das Wort ›eigen‹ verwendet wird. Aber Heidegger erhebt diese Dürftigkeit auf die Ebene tiefklingender Formulierungen. Was ist damit 43 44
Zeit und Sein 5. Identität und Differenz 28–29.
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erreicht? Was ist das »Eigene selbst«? Heidegger sagt es nie. Im Endeffekt sind seine Aussagen leer. Dass Heideggers Vorgehensweise hochproblematisch und inkohärent ist, wird von einer ganz anderen Seite her deutlich. In seiner im Wintersemester 1929/30 gehaltenen Vorlesung über Die Grundbegriffe der Metaphysik beschreibt er das, was er als »die inneren Unzuträglichkeiten des überlieferten Begriffs der Metaphysik« bezeichnet. Die erste nennt er »die Veräußerlichung« dieses Begriffs, worunter er die Auffassung versteht, die »das Metaphysische (Gott, unsterbliche Seele) als ein vorhandenes, wenn auch höheres Seiendes« 45 zu begreifen vorgibt: »Das μετά zeigt nicht mehr eine bestimmte Haltung des Denkens und Erkennens an, eine eigentümliche Umwendung gegenüber dem alltäglichen Denken und Fragen, sondern ist nur das Zeichen für den Ort und die Ordnung des Seienden, das hinter und über dem anderen Seienden liegt. Das Ganze aber – dieses Übersinnliche und das Sinnliche – ist in gewisser Weise gleichmäßig vorhanden. Das Erkennen beider bewegt sich – unbeschadet relativer Unterschiede – in derselben alltäglichen Haltung des Erkennens und Beweisens von Dingen. […] Metaphysik ist nivelliert und veräußerlicht in die alltägliche Erkenntnis …« 46
Es dürfte schwer zu bestreiten sein, dass Heideggers Denken des Seins als Ereignis sich nicht wesentlich von einer Denk- und Artikulationsweise unterscheidet, die »nivelliert und veräußerlicht in die alltägliche Erkenntnis« ist; das zeigt sich unzweideutig an der Weise, wie er das Sein als Ereignis und das Ereignis vom Wort »eigen« her gemäß dessen normalem Verständnis zu deuten versucht. Damit trifft ihn voll und ganz gerade der Einwand, den er gegen den »überlieferten Begriff der Metaphysik« erhebt. Das ist ein äußerst gravierender Einwand gegen Heideggers Denkform. Der zweite für Heideggers Konzeption des Seins als Ereignis wichtige Faktor ist sein Rekurs auf die umgangssprachliche Wendung »es gibt«, die er ins Philosophische in der Form »Es gibt Sein und es gibt Zeit« 47 wendet. Aus dem »gibt« macht er ein Geben, eine Gabe, und das »Es« deutet er als »etwas Ausgezeichnetes«, indem er sagt:
M. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Gesamtausgabe, Band 29/30, § 12, 63. 46 Ebd. 66. 47 Zeit und Sein 5. 45
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»Wie anders sollen wir […] das im […] Sagen ›Es gibt Sein‹, ›Es gibt Zeit‹ gesagte ›Es‹ in den Blick bringen? Einfach so, daß wir das ›Es‹ aus der Art des Gebens her denken, das zu ihm gehört: das Geben als Geschick, das Geben als lichtendes Reichen. […] Im Schicken des Geschickes von Sein, im Reichen der Zeit zeigt sich ein Zueignen, ein Übereignen, nämlich von Sein als Anwesenheit und von Zeit als Bereich des Offenen in ihr Eigenes. Was beide, Zeit und Sein, in ihr Eigenes, d. h. in ihr Zusammengehören, bestimmt, nennen wir: das Ereignis.« 48
Das Mindeste, was man dazu sagen kann und muss, ist, dass es nicht gut nachvollziehbar ist, dass Heidegger aus der umgangssprachlichen Wendung »es gibt« ein solches Geschehen des Gebens seitens eines obskur bleibenden »Es« macht. Doch darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. 49 Am Ende dieser kurzen Darstellung des Heideggerschen Ansatzes anhand der Entwicklung seiner Konzeption über das Sein bzw. das Ereignis ist die Frage zu stellen: Warum denkt Heidegger in der Weise, die kurz beschrieben wurde? Darauf lässt sich eine Antwort geben, die vielleicht als die wichtigste anzusehen ist. Sie wurde schon oben in der Antwort auf die Frage 4/3 kurz formuliert: Heidegger hat zwar inhaltlich Husserls transzendental-phänomenologische Position überwunden, blieb aber dennoch in methodischer Hinsicht ein Phänomenologe; er blieb immer dem reinen Sehen verhaftet, wobei er später zwar meistens von Denken sprach, das Denken aber grundsätzlich doch mit Sehen identifizierte. Das Fragen, von dem Heidegger oft sagte, es sei »die Frömmigkeit des Denkens« 50, hat er in grundsätzlicher Hinsicht vollständig ignoriert, wie z. B. die Frage: Ist alles, ist das Sein selbst, ist das Ereignis kontingent oder notwendig? Er schob solche Fragen einfach beiseite, indem er sie als metaphysische Fragen abtat. Zu leugnen aber, dass eine solche Frage keine echte philosophische Frage ist, heißt die größten Potentialitäten des Geistes verkennen und missachten. ET 4/14 – Sind wir jetzt so weit, dass wir Ihre entscheidende Explikation Ihrer Seinstheorie in Angriff nehmen können?
Ebd. 19–20. Man vergleiche dazu die ausführliche und detaillierte Analyse der einschlägigen Texte Heideggers in Kapitel 2 von Sein und Gott. 50 Vgl. z. B. Die Frage nach der Technik, in: M. Heidegger: Die Technik und die Kehre. Pfullingen: Neske, 1962, 36. 48 49
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LBP 4/14 – Um die große Aufgabe einer kurzen Präsentation der Grundzüge einer Seinstheorie auf geklärter Basis in Angriff zu nehmen, ist es unerlässlich, im Voraus noch einen eher methodologischen Punkt zu klären. Man kann dafür das Wort ›Explikation‹ verwenden, vorausgesetzt, man versteht es nicht nur im heutigen Sinne, der nicht übermäßig klar ist, sondern unter Berücksichtigung von Intuitionen und Einsichten, die dieses Wort in der Geschichte der Philosophie, insbesondere der Metaphysik, gehabt hat. (Man denke etwa an die Verwendung dieses Wortes in den Schriften des Nikolaus von Kues.) Dazu sind drei Aspekte zu beachten. Der erste Aspekt ist eine allgemeine Charakterisierung des Begriffs bzw. des Verfahrens der Explikation, wie er/es hier verstanden wird bzw. zur Anwendung kommt. Die struktural-systematische Philosophie begreift Explikation als ein analytisches/argumentatives/sacherschließendes Verfahren. In der Durchführung des Verfahrens sind alle diese drei Faktoren am Werk, aber nicht gleichmäßig: Je nach Verlauf der Explikation steht im Vordergrund manchmal der Faktor Analyse (der sprachlichen Bedeutung bzw. der Begriffe), manchmal eine Argumentation, wieder ein anderes Mal die abschließende Artikulation der Sache selbst. Der zweite Aspekt betrifft die Frage, welcher Darstellungsmodus hinsichtlich der Seinstheorie der angemessene ist. Das ist eine fundamentale Frage. Von Philosophen, die sich in der einen oder anderen Weise mit dieser Frage befasst haben bzw. befassen, hört man häufig, dass das Denken hinsichtlich dieses großen Themas kein objektivierendes Denken sein darf, es müsse sich radikal von dem objektivierenden Denken freimachen, das diese Philosophen den Wissenschaften und der sich mit den Seienden befassenden Metaphysik zuschreiben. Heidegger ist in dieser Hinsicht am Weitesten gegangen, indem er die »Sprachnot« ständig beklagte. Vor allem betonte er immer wieder, dass »Aussagesätze« nicht geeignet seien, die Dimension des Seins bzw. des Ereignisses zu artikulieren. In einer gewissen, rein intuitiven Weise haben diese Philosophen etwas Richtiges irgendwie »erahnt«; aber es blieb völlig im Dunkel, wie das damit Erahnte genau zu konzipieren ist. Die struktural-systematische Philosophie vertritt diesbezüglich eine klare Position, die man, extrem verkürzt und weitgehend nur andeutend, folgendermaßen charakterisieren kann. Es geht um die sprachliche Darstellungsform. Die in der ganzen Geschichte der Philosophie unproblematisch angenommene und praktizierte Sprache bestehend 177 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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aus Sätzen mit der Subjekt-Prädikat-Struktur ist für die angemessene Artikulation einer Theorie des Seins völlig ungeeignet. Das ist darin gegründet, dass Sätze mit der Subjekt-Prädikat-Struktur ausschließlich Aussagen über Seiende, nicht über das Sein ermöglichen: Von einem vorausgesetzten Objekt oder Seienden werden Eigenschaften bzw. Relationen prädiziert. Wird versucht mit solchen Sätzen dieser Sprache die Seinsdimension zu artikulieren, so liegt das Ergebnis auf der Hand: Aus dem Sein macht man ein Seiendes, das Sein als solches wird verfehlt. Wie schon in unseren Dialogen mehrmals gesagt wurde, entwickelt die struktural-systematische Philosophie eine philosophische Sprache, die nicht aus Sätzen mit der Subjekt-Prädikat-Struktur bestehen; stattdessen werden nur einfache bzw. komplexe Primsätze angenommen und anerkannt, wie z. B. »Es regnet«. Damit eröffnen sich großartige Möglichkeiten der Darstellung und Artikulation einer angemessenen Konzeption des Seins. Der dritte Aspekt ist in einer grundsätzlichen Hinsicht der wichtigste. Er besteht darin, dass der absolut einmalige Charakter der Seinsdimension als des absolut unaufhebbaren singulare tantum voll eingesehen und anerkannt und hinsichtlich aller seiner Konsequenzen genau analysiert wird. Bei allen anderen Themen der Philosophie war eine immer noch grundsätzliche Differenz zwischen der strukturalen Dimension und der Dimension des/der in Frage stehenden Datums/Daten soweit immer vorhanden, als die Einheit der beiden Dimensionen nicht thematisiert wurde. Gerade diese Einheit ist unter dem Titel Theorie des Seins das philosophische Thema. Das bedeutet, dass in diesem Fall die Einheit der strukturalen Dimension und damit aller Strukturen, einerseits, und der Dimension der Daten welcher Art auch immer, andererseits, expliziert wird, und zwar im Sinne einer Art Selbstexplikation oder Selbstartikulation. Da diese ursprüngliche oder primordiale Dimension die Bezeichnung »Sein« hat, geht es um die Selbstexplikation des Seins. Man kann diese grundlegende Einsicht kurz und bündig so formulieren: Der Genitiv »des Seins« in den Formulierungen »Theorie des Seins« als »Darstellung/Explikation/Artikulation des Seins« ist nicht im Sinne des genitivus obiectivus, sondern des genitivus subiectivus zu verstehen. Die von der struktural-systematischen Philosophie entwickelte philosophische Sprache ermöglicht eine möglichst angemessene Darstellung der Seinsdimension, da die Primsätze, welche diese Sprache konstituieren, sozusagen die Form einer Selbstexplikation/Selbstdar178 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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stellung/Selbstartikulation haben. Man kann sagen, dass »die umfassende Sache«, genannt »Sein«, rein als solche zur Selbstdarstellung gelangt. Eine sich daraus ergebende unmittelbare Konsequenz ist leicht einzusehen: Ausgeschlossen werden logische Instrumentarien wie beispielsweise die Prädikatenlogik nicht nur erster, sondern jeder höheren Stufe. Doch auf diese fundamentale Thematik kann in diesen unseren Dialogen nicht näher eingegangen werden. Es genügt, hier darauf hingewiesen zu haben. ET 4/15 – Wir haben verstanden, wie Sie den Unterschied Ihrer Position zu den Positionen von Thomas von Aquin, Hegel und Heidegger charakterisieren. Wir wissen, dass wir jetzt mit der Aufgabe einer Selbstexplikation des Seins konfrontiert sind. Es ist Zeit, den Rubikon zu überschreiten und die sich aufdrängende Aufgabe in Angriff zu nehmen: Zumindest die Grundzüge der struktural-systematischen Theorie des Seins als solchen und im Ganzen sind darzustellen. Was ist nun das Sein für Sie, da es nicht nur Akt ist? Was ist das Sein, da es nicht das unbestimmte Unmittelbare und nicht der leerste Begriff ist? Was ist das Sein, da es nicht Ereignis ist? Wie ist das Sein selbst und das Sein im Ganzen zu artikulieren, und zwar im Licht des von Ihnen angekündigten entscheidenden Schlüssels: der Distinktion zwischen absolutnotwendiger und kontingenter Seinsdimension? LBP 4/15 – An erster Stelle muss der Philosoph, der sich vornimmt, die große Thematik der Seinsdimension zu behandeln, zwei Fragen unterscheiden: die Frage nach dem Sein als solchem und die Frage nach dem Sein im Ganzen. Die beiden Fragen sind zwar voneinander zu unterscheiden, gehören aber engstens miteinander zusammen. Wie ist aber die Frage nach dem Sein als solchem zu stellen? Hier beginnt sich zu zeigen, was oben schon gezeigt wurde, dass nämlich die Seinsdimension ein, man muss eher sagen: das absolute singulare tantum ist. Ist die Frage: »Was ist das Sein?« die adäquate Frageform? Mitnichten! In der Tat, eine Was-Frage setzt voraus, dass es verschiedene »Was« gibt, so dass die Aufgabe wäre, ein bestimmtes »Was« zu finden bzw. auszuwählen, das sich als geeignete Antwort auf die Frage »Was ist das Sein?« anbieten würde. Aber vom Sein kann man nicht sagen, dass es andere »Etwas« gibt oder denkbar wären, mit denen das Sein verglichen oder in Beziehung zu denen es gesetzt werden könnte. Die einzige »Beziehung«, die dem Sein zugeschrieben werden kann, ist 179 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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eine Beziehung sui generis, im strengen Sinne eine Nicht-Beziehung, denn es handelt sich um die absolute Negation des Seins in der Form des Nicht-Seins. Dafür wird traditionell die Bezeichnung absolutes Nichts verwendet, wie schon oben gezeigt wurde. Warum-Fragen, Wofür-Fragen, Woher-Fragen und dergleichen kommen hinsichtlich des Seins ebenfalls nicht in Betracht, und zwar wegen der Voraussetzungen, die sie machen. Man kann aber sagen, dass sich eine ganz bestimmte Form einer Wie-Frage für die Explikation des Seins als angemessen zeigt, allerdings nur in der Form: Wie ist das Sein zu thematisieren (begreifen, verstehen, artikulieren)? Ausgegangen wird von der primordialen Seinsdimension. Die erste große Aufgabe besteht darin, das Sein als solches zu explizieren. Von woher soll nun »die Inspiration« kommen oder vorausgesetzt werden, um die Explikation des Seins in Gang zu setzen? Weder schnelle Aussagen in der Form von Antworten auf eine Was-Frage noch grandiose Intuitionen oder Behauptungen im Stil von »Sein als Geist«, »Sein als Natur«, »Sein als Gabe«, »Sein als Liebe« u. ä. können als Konzeptionen angesehen werden, die unverzichtbaren Kriterien der philosophischen Strenge genügen. Der hier einzuschlagende Weg erhebt den Anspruch, streng explikativ, was nach der obigen Erklärung u. a. bedeutet: auch argumentativ zu sein. Der Ansatz ergibt sich daraus, dass darauf geachtet wird, wie die Seinsdimension, zuerst als Sein als solches genommen, sich gerade an dem Punkt darstellt, an dem die primordiale Seinsdimension und damit auch das Sein als solches streng methodisch eingeführt wurde/wird. Welches sind die Voraussetzungen und Implikationen dieser Einführung des Seins und der Rede darüber? Die Antwort darauf bringt eine Reihe von Grundmerkmalen oder Strukturmomenten des Seins als solchen ans Licht. Der genannte »Punkt« erscheint als Verhältnis des menschlichen Geistes zum Sein als solchem. In den Büchern Struktur und Sein und Sein und Gott wurde gezeigt, dass es drei gleichursprüngliche Weisen der Beziehung des menschlichen Geistes zu jener Dimension gibt, die man »Realität« zu nennen pflegt und jetzt als die Seinsdimension bzw. kurz: als das Sein als solches bezeichnen kann: das theoretische, das praktische und das ästhetische Verhältnis, oder kurz: die Theoretizität, die Praktizität und die Ästhetizität. Auf Seiten des menschlichen Geistes entsprechen diesen drei Weisen drei Vermögen: der Intellekt, der Wille und das ästhetische Vermögen (wie immer man letzteres bezeichnen mag). 180 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Diesen drei Weisen des Verhältnisses bzw. den drei Vermögen des menschlichen Geistes entsprechen auf Seite des Seins als solchen Grundmerkmale oder Strukturmomente. Diese gilt es jetzt herauszuarbeiten. Der Theoretizität bzw. dem Vermögen des Intellekts entsprechen drei Merkmale oder Strukturmomente »im Sein« und »des Seins«. Das erste kann man die universale Ausdrückbarkeit des Seins nennen. Dieses Merkmal ergibt sich daraus, dass die Sprache ins Zentrum der philosophischen Theoretisierung gerückt wird. Das dürfte jetzt leicht einleuchten, denn es wurde gezeigt, dass die systematische Philosophie die Theorie der universalen Strukturen des uneingeschränkten universe of discourse ist. Im Zuge der Entfaltung der struktural-systematischen Konzeption hat sich das »uneingeschränkte universe of discourse« als »absolut universale Seinsdimension« näher bestimmt. »Universe of discourse« setzt voraus und impliziert, dass es ausdrückbar oder artikulierbar ist. Zu diesem Punkt wäre viel zu sagen, um Vorstellungen und Auffassungen zu kritisieren und zu klären, die etwa von »Sprachnot« (Heidegger) sprechen oder ständig auf die »Unausprechbarkeit u. ä. verweisen. Doch darauf muss hier verzichtet werden. Das zweite Merkmal oder Strukturmoment des Seins als solchen im Rahmen der Theoretizität ist die absolut universale, d. h. mit der Seinsdimension selbst koextensionale Intelligibilität der Seinsdimension und damit des Seins als solchen. Der Terminus ›Intelligibilität‹ wird hier als eine Art künstlicher genereller Terminus oder terminus technicus benutzt, um die ganze Palette der Zugänge zur Wirklichkeit oder zum Sein im Ganzen bzw. der Modi des Begreifens, Verstehens, Erklärens usw. der Wirklichkeit oder des Seins im Ganzen zu bezeichnen. Es hätte keinen Sinn, eine wissenschaftliche oder philosophische Aussage über etwas oder das Ganze (der Wirklichkeit, des Seins) aufzustellen, wenn dieses Etwas bzw. dieses Ganze nicht »intelligibel« (im erläuterten Sinne) wäre. Die Seinsdimension und damit das Sein als solches erscheint als ein, genauer: als der universale Zusammenhang, der die ganze Dimension von Denken/Geist/Sprache einschließt; es ist daher schlechterdings undenkbar, dass sie außerhalb der Sphäre von Denken/ Geist/Sprache sein könnte. Indem die Seinsdimension bzw. das Sein als solches wesentlich als diese Konstellation erscheint, ist sie dem Denken/ Geist bzw. der Sprache zugänglich: Dieses »Zugänglichsein« ist gerade das, was die Intelligibilität der Seinsdimension bzw. des Seins als solchen ausmacht. Das Sein ist daher begreifbar, verstehbar, erkennbar, erklärbar usw. 181 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Es ist zu betonen, dass die »universale Intelligibilität« der Seinsdimension bzw. des Seins selbst nicht so zu verstehen ist, dass wir als endliche Erkennende in der Lage wären, sie vollständig zu artikulieren; wir können zwar die ganze Weite der Dimension und des Seins selbst in einer allgemeinen Hinsicht begreifen und artikulieren; aber in bestimmter Weise können wir nur Segmente ihrer/seiner weiten, totalen Intelligibilität erfassen. In der Geschichte der Philosophie wurde die Intelligibilität als grundlegendes allgemeinstes immanentes Strukturmoment der Seinsdimension in sehr vielfältigen Hinsichten und Terminologien oft explizit artikuliert. Die erste und wohl berühmteste Formulierung ist der Satz des Parmenides τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι (»… denn dasselbe ist Denken und Sein«). 51 Dazu zu rechnen sind der zentrale Satz der großen metaphysischen Tradition »Ens et verum convertuntur«, Hegels Gleichsetzung von Idee (in seinem Sinne!) und Realität und ganz besonders Heideggers Gleichsetzung von »Sein« und »Wahrheit« (in seinem Sinne): Immer handelte es sich um eine zentrale Intuition, die allerdings oft in übersteigerten und sogar kryptischen Formulierungen artikuliert wurde. Sehr lehrreich ist diese Geschichte deswegen, weil sie deutlich zeigt, wie unterschiedlich ein und derselbe Ausdruck von verschiedenen Philosophen verwendet und verstanden wird. Das gilt ganz besonders für die Ausdrücke ›Denken/Idee‹ etwa bei Hegel und ›Wahrheit‹ besonders bei Heidegger. Außerordentlich aufschlussreich ist die Art und Weise, wie Heidegger den Begriff der »Wahrheit« als nähere Explikation von »Sein« auffasst. Er interpretiert »Wahrheit« von der Etymologie des griechischen Wortes ἀλήϑεια her als »Unverborgenheit« oder Offenbarkeit des Seins. 52 Das dritte Merkmal/Strukturmoment ist die universale Kohärenz der Seinsdimension. Dieser Bezeichnung wird in der struktural-systematischen Philosophie eine besondere und umfassende Bedeutung gegeben. In dem hier intendierten Sinne ist Kohärenz nicht einfach mit
in: H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, 1903/1966, Bd. 1, 231 (Fragment B 3 von Parmenides). 52 In seiner Spätphase hat Heidegger seine Auffassung über »Wahrheit« (sowohl was das Wort als auch die damit assoziierte Bedeutung angeht) einer Revision unterzogen. Vgl. dazu seinen Vortragstext »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, in: Zur Sache des Denkens. Tübingen: Niemeyer, 1969, 61–80; vgl. 77. 51
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»Konsistenz« (im Sinne von Widerspruchsfreiheit) identisch; sie ist mehr als bloße Konsistenz/Widerspruchsfreiheit, insofern sie einen positiven Zusammenhang besagt. Der Genitivus in der Formulierung »universale Kohärenz der Seinsdimension« wird als genitivus subjectivus verstanden: die Seinsdimension als universale Kohärenz, also als universaler Zusammenhang. Das Strukturmoment/Merkmal der universalen Kohärenz ergibt sich aus der universalen Ausdrückbarkeit und der universalen Intelligibilität der Seinsdimension; denn etwas begreifen, verstehen, erklären artikulieren usw. heißt wesentlich, den Zusammenhang und damit die Kohärenz erfassen, in dem/der sich dieses etwas befindet. Man kann kurz sagen: Kohärenz ist Systematizität. Aus grundlegenden Annahmen und Thesen der struktural-systematischen Philosophie ergibt sich, dass man noch genauer und bestimmter sagen muss: Universale Kohärenz ist universale Strukturiertheit; denn das »Sein selbst« wird als die Struktur aller Strukturen, als die ursprünglichste und umfassendste Struktur begriffen. Ein viertes allgemeines immanentes Strukturmerkmal unterscheidet sich eindeutig von den bisher herausgearbeiteten drei Merkmalen. Da diese drei Strukturmomente sich aus der Explikation der Seinsdimension hinsichtlich des Intellekts ergeben, würde man sie in Übereinstimmung mit der seit Aristoteles eingebürgerten, aber gemäß der vorliegenden Konzeption problematischen Terminologie »theoretische Merkmale« nennen. Diese Bezeichnung kann man verwenden, wenn man sie richtig deutet. Unter demselben Vorbehalt könnte man sagen, dass das nun herauszuarbeitende vierte immanente Merkmal ein »praktisches« ist, sofern es die Seinsdimension hinsichtlich des Willens, d. h. des anderen mit dem Intellekt gleichursprünglichen Vermögens des Menschen, charakterisiert. Sowohl der Intellekt als auch der Wille haben die Seinsdimension zu ihrem sie definierenden absoluten Bezugspunkt, allerdings nicht in derselben Hinsicht: Die Seinsdimension ist der den Intellekt definierende absolut unbegrenzte, vollständige Bezugspunkt hinsichtlich der oben »theoretisch« genannten drei ersten immanenten Strukturmomente/Merkmale. Es bleibt nun zu klären, welches demgegenüber dasjenige immanente Strukturmoment/Merkmal der Seinsdimension ist, das die Hinsicht darstellt, unter welcher die Seinsdimension den absolut unbeschränkten und vollständigen Bezugspunkt bildet, der den Willen definiert. Die große metaphysische Tradition hat das Wort ›bonum‹, ›gut‹, verwendet, um dieses Strukturmoment/Merkmal zu bezeichnen. Daher 183 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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galt für diese Metaphysik das große Axiom: Omne ens est bonum oder ens et bonum convertuntur: Zwischen jedem Seienden und dem bonum besteht demnach ein Wechselverhältnis. Aber wie ist »das Gute« zu charakterisieren? Man hat in metaphysischer Hinsicht immer versucht, »das Gute« von zwei Seiten her zu bestimmen: Einmal vom Willen her und zum anderen vom Sein her. Das Gute wurde als das »formale Objekt« des Vermögens »Wille« aufgefasst, näherhin als der Gesichtspunkt, unter welchem der Wille sich zu allem und jedem, also in der Sprache der metaphysischen Tradition: zu jedem »materialen Objekt« verhält (»sub ratione boni«). Auf der anderen Seite wurde das Gute vom Sein her bestimmt, und zwar als jenes immanente Merkmal des Seins, das den Willen »anspricht« oder dem Willen »entspricht«. Dies ist so zu verstehen: Was immer der Wille im Einzelfall will, immer tut er dies aus der Perspektive des Guten in diesem Sinne; denn diese Perspektive, diese Bezogenheit auf das Gute ist es, was den Willen überhaupt definiert. Dieses vierte (»praktische«) allgemeinste immanente Merkmal des Seins selbst ist daher als die universale Gutheit (bonitas) zu bezeichnen. Ein fünftes immanentes Merkmal oder Strukturmoment des Seins wurde im Verlauf der Geschichte der Metaphysik Schönheit genannt. Bestimmt wurde dieses Merkmal durch den Gedanken der »Zusammenstimmung (consonantia)« der anderen bisher herausgearbeiteten immanenten Strukturmomente des Seins. Diese Einsicht ergibt sich konsequenterweise aus der Frage, wie die Einheit oder der Zusammenhang dieser immanenten Strukturmomente zu konzipieren ist. Diese Skizzierung einer Theorie des Seins als solchen besteht in der Herausarbeitung der grundlegenden immanenten Merkmale oder Strukturmomente des Seins selbst. Damit ist viel, ja sehr viel gesagt, was allerdings weiter ausgeführt werden müsste. Für viele oder sogar die meisten Philosophen, die in der einen oder anderen Weise das große Thema »Sein« behandeln, dürfte diese Theorie des Seins als solchen den Eindruck erwecken, dass über »das Sein« sehr wenig, sogar viel zu wenig gesagt wird; sie würden die Thematisierung des immensen Reichtums des Seins vermissen. Aber dieser Eindruck oder gar Einwand wäre ein großes Missverständnis, denn die kurz skizzierte Theorie ist nur eine Theorie des Seins als solchen. Der große »Reichtum« des Seins offenbart sich erst, wenn die zweite Subtheorie, die Theorie des Seins im Ganzen entwickelt wird. Diese zweite Theorie thematisiert das Verhältnis von Sein als solchem und der Dimension der Seienden.
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ET 4/16 – Meine vorhergehende Frage war etwas inadäquat formuliert, da sie darauf abzielte, dass Sie die große Seinsfrage sozusagen in einem Zug klären; es ist aber klar, dass eine Klärung eine schrittweise Behandlung erfordert. Sie haben in aller Kürze die Grundzüge einer Theorie des Seins als solchen dargestellt, indem Sie, aufgrund einer radikalen Korrektur, Vertiefung und Neuformulierung der klassischen Transzendentalienlehre, die immanenten Merkmale des Seins als solchen herausbearbeitet haben. Wie soll man nun das Sein im Ganzen konzipieren? LBP 4/16 – Die Frage nach dem Sein im Ganzen ist die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Seienden. Es leuchtet sofort ein, dass die Formulierung »das Verhältnis von Sein-und-Seienden« keine erklärende, sondern nur eine einleitende, die zu thematisierende Sache allererst anzeigende Formulierung ist. Alles kommt darauf an, wie man das »und« im »Verhältnis«, die Konjunktion, versteht. Und das kann man als jene Aufgabe bezeichnen, die Platon in einer berühmt gewordenen Formel die Gigantenschlacht um das Sein (γιγαντομαχία περὶ τῆϚ οὐσίαϚ 53) nannte. Dabei ist das Verhältnis von Sein und Seienden der schwierigste Punkt. Es ist in der deutschen Sprache sehr einfach, zwischen Sein und Seienden zu unterscheiden. In anderen Sprachen ist diese Unterscheidung nicht unmittelbar einleuchtend, wie im Verlauf unserer Dialoge mehrmals gesagt wurde. Die Frage ist aber, wie diese Unterscheidung zu denken ist. Die einfachste, aber auch oberflächlichste Weise, diese Unterscheidung zu erklären, ist diejenige, die in der ganzen analytischen Philosophie stillschweigend oder halbexplizit angenommen wird: Man deutet das Verhältnis von Sein und Seienden als das Verhältnis zwischen der Totalität der Seienden und den einzelnen Seienden. Das bedeutet, dass man »das Sein« mit »der Totalität der Seienden« gleichsetzt und damit darauf reduziert. Bezeichnend ist dabei, dass der Begriff der Totalität rein extensional verstanden wird: als die Extension des Begriffs (des Prädikats) »Seiend«. Wenn man die Extension auf der Basis der Mengen- oder der Klassentheorie deutet, ergibt sich daraus, dass »das Sein« nicht anderes ist als die Menge oder die Klasse aller X (d. h. all Sophistes 246 a. Es sei vermerkt, dass der in der Formulierung vorkommende Ausdruck οὐσία meistens mit »Sein« übersetzt wird. Aber richtiger wäre es, statt »Sein« den Term »Seiendheit« zu gebrauchen. Das Wort οὐσία ist das substantivierte feminine Partizip Singular von εἶναι, dem griechischen Term für »Sein«. Vgl. auch Politeia 509 b.
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dessen, was ist, aller Seienden, aller »Dinge«, oder wie immer man die Elemente dieser maximalen Menge oder Klasse nennen mag), auf welche der Begriff oder das Prädikat »Sein« Anwendung findet. Damit wird »das Sein« mit der Extension aller Seienden gleichgesetzt – und das bedeutet, dass es überhaupt keine eigene, eigentliche »Bedeutung« hat, sondern dass es auf die Ebene der Seienden reduziert wird. Eine solche – heute extrem weit verbreitete – Position verdient im höchsten Maße das Heideggersche Verdikt der »Seinsvergessenheit«. Sehr aufschlussreich in dieser Hinsicht ist die Art und Weise, wie die Unterscheidung von Sein und Seienden in der Geschichte der Metaphysik verstanden und erklärt wurde. Mit einer sehr partiellen Ausnahme, die durch Thomas von Aquin repräsentiert wird, wie schon mehrmals vermerkt wurde, hat sich die Metaphysik im Anschluss an Aristoteles als die Wissenschaft des Seienden als Seienden verstanden. Sie hatte ihren eigentlichen Ausdruck im conceptus entis, im Begriff des Seienden. Die grundsätzliche Ambiguität beginnt schon hier. Der Ausdruck ›conceptus entis‹ wurde (und wird!) im Deutschen mit ›Seinsbegriff‹ wiedergegeben, was falsch ist, weil letzterer Ausdruck vorgibt, es handele sich um das Sein, nicht um die Seienden. Auch der in der deutschen philosophischen Literatur sehr geläufige Ausdruck ›Seinsmetaphysik‹ ist zutiefst äquivok, denn gemeint ist eigentlich nur ›Metaphysik des/der Seienden‹. In den romanischen Sprachen erscheint diese Ambiguität in subtilerer, dafür aber eine umso größere Konfusion stiftender Weise: Man sagt etwa »concept de l’être, concetto de l’essere, concepto del ser, conceito de ser«, aber in diesen Sprachen hat der Ausdruck ›être/essere/ser‹ die doppelte Bedeutung: »Seiendes« und »Sein«. Einen besonderen Fall stellt die englische Sprache dar. Sie besitzt nur den Ausdruck ›being‹, um sowohl Sein/esse als auch Seiendes/ens auszudrücken. Betrachtet man die vielen Formulierungen und Titeln von Artikeln und Büchern, in denen die Ausdrücke ›being/être/essere/ser‹ erscheinen, so bleibt immer völlig unklar, wie man diese Ausdrücke genau verstehen soll. Das ist ein klares Indiz dafür, dass in der Sache selbst keine Klarheit besteht. Man muss wohl sagen, dass auch in der Geschichte der (vor allem christlich geprägten) abendländischen Metaphysik Sein nur extensional aufgefasst wurde, nämlich als Extension des conceptus entis, also als die Totalität der entia, der Seienden. (Es sei noch einmal betont, dass Thomas von Aquin in dieser Hinsicht eine Ausnahme bildet, da er zwischen ens und esse klar unterschieden hat, und zwar so, dass er das esse nicht 186 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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mehr rein extensional aufgefasst hat. Wie oft hervorgehoben wurde, hat er andererseits das esse ausschließlich und explizit mit actus essendi identifiziert, was eine entscheidende und fundamentale Defizienz seiner Konzeption von esse bedeutet.) Diese Behauptung muss näher erläutert werden. Man muss nämlich hinzufügen, dass das rein extensionale Verständnis von Sein in der Metaphysik doch in einer bestimmten Hinsicht, allerdings immer nur rein punktuell, überwunden wurde, ohne dass dies aber die gesamte Konzeption in signifikanter Wese beeinflusst hätte. Man hat nämlich das Seiende selbst nicht mehr nur extensional verstanden, sondern oft auch explizit in seinem Verhältnis zum esse betrachtet, allerdings ausschließlich in der Form einer ganz allgemeinen Charakterisierung. So hat man den Begriff des ens/Seienden so »definiert«: »Ens = id cuius actus est esse« oder als »id quod habet (oder participat) esse«; und esse wurde manchmal als id quo ens est, vel existit« »definiert«. Diese letzte Charakterisierung des esse ist die einzige, die in der metaphysischen Tradition zu finden ist. Die Frage drängt sich sofort auf: Wie ist das »id quo est (vel existit)« zu verstehen? Darauf gab man die Antwort: als actus essendi, wobei dieser seinerseits als der höchste und ultimative Akt des Seienden aufgefasst wurde. »Höchster oder ultimative Akt« wurde das esse im Unterschied zur forma genannt; diese wurde auch als Akt verstanden, aber eben nicht als höchster und ultimativer Akt. Damit wurde das esse als Ausdruck nur eines – zwar grundlegenden, aber dennoch nur einseitigen – Aspekts des Seienden gedeutet. Zwei Grundzüge oder Grundthesen der traditionellen »Seinsmetaphysik« können als unmittelbare Konsequenzen dieses metaphysischen Verständnisses der Differenz von Sein und Seienden leicht aufgewiesen werden. (1) Dass das Sein grundsätzlich als die reine Extension des Begriffs »Sein« aufgefasst wurde, bedeutet, dass es einfach auf die Dimension der Seienden reduziert wurde. Da andererseits das Seiende als das »definiert« wurde, dem »Sein« zukommt oder das »Sein« hat und da es verschiedene Arten von Seienden gibt, war es nur konsequent, verschiedene Weisen des »Seins-der-Seienden« zu unterscheiden. So entstanden die Unterscheidungen zwischen rein »möglichen« Seienden und »realen« (oder, wie es heute meistens heißt, »aktualen«) Seienden, zwischen »realen/aktualen« Seienden (in rerum natura) und Seienden nur im Verstand (in solo intellectu) usw. Diese zweite Unterscheidung führte zur Einführung des Begriffs der Existenz. Demnach bezeichnet 187 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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Existenz das Sein jener Art von Seienden, die unabhängig vom Verstand (bzw. von der Dimension der Strukturen, des theoretischen Apparats usw.) »besteht«. Und das esse/Sein wurde allmählich einfach auf Existenz reduziert und mit Existenz in diesem Sinne identifiziert. Das geschah schon in der Geschichte der traditionellen »Seinsmetaphysik«, eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt bei der »Neuentdeckung« der »Originalität« des esse bei Thomas von Aquin in den 1930er Jahren erreichte: Das esse bei Thomas wurde einfach mit Existenz »übersetzt«, so z. B. bei E. Gilson. Seitdem herrscht eine fundamentale Konfusion um die beiden großen Begriffe »Sein« und »Existenz«. Dass eine solche Entwicklung in der thomistischen Tradition stattfinden konnte, hat seinen (zumindest partiellen) Grund darin, dass Thomas selbst, wie oft gesagt wurde, das esse mit actus essendi identifiziert hatte. Aber damit wurde die eigentliche Thematik des Seins selbst, als von Existenz unterschieden, aus dem Auge verloren. Man kann diesen Sachverhalt in aller Kürze ganz einfach aufweisen, indem man sagt, dass diese Metaphysik auf die eigenen Formulierungen nicht geachtet hat. Man unterschied nämlich zwischen »esse1 in solo intellectu« und »esse2 in rerum natura«. Zweimal kommt hier das Wort »esse« vor, was an der Indexierung sofort deutlich wird. Die ganze Bedeutung des Wortes »esse« wurde nun in der Geschichte der Metaphysik auf »esse2« reduziert. Dadurch wurde das Sein/esse gerade nicht in seiner ganzen Weite erfasst, denn das »ganze« und damit adäquate Sein/esse ist jene Dimension, die sowohl Seiendes-in-solo-intellectu (= esse1) als auch Seiendesin-rerum-natura (= esse2) umfasst. Auch hier ist es daher berechtigt, von einer Seins/esse-Vergessenheit zu sprechen. 54 In den Schriften des Thomas von Aquin begegnet man den beiden Formulierungen: esse commune und ens commune (oder universale oder in universali). Es ist nun bezeichnend, dass Thomas esse commune und ens commune als austauschbare, wenn auch vielleicht nicht im strengen Sinne synonyme, Ausdrücke versteht bzw. verwendet, wie Texte wie die folgenden zeigen: S. Th. I q. 3 a. 4 ob. 1: »esse cui nulla fit additio, est esse commune [esse/Sein, dem nichts hinzugefügt wird, ist gemeinsames esse]«; De Pot. q. 7 a. 2 ad 6: »ens commune est cui non fit additio [ens/Seiendes, dem nichts hinzugefügt wird, ist gemeinsames ens/Seiendes]. Im Falle des ens commune erläutert Thomas gleich anschließend: »de cuius tamen ratione non est ut ei additio fieri non possit [dessen (d. h. des ens/Seienden) Begriffsgehalt impliziert nicht, dass ihm nichts hinzugefügt werden kann]«: Man muss das wohl so interpretieren: Solange dem (Begriff) ens/Seiendes nichts hinzugefügt wird, handelt es sich um ens commune/gemeinsames Seiendes; sobald ihm etwas hinzugefügt wird, handelt es sich um ens determinatum oder particulare/ein bestimmtes oder partikulares Seiendes. Aber genau dasselbe sagt Thomas vom esse com-
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(2) Eine zweite Grundthese betrifft die sich aus den Annahmen der traditionellen Metaphysik ergebende Auffassung Gottes. Da diese Metaphysik nicht das Sein/esse thematisierte, konnte sie Gott nur noch als ein Seiendes, freilich als das höchste oder erste Seiende (ens summum, ens primum) begreifen. In dieser Hinsicht ist Heideggers Charakterisierung der Grundverfassung dieser Metaphysik als Onto-theo-logie durchaus zutreffend. Umso bemerkenswerter ist die Leistung des Thomas von Aquin, der Gott, zumindest primär und grundsätzlich, nicht als höchstes oder erstes Seiendes, sondern als esse per se subsistens charakterisierte. Allerdings wird hier auch klar, dass die von Thomas von Aquin benutzte Formel, um Gott zu charakterisieren, nämlich esse per se subsistens, eindeutig einseitig ist: Sie meint nämlich »actus essendi per se subsistens«. Es war dann nur ein zwar theoretisch sehr intelligenter, sachlich aber rein künstlicher Denkschritt seitens des Aquinaten, die Behauptung aufzustellen: »In Deo sit idem essentia et esse. Deus non solum est sua essentia, sed etiam suum esse [In Gott Wesen mune (vgl. De Pot. q. 6, a. 6 c.). An der zitierten Stelle aus der Summa Theologiae führt Thomas aber eine wichtige Präzisierung hinsichtlich des Begriffs »etwas, dem nichts hinzugefügt wird [aliquid cui non fit additio]« ein, indem er eine doppelte Bedeutung dieses Begriffs unterscheidet: Einmal dahingehend, dass der Begriffsgehalt dieses etwas eine Hinzufügung ausschließt (de ratione eius sit quod non fiat ei additio); zum anderen dahingehend, dass es nicht zum Begriffsgehalt des etwas gehört, dass ihm etwas hinzugefügt wird (non est de ratione eius quod sibi fiat additio), wobei dann eine Hinzufügung nicht ausgeschlossen ist. Hinsichtlich des Begriffs der »additio/Hinzufügung« muss man beachten, dass Thomas mehrmals betont, weder dem ens noch dem esse könne »etwas Fremdes« hinzugefügt werden: »Nihil potest addi ad esse quod sit extraneum ab ipso. [Nichts kann zum Sein hinzugefügt werden, was ihm fremd ist.]« (De pot. q. 7 a. 2 ad 9) Und: »Enti non potest addi aliquid quasi extranea natura. [Zum Seienden kann nichts Fremdes hinzugefügt werden.]« (De ver. q. 1 a. 1) Nun nennt Thomas das esse in der Perspektive der additio/Hinzufügung im ersten Sinne das esse divinum (das göttliche esse), das esse in der Perspektive des additio/Hinzufügung im zweiten Sinne (also das esse, dem faktisch nichts hinzugefügt wird) esse commune. Es wird klar, dass Thomas sowohl das ens commune als auch das esse commune grundsätzlich extensional versteht: als das, was allen Seienden gemeinsam ist, kurz: als die Totalität der Seienden. Diesen Sachverhalt formuliert Thomas oft sinngemäß so: »ipsum esse est quo aliquid est [das esse selbst ist das, wodurch etwas ist]« (Summa theologiae I q. 75 a. 5 ad 4); anders formuliert: Das esse ist jenes X, wodurch das ens/ Seiendes ein solches ist. Das esse commune ist nach Thomas das esse, insofern es nur als actus esssendi der entia/Seienden verstanden wird. Man muss daher sagen, dass Thomas das esse als solches nicht thematisiert hat. Erstens thematisiert er das esse nur als esse commune rein im Hinblick auf die entia/Seienden und dies nur im Sinne des actus essendi; zweitens thematisiert er dann das esse sofort als esse divinum.
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(Essenz) und Sein sind dasselbe]« 55; eine andere Formulierung lautet: »[Dei] solius essentia est suum esse [Einzig das Wesen Gottes ist dessen Sein]« 56. An dieser Stelle ist es angebracht, in aller Kürze noch auf Heidegger, den eigentlichen Seinsdenker, hinzuweisen. Es sollen nur einige die ontologische Differenz betreffende zentrale Punkte erwähnt werden, die schon in verschiedenen Kontexten, ganz besonders in der Frage 4/13, schon thematisiert wurden. An erster Stelle muss festgehalten werden, dass Heidegger das Sein selbst oder als solches, und zwar »das Sein ohne das Seiende« 57, denken oder thematisieren will; dabei beeilt er sich aber sofort, diese Aussage auf nicht ganz kohärente Weise so zu präzisieren: »Sein ohne das Seiende denken, heißt: Sein ohne Rücksicht auf die Metaphysik denken.« 58 Wie diese Aussage näher zu verstehen ist, bleibt gänzlich unklar. Das ergibt sich aus einer bedeutsamen Selbstkorrektur, die Heidegger explizit vorgenommen hat. In einem Nachwort zu der 1943 veröffentlichten 4. Auflage der Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? schrieb Heidegger: »[…] zur Wahrheit des Seins gehört, dass das Sein wohl west ohne das Seiende, niemals aber ein Seiendes ist ohne das Sein.« 59Aber in der 5. Auflage (1949) dieser kleinen Schrift korrigierte Heidegger den letzten Satz. Die neue Version lautet seit damals: »[…] wenn anders zur Wahrheit des Seins gehört, dass das Sein nie west ohne das Seiende, dass niemals das Seiende ist ohne das Sein.« Heidegger zufolge gibt es also ein unauflösliches und damit ein notwendiges Band zwischen Sein und Seienden. Beide gehören notwendigerweise zusammen. Der Ausdruck ›Zusammengehören‹ wird von Heidegger in diesem Zusammenhang immer wieder verwendet. Ab Mitte der 1930er Jahre führte er ein neues Leitwort seines Denkens ein: Ereignis. Die damit gegebene Problematik wurde schon früher in diesem Buch behandelt. Hinzuzufügen ist noch, dass Heidegger, zumindest in einer wichtigen Phase seines späten Denkens, das Sein bzw. das Ereignis auch (und oft vorwiegend) mit Hilfe poetisch-mythologischer Aussagen, Vorstellungen und Bilder zu artikulieren versuchte. 55 56 57 58 59
Summa Theologiae I q. 3 a. 4 c. I q. 6 a. 3 c. Zeit und Sein, in: Zur Sache des Denkens, 2. Ebd. 25. Wegmarken, Gesamtausgabe, Band 9, 306.
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Dabei kommen die vier großen »Weltgegenden« in verschiedenen Konstellationen vor. Dafür prägte er den Ausdruck ›Geviert‹ : »Himmel– Erde, Göttliche–Sterbliche«, »der Gott, der Mensch, die Welt, die Erde« … Interessanter ist eine gewisse Wende in Heideggers Denken, diejenige nämlich, die mit der plötzlichen Einführung und eigenwilligen Deutung von Sätzen der Form »Es gibt … (Sein und Zeit)« ihren Anfang nahm. Aber auch diese bleibt eine Art plötzlicher Einfall, der nicht methodisch-systematisch ausgearbeitet wird. Darauf wurde in der Frage 4/13 eingegangen. ET 4/17 – Sie erhalten die Spannung aufrecht … Wie begreifen Sie das Sein im Ganzen? LBP 4/17 – Jetzt sind wir endlich in der Lage, auf ausreichend geklärter Basis die struktural-systematische Theorie des Seins im Ganzen zu skizzieren. Die Frage lautet hier: Woher kann oder muss die Inspiration zu einer einleuchtenden und gut fundierten Theorie des Seins im Ganzen genommen werden? Es geht um eine Theorie, die nicht nur die Differenz, sondern vor allem das Verhältnis von Sein und Seienden zu thematisieren hat. Hier helfen keine noch so gewagten Spekulationen, da sie unbegründet und obskur bleiben; auch hilft es nicht, einen Ausdruck wie ›Ereignis‹ einzuführen, um ihm dann eine sonderbare Deutung zukommen zu lassen. Im Gegensatz zu den bisher beschriebenen, kommentierten und kritisierten Ansätzen verfährt die struktural-systematische Philosophie ganz anders. Die solide Basis, auf welcher ein adäquater Ansatz entwickelt werden kann bzw. muss, liegt in dem grundlegenden Umstand, dass der menschliche Geist Fragen, große Fragen, Fragen jeder Art, von den kleinsten bis zu den umfassendsten, hat. Der hier zu befolgende Ansatz geht von einer der wirklich großen Fragen aus, in denen die Potentialitäten des menschlichen Geistes voll zum Tragen kommen. Das ist die fundamentalste Frage, welche die Einführung der Modalitäten Notwendigkeit–Möglichkeit–Kontingenz hinsichtlich der absolut universalen Seinsdimension aufwirft. Die Klärung dieser Frage wird dazu führen, dass eine klare und solide Basis für eine Theorie des Seins im Ganzen erreicht wird. Bevor die eigentliche Darstellung der Grundzüge einer Theorie des Seins im Ganzen unternommen wird, sind zwei Vorbemerkungen zu machen. 191 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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(1) In deutlichem Gegensatz zu weiten Teilen der analytischen Philosophie wird den Modalitäten Notwendigkeit–Möglichkeit–Kontingenz ein grundlegender sowohl ontologischer als auch seinsspezifischer Status zugeschrieben. Das ist eine große Annahme, die in unseren Dialogen nicht im Einzelnen erläutert und begründet werden kann, die aber von der ganzen Tradition des philosophischen Denkens her verständlich ist und sachlich auch begründet werden kann. (2) Bei der Explikation und Darstellung der Seinsdimension auf der Basis der Modalitäten wird auf die Anwendung der von der strukturalsystematischen Philosophie entwickelten Semantik verzichtet. Das geschieht der Einfachheit und Lesbarkeit halber. Die moderne modale Logik versteht die Modalitäten als Operatoren, die Sätze bzw. durch Sätze ausgedrückte Propositionen als Argument haben, etwa: »(Es-ist-notwendig-dass) zwei und zwei vier ist«. Auch die struktural-systematische Philosophie versteht die Modalitäten als Operatoren. In dem wichtigen Beweis, der nachfolgend präsentiert werden soll, werden aber Sätze mit der Subjekt-Prädikat-Struktur verwendet, z. B.: »Das Sein ist notwendig«, »das Sein ist kontingent« etc.; in solchen Sätzen sind die Modalitäten in syntaktischer Hinsicht Prädikate, nicht Operatoren. Das geschieht um der Verständlichkeit willen, obwohl die von der struktural-systematischen Philosophie entwickelte Semantik nur Primsätze (also Sätze ohne die Subjekt-Prädikat-Struktur) anerkennt. Wollte man eine auch sprachlich strenge und exakte Darstellung präsentieren, so müsste man ziemlich künstliche Formulierungen einführen, die von der normalen Sprache extrem abweichen, wodurch die Lesbarkeit außerordentlich erschwert würde. So wäre etwa der Satz »Das Sein ist kontingent« ungefähr so umzuformulieren (dabei ist das Verb »wesen« (nicht: »Wesen«!) das von Heidegger benutzte Verb für »Sein«: »das Sein west«): »Es ist kontingent dass es west«. Wenn man noch gewagtere Formulierungen konstruieren wollte, so wäre etwa zu sagen: »Es ist kontingent dass es seint« (»seint« wäre die dritte Person Singular des in der deutschen Sprache nicht existierenden Verbs »seinen«, wobei »seinen« hier nicht der Plural des Possessivpronomens »sein« wäre). Um alle diese Komplikationen zu vermeiden, wird der Beweis in der »normalen« Sprache mit den »normalen« Sätzen präsentiert, allerdings auf der Basis eines grundsätzlichen Vorbehalts: Die verwendeten Subjekt-Prädikat-Sätze sind semantisch immer in Primsätze umzuinterpretieren. Das hier gesetzte Ziel ist die Demonstration, dass nicht alles – das Sein selbst und im Ganzen, also mit Einschluss aller Seienden – kon192 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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tingent ist, dass also notwendiges Sein angenommen werden muss. Um Missverständnisse zu vermeiden, wird die noch weitgehend neutrale, aber dennoch in der hier interessierenden Hinsicht ausreichend bestimmte Formulierung verwendet: Es gibt eine absolut notwendige Dimension des Seins und eine kontingente Dimension des Seins. Das kann kurz so formuliert werden: Die absolut universale Dimension des Seins ist als Zweidimensionalität des Seins zu begreifen. Es wird von der bei vielen Menschen, einschließlich vieler Philosophen und Wissenschaftler, sehr weit verbreiteten Vorstellung ausgegangen, dass alles kontingent ist, wobei »alles« das bezeichnet, was in der struktural-systematischen Philosophie das Sein als solches und im Ganzen genannt wird. Die Demonstration zielt darauf ab, diese These zu widerlegen, was durch die Präsentation eines indirekten Beweises gemäß der Figur des modus tollens geschieht. Will man die traditionelle Terminologie verwenden, so wäre zu sagen, dass der argumentativ explizierte Sachverhalt ein eminent metaphysischer Sachverhalt ist. Es verhält sich tatsächlich so, dass das Argument überhaupt keine Voraussetzungen in irgendeinem »konkreten« Bereich oder hinsichtlich von Raum und Zeit und dergleichen macht. Bevor dieses Argument im Detail erläutert und durchgeführt wird, ist darauf hinzuweisen, dass es einen extrem abstrakten und maximal universalen Sachverhalt artikuliert. Es arbeitet eine absolut fundamentale und umfassende Konsequenz heraus, welche die Behauptung der »allkontingentischen These« (d. h. der These, dass alles kontingent ist) hätte: die Möglichkeit des absoluten Nichts. Die Demonstration hat die Form des modus tollens: Wenn p, dann q; nun aber nicht q; also nicht p. Sehr abstrakt formuliert, hat der Beweis die Struktur: Wenn alles [das Sein als solches und im Ganzen] kontingent wäre, dann wäre das absolute Nichts (nihilum absolutum) möglich; nun ist das absolute Nichts nicht möglich; daher ist nicht alles kontingent. Da es zwischen Kontingenz und Notwendigkeit kein Drittes geben kann, folgt daraus, dass notwendiges Sein oder, wie hier gesagt werden soll, eine notwendige Dimension des Seins anzunehmen ist. Diese Konklusion ist ersichtlich extrem abstrakt und allgemein; aber sie bildet die angemessene Basis für weitere Ausführungen, die schließlich nach 193 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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einem langen Explikationsprozess zu konkreten Ergebnissen führen wird. ET 4/18 – Die Leser können die Details dieses Beweises in den beiden Büchern Struktur und Sein 60 und Sein und Gott 61 finden. Denken Sie, es wäre im limitierten Rahmen unseres Dialogs möglich, den »kürzeren« Weg einzuschlagen und gleich die konkreten Konsequenzen dieser sehr klaren Demonstration aufzuzeigen? LBP 4/18 – Man kann durchaus den »kürzeren« Weg nehmen, allerdings unter der Bedingung, dass man die Probleme nicht unterschätzt, denen sowohl das adäquate Verständnis des genauen Sinnes als auch die korrekte Einschätzung der systematischen Tragweite der Beweisführung und der daraus resultierenden These begegnen. Wie Sie selbst sagen, können die interessierten Leser die Einzelheiten in den beiden genannten Büchern finden. Die bewiesene Zweidimensionalität der absolut universalen Seinsdimension bildet die Basis für die Entwicklung einer ganzen Theorie des Seins im Ganzen. Der Grund hierfür ist jetzt sehr leicht einsehbar: Die These der Zweidimensionalität wirft sofort die Frage auf, wie das Verhältnis der beiden Dimensionen zu denken ist. Das ist eine Frage, die nicht nur unausweichlich, sondern auch theoretisch gut behandelbar ist. Man hat hier nämlich zwei feste Größen oder Koordinaten: die absolutnotwendige und die kontingente Seinsdimension. Die Thematisierung des Verhältnisses zwischen beiden ist jetzt deswegen möglich und unausweichlich, weil die beiden Dimensionen sich gegenseitig, wenngleich auf jeweils völlig andere Weise, beleuchten. Die uns in ihren Einzelheiten auf natürliche Weise zunächst näher bekannte kontingente Seinsdimension wird aber hinsichtlich ihrer Position im Ganzen des Seins erst von der absolutnotwendigen Seinsdimension her bestimmt; umgekehrt wird die nähere Bestimmung der absolutnotwendigen Seinsdimension erst von ihrem Verhältnis zur kontingenten Seinsdimension her näher zu eruieren sein. Das ist eine gute Basis, um das Verhältnis zwischen den beiden Dimensionen bestimmter aufzufassen, was impliziert, dass in einem damit auch die absolutnotwendige Seinsdimension näher artikuliert wird. 60 61
Cf. Kapitel 5, Abschnitt 5.3, 588 ff. Cf. Kapitel 3, Abschnitt 3.4.3, 234 ff.
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ET 4/19 – Eine Frage quält mich, seitdem Sie angefangen haben, die metaphysische Formulierung »absolutnotwendiges Sein« zu gebrauchen. Wir sind noch im Rahmen derjenigen Gedankengänge, die man »ontologisch« nennen könnte, ungeachtet der Tatsache, dass der Ausdruck »ontologisch« zu sehr historisch überfrachtet ist als dass er als eine geeignete Bezeichnung für Ihre Konzeption des Seins betrachtet werden könnte. Soll man Ihre Konzeption dahingehend verstehen, dass dadurch die Frage nach »Gott« eingeführt wird? Deckt sich die Unterscheidung zwischen der Dimension des kontingenten Seins und der Dimension des absolutnotwendigen Seins mit der traditionellen Unterscheidung zwischen erschaffenem Sein und Gott? Es scheint mir, dass dieser begrifflicher Sprung erstaunlich wäre, umso mehr als die Frage nach der »Existenz Gottes« nicht einmal anfänglich gestellt wurde. LBP 4/19 – Zunächst zum Term ›ontologisch‹: Dieser Term ist als qualifizierende Bezeichnung für meine Seinstheorie absolut ungeeignet, ja falsch. »Ontologisch« ist eine Theorie, die sich mit Seienden (ὄν, ὄντα), nicht mit dem Sein (εἶναι) befasst. Man muss zugeben, dass der Term ›ontologisch‹ traditionell auch als Adjektiv im Zusammenhang mit einer Philosophie des Seins verwendet wurde. Ich selbst habe noch im Buch Struktur und Sein den Term ›ontologisch‹ auch mit dieser umfassenden Bedeutung gebraucht. Aber wegen der Missverständnisse, denen dieser weite Gebrauch unvermeidlicherweise Anlass gegeben hat und immer noch gibt, habe ich seit der Publikation von Sein und Gott aufgehört, in Verbindung mit der Seinstheorie von »Ontologie, ontologisch« zu sprechen. Für die Seinstheorie verwende ich im Deutschen das Adjektiv »seinstheoretisch«. Ein aus dem Griechischen abgeleiteter Ausdruck dafür kann nicht gebildet werden. Man muss in der Tat sehr darauf achten, dass die aufgewiesene absolutnotwendige Seinsdimension (oder kurz: das absolutnotwendige Sein) in keiner Weise mit »Gott« (was immer man darunter verstehen mag) identifiziert wird. Täte man das, so würde man in einer ähnlichen Weise das wiederholen, was ich in meinen Schriften als einen großen methodologischen Fehler bei Thomas Aquin (und in der ganzen metaphysischen Tradition der »Gottesbeweise«) bezeichne. In der Tat, am Ende der »fünf Wege« (quinque viae) identifiziert Thomas die jeweilige Konklusion gleich mit Gott, indem er sagt: »et hoc [= den ersten Beweger, die erste Ursache usw.] omnes vocant Deum … [alle nennen Gott].« Dieser Fehler hat in der Geschichte des christlichen Denkens zu Miss195 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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verständnissen und Streitigkeiten geführt, für die man die Bezeichnung »tragisch« wohl verwenden muss. Man denke nur an den seit Jahrhunderten bestehenden Streit zwischen katholischer und protestantischer Theologie um den »metaphysischen Gott«. An welcher systematischen Stelle der Darstellung das Wort ›Gott‹, das nicht zum philosophischen sprachlichen Repertoire gehört, sondern aus der religiösen Sprache stammt, eingeführt werden kann bzw. sollte, das wird noch genau zu zeigen sein. Hier ist auch eine Bemerkung zum Begriff der »Existenz« im Zusammenhang mit der universalen Seinsdimension angebracht. Hat die Frage »Existiert die universale Seinsdimension?« einen Sinn? Die Antwort ist ganz klar: Auf der Basis der terminologischen Festlegung über die Ausdrücke ›Sein‹ und ›Existenz‹, hat diese Frage absolut keinen Sinn. Die universale Seinsdimension umfasst oder umgreift jene Dimension, in Bezug auf welche es sinnvoll ist zu fragen, ob, bzw. zu sagen, dass etwas (in dieser Dimension) existiert oder nicht: Das ist die Dimension der objektiven Welt, d. h. die Dimension der objektiven Seienden, wie dies in den Antworten auf Ihre Fragen 4/8 und 4/16 erklärt wurde. Später wird sich zeigen, dass konsequenterweise auch die Frage »Existiert Gott?« keinen Sinn hat. Es ist daher nicht nur nicht erstaunlich, sondern absolut konsequent und kohärent, dass »die Frage nach der ›Existenz Gottes‹ nicht gestellt wurde«, weder »anfänglich« noch in einem anderen Kontext. Die Frage nach dem »Zugang zu(m Thema) Gott« wird in der struktural-systematischen Philosophie völlig anders gestellt, behandelt und beantwortet, wie die Fortsetzung unseres Dialogs zeigen wird. Ein erster Grundzug des Verhältnisses zwischen der absolutnotwendigen und der kontingenten Seinsdimension kann leicht aufgewiesen werden. Gerade weil sie kontingent ist, ist die kontingente Seinsdimension hinsichtich des Seins selbst von der absolutnotwendigen Dimension total abhängig. Die kontingente Dimension kann nämlich nicht aus sich selbst heraus das sein, was sie ist; sie verdankt sich daher der Dimension, die aus sich heraus das ist, was sie ist, nämlich absolutnotwendig. Dieses Verhältnis der totalen Abhängigkeit hat weitreichende Konsequenzen. Aber zuerst ist zu fragen, wie diese Abhängigkeit genau zu konzipieren ist und was sich daraus für die nähere Auffassung der absolutnotwendigen Seinsdimension ergibt. Der nächste Schritt in der Explikation des Verhältnisses zwischen der absolutnotwendigen und der kontingenten Seinsdimension besteht 196 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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darin zu zeigen, dass die absolutnotwendige Seinsdimension als geistiges Sein zu begreifen ist, wobei »geistiges Sein« hier »mit Intelligenz, Wille und Freiheit« ausgestattetes Sein meint. Man kann dafür, im Anschluss an eine heute weit verbreitete Terminologie, auch sagen: absolutnotwendiges personales Sein, aber dann ist darauf zu achten, dass das Wort ›Person(al)‹ leicht Anlass zu sehr störenden Missverständnissen geben kann. Wie ist dieser Schritt zu begründen, der weitreichende Konsequenzen hat? Zugunsten dieser These kann man verschiedentlich argumentieren. Hier soll nur ein Argument in etwas lockerer Weise kurz dargestellt werden. Es stützt sich entscheidend auf einen zentralen Aspekt des Verhältnisses zwischen der kontingenten Seinsdimension und der absolutnotwendigen Seinsdimension. Oftmals im Verlauf unseres Dialogs wurde der spezifische Charakter des menschlichen Geistes besonders mit der »Kurzformel« artikuliert: Der menschliche Geist ist intentional koextensiv mit dem Sein im Ganzen (anima quodammodo omnia). Somit ist er auch mit der absolutnotwendigen Seinsdimension intentional koextensiv. Auf dieser Basis kann man nun einen indirekten Beweis zugunsten der These vom geistigen Charakter der absolutnotwendigen Seinsdimension führen. Es ist ein Argument, das auf den beiden Gedanken der Intelligibilität und der Kohärenz basiert. Angenommen, die absolutnotwendige Dimension sei nicht geistig verfasst, sondern sei irgendetwas Anderes, etwa ein rein abstraktes Prinzip (wie immer man so etwas konzipieren mag) oder so etwas wie eine »ursprüngliche nicht-geistige Natur (reine Materie)« oder etwas Ähnliches; dann hätte man die folgende sonderbare »Gegenüberstellung«: auf der einen Seite geistig verfasste kontingente Seiende, die mit dem Sein im Ganzen und damit auch mit der absolutnotwendigen Seinsdimension intentional koextensiv sind, und auf der anderen Seite eine rein abstrakte oder rein naturhaft/materiell absolutnotwendige Seinsdimension. Die so aufgefasste absolutnotwendige Seinsdimension wäre dann definitionsmäßig weder mit sich selbst und noch weniger mit dem Sein im Ganzen intentional koextensiv. Wäre das kohärent begreifbar? Wohl kaum. Daher kann auf dieser Basis die entscheidende Behauptung aufgestellt werden: Die These, dass die absolutnotwendige Seinsdimension geistig verfasst ist, kann eine unvergleichlich höhere Intelligibilität und Kohärenz für sich in Anspruch nehmen als die entgegengesetzte These, der zufolge diese Dimension nicht-geistig verfasst ist. 197 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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ET 4/20 – Wie ist aber das Verhältnis zwischen der als geistig näher bestimmten Dimension des absolutnotwendigen Seins und der Dimension des kontingenten Seins, d. h. der Seienden zu begreifen? Ist es nicht so, dass Sie hier, freilich auf der Basis einer rigorosen Argumentation, den alten Gedanken der Schöpfung erneut einführen? LBP 4/20 – An dieser Stelle tauchen weitere Fragen auf. Die zunächst wichtigste betrifft wieder das Verhältnis zwischen der absolutnotwendigen und der kontingenten Seinsdimension, aber jetzt gemäß der bisher aufgezeigten näheren Bestimmung der absolutnotwendigen Seinsdimension im Sinne des personalen oder geistigen absoluten Seins. Die Frage lautet dann: Wie ist das Verhältnis zwischen dem absolutnotwendigen geistigen freien Sein und der kontingenten Seinsdimension aufzufassen? Die Antwort darauf ergibt sich grundsätzlich aus dem bisher Dargelegten. Oben wurde nämlich gezeigt, dass die kontingente Seinsdimension von der absolutnotwendigen Seinsdimension, d. h. jetzt bestimmter: vom absolutnotwendigen geistigen freien Sein, total abhängig ist. Es ist nun zu zeigen, was das heißt. Es gehört zur Definition der kontingenten Seienden, dass sie zwar sind, aber nicht sein könnten, also, dass sie nicht notwendigerweise sind. Dies aber bedeutet, dass sie nicht aus sich selbst heraus sind, anders: dass der Umstand, dass sie sind, nicht aus ihnen selbst erklärbar ist. Wenn die Seienden nicht hätten sein können, so drängt sich unweigerlich die Frage auf, wie sie sozusagen »ins Sein gekommen« sind. Wenn sie nicht aus sich heraus und durch sich selbst ins Sein gekommen sind, so sind sie von anderswoher ins Sein gekommen. Aber was kann hier »von anderswoher« überhaupt heißen? Voraussetzungsmäßig ist das Einzige, was in Frage kommt und die Frage nicht irgendwie, sondern definitiv beantwortet, das absolutnotwendige geistige Sein. Weil aber dieses das freie absolutnotwendige Sein ist, kommt die Freiheit sofort ins Spiel, wenn es sich um die Beantwortung der gestellten Frage handelt. Die kontingente Seinsdimension ist durch die absolute Freiheit des absolutnotwendigen Seins ins Sein gekommen. Dieser Sachverhalt ist dann adäquaterweise so auszudrücken: Das freie absolutwendige Sein hat die kontingente Seinsdimension ins Sein gesetzt, und zwar absolut in dem Sinne, dass nichts Vorgängiges oder Zugrundeliegendes oder Ähnliches vorausgesetzt wäre. Die im erläuterten Sinn durch-das-absolut-notwendige-freie-Sein-vollzogene-absolu198 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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te-Setzung-ins-Sein-hinsichtlich-der-kontingenten-Seinsdimension ist das, was der adäquat artikulierte Gedanke der Schöpfung besagt. Es ist genau zu klären, was »absolute Setzung ins Sein« eigentlich bedeutet und impliziert bzw. was sie nicht bedeutet und nicht impliziert. Die Schöpfung als eine so konzipierte Setzung (im aktiven Sinne) bezieht sich auf die kontingente Seinsdimension als ein Ganzes, d. h. auf die Gesamtheit der Seienden. (Es ist hier daran zu erinnern, dass nach der in der struktural-systematischen Philosophie vertretenen Auffassung das absolutnotwendige freie Sein kein Seiendes ist.) Das bedeutet, dass das absolutnotwendige freie Sein kein Seiendes sozusagen isoliert ins Sein setzt, vielmehr setzt es die kontingente Seinsdimension als ein Ganzes ins Sein. Was im Rahmen oder innerhalb der kontingenten Seinsdimension entsteht oder hervorgebracht u. ä. wird, wird gemäß dem herausgearbeiteten Schöpfungsbegriff nicht erschaffen. Der Grund dafür liegt darin, dass alles, was in(nerhalb) der kontingenten Seinsdimension (also der »Welt«) entsteht, hervorgebracht wird etc., immer etwas Vorgängiges voraussetzt, wie immer man dieses »Vorgängige« bezeichnen mag (ein anderes Seiendes, ein Material welcher Art auch immer etc.). Darüber vollständige Klarheit zu schaffen, ist gerade heute eine der dringendsten Aufgaben, und zwar wegen der teilweise als krass zu bezeichnenden außerordentlich weit verbreiteten Missverständnisse des Gedankens der Schöpfung. Noch etwas Wichtiges muss hier angefügt werden. Thomas von Aquin und im Allgemeinen die christlich orientierten Metaphysiker subsumieren den Schöpfungsgedanken unter den Begriff (bzw. die Kategorie) der Kausalität. Das liegt genau und ganz in der Konsequenz der schon festgestellten Orientierung dieser Autoren am Seienden und nicht am Sein. Man untersucht einen bestimmten Begriff als im Bereich der endlichen kontingenten Seienden realisiert und dann überträgt man ihn durch einen als gewaltig und gewagt zu bezeichnenden Sprung auch auf Gott. Dann kann der Schöpfungsgedanke nur als ein Extremfall der Kausalität aufgefasst werden. Das ist aber sehr problematisch, weil alle Konnotationen, die mit dem im endlichen Bereich der Seienden realisierten Begriff der Kausalität gegeben sind, auch im Extremfall (der Schöpfung) so oder so – und sei es als negierte – immer noch bewahrt werden. Das aber verunklärt, ja sogar verfälscht den eigentlichen Begriff der Schöpfung. Angesichts dieser Problemlage ist es unzulässig, den Begriff der Schöpfung ohne weiteres unter den Begriff der Kausalität zu subsumie199 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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ren. In der oben dargestellten systematischen Erklärung des Schöpfungsgedankens wurde dieser folgendermaßen bestimmt: Schöpfung ist die ins-Sein-Setzung der kontingenten Seienden, und zwar ohne dass irgendetwas (welcher Art auch immer) vorausgesetzt wäre, ausgenommen natürlich das absolutnotwendige Sein selbst. Das ist ein im buchstäblichen und strengsten Sinn absolutes Singulare tantum, ein absolut einmaliger Sachverhalt, der ausschließlich das Verhältnis des absolutnotwendigen Seins als Schöpfer hinsichtlich der Dimension der kontingenten Seienden artikuliert. ET 4/21 – An diesem Punkt drängt sich die hartnäckige Frage auf: Wie wird (das Thema) »Gott« in die Philosophie der Dimension des absolutnotwendigen, freien und schöpferischen Seins eingeführt? Handelt es sich in Wirklichkeit nicht um eine verkappte Behandlung eines theologischen Themas und damit um eine verkappte Theologie? LBP 4/21 – Ihre Frage charakterisiert sehr gut das, was seit Langem im Bereich der christlichen Metaphysik geschieht. Man will möglichst schnell zu Gott gelangen. So haben manche Metaphysiker etwa Heideggers »Sein« ohne große Umstände mit Gott identifiziert. Nachdem Heidegger ab Mitte der 1930er Jahre nicht mehr »Sein«, sondern »Ereignis« als das Leitwort seines Denkens betrachtete, haben viele christliche Denker dann wieder sehr schnell »Ereignis« mit »Gott« bzw. Gott mit »Ereignis« identifiziert. Ich habe in meinen Schriften ausführlich gezeigt, dass diese Vorgehensweise ein Irrweg ist, denn dadurch wird man weder dem Sein noch Gott gerecht. Eine schnelle Identifizierung von Sein und Gott lehne ich dezidiert ab. Erst eine geduldige, methodische und rigorose Explikation, genauer: Selbstexplikation des Seins – dieses anfänglich im Sinne dessen verstanden, was ich die ursprüngliche universale Seinsdimension nenne – führt dazu, dass man die Frage klären kann, wie sich Sein und Gott zueinander verhalten: Erst an einem sehr fortgeschrittenen Stadium der (Selbst)Explikation des Seins »erscheint« dann »Gott«, und zwar dann als das vollexplizierte Sein, als esse plenum. Erst an dieser Stelle, also nachdem die absolutnotwendige Seinsdimension als geistiges, personales, freies und zuletzt schöpferisches absolutnotwendiges Sein expliziert wurde, führt die struktural-systematische Philosophie das Wort ›Gott‹ in die philosophische Darstellung ein. Dieser Punkt muss sehr sorgfältig erklärt und begründet werden, 200 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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da er eine kaum hoch genug einzuschätzende Bedeutung für die heutige Diskussion über die so genannte Gottesfrage hat. Die struktural-systematische Konzeption ist geeignet, fundamentale Unklarheiten, Missverständnisse, einseitige und falsche Fragestellungen u. ä. in diesem Bereich zu überwinden und so grundsätzliche Klarheit zu schaffen. In seiner wirkungsgeschichtlich sehr bedeutsamen kleinen Abhandlung »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik« stellt Heidegger ganz richtig die Frage: »Wie kommt der Gott in die Philosophie, nicht nur in die neuzeitliche, sondern in die Philosophie als solche?« 62 Man muss aber auch die umgekehrte Frage stellen: »Wie kommt die Philosophie zu(m Thema) ›Gott‹ ?« Diese Frage setzt eine Reihe anderer Fragen und deren Klärung voraus, u. a.: »Kann oder muss die Philosophie überhaupt zu(m Thema) ›Gott‹ gelangen?«, und: »Wie sollte sie dies bewerkstelligen?«, ferner: »Gibt es einen angemessenen philosophischen Zugang zu(m Thema) ›Gott‹ ?«, schließlich: »Wenn ja, wie wäre dieser Zugang zu konzipieren?« Die Gottesfrage wird heute wieder gestellt und behandelt – mit erstaunlicher Intensität. Analysiert man diese außerordentlich komplexe Problem- und Diskussionslage, so lässt sich zeigen, dass die allerwichtigste spezifische Frage hinsichtlich der allgemeinen Gottesfrage, jene spezifische Frage, die allen anderen spezifischen Formen der Gottesfrage zugrunde liegt und von ihnen vorausgesetzt wird, die Frage nach dem Wonach ist: Wonach wird eigentlich gefragt, wenn nach Gott gefragt wird? Man muss feststellen, dass die Tragweite dieser Frage heute kaum gesehen, geschweige denn ernsthaft thematisiert wird. Der Kürze halber wird hier von der Annahme ausgegangen, dass die radikalste Form der Frage und in diesem Sinne die Grundfrage nach dem Wonach hinsichtlich der allgemeinen Gottesfrage aus philosophischer Sicht die Frage nach dem Sinn der Frage selbst ist. Die Formulierung »Sinn der Frage selbst« wird als eine Art Kürzel verwendet, das eine große Anzahl von Gesichtspunkten beinhaltet und anzeigt. Als Erstes ist festzustellen, dass man es zunächst nur mit einem Wort zu tun hat, dem Wort ›Gott‹. Welche Bedeutung oder welcher Begriffsinhalt wird damit verbunden oder assoziiert? Der Philosoph könnte im Prinzip in rein stipulativer Weise mit diesem Wort jede beliebige Bedeutung bzw. jeden beliebigen Begriffsinhalt verbinden. Aber das wäre willkürlich, dem stünde nämlich die massive Tatsache ent62
M. Heidegger, Identität und Differenz, 52.
201 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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gegen, dass dieses Wort immer schon verwendet wird, seit eh und je, und zwar mit bestimmten Bedeutungen. Das Wort ›Gott‹ stammt nicht aus dem sprachlichen Repertoire der Philosophie; es stammt aus der religiösen Sprache und hat eine uralte Bedeutungstradition. Die oben formulierte Frage: »Wie kommt die Philosophie zur Gottesfrage, zum Thema ›Gott‹ ?« setzt zunächst eine Antwort auf die folgende andere Frage voraus: »Was kann, was soll der Philosoph mit dem Wort ›Gott‹ und seiner Geschichte und seinen konkreten Verwendungen in der religiösen Sprache anfangen?« Das führt den Philosophen dazu, dass er sich mit dem großen Phänomen der Religion bzw. der Religionen und mit der Religionsgeschichte befassen muss. Hier aber trifft er auf so etwas wie ein Chaos. Was wird, was könnte, was sollte er dann machen? Als Philosoph wird er schnell merken, dass nicht alle Religionen gleich sind. Er wird sich, zumindest zunächst, für diejenigen interessieren, die für eine rationale Betrachtung in Frage kommen. Und so – aus Platzgründen werden hier viele Überlegungen und Argumentationsschritte übersprungen – wird er dazu kommen, die drei großen monotheistischen Religionen in Betracht zu ziehen. Und hier wird er feststellen, dass diesen Religionen, ungeachtet der vielen Formen, in denen sie sich präsentieren und explizieren, doch so etwas wie eine Grundidee, eine Grundüberzeugung, eine Grundintuition zu Grunde liegt. Er wird weiter feststellen, dass nur das Christentum diese Grundidee, Grundüberzeugung oder Grundintuition auf unvergleichliche Weise theoretisch thematisiert und artikuliert hat, und zwar in einer Wissenschaft genannt Theologie. Diese Feststellungen scheinen die Auffassung nahezulegen, dass die so genannte Gottesfrage nur ein einzelnes Thema, ja sogar eine Art Randthema für die Philosophie ist, und zwar so, dass es seinen eigentlichen Platz in der Religionsphilosophie hat. So wird das Thema heute meistens gesehen und behandelt. Dass (das Thema) »Gott« auch ein religionsphilosophisches Thema ist, wird in der struktural-systematischen Philosophie nicht in Abrede gestellt. Es soll aber gezeigt werden, dass der primäre und angemessene philosophische Ort dieses großen Themas ein ganz anderer ist. Dieser Ort ist der philosophisch-systematische Ort, und zwar im folgenden Sinne: Im Rahmen einer streng systematisch entwickelten Konzeption wird ein Punkt erreicht, wo die Frage auftaucht, ob an diesem Punkt nicht eine gewisse Affinität zu jenem »Phänomen« besteht, das in der Religion (genauer: in den drei großen monotheistischen Re202 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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ligionen) mit dem Ausdruck ›Gott‹ belegt wird. Der hier gemeinte systematisch-philosophische »Punkt« ist dann erreicht, wenn in der Fachterminologie der hier vertretenen struktural-systematischen Philosophie die Theorie des Seins als solchen und im Ganzen so weit entwickelt wird, dass die primordiale Seinsdimension als absolutnotwendiges geistiges und freies Sein expliziert wird, das die kontingente Seinsdimension (die »Welt«) erschaffen hat. Erst hier erweist es sich dann als philosophisch sinnvoll, sozusagen auf das religiöse »Phänomen Gott« aufmerksam zu werden und den Ausdruck ›Gott‹ in die systematisch-philosophische Gesamtkonzeption einzuführen. Dadurch wird nicht einfach die religiöse mit dem Wort ›Gott‹ verbundene Vorstellung übernommen; vielmehr wird der in dieser Vorstellung enthaltene Gehalt philosophisch expliziert, korrigiert und zur Klarheit gebracht. Damit ist Heideggers Frage »Wie kommt der Gott in die Philosophie, nicht nur in die neuzeitliche, sondern in die Philosophie als solche?« bzw. die umgekehrte Frage »Wie kommt die Philosophie zu(m Thema) ›Gott‹ ?« angemessen beantwortet. ET 4/22 – Es ist im Rahmen eines einfachen Dialogs nicht möglich, über den »Punkt« hinauszugehen, den wir jetzt erreicht haben. Freilich bleiben viele sich hier aufdrängende Fragen ungestellt und unthematisiert; wir werden sie in einem weiteren Dialog formulieren und behandeln, der gerade bei dem jetzt erreichten Punkt, nämlich der Gottesfrage, seinen Anfang nehmen wird. Zu stellen wären beispielsweise Fragen nach dem Grund der Schöpfung, nach dem Verhältnis zwischen dem »Göttlichen (der göttlichen Dimension)« und Gott, nach der »Manifestation« Gottes oder nach der göttlichen Transzendenz usw. Man wird auch nicht darauf verzichten zu fragen, wie Sie »Geist« verstehen, was bis jetzt nicht ausreichend geklärt wurde. Kurz: wir befinden uns erst am Beginn der angemessenen Klärung Ihres Denkens über dieses große Thema. Am Ende unseres Dialogs, viel mehr als am Anfang, erscheint mir Ihr Denken so außerordentlich streng, rigoros und umfassend, dass man heute schwerlich ein anderes vergleichbares metaphysisches Denken finden dürfte. Sie besitzen eine erleuchtende Kraft und eine beeindruckende Dialogfähigkeit (besonders mit Thomas von Aquin, Hegel, Heidegger, Frege …). Sie sind unzweifelhaft ein exzeptioneller Denker hinsichtlich mindestens dreier Punkte: Erstens besitzen Sie eine außergewöhnliche Kenntnis der Geschichte des Denkens, auf deren Basis Sie 203 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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eine systematische Philosophie entwickeln, die neue und wahrhaft originelle Perspektiven eröffnet. Zweitens zeichnet sich Ihr Denken bei der Untersuchung der methodologischen und theoretischen Grundlagen der Philosophie durch eine kompromisslose und außergewöhnliche Rigorosität aus; dabei verliert es niemals den Gesamtzusammenhang der Fragen und Probleme aus dem Auge, was sich darin zeigt, dass der Gesamtzusammenhang in der Gestalt einer Theorie des Seins als solchen und im Ganzen explizit thematisiert wird. Drittens besitzen Sie eine Klarheit, die in einer Zeit, in welcher oft ein seltsamer Jargon herrscht, eine wahre philosophische Freude und ein wahrer Denkansporn ist. Es wäre daher ein philosophischer Fehler, der Debatte über die struktural-systematische Philosophie, deren Grundzüge Sie uns präsentiert haben, auszuweichen Aus allen diesen Gründen verdient Ihr Denken von Seiten der französischen Philosophie eine besondere Beachtung. Ich hoffe, kann mir aber dessen nicht sicher sein, dass die gegenwärtige französische Philosophie immer noch die philosophische und konzeptuelle Reife besitzt, um die von Ihnen vorgestellte struktural-systematische Philosophie rezipieren und deren Tragweite erkennen zu können. Ich hoffe ebenfalls, dass der zuweilen polemische Charakter Ihres Denkens, der sich in Wirklichkeit seiner extremen Rigorosität verdankt, dessen Rezeption nicht von vornherein verhindern wird. Dies umso mehr, als sich hinter dem Anschein von manchmal etwas rhetorischen Absagen und Zurückweisungen in Wirklichkeit etwas anderes verbirgt, wie ich es konstatieren konnte, nämlich eine grundsätzliche Übereinstimmung, die nichts anderes als terminologische Korrekturen und zusätzliche Unterscheidungen erfordert. Es ist jetzt Zeit, Ihre struktural-systematische Philosophie bekannt zu machen, indem man sie studiert und ausführlich kommentiert. Wenn es noch möglich wäre, Ihnen eine letzte Frage zu stellen, bevor wir diesen ersten Dialog abschließen, so würde sie lauten: Was bleibt Ihnen Ihrer Ansicht nach auf Ihrem philosophischen Weg noch zu leisten? In welcher Richtung des Denkens, die Sie vielleicht noch nicht konkret ins Auge gefasst haben, würden Sie fortfahren und welchem Vorhaben beabsichtigen Sie Ihre theoretischen Anstrengungen zu widmen? LBP 4/22 – In der Tat, es bleibt viel, in bestimmter Hinsicht noch das Meiste zu tun. Das Buch Struktur und Sein hat in den ersten drei Ka204 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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piteln grundsätzlich nur einen Theorierahmen für eine systematische Philosophie erarbeitet und in den drei letzten Kapiteln in sehr summarischer und punktueller Weise die Anwendung dieses Theorierahmens auf das »Gesamtdatum«, d. h. auf die gesamte philosophische Sachthematik, aufgezeigt. Sowohl der Theorierahmen als solcher muss in vielfacher Weise bis ins Einzelne detailliert ausgeführt als auch die Behandlung des immensen Gesamtdatums in Angriff genommen werden. Das ist aber eine Aufgabe, welche die Möglichkeiten eines einzelnen Philosophen unbestreitbar weit überschreitet; es handelt sich nämlich um ein ganzes und anspruchsvolles philosophisches Programm, das nur in kollektiver Anstrengung realisierbar ist. Hinsichtlich des Theorierahmens im engeren Sinne müssten vor allem die drei Arten von fundamentalen Strukturen, die logischen/mathematischen, die semantischen und die ontologischen Strukturen, entscheidend weiter geklärt und detailliert dargestellt werden. Insbesondere das ganze logische Instrumentarium muss überdacht und entwickelt werden. Der Grund dafür liegt besonders darin, dass die struktural-systematische Philosophie nur Sätze ohne die Subjekt-Prädikat-Struktur annimmt. Dadurch kommt für sie jene Logik nicht in Betracht, die das logische Hauptinstrumentarium der analytischen Philosophie bildet: die Prädikatenlogik erster Stufe. Hier ist eine immense kreative Arbeit erforderlich. Aber auch die Auswahl mathematischer Strukturen, die für die klare Darstellung philosophischer Theorien über bestimmte Bereiche unabdingbar sind, stellt ebenfalls eine wichtige Aufgabe dar. Die Grundzüge einer neuen Semantik und Ontologie und einer semantisch-ontologischen Theorie der Wahrheit wurden in Struktur und Sein herausgearbeitet. Nun wäre es von entscheidender Bedeutung, die immense Tragweite dieser Konzeptionen oder Disziplinen für jede philosophische Theorie über jeden Bereich in allen Details zu zeigen. Das ist eine schier endlose Aufgabe, besonders da sie weitgehend in Auseinandersetzung mit anderen Konzeptionen erfolgen müsste. In Kapitel 4 von Struktur und Sein wurde die Anwendung der fundamentalen Strukturen auf die Welt als das Gesamt der Bereiche der objektiven Seienden anhand zentraler Beispiele durchgeführt, wie dies in der Antwort auf die Frage 4/2 gezeigt wurde. Die konkrete und detaillierte Entwicklung von Theorien über die vielen einzelnen Bereiche der Seienden stellt heute – zumindest in der analytischen Philosophie – das größte Feld philosophischer Bemühungen dar. Sehr problematisch ist dabei allerdings der Umstand, dass der diesen analytischen Theorien 205 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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zugrundeliegende Theorierahmen beinahe zur Gänze unanalysiert bleibt. Den Abschluss – und damit die Krönung – der struktural-systematischen Philosophie bildet die Theorie des Seins als solchen und im Ganzen. Diese Theorie wurde sowohl in den beiden Büchern Struktur und Sein und Sein und Gott sowie auch in unseren Dialogen mehr oder weniger nur skizziert. Sie müsste aber umfassend dargestellt und vertieft werden. An die Antworten auf Ihre letzten Fragen anknüpfend, sollen hier abschließend nur einige Hinweise auf die vier wichtigsten Fragestellungen gegeben werden, die sich in diesem Zusammenhang aus der bisher kurz skizzierten Konzeption und der darin verhandelten Sache von selbst ergeben. Erstens stellt sich hier unmittelbar die Frage: Warum hat Gott die Welt erschaffen? Das ist sicher eine äußerst sinnvolle Frage. Die angemessene Antwort darauf kann sich nur aus einer gründlichen Konzeption des Seins ergeben. Diese Frage ist nicht einfach identisch mit der berühmten von Leibniz formulierten Frage: »Pourquoy il y a plutôt quelque chose que rien – Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?« 63 Über letztere Frage wird heute im Rahmen der analytischen Philosophie intensiv diskutiert. Aber der Theorierahmen, der dabei vorausgesetzt wird, erweist sich als völlig unzureichend und inadäquat. Die genannte Frage, wie sie von Leibniz formuliert wurde, kann nicht ohne die gründliche Klärung mindestens zweier vorgängiger Fragen beantwortet werden. Die erste lautet: Was heißt es, eine Warum-Frage zu stellen? Anders formuliert: Wonach wird bei einer Warum-Frage genau gefragt und auf welchen Voraussetzungen bzw. Annahmen basiert eine solche Frage? Die zweite Frage lautet: Was bedeutet »quelque chose – etwas«? Es scheint klar zu sein, dass damit »irgendetwas, das ist«, also (ein) Seiendes gemeint ist. Heidegger hat das richtig gesehen, als er die Frage so umformulierte: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?« 64 und darauf hinwies, dass diese Frage keineswegs die radikalste ist, da sie das Sein selbst unthematisiert lässt. Aus der struktural-systematischen Philosophie ergibt sich, dass die Frage: »Warum ist Sein überhaupt und nicht vielG. W. Leibniz, Principes de la Nature et de la Grâce, fondés en raison, in: G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, hrsg. von C. J. Gerhardt, Band 6 (Berlin, 1885; Nachdruck: Hildesheim: Olms, 1965), 602. 64 M. Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: M. Heidegger, Wegmarken. GA, Band 9, 122. 63
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mehr (absolutes) Nichts?« eine absolut sinnlose, weil selbstwidersprüchliche Frage ist. Dieses fundamentale Thema müsste aber in allen Einzelheiten vertieft werden. Zweitens ergibt sich aus dem Dargelegten die weitere Frage: Wie ist das Verhältnis zwischen dem als Schöpfer näher bestimmten absolut notwendigen geistigen Sein und den kontingenten Seienden näher zu bestimmen? Es liegt in der inneren Konsequenz der hier vertretenen Konzeption, dass dieses Verhältnis in allererster und grundsätzlicher Hinsicht nicht durch (wie immer näher charakterisierte) Distanz, sondern als Einheit zu begreifen ist. Das absolutnotwendige Sein als Schöpfer umfasst alle Seienden und schließt sie ein. Die durch den deutschen Philosophen Karl Christian Friedrich Krause im 19. Jahrhundert eingeführte Bezeichnung »Panentheismus« (nicht: »Pantheismus«!) erweist sich hier als gänzlich zutreffend. Diese Konzeption steht in völliger Übereinstimmung mit der Bibel, was sich aus dem Satz ergibt, den der Apostel Paulus auf dem Areopag in Athen an die Adresse der Philosophen ausgesprochen hat: »In Gott leben wir, bewegen wir uns und sind wir.« 65 Dieser fundamentale Gedanke bedarf heute einer gründlichen systematischen und metaphysischen Durchdringung. Er macht die radikalen Schwächen deutlich, die die beiden wichtigsten heutigen Strömungen hinsichtlich der Gottesfrage beherrschen. Es sind dies die neue analytische (philosophische) Theologie und/oder Religionsphilosophie und das jüdisch-christliche postmoderne Denken. Die erste Richtung konzipiert Gott ganz im Sinne der Onto-theo-logie als ein Seiendes, wenngleich als das höchste oder erste Seiende. Auf dieser Basis ist es überhaupt nicht möglich, das Einheitsverhältnis zwischen Gott und der »endlichen Welt« denkerisch zu erfassen. Auf der anderen Seite machen die postmodernen Autoren aus Gott ein absolut fernes, unzugängliches, unfassbares Anderes gegenüber der »endlichen Welt«, mit der Konsequenz, dass zwischen beiden eine absolute Kluft besteht. Erstaunlicherweise merken diese Autoren nicht, dass sie damit aus Gott ein sonderbares fernes X machen, das ein Anderes, nämlich die endliche Welt, außer sich hat und damit durch dieses Andere relativiert ist. Aufgrund des Begriffs der Andersheit lässt sich das Einheitsverhältnis zwischen Sein und Seienden, zwischen Gott als dem vollexplizierten Sein und den die kontingente Seinsdimension bildenden Seienden in keiner
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Apostelgeschichte 17:27–28.
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Weise adäquat erklären. Das ist das Problem der Transzendenz, das radikal neu durchdacht werden muss. In diesem Zusammenhang ist ein Problem zu nennen, das eine äußerst sorgfältige Behandlung erfordert. Nach der struktural-systematischen Philosophie ist Gott kein Seiendes, sondern das voll explizierte Sein selbst. Das wirft ein großes Problem auf, das daher rührt, dass die westlichen (indo-germanischen) Sprachen zumindest die Tendenz haben, in der Weise über die Welt oder die Realität oder die Seinsdimension zu sprechen, dass immer etwas Grundlegendes, etwas Konkretes, etwas Festes vorausgesetzt wird. Das heißt: diese Sprachen sprechen immer grundsätzlich über Dinge und damit über Seiende(s). Dementsprechend wird auch die Rede über Gott gestaltet: Gott ist demnach ein Seiendes, das erste und höchste Seiende. Doch schon Thomas von Aquin hat von Gott als esse per se subsistens gesprochen. Heute wird manchmal von Gott auch als Ereignis (im normalen, nicht im Heideggerschen Sinne des Wortes) gesprochen. Das ist zwar eine interessante Entwicklung, aber sie ist nicht grundsätzlicher Natur. Eine grundsätzliche Klärung ist im Rahmen der struktural-systematischen Philosophie möglich, insbesondere weil diese Philosophie Sätze mit der Subjekt-Prädikat-Struktur nicht anerkennt. Solche Sätze sind aber sowohl Grund als auch Ausdruck der genannten Tendenz, alles und jedes, auch Gott, als Seiendes zu betrachten und zu bezeichnen. Die beiden letzten Aufgaben, die als dringend zu betrachten sind, sollen abschließend nur kurz angezeigt werden. Die dritte betrifft die Thematik der sogenannten Attribute Gottes: Allvollkommenheit, Allwissen, Allmacht, Unendlichkeit, Unveränderlichkeit, Freiheit etc. Seit einigen Jahren befasst sich die analytische (sowohl philosophische als auch christliche) Theologie und Religionsphilosophie außerordentlich intensiv mit diesen Themen, sogar mit größerer Intensität als dies im Mittelalter und in der Spätscholastik der Fall war. Aber diese Diskussionen basieren auf Annahmen, die hochproblematisch sind, und zwar besonders aus dem Grund, weil Gott dabei als eine Art anthropomorphistisch vorgestelltes »Super-Subjekt« verstanden wird. Diese Thematik, mehr als andere schon erwähnte Thematiken, bedarf einer gründlichen und radikalen Korrektur. Schließlich bezieht sich die vierte Aufgabe auf die große Thematik, die mit dem Begriff der »Offenbarung Gottes« angezeigt ist. Darüber wurde besonders im 20. Jahrhundert und in der Gegenwart unter Bezeichnungen wie »christliche Philosophie«, »Verhältnis von Philoso208 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
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phie und Theologie«, »Offenbarungsgott« u. ä. außerordentlich viel geschrieben. Aber nach wie vor besteht keine grundsätzliche Klarheit über diese Thematik. Darüber hat das Buch Sein und Gott die Grundkoordinaten einer völlig neuen Konzeption erarbeitet. Diese Konzeption muss aber näher erläutert, vertieft und möglichst detailliert dargestellt werden. ET 4/23 – Dieser erste Austausch war in mehrfacher Hinsicht fruchtbar, reich und voller Überraschungen. Als wir uns anschicken, den Verlauf unseres Austauschs vorübergehend abzubrechen, habe ich den Eindruck, dass ich gewissermaßen der »Japaner« gewesen bin, während Sie die Rolle Heideggers gespielt haben. 66 Mit Ihnen haben wir ein wahrhaft philosophisches Ereignis erlebt, dessen ganze Bedeutung für die gegenwärtige und die zukünftige Philosophie ich meinerseits glaube gut ermessen zu können.
E. Tourpe spielt auf einen Text Heideggers an, der unter dem Titel »Aus einem Gespräch von der Sprache – Zwischen einem Japaner und einem Fragenden« in: M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache (Pfullingen: Verlag Günther Neske, 1959, 83–155) erschienen ist. In diesem Gespräch bezeichnet Heidegger sich selbst als »einen Fragenden«. Es handelt sich um ein Gespräch, bei dem allerdings meistens Heidegger auf Fragen des Japaners antwortet.
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Schriften von Lorenz B. Puntel (Auswahl)
I.
Bücher
1.
Analogie und Geschichtlichkeit. Philosophiegeschichtlich-kritischer Versuch über das Grundproblem der Metaphysik. Freiburg: Herder Verlag, 1969. 2. Darstellung, Methode und Struktur. Untersuchungen zur Einheit der systematischen Philosophie G. W. F. Hegels. Bonn: Bouvier Verlag, 1973 (zweite unveränderte Aufl. 1981) 3. Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie. Eine kritisch-systematische Darstellung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1978 (3., um einen ausführlichen Nachtrag erweiterte Auflage, 1993) [Sonderausgabe 2005] 4. (Herausgeber, Einleitung) Der Wahrheitsbegriff. Neue Erklärungsversuche. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1987 5. Grundlagen einer Theorie der Wahrheit. Berlin/New York: de Gruyter, 1990 6. Struktur und Sein. Ein Theorierahmen für eine systematische Philosophie. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag, 2006 7. Auf der Suche nach dem Gegenstand und dem Theoriestatus der Philosophie. Philosophiegeschichtlich-kritische Studien. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag, 2007 8. Structure and Being. A Theoretical Framework for a Systematic Philosophy. University Park, Philadelphia, USA: Penn State University Press, 2008 (Englische Übersetzung von 6.) 9. Estrutura e Ser. Um quadro referencial teórico para uma filosofia sistemática. S. Leopoldo, Brasil: Editora Unisinos, 2008 (Portugiesische Übersetzung von 6.) 10. Sein und Gott: Ein systematischer Ansatz in Auseinandersetzung mit M. Heidegger, É. Lévinas und J.-L. Marion. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag, 2010 211 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
Schriften von Lorenz B. Puntel
11. Em busca do objeto e do estatuto teórico da filosofia. Estudos críticos na perspectiva histórico-filosófica. S. Leopoldo, Brasil: Editora Unisinos, 2010 (Portugiesische Übersetzung von 7.) 12. Ser e Deus: um enfoque sistemático em confrontação com M. Heidegger, É. Lévinas e J.-L. Marion. S. Leopoldo, Brasil: Editora Unisinos, 2010 (Portugiesische Übersetzung von 10.) 13. Being and God. A Systematic Approach in Confrontation with Martin Heidegger, Emmanuel Levinas, and Jean-Luc Marion. Evanston, Illinois: Northwestern University Press, 2011. (Englische Übersetzung von 10.) 14. Estructura y Ser. Un marco teórico para una filosofía sistemática. Buenos Aires: Editorial Prometeo, 2013 (Spanische Übersetzung von 6.) 15. Ser y Dios – un enfoque sistemático en confrontación con M. Heidegger, É. Lévinas y J.-L. Marion. Buenos Aires: Editorial Prometeo, 2014 (Spanische Übersetzung von 10.)
II.
Aufsätze (in Fachzeitschriften und Sammelbänden)
16. »Sinn und Aktualität von Hegels ›Wissenschaft der Logik‹«. Theologie und Philosophie 47 (1972) 481–507 17. »Hegel heute. Zur ›Phänomenologie des Geistes‹«. Philosophisches Jahrbuch 80 (1973) 133–160 18. »Die Seinsmetaphysik Thomas von Aquins und die dialektischspekulative Logik Hegels. Prolegomena zu einer angemessenen Problemstellung«. Theologie und Philosophie 49 (1974) 343–374 19. »Hegel heute. Zur ›Wissenschaft der Logik‹ (I)«. Philosophisches Jahrbuch 82 (1975) 132–162 20. »Idee und Problematik einer formalen Semantik. Zu E. Tugendhats Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie.« Zeitschrift für philosophische Forschung 31 (1977) 413–427 21. »Hegel Wissenschaft der Logik – eine systematische Semantik?«. In: D. Henrich (Hrsg.), Ist systematische Philosophie möglich? Stuttgarter Hegel-Kongress 1975. Bonn: Bouvier Verlag, 1977, 611–621 22. »Transzendentalität und Logik. Prolegomena zur Reformulierung eines ungelösten Problems«. Neue Hefte für Philosophie, Heft 14 (1978): Zur Zukunft der Transzendentalphilosophie, 76–114 212 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
Schriften von Lorenz B. Puntel
23. »Hegel heute. Zur Wissenschaft der Logik« (II). Philosophisches Jahrbuch 85 (1978) 127–143 24. »Qu’est-ce qui est logique dans la Science de la Logique de Hegel?« Laval théologique et philosophique 37 (1981) 339–352 25. »Transzendentaler und absoluter Idealismus.« In: D. Henrich (Hrsg.), Kant oder Hegel? Über Formen der Begründung in der Philosophie. Stuttgart: Klett-Cotta, 1983, 198–229 26. »Materialismus und Metaphysik: Begriffliche Klärungen, Sachprobleme, Aporien.« In: D. Henrich (Hrsg.), Metaphysik nach Kant? Stuttgart: Klett-Cotta, 1988, 632–658 27. »Das Verhältnis von Philosophie und Theologie. Versuch einer grundsätzlichen Klärung.« In: J. Rohls/G. Wenz (Hrsg),Vernunft des Glaubens. Festschrift zum 60. Geburtstag von W. Pannenberg. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1988, 11–41 28. »The History of Philosophy in Contemporary Philosophy: The View from Germany.« Topoi 10 (1991) 147–153 29. »The Context Principle, Universals and Primary States of Affairs«. American Philosophical Quarterly 30 (1993) 123–135 30. »Zur Situation der deutschen Philosophie der Gegenwart. Eine kritische Betrachtung«. Information Philosophie, 1994, Februar, 20– 30 31. »Der Wahrheitsbegriff in Philosophie und Theologie«. Zeitschrift für Theologie und Kirche, Beiheft 9, 1995, 16–45 32. »Läßt sich der Begriff der Dialektik klären? – Can the Concept of Dialectics Be Made Clear?« Journal for General Philosophy of Science 27 (1996) 131–165 33. »Uma versão forte do princípio do contexto (Frege)«. In: Finitude e Transcendencia. Festschrift em Homenagem a Ernildo J. Stein. Hrsg. von Luis A. De Boni, Petropolis, Brasilien: Vozes, 1996, 371–403 34. »Das Verhältnis von systematischer Philosophie und Philosophiegeschichte«. Logos, Neue Folge 3 (1996) 234–269 35. »Metaphysikkritik bei Carnap und Heidegger: Analyse, Vergleich, Kritik«. Logos, Neue Folge 4 (1997) 294–332 36. »Dialektik und Formalisierung«. Journal for General Philosophy of Science – Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 28 (1997) 367–383 37. »Problemas y tareas de una teoria explicativo-definicional de la verdad, in: Teorias de la verdad en el siglo XX«. Hrsg. von J. A. 213 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
Schriften von Lorenz B. Puntel
38.
39.
40. 41.
42. 43. 44.
45. 46.
47.
48.
Nicolás und M. J. Frápolli. Madrid: Tecnos, 1997, 509–526 [Übersetzung des Beitrags im Band I 3] »On the Logical Positivists Theory of Truth: The Fundamental Problem and a New Perspective«. Journal for General Philosophy of Science B Zeitschrift für allgemeine Wissenschafstheorie 30 (1999) 101–130 »The Rationality of Theistic Belief and the Concept of Truth«. In: The Rationality of Theism. Hrsg. von G. Brüntrup and R. Tacelli. Dordrecht: Kluwer Academic Publishers, 1999, 39–60 »Truth, Sentential Non-compositionality, and Ontology«. Synthese 126 (2001) 221–259 »Über das komplexe Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte«. In: Kant verstehen. Understanding Kant. Hrsg. von D. Schönecker und Th. Zwenger. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, 132–158 »La teologia cristiana ante la filosofia contemporanea«. Stromata (Buenos Aires) LVII (2001) 119–151 »Truth: A Prolegomenon to a General Theory«. In: What is Truth? Hrsg. von R. Schantz. Berlin-New York: de Gruyter 2002, 263–82 »The Concept of Ontological Category: a New Approach«. In: The Blackwell Guide to Metaphysics. Hrsg. von R. Gale. Oxford: Blackwell 2002, 110–130 »Der Wahrheitsbegriff. Ansatz zu einer semantisch-ontologischen Theorie«. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002) 871–891 »Wahrheit als semantisch-ontologischer Grundbegriff«. In: Wahrheit in Perspektiven. Probleme einer offenen Konstellation. Hrsg. von I. U. Dalferth und Ph. Stoellger. Tübingen: Mohr Siebeck, 2004, 69–102 »Der Wahrheitsbegriff in der Ethik: Versuch einer Klärung«. In: Abwägende Vernunft. Praktische Rationalität in historischer, systematischer und religionsphilosophischer Perspektive. Hrsg. von F.-J. Bormann und Chr. Schröer. Berlin/New York: de Gruyter, 2004, 299–328 »Hegels Wahrheitskonzeption. Kritische Rekonstruktion und eine analytische Alternative«. Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus – International Yearbook of German Idealism. Bd. 3: Deutscher Idealismus und die analytische Philosophie der Gegenwart. 2005, 208–242
214 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
Schriften von Lorenz B. Puntel
49. »The Phenomenology of Spirit and the Unity of Hegel’s Philosophy: a Systematic Reappraisal«, in: Edmundo B. Pires (Hrsg.), Still Reading Hegel. 200 Years after the Phenomneology of Spirit. Coimbra, Portugal: Imprensa da Universidade de Coimbra, 2009, S. 171–197. 50. »A Fenomenologia do Espírito de Hegel e a unidade de sua filosofia: uma reavaliação sistemática«. SÍNTESE (Belo Horizonte, Brasil), vol. 36, 2009, 219–254 51. »C. Cirne-Lima e sua rejeição do ›Deus de católicos e protestantes‹ e afirmação do ›Deus imanente dos místicos‹ – um exame crítico das suas críticas e interpretações decorrentes do seu sistema neoplatônico-neohegeliano«. SÍNTESE (Belo Horizonte, Brasil), vol. 36, 2009, 219–254 52. »Metaphysics – 5 Questions«, in: A. Steglich-Petersen, Metaphysics – 5 Questions. Automatic Press/ VIP 2010, 91–102 53. »Metaphysics: a Traditional Mainstay of Philosophy in Need of Radical Rethinking«. The Review of Metaphysics, 65 (December 2011), 299–319 54. »Observações críticas sobre uma resenha de Guido Imaguire da obra: Estrutura e Ser, um quadro referencial teórico para uma filosofia sistemática«. SÍNTESE (Belo Horizonte, Brasil), vol. 40, 2013, 43–72 55. »O pensamento pós-metafísico de Habermas: uma crítica«. SÍNTESE (Belo Horizonte, Brasil), vol. 40, 2013, 173–223.
215 https://doi.org/10.5771/9783495860472 .
Personen- und Sachverzeichnis
Abbreviationen 139 actus essendi 56, 135, 145, 163 f., 166, 187 ff. ἀλήϑεια 182 Analytische(n) Philosophie 15, 17–22, 28, 50, 67, 79, 89, 93 f., 104 ff., 108, 119, 134–137, 139 f., 158 f., 185, 192, 205 f. –, expandierende 19 –, Fragmentarismus der 20 –, gegenwärtige 19 –, klassische 19 –, Mainstream der 19 f., 25, 38, 79, 105, 134, 137, 139 f. –, Sonderformen der 19 Andrés, A. 165 anima quodammodo omnia 149, 197 Anschauung 63, 80 Apostel Paulus 207 Aristoteles 67, 87 f., 94, 96, 98, 111, 134, 144, 149, 163, 183, 186 Avicenna 150 Badiou, A. 15 f. Beck, H. 165 f. Benhabib, S. 133 Benvéniste, E. 98 Bewährung 65 Bewusstsein 34, 54, 56, 67, 117 Bieler, M. 165 Brito, E. 165 bonum 164, 183 Brüntrup, G. 214 Bündeltheorie(n) 138
Cabada Castro, M. 170 Carnap, R. 48, 114, 213 Chapelle, A. 170 characteristica universalis 114 conceptus completus 111, 138 conceptus entis 186 Datum/Daten 30 ff., 36 f., 42 f., 47, 64, 75, 80 f., 107–111, 113, 133 f., 141 ff., 155 f., 159, 178 –, phänomenologisches 108 ff. –, empirisches 110 –, logisches 110 –, mentales 110 –, physikalisches 110 De Boni, L. A. 213 Dekonstruktion 16 Denkbestimmungen 168 Derrida, J. 50, 72–75 Descartes, R. 22, 61, 67, 99 Deutscher Idealismus 19, 117, 214 Diels, H. 182 Diskurs 11, 41, 49 f., 73 f., –, theoretischer 38, 50 f., 91, Disquotationstheorie der Wahrheit 121, 123 f. Dummett, M. 100 Eigenschaften 138 εἶναι 185 Ens 182, 187 – commune 188 – und esse 145, 163, 166 Entität 29, 94, 96 f., 102, 104 ff., 108 ff., 113, 130 f.
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Personen- und Sachverzeichnis Ereignis 36, 38 ff., 64, 73, 92, 115, 165, 173–176, 179, 190 f. – als Leitwort von Heideggers Denken 173 f., 190, 200 Erfahrung 28, 43, 62, 143 Erkenntnis/Wissen 30, 79 f., 83, 85 f. –, Gettiers Definition von 84 –, neue Definition von 82 Erkenntnistheorie 80, 83 esse 135, 144 f., 150, 163 ff., 186–189 – als actus essendi 135, 145, 163 f., 166, 189 – commune 188 f. – per se subsistens 135, 164, 189, 208 – plenum 143, 200 – und ens 145, 163, 166 – und essentia 163 ff., 190 –, Originalität des thomistischen 135, 163 Existenz 188, 196 Existenzialismus 16 Explikation 48, 76, 147, 162, 168, 174, 176 ff., 180, 182 f., 192, 196, 200 Fabro, C. 135, 165 Frápoli, M. J. 214 Frege, G. 18, 95, 100, 104, 203 freies absolutnotwendiges Sein 198 French philosophy 14 ff. Fundamentalontologie 55 Fünf Wege (quinque viae) 61, 195 Gabe 54, 175 Gale, R. 214 Gegebenheit 17, 54, 56 f. – als donation/Schenkung (J.-L. Marion) 17, 30, 54, 57, 109 –, seiende 56 Gerl-Falkovitz, H.-B. 57 Gesamtdatum 205 Gesamtsystematik 45, 47, 143 Gettier, E. 84 ff. Gewissheit 61 Gilson, E. 165, 188 Globalsystematik 45 f.
Glock, H.-J. 18 f. Gott(es) 11, 13, 17, 35, 41, 51, 53, 56 f., 88, 135, 146, 189, 195, 199–203, 206 f., 209, 211 – als anthropomorphistisch vorgestelltes Super-Subjekt 208 – als das erste, höchste Seiende 135, 175, 208 – als das voll explizierte Sein selbst (esse plenum) 143, 164, 200, 208 – als Ereignis 208 – als esse per se subsistens (Thomas von Aquin) 135, 164, 189, 208 – als nicht-Seiendes 143, 208 – als religiöses Phänomen 203 – als Thema der Philosophie 200 f., 202 –, Attribute 208 –, das Wort 200, 202 f. –, Existenz 195 f. –, Sein und 166 f., 200 Gottesfrage 160, 195, 201 ff., 207 Grund 7, 21, 44 f., 58, 61, 63, 71, 81, 98, 188 Gute, das 184 Hegel, G. W. F. 13, 15 ff., 23 ff., 27 f., 33 ff., 37, 95 f., 117, 145, 163, 167– 170, 179, 182, 203, 212 f., 215 Heidegger, M. 13, 15 ff., 21, 33, 35, 50 ff., 54–57, 73, 113 ff., 117 f., 145– 148, 152, 159, 161, 163, 170–177, 179, 181 f., 190, 192, 200 f., 203, 206, 209, 211 ff. Henrich, D. 212 f. Hermeneutik 16, 50 Husserl, E. 15 ff., 54–57, 62 f., 147, 159, 176 Ich-außerhalb-des-Seins (›Je‹-horsd’être) nach J.-L. Marion 57 Identität und Differenz 161 Idolatrie des Seins 57 Intelligibilität 36, 40, 52, 58, 80 f., 87, 96, 99, 102, 111, 134, 139, 182 f., 197
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Personen- und Sachverzeichnis intentionale Koextensivität des Geistes mit dem Sein als solchem und im Ganzen 149 f., 197 Intentionalität 54 Intuition, siehe Anschauung Kant, I. 17, 41, 61 f., 67, 80 f., 99 f., 145, 213 f. Kategorien 80, 168 Kausalität 96, 199 Kausalitätsprinzip 61 Keller, A. 160 Kohärenz 22, 27, 40, 58, 81, 96 f., 99, 102, 111, 134, 167, 197 Kommunikationssprache 127 Kompositionalitätsprinzip 93, 101 f., 137 Konfiguration 104, 109–112, 125, 156 Konstituierendes 55, 146, 159 Konstituiertes 55, 146, 159 Konstitution 56 Kontextprinzip(s) 100–103, 137 –, schwache Version des 102 –, starke Version des 102 f. Kontingenz 162, 191 ff. Konvention 120–123 Korrespondenzrelation 131 –, Grenzfall der 132 Korrespondenztheorie der Wahrheit 120, 132 –, Grundidee der 132 Krause, K. C. F. 207 Leibniz, G. W. 67, 100 f., 114, 206 Léonard, A. 165 Lévi-Strauss, C. 72 Lévinas, E. 13–14, 18, 211–212 linguistic turn 24, 41, 89, 118 Logik 24, 33 ff., 42, 48, 75, 88 ff., 92, 95 f., 105 f., 108 f., 116, 129, 145, 167, 205, 212 f. –, formale 18, 21, 66, 76, 89–92, 132 –, mathematische 67 –, moderne modale 192
Marion, J.-L. 13 f., 17 f., 30, 36, 53 f., 56 ff., 109, 211 f. Maritain, J. 87 Marx, K. 50 Mathematik 66, 69, 87, 89 Menschlicher Geist intentional koextensiv mit dem Sein im Ganzen 197 metaphysica generalis 20, 135 metaphysica specialis 20, 135 Metaphysik 13, 19 f., 61, 73 ff., 160, 173, 175, 177, 188 ff., 206, 211, 213 – als Theorie des Seienden als Seienden 21, 145, 163 – nach Derrida 74 –, allgemeine 136 –, analytische 108, 134, 137, 144 –, christlich orientierte 145, 200 –, Essentialisierung oder Logisierung der 164 –, klassische 15, 17 –, onto-theo-logische Verfassung der 201 –, primordiale oder ursprüngliche 21 f., 136, 144 –, spezielle 136 –, traditionelle 87, 111 –, überlieferter Begriff der 175 Metasystematik 45, 47 Methode 11, 24, 34, 46, 58–67, 79, 81– 85 – more geometrico 67 –, analytische 15, 18 f., 21 f., 59, 64, 95, 107 f., 117, 131, 134 f., 137, 139 f., 144, 158, 207 f., 214 –, axiomatische 67 –, dialektisch-spekulative 24 f., 27, 62 –, phänomenologische 62 f. –, philosophische 59 f., 65 –, struktural-systematische 60, 62, 79 –, transzendentale 62 –, vierstufige 58, 65 Modalitäten 162, 191 f. Modell 67, 77 Moore, G. E. 18 Moulines, C. U. 68 Mulligan, K. 131
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Personen- und Sachverzeichnis Nef, F. 133, 140 Negation –, bestimmte 24 f. –, Negation der 168 Netzwerkmethode 46, 59 Nichts 24, 55, 146, 148, 168–172, 189, 207 –, absolutes (nihilum absolutum) 148, 169, 171, 180, 193 –, relatives (nihilum relativum) 169 f. Nicolás, J. A. 213 f. Nietzsche, F. 15 f., 73 Nominalismus 133 non-statement view of theories 68 Notwendigkeit 162 f., 174, 191 ff. Nussbaum, M. 133 Objekt als Substanz 94, 105 objektives Sein 154, 160 objektivierendes Denken 177 Objektontologie 105, 137 Onto-theo-logie 189, 207 Ontologie 20, 23, 40, 89, 92, 95 f., 105, 109, 111, 114, 131, 133, 136 f., 139, 141 – als Theorie des Seienden als Seienden 136 – der Substanz 96, 99, 103 – ohne Substanz 98 –, allgemeine 136 –, analytische 134, 137, 139, 144 –, neue 205 –, spezielle 136 –, struktural-systematische 137, 139, 205 Ontologie und Metaphysik –, traditionelle 105 Ontologie vs. Seinstheorie 195 ontologische Differenz 161, 190 Operator 117, 119 f., 123, 153 –, sprachpragmatischer 128 –, theoretischer 42, 49 f., 152–155 Originalität des esse bei Thomas 163 οὐσία/Ousia 185 – als Seiendheit 135, 185
Panentheismus 207 Pannenberg, W. 213 Parain, B. 10 Parmenides 182 Pascal, B. 150 f. Phänomen 62 ff., 68 Phänomenologie 27, 33, 50, 53, 55, 63, 159 –, transzendentale 55, 147, 159, 176 Philosophie –, analytische 95, 214 –, christliche 208 –, struktural-systematische 27, 29 f., 34, 40, 43 f., 46, 52, 79, 81 ff., 92, 102, 106, 111, 126, 134, 136, 138, 140 f., 152, 156, 159 f., 165, 177 f., 183, 192, 203 Philosophische Methode 60 ff., 64 Philosophische Sprache 20, 43, 51, 78, 89, 106, 113, 115, 127, 178 Philosophischer Theoriebegriff 70, 79 Platon 84, 103, 185 Pottier, B. 170 Prädikatenlogik erster Stufe 21, 96, 138, 205 Primproposition(en) 31, 102 ff., 106 f., 115, 124, 131, 140, 155, 102 ff., 106 f., 153 f. Primsatz (Primsätze) 31, 102 ff., 106 f., 115, 140, 153 ff., 178, 192 Primstruktur(en) 40, 107, 109–113, 140, 156 –, ontologische 109, 156 Primtatsache(n) 40, 103 f., 106 f., 109– 113, 115, 131 f., 140, 155 –, einfache 104, 155 –, komplexe 104, 107, 109 f. –, Konfiguration(en) von 104, 132, 156 Prinzip vom zureichenden Grund 61 Proposition(en) 89, 92, 94 f., 102, 104, 106, 117–120, 124 ff., 130 f. –, vollbestimmte/volldeterminierte 130 Proton Pseudos 17, 53, 58
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Personen- und Sachverzeichnis Przywara, E. 170 Puntel, L. B. 7, 9 ff., 13, 25, 57, 62, 117, 131, 168, 211–215 Quasi-Definition der strukturalsystematischen Philosophie 44 Quine, W. V. 90 ff., 119–123, 135 Quine-corners 122 Ravaisson, F. 22 Reduktion des menschlichen Geistes auf Physikalisches 158 Regulative Idee 27, 65 Religion(en) 40, 202 –, Pluralität der 144 Religionsphilosophie –, analytische 207 Repräsentation 118 Rohls, J. 213 Russell, B. 18, 90, 138 Satz(es)/Sätze – mit der Subjekt-Prädikat-Struktur 21, 93, 95, 101 f., 106, 111, 113 ff., 119, 137, 139 f., 152, 172, 178, 192, 205, 208 –, semantischer Wert des 93 –, theoretischer 30, 42, 50, 74 Saussure, F. 72 Schantz, R. 214 Schenkung (donation) 17, 30, 54, 57, 109 Schönecker, D. 214 Schönheit 184 Schöpfung 198 f., 203 – als ins-Sein-Setzung der kontingenten Seienden 200 Schulz, M. 165 Sein(s) 8, 13, 17, 21, 24, 26, 28, 30, 32– 35, 40, 43 f., 47, 49, 52 f., 55 f., 61, 67, 72, 76, 78, 90, 114 f., 121, 124, 130, 135 f., 143–150, 155 f., 159 f., 162, 164, 167, 170–176, 178–182, 184– 188, 190, 195, 200, 207, 211 – als absolutes singulare tantum 200
– als der absolut universale Zusammenhang 159 – als Ereignis 175 f., 190 – als Gabe 180 – als Nicht-Nichts 148 – als solches und im Ganzen 143, 147, 162, 193 – als Struktur aller Strukturen 183 – als umfassende-ursprüngliche Dimension 55 f. – im Ganzen 90, 179, 191 – selbst oder als solches 29, 40, 115, 143 f., 148 ff., 161 f., 169 f., 174, 176, 179 f., 184, 190, 200, 206 – und die Modalitäten 163, 191 ff. – und Existenz 135, 160–164, 188, 196 – und Gott 188, 196, 173, 185 ff., 190 f., 199, 207, 200–203 – und Nichts 170 – und Seiendes 161, – unterschieden von Existenz 147, 150, 152, 160, 196 – unterschieden von WELT. 143 –, absolutnotwendiges 195 –, absolutnotwendiges geistiges und freies 203 –, Idolatrie des 57 –, immanente Merkmale oder Strukturmo- mente des 162, 180–186 –, Intelligibilität des 162, 181 –, minimale Bedeutung von 147 f. –, notwendiges 193 –, objektives 31, 196 –, primordiales Sein 36, 41, 47, 154 f. –, Sinn von 145 f. –, universale Ausdrückbarkeit des 181 –, Wahrheit des 190 –, Zweidimensionalität des 162, 193 f. Seinsart 55 f., 146 Seinsbereiche 140, 143 Seinsdimension (siehe auch Sein) 56 f., 79, 150 f. , 154 f., 159, 161 f., 178 ff., 183, 192, 194, 198 – als absolut ursprüngliches unaufhebbares singulare tantum 178 f. – als geistiges freies Sein 198
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Personen- und Sachverzeichnis –, absolut universale und primordiale 154, 181 –, absolutnotwendige und kontingente 179, 194, 195, 203 –, gesamtsystematische Stellung der 149 –, Intelligibilität der 182 –, primordiale 180, 203 –, universale 151, 196, 200 –, universale Kohärenz der 182 –, Verhältnis zwischen der kontingenten und der absolutnotwendigen 197 –, Zweidimensionalität der 162 Seinsfrage 28 f., 64, 135 f., 144 ff., 148, 152, 155, 185 Seinsmetaphysik 186 ff., 212 seinstheoretisch vs. ontologisch 195 Seinstheorie 20 f., 23, 28 f., 40, 89, 136, 147, 149, 155, 161, 163, 167, 170, 176–179, 195 – als primordiale oder ursprüngliche Metaphysik 23, 136 – vs. Ontologie 163 Seinsvergessenheit 21, 135, 145, 186 Seinsverständnis 146, 152 Selbstbegründung 45, 48 Semantik 21, 24, 48, 88, 92 f., 100, 102, 212 – und Ontologie 92, 94 f., 103 –, formale 128, 212 –, kompositionale 93 f., 100 f. –, kontextuale 100 ff., 205 Seyn 33, 35, 145, 168 –, erfülltes 167, 535 Siewerth, G. 165, 167, 170 Signifikat 73 Simon, P. 131 Smith, B. 131 Sneed, J. 68 Spinoza, B. 67 Sprache 19 ff., 24, 31 f., 41, 43, 47–52, 54, 64, 68, 72–78, 80, 88, 92 f., 95, 100, 103, 105 f., 112, 114, 117 ff., 125–130, 171, 177 f., 181 – als absolut zentral für die Philosophie 92
– als semiotisches System 77 – ins Zentrum der Philosophie gerückt 124 – und linguistic turn 24, 41, 89, 118 – und Struktur 79 –, Determinationen der 126 –, formal gedeutete 69 –, formale 76 –, gebrauchte 78 –, kolloquiale 81, 89, 116 –, natürliche/normale 20, 43, 47, 52, 95, 99 f., 106, 137 f., 148, 192 –, philosophische 21, 41, 43, 50, 52, 89, 98, 102 f., 105, 114, 139 –, religiöse 196, 202 –, transparente ursprüngliche bzw. universale 52 –, wissenschaftliche 67 Sprachdetermination 128 ff. –, drei Ebenen der 128 –, lebensweltlich-kontextuale 128 f. –, semantische 128 –, sprachpragmatische 128 f. Sprachliches Urfaktum 125 Sprachlichkeit 22 Sprachrahmens (linguistic framework) 48 Steglich-Petersen, A. 13 Stegmüller, W. 68 Struktur(en) 11, 21, 28 ff., 34 f., 37, 40, 42 ff., 50, 71–76, 78 f., 82, 88, 107– 110, 112 f., 121, 156, 159, 183, 211 – nach Derrida 74 –, abstrakte 34, 113, 156 –, drei Arten von fundamentalen 89, 205 –, formale (logische/mathematische) 76, 89 f. –, mathematische 68 f., 89 f. –, ontologische 20, 36, 40, 76, 89, 103, 107 f., 110, 113, 155, 205 –, semantische 76, 89, 103, 107 Struktural-systematische Methode 60, 62, 79 Struktural-systematische(n) Philosophie 20, 36, 39, 47 f., 51 f., 58, 66 f.,
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Personen- und Sachverzeichnis 75–78, 88, 106, 110, 124, 140, 192 f., 196, 199 f., 202, 204 ff., 208 –, Innenstrukturiertheit der 46 –, Quasi-Definition der 44 Strukturaler Theoriebegriff 71 Strukturalismus 71 f., 75, 98 –, französischer 73, 75 Struktursystematik 45 f. Suarez, F. 134 Subjekt-Objekt-Beziehung 31, 34 f., 53 ff., 57, 63 –, Umkehrung der 54 Subjekt-Prädikat-Struktur von Sätzen 21, 93, 101 f., 106, 111, 113 ff., 119, 137, 139 f., 152, 172, 178, 192, 205, 208 Subjektivität/Ich 42, 51, 54 ff., 146, 159 –, transzendentale 55 Subjektivitätsdenkschema 54 Subjekt(s) 31 f., 34 f., 37, 41 ff., 54, 61 ff., 80 ff., 84, 86, 100, 117, 130 –, Depotenzierung des 41, 82 –, Seinscharakter des 54 –, Tod des 41 Substanz 37, 61, 88, 94–100, 108–112, 135, 137, 139 – und Akzidens 98 –, Umdefinition der 99 Substanzontologie 94, 96, 100, 102 f., 105, 112, 131, 137 System 22, 25 ff., 73, 133 f., 168 – der Philosophie 20, 23 –, axiomatisch aufgebautes 46 –, formales 67 Systematische Philosophie 19, 23, 27, 29 f., 34, 36, 38 f., 43–48, 58, 66, 71, 74 f., 78 ff., 87 f., 94, 102, 104, 107, 115 f., 119, 132, 134, 137, 139, 142 ff., 155 f., 159, 166, 177, 181 f., 192, 211 ff. Systematizität 183 Tacelli, R. 214 Tarski, A. 116, 118, 120–123, 128 Tatsache 42, 63, 92, 104 ff., 119
Theologie, –, analytische 207 –, philosophische 162 –, Verhältnis von Philosophie und 209 Theoretischer Operator 42, 49 f., 152– 155 Theoretischer Satz 83, 106, 152 Theoretizität 38, 56, 64, 180 f. Theoretizitätssystematik 45 f. Theorie(n) 28 ff., 43 f., 47 f., 52, 58, 64– 68, 78–81, 84 f., 96, 103, 111, 120 ff., 132, 191, 211, 214 –, Begriff der 66 f. –, logischer Begriff der 91 –, ontologische 87, 92, 195 –, philosophischer Begriff der 30, 66 –, semantischer Begriff der 67, 76 ff., 92, 107 –, semantischer Ansatz (semantic approach) von 67 –, Standard-Konzeption (received view) von 67 –, statement view/Aussagenkonzeption von 68 –, strukturalistische Konzeption von 68 –, Wahrheitsstatus von 83 Theorie des Seins als solchen 142, 147, 160, 162, 184 f. Theorie des Seins als solchen und im Ganzen 133, 142, 147, 203 f., 206 Theorie des Seins im Ganzen 162, 184, 191, 194 Theoriebegriff (siehe auch Theorie(n)) – der formalen Wissenschaften 70 ff., 89 f. –, philosophischer 69, 76 Theoriebildung –, philosophische 60, 65 f. Theoriennetz 65 Theorierahmen 28, 30, 39, 46–49, 52– 54, 58, 60–63, 66, 71, 88, 92, 96, 99, 116, 132, 139 f., 141 f., 144, 163, 166, 205 f., 211 –, Pluralität von 39, 48
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Personen- und Sachverzeichnis Thomas von Aquin 17, 21, 56, 61, 67, 88, 135, 144 f., 150, 160, 163, 165 f., 179, 186, 188 f., 199, 203, 208 Tiercelin, C. 140 Tourpe, E. 7–11, 165, 209 Transzendentale Subjektivität 80 Transzendentalienlehre 185 Transzendentalphilosophie 42, 212 Transzendenz 150 f., 171 f., 203, 208 Tropentheorie 138 Truthmaker 131 Ulrich, F. 165 Umdefinition des Begriffs der Substanz 111 Umfassende Dimension 27, 31, 33 f., 36, 47, 56 Universale Gutheit (bonitas) 184 Universale Strukturiertheit 183 Universale Sprache 52 Universalität 36 f., 43, 49 universe of discourse 29–33, 37, 43 f., 64, 76, 78, 142, 149, 151, 153 ff., 159, 181 Ursprache 49–52 Vergil 161 Vierstufige Methode 64 f. Vokabular –, pragmatisches 127 –, semantisches 129 –, semantisches 128 Volldetermination der Sätze/Propositionen 130 Wahrheit 49, 51, 58, 61, 65, 78, 82 f., 85 f., 96, 103, 106, 115, 117 f., 120– 125, 129 f., 132, 150, 173, 182, 211, 214 – als Struktur von Strukturen 132 – des Seins 173
– und Rechtfertigung 82 –, Definition der 130 –, eigentliche Idee der 122 –, Korrespondenztheorie der 120, 132 –, semantisch-ontologische oder struktural-systematische Theorie der 124, 126, 131 –, Theorie der 116, 123 f., 132 Wahrheit/wahr – als Attribut 118 – als Operator 118 – als Prädikat 118 Wahrheitsoperator 119, 122, 128 Wahrheitstheoretischer Deflationismus 120 Wahrheitstheorie 79, 116, 118 f., 121 ff., 125 f., 130, 132 –, deflationistische 120 –, semantisch-ontologische oder struktural-systematische 106, 119, 132, 205 –, substantialistische 120 Wahrheitsträger 118, 124 Welt 13, 31 ff., 40, 46 f., 49, 52, 55, 68, 76, 78, 90, 104, 106 f., 118, 130 f., 135, 143 f., 146, 154 ff., 158, 160, 172, 205 – als das Sein-der-Seienden 143 – und WELT. 158 ff. –, Bereiche der 158 –, vorprädikative 52 Weltgeschichte 40, 144 Weltsystematik 45 ff., 143 f. Wenz, G. 213 Williams, D. C. 138 Wissen/Erkenntnis, siehe Erkenntnis/ Wissen Wittgenstein, L. 42, 50, 93 Wolff, Chr. 134 Zeit 175 Zemb, M. 10 Zwenger, Th. 214
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