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German Pages [209] Year 2019
Klaus Viertbauer (Hg.)
Präreflexives Selbstbewusstsein im Diskurs
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495817384
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Klaus Viertbauer (Hg.) Präreflexives Selbstbewusstsein im Diskurs
ALBER PHILOSOPHIE
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Klaus Viertbauer (Hg.)
Präreflexives Selbstbewusstsein im Diskurs
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Klaus Viertbauer (ed.) Discourse on Pre-reflective Self-consciousness The issue of pre-reflective self-consciousness currently receives a considerable amount of attention. This is evident in the number of works published on this subject coming from a great variety of research directions. This volume makes a first step and takes the initiative to bring together the research results on the subject of pre-reflective self-consciousness in the form of a text collection. Researchers who have dealt extensively with the topic concentrate their thoughts in one contribution each. These contributions are divided into two sections: The works in the first section are from the field of classical-continental philosophy. The second section contains essays that are increasingly oriented towards the systematic discourses of analytical or practical philosophy. The introductory chapter by Manfred Frank brings the contributions into context and completes the volume.
The Editor: Klaus Viertbauer, b. 1985 in Salzburg; studied philosophy, Catholic theology and religious education at the Paris Lodron University Salzburg; in 2015 he completed his doctorate in philosophy; since 2016 research assistant at the Institute for Christian Philosophy of the University of Innsbruck.
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Klaus Viertbauer (Hg.) Präreflexives Selbstbewusstsein im Diskurs Dem Thema präreflexives Selbstbewusstsein kommt gegenwärtig eine erhöhte Aufmerksamkeit zu. Mehrere Arbeiten zu dieser Thematik aus teils völlig unterschiedlichen Stoßrichtungen dokumentieren diesen Trend mit Nachdruck. Dieser Band ergreift erstmals die Initiative und führt die Forschungsergebnisse zum Thema präreflexives Selbstbewusstsein in Form einer Textsammlung zusammen. Dabei bündeln Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich in ihrer Forschungsarbeit eingehend mit der Thematik auseinandergesetzt haben, ihre Überlegungen in je einem Beitrag. Die Anordnung dieser Beiträge erfolgt in zwei Sektionen: In einer ersten Sektion werden Arbeiten aus dem Bereich der klassisch-kontinentalen Philosophie gelistet. In einer zweiten Sektion finden sich Aufsätze, die sich verstärkt an den systematischen Diskursen der analytischen oder praktischen Philosophie orientieren. Eine knappe systematische Situierung in Form eines Einleitungskapitels von Manfred Frank rundet den Band ab.
Der Herausgeber: Klaus Viertbauer, geb. 1985 in Salzburg; Studium der Philosophie, Katholischen Theologie und Religionspädagogik an der Paris Lodron Universität Salzburg; 2015 Promotion in Philosophie; seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Christliche Philosophie der Universität Innsbruck.
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Die Drucklegung des vorliegenden Bandes wurde von der John Templeton Foundation (Projekt-Nr. 57397: Analytic Theology and the Nature of God: Integrating Insights from Science and Philosophy into Theology) ermöglicht.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48964-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81738-4
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Inhalt
Einleitung Präreflexives Selbstbewusstsein. Eine Alternative zu den Higherorder- und den Same-order-Theorien . . . . . . . . . . . . . . Manfred Frank, Tübingen
13
Präreflexives Selbstbewusst in kontinentalphilosophischen Entwürfen Vorbegriffliches Selbstbewusstsein bei Kant? . . . . . . . . . . Katja Crone, Dortmund Selbstbewusstsein ein Problem der Philosophie nach Kant. Zum Verhältnis von Reinhold – Hölderlin – Fichte . . . . . . . Jürgen Stolzenberg, Halle Hegel über präreflexives Selbstbewusstsein Stefan Lang, Tübingen
31
48
. . . . . . . . . .
73
Kierkegaards reflexives und präreflexives Selbst . . . . . . . . Klaus Viertbauer, Innsbruck
95
Präreflexives Selbstbewusstsein in der Analytischen Philosophie Was ist präreflexives Selbstbewusstsein? . . . . . . . . . . . . Daniel Wehinger, Innsbruck
119
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Inhalt
Präreflexives Selbstbewusstsein im Kontext von Kognitionswissenschaften: vom impliziten zum expliziten Selbst . . . . . . Kristina Musholt, Leipzig
140
TOPS: Eine neurowissenschaftlich basierte Theorie präreflexiven Selbstbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marc Borner, Berlin
158
Blindes Vertrauen in die Ich-Identität. Neuroethische Unterstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . Lukas Ohly, Frankfurt am Main
174
Autoren- und Herausgeberverzeichnis . . . . . . . . . . . . .
201
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Vorwort
Dem Thema »präreflexives Selbstbewusstsein« kommt gegenwärtig eine erhöhte Aufmerksamkeit zu. Mehrere Arbeiten zu dieser Thematik aus teils völlig unterschiedlichen Stoßrichtungen erscheinen und dokumentieren diesen Trend mit Nachdruck. Dieser Band ergreift erstmals die Initiative und legt zur besagten Thematik eine Textsammlung vor, in der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich in ihrer Forschung mit der Thematik auseinandergesetzt haben, ihre Thesen in einem Aufsatz bündeln und damit in einen breiteren Forschungsdiskurs einspeisen. Die Anordnung der Beiträge erfolgt in zwei Sektionen: In einer ersten Sektion werden Arbeiten aus dem Bereich der klassisch-kontinentalen Philosophie gelistet. In einer zweiten Sektion finden sich Arbeiten, die sich verstärkt an systematischen Diskursen der analytischen oder praktischen Philosophie orientieren. Eine knappe systematische Situierung in Form eines Einleitungskapitels von Manfred Frank rundet den Band ab. Der Dank des Herausgebers richtet sich an alle Autorinnen und Autoren, die sich bereitwillig auf das Projekt eingelassen und einen Text beigesteuert haben. Sodann ergeht der Dank an Lukas Trabert vom Karl Alber Verlag für die unkomplizierte Zusammenarbeit und hervorragende Betreuung. Ohne die finanzielle Unterstützung der John Templeton Foundation (Projekt-Nr. 57397: Analytic Theology and the Nature of God: Integrating Insights from Science and Philosophy into Theology) wäre die Realisierung dieses Projekts nicht oder zumindest nicht in dieser Form möglich gewesen. Salzburg, Pfingsten 2018
Klaus Viertbauer
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Einleitung
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Präreflexives Selbstbewusstsein. Eine Alternative zu den Higher-order- und den Same-order-Theorien* Manfred Frank, Tübingen
I. Die Philosophy of Mind ist schlecht beraten, sich nicht einiger ihrer klassischen Traditionen zu besinnen: des Deutschen Idealismus (Fichtes) und der Phänomenologie (Brentanos und Sartres). Damals waren einige Strukturprobleme von Selbstbewusstsein präziser bestimmt, ja ihrer Lösung näher als heute.
II. Das lässt sich besonders gut illustrieren an einer jungen Entwicklung, die von ihren Vertretern (Tomis Kapitan, Dan Zahavi, Terry Horgan, Uriah Kriegel, Charles Siewert, Ken Williford u. a.) »self-representationalism« genannt wird. Sie geht aus von zwei Prämissen: Die erste lautet, ›Repräsentation‹ sei der Basis-Begriff einer angemessenen Theorie des Bewusstseins (ihre »core condition«, sagt Kriegel 1). Die zweite Prämisse besagt, Selbstbewusstsein sei allgegenwärtig (»ubiquitous«) in allen mentalen Phänomenen, die wir bewusst nennen (Kapitan 2; Williford 3 2006). Anders gesagt: Jedem intentionalen Be* Die in diesem Beitrag vorgetragenen Überlegungen treiben mich seit Beginn meiner philosophischen Studien um. Ausführlichere Fassungen finden sich etwa in Manfred Frank, Ansichten der Subjektivität, Suhrkamp, Berlin 2012, wobei es zu inhaltlich größeren Überschneidungen mit Kapitel 7 kommt, sowie Manfred Frank, Präreflexives Selbstbewusstsein. Vier Vorlesungen, Reclam, Stuttgart 2015. 1 Uriah Kriegel, Subjective Consciousness. A Self-Representational Theory of Consciousness, OUP, Oxford 2009, 107. 2 Tomis Kapitan, Indexicality and Self-Awarness, in: Self-Representational Approaches to Consciousness, hg. von Uriah Kriegel und Kenneth Williford, MIT Press, Cambridge, MA 2006, 379–408;ders., »The Ubiquity of Self-Awarness«, in: Grazer Philosophische Studien 57 (1999) 17–43. 3 Kenneth Williford, The Self-Representational Structure of Consciousness, in: Self-
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Manfred Frank
wusstsein sei ein Bewusstsein seiner selbst eingebildet: und zwar stets, weil diese Bedingung konstitutiv, also notwendig ist für das Auftreten von Bewusstsein. Bewusstsein ist, wo immer es auftritt, sich selbst ›erschlossen‹ oder ›bekannt‹. Um es mit den Worten von Uriah Kriegel zu sagen: »Thus, whatever else a conscious state may represent, it always also represents itself, and it is in virtue of representing itself that it is a conscious state.« 4 Diese These – und nur das rechtfertigt meinen Rückgang in die Geschichte der Selbstbewusstseinstheorien –, die These nun hat augenfällige Ähnlichkeit mit Fichtes und Brentanos Überzeugungen, auch wenn jener eine egologische (Selbstbewusstsein ist Ich-Bewusstsein), dieser eine nicht-egologische Auffassung von Selbstbewusstsein vertrat (Selbstbewusstsein ist anonymes Bewusstsein vom Bewusstsein selbst, nicht von einem tragenden Ich oder Selbst: »no ownership« (so etwa Vertreter des Wiener Kreises), »consciousness without ›me-ishness‹« (so etwa Ned Block 5). Aber egal, ob wir ein Ich oder den anonymen Bewusstseinsstrom als Gegenstand von Selbstbewusstsein einsetzen, das Problem stellt sich für Egologen wie Nicht-Egologen in parallelen Termini. Es hat folgenden Aufriss: P1 Bewusstsein ist prinzipiell Bewusstsein von etwas. D. h., dass es dieses Etwas in eine (wie Husserl 6 sagt) ›gegenständliche Beziehung‹ zu sich bringt. P2 Das Etwas, wovon Bewusstsein besteht (sagen wir: der intentionale Gegenstand von Bewusstsein), ist typischerweise von diesem Bewusstsein selbst unterschieden. Es ist ein Fremdbewusstsein. P3 Jedes Bewusstsein verfügt aber außerdem über ein ihm eingebildetes Sich-selbst-Erscheinen. Anders: Ein mentales Erlebnis ist dann und nur dann bewusst, wenn dieses sein Bewusstsein zusätzlich von ihm (oder vom Subjekt) repräsentiert wird.
Representational Approaches to Consciousness, hg. von Uriah Kriegel und Kenneth Williford, MIT Press, Cambridge, MA 2006, 111–142. 4 Kriegel (2009) 13 f. 5 Ned Block, On a Confusion about a Function of Consciousness, in: The Nature of Consciousness, hg. von Ned Block, Owen Flanagan und Güven Güzeldere, MIT Press, Cambridge, MA 1997, 377–415. 6 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen [EA 1913], Niemeyer, Tübingen 1980, 46 ff. passim.
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Präreflexives Selbstbewusstsein
P4 Das Bewusstsein, durch das sich Bewusstsein (oder sein Ich) selbst kennt (P3), muss von dem gegenständlichen Bewusstsein, das in P1 und P2 vorliegt, unterschieden werden. Es heißt ›durchsichtig‹, ›ungegenständlich‹ ›nicht-setzend‹ oder ›präreflexiv‹. 7 An diesem Annahmenkatalog sind zweifellos die Prämissen 3 und 4 am strittigsten. Sie verlangen eine Aufklärung der Bedeutung von ›bewusst‹, die mit dem Sinn, der in P1 und P2 vorliegt, nicht zusammenfällt. Bewusstsein im Sinne von P1 und P2 ist seiner selbst nicht notwendig bewusst, wie es bei P3 und P4 der Fall ist. Dass dies nicht bemerkt wurde, hat zu einer Reihe von Äquivokationen geführt, von denen Fichte urteilte: »Diese Sophisterei lag bisher allen Systemen – selbst dem Kantischen – zugrunde.« 8 Nennen wir M die Klasse der mentalen Zustände, von denen wir sagten, dass sie nicht notwendig bewusst vorliegen müssen, und M* den Typ von Repräsentation, der M in eine bewusste Vorstellung überführt. Dann können wir sagen: Eine Repräsentationstheorie des Selbstbewusstseins besagt, dass ein mentaler Zustand einem Subjekt S bewusst dadurch wird, dass M von M* angemessen repräsentiert wird. Bewusstsein besteht in SelbstRepräsentation. Heute konkurrieren fünf Ansätze um die angemessene Erklärung dieser These. Die erste hält M* für einen von M (numerisch und/oder generisch) verschiedenen Akt (das tut die sog. Higher Order Monitoring Theory [HOMT]). Die zweite – um es gleich zu sagen: erfolgversprechendere – möchte M und M* nicht numerisch, allenfalls generisch auseinanderreißen. Man spricht von Same Order Monitoring Theory (SOMT). Auch sie unterscheidet Repräsentant (M*) und Repräsentat (M) und kann deren selbstbewusste Einerleiheit nicht aufzeigen. Eine dritte Position unterscheidet ein vor-reflektives (oder primäres) Bewusstsein von einem sekundären (oder reflektiven), hält aber die Selbstkenntnis des ersten für einen Fall von ›unaufmerksamer‹, ›marginaler‹ oder ›peripherer‹ Repräsentation, die durch Fokussierung ins Zentrum der ›Aufmerksamkeit‹ gerückt wer-
7 Jean Paul Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Gallimard, Paris 1980, 16 ff. und ders., »Conscience de soi et connaissance de soi« [EA 1948], in: Selbstbewusstseinstheorien von Fichte bis Sartre, hg. von Manfred Frank, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, 367–411, hier: 379 ff. 8 Johann Gottlieb Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo [EA 1798], in: Frank (1991), 9–13, hier: 11.
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Manfred Frank
de. Man spricht von einem shift-of-attention view. Eine vierte Position hält das Phänomen der Selbstrepräsentation für einen objektiv existierenden Zirkel von der Art nicht wohl-definierter Mengen. Sie scheint am de se-Constraint zu scheitern, der nicht nur verlangt, dass die Relate identisch sind, sondern sich als identisch auch kennen (dazu mehr im VIII. Abschnitt). Darum brauchen wir eine fünfte Auffassung, die die Bekanntschaft M*’s mit M wider den reflexivpronominalen Sprachgebrauch auf bare fugenlose – irreflexive – Identität (Einerleiheit) gründet. Im selben Zug empfiehlt es sich, den Repräsentations-Begriff als basalen Term einer Theorie des Selbstbewusstseins fallen zu lassen und durch den einer Kenntnis zu ersetzen, die sich nicht in zwei (tendenziell verschiedene) Relate zerlegen lässt. Es wäre ein Irrtum, Identität und Reflexivität als Grenzfälle von zweistelligen Relationen aufzufassen. Denn für ›normale‹ Relationen gilt, was Ulrich Pardey 9 die ›Verschiedenheits-Voraussetzung‹ nennt. Sie führt in die seit Frege bekannten Paradoxien der Identität/Reflexivität, die ›a = a‹ als einen Grenzfall von ›a = b‹ behandeln und reflexive Relationen (›sich kennen‹, ›sich lieben‹) für einen Spezialfall transitiver und asymmetrischer (›jemanden kennen‹, ›jemanden lieben‹). In ›Peter wirft Paul ins Wasser‹ ist vorausgesetzt, dass Peter nicht mit Paul identisch ist. Darum haben jüngere Ansätze Selbstbewusstsein für eine völlig irreflexive, irrelationale Entität erklärt. Diese Ansicht werde ich in einer Version verteidigen, die auf den – auf bloße Identität nicht reduziblen – de se-Aspekt der Selbstvertrautheit abhebt.
III. Die von Vertretern von HOMT nicht bemerkte Äquivokation beim Übergang von P1/P2 zu P3/P4 ist von Fichte und Brentano zuerst aufgedeckt und klar analysiert worden. Ihr Argument hat ungefähr folgenden Aufriss: Die Rede von einem ›unbewussten Bewusstsein‹ ist zwar nicht selbstwidersprüchlich (wie es der Begriff der ›nichtroten Röte‹ wäre), führt aber zu unauflösbaren Verwicklungen. An-
9 Vgl. Ulrich Pardey, Identität, Existenz und Reflexivität. Sprachanalytische Untersuchungen zur deskriptiven Metaphysik, Beltz, Weinheim, 1994, 5 und 30 ff., sowie Kap. 3.
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Präreflexives Selbstbewusstsein
ders: Jedes Bewusstsein (von etwas anderem) ist seiner selbst bewusst. 10 Dies wird ex negativo/indirekt so bewiesen: P5 Es gibt Bewusstseins-Bewusstsein (oder Selbstbewusstsein) und Bewusstsein ist immer, weil grundsätzlich, seiner bewusst. P6 Gäbe es ein unbewusstes Bewusstsein, so wäre Selbstbewusstsein nicht möglich. P6 wird so begründet: 1.
2.
Wäre Bewusstsein von Natur unbewusst, so bedürfte es zu seiner Bewusstmachung eines zweiten höherstufigen Bewusstseins. Dieses zweite höherstufige Bewusstsein wäre – wie alles (primäre) Bewusstsein – selbst von Natur unbewusst und bedürfte zur seiner Bewusstmachung eines dritten, noch höherstufigen Bewusstseins. Diese Konstruktion mündet in einen vitiösen infiniten Regress und wird immer ein selbst unbewusstes Bewusstsein als letztes Glied haben.
Brentano formuliert diese Konsequenz wie folgt: »Man könnte […] den Beweis versuchen, daß die Annahme, es sei jedes psychische Phänomen Objekt eines psychischen Phänomens, zu einer unendlichen Verwickelung der Seelenzustände führe, welche sowohl von vornherein unmöglich, als auch der Erfahrung entgegen ist.« 11
Und das sind Fichtes Worte: »Hier argumentiere ich nun abermals, wie vorher; und nachdem wir einmal nach diesem Gesetze fortzuschliessen angefangen haben, kannst du mir nirgends eine Stelle nachweisen, wo wir aufhören sollten; wir werden sonach ins unendliche fort für jedes Bewusstseyn ein neues Bewusstseyn/ bedürfen, dessen Objekt das erstere sey, und sonach nie dazu kommen, ein wirkliches Bewusstseyn annehmen zu können. – Du bist deiner, als des Bewussten, bewusst, lediglich inwiefern du dir deiner als des Bewusstseyenden bewusst bist; und dann ist das Bewusstseyende wieder das Bewusste, und du musst wieder des Bewusstseyenden dieses Bewusstseyns dir be-
10 Franz Brentano, Vom inneren Bewusstsein [1874], in: Frank (1991), 131–160, hier: 143. 11 Brentano (1874) 137.
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wusst werden, und so ins unendliche fort: und so magst du sehen, wie du einem wirklichen Bewusstseyn kommst.« 12
Das hieße aber, dass die Forderung, auf diesem Wege zum Selbstbewusstsein zu kommen, auf den Sankt-Nimmerleins-Tag aufgeschoben bliebe. Fichte fährt fort wie folgt: »Nun aber ist doch Bewusstseyn; mithin muss jene Behauptung falsch seyn. Sie ist falsch, heisst: ihr Gegentheil gilt; sonach folgender Satz gilt: Es giebt ein Bewusstseyn, in welchem das Subjektive und Objektive gar nicht zu trennen, sondern absolut Eins und ebendasselbe sind. Ein solches Bewusstseyn sonach wäre es, dessen wir bedürfen, um das Bewussstseyn überhaupt zu erklären.« 13 »Alles mögliche Bewusstseyn, als Objectives eines Subjects, setzt ein unmittelbares Bewusstseyn, in welchem Subjectives und Objectives schlechthin Eins seyen, voraus; ausserdem ist ein Bewusstsein schlechthin unbegreiflich.« 14
Gesagt wird hier: Im Selbstbewusstsein findet gar keine Relation von etwas zu etwas (anderem) mehr statt, sondern die begrifflich unterschiedenen Glieder sind numerisch einerlei. (Man kann natürlich Identität beckmesserisch eine Relation nennen – Logiker nennen sie die ›allerfeinste‹. Aber jedenfalls liegt hier nicht vor, was wir normalerweise eine Relation nennen: eine Beziehung zwischen verschiedenen Relaten. Darum spricht viel für die Deutung von strikter Identität als ›Irrelationalität‹.)
IV. (Zwischen-)Schluss: Das »Reflexionsmodell des Selbstbewusstseins« (Henrich) ist falsch. ›Es ist falsch‹ heißt: Eine andere – irreflexive – Theorie muss richtig sein. HOMT ist eine heute vertretene und sehr verbreitete Varietät dieser falschen Selbstbewusstseins-Theorie (David Rosenthal, Rocco Gennaro u. a.).
Johann Gottlieb Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre [EA 1797], in: Frank (1991), 14–25, hier: 18 f. 13 Fichte (1797) 19. – Hervorhebung vom Verf. 14 Fichte (1797) 20. – Hervorhebung vom Verf. 12
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Präreflexives Selbstbewusstsein
Sie ist gleich dreifach verfehlt: Erstens hält Rosenthal Selbstbewusstsein für begründet in Akten höherer Ordnung, die numerisch und zeitlich von den Akten erster Ordnung unterschieden sind, womit der strenge Identitäts-Constraint missachtet ist (die schlampige Rede von »one’s having a roughly contemporaneous thought« zeigt deutlich, dass Rosenthal 15 die Verschiedenheit der beiden mentalen Ereignisse nicht stört). Zweitens hält er Akte höherer Ordnung für Gedanken, wodurch der nicht-begriffliche und nicht-propositionale Charakter des inneren Bewusstseins (das eben deswegen in der Tradition auch ›innere Wahrnehmung‹ genannt wurde) verfehlt wird. 16 Und drittens führt das Übereinander-Stapeln (›piling up‹) von Bewusstseinen immer höherer Stufe auf ein unbewusstes Bewusstsein an der Spitze, so dass die Erklärung der Möglichkeit eines unmittelbar transparenten Bewusstseins auf den Sankt-Nimmerleins-Tag aufgeschoben bleibt: »It may seem slightly odd that each of these hierarchies of conscious mental states has a nonconscious thought at its top. But whatever air of paradox there seems to be here is dispelled by the common-sense truism that we cannot be conscious of everything at once.« 17
Brentano hatte diesen Fehler genau bezeichnet: »[D]ie Reihe wird entweder unendlich sein oder mit einer unbewußten Vorstellung abschließen.« 18 Das darf sie aber nicht, sofern Bewusstsein ungegenständlich und unmittelbar mit sich vertraut sein soll. Der höherstufige Akt kann den primären als sich nur erkennen, wenn der sich selbst vor der reflexiven Zuwendung schon durchsichtig war. In Husserls Worten: Was die Reflexion findet, präsentiert sich als ›schon dagewesen seiend‹. 19 Findet die Reflexion Bewusstsein, und nicht Unbewusstsein, so musste der gefundene Zustand bereits bewusst vorliegen, und die Reflexion stellt Bewusstsein gehirnwäscheartig nicht etwa her, sondern macht es nur explizit.
David Rosenthal, Two Concepts of Consciousness, in: The Nature of Mind, hg. von David Rosenthal, OUP, Oxdord 1991, 462–477, hier 465. 16 Rosenthal (1991) 465 f. 17 Rosenthal (1991) 466. 18 Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt. Erster Band [EA 1924], Meiner, Hamburg 1973, 153. 19 Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893–1917), Springer, 1966, Beilage XII, 130. 15
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Manfred Frank
V. Man kann einen Regress dieses (Fichte’schen) Typs einen extensiven nennen, weil er sich nach oben hin fortschreitend erweitert, und davon einen intensiven unterscheiden. Auch letzteren hat Fichte wenigstens geahnt; am klarsten und gnadenlosesten hat ihn sein unbotmäßiger Schüler Johann Friedrich Herbart 20 aufgewiesen: Wenn der Gedanke ›Ich‹ als Selbstrepräsentation beschrieben werden muss, dann muss eine hinreichende Beschreibung dieser Repräsentation auch die Eigenschaft enthalten, dass er sich selbst repräsentiert. Für diese Auffassung gibt Novalis eine hübsche Illustration: »Das erste Bezeichnende wird unvermerkt vor dem Spiegel der Reflexion sein eignes Bild gemahlt haben, und auch der Zug wird nicht vergessen seyn, daß das Bild in der Stellung gemahlt ist, daß es sich selbst mahlt.« 21
Setze ich die Eigenschaft der Selbstrepräsentation in die (Ausgangs-) Formel ein, so muss ich ›aRa‹ (a repräsentiert a) durch ›aR[aRa]‹ erweitern – wobei die eckige Klammer als Nominalisierungs-Operator dient – und habe dann das Problem, kein Ende dieser immer kleineren Babuschka-artigen Einschachtelungen angeben zu können. 22 Fichte drückte diese Erweiterung so aus, dass er sagte, die Formel ›Das Ich setzt sich schlechthin selbst‹ müsse erweitert werden durch die: »Das Ich setzt sich als sich setzend.« 23
VI. Schauen wir nun, wie Vertreter des Selbstrepräsentationalismus dies Problem diskutieren, so sehen wir, dass etwa Kenneth Williford 24 eine
Friedrich Heinrich Herbart, Darstellung des im Begriff des Ich enthaltenen Problemes, nebst den ersten Schritten zu dessen Auflösung [EA 1824], in: Frank (1991), 70–84. 21 Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Bd. II: Die philosophischen Schriften, Kohlhammer, Stuttgart 1965, 110, Z. 20–24. 22 Williford (2006) 115 ff. 23 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, De Gruyter, Berlin 1971, Bd. I, 201. – Vgl. Dieter Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, in: Subjekt und Metaphysik, hg. von Dieter Henrich und Hans Wagner, Klostermann, Frankfurt am Main 1967, 188–23. 24 Williford (2006) 126 ff. 20
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Präreflexives Selbstbewusstsein
solche Formulierung ungefährlich findet. Er glaubt, dass der Regress mit dem zweiten Glied zum Abschluss gebracht werden kann 25 und eine ontologische Struktur unserer Wirklichkeit darstellt. Ein (umgekehrter) Vergleich mit Entitäten der Mengenlehre soll das plausibilisieren. Schließlich gebe es realiter »nicht wohl-definierte Mengen (nonwellfounded sets)«, deren Annahme sich schon dem Verständnis selbstbezüglicher Aussagen als Modell empfohlen habe. 26 (Es existierten eben Mengen, die sich selbst als Element enthalten. Und wir können Mengen bilden, die alle Elemente der Ausgangsmenge, alle Elemente der Elemente, die Elemente der Elemente der Elemente enthält usw. 27 »Wir müssen«, sagt er, »den Bann, über der Zirkularität lockern und Regress-erzeugende Strukturen im Bereich des Überschaubaren halten.« 28 Zirkel (und Regresse) dürfen also sehr wohl im Phänomen, sie dürfen nur nicht in der Erklärung auftauchen. Willifords Konsequenz überzeugt noch aus einem anderen Grund nicht: ›An sich‹ existierende Zirkel können so wenig wie selbstreflexive Strukturen von Organismen das de-se-Problem von Selbstbewusstsein erklären. (Das wird Gegenstand von VIII. sein.)
VII. Hinsichtlich dieses Problems scheint SOMT in einer besseren Position. Ihre Vertreter halten nicht explizit, aber in der Sache Brentano die Treue, weil sie das weltgerichtete und das innere Bewusstsein nicht in zwei Relate zerreißen, sondern in der Einheit »ein und de[s]selben psychischen Akte[s]« vereinigt sehen. 29 Damit liefern sie eine echte Alternative zu HOMT: »[Higher-Order Thought theories] hold that the experience and the awareness of it are numerically distinct states. Our view, by contrast, is that the awareness is inherent, or built into, the experience. The experience and the awareness are the same token state, albeit falling under two distinct types. That is, we do not posit higher-order representation, but self-representa-
25 26 27 28 29
Williford (2006) 118 f. Williford (2006) 128. Williford (2006) 128. Williford (2006) 115. Brentano (1924) 179 und 181 f.
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Manfred Frank
tion. [… W]e insist that, through whatever processes of functional or informational integration, these distinct sub-personal representations give rise, at the personal level, to a single, unified, self-representing experience.« 30
SOMT tritt in drei Varietäten auf, die alle problematisch sind: 1a. Es handelt sich beim primären und beim sekundären Bewusstsein um zwei numerisch (oder typisch) verschiedene Akte, die nur ›ungefähr gleichzeitig‹ auftreten (von »specious present« ist gar die Rede). Auch die Metapher des ›begleitenden‹ Bewusstseins zeigt, dass das Problem der numerischen Differenz nicht wirklich durchschaut ist. Es stört schon das Verständnis von Identität, die nicht zwei Glieder, sondern nur eines aufweisen darf. 31 Erst recht stört es den unbekümmerten Umgang mit dem Begriff ›Reflexivität‹, die eine Art von »Irreflexivität« voraussetzt. 32.
In einer Rezension von Kriegels Buch setzt Joe Levine den Finger auf den wunden Punkt: »[How could there not gape a gap between the representing and the represented state?] So what Kriegel does to solve his problem is to compromise a bit with the two-states view.« 33 Statt die Repräsentationsleistungen durch wiederholtes Aufeinanderstapeln zu vervielfältigen, sollten wir von der Idee Abstand nehmen, Selbstbewusstsein sei überhaupt ein Fall von vergegenständlichender Repräsentation (Außerdem: Was ist das fundamentum in re für die Ausdifferenzierung in zwei Typen?) 1b. Der shift-of-attention view nimmt an, aufmerksames (= reflexives) Bewusstsein sei nichts anderes als das Fokussieren eines zunächst unscharfen Objekt-Bewusstseins. Der Blick auf die Welt ›schräg aus dem Augenwinkel‹ ist aber ebenso vergegenständlichend wie der aufmerksame. Selbstbewusstsein ist aber kein gegenständliches Bewusstsein. (Auch gibt es – nach Brentano und Sartre – Bewusstsein von Graden, aber keine Grade des Bewusstseins. Nach Brentano findet beim inneren Bewusstsein gar keine »Beobachtung« statt, weder unaufmerksame noch aufmerksame. Und schließlich:
Terence Horgan/Uriah Kriegel, Phenomenal Epistemology: What is Consciousness that We May It so Well?, in: Philosophical Issues 17 (2007) 123–144, hier: 132 f. 31 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico philosophicus [EA 1921], Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, Satz 5.53 ff.; Paredy (1994) 30/31 ff. und Kap. 3. 32 Vgl. Volker Beeh, Irreflexivität in Vasubandhus Abhidharma-Koo’s (unveröffentliches Typoskript). 33 Kriegel (2009), 1–10, hier 7 und 9. 30
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Präreflexives Selbstbewusstsein
Aufmerksamkeit darf nicht mit Bewusstsein identifiziert werden: »One can be aware of what on eis not attending to.« 34) 1c. Nach Kriegel sind M und M* strikt identisch, M* ist »konstitutiv« für M, beide gehören zu selben »logischen Ordnung«. Allerdings repräsentiert M* nur einen Teil von M (M �), weil sonst eine unendliche Menge eingeschachtelter Repräsentationen impliziert würde: Ein ›intensiver Regress‹ wäre die Folge. 35
Zwei Probleme: α: Wird vom inneren Bewusstsein nur ein Teil des Gesamtphänomens »angemessen« repräsentiert, dann kann dieser Teil nur der bewusste sein, und die Definition dreht sich im Zirkel. Dabei wollten wir doch gerade herausfinden, was einen – per se nicht bewussten – mentalen Zustand bewusst macht. 36 β: Wie kann ein Teil ein Ganzes bewusst machen, das diesen Teil (nämlich Bewusstsein) gerade als ein Stück seiner eigenen integralen Identität schon enthielt? (Das Problem verschwindet nicht, wenn ich zweierlei irgendwie ineinander ›verwobene‹ Sekundärrepräsentationen – M* und M � – einführe, so, dass M � ein Teil von M und M* die angemessene Repräsentation genau dieses Teils [M �] wäre; 37 denn wo bliebe nun die [Mit-]Repräsentation der ganzen zeitlich erstreckten Bewusstseinsphase?)
VIII. Dieser Lösungsversuch überzeugt also ebenfalls nicht. Vielleicht aber lässt sich SOMT in Fichtes Sinn zuspitzen, so, dass zwischen M und M* nicht nur eine ›sehr feine‹ (Identität), sondern gar keine Relation stattfindet Diese Position weist Williford 38 mir selbst und Dan Zahavi 39 zu: Ned Block, Mental Pain, in: Reflection and Replies. Essays on Tyler Burge, MIT Press, Cambridge, MA 2003, 7. 35 Uriah Kriegel, The Same-Order Monitoring Theory of Consciousness, in: Self-Representational Approaches to Consciousness, hg. von Uriah Kriegel und Kenneth Williford, MIT Press, Cambridge, MA 2006, 143–170, hier: 144 ff. 36 Kriegel (2006) 144 ff. 37 Kriegel (2006) 147 f. 38 Williford (2006) 111 f. 39 Dan Zahavi, Self-Awareness and Alterity. A Phenomenological Investigation, Northwestern University Press, Evaston 1999, 33. 34
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Manfred Frank
»[I]t is necessary to differentiate prereflective self-awareness, which is an immediate, implicit, irrelational, non-objectifying, non-conceptual, and nonpropositional self-acquaintance, from reflective self-awareness, which is an explicit, relational, mediated, conceptual, and objectifying thematization of consciousness.« 40
Williford nennt das zwar »unbestreitbar (indisputable)« und »unangreifbar (unassailable)« – nur die These der Irrelationalität hält er für »mysteriös«. 41 Sie mache aus Selbstbewusstsein etwas »Unanalysierbares«. Für sie spricht aber ganz entscheidend ein Phänomen, das alle bisher diskutierten Positionen nur ungenügend in den Blick brachten: Identität de re zwischen Repräsentat und Repräsentant ist eine epistemisch zu schwache Beziehung. Sie vernachlässigt den »de se-constraint«, der zwischen M und M* berücksichtigt werden muss. Vor über zweihundert Jahren hatte ihn Hölderlin auf den Punkt gebracht: »Wie ist […] Selbstbewußtseyn möglich? Dadurch daß ich mich mir selbst entgegenseze, mich von mir selbst trenne, aber ungeachtet dieser Trennung mich im entgegengesezten als dasselbe erkenne.« 42
Anders gesagt: M und M* müssen nicht nur de facto für dieselbe Sache (res) stehen, sondern für dieselbe Sache als dieselbe. Noch anders gesagt: Selbstbewusstsein hat vor allen anderen Identitäts-Relationen die Auszeichnung, dass diese Relation nicht nur bestehen, sondern als bestehend auch gekannt werden muss. Noch anders gesagt: Im Selbstbewusstsein tritt die Identität der Relate selbst notwendig in den Skopus des Bewusstseins, ein quantifying in ist ausgeschlossen. Die berühmteste Illustration des Problems verdanken wir HectorNeri Castañeda 43 und – in seiner Nachfolge – Roderick Chisholm 44. Beide Autoren wählen einen vermeintlich gleichen Sachverhalt und zeigen, dass die de re-Formulierung die Formulierung de se nicht impliziert. Der zugrundegelegte Sachverhalt (von mir abgewandelt) sei Zahavi (1999) 33. Williford (2006) 112 und 115. 42 Friedrich Hölderlin, Urtheil und Syen, in: in: Frank (1991), 26–27, hier: 27. (Hervorhebung vom Verf.) 43 Hector-Neri Castañeda, Er. Eine Studie zur Logik von Selbstbewußtsein, in: Analytische Theorien des Selbstbewußtseins, hg. von Manfred Frank, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994, 172–209. 44 Roderick Chisholm, The First Person. An Essay on Reference and Intentionality, The Harvester Press, Sussex 1981, 18–20. 40 41
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Präreflexives Selbstbewusstsein
dieser: Marie ist die jüngste Abiturientin von Schriesheim und hält diese nämliche Marie für die künftige Weinkönigin. Hier ist die Formulierung de re: a) Es gibt ein x so, dass x mit Marie (nämlich mit der jüngsten Abiturientin von Schriesheim) identisch ist, und x wird von x für die künftige Weinkönigin gehalten. Und hier ist die Formulierung de se: (b) Die jüngste Abiturientin von Schriesheim hält sich selbst für die künftige Weinkönigin (oder: glaubt, dass sie selbst die nächste Weinkönigin sein wird). Gehen wir die wechselseitigem Implikations- bzw. Exklusions-Verhältnisse durch: (b) impliziert (a) (also de se impliziert de re): Wenn jemand etwas über sich selbst glaubt, so glaubt er es von jemandem. (a) impliziert nicht (b) (also de re impliziert nicht de se): Wird x von x für die kommende Weinkönigin gehalten (und ist außerdem die jüngste Abiturientin von Schriesheim), so muss beides nicht Gegenstand ihres Selbst-Glaubens sein (x mag identisch sein mit der jüngsten Abiturientin, ohne dass sie das weiß; und sie mag x die Weinkönigin-Würde zuschreiben, ohne zu wissen, dass sie selbst x ist). Konsequenz: Rede de se lässt sich nicht auf Rede de re reduzieren. Oder: Selbstbewusstsein ist keine Form von gegenständlichem (repräsentationalem) Bewusstsein.
IX. Schauen wir auf den Weg zurück, den wir bis hierhin zurückgelegt haben, so haben wir neben Fichte und Brentano drei neuere Theorien inspiziert. Sie unterscheiden sich durch wachsende Aufmerksamkeit auf ein Problem, an dem sie gemeinsam tragen. Der Webfehler aller drei ist die Unaufmerksamkeit gegenüber den dissoziierenden Effekten der Beschreibung von Selbstbewusstsein als Relation und erst recht gegenüber dem de-se-Problem. Die higher-order-Theorie meint dem Regress zu entkommen, indem sie das höherstufige Repräsentationsbewusstsein unbewusst 25 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
Manfred Frank
hält. Damit gerät sie in einen wirklich vitiösen Regress, der das Explanandum nicht erklärt. Erst recht kann sie die Selbigkeit des Reflektierenden und des Reflektierten nicht erklären, sondern verteilt beide Glieder auf numerisch verschiedene Stellen. In einer ungleich besseren Position befindet sich die Same Order Monitoring Theory (SOMT). Ihr Webfehler: Sie spricht zwar von der numerischen Einheit beider Relate, verteilt sie aber an zwei Bewusstseins-Typen: einen zuviel! Im Grunde übernimmt sie das Repräsentationsmodell der Theorien höherer Ordnung und konzentriert den zweistufigen Prozess auf einen (relationalen) Zustand. Aus einer Relation mit zwei verschiedenen Zuständen (bzw. Zustands-Typen) wird eine zweistellige Relation mit rechts und links demselben Eintrag. Vor allem kann diese einstufige Theorie nur unterstellen, aber nicht erklären, dass und warum die Repräsentation ihr anderes Relat als sich selbst erfasst. SOMT scheitert also am de-se-constraint. Ähnlich müssten wir uns zu einem jüngeren Versuch stellen, die Reflexivität aus Logik und Ontologie zu verbannen. 45 Im logischsyntaktischen Gebrauch meint ›Reflexivität‹ die zweistellige und symmetrische Beziehung zwischen inhaltlich gleichen Relaten, die gewöhnlich Propositionen sind: aRa. Der Begriff lässt sich aber ohne Gefahr auf Gegenstände übertragen: x ist genau dann reflexiv, wenn es eine Beziehung (Relation) zu sich unterhält. In dem Falle gibt es Identität der Referenz und der Korreferenz. Nehmen wir an, die Relation zwischen a und a sei eine solche des Erkennens. Dann werden wir sagen, sie sei reflexiv relativ zu oder bei a. Generalisieren wir diesen Relationstyp, müssen wir sagen: (8x) (xRx). Z. B.: ›Alle natürlichen Gegenstände sind sich selbst farbgleich.‹ Nach dieser Sprachregelung ist die einzige ausschließlich oder rein reflexive Beziehung die Identität; für sie gilt: (8x) (x = y) – und sonst nichts. Die radikale Negation des universellen Reflexivitätssatzes für Gegenstände wäre der Satz: -9R [xRx] 46 oder (8x) -(xRx)). Volker Beeh zeigt, dass mehrere Sprachen – und auch das Deutsche – für Reflexivformulierungen einstellige Alternativen kennen (›ich schäme mich‹ → ›ich bin verlegen‹ ; ›a bleibt a‹ → ›a persistiert‹). Das Indische des buddhistischen Vasubandhu, des ›Weltfreunds‹ aus den 4./5. Jahrhundert, leugnet den Bestand eines âtman, einer ›Seele
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Beeh (2007). Williford (2006) 137, Anm. 20.
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Präreflexives Selbstbewusstsein
selbst‹, im Namen der Ablehnung der Reflexivität: ›nichts ist selbst‹. 47 Beeh kann auch zeigen, dass Vasubandhus Prinzipien der Irreflexivität »den Kern von Russells Paradox [nämlich: ›keine Menge enthält sich selbst‹] implizieren.« 48 Die beiden Prinzipien der Irreflexivität (›Keine Menge enthält sich selbst‹ und ›Das Universum u enthält alles‹) stehen im Widerspruch. Der Widerspruch wird gehoben, indem der Anspruch aufgegeben wird, u sei eine Menge. Anders: Wenn es (im Sinne der Buddhisten) ausschließlich irreflexive Dinge gibt, ist die Zusammenfassung aller dieser (irreflexiven) Dinge schon unmöglich. Ihre Gesamtheit ist nicht in sich selbst enthalten (weil irreflexiv) und daher außerhalb. Also war es nicht das Ganze. Der Weg zu Russell ist einen Schritt kürzer gemacht. Wir kommen zu dem Schluss: Selbstbewusstsein muss nicht nur als präreflexiv, sondern überhaupt als irrelational gedacht werden. Die Analogie zirkulärer Daten mit nicht-fundierten Mengen ist verführerisch, aber sie scheitert am de se-constraint. Ebenso trügerisch ist die Analogie zur Reduzierbarkeit der Reflexivität in der Logik. 49 Aus einer logischen Wahrheit folgt nicht, dass sie mir notwendig einsichtig ist, geschweige, dass sie die Struktur meiner präreflexiven Selbsthabe erklärt. Es mag sein, dass es in der objektiven Wirklichkeit Strukturen gibt, in denen Reflexivität hintergangen werden kann. Die Unhintergehbarkeit irrelationaler Bewusstseins-Strukturen ist aber viel anspruchsvoller. Ein Grund mehr, ohne Arroganz bei klassischen Theorievorschlägen zur Lösung des Rätsels Selbstbewusstsein in die Lehre zu gehen und der dürren Szene der Gegenwart einen philosophiegeschichtlichen Wärmestrom zuzuführen. Ich leugne zwar nicht, dass die begrifflichen Mittel der heutigen Bewusstseinsphilosophie ungleich feiner und differenzierter sind. Aber die Mittel allein erzeugen nicht schon fruchtbare Ideen, die Analyse ruht auf einer vorgängigen Intuition, die sie dann analysiert, und es ist frustrierend, wenn man das Besteck ausgeben sieht, ohne dass das Essen folgte. So wird man den Hunger nicht los.
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Beeh (2007) 10 und 17. Beeh (2007) 17 ff. Beeh (2007).
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Präreflexives Selbstbewusst in kontinentalphilosophischen Entwürfen
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Vorbegriffliches Selbstbewusstsein bei Kant?* Katja Crone, Dortmund
Die Frage, inwiefern der zentrale Begriff der Apperzeption, das so genannte transzendentale oder ursprüngliche Selbstbewusstsein, in Kants Kritik der reinen Vernunft eine Form konkreten Bewusstseins jenseits rein formaler und funktionaler Bestimmungen impliziert, ist in der Kant-Forschung lange Zeit nicht gestellt worden. Als weitestgehend unstrittig gilt, dass diejenige Instanz, die objektive Erkenntnis hervorbringt und die Kant mit dem Begriff der Apperzeption bezeichnet, allein transzendental-notwendige Bedeutung hat und dem konkreten Bewusstsein gänzlich verschlossen ist. Diese nachhaltige Deutung lässt sich vor allem aus programmatischen Gründen erklären. Eine wichtige Rolle spielt dabei die inhaltliche Pointe des Paralogismus-Kapitels in der Kritik der reinen Vernunft. Darin führt Kant den Nachweis, dass die Annahme einer cartesianischen Seelensubstanz, die dem Erkennen zugänglich wäre, nicht begründet werden kann. Vor diesem Hintergrund muss es als sachlich irreführend erscheinen, das Apperzeptionsbewusstsein, das nach Kant dem strukturierten Denken zugrunde liegt, als eine Form phänomenalen Bewusstseins deuten zu wollen, die aus der Perspektive der ersten Person irgendwie einsichtig gemacht werden könnte. Bereits der Versuch, so könnte man argumentieren, in der Kritik der reinen Vernunft ein phänomenales Selbstbewusstsein ausfindig zu machen, steht quer zum gesamten Projekt der Erkenntniskritik. Geht es Kant darin doch um die Begründung propositionalen Wissens im Rückgriff auf erfahrungsunabhängige Bedingungen, die berechtigterweise auf empirisches Anschauungsmaterial angewendet werden können. Und ein solcher Ansatz macht eine strikte Trennung zwischen apriorischen Strukturen einerseits und empirischen sowie psychologischen Aspekten des gegenständlichen Bewusstseins andererseits theoretisch notwendig, * Erstveröffentlichung in: Kant in der Gegenwart, hg. von Jürgen Stolzenberg, De Gruyter, Berlin/New York 2007, 149–165.
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was sich in der Kritik der reinen Vernunft bekanntlich in der pointierten terminologischen Gegenüberstellung von Attributen wie »empirisch« und »rein/transzendental« oder »apriorisch« und »aposteriorisch« usw. widerspiegelt. 1 Ein »phänomenales Bewusstsein«, das weder begrifflich strukturierte Erfahrung noch rein apriorische Form ist, lässt sich in die Kantischen erkenntnistheoretischen Grundstrukturen offensichtlich nicht sinnvoll einordnen. Akzeptiert man die theoretische Notwendigkeit der Kantischen dualistischen Prinzipienstruktur, scheint es in der Tat logisch fragwürdig, das Apperzeptionsbewusstsein, das erklärtermaßen seinem Wesen nach absolut einfach und Bedingung allen konkreten Bewusstseins ist, neben einer rein prinzipienorientierten Beschreibung zugleich im Sinne eines phänomenalen Bewusstseins zu explizieren. Allerdings sind in den letzten Jahren vereinzelt Vorschläge gemacht worden, die zumindest darauf hindeuten, dass Kant mit dem Apperzeptionsbewusstsein nicht nur analytische Bestimmungen des rein logisch zu verstehenden Selbstbewusstseins verbindet, sondern zugleich – im Unterschied zum konkreten empirischen Selbstbewusstsein – eine vortheoretische Komponente ins Spiel bringt. Dies legen etwa Interpretationen von Konrad Cramer und Dieter Sturma nahe, die sich dabei insbesondere auf Äußerungen Kants im Paralogismus-Kapitel stützen. 2 Ob diese Hinweise für die Feststellung eines vortheoretischen Selbstbewusstseins ausreichen, wird im Folgenden zu untersuchen sein. Damit verbindet sich aber auch die Frage, was Kant dazu veranlasst haben könnte, auf ein phänomenales Selbst ausgerechnet im Rahmen seiner strengen Erkenntniskritik hinzudeuten; denn das programmatische Ziel besteht ja gerade darin, Die Schriften Kants werden im Folgenden nach der Band- und Seitenzahl der Akademie-Ausgabe zitiert: Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen Akademie für Wissenschaften, Göttingen 1900 ff. Die Zitate der Kritik der reinen Vernunft (KrV) erfolgen gemäß der Weischedel-Ausgabe und unterscheiden in A- und B-Auflage. 2 Z. B. Konrad Cramer, Über Kants Satz: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können, in: Theorie der Subjektivität hg. von Konrad Cramer, Hans Friedrich Fulda, Rolf-Peter Horstmann und Ulrich Pothast, Suhrkamp, Frankfurt 1987, 167–202; Konrad Cramer, Kants ›Ich denke‹ und Fichtes ›Ich bin‹, in: Konzepte der Rationalität, Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, hg. von Karl Ameriks und Jürgen Stolzenberg, De Gruyter, Berlin/New York 2003, 57–93; Manfred Frank, Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991 und Dieter Sturma, Philosophie der Person Die Selbstverhältnisse von Subjektivität und Moralität, Schöningh, Paderborn/München/Wien/Zürich 1997. 1
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Bewusstseinsphänomene daraufhin zu überprüfen, ob sie als Erkenntnisse, deren Objekte über spezifische Eigenschaften beschreibbar sind, gerechtfertigt werden können. Sucht man nach Belegen für eine Theorie des phänomenalen, vortheoretischen Selbstbewusstseins, wäre es allerdings verfehlt und verkürzt, sich dabei auf das Paralogismus-Kapitel der A- und B-Auflage als Referenztext zu beschränken. 3 Um eine reduktionistische Deutung zu vermeiden, sind vielmehr auch Kants Argumente aus den Deduktionen der reinen Verstandesbegriffe in der Transzendentalen Analytik hinzuzuziehen, in denen Kant das Apperzeptionsbewusstsein als oberstes Prinzip des Denkens bestimmt, das den Verstandesbegriffen vorauszusetzen ist. 4 Daher werde ich in einem ersten Schritt Kants Argumentationsstrategie für die Annahme eines solchen Bewusstseins sowie dessen funktionale Eigenschaften in Grundzügen analysieren. Dabei ist es das vorläufige Ziel, diejenigen Aspekte zur Darstellung zu bringen, die bereits auf einen erstpersonal zugänglichen phänomenalen Gehalt des Apperzeptionsbewusstseins hinweisen könnten. In einem zweiten Schritt sollen solche Passagen des Paralogismus-Kapitels näher untersucht werden, in denen Kant sich bewusstseinstheoretischen Merkmalen des Urteils ›Ich denke‹ zuwendet. Ich werde hier für die These argumentieren, dass in der Kritik der reinen Vernunft tatsächlich – wenngleich in einem eingeschränkten Sinn – von einem phänomenalen Selbstbewusstsein die Rede ist, das sich allerdings zum Programm der Erkenntniskritik in einem unauflöslichen Spannungsverhältnis befindet.
1. Apperzeptionsbewusstsein und erstpersonale Perspektive In § 16 der Kritik der reinen Vernunft bestimmt Kant die reine Apperzeption als die a priori gegebene Identität des Bewusstseins und synDarauf weist auch Rolf-Peter Horstmann zu Recht hin. Vgl. Rolf-Peter Horstmann, Kants Paralogismen, in: Kant-Studien 83. Jahrgang, 408–425, hier: 409. 4 Zwar hebt Heiner Klemme hervor, dass die Ausführungen des Paralogismus-Kapitels in der späteren Auflage nicht mehr direkt an die Deduktion der Kategorientafel anschließen, dieser Aspekt ist jedoch für die vorliegenden Überlegungen nicht weiter relevant, da es hier nicht um die systematische Konsistenz der verschiedenen Teile der KrV geht. Vgl. Heiner Klemme, Kants Philosophie des Subjekts. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Verhältnis von Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, Meiner, Hamburg 1996, 289 f. 3
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thetische Einheit des Mannigfaltigen. Sie wird als diejenige apriorische Instanz gekennzeichnet, welche die »Vorstellung« des ›Ich denke‹ hervorbringt. Diese Charakterisierung des – wie Kant sagt – ursprünglichen Selbstbewusstseins folgt aus den transzendentalen Argumenten in § 15, die eine spezifische Theorieperspektive erkennbar machen: Strukturbedingungen konkreter mentaler Akte werden vom objektiven Standpunkt der dritten Person aus in den Blick gebracht, womit die transzendentale Notwendigkeit, ein »ursprüngliches« Selbstbewusstsein anzunehmen, begründet werden soll. Ohne Bezugnahme auf die Perspektive des denkenden Subjekts – obgleich als Theoriegegenstand thematisch –, ist von Verstandeshandlungen die Rede, in denen eine »Verbindung des Mannigfaltigen« stattfindet, und diese Verbindung (»Synthesis«) muss als ein Akt der Spontaneität aufgefasst werden, der zugleich den Begriff der Einheit impliziert: »Verbindung ist Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen. Die Vorstellung dieser Einheit kann also nicht aus der Verbindung entstehen, sie macht vielmehr dadurch, daß sie zur Vorstellung des Mannigfaltigen hinzukommt, den Begriff der Verbindung allererst möglich.« (KrV, B 131) Kants Begründung setzt also bei der Struktur mentaler Akte an, wonach die Mannigfaltigkeit der in der Anschauung gegebenen Daten unter einen ordnenden Begriff gebracht und mehrere Vorstellungen miteinander verknüpft werden. Um diese Struktur zu erklären, ist dem konkreten Denkakt eine von allen empirischen Implikationen losgelöste spontane Synthesis und Einheit als zugrunde liegend anzunehmen – so das grob umrissene Argumentationsziel von § 15. Eine Annäherung an die (erstpersonale) Perspektive des erkennenden Subjekts findet in § 16 statt. Darin geht es um die Begründung der zentralen These, dass das ›Ich denke‹, hervorgebracht durch das Apperzeptionsbewusstsein, »alle meine Vorstellungen begleiten können [muss]« (KrV, B 131 f.). Zwei funktionsgebundene Merkmale sind es insbesondere, die Kant an dieser Stelle mit dem »ursprünglichen Selbstbewusstsein« in Verbindung bringt und näher charakterisiert: die Merkmale der Synthesis und der Einheit. Das Merkmal der Synthesis spricht dabei die zentrale und grundlegende Funktion kognitiver Leistungen an. Sie besteht in dem regelgeleiteten Verbinden von Daten, die durch die Sinne rezipiert und in diesem Prozess unter einer spezifischen allgemeinen Hinsicht, einem Verstandesbegriff, betrachtet werden. Dieses regelgeleitete aktive Verbinden eines ungeordneten Anschauungsmaterials kennzeichnet nach Kant 34 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
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jeden Akt des Erkennens: Ein Erkenntnisobjekt ist eine nach Regeln zur Einheit verbundene Datenmenge. Die grundlegende Bedeutung der Synthesis-Funktion wird allerdings erst hinreichend verständlich, wenn man sie auf die zu explizierende These bezieht, wonach das Urteil ›Ich denke‹ alle Vorstellungen begleiten können muss. Denn die These drückt die bewusstseinstheoretische Forderung aus, dass verschiedene Vorstellungen insgesamt einem Selbstbewusstsein angehören müssen, und hierfür ist die Synthesis-Funktion des Apperzeptionsbewusstseins voraussetzend: »[D]iese durchgängige Identität der Apperzeption eines in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen, enthält eine Synthesis der Vorstellungen, und ist nur durch das Bewußtsein dieser Synthesis möglich.« (KrV, B 133) Wodurch dieses Bewusstsein zustande kommt, erfährt man gleich im Anschluss: »Diese Beziehung [auf die Identität des Subjekts; Hinzufügung v. Vf.] geschieht also dadurch noch nicht, daß ich jede Vorstellung mit Bewußtsein begleite, sondern daß ich eine zu der anderen hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewußt bin.« (ebd.) Wenn ich im Zuge eines komplexen kognitiven Aktes verschiedene Vorstellungen zusammenbringe und nach einer Regel miteinander in Beziehung setze, dann, so die Pointe von Kants Überlegungen, habe ich darin nicht nur ein Bewusstsein der Einheit dieser Vorstellungen, sondern zugleich ein Bewusstsein meiner selbst als dasselbe Subjekt, das unterschiedliche Vorstellungen hat. Das Bewusstsein der Identität steht insofern unter der Bedingung, dass Vorstellungen – nach einer Regel – aneinandergereiht und miteinander verbunden werden. Erst im Zuge des aktiven regelgeleiteten Verbindens erlange ich ein einheitliches Bewusstsein meiner selbst. 5 Im Unterschied zu einem datensensualistischen Modell Hume’scher Prägung impliziert Kants Theorie der Apperzeption das Bewusstsein eines Subjekts, sich im Wechsel verschiedener Denkakte als Gleichbleibendes zu verstehen. 6 So kann Kant sagen: »Der synDie Differenz zwischen der ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption und der Identität des Selbstbewusstseins kommt in der Kantischen Terminologie nicht immer hinreichend klar zum Ausdruck. Siehe hierzu ausführlicher Dieter Sturma, Kant über Selbstbewußtsein. Zum Zusammenhang von Erkenntniskritik und Theorie des Selbstbewußtseins, Olms, Hildesheim/Zürich/New York 1985, 70 f. 6 Zur Identitätsfunktion des Apperzeptionsbewusstseins siehe Peter Rohs, Über Sinn und Sinnlosigkeit von Kants Theorie der Subjektivität, in: Subjekt und Person, hg. von Rüdiger Bubner und Konrad Cramer, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1988, 62 ff. 5
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thetische Satz: daß alles verschiedene empirische Bewußtsein in einem einzigen Selbstbewußtsein verbunden sein müsse, ist der schlechthin erste und synthetische Grundsatz überhaupt.« (KrV, A 117, Anm.) Und ferner: »Es ist […] schlechthin notwendig, daß in meinem Erkenntnisse alles Bewußtsein zu einem Bewußtsein (meiner selbst) gehöre.« In der skizzierten Begründung für die Annahme eines apriorischen Apperzeptionsbewusstseins liegt der theoretische Akzent zunächst deutlich auf den internen Bestimmungen des Apperzeptionsbewusstseins im Sinne eines funktionalen Bedingungsgefüges; dabei bleibt die Frage weitestgehend unberücksichtigt, inwiefern das Apperzeptionsbewusstsein aus der Perspektive der ersten Person beschreibbar ist, aus der Perspektive des Subjekts also, das Vorstellungen hat und Denkakte vollzieht. Die transzendentale Apperzeption wird der erstpersonalen Perspektive dadurch etwas näher gebracht, indem sie in § 16 als dasjenige apriorische Bewusstsein bezeichnet wird, das die Vorstellung des ›Ich denke‹ hervorbringt, von dem Kant sagt, dass es alle Vorstellungen begleiten können muss. Das Verhältnis zwischen dem abstrakten Konzept der transzendentalen Apperzeption und der Vorstellung des ›Ich denke‹ wäre damit in einer ersten Hinsicht so zu interpretieren, dass sich die transzendentale Apperzeption als notwendig anzunehmende apriorische Bewusstseinsstruktur in dem Satz ›Ich denke‹, den Kant als »Vorstellung« bezeichnet, ausdrückt. Will Kant nun mit der Bezeichnung »Vorstellung« auf einen eventuellen empirisch-phänomenalen Aspekt des Satzes ›Ich denke‹ hinweisen? Über die eigentümliche Verwendung des Begriffs der Vorstellung bezüglich des ›Ich denke‹ ist in der Forschung viel debattiert worden. 7 Denn es scheint zunächst – begrifflich gesehen – naheliegend, den Begriff der Vorstellung in Analogie zu Kants Verwendung im Kontext des empirischen Nach Rohs muss der Vorstellung des ›Ich denke‹, im Gegensatz zu empirischen Vorstellungen, intertemporale Identität zugeschrieben werden, was im Fall der empirischen Vorstellung jedoch nicht möglich ist: Rohs (1988) 62 f. Malte Hossenfelder hat dagegen die Ansicht vertreten, dass das ›Ich denke‹, als Vorstellung charakterisiert, konsequent als ›Ich stelle vor‹ hätte bezeichnet werden müssen. Begründet wird dies mit einer Zitatstelle aus der KrV, in der Kant dafür argumentiert, dass ohne das ›Ich denke‹ »Vorstellungen« in mir wären, die gar nicht meine wären (Malte Hossenfelder, Kants Konstitutionstheorie und die transzendentale Deduktion, De Gruyter, Berlin/ New York 1978, 100). Allerdings, so wendet etwa Cramer zu Recht ein, kann aus dem Urteil ›Ich stelle vor‹ nicht abgeleitet werden, dass eine Vorstellung nicht nur in mir, sondern auch etwas für mich ist. Cramer (2003) 62 f.
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Bewusstseins zu verstehen, also im Sinne einer gegenstandbezogenen Vorstellung, Anschauung oder Erscheinung. 8 Gegen eine solche Deutung spricht allerdings nachdrücklich, dass das, was Kognitionen »als ihr Vehikel« 9 begleitet, selbst nicht bewusste Vorstellung, also nicht intentional gerichtet sein kann. Diesen Sachverhalt drückt Kant unmissverständlich aus, indem er sagt, dass das ›Ich denke‹ diejenige Vorstellung ist, die »alle anderen muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiteren begleitet werden kann.« (KrV, B 132) Betrachtet man die spezifische Relation, die der mehrstellige Ausdruck »begleiten« impliziert, so kommt darin eine charakteristische bewusstseinstheoretische Funktion des ›Ich denke‹ zum Ausdruck. »[A]lles Mannigfaltige der Anschauung [hat] eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird.« 10 Das ›Ich denke‹ entspricht dem Postulat eines durchgängigen identischen Selbst und ist somit als Moment der formalen Selbstreferenz zu verstehen, durch das konkretes prädikatives Denken immanent strukturiert ist. Daher muss das ›Ich denke‹ intentionalen Kognitionen, deren Gegenstände über Begriffe und somit prädikativ bestimmt werden, zugrunde liegen, und diese Relation ist, weil sie »notwendig« ist, eine logische Relation. Aber wie ist dies aus der Perspektive des ›Ich‹ zu verstehen, das denkt und mentale Akte hervorbringt? Weil in allen mentalen Akten, die ich vollziehe, eine formale Selbstzuschreibung stattfindet, handelt es sich um Akte, die für mich sind, die ich als meine betrachte und mich auf sie als meine beziehen kann. In bewusstseinstheoretischer Hinsicht verweist das ›Ich denke‹ auf den Gedanken der Meinigkeit von konkreten Denk- und Vorstellungsakten, was bedeutet, dass ich ein Bewusstsein davon habe, mentale Akte zu vollziehen. 11 Diese Lesart ist zumindest im Kontext von Kants systematischer Entwicklung des gegenständlichen Denkens in der transzendentalen Analytik naheliegend. Eine differenziertere Analyse des Begriffs der Vorstellung, die auf eine Abgrenzung zum Begriff der Idee zielt, findet sich im ersten Buch der transzendentalen Dialektik. Hier definiert Kant die Vorstellung als Oberbegriff von (empirischen) Kognitionen unterschiedlicher Grade der Klarheit: von der bewussten Vorstellung, der Empfindung und der Erkenntnis. KrV, B 376 f. 9 KrV, B 405. 10 KrV, B 132. 11 Zutreffend interpretiert Cramer die Funktion der Meinigkeit eines mentalen Ereig8
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Nun macht Kant jedoch deutlich, dass das darin thematisierte ›Ich‹ an der Subjektstelle des Satzes ›Ich denke‹ für sich genommen – losgelöst von empirischen Denkakten, die ich durch ihn als meine bezeichne – keinen eigenen deskriptiven oder propositionalen Gehalt hat. Dies geht aus der viel zitierten Anmerkung im ParalogismusKapitel eindeutig hervor: »Denn es ist zu merken, daß, wenn ich den Satz: ich denke, einen empirischen Satz genannt habe, ich dadurch nicht sagen will, das I c h in diesem Satz sei empirische Vorstellung, vielmehr ist sie rein intellektuell, weil sie zum Denken überhaupt gehört.« (KrV, B 424) Im Unterschied zum empirischen Bewusstsein, das je nach Sachbezug durch unterschiedliche Eigenschaften charakterisiert ist und einen Gegenstand über Prädikate bestimmbar macht, lassen sich von dem ›Ich denke‹, also dem Gedanken der Meinigkeit von Vorstellungen, keine weiteren Eigenschaften prädizieren. Daraus, dass es sich nicht um eine empirisch selbstständige Vorstellung handelt, folgt aber auch, dass die »Vorstellung« ›Ich‹ gerade nicht ein solches Bewusstsein sein kann, das auf sinnlichen Daten basiert. Die »Vorstellung« ›Ich‹, die in konkreten und direkten Selbstzuschreibungen wie etwa »Ich weiß, dass ich φ« thematisiert wird, bezieht sich – für sich genommen – auf keinerlei sinnliche Daten. So sagt Kant, das ›Ich‹ sei »die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung […] von der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet.« 12 Die hier bezeichnete Vorstellung hat keinen sinnlichen Gehalt und ist deswegen ohne Inhalt. Damit fehlt eine entscheidende Voraussetzung für konkretes Bewusstsein, dessen Gehalt analysierbar und über Prädikate beschreibbar wäre. Dies wäre nämlich nach Kants erkenntnistheoretischer Grundannahme nur dann der Fall, wenn ein mentaler Zustand auf sinnlich gegebenen Daten beruht, die unter kategorialen Hinsichten betrachtet werden können. Im Falle des ›Ich‹ ist diese Voraussetzung eindeutig nicht gegeben. 13 Daher lässt sich das ›Ich‹ nicht nisses: »Eine Vorstellung in mir ist genau dann etwas für mich, wenn ich sie nicht nur habe, sondern auch ein Bewußtsein davon habe, daß ich sie habe.« Cramer (1987) 171. 12 KrV, B 404. 13 »Denn das Ich ist zwar in allen Gedanken; es ist aber mit dieser Vorstellung nicht die mindeste Anschauung verbunden, die es von anderen Gegenständen der Anschauung unterschiede.« (KrV, A 350). Das Subjekt als transzendentale Apperzeption und die mannigfaltigen Vorstellungen stehen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Diesen Gedanken drückt Rolf-Peter Horstmann in seinem Beitrag
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Vorbegriffliches Selbstbewusstsein bei Kant?
als einzelner mentaler Akt ausweisen, weshalb Kant das ›Ich‹ bekanntlich als einfache Vorstellung bezeichnet. 14 Damit ist festzuhalten, dass die Selbstzuschreibung von Vorstellungen auf formalinvariante Weise erfolgt – ein Prozess, mit dem keine sinnlich gegebenen Daten verbunden sind. In der B-Auflage macht Kant deutlich, dass der bloße Ich-Gedanke allein als Akt der Spontaneität aufzufassen ist, er aber explizit keinen Inhalt hat, der in einer sinnlichen Vorstellung präsentierbar wäre. 15 Er bezeichnet also ein bloß ›logisches‹ Bewusstsein und kein Bewusstsein von etwas oder gar von sich in einem bewusstseinsphänomenologischen Sinn. Konsequent hat die Kant-Forschung mehrheitlich an dieser Stelle halt gemacht und es dabei bewenden lassen, das Apperzeptionsbewusstseins als ausschließlich logisches Selbstbewusstsein zu verstehen. 16 Nun haben aber etwa Konrad Cramer, Dieter Sturma und Manfred Frank darauf hingewiesen, dass Kant dem »Ich«, an der Subjektstelle im Urteil ›Ich denke‹, obgleich inhaltlich ›leer‹, dennoch eine Form von »Gehalt« zuspricht, was sich – sachlich wie terminologisch – dem erkenntnistheoretischen Rahmen der Erkenntniskritik eigentlich entzieht. Ein solcher »Gehalt« kann unter den vorgenannten Bedingungen nur ein solcher sein, der ein nicht weiter analysierbares Phänomen präsentiert.
2. Die Relation zwischen den Urteilen ›Ich denke‹ und ›Ich existiere‹ Der Referenztext dieser These sind im Wesentlichen Kants Formulierungen im Paralogismus-Kapitel der B-Auflage, die in die Aussage münden, dass der Satz ›Ich denke‹ den Satz ›Ich existiere‹ impliziert: »Das Ich denke […] enthält den Satz, Ich existiere, in sich.« (KrV, B 422) Kant spricht hier eine ganz eigene Art von Bewusstsein an, über Kant und Carl über Apperzeption pointiert aus, indem er das Ich mit einem (immateriellen) Gravitationszentrum vergleicht, das, um zu ›existieren‹, auf gravitierende Körper angewiesen ist. Vgl. Rolf-Peter Horstmann, Kant und Carl über Apperzeption, in: Kant in der Gegenwart, hg. von Jürgen Stolzenberg, De Gruyter, Berlin/ New York, 131–148. 14 KrV, B 135. 15 Auf diesen zentralen Punkt weist Konrad Cramer nachdrücklich hin. Vgl. Cramer (1987) 200. 16 Sehr pointiert ist dies bei Rohs (1988) 76 ff. zu lesen.
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Katja Crone
die offenbar über die funktionale Eigenschaft der Zuschreibbarkeit von Denkakten (»Meinigkeit«) hinausgeht. Es geht hier um den Umstand, dass, wann immer ich einen Denk- oder Vorstellungsakt vollziehe, ich mir darin gleichzeitig der Tatsache bewusst bin oder sein kann, dass ich bin. Diese Tatsache stellt sich also irgendwie im Bewusstsein dar. Wie aber lässt sich das damit angesprochene »Phänomen« im Hinblick auf einen möglichen Gehalt der »Vorstellung« ›Ich‹ näher bestimmen? Die Frage, die als nächstes gestellt werden muss, betrifft das eigentümliche Verhältnis, das Kant bei der terminologischen Verwendung des »Enthaltenseins« des Satzes ›Ich existiere‹ im Satz ›Ich denke‹ im Blick hat. Hierzu hat Konrad Cramer einen gangbaren Vorschlag gemacht. Cramer zufolge lässt sich die Relation von ›Ich denke‹ und ›Ich existiere‹ im Rekurs auf das Merkmal der Einfachheit, das nach Kant für die »Vorstellung« ›Ich‹ charakteristisch ist, aufklären. Er stützt sich dabei auf drei Aussagen im Paralogismus-Kapitel der A-Auflage, in denen Kant die Einfachheit behauptet und denen sich insofern analytisch relevante Hinweise entnehmen lassen. 17 Es sind bezeichnenderweise ausschließlich negative Bestimmungen, die Kant in diesem Zusammenhang vorbringt. So schließt der Begriff der Einfachheit – erstens – aus, dass die Vorstellung ›Ich‹ etwas in der Anschauung Gegebenes sein kann, sofern man Kants These akzeptiert, wonach anschaulich Gegebenes stets eine Mannigfaltigkeit sinnlicher Daten beinhaltet. 18 Zweitens ist auszuschließen, dass die Vorstellung ›Ich‹ als Akt des Verstandes aufgefasst werden kann, dessen Gehalt über Attribute beschreibbar wäre; die Vorstellung ›Ich‹ ist kein Begriff von etwas anschaulich Gegebenen, da sie keineswegs eine »Synthesis des Mannigfaltigen enthält«. 19 Und es ist schließlich drittens auszuschließen, dass es sich bei der Vorstellung ›Ich‹ um eine Form der Anschauung oder Vorstellung handelt, also um etwas, worin Anschauungen gegeben würden und aufgrund ihres Status, Form zu sein, unwandelbar ist. 20 Aber was entspricht dann – positiv gewendet – dem mentalen Zustand, der das ›Ich‹ ausdrückt? Aus den verschiedenen negativen Teilbestimmungen des Merkmals der Einfachheit folgert Cramer zu17 18 19 20
Cramer (2003) 66 f. KrV, A 355. KrV, A 356. KrV, A 350.
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Vorbegriffliches Selbstbewusstsein bei Kant?
nächst, dass der mentale Zustand in formaler Hinsicht den Status eines Gedankens haben müsse, eines Gedankens, der weder auf etwas in der Anschauung Gegebenes oder Gebbares noch auf eine regelgeleitete Synthesis sinnlicher Daten gerichtet sei. 21 So werde in der Verwendung des Indexwortes ›ich‹ – im Rahmen einer Selbstzuschreibung von mentalen Akten – auf etwas Bezug genommen, »was nur gedacht, aber nicht angeschaut werden kann«. 22 Was gedacht werden kann, muss eine Form von Intentionalität besitzen und insofern einen Gehalt haben, wenngleich dieser, wie im Falle des ›Ich‹, kein prädikativ bestimmbarer empirischer Inhalt sein kann; denn dazu würde es einer sinnlichen Anschauung bedürfen, die Kant jedoch, wie gezeigt, im Blick auf die »Vorstellung« ›Ich‹ eindeutig ausschließt. Es sind genauer zwei Aspekte, die Cramer bei der Bestimmung des (nicht-sinnlichen) Gehalts der in Frage stehenden Kognition ins Spiel bringt: Der erste Aspekt, der im Wesentlichen dem Gedankengang der B-Auflage des Paralogismus-Kapitels entspricht, ist Kants Feststellung, dass das ›Ich denke‹ seinem Status nach ein »Actus der Spontaneität« ist. 23 Die Pointe ist also, dass die »Vorstellung« ›Ich denke‹ nicht – wie im Falle prädikativ bestimmbarer Vorstellungsinhalte – auf einem Akt der Spontaneität beruht, sondern ein solcher Akt ist. Für Cramer deutet nun diese entscheidende Charakterisierung, zusammen mit der vorgenannten These, dass der Inhalt der »Vorstellung« ›Ich‹ nur gedacht, aber nicht angeschaut werden kann, auf den Umstand hin, dass ich mir deswegen Denkakte zuschreiben und darin auf mich als Subjekt Bezug nehmen kann, weil ich »einen Begriff von mir besitze, der in jeder Selbstzuschreibung spontan erzeugt werden kann« [Hervorhebung v. Vf.]. 24 Dass Cramer an dieser Stelle von einem »Begriff« spricht, den ich (angeblich) von mir haben muss, wenn ich im Rahmen einer SelbstCramer (2003) 67. Ebd. – Dass »Gedanke« nicht dem Frege’schen Begriff des Gedankens im Sinne eines objektiven (übergreifenden) Inhalts von Sätzen und Vorstellungen gemeint ist, dürfte klar sein. 23 KrV, B 132. – Rolf-Peter Horstmann weist richtigerweise daraufhin, dass die BAuflage des Paralogismus-Kapitels insbesondere von Kants These dominiert ist, wonach das Subjekt nur als Handlung oder Akt aufgefasst werden kann, woraus folgt, dass sich die Frage nach der Erkennbarkeit der ›Seele‹ von vornherein nicht sinnvoll stellen lässt. Dass die Aktstruktur des Subjekts Parallelen zu Fichtes Begriff des Ich als Tathandlung sowie auf die Struktur der intellektuellen Anschauung erkennen lässt, bleibt allerdings unerwähnt. Horstmann (1993) 416. 24 Cramer (2003) 68. 21 22
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Katja Crone
zuschreibung auf mich als Subjekt einer propositionalen Einstellung verweise, ist zunächst überraschend. Bei näherem Hinsehen wird allerdings klar, dass sich die Wendung »Begriff von mir« auf den epistemischen Status des Bewusstseins bezieht, das ich habe, wenn ich inhaltsvolle Vorstellungen habe, die ich mir zuschreibe und sie als meine bezeichne. 25 Trotz der erweiterten Charakterisierung des ›Ich denke‹ als Akt der Spontaneität bleibt jedoch nach wie vor ungeklärt, worauf die »Vorstellung« ›Ich‹ gerichtet ist, wenn man mit Cramer davon ausgeht, dass es ein »wovon« dieser Vorstellung gibt (oder geben muss). An dieser Stelle kommt nun die bereits erwähnte zentrale Aussage Kants ins Spiel, wonach das ›Ich denke‹ ein Satz ist, der den Satz ›Ich existiere‹ mit einschließt. Der Gehalt des ›Ich‹-Gedankens bin ich, und zwar insofern ich mir als Subjekt von Denkakten bewusst bin. Aus diesem Umstand ergibt sich nach Cramer, dass der ›Ich‹-Gedanke mit dem Bewusstsein meiner eigenen Existenz unmittelbar zusammenhängt. Das Existenzbewusstsein stellt sich zwangsläufig ein, sobald ich mir kognitive Akte zuschreibe und das Bewusstsein der Zuschreibung in propositionaler Form zum Ausdruck bringe oder bringen kann. Insofern lässt sich sagen, dass die »Vorstellung« ›Ich bin‹ nach Kant dem Bewusstsein entspricht, »welches alles Denken begleiten kann«, und damit ist es »das, was unmittelbar die Existenz des Subjekts in sich schließt«. 26 Ich bin »mir meiner selbst in der transzendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellung überhaupt, mithin in der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption, bewußt, nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin.« 27 Dabei ist es wichtig, zu sehen, dass man sich im Vollziehen eines mentalen Aktes lediglich seines Es ist also zu berücksichtigen, worauf Cramer den systematischen Fokus legt: Cramer geht es um die Analyse einer spezifischen Funktion des Apperzeptionsbewusstseins, um das Urteil ›Ich denke‹, insofern es inhaltlich gehaltvolle Vorstellungen begleitet, und näher um die Explikation des Gedankens der ›Meinigkeit‹ von Vorstellungen. Die Frage, was dem ›Ich‹ an der Subjektstelle des Urteils ›Ich denke‹ als Bewusstseinsphänomen korrespondieren könnte, steht also nicht im Zentrum von Cramers Überlegungen. 26 KrV, B 277. 27 KrV, B 157. – Dabei ist außerdem zu beachten, dass »Existenz« kein reales Prädikat darstellt, sondern etwas, das einer Vorstellung qua sinnliche Wahrnehmung hinzugefügt wird (so die Prämisse von Kants Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises in der Transzendentalen Dialektik, KrV, B 620 ff.). Daher kann der Satz ›ich existiere‹ im hier verstandenen Sinn zwar keinen prädikativ bestimmbaren, propositionalen 25
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faktischen Daseins bewusst wird, als ›unkonkretes‹ Subjekt von mentalen Zuständen und Vollzügen. Anders ausgedrückt: Wenn ich etwas denke, vorstelle usw., bin ich mir zwar selbst gegenwärtig, habe dabei aber keine Vorstellung meiner selbst als raum-zeitlich existierendes konkretes Individuum. Auf diese Form der (möglichen) unmittelbaren Selbstreferenz im Vollziehen konkreter Denkakte hat auch Peter Strawson hingewiesen. Und er betont, dass dies der Eigenheit der Verwendung von ›ich‹ entspricht, nämlich nicht präzisieren zu müssen, wer mit dem ›ich‹ gemeint ist. 28 Genau dies meint Kant, wenn er hinsichtlich der Relation des Satzes ›Ich denke‹ und dem spontanen Urteil ›Ich existiere‹, also meiner faktisch erfahrenen Existenz, sagt, dass sie letztlich identisch sind. 29 Somit ist auch Dieter Sturma Recht zu geben, der die Identitätsrelation nachdrücklich auf den involvierten Bewusstseinsvollzug bezieht und betont, »daß das Evidenzerlebnis des Selbstbewußtseins uno actu das explizite Bewußtsein der eigenen Existenz, die ersichtlich empirisch bestimmt ist, einschließt.« 30 Insgesamt gesehen stellt Kants Argumentation – bezogen auf die Erfahrungsperspektive der ersten Person – tatsächlich eine sachliche Erweiterung dar – verglichen mit der rein funktionalen Beschreibung des Apperzeptionsbewusstseins in der Transzendentalen Analytik. Berechtigt aber der Befund, dass das ›Ich denke‹ unmittelbare Selbstgewissheit ist, dazu, von einer Form vortheoretischen Selbstbewusstseins bei Kant zu sprechen? Zwar lässt sich vorläufig festhalten, dass der mentale Modus des Unmittelbaren, der für das Evidenzerlebnis prägend ist, einen begrifflichen Gegensatz zu reflektierten und damit theoretisch verankerten mentalen Akten darstellt. Und insofern kann die Eigenschaft der Unmittelbarkeit zumindest als wichtiges Indiz für die These gedeutet werden. Die Frage lässt sich aber erst dann befriedigend beantworten, wenn man Näheres über die Art
Sachverhalt ausdrücken, wohl aber eine nicht näher zu differenzierende Wahrnehmung. 28 Peter Strawson, Kant’s Paralogisms: Self-Consciousness and the ›Outside Observer‹ in: Theorie der Subjektivität, hg. von Konrad Cramer, Hans Friedrich Fulda, RolfPeter Horstmann und Ulrich Pothast, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, 211. 29 »Daher kann meine Existenz auch nicht aus dem Satz: Ich denke, als gefolgert angesehen werden, wie Cartesius dafür hielt, (weil sonst der Obersatz: alles, was denkt, existiert, vorausgehen müßte), sondern ist mit ihm identisch.« KrV, B 422. 30 Sturma (1997) 121.
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der Kognition erfährt, die Kant mit dem ›Ich denke‹ im Sinne von ›Ich existiere‹ verbindet.
3. Das ›Ich denke‹ als »unbestimmte Wahrnehmung« Die entscheidende Angabe hierzu findet sich in der bereits genannten Anmerkung im Paralogismus-Kapitel der B-Auflage. Hier sagt Kant, dass es sich bei der Kognitionsform, die dem Urteil ›Ich denke‹ unterliegt, um eine »unbestimmte Wahrnehmung« handelt. 31 Was damit gemeint sein könnte, soll zwar der anschließenden erläuternden Bemerkung entnommen werden, es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass Kant sich hier in einer gewissen Begriffsnot befindet: »Eine unbestimmte Wahrnehmung«, so Kant, »bedeutet hier nur etwas Reales, das gegeben worden, und zwar nur zum Denken überhaupt, also nicht als Erscheinung, auch nicht als Sache an sich selbst (Noumenon), sondern als etwas, was in der Tat existiert, und in dem Satz, ich denke, bezeichnet wird.« 32 Die vagen Formulierungen deuten darauf hin, dass Kant offensichtlich den Boden der klaren, systematisch verankerten erkenntniskritischen Terminologie verlassen und es mit Phänomenen zu tun hat, die sich einer analytisch scharfen Betrachtung entziehen. Immerhin lässt sich sagen, dass eine »unbestimmte Wahrnehmung« kein Begriff ist, und »unbestimmt« ist die Wahrnehmung im Unterschied zu einer bestimmten Wahrnehmung, einer durch Verstandesleistungen geordneten sinnlichen Anschauung; das geht aus der zitierten Wendung, wonach die unbestimmte Wahrnehmung keine Erscheinung ist, unmissverständlich hervor. Diese Kontrastierung ist aber keineswegs trivial: Denn eine unbestimmte Wahrnehmung ist, nur weil sie epistemologisch unterbestimmt ist, nicht nichts; sie muss vielmehr als ein präreflexiver mentaler Zustand aufgefasst werden, in dem sich das Subjekt in einem minimalen Sinn seiner selbst bewusst, oder besser: sich selbst gegenwärtig ist. Ohne dass Kant hierzu nähere Angaben machen würde, lässt sich dies als ein basales Bewusstsein deuten, als ein Ich-Erleben, das mit der erstpersonalen Perspektive unmittelbar gegeben ist. Dass es sich dabei durchaus um ein Phänomen des Bewusstseins handelt, geht aus weiteren Formulierungen hervor, die in der Kantischen Erkenntnistheo31 32
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rie durchaus problematisch sind. So betont Kant etwa in der Zusammenfassung der Paralogismen in den Prolegomena: »[D]ie Vorstellung der Apperzeption, das Ich, […] ist nichts mehr als ein Gefühl«. 33 In dieselbe Richtung weist die Aussage, wonach dem »Existentialsatz«, also dem ›Ich denke‹ im Sinne von ›Ich existiere‹, eine »Empfindung, die folglich zur Sinnlichkeit gehört […] zum Grunde liege«. 34 Allerdings betont Kant gleich darauf, dass diese Empfindung in logischer Hinsicht nicht auf der Ebene des strukturierten Denkens, der Erfahrung, angesiedelt ist, weil die Empfindung des ›Ich denke‹ der Erfahrung vorhergehe. Diese knapp angedeutete Rückkehr zur logischen Bedeutung des Apperzeptionsbewusstseins macht aber zugleich klar, dass das ›Ich denke‹ als Bewusstseinsphänomen nicht rein empirisch-psychologisch verstanden werden kann. Und es scheint daher durchaus angemessen, hier von einem vortheoretischen Selbstbewusstsein, das zugleich die Grundlage des gegenständlichen Denkens bildet, zu sprechen. Allerdings ist es wichtig zu sehen, dass für Kant aus diesem Befund in systematischer Hinsicht nichts folgt – anders als etwa bei Fichte. Insbesondere in Fichtes Schriften zur Wissenschaftslehre um 1798 lässt sich eine systematische Berücksichtung und Integration des unmittelbaren, vorbegrifflichen Selbstbewusstseins nachweisen. Fichte vertritt hier im Unterschied zu Kant die spezifisch bewusstseinstheoretische These, dass die Begründung von Subjektivität aus der Perspektive der ersten Person einsichtig gemacht werden kann – und muss. Mit dieser These verbindet sich der Anspruch, dass der Gehalt transzendentaler Prinzipien im Bewusstsein selbst nachgewiesen werden kann. 35 Anders ausgedrückt: Das »ursprüngliche Selbstbewusstsein«, das sich-selbst-setzende Ich, ist ein transzendentales Prinzip, das man sich bewusst vergegenwärtigen kann. In der Wissenschaftslehre nova methodo sagt Fichte unmissverständlich: »Wir müssen von diesem letzten Grund wissen, denn wir sprechen davon.« 36 Deshalb können nach Fichte Strukturbedingungen von Selbstbewusstsein nicht ausschließlich eine Funktion im transzenAA 4:334 Anm. KrV, B 423. 35 Siehe dazu ausführlicher Katja Crone, Fichtes Theorie konkreter Subjektivität. Untersuchungen zur ›Wissenschaftslehre nova methodo‹ (Neue Studien zur Philosophie Bd. 18), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, 47 ff. 36 Johann Gottlieb Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K. Chr. Krause 1798/99, Meiner, Hamburg 1994, 31. 33 34
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Katja Crone
dentalen Sinn haben. Konsequent heißt das, dass der phänomenale Gehalt von Selbstbewusstsein in einem ursprünglichen Sinn, als unmittelbares Anschauungsbewusstsein, in die Begründungskonzeption von Subjektivität ebenso eingebunden sein muss. 37 Dem Kantischen Text lassen sich hingegen keine weiteren, präziseren Angaben über vorbegriffliches Selbstbewusstsein entnehmen, was, theoriestrategisch gesehen, allerdings auch nicht weiter verwundert. Im Gegenteil: Dass Kant sich über vortheoretisches Selbstbewusstsein so bedeckt hält, dürfte ein Indiz dafür sein, dass er wusste, sich damit aus dem klar begrenzten Rahmen der Erkenntniskritik hinauszubegeben. Und diese ist nun einmal das zentrale Anliegen der theoretischen Philosophie Kants.
4. Schluss Die vorangegangen Überlegungen lassen sich folgendermaßen resümieren: Kants Theorie des Apperzeptionsbewusstseins impliziert neben rein funktionalen Eigenschaften des logischen Selbstbewusstseins eine Form unmittelbaren Bewusstseins, das man als ein phänomenales, vorbegriffliches Selbstbewusstsein bezeichnen kann. Für diese These gibt es mehrere Anhaltspunkte. Zum einen verweist die Relation der Urteile ›Ich denke‹ und ›Ich existiere‹ auf den mentalen Zustand eines Evidenzerlebnisses, näher auf das spontan erzeugte, unmittelbare Bewusstsein der eigenen Existenz. Zum anderen wird die Kognition, die sich mit dem ›Ich‹ verbindet, als »unbestimmte Wahrnehmung« charakterisiert, als ein Bewusstsein also, das weder als begrifflich strukturierte Erfahrung noch als apriorische Form oder Strukturbedingung gedeutet werden kann. Allerdings muss nachdrücklich betont werden, dass von einem ausgearbeiteten Konzept des phänomenalen Selbstbewusstseins bei Kant nicht die Rede sein kann. Man hat es hier eher mit einigen Bemerkungen zu tun, die als Hinweise verstanden werden können, dass Kant sich der Thematik durchaus bewusst war und zugleich der Tatsache, dass der Bereich des Bewusstseins, der zwischen nichtsinnlichen Strukturbedingungen und (empirischen) propositionalen Einstellungen anzusiedeln ist, Ob ein solches Vorgehen tatsächlich dem Anspruch einer apriorischen Begründung genügen kann, ist aus Sicht der Kantischen Transzendentalphilosophie ohne Zweifel mehr als fraglich; dieses Problem kann hier allerdings nicht weiter verfolgt werden.
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begrifflich schwer zu fassen ist. Anders als in Fichtes Konzeption von Subjektivität, kommt dem phänomenalen Charakter des ›Ich denke‹ keinerlei theorie-interne Bedeutung zu. Denn Kant ist im Rahmen seiner Erkenntniskritik im Wesentlichen an der funktionalen Bedeutung des Apperzeptionsbewusstseins interessiert, und zwar mit Blick auf Strukturbedingungen sachhaltiger, prädikativ bestimmbarer mentaler Akte. Daher ist es für das Kantische Vorhaben auch völlig irrelevant, ob sich die »unbestimmte Wahrnehmung« irgendwie präzisieren und für die Theorie fruchtbar machen ließe: »Diese Vorstellung [des ›Ich denke‹] mag nun klar (empirisches Bewusstsein) oder dunkel sein, daran liegt hier nichts, ja nicht einmal an der Wirklichkeit desselben; sondern die Möglichkeit der logischen Form alles Erkenntnisses beruht notwendig auf dem Verhältnis zu dieser Apperzeption als einem Vermögen.« 38 So lässt sich schließlich sagen, dass das Apperzeptionsbewusstsein – innerhalb des erkenntniskritischen Rahmens – ausschließlich als epistemologisches Prinzip formaler Selbstreferenz zu verstehen ist, das den Sachverhalt begründet, dass ich mir Vorstellungen zuschreibe und sie als meine bezeichne. Innerhalb des erkenntniskritischen Rahmens drückt das ›Ich denke‹ die bloß logische Einheit des Subjekts aus, eine Einheit, die vor aller Erfahrung gegeben und nicht Produkt der Erfahrung ist. Das phänomenale ›Ich‹ als »unbestimmte Wahrnehmung« liegt außerhalb dieses Rahmens.
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KrV, A 117 Anm.
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Selbstbewußtsein – ein Problem der Philosophie nach Kant Zum Verhältnis Reinhold-Hölderlin-Fichte* Jürgen Stolzenberg, Halle
Der gängigen Rede von Selbstbewußtsein als dem Paradigma der Moderne entspricht kein Konsens über den Gehalt der philosophischen Theorien von Selbstbewußtsein und über den Gang ihrer Entwicklung in der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie. 1 Es verwundert daher nicht, daß auch über deren Anfänge keine hinreichende Klarheit besteht. So war es nicht, wie weithin angenommen, Fichte, sondern Karl Leonhard Reinhold, dem das Phänomen des Selbstbewußtseins zuerst zu einem theoretischen Problem geworden ist, und der als erster einen Versuch zu einer Lösung unternommen hat. 2 Der Name Reinholds steht indessen nicht nur am Beginn der neuzeitlichen Problemgeschichte von Selbstbewußtsein. Er ist auch zu nennen, wenn die theoretischen Prämissen in Frage stehen, die der Kritik an der Funktion von Selbstbewußtsein als eines letzten Grundes philosophischer Theorie in der frühen Rezeption der Wissenschaftslehre Fichtes zugrunde liegen. Als das früheste Dokument einer diesbezüglichen Fichte-Kritik gilt Friedrich Hölderlins Manuskriptfragment über Urteil und Sein. 3 Es wird im folgenden zu zeigen sein, daß es die Philosophie Karl Leonhard Reinholds und seine Theorie des Bewußtseins und des Selbstbewußtseins war, die der Sache nach den
* Erstveröffentlichung in: Daimon. Revista de Filosofia, 9 (1994) 63–79. 1 Vgl. hierzu die Übersicht von Manfred Frank, Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991. 2 Vgl. hierzu Jürgen Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Seine Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/02, Klett-Cotta, Stuttgart 1986, 43, Anm. 58. Vgl auch: Dieter Henrich, Die Anfänge der Theorie des Subjekts (1789), in: Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung, hg. von Axel Honneth, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989, 106–170, bes. 139 f., sowie Marcelo Stamm/Sven Bernecker, Elementarphilosophie. Gründe und Folgen der Systemkrise Karl Leonhard Reinholds (1790–1792), Klett-Cotta, Stuttgart 1994. 3 Hölderlin. Sämtliche Werke, hg. von Friedrich Beißner, Kohlhammer, Bd. 4, 216/ 217. Im folgenden zitiert als StA mit der Angabe der Seiten- und Zeilenzahl.
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Selbstbewußtsein ein Problem der Philosophie nach Kant
theoretischen Rahmen bereitstellt, in dem Hölderlin Fichtes Begriff des absoluten Ich interpretiert und aus dieser Interpretation seine Kritik an Fichte begründet hat. 4 Es läßt sich ferner zeigen, daß in Fichtes späterer Entwicklung seiner Theorie des Selbstbewußtseins eine indirekte Antwort auf Hölderlin vorliegt. Diese Antwort findet sich in Fichtes System der Sittenlehre von 1798. 5 In der Einleitung zur Sittenlehre nimmt Fichte der Sache nach auf eben diejenige Interpretation des Begriffs des Ich Bezug, die Hölderlin in seinem Manuskript über Urteil und Sein entwickelt hatte. Fichte nimmt auf diese Interpretation aber so Bezug, daß er ihr eine systematische Stelle in seiner eigenen Theorie des Selbstbewußtseins zuweist. So läßt sich die Folge der frühen Entwürfe einer Theorie des Selbstbewußtseins durch Reinhold, Hölderlin und Fichte als eine Folge aufeinander verweisender Positionen in einer gemeinsamen Debatte um die Möglichkeit einer Theorie des Selbstbewußtseins nach Kant verstehen. 6 Daraus ergibt sich der Gang der folgenden Überlegungen. In einem ersten Schritt ist Reinholds Theorie des Selbstbewußtseins vorzustellen. Der zweite Schritt wendet sich Hölderlins Fichte-Interpretation und -Kritik zu. In einem dritten Schritt ist auf Fichte und seine indirekte Antwort auf Hölderlin einzugehen.
1. Reinholds Theorie des Selbstbewußtseins Karl Leonhard Reinhold hat seine Theorie des Selbstbewußtseins im Dritten Buch seines Versuchs einer neuen Theorie des menschlichen
Auf die Bedeutung Friedrich Heinrich Jacobis und dessen Spinoza-Kritik für die Konzeption von Urteil und Sein kann im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht näher eingegangen werden. Vgl. hierzu Dieter Henrich, Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795), Klett-Cotta, Stuttgart 1993, 146 ff. und 425 ff. 5 Johann Gottlieb Fiche, Das System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre [EA 1798], in: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, De Gruyter, Berlin 1971, Bd. IV, 1–365 – im Folgenden zitiert unter der Abkürzung W IV mit Angabe der Seitenzahl. 6 In einem weiteren, die Grenzen des vorliegenden Beitrags jedoch überschreitenden Rahmen wäre auch die Position Schellings und ihr Verhältnis zu Kant, Reinhold, Jacobi und Fichte zu berücksichtigen. Vgl. hierzu Birgit Sandkaulen-Bock, Ausgang vom Unbedingten. Über den Anfang in der Philosophie Schellings, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1990. 4
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Vorstellungsvermögens 7, der »Theorie der Erkenntnis überhaupt« 8 entwickelt. Man kann Reinholds Theorie der Erkenntnis als die in der Perspektive des Subjekts des Bewußtseins vorgenommene explizite Thematisierung der im zweiten Buch, der Theorie des Vorstellungsvermögens überhaupt entwickelten Grundbestimmungen des Bewußtseins ansehen. 9 So wird die bloße Vorstellung nun um das »Bewußtsein der Vorstellung«, das Vorstellende um das »Bewußtsein des Vorstellenden als eines solchen« und das Objekt oder der Gegenstand des Bewußtseins entsprechend um das »Bewußtsein des Gegenstandes« 10 erweitert. Das Bewußtsein des Vorstellenden als eines solchen bezeichnet Reinhold als Selbstbewußtsein: »Das Bewußtsein des Vorstellenden als eines solchen, das Selbstbewußtsein, hat das Vorstellende selbst zum Gegenstand, das also dabei vorgestellt, das heißt Objekt einer von ihm als Subjekt und als Objekt verschiedenen bloßen Vorstellung werden muß, die durch ihr Bezogenwerden das Selbst-
7 Karl Leonhard Reinhold, Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens [EA 1789], WBG, Darmstadt 1963. Im Folgenden zitiert als »Versuch« mit Angabe der Seitenzahl. Im Folgenden werden die Hervorhebungen im Original im Zitat übernommen. Hervorhebungen vom Verfasser werden ausdrücklich als solche kenntlich gemacht. 8 Versuch, 321 f. 9 Als Grundlage seiner Theorie des Vorstellungsvermögens hat Reinhold die folgende Explikation des Begriffs der Vorstellung angesehen: »Man ist, durch das Bewußtsein genötigt, darüber einig, daß zu jeder Vorstellung ein vorstellendes Subjekt, und ein vorgestelltes Objekt gehöre, welche Beide von der Vorstellung, zu der sie gehören, unterschieden werden müssen« (Versuch, 200). Es sei hier darauf hingewiesen, daß mit dieser Bestimmung noch nicht die Struktur des ein Jahr später von Reinhold sogenannten »Satzes des Bewußtseins« erreicht ist. Er lautet bekanntlich: »Im Bewußtsein wird die Vorstellung durch das Subjekt von Subjekt und Objekt unterschieden und auf beide bezogen.« (Karl Leonhard Reinhold, Neue Darstellung der Hauptmomente der Elementarphilosophie, in: Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen. Erster Band das Fundament der Elementarphilosophie betreffend, J. M. Mauke, Jena 1790, 219. Reinholds »Beiträge …« werden im Folgenden unter der Abkürzung »Beiträge I« mit Angabe der Seitenzahl zitiert.) Die im »Satz des Bewußtseins« berücksichtigte Beziehung der Vorstellung auf das in ihr vorgestellte Objekt und das vorstellende Subjekt hat Reinhold in seinem Versuch an den Anfang der Theorie des Erkenntnisvermögens überhaupt gestellt: »Das Bewußtsein überhaupt besteht aus dem Bezogenwerden der bloßen Vorstellung auf das Objekt und Subjekt; und ist von jeder Vorstellung überhaupt unzertrennlich.« (Versuch, 321) Diese Beziehung ist die formale Grundlage für die von Reinhold in seiner Theorie der Erkenntnis vorgenommene explizite Thematisierung der Grundbestimmungen des Bewußtseins überhaupt. 10 Vgl. Versuch, 325 f. (Hervorhebung vom Verf.)
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Selbstbewußtsein ein Problem der Philosophie nach Kant
bewußtsein, dessen Gegenstand durch das Wort Ich bezeichnet wird, ausmacht.« 11
Reinhold führt nun eine weitere Differenzierung ein, und zwar eine Differenzierung zwischen der Klarheit und der Deutlichkeit des Bewußtseins. 12 Während die Klarheit des Bewußtseins in allen drei Fällen in der expliziten Thematisierung der Vorstellung als solcher besteht, durch welche die jeweiligen Gegenstände vorgestellt werden, besteht die Deutlichkeit des Bewußtseins in dem Bewußtsein, welches das »Gemüt … von sich selbst hat, oder dem Selbstbewußtsein.« 13 Damit ist Reinholds Definition des Begriffs des Selbstbewußtseins erreicht: »Das Bewußtsein überhaupt ist deutlich, in wieferne es Bewußtein des vorstellenden Subjektes, als des vorstellenden, d. h. Selbstbewußtsein ist.« 14
Es lassen sich nun drei Schritte unterscheiden, in denen Reinhold eine Analyse dieses so bestimmten Begriffs des Selbstbewußtseins unternimmt. Dem ersten Schritt kommt eine kritische Funktion zu. Da für Reinhold im Selbstbewußtsein »das vorstellende Subjekt als das Vorstellende vorgestellt« 15 wird, wird es von sich selbst auch nicht anders denn als vorstellendes Subjekt vorgestellt, und das heißt, es wird von sich selbst nicht als an sich, d. h. außer und unabhängig von seinem Vorstellen vorgestellt. So schreibt Reinhold: »… es kann nicht sich selbst Objekt werden. Alles was von ihm und wodurch es sich selbst Objekt werden kann, ist bloß sein Vorstellen, um dessentwillen es das Vorstellende heißt.« 16
Es ist offenkundig, daß Reinhold damit, ohne dies deutlich zu machen, Kants kritische Lehre, daß das Subjekt der Erkenntnis nicht an sich selbst ein Objekt der Erkenntnis sein kann, in seine eigene Theorie des Erkenntnisvermögens integrieren und durch sie bestätigen will. Der zweite Schritt entwickelt die Explikation dieser Bestimmung. Das, was es bedeutet, vorstellend zu sein, kann nach Reinhold nur dadurch vom Subjekt vorgestellt werden, daß es sich die inneren Be11 12 13 14 15 16
Versuch, 326. Vgl. Versuch, 331 f. Versuch, 332. Versuch, 333. Versuch, 334. Versuch, 334.
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dingungen des Vorstellens vorstellt. 17 Die inneren Bedingungen oder, wie Reinhold sich auch ausdrückt, die »Prädikate des bloßen Vorstellungsvermögens« 18, sind die Formen der Rezeptivität und Spontaneität. 19 Da sie für Reinhold die apriorischen Bedingungen allen Vorstellens darstellen und ihren logischen Ort im Vorstellungsvermögen haben, nennt Reinhold die auf sie bezogenen Vorstellungen »Vorstellungen a priori« 20. Die Möglichkeit dieser Vorstellungen a priori erklärt Reinhold im Rückgriff auf diejenigen Bestimmungen, die er im zweiten Buch seines Versuchs in der Explikation der inneren Bedingungen der bloßen Vorstellung bereits entwickelt hat. Demnach sind die Formen der Rezeptivität und Spontaneität als das Objekt der von ihnen unterschiedenen Vorstellungen anzusehen. Die dem Moment des Gegebenen entsprechende Bestimmung des Stoffs ist in diesem Fall, da dasjenige, was gegeben ist, ursprünglich im Vorstellungsvermögen selbst bestimmt ist, als »subjektiver Stoff« 21 oder als »Stoff a priori« 22 zu bezeichnen. So kann Reinhold schließlich sagen, daß die Möglichkeit des Selbstbewußtseins, d. h. die Möglichkeit, daß das Subjekt sich selbst als das Vorstellende vorstellt, »von der Möglichkeit der Vorstellung jener beiden Formen [der Rezeptivität und Spontaneität – Zus. v. Vf.] ab[hängt], deren Stoff a priori im Gemüte bestimmt ist.« 23 Die entscheidende systematische Pointe dieser Konzeption ist indessen erst in einem dritten Schritt enthalten. Dieser Schritt ist die Exposition einer Aporie, deren Auflösung eben diese Theorie der Vorstellungen a priori ermöglichen soll. Reinhold macht nun darauf aufmerksam, daß der im Begriff des Selbstbewußtseins zu denkende Sachverhalt nicht hinreichend, wie es bisher geschehen war, als die Vorstellung des Vorstellenden beschrieben ist. Er muß genauer so beschrieben werden, daß das Vorstellende auch sich selbst als ein solches identifiziert bzw. sich selbst als das Vorstellende vorstellt: »Beim Selbstbewußtsein wird das Objekt des
Zu Reinholds Theorie der inneren Bedingungen der Vorstellung vgl. Versuch, 202 f. und 227 f. 18 Versuch, 334. 19 Vgl. Versuch, 334. Vgl. hierzu näher Versuch, 285 f., 288 f. und 290 f. 20 Versuch, 304; vgl. auch 307 f. 21 Versuch, 295. 22 Versuch, 301. Vgl. hierzu auch Beiträge I, 214. 23 Versuch, 335. 17
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Bewußtseins als Identisch mit dem Subjekte vorgestellt.« 24 Die Aporie ergibt sich daraus, daß diese Forderung unter dem von Reinhold zugrundegelegten Begriff von Bewußtsein gar nicht erfüllt werden kann. Denn die Differenz zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Vorstellung ist Reinhold zufolge das Definiens des Begriffs des Bewußtseins: »Das Subjekt und Objekt sind in einem und eben demselben Bewußtsein so wesentlich verschieden, daß keines für das andere substituiert werden kann, ohne … das Bewußtsein selbst aufzuheben.« 25 So scheint gar nicht absehbar, auf welche Weise der Sachverhalt des Selbstbewußtseins unter der Bedingung des Begriffs von Bewußtsein interpretiert werden kann. Reinhold formuliert diese Aporie wie folgt: »Wie ist diese Identität bei dem Unterschiede zwischen Objekt und Subjekt, der dem Bewußtsein wesentlich ist, in einem und ebendemselben Bewußtsein, möglich?« 26
Der von Reinhold in der Folge entwickelte Lösungsvorschlag ist als der Versuch anzusehen, dem Sachverhalt des Selbstbewußtseins und der ihn definierenden Identität zwischen dem vorstellenden Subjekt und dem vorgestellten Objekt eine solche Interpretation zu geben, die es rechtfertigt, ihn als einen Fall von Bewußtsein anzusehen, in dem die Differenz der Relate, welche den Begriff des Bewußtsein definiert, gewahrt bleibt. Dies ist nach Reinhold nur dann möglich, wenn an die Stelle des Objekts des Bewußtseins diejenigen Bestimmungen treten, welche den Begriff des bloßen Vorstellens oder der Vorstellung überhaupt definieren. Die Vorstellung, in der sie vorgestellt werden, ist jene Vorstellung a priori, die Reinhold im zweiten Schritt beschrieben hat, denn deren Gegenstände sind nur die Merkmale der Vorstellung überhaupt. 27 Reinholds weitere Überlegungen gelten dem Aufweis, auf welche Weise die Vorstellung a priori in der Tat als Erklärung für die Möglichkeit von Selbstbewußtsein gelten kann. Hierfür gibt Reinhold Versuch, 335. (Hervorhebung vom Verf.) Versuch, 325. (Hervorhebung vom Verf.) 26 Versuch, 335. 27 Es ist hier anzumerken, daß Reinhold diese Vorstellung a priori später ohne Bedeutungsveränderung als »intellektuelle Anschauung« bezeichnet hat. (Vgl. Beiträge I, 399 f.) Man kann somit sagen, daß Reinholds Theorie der intellektuellen Anschauung die theoretische Grundlage dafür ist, jene Aporie im Begriff des Selbstbewußtseins aufzulösen. Vgl. Stolzenberg (1986) 40 f. 24 25
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zwei Bedingungen an. 28 Die erste Bedingung sieht Reinhold in dem Umstand gegeben, daß der Inhalt dieser Vorstellung im Bewußtsein als bestimmt gegeben ist. Da dieser Inhalt aber nichts anderes als die das Bewußtsein selber definierenden Bestimmungen umfaßt, sind in der Vorstellung a priori in der Position eines Objekts des Bewußtseins diejenigen Bestimmungen vorgestellt, die das Bewußtsein selbst ausmachen. Insofern kann Reinhold zufolge gesagt werden, daß das Bewußtsein selber das Objekt einer Vorstellung wird. Die zweite und entscheidende Bedingung soll sicherstellen, daß in dieser Vorstellung das Subjekt des Bewußtseins auch sich selbst in der Position eines Objekts vorstellt. Dies soll Reinholds Theorie der inneren Affektion erlauben. Diese Theorie ist ebenfalls die Anwendung von Bestimmungen, die Reinhold im Kontext seiner Theorie der bloßen Vorstellung bereits entwickelt hat. Um sie zu erläutern, ist von dem Begriff des Stoffs a priori auszugehen, unter dem Reinhold, wie erwähnt, denjenigen Stoff versteht, der seinen Ursprung allein im bloßen Vorstellungsvermögen hat und dem die Formen der Rezeptivität und Spontaneität entsprechen. Da der Stoff einer Vorstellung nur auf dem Wege des Affiziertwerdens dem vorstellenden Subjekte gegeben werden kann, der Stoff a priori aber nicht durch ein Affiziertwerden von außen gegeben sein kann, ist hierfür eine ›Handlung des Affizierens‹ anzusetzen, in der, so Reinhold, »die Spontaneität auf ihre eigene Rezeptivität jenen Formen gemäß wirkt.« 29 Auf diese Weise soll das, »was vorher als bloße Form im bloßen Vorstellungsvermögen vor aller wirklichen Vorstellung bestimmt war, in einer wirklichen besonderen Vorstellung als Stoff bestimmt« 30 werden. Entscheidend für Reinholds Theorie der Auflösung der Aporie des Selbstbewußtseins ist der Umstand, daß diese Handlung der Spontaneität, welche dem a priori bestimmten Stoff die Qualität eines Inhalts einer Vorstellung erteilen und ihn dadurch allererst in die Position eines Objekts einer Vorstellung bringen soll, eine dem Subjekt des Bewußtseins wesentlich zukommende Handlung ist. Sie ist es daher auch, welche eine Beziehung des Objekts auf das Subjekt allererst ermöglicht. Da diese Beziehung durch das Subjekt der Vorstellung selber geleistet wird und da das, was es da auf diese Weise auf 28 29 30
Zum folgenden vgl. Versuch, 335. Versuch, 300. Versuch, 300.
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sich bezieht, seine eigenen Vorstellungen sind und näher solche, die es selbst als das Vorstellende definieren, bezieht es sich, indem es sich auf das so bestimmte Objekt seiner Vorstellung bezieht, nach Reinhold auf sich selbst und stellt somit in der Position des Objekts sich selbst als das vorstellende Subjekt vor. Und genau dieses Verhältnis definiert für Reinhold den Begriff des Ich: »Unter dem Ich wird das vorstellende Subjekt, in wieferne es Objekt des Bewußtseins ist, verstanden.« 31
Es ist leicht zu sehen, daß diese Konstruktion nicht den Zweck erfüllt, zu dem sie entwickelt worden ist. Sie ist offenkundig zirkulär. Denn es ist gar nicht abzusehen, auf welche Weise das vorstellende Subjekt dann, wenn es eine Vorstellung von jenen es qualifizierenden Bestimmungen hat, eben darin auch eine Vorstellung davon hat, daß dies solche Bestimmungen sind, durch die es selbst als vorstellendes Subjekt qualifiziert ist, oder, was dasselbe ist, daß es diese Bestimmungen als die seinen vorstellt. Diese Information kann ihm nicht durch diese Vorstellungen erst geliefert werden. Sie muß dem Subjekt der Vorstellung, um sie auf sich beziehen und sich als die seinen zuschreiben zu können, vielmehr vorher bereits gegeben sein, und dies bedeutet, daß es zuvor bereits als Selbstbewußtsein bestimmt sein muß. Eine andere Überlegung führt ebenfalls zur Einsicht in das Scheitern von Reinholds Versuch der Erklärung des Sachverhalts des Selbstbewußtseins. Der obigen Exposition zufolge ist es Reinholds Absicht, Selbstbewußtsein dadurch als einen Fall von Bewußtsein auszuweisen, daß das bloße Vorstellen selber an die Stelle des Objekts des Bewußtseins tritt, um gerade dadurch den »Unterschied zwischen Objekt und Subjekt, der dem Bewußtsein wesentlich ist« 32, auch für das Selbstbewußtsein zu gewährleisten. Doch vereitelt diese Konzeption genau den Zweck, den sie verfolgt. Denn eben dann, wenn nicht ein von der Vorstellung unterschiedener Gegenstand, sondern nur das bloße Vorstellen dieses Gegenstandes als Objekt des Bewußtseins gesetzt wird, ist die dem Bewußtsein wesentliche Bedingung nicht erfüllt, denn das Vorgestellte ist nun gar nicht etwas von der Vorstellung Unterschiedenes, sondern eben nur das Vorstellen selber. So läßt sich sagen, daß Reinholds Versuch, dem Sachverhalt ›Selbstbewußtsein‹ den Charakter des Bewußtseins zu sichern, deswegen fehl31 32
Versuch, 336. Versuch, 335.
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schlägt, weil Reinholds Definition von Bewußtsein eine solche Interpretation gar nicht erlaubt. Denn gerade dadurch, daß an die Stelle des Objekts der Vorstellung die Bestimmungen des Vorstellens als solchen und ohne eine Beziehung auf ein Objekt gesetzt werden, entfällt der Unterschied zwischen dem Vorstellen des Objekts und diesem Objekt selber. Damit aber entfällt die den Sachverhalt ›Bewußtsein‹ definierende Struktur. Weiter ist zu sagen, daß Reinholds Konstruktion in Wahrheit auch keine Antwort auf die von ihm selbst gestellte Frage gibt. Denn die Frage, auf welche Weise im Falle des Selbstbewußtseins die Identität des Subjekts und des Objekts möglich ist, ist nicht die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis seiner selbst hinsichtlich seiner inneren Bestimmungen als eines vorstellenden Wesen. Sie ist vielmehr die Frage nach der Möglichkeit desjenigen Bewußtseins, welches das Subjekt des Bewußstseins von sich selbst als einem solchen hat, und das heißt, unabhängig von seiner bewußten Beziehung auf deskriptive Bestimmungen seiner selbst als eines vorstellenden bzw. erkennenden Subjekts. Offenkundig in diesem Sinn hat Reinhold auch den Begriff des Selbstbewußtseins eingeführt. »Das Selbstbewußtsein ist«, so Reinhold, »das Bewußtsein des Vorstellenden als eines solchen, das darin eben nur das Vorstellende selbst zum Gegenstande hat«, oder, wie es an einer anderen Stelle heißt, bei dem das »Gemüt sich keines anderen Gegenstandes außer seiner selbst bewußt ist.« 33 Die Möglichkeit des Bewußtseins dieser Identität versuchte Reinhold aufzuklären. Das, was Reinhold im Rahmen seiner Theorie des Selbstbewußtseins thematisiert hat, und wozu er aufgrund seines bewußtseinstheoretischen Modells in Wahrheit auch nur im Stande war, ist das Zustandekommen der Erkenntnis, die das vorstellende Subjekt von sich, und das heißt von seinen wesentlichen inneren Bestimmungen hat. Die Bedingung, unter der diese Selbsterkenntnis möglich ist, ist aber gerade jene Identität des Subjekts und des Objekts, die Reinhold als erster Theoretiker des Selbstbewußtseins nach Kant zwar als problematisch erkannt, deren Problematik er jedoch nicht aufzulösen vermocht hat. Mit dieser Darstellung ist Reinholds Theorie des Selbstbewußtseins jedoch noch nicht erschöpft. Ihren systematischen Ort innerhalb der Theorie des Erkenntnisvermögens findet sie erst in der Theorie der Vernunft. Denn, so führt Reinhold aus, weil auf das vor33
Versuch, 333. (Hervorhebung vom Verf.)
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stellende Ich das Merkmal des Subjekts durch keine Anschauung bezogen werden kann, kann es als Subjekt des Vorstellungsvermögens nur durch Vernunft vorgestellt werden bzw. sich selbst vorstellen. Als solches repräsentiert es »die unbedingte subjektive Einheit der Vorstellung« und kann aufgrund dieses Status auch als »absolutes Subjekt« 34 bezeichnet werden. Auf diesen Teil der Theorie Reinholds ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht näher einzugehen. Denn es ist nicht Reinholds Theorie der Vernunft, und auch nicht Reinholds Rekonstruktion des Zustandekommens der Erkenntnis seiner selbst, die für Hölderlins Interpretation von Fichtes Begriff des absoluten Ich der Sache nach von systematischer Bedeutung ist. Hölderlins Interpretation und ihr Verhältnis zu Reinhold ist der Sache nach vielmehr so zu beschreiben, daß Hölderlin den Sachverhalt des Selbstbewußtseins in eben der Weise, in der Reinhold ihn exponiert und als theoretisch problematisch erkannt hat, beschreibt und problematisiert. Hölderlins Vorschlag zur Lösung dieses Problems unterscheidet sich jedoch auf eine prinzipielle Weise von der Konzeption Reinholds: Hölderlins Vorschlag führt zur Preisgabe des von Reinhold propagierten Paradigmas des Bewußtseins als eines letzten und universalen Grundes philosophischer Theorie zugunsten eines neuen, nicht mehr unter der Formbestimmtheit von Bewußtsein fallenden, als »Sein schlechthin« gefaßten letzten Grundes. Auf welche Weise Hölderlin diese Konzeption in seinem Manuskript Urteil und Sein entwickelt hat, und auf welche Weise er der Meinung sein konnte, damit zugleich eine Kritik an Fichtes Begriff des absoluten Ich formuliert zu haben, ist nun zu untersuchen.
2. Hölderlins Interpretation und Kritik von Fichtes Begriff des absoluten Ich Die Überlegungen, die Hölderlin in seinem Manuskript Urteil und Sein 35 zum Begriff des Ich entwickelt hat, lassen sich in vier Schritte Versuch, 530. – Zu Reinholds Begriff des absoluten Subjekts vgl. ferner Versuch, 522, 526. 35 Zu Hölderlins Urteil und Sein grundlegend: Dieter Henrich, Hölderlin über Urteil und Sein. Eine Studie zur Entstehungsgeschichte des Idealismus, in: Hölderlin-Jahrbuch 14 (1965/66), 73–96. Vgl. ferner die der philosophie-historischen und systematischen Bedeutung von Urteil und Sein gewidmete, weit ausgreifende Untersuchung von Henrich (1993) 40 f. und 425 f. 34
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unterteilen. Der erste Schritt interpretiert den epistemischen Status des Begriffs des Ich. Der zweite Schritt analysiert die logischen Bedingungen dieses Begriffs. Der dritte Schritt formuliert ein Problem, das sich aus dieser Analyse ergibt. Ein vierter Schritt läßt sich als Entwurf zur Lösung dieses Problems interpretieren. Aus Hölderlins Korrektur der zunächst niedergeschriebenen Frage »Darf ich sagen: Ich! ohne Selbstbewußtsein?« in die Frage »Wie kann ich sagen: Ich! ohne Sellbstbewußtsein?« 36 ist mit Eindeutigkeit der rhetorische Charakter der letzteren Frage zu schließen. Das bedeutet, daß mit ihr die analytische Implikation des Begriffs des Ich und des Selbstbewußtseins behauptet wird. Der Gehalt dieser Behauptung läßt sich dann näher dahingehend bestimmen, daß sie eine Behauptung über den spezifischen epistemischen Status des Begriffs des Ich darstellt: Dieser Status ist durch den Begriff des Bewußtseins bestimmt. Die Bedeutung, die dieser Behauptung für den weiteren Gang der Überlegung Hölderlins zukommt, wird aus ihrer argumentationslogischen Funktion verständlich: Sie besteht darin, den Grund für die Gültigkeit der Aussage nachzutragen, die der zitierten Frage vorausgeht. Diese Aussage lautet: »Das Ich ist nur durch … Trennung des Ichs vom Ich möglich.« 37 Diese Aussage ist offensichtlich eine Aussage über die formale Bedingung des als Selbstbewußsein bestimmten Begriffs des Ich. Diese Bedingung wird als »Trennung« bestimmt. Diejenige Theorie, welche »Trennung« als formale Bedingung von Bewußtsein auszeichnet, ist Reinholds Theorie des Bewußtseins. Denn die Unterscheidung – in anderen Kontexten spricht Reinhold auch von »Trennung« – des Objekts des Bewußtseins von dem Subjekt vermittels der Unterscheidung beider von der Vorstellung ist das Definiens von Bewußtsein in Reinholds Theorie des Vorstellungsvermögens: »Man ist durch das Bewußtsein genötigt, darüber einig, daß zu jeder Vorstellung ein vorstellendes Subjekt und ein vorgestelltes Objekt gehöre, welche beide von der Vorstellung, zu der sie gehören, unterschieden werden müssen.« 38 Es ist offenkundig, daß Reinhold mit dieser Erklärung dem basalen Sachverhalt einen begrifflichen Ausdruck zu geben versucht, daß Bewußtsein zum einen durch eine Instanz gekennzeichnet ist, welche 36 37 38
StA IV, 217, 4. StA IV, 217, 3/4. Versuch, 225.
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den Inhalt oder den Gegenstand bezeichnet, von dem in einer Vorstellung Bewußtsein vorliegt, und zum anderen durch eine Instanz, der dieser Inhalt in einer Vorstellung bewußt ist. Daß dies der Sinn der für den Begriff des Bewußtseins konstitutiven formalen Bedingung der Unterscheidung ist, geht auch aus der folgenden Erklärung Reinholds hervor: »Das, was sich bewußt ist, heißt das Subjekt des Bewußtseins; wessen es sich bewußt ist, der Gegenstand des Bewußtseins.« 39 Das Kriterium dieser Unterscheidung läßt sich durch Verweis auf die prinzipielle Unvertauschbarkeit beider Momente präzisieren. Denn das Subjekt des Bewußtseins ist als solches durch eine prinzipiell andere Relation zu dem bewußten Inhalt ausgezeichnet als dieser zu jenem: Nicht das Subjekt ist dem Inhalt, sondern der Inhalt ist dem Subjekt bewußt. Diesem Kriterium trägt die folgende Erklärung Reinholds denn auch Rechnung: »Das Subjekt und das Objekt des Bewußtseins sind in einem und ebendemselben Bewußtsein so wesentlich verschieden, daß keines für das andere substituiert werden kann, ohne … das Bewußtsein selbst aufzuheben.« 40 Aufgrund dieser Parallelen kann gesagt werden, daß Hölderlins Angabe der formalen Bedingung des Begriffs des Selbstbewußtseins als »Trennung« im Rahmen von Reinholds Theorie des Bewußtseins erfolgt. 41 Nun ist sofort zu sehen, daß diese Angabe unvollständig ist. Nicht berücksichtigt ist diejenige formale Bedingung, durch die allererst Versuch, 225. Versuch, 225. 41 Hölderlins Vertrautheit mit der Philosophie Reinholds ist aus einem Brief an Friedrich Immanuel Niethammer belegt, in dem Hölderlin von seiner erneuten Beschäftigung mit der Philosophie berichtet und erwähnt, sich »Kant und Reinhold vorgenommen« zu haben. (Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Bd. 17: Frühe Aufsätze und Übersetzungen, hg. von Michael Franz, Stroemfeld, Basel 1991, 70). Dieser Brief ist zwar vom 26. Februar 1796 datiert und damit nach der Niederschrift von Urteil und Sein, die im April 1795 erfolgte: doch lassen frühere Texte Hölderlins, so sein Magisterspecimen Parallele zwischen Salomons Sprüchwörtern und Hesiods Werken und Tagen, aufgrund der in ihnen verwendeten Begriffe wie der von ›Stoff‹ und ›Form‹, die für die Philosophie Reinholds zentral sind, auf eine frühe Bekanntschaft mit Reinhold schließen. Dies bestätigt die Tatsache, daß Reinhold weithin als verläßlicher Interpret der kantischen Philosophie galt und beim Studium der Philosophie Kants oft und gerne herangezogen wurde. Auch Fichte hat Kants theoretische Philosophie bekanntlich in der Vermittlung Reinholds studiert, wie sein Manuskript Bei Lesung der K. Kr. d. f. Vft. belegt (Johann Gottlieb Fichte, Bei Lesung der K. Kr. d. r. Vft., in: J. G. FichteGesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1967, Abt. II, Bd. 2; 327–328.) 39 40
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einem vom Subjekt unterschiedenen Objekt des Bewußtseins die Qualität von bewußt zu sein, zugesprochen werden kann. Diese Bedingung ist in einer ebenso formalen Weise als Beziehung des Subjekts auf den Inhalt zu bezeichnen, durch die dieser überhaupt erst ein Inhalt für das Subjekt, d. h. zu einem vom Subjekt vorgestellten Inhalt werden kann. Diese Bedingung macht auch Reinhold in dem schon zitierten Kontext namhaft: »Durch das Beziehen der Vorstellung auf den Gegenstand ist sich das Subjekt etwas bewußt … Dieses Etwas ist in jedem Bewußtsein der Gegenstand des Bewußtseins« 42, und an einer anderen Stelle heißt es: »Nur durch das Bezogenwerden wird wirklich vorgestellt, d. h. dem Subjekte ein Objekt vergegenwärtiget.« 43 Wendet man sich nach diesen Erklärungen wieder dem Text Hölderlins zu, dann besteht der Fortgang des Raisonnements offensichtlich in der Anwendung dieser zweiten formalen Bedingung von Bewußtsein auf den Begriff des Selbstbewußtseins. Denn im Anschluß an die Frage: »Wie ist aber Selbstbewußtsein möglich?« wird zunächst die bereits genannte Bedingung der Trennung bzw. der Unterscheidung wiederholt und sodann in einem zweiten Schritt durch die Bedingung der Beziehung des Subjekts des Bewußtseins auf den von ihm unterschiedenen Gegenstand ergänzt. Die Anwendung dieser Bedingung auf die Rekonstruktion des Begriffs des Selbstbewußtseins ist dann so zu formulieren, daß das Subjekt des Bewußtseins durch seine Beziehung auf das von ihm unterschiedene Objekt ein Bewußtsein davon hat, daß es mit diesem Objekt identisch ist. Diese Rekonstruktion der formalen Bedingung von Selbstbewußtsein unter der Formbestimmtheit von Bewußtsein lautet in der Formulierung Hölderlins: »Wie ist aber Selbstbewußtsein möglich? Dadurch daß ich mich mir selbst entgegenseze, mich von mir trenne, aber ungeachtet dieser Trennung mich im entgegengesezten als dasselbe erkenne.« 44
Es bedarf kaum eines Nachweises, daß diese Rekonstruktion mit Reinholds Erklärung des Begriffs des Selbstbewußtseins der Sache nach identisch ist. Denn Reinhold zufolge wird im Selbstbewußtsein das vorstellende Subjekt das Objekt einer von ihm als Subjekt unterschiedenen Vorstellung, welche »durch ihr Bezogenwerden [auf das
42 43 44
Versuch, 325. Beiträge I, 219. StA IV, 217, 5/6.
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Selbstbewußtsein ein Problem der Philosophie nach Kant
Objekt – Zus. v. V.] das Selbstbewußtsein [ausmacht], dessen Gegenstand durch das Wort Ich bezeichnet wird.« 45 Und ebenso wie Reinhold formuliert Hölderlin nun auch die Frage, auf welche Weise die zuvor behauptete Identität verstanden werden kann: »Aber in wieferne als dasselbe?« 46 Diese Frage hatte Reinhold so formuliert: »Beim Selbstbewußtsein wird das Objekt des Bewußtseins als identisch mit dem Subjekte vorgestellt. Wie ist diese Identität bei dem Unterschiede zwischen Objekt und Subjekt, der dem Bewußtsein wesentlich ist, in einem und ebendemselben Bewußtsein möglich?« 47, und ebenso wie Reinhold begründet Hölderlin die Unabweisbarkeit dieser Frage durch den Verweis auf die für den Sachverhalt des Bewußtseins wesentliche Form der Unterscheidung: »Ich kann ich muß so fragen, denn in einer andern Rüksicht ist es sich entgegengesezt.« 48 Hölderlin hat den Sinn seiner Frage nicht näher erläutert. Der als Begründung der Unabweisbarkeit der Frage gemeinte Verweis auf die Differenz zwischen der Position des Subjekts und des Objekts des Bewußtseins ließe sich zunächst so verstehen, daß die darin implizierte Unvertauschbarkeit beider Positionen der Grund dafür ist, daß die Position des Subjekts und des Objekts als dasjenige, dem etwas bewußt ist, selber nicht in die Position des Inhalts oder des Gegenstandes des Bewußtseins als dasjenige, das einem bewußt ist, gebracht werden kann, wie es im Falle des Selbstbewußtseins zu fordern ist. Doch kann dies kaum das Irritierende für Hölderlin gewesen sein. Denn Hölderlin geht offenkundig davon aus, daß das Ich selber Inhalt des Bewußtseins sein kann, und dies mit Recht, denn diese Annahme ist mit der behaupteten Unvertauschbarkeit der Relate durchaus vereinbar. Denn die Annahme, daß das Ich selber Inhalt des Bewußtseins sein kann, bedeutet ja nicht, daß damit die Relate so vertauscht sind, daß das Ich nun einem Inhalt bewußt wäre, sondern sie bedeutet nur, daß das Ich eben sich selbst als demjenigen Subjekt bewußt ist, welches der Bezugspunkt für den Status des Bewußtseins von etwas ist. Das für Hölderlin Irritierende und als problematisch Empfundene muß man dann vielmehr darin sehen, daß unklar ist, auf welche Weise aus dieser Beziehung eine Erklärung der Möglichkeit des Bewußt45 46 47 48
Versuch, 326. StA IV, 217, 8/9. Versuch, 335. StA IV, 217, 8/9.
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seins der Identität, das im Selbstbewußtsein impliziert ist, gewonnen werden kann, und das heißt, auf welche Weise in dieser Beziehung eine Beziehung des Subjekts des Bewußtseins auf sich selbst, und das heißt, ein Bewußtsein davon möglich sein kann, daß es sich in der Beziehung auf seinen von ihm unterschiedenen Gegenstand nur auf sich selbst als Subjekt des Bewußtseins bezieht. Ein Grund, warum dies nicht eingesehen werden kann, ist dem Text Hölderlins ebenfalls nicht direkt zu entnehmen. Er ist jedoch in der bisher explizierten Struktur enthalten. Denn sie scheint nun zu dem Paradox zu führen, daß das Subjekt des Bewußtseins gerade in der Beziehung auf die Position des von ihm unterschiedenen Gegenstandes ein Bewußtsein von sich selbst, und das heißt ein Bewußtsein von sich selbst als demjenigen, von dem jeder Gegenstand des Bewußtseins unterschieden ist und auf das er als ein solcher auch bezogen ist, erlangen soll. Ein weiterer, von Hölderlin nicht wahrgenommener Grund läßt sich in dem angeben, was gemeinhin unter dem Problem der zirkulären Beschreibung von Selbstbewußtsein bekannt und eine Folge des von Hölderlin mit Reinhold in Ansatz gebrachten Modells von Bewußtsein ist. Geht man nämlich von diesem Modell aus, dann soll das Identitätsbewußtsein, das das Selbstbewußtsein wesentlich ausmacht, in der Beziehung des Subjekts auf das von ihm unterschiedene Objekt des Bewußtseins zustande kommen. Inwiefern aber, so ist nun mit Hölderlin zu fragen, kann das Subjekt sich in dem Entgegensetzten als dasselbe erkennen? Diese Erkenntnis kann ihm nicht aus der bewußten Präsenz des ihm entgegensetzten Objekts zuwachsen, und nur dies ist ihm gegeben, denn in dessen Präsenz kann nicht zugleich die Information enthalten sein, daß es mit dem es repräsentierenden Subjekt identisch ist. Das Zustandekommen dieses Identitätsbewußtseins kann somit entweder gar nicht erklärt werden, oder es muss schon in der Position des Subjekts als dessen wesentliche Bestimmung vorausgesetzt werden. Doch sollte diese Bestimmung allererst verständlich gemacht werden. So führt die Theorie vom Bewußtsein, der Hölderlin mit Reinhold folgt, dann, wenn sie das Zustandekommen von Selbstbewußtsein verständlich machen will, in den Zirkel, das voraussetzen zu müssen, was erklärt werden soll; damit erklärt sie aber genau das nicht, was erklärt werden soll. Daß diese Problematik von Hölderlin nicht erkannt worden ist, ist auch dem Fortgang der Überlegungen zu entnehmen. Zunächst scheint es so zu sein, daß Hölderlin keine positive Auskunft über die 62 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
Selbstbewußtsein ein Problem der Philosophie nach Kant
Bedeutung der in Frage stehenden Identität gibt. Seine Absicht scheint vielmehr allein darin zu bestehen, die prinzipielle Differenz zwischen der das Selbstbewußtsein charakterisierenden Identität und jener Vereinigung von Subjekt und Objekt, die nach Hölderlin schlechthin stattfindet, und von der der Abschnitt über das Sein handelt, deutlich zu machen und damit nur die These zu begründen, mit der der Abschnitt eingeleitet wird, daß »dieses Sein … nicht mit der Identität verwechselt werden« 49 darf. Folgt man aber dem weiteren Gang des Textes, dann läßt sich aus ihm eine Interpretation entwickeln, die als Anzeige darauf verstanden werden könnte, daß Hölderlin versucht hat, zu einer Verständigung über die Möglichkeit des Begriffs der in Frage stehenden Identität zu gelangen. Dies ist in der Explikation der These zu sehen, daß »im Begriffe der Teilung … der Begriff der gegenseitigen Beziehung des Objekts und des Subjekts aufeinander« impliziert sei und ebenso »die notwendige Voraussetzung eines Ganzen, wovon Objekt und Subjekt Teile sind.« 50 Diese These ließe sich als eine weitere Stufe der Explikation der logischen Bedingungen des Begriffs des Selbstbewußtseins auffassen. Der Begriff der Identität erschiene dann durch die Logik der gegenseitigen Beziehung von Subjekt und Objekt im Selbstbewußtsein aufeinander erklärt, die nach Hölderlin im Begriff der Teilung notwendig impliziert ist. Es wäre dann zu sagen, daß die Teilung die gegenseitige Beziehung nicht negiert, sondern vielmehr als eine solche Beziehung zwischen den Relaten zu verstehen ist, durch sie explizit gemacht und dadurch deren Identität allererst zu Bewußtsein gebracht werden kann. Der zweite Teil des Satzes erschiene dann als eine Bestätigung dieser Lesart, insofern der Begriff der Teilung mit der in ihm implizierten »gegenseitigen Beziehung des Objekts und des Subjekts aufeinander« auch »die notwendige Voraussetzung eines Ganzen« impliziert, »wovon Objekt und Subjekt die Teile sind«. Dieses Ganze wäre derjenige Einheitszusammenhang, durch den der Begriff des Selbstbewußtseins nur konsistent zu interpretieren wäre. Es ist offenkundig, daß mit dieser Darstellung Reinholds Modell von Bewußtsein als Grundlage der Interpretation von Selbstbewußtsein in Kraft bleibt. Der Ausdruck »gegenseitige Beziehung des Objekts und Subjekts aufeinander« wäre als Umschreibung jener dop49 50
StA IV, 216, 28. StA IV, 216, 7/8.
63 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
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pelten Beziehung des Unterscheidens und Beziehens zu verstehen, von der Reinhold durchgängig als den konstitutiven Momenten von Bewußtsein spricht. Und das Ganze, »wovon Objekt und Subjekt die Teile sind«, wäre nur eine andere Beschreibung desjenigen komplexen Einheitszusammenhangs, den Reinhold für das Bewußtsein als konstitutiv angesehen hat, und von dem Subjekt und Objekt in der Tat die unterschiedenen Teile sind. Es ist aber ebenso offenkundig, daß die Anwendung dieses Modells auf die Interpretation von Selbstbewußtsein das Dilemma der Begründung der Möglichkeit des Identitätsbewußtseins weiterhin unaufgelöst bestehen läßt. Denn Selbstbewußtsein soll nicht nur als ein notwendiger Einheitszusammenhang formal differenter Momente dargestellt werden, sondern es soll als ein solcher Einheitszusammenhang dargestellt werden, für den das Bewußtsein der Identität der Relate konstitutiv ist. Dieses Bewußtsein ist aber mit den Mitteln des von Reinhold eingesetzten Modells von Bewußtsein, wie zu sehen war, nicht zu erklären. Es ist aber noch eine andere Interpretation möglich. Diese Interpretation versteht Hölderlins These, daß im Begriff der Teilung analytischerweise »schon der Begriff der gegenseitigen Beziehung des Objekts und des Subjekts aufeinander und die notwendige Voraussetzung eines Ganzen, wovon Objekt und Subjekt die Teile sind«, liege, als eine These über das logische Verhältnis des Begriffs des Selbstbewußtseins zu dem von ihm prinzipiell unterschiedenen Begriff des Seins als absoluter Vereinigung des Subjekts und des Objekts. Dieser These zufolge ist die Rede von einer Trennung und einer gegenseitigen Beziehung der Teile nur sinnvoll mit Bezug auf eine Einheit, die dieser Teilung und Beziehung insgesamt vorauszusetzen ist und in der die Teile in einer ursprünglichen, in einer »intellectualen Anschauung« zugänglichen Vereinigung vorhanden sind. Während die erste Interpretation das Verhältnis von Selbstbewußtsein und Sein nur als eine äußerliche Zuordnung von zwei hinsichtlich ihrer formalen Verfassung unterschiedenen Einheitsformen des subjektiven und objektiven Moments aufzufassen vermag, die für die Aufklärung der logischen Verfassung des Begriffs des Selbstbewußtseins als solchen keine weitere Bedeutung hat, sieht die zweite Interpretation in dieser Überlegung auch das Bewußtsein des notwendigen Zusammenhangs beider Einheitsformen gerade aus der Einsicht in die problematische Verfassung von Selbstbewußtsein zum Ausdruck gebracht. Genau dieses Bewußtsein kann die zweite Interpretation auch als die systematisch entscheidende Pointe von Hölderlins Gedankengang 64 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
Selbstbewußtsein ein Problem der Philosophie nach Kant
ansehen. Das bedeutet für den gegenwärtigen Zusammenhang: Während Reinhold das Problem der Begründung der Möglichkeit des Bewußtseins der Identität mit sich mithilfe desjenigen Modells von Bewußtsein zu lösen suchte, das dieses Problem verursacht hat und daher, wie zu zeigen war, mit diesem Versuch scheitert, hat Hölderlin in Wahrheit dieses Modell als prinzipiell unzureichend für die Interpretation von Selbstbewußtsein erkannt und die Möglichkeit einer solchen Interpretation an die Existenz einer davon unterschiedenen Einheitsform gebunden, in der gleichsam die Urform derjenigen Identität gegeben ist, die im Begriff des Selbstbewußtseins gefordert ist, die aber dann, wenn er unter der Formbestimmtheit von Bewußtsein entwickelt wird, aus dieser Formbestimmtheit allein gar nicht begriffen werden kann. Gleichwohl läßt sich nicht sagen, daß mit dieser Interpretation auch einsichtig gemacht werden kann, auf welche Weise das Bewußtsein der Identität des Subjekts mit sich zustandekommen kann. Hölderlins Frage: »Aber in wieferne als dasselbe?« muß mit ihr dahingehend beantwortet werden, daß ich mich in der Beziehung auf das mir entgegengesetzte Objekt des Bewußtseins nur insofern als dasselbe erkennen kann, als ich darin zugleich erkenne, daß dieses Entgegengesetzte seinen Grund in einem solchen Ganzen hat, in der es mit dem anderen Moment in einer schlechthinnigen Vereinigung vorhanden ist. Genau darin liegt aber auch das Unzureichende dieser Antwort. Denn es ist gar nicht abzusehen, auf welche Weise eine solche Erkenntnis zustande kommen kann. Sie wäre als eine Einheit von Selbstbewußtsein, das als ein Fall von Bewußtsein auf der Ebene der ›Urteilung‹ anzusiedeln ist, und intellektualer Anschauung, durch die jene schlechthinnige Vereinigung repräsentiert werden soll, zu beschreiben. Auf welche Weise aber eine solche Einheit zu denken ist, sagt Hölderlins Text nicht. Anders gesagt: Daß die Einsicht, daß im Begriff der Teilung einerseits der Begriff der gegenseitigen Beziehung des Subjekts und des Objekts aufeinander, andererseits die notwendige Voraussetzung eines Ganzen im Sinne des ursprünglichen Seins liegt, eine Einsicht ist, die dem Selbstbewußtsein selber zugeschrieben werden kann, macht der Text selber auf keine Weise verständlich. 51 Dann aber, so muß man schließen, bleibt Hölderlins zentrale
Dieser Frage ist Dieter Henrich in seiner o. g. Untersuchung Der Grund im Bewußtsein in systematischen Überlegungen zum Verhältnis von Selbstbewußtsein
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Jürgen Stolzenberg
Frage, die Frage »Aber in wieferne als dasselbe?« in diesem Text ohne Antwort. Es ist in der Hölderlin-Forschung eine relativ späte, aber richtige Einsicht, daß Hölderlins Interpretation des Begriffs des Ich, sofern sie sich als eine Fichte-Interpretation versteht, eine Fehlinterpretation ist. Denn Fichte hat seinem Begriff des absoluten Ich genau diejenige formale Verfassung und die systematische Funktion zugesprochen, die Hölderlin für jenes »Sein schlechthin« behauptet. Dies folgt aus Fichtes eigener Verwendung des Begriffs der intellektuellen Anschauung. Mit ihm ist in der Übereinstimmung mit Hölderlin eine solche Einheitsform der Momente des Subjektiven und Objektiven bezeichnet, die nicht unter der Formbestimmtheit von Bewußtsein zu interpretieren ist. Einer der Gründe für diese Konzeption folgt aus Fichtes kritischer Analyse der Folgen eben desjenigen Paradigmas des Bewußtseins, das Hölderlin mit Reinhold zur Interpretation des Begriffs des Ich in Einsatz gebracht hat. Sie ist insofern der Sache nach als eine Antwort auf Hölderlins Frage: »Aber in wieferne als dasselbe?« zu verstehen, die sich aus der Anwendung dieses Paradigmas auf den Begriff des Selbstbewußtseins ergab. Fichte geht hierbei von der Implikation von Gegenstandsbewußtsein und Selbstbewußtsein aus: »Jedes Objekt kommt zum Bewußtsein lediglich unter der Bedingung, daß ich auch meiner selbst, des bewußtseienden Subjekts, mir bewußt bin.« 52 Denn, so ist die Begründung zu ergänzen, um überhaupt Bewußtsein von einem vom Subjekt unterschiedenen Objekt als einem solchen haben zu können, muß das Subjekt sich selbst in bewußter Weise auf sich beziehen. »Aber«, so fährt Fichte fort, »in diesem Selbstbewußtsein bin ich mir selbst Objekt, und es gilt von dem Subjekte [der Beziehung – Zus. v. Vf.] zu diesem Objekte abermals, was von dem vorigen galt; es wird Objekt und bedarf eines neuen Subjekts usf. ins Unendliche. In jedem Bewußtsein also wurde Subjekt und Objekt voneinander geschieden und jedes als ein besonderes betrachtet; dies war der Grund, warum uns das Bewußtsein unbegreiflich ausfiel« 53. Da das Phänomen des Objektbewußtseins und damit auch das des und Sein, die weit über Hölderlins Text hinausweisen, nachgegangen. Vgl. Henrich (1993) 645 ff. 52 Vgl. zum Folgenden Johann Gottlieb Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werk, hg. von Immanuel Hermann Fichte, De Gruyter, Berlin 1971, Bd. I, 526 f. Im folgenden mit »W I« und Seitenzahl zitiert. 53 W I, 527.
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Selbstbewußtsein ein Problem der Philosophie nach Kant
Selbstbewußtseins unbestreitbar sind, muß die Theorie, die dieses Problem generiert, revidiert werden, und das heißt für Fichte: »Es gibt ein Bewußtsein, in welchem das Subjektive und das Objektive gar nicht zu trennen, sondern absolut eins und dasselbe sind.« 54 Diese Einheitsform bezeichnet Fichte wenig später, darin mit Hölderlin übereinstimmend, als »intellektuelle Anschauung.« 55 Mit Hölderlin nicht übereinstimmend ist die Tatsache, daß Fichte diese Einheitsform als ein unmittelbares Selbstverhältnis faßt und durch den Begriff des Ich bezeichnet. So zeichnet sich in der ersten Phase der Entwürfe einer Theorie des Selbstbewußtseins in der Philosophie nach Kant die folgende Konstellation ab: Indem Hölderlin dem fichteschen Begriff des absoluten Ich, den er nach Maßgabe von Reinholds Modell des Bewußtseins interpretiert, die Position eines »Seins schlechthin« vorordnet, verhält sich Hölderlin zu Fichte wie Fichte zu Reinhold, dessen »Satz des Bewußtseins« Fichte mit seinem Begriff des absoluten Ich überboten hatte, dies aber mit dem entscheidenden Unterschied, daß Hölderlin Fichte auf eine sachlich unangemessene Weise interpretiert und kritisiert und sich damit mit Bezug auf Fichte noch einmal zu dem berechtigt sehen konnte, was Fichte mit Bezug auf Reinhold bereits unternommen hatte: zur Überwindung des Paradigmas des Bewußtseins und seiner philosophischen Theorie.
3. Fichtes indirekte Antwort auf Hölderlin und Reinhold An diesem Punkt der Überlegungen ist noch einmal auf Fichte zurückzukommen. Neuere Forschungen 56 haben zu der Erkenntnis geführt, daß bereits vor der Ankunft Fichtes in Jena Reinholds Überzeugung in Frage gestellt worden war, daß die Philosophie ihre systematische Verfassung und die Lösung ihrer Probleme aus einem einzigen Grundsatz gewinnen kann. Man muß annehmen, daß Fichte in Zürich von dieser vor allem von Niethammer und seinem Kreis geführten Debatte keine Kenntnis hatte. Denn das GrundlegungsproW I, 527. W I, 530. 56 Vgl. Dieter Henrich, Konstellationen, Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Klett-Cotta, Stuttgart 1991, darin: »Die Erschließung eines Denkraums. Bericht über ein Forschungsprogramm zur Entstehung der Klassischen deutschen Philosophie nach Kant in Jena 1789–1795«, 217 f. und die in Anm. 2 genannte Arbeit von Sven Bernecker/Stamm (1994). 54 55
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gramm der Wissenschaftslehre, das Fichte in Zürich in seinen Eignen Meditationen über ElementarPhilosophie zum ersten Mal ausgearbeitet und mit nur wenigen Korrekturen in die Grundlage von 1794 übernommen hat, ist ganz auf die Überbietung Reinholds und die Exposition eines neuen obersten Grundsatzes konzentriert. Man wird aber auch annehmen können, daß Fichte in Jena sehr bald mit den avanciertesten Positionen der Debatte um Begründungsprobleme der Philosophie bekannt geworden ist. Daß Fichte dieser Kritik sehr bald auf eigene Weise Rechnung getragen hat, zeigt die neue Darstellung der Wissenschaftslehre, die er vom Wintersemester 1796/97 an vorgetragen hat. 57 Das erste Zeugnis, das eine veränderte Systematik der Wissenschaftslehre erkennen läßt, ist Fichtes Schrift gegen Schmid. Sie erschien 1796 im 12. Heft des von Friedrich Immanuel Niethammer herausgegebenen Philosophischen Journals. 58 Hier ist nicht mehr von Grundsätzen die Rede, sondern von der Analyse des Gedankens »Ich« und der für ihn wesentlichen Identität von Subjekt und Objekt. 59 Weiter heißt es: »Aus dieser Identität nun, und aus ihr allein, so daß man nicht das mindeste hinzusetzen braucht, geht die ganze Philosophie hervor.« 60 Anders als in der Wissenschaftslehre von 1794/95 ergibt sich der systematische Gang somit indirekt aus der Analyse dieser ursprünglichen Identität, »wodurch sie geteilt wird, mithin in der Analyse erscheint als mehrere Handlungen.« 61 Damit ist eine formale Konzeption vorhanden, die derjenigen Hölderlins in Urteil und Sein verwandt ist; der entscheidende Unterschied zu Hölderlin besteht darin, daß Fichte jene Identität von Subjekt und Objekt nicht wie Hölderlin als »Sein«, sondern weiterhin als »Ich« bezeichnet. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang In einem späten Brief distanzierte sich Fichte denn auch explizit von der äußeren Form seiner ersten Wissenschaftslehre. So schreibt Fichte 1801 an Friedrich Johannsen: »Meine gedruckte Wissenschaftslehre trägt zu viele Spuren des Zeitraums, in dem sie geschrieben, und der Manier zu philosophieren, der sie der Zeit nach folgte.« (GA I, 2; 187) Man darf annehmen, daß »die Manier zu philosophieren« das Philosophieren aus einem obersten Grundsatz im Anschluß an Reinhold meint. 58 Johann Gottlieb Fichte, Vergleichung des vom Herrn Prof. Schmid aufgestellten Systems mit der Wissenschaftslehre [EA 1796], in: Fichtes Werk, hg. von Immanuel Hermann Fichte, De Gruyter, Berlin 1971, Bd. II, 421 f. Im Folgenden mit »W II« und Seitenzahl zitiert. 59 W II, 442 f. 60 W II, 444. 61 W II, 444. 57
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Selbstbewußtsein ein Problem der Philosophie nach Kant
Fichtes System der Sittenlehre von 1798 zu. Vor dem Hintergrund der bisher vorgetragenen Überlegungen sind die folgenden Beobachtungen von Interesse: Fichtes Beschreibung des obersten Prinzips weist eine auffällige terminologische Nähe zu Hölderlins Text über Urteil und Sein auf. So beschreibt Fichte das oberste Prinzip als den Punkt, »in welchem das Objektive und das Subjektive überhaupt nicht geschieden, sondern ganz Eins sind.« 62 Ferner fällt im weiteren Text die häufige Verwendung des Ausdrucks »Trennung« 63 zur Bezeichnung des formalen Grundcharakters von Bewußtsein auf, und als komplementärer Ausdruck findet sich am Beginn der Sittenlehre auch der Ausdruck »Vereinigung« 64. Für das Verhältnis Fichtes zu Hölderlins Konzeption der Grundlage der Philosophie in Urteil und Sein enthält Fichtes Zuordnung des Begriffs des Ich zu dem des Selbstbewußtseins eine entscheidende Bedeutung: Diese Zuordnung ist mit dem von Hölderlin skizzierten Verhältnis von Selbstbewußtsein und Sein identisch. Die erste diesbezügliche Stelle lautet im Anschluß an die zitierte Erklärung zum Begriff der Ichheit wie folgt: »Diese absolute Identität des Subjekts und Objekts im Ich läßt sich nur schließen, nicht etwa unmittelbar als Tatsache des wirklichen Bewußtseins nachweisen. Wie ein wirkliches Bewußtsein entsteht, sei es auch nur das Bewußtsein unserer selbst, erfolgt die Trennung. Nur inwiefern ich mich, das bewußtseiende von mir, dem Gegenstande dieses Bewußtseins, unterscheide, bin ich mir meiner bewußt.« 65 Noch enger an Hölderlins Text scheint sich die folgende Erklärung Fichtes anzuschließen: »Um mir nur sagen zu können: Ich, bin ich genötigt, zu trennen; aber auch lediglich dadurch, daß ich dies sage, und indem ich dies sage, geschieht die Trennung. Das Eine, welches getrennt wird, das sonach allem Bewußtsein zum Grunde liegt, und zufolge dessen das subjektive und das objektive im Bewußtsein unmittelbar als Eins gesetzt wird, ist absolut = X, kann, als einfaches, auf keine Weise zum Bewußtsein kommen.« 66 Geht man von diesen Erklärungen Fichtes aus der Einleitung in die Sittenlehre aus, dann läßt sich sagen, daß in ihnen eine indirekte Antwort auf Hölderlins Überlegungen, wie sie aus dem Manuskript über
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W IV, 1. W IV, 5 ff. W IV, 8. W IV, 1. W IV, 5. (Hervorhebung vom Verfasser)
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Urteil und Sein bekannt sind, enthalten ist. Zunächst ist festzuhalten, daß Fichte dieselbe systematische Zuordnung von Selbstbewußtsein zu dem ihm vorgängigen obersten Prinzip vorsieht. Mit Hölderlin identisch ist ferner die Interpretation von Selbstbewußtsein als einer Form von Bewußtsein. Fichtes indirekte Kritik an Hölderlin ist darin zu sehen, daß der Begriff des Selbstbewußtseins nicht, wie Hölderlin es getan hat, mit dem Begriff des absoluten Ich identifiziert werden kann. Der Begriff des absoluten Ich ist vielmehr derjenigen Position zuzuordnen, die Hölderlin als »Sein schlechthin« bezeichnet hatte. Die mit Hölderlins Konzeption formal identische Konstellation von Selbstbewußtsein und der ursprünglichen Identität von Subjekt und Objekt in Fichtes Sittenlehre bringt aber auch noch ein Problem zur Entscheidung, das in der Interpretation des Textes über Urteil und Sein noch nicht entschieden werden konnte. Jenes Eine wird von Fichte offensichtlich als der Grund derjenigen Identität der Momente des Subjektiven und Objektiven im Selbstbewußtsein angesehen, deren Interpretation und Begründung für Hölderlin zum Problem geworden war. Denn Fichte zufolge soll »das Eine, welches getrennt wird«, und »das sonach allem Bewußtsein zu Grunde liegt«, der Grund dafür sein, daß »das Subjektive und das Objektive im Bewußtsein unmittelbar als Eins gesetzt wird.« 67 Die Ausarbeitung der Begründung dieses Zusammenhangs hat Fichte im ersten Hauptstück seiner Sittenlehre 68 unternommen. Die Theorie des Selbstbewußtseins, die Fichte in diesem Teil der Sittenlehre entwickelt hat, ist aber nicht nur die Begründung der Möglichkeit der Struktur von Selbstbewußtsein, wie Hölderlin sie – mit Reinhold – entworfen hatte. Sie ist zugleich eine Interpretation der spezifischen Bedeutung dieser Form des Selbstverhältnisses des Bewußtseins. Sie sei abschließend skizziert. Da die für das Selbstbewußtsein wesentliche Form des Selbstverhältnisses des Bewußtseins darin besteht, daß das Subjekt auf sich in der Form der Beziehung auf ein von dieser Beziehung unterschiedenes Objekt bezogen ist, erscheint die ursprüngliche, den Begriff des absoluten Ich auszeichnende Aktivität in der Position eines Objekts des Bewußtseins instantiiert. Diesen Status der Objektivität der Selbsttätigkeit bezeichnet Fichte auf eine hier nicht näher zu kom-
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W IV, 5. W IV, 13 ff.
70 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
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mentierende Weise 69 durch den Begriff des Willens. Somit ist der Begriff des Ich, sofern er unter der Formbestimmtheit von Bewußtseins gefaßt wird, wie Hölderlin es getan hat, als Begriff des praktischen Selbstbewußtseins zu interpretieren. Da in der Position des Objekts dieses Selbstbewußtseins aber nur die ursprüngliche Tätigkeit der Vernunft selbst instantiiert ist, ist es die Vernunft selbst, die in der Form eines absoluten Objekts gesetzt ist. Aufgrund dieses Status ursprünglicher Objektivität kann sie Fichte zufolge als die Grundform eines Gesetzes oder als Darstellung von Gesetzlichkeit überhaupt gefaßt werden. Dann kann gesagt werden, daß das Bewußtsein dann, wenn es sich auf sich selbst im Modus der bewußten Beziehung auf ein Objekt bezieht, es sich auf sich selbst als auf die Grundform von Gesetzlichkeit bezieht. Den Begriff dieses Selbstbewußtseins hat Fichte sodann als eine wechselseitige Implikation des Bewußtseins einer freien Vernunfttätigkeit als des subjektiven Moments und der Grundform von Gesetzlichkeit als des objektiven Moments beschrieben und eben darin die Grundform des sittlichen Bewußtseins gesehen. 70 Fichtes Interpretation des Begriffs des Selbstbewußtseins als Grundform des sittlichen Bewußtseins läßt sich aber nicht nur als eine kritische Interpretation von Hölderlins frühen Reflexionen zum Verhältnis von Selbstbewußtsein und Sein verstehen. Sie ist auch noch als eine indirekte und ebenfalls kritische Antwort auf den Interpretationsvorschlag zum fichteschen Begriff des absoluten Ich zu verstehen, den Reinhold in einem Brief an Fichte vom Dezember 1795 71 vorgetragen hatte. Fichtes Begriff des absoluten Ich schien Reinhold nur als moralisches Selbstbewußtsein verständlich. Denn, so lautet Reinholds Begründung, nur diesem könne, wie es für Fichtes absolutes Ich gefordert sei, das Prädikat des Absoluten ohne Einschränkung beigelegt werden, weil das moralische Gesetz, dessen man sich bewußt ist, von allen empirischen Bedingungen unabhängig sei, während der Begriff des Selbstbewußtseins, wie Fichte ihn im ersten ParaVgl. hierzu Jürgen Stolzenberg, Das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft. Zu den Grundlagen von Kants und Fichtes Theorien des sittlichen Bewußtseins, in: Metaphysik nach Kant? Stuttgarter Hegelkongreß 1987 (Veröffentlichungen der Internationalen Hegel-Vereinigung. Bd. 17), hg. von Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann, Klett-Cotta, Stuttgart 1988, 181–208. 70 Vgl. Werke IV, 48 f. 71 GA I, 2; 220/221. Dieser Brief ist der erste Kommentar zur Wissenschaftslehre, den Fichte von Reinhold erhielt. 69
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graphen seiner Wissenschaftslehre eingeführt hat, für Reinhold auf die Beziehung auf empirisch gegebene Vorstellungen angewiesen blieb und dem »Subjecte des Transc. Selbstbewußtseyns das Prädikat des absoluten nur bedingt, d. h. nur in so ferne zu[komme], als es mit dem empirischen Bewußtseyn in das Verhältniß des Unterschiedes und Zusammenhangs gesetzt wird. Daher ist das reine Ich als Solches in theoretischer Rücksicht überschwenglich; und seine Realität, wenn man von der Bedingung des emp. Bewußtseyns abstrahiert, Problematisch.« Reinhold täuschte sich jedoch, wenn er diesen Vorschlag als eine Interpretation des fichteschen Begriffs des absoluten Ich verstanden wissen wollte, denn Fichte zufolge untersteht auch das moralische Selbstbewußtsein der Formbestimmtheit von Bewußtsein. Für Reinhold hätte es der höchste Punkt sein können, an dem sich seine Theorie der Subjektivität hätte orientieren können. Aufgrund seiner bewußtseinstheoretischen Prämissen vermochte Reinhold aber nicht einzusehen, daß auch diese Form des Selbstverhältnisses des Bewußtseins noch auf einen Grund zurückgeführt werden muß, aus dem sie allererst zureichend verstanden werden kann. Davon vermochte ihn erst Fichte, wenn auch nur auf eine kurze Zeit, zu überzeugen.
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Hegel über präreflexives Selbstbewusstsein* Stefan Lang, Tübingen
In den letzten Jahren sind in der Analytischen Philosophie Untersuchungen eines Phänomens veröffentlicht worden, das im Zentrum des Forschungsinteresses der von Ernst Tugendhat als Heidelberger Schule bezeichneten Philosophen um Dieter Henrich gestanden ist. 1 Es handelt sich um präreflexives Selbstbewusstsein. 2 Der Ausdruck ›präreflexives Selbstbewusstsein‹ bezeichnet einen Fall von nicht-begrifflichem und nicht-propositionalem Selbstbewusstsein, der weder durch eine Identifizierung, durch die Wahrnehmung, die Beobachtung noch bspw. einen Akt der Reflexion gewonnen wird. Ein Subjekt besitzt Selbstbewusstsein, ohne dass es ein bewusstes intentionales Objekt wäre. Präreflexives Selbstbewusstsein ist, um ein Wort Man* Dieser Aufsatz entstand im Rahmen eines von der Fritz-Thyssen-Stiftung für Wissenschaftsförderung geförderten Projekts mit dem Titel Der Selbstrepräsentationalismus und die Klassische Deutsche Philosophie nach I. Kant. 1 Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Suhrkamp, Frankfurt am Main 61997; vgl. Konrad Cramer, Erlebnis. Thesen zu Hegels Theorie des Selbstbewußtseins mit Rücksicht auf die Aporien eines Grundbegriffs nachhegelscher Philosophie, in: Stuttgarter Hegel-Tage 1970, hg. von Hans-Georg Gadamer, Meiner, Bonn 1974, 537–603; Manfred Frank, Ansichten der Subjektivität, Suhrkamp, Berlin 2012; ders., Präreflexives Selbstbewusstsein. Vier Vorlesungen, Reclam, Stuttgart 2015; Dieter Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, in: Subjektivität und Metaphysik, hg. von Dieter Henrich und Hans Wagner, Klostermann, Frankfurt 1966, 188–232; ders., Selbstbewußtsein – Kritische Einleitung in eine Theorie, in: Hermeneutik und Dialektik, Aufsätze Bd. I, hg. von Rüdiger Bubner, Mohr Siebeck, Tübingen 1970, 275–284; Ulrich Pothast, Über einige Fragen der Selbstbeziehung, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1971; Jürgen Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/2, Klett-Cotta, Stuttgart 1986. 2 Der Ausdruck ›präreflexives Selbstbewusstsein‹ wird v. a. von Manfred Frank verwendet und hat sich im deutschen Sprachraum bewährt. In der Analytischen Philosophie wird stattdessen mitunter der Ausdruck ›pre-reflective‹ verwendet. Vgl. bspw. Kenneth Williford/David Rudrauf/Gregory Landini, The Paradoxes of Subjectivity and the Projective Structure of Consciousness, in: Consciousness and Subjectivity, hg. von Sofia Miguens und Gerhard Preyer, Ontos, Heusenstamm 2012, 324.
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Stefan Lang
fred Franks zu verwenden, nicht-gegenständliches Selbstbewusstsein. 3 Zu den analytischen Philosophen, die in den letzten Jahren Untersuchungen präreflexiven Selbstbewusstseins veröffentlicht haben, zählen u. a. Terry Horgan, Tomis Kapitan, Uriah Kriegel, Shaun Nichols, Charles Siewert oder Kenneth Williford. 4 Nach Ansicht von Kriegel und Williford besteht präreflexives Selbstbewusstsein bspw. darin, dass eine Person nicht-begriffliches Bewusstsein von ihrem Bewusstsein besitzt, wenn sie bspw. eine bewusste Wahrnehmung hat. Die analytischen Interpretationen präreflexiven Selbstbewusstseins unterscheiden sich in Details voneinander und auch von Interpretationen von Vertretern und Nachfolgern der Heidelberger Schule. So vertritt bspw. Manfred Frank den Standpunkt, dass präreflexives Selbstbewusstsein keine relationale Struktur aufweist, während bspw. nach Ken Williford, Gregory Landini und David Rudrauf präreflexives Selbstbewusstsein eine reflexive Struktur besitzt, obgleich es »präreflektiv« (pre-reflective self-consciousness) ist, d. h. nicht durch eine Reflexion konstituiert wird. 5 Es besteht jedoch traditionsübergreifend Einigkeit dahingehend, dass Personen nicht bloß propositionales Selbstbewusstsein haben, sondern auch präreflexives Selbstbewusstsein, also nicht-begriffliches Selbstbewusstsein, das u. a. nicht durch die Introspektion gewonnen wird, d. h. das Fokussieren der Aufmerksamkeit auf einen selbst bzw. die eigenen Zustände, in denen man sich befindet. Es ist bekannt, dass vor der Heidelberger Schule innerhalb der Phänomenologie, insbesondere von Jean-Paul Sartre, aber auch innerM. Frank (2015) 27. Terry Horgan/Uriah Kriegel, Phenomenal Epistemology: What Is Consciousness That We May Know It So Well?, in: Philosophical Issues 17 (2007), 123–44; Terry Horgan/Shaun Nichols: The Zero Point and I, in: Pre-Reflective Consciousness: Sartre and Contemporary Philosophy of Mind, hg. von Sofia Miguens, Gerhard Preyer und Clara Bravo Morando, Routledge, London 2016, 143–175; Uriah Kriegel, Subjective Consciousness. A Self-Representational Theory, OUP, Oxford 2009. Charles Siewert, Phenomenality and Self-Consciousness, in: Phenomenal Intentionality, hg. von Uriah Kriegel, OUP, Oxford 2013, 235–258; Kenneth Williford, »The Self-Representational Structure of Consciousness«, in: Self-representational approaches to consciousness, hg. von Uriah Kriegel und Kenneth Williford, Cambridge, MA: MIT Press 2006, 111–142; Williford/Rudrauf/Landini (2012); Kenneth Williford, Representationalism, Subjective Character, and Self-Acquaintance, in: Open MIND: 39, hg. von Thomas Metzinger und Jennifer Windt, Eigenverlag, Frankfurt am Main 2015. 5 Williford/Rudrauf/Landini (2012) 325. 3 4
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Hegel über präreflexives Selbstbewusstsein
halb der Klassischen deutschen Philosophie, und zwar insbesondere von Johann Gottlieb Fichte, Theorien präreflexiven Selbstbewusstseins entwickelt worden sind. 6 Die Untersuchungen Fichtes sind innerhalb der Heidelberger Schule intensiv diskutiert worden und in der Analytischen Philosophie ziehen seit einigen Jahren Sartres Ausführungen neues Interesse auf sich. 7 Es wird gegenwärtig jedoch kaum beachtet, dass auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel im dritten Teil der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) eine originäre Interpretation nicht-propositionalen Selbstbewusstseins entwickelt, das weder durch eine Identifizierung, durch die Wahrnehmung und Beobachtung noch die Introspektion gewonnen wird. Auch Hegel entwickelt (in diesem Sinn) eine Theorie präreflexiven Selbstbewusstseins. Die erste Zielsetzung dieses Aufsatzes besteht daher darin, Hegels Analyse präreflexiven Selbstbewusstseins darzustellen. Die Bedeutung von Hegels Ansatz erschöpft sich nicht darin, so wie viele andere Philosophen eine Interpretation von präreflexivem Selbstbewusstsein entwickelt zu haben. Hegel präsentiert Antworten auf Fragestellungen, die in der Analytischen Philosophie diskutiert werden. Die zweite Zielsetzung dieser Untersuchung besteht darin, diese Fragestellungen und Hegels Antworten zu erörtern. Außerdem wird eine dritte Zielsetzung verfolgt. Eine systematische Untersuchung sollte sich nicht darauf beschränken, klassische Theorien zu erläutern und mit aktuellen Fragestellungen in Beziehung zu setzen. Die Beschäftigung mit einer klassischen Theorie ist insbesondere dann lehrreich, wenn Stärken oder Schwachpunkte dieser Theorie aufgezeigt werden. Die dritte Zielsetzung dieser Untersuchung besteht darin, zwei Einwände gegen Hegels Theorie des Selbstbewusstseins zu formulieren. Diesen Zielsetzungen entsprechend werden im ersten Abschnitt dieser Untersuchung drei Fragestellungen erörtert, die in neueren analytischen Untersuchungen behandelt werden und für die Hegel Antworten bereitstellt. Im zweiten Abschnitt wird Hegels InterpretaJohann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre: als Handschrift für seine Zuhörer (1794/95), Meiner, Hamburg 1997; Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, System des transzendentalen Idealismus (1800). Mit einer Einleitung von Walter Schulz, hg. von Horst D. Brandt und Peter Müller, Meiner, Hamburg 1992; Jean-Paul Sartre, Die Transzendenz des Ego (1936/37), in: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays, Übersetzung von Bernd Schuppener, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1994, 39–96. 7 Miguens/Preyer/Morando (2016). 6
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tion präreflexiven Selbstbewusstseins zusammenfassend dargestellt. Im dritten Abschnitt werden Hegels Antworten auf die im ersten Abschnitt erörterten Fragestellungen dargelegt. Dabei wird ein erster Einwand gegen Hegels Theorie präreflexiven Selbstbewusstseins entwickelt. Abschließend wird eine Aufgabenstellung formuliert, die von einer Theorie präreflexiven Selbstbewusstseins gelöst werden sollte. Es wird zu zeigen sein, dass und warum Hegel diese Aufgabenstellung nicht überzeugend löst.
1. Analytische Fragestellungen Im Zentrum der Beschäftigung analytischer Philosophen mit präreflexivem Selbstbewusstsein stehen u. a. folgende Fragen: a. Begleitet präreflexives Selbstbewusstsein phänomenales Bewusstsein ubiquitär? Das heißt, begleitet es jeden Fall von phänomenalem Bewusstsein? Der Ausdruck ›phänomenales Bewusstsein‹ bezeichnet in der Analytischen Philosophie Fälle von bewussten mentalen Zuständen wie bspw. eine bewusste visuelle Wahrnehmung einer roten Blume, die einen bewussten qualitativen Charakter aufweisen. Der bewusste qualitative Charakter zeichnet sich dadurch aus, dass es, – mit den berühmten Worten Thomas Nagels gesprochen –, 8 irgendwie für eine Person ist, Bewusstsein von einem Gegenstand und seinen Eigenschaften zu haben. Einer Person ist irgendwie zumute. Im Fall der bewussten visuellen Wahrnehmung einer roten Rose entspricht dem qualitativen Charakter die »rötliche Weise«, wie die Blume von einer Person erfahren wird. Mit Blick auf die olfaktorische Wahrnehmung einer roten Rose entspricht dem bewussten qualitativen Charakter die süßliche Weise, wie der Duft der Rose erlebt wird. Ein bewusster qualitativer Charakter zeichnet sich dadurch aus, dass er ein subjektives Erleben bzw. eine Erlebnisdimension miteinschließt. 9 Die
Vgl. Thomas Nagel, Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, in: Analytische Philosophie des Geistes, hg. von Peter Bieri, Athenäum, Königstein 1993, 261–275. 9 Für die Zwecke dieses Aufsatzes genügt diese Erörterung der Bedeutung des Wortes ›phänomenales Bewusstsein‹. Eine gründliche Analyse hat Charles Siewert präsentiert. Charles Siewert: Phenomenal Thought, in: Cognitive Phenomenology, hg. von Tim Bayne und Michelle Montague, OUP, Oxford 2011. Charles Siewert, Respecting 8
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Hegel über präreflexives Selbstbewusstsein
erste Frage lautet m. a. W.: Begleitet präreflexives Selbstbewusstsein stets das Bewusstsein vom qualitativen Charakter? b. Ist präreflexives Selbstbewusstsein egologisch verfasst oder anonym? Egologisches präreflexives Selbstbewusstsein schließt eine bewusste egologische Information mit ein, also bspw. die bewusste Information, Bewusstsein vom eigenen Bewusstsein zu besitzen oder Bewusstsein von einem selbst als ein Subjekt zu haben oder von einem Zustand, in dem man selbst sich befindet. Anonymes präreflexives Selbstbewusstsein schließt demgegenüber keine bewusste egologische Information mit ein, sodass zwar Bewusstsein von dem Subjekt oder einem Zustand, in dem es sich befindet, oder auch dem eigenen Bewusstsein besteht. Es schließt jedoch nicht die bewusste Information mit ein, dass man selbst dieses Subjekt ist oder dass es der eigene Zustand ist oder dass es sich um das eigene Bewusstsein handelt. Demnach ist bspw. der mentale Zustand, dessen ein Subjekt sich bewusst ist, zwar de facto ihr eigener mentaler Zustand. Jedoch ist dies, – dass es der eigene Zustand ist oder auch dass sie selbst sich in diesem Zustand befindet –, keine Information, die bewusst wäre. c. Wie wird präreflexives Selbstbewusstsein konstituiert? Das heißt, durch welche Beziehung zwischen welchen Zuständen bzw. Tätigkeiten (oder auch Bestandteilen von Zuständen oder Tätigkeiten) besteht präreflexives Selbstbewusstsein? Es ist wichtig, die Frage nach der Konstitution präreflexiven Selbstbewusstseins von der Frage zu unterscheiden, wie präreflexives Selbstbewusstsein produziert wird. Eine Theorie der Produktion erklärt, wie präreflexives Selbstbewusstsein erzeugt wird, also etwa durch welche kausalen Vorgänge. Demgegenüber untersucht eine Theorie der Konstitution die Frage, aufgrund welcher Struktur oder Beziehung(en) zwischen welchen Zuständen oder Tätigkeiten präreflexives Selbstbewusstsein besteht. So lautet bspw. eine Antwort auf die Frage, wie präreflexives Selbstbewusstsein konstituiert wird, dass die Konstitution in der Selbstrepräsentation eines mentalen Zustands besteht. 10 Hegel entwickelt eine Interpretation präreflexiven Selbstbewusstseins, die u. a. Antworten auf diese drei Fragestellungen gibt. Appearances, in: The Oxford Handbook of Contemporary Phenomenology, hg. von Dan Zahavi, OUP, Oxford 2012. 10 Vgl. bspw. Kriegel (2009) 142.
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2. Hegels Interpretation phänomenalen Selbstbewusstseins 11 Hegel präsentiert seine Interpretation präreflexiven Selbstbewusstseins in der »Anthropologie« im dritten Teil der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse im Rahmen seiner Untersuchung phänomenalen Bewusstseins. 12 Hegel erläutert, welche bewussten Informationen phänomenales Bewusstsein aufweist und welche Tätigkeiten und Zustände das Bewusstsein vom qualitativen Charakter konstituieren. Seine Analyse präreflexiven Selbstbewusstseins ist ein Bestandteil dieser Untersuchung. Jedoch ist zu beachten, dass der Ausdruck ›Bewusstsein‹ bei Hegel eine andere BeDie folgende Darstellung belastet ein exegetisches Problem. Hegel hat seine Enzyklopädie in mehreren Auflagen veröffentlicht, aber auch Vorlesungen über seine Enzyklopädie gehalten, von denen u. a. von Zuhörern verfertigte Manuskripte erhalten geblieben sind. Hegel erklärt in den Vorreden zu den unterschiedlichen Auflagen der Enzyklopädie mehrmals, dass der Text der Enzyklopädie der mündlichen Erläuterung bedarf. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik. Mit den mündlichen Zusätzen, in: Werke in 20. Bände, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1970, Bd. 10, 11, 14 und 32. Die heute noch vorliegenden Unterlagen zu seinen Vorlesungen enthalten Aussagen, die schwerlich mit dem Gedankengang des Haupttextes zu vereinbaren sind. Je nachdem, ob die Ausführungen in diesen Manuskripten (»Zusätze«) berücksichtigt werden und je nachdem, welche Ausführungen in den Manuskripten als authentische Wiedergaben der Lehre Hegels gedeutet werden, fällt Hegels Theorie phänomenalen Bewusstseins unterschiedlich aus. Ich präsentiere bspw. eine vergleichsweise zurückhaltende Interpretation des wachen Zustandes eines Individuums. Gemäß dieser Lesart schließt ein wacher Zustand noch kein Bewusstsein des Unterschieds zwischen der Welt und einem selbst mit ein. Diese Interpretation stimmt mit den Aussagen Hegels in dem von ihm veröffentlichten Haupttext der Enzyklopädie überein. In einer Mitschrift steht jedoch: »Daß die Seele, indem sie erwacht, sich und die Welt – diese Zweiheit, diesen Gegensatz – bloß findet, darin besteht eben hier die Natürlichkeit des Geistes.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen, in: Werke in 20 Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992, 90 – wird im Folgenden als »Enz« und Seitenzahl zitiert. Demnach schlösse nach Hegel der wache Zustand als solcher bereits ein Bewusstsein des Unterschieds zwischen einem selbst und der Welt mit ein. In systematischer Hinsicht ist letztlich nicht entscheidend, welchen Standpunkt Hegel selbst vertreten hat. Entscheidend ist, was wir anhand der Beschäftigung mit Hegel lernen können, und wir werden umso mehr lernen als unterschiedliche Interpretationen ausgearbeitet werden, die systematische Fragen mit berücksichtigen. 12 Die Behauptung, dass Hegel eine Theorie phänomenalen Bewusstseins entwickelt, begründe ich in dem noch unveröffentlichten Manuskript »Phänomenales Bewusstsein und Selbstbewusstsein. Analytische und idealistische Interpretationen.« 11
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Hegel über präreflexives Selbstbewusstsein
deutung besitzt als in analytischen Untersuchungen. In der Enzyklopädie bezeichnet Hegel bspw. als (objektives) Bewusstsein vereinfacht zusammengefasst einen bewussten epistemischen Zustand, der a) eine Information über den Unterschied zwischen Gegenständen und einem selbst, dem Subjekt der Vorstellungen von Gegenständen, enthält, sowie b) Informationen über Beziehungen, die zwischen Gegenständen bestehen, sodass eine objektive Weltordnung vorliegt. 13 Der analytischen Interpretation der Bedeutung des Ausdrucks ›phänomenales Bewusstsein‹ entspricht daher nicht Hegels Interpretation des Wortes ›Bewusstsein‹. Analytischen Untersuchungen phänomenalen Bewusstseins entspricht Hegels Analyse der Empfindung und des Selbstgefühls. Wenn im Folgenden bei der Darstellung von Hegels Theorie phänomenalen Bewusstseins der Ausdruck ›Bewusstsein‹ verwendet wird, dann ist die analytische Interpretation der Bedeutung dieses Ausdrucks gemeint (s. o.). Wenn Hegels Interpretation der Bedeutung des Wortes ›Bewusstsein‹ gemeint ist, wird dies explizit erwähnt oder es ist durch den Kontext gut zu erkennen. Mit Blick auf Hegels Analyse präreflexiven Selbstbewusstseins sind insbesondere drei Zustände bzw. Tätigkeiten bedeutend, die zur Konstitution phänomenalen Bewusstseins beitragen. Hegel bezeichnet sie als wacher Zustand des Individuums, Empfindung und Selbstgefühl. 14 Bei der Interpretation dieses Zustands und dieser Tätigkeiten ist folgendes zu beachten: Hegels Theorie präreflexiven Selbstbewusstseins und phänomenalen Bewusstseins ist in eine Untersuchung eingebettet, deren übergeordnetes Ziel es u. a. ist, die Frage zu beantworten, durch welche Leistungen und Vermögen ein (einzelnes) 15 Subjekt sich von seinem Leib, d. h. seinem empfindenden Körper, zu unterscheiden vermag und den Leib doch zugleich als seinen eigenen empfindenden Körper zu verstehen vermag, 16 sowie inVgl. Enz, 118: »Indem ich mich dagegen auf den Standpunkt des Bewußtseins erhebe, verhalte ich mich zu einer mir äußeren Welt, zu einer objektiven Totalität, zu einem in sich zusammenhängenden Kreise mannigfaltiger und verwickelter, mir gegenübertretender Gegenstände. Als objektives Bewußtsein habe ich wohl zunächst eine unmittelbare Empfindung, zugleich ist dies Empfundene aber für mich ein Punkt in dem allgemeinen Zusammenhange der Dinge«. Vgl. Enz, 121 und 140. 14 Es werden im Folgenden damit Abschnitte wie »Die Gewohnheit« oder auch »Die fühlende Seele in ihrer Unmittelbarkeit« nicht behandelt. Sie sind für die Analyse von Hegels Theorie präreflexiven Selbstbewusstseins nicht von entscheidender Bedeutung. 15 Enz, 192. 16 Enz, 182 f. und 197. 13
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tentionales Bewusstsein zu besitzen vermag. 17 Intentionales Bewusstsein meint (zunächst) 18 Bewusstsein von einer äußeren Welt zu haben, von der das Subjekt sich unterscheidet und auf die es sich doch auch in theoretischer und praktischer Hinsicht bezieht, und damit Selbstbewusstsein zu haben, und zwar Bewusstsein von sich selbst als Subjekt, das Vorstellungen von Gegenständen besitzt. 19 Mentale Zustände und mentale Tätigkeiten sind somit im Bereich von Hegels Theorie phänomenalen Bewusstseins in der »Anthropologie« in Abgrenzung vom Leib nicht thematisch. 20 Die Tätigkeiten und Zustände wie bspw. das Selbstgefühl sind leiblich-gewahrende Zustände oder Aktivitäten und damit streng genommen nicht sachangemessen als mentale Zustände und Tätigkeiten bezeichnet, wenn dies bedeuten soll, dass sie von körperlichen Zuständen und Tätigkeiten zu unterscheiden sind. 21 Es sind körperliche Zustände oder Aktivitäten, die ein Gewahren von qualitativen Charakteren, aber auch des Subjekts miteinschließen. 22 Der Ausgangspunkt von Hegels Theorie phänomenalen Bewusstseins ist die Unterscheidung zwischen Schlafen und Wachen und die Enz, 197. Hegels Theorie phänomenalen Bewusstseins ist ein Bestandteil seiner Theorie des Absoluten, die er in der Enzyklopädie skizziert. Seine Interpretation phänomenalen Bewusstseins ist ein Bestandteil einer Theorie der Selbsterkenntnis des Absoluten. Die Darstellung dieser und weiterer systematisch relevanter Aspekte von Hegels Theorie bedürfen einer eigenen Untersuchung. 18 Wie erwähnt zeichnet sich objektives Bewusstsein bspw. zudem dadurch aus, dass Informationen über Beziehungen vorliegen, die zwischen Gegenständen bestehen, sodass ein Subjekt die bewusste Vorstellung von einer objektiven Weltordnung hat. 19 Enz, 197 und 213. 20 Hegel behandelt das Thema phänomenales Bewusstsein mehrmals im dritten Teil der Enzyklopädie in jeweils unterschiedlichen Kontexten. Die ausführlichste Analyse phänomenalen Bewusstseins erfolgt in der »Anthropologie«. Sie steht im Zentrum der folgenden Ausführungen. Phänomenales Bewusstsein wird aber u. a. auch in der Phänomenologie und Psychologie behandelt. In der Anthropologie gilt, dass phänomenales Bewusstsein und präreflexives Selbstbewusstsein leiblich-gewahrende Phänomene sind. 21 Der Ausdruck ›Zustand‹ bedeutet bei Hegel Unterschiedliches. So ist bspw. von Zuständen im Sinne von Lebensaltern – Junge, Greis usw. – die Rede (Enz, 76). Hegel verwendet den Ausdruck ›Zustand‹ auch in der Naturphilosophie, und zwar bspw., wenn er den Zustand der Krankheit erläutert. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Zweiter Teil. Die Naturphilosophie. Mit den mündlichen Zusätzen, in: Werke in 20 Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986, Bd. 8, 520. Im vorliegenden Kontext ist ein leiblich-gewahrender Zustand gemeint. 22 Vgl. bspw. Enz, 160 f. 17
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Einführung des Begriffs eines Individuums, das sich in einem wachen Zustand befindet. Der Ausgangspunkt seiner Theorie ist somit ein Aspekt kreatürlichen Bewusstseins (creature-consciousness). Als kreatürliches Bewusstsein wird in der Analytischen Philosophie Bewusstsein bezeichnet, insofern es sich u. a. dadurch auszeichnet, dass eine Person wach ist. 23 Der wache Zustand ist nach Hegel der inhaltlich und strukturell noch nicht näher bestimmte bzw. ausdifferenzierte Bewusstseinsraum bzw. die Bewusstseitsdimension, innerhalb derer die Inhalte menschlichen Bewusstseins, der Wahrnehmung usw. präsent sind. Ein wacher Zustand ist daher von nicht-epistemischen Zuständen, – und d. h. auch: von dem Mitleben des Organismus mit den natürlichen Verläufen und Vorgängen wie etwa den Jahreszeiten –, 24 zu unterscheiden, aber auch von Zuständen wie Träumen. Ein Subjekt gewinnt bestimmte Informationen allererst mit der Empfindung. Das bedeutet auch, dass noch keine Rede davon ist, dass ein Subjekt bspw. fühlt oder denkt. Der Ausdruck ›wacher Zustand‹ bezeichnet einen aktuell vorhandenen Bewusstseinsraum, gleichgültig, welche Tätigkeiten oder Zustände ein Subjekt leistet. Das bedeutet nicht, dass Hegel bestreitet, dass Subjekte unbewusste mentale Zustände, Tätigkeiten und Kenntnisbestände besitzen bzw. leisten. Nach Hegel können bspw. bewusste Inhalte und Zustände im Gedächtnis gespeichert werden und zu einem späteren Zeitpunkt wieder bewusste Informationen und Zustände sein. 25 Damit ein Subjekt phänomenales Bewusstsein und präreflexives Selbstbewusstsein besitzt, ist erforderlich, dass es zusätzlich Leistungen erbringt, und zwar die Empfindung und das Selbstgefühl. Durch
Nach David Rosenthal lautet die Antwort auf die Frage, wann eine Person kreatürliches Bewusstsein hat, dass dies dann der Fall ist, wenn ein menschliches Lebewesen wach ist und empfindungsfähig (sentient) ist bzw. »mentally responsive to sensory stimuli«. David M. Rosenthal, Two Concepts of Consciousness, in: Consciousness and Mind, hg. von David M. Rosenthal, OUP, Oxford 2006, 41. 24 Enz, 52. 25 Enz, 119: »In dieser Totalität oder Idealität, in dem zeitlosen indifferenten Inneren der Seele, verschwinden jedoch die einander verdrängenden Empfindungen nicht absolut spurlos, sondern bleiben darin als aufgehobene, bekommen darin ihr Bestehen als ein zunächst nur möglicher Inhalt, der erst dadurch, daß er für die Seele oder daß diese in ihm für sich wird, von seiner Möglichkeit zur Wirklichkeit gelangt. Die Seele behält also den Inhalt der Empfindung, wenn auch nicht für sich, so doch in sich.« Enz, 1992, 122 und 144 f. 23
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die Empfindung sind für ein Subjekt Zustände wie etwa sich Schämen oder Reue und qualitative Charaktere wie Farben erlebnisartig bzw. phänomenal präsent, 26 und zwar in Form bzw. Gestalt leiblicher Empfindungen, also etwa des Tastsinns oder im Fall des Zornes des rasenden Herzens. 27 Mit der Empfindung besteht somit eine erste rudimentäre Form von Bewusstsein von qualitativen Charakteren. Die Empfindung setzt die qualitativen Charaktere, d. h. sie werden gewahrt, 28 und zwar bspw. dann, wenn sie mit den fünf Sinnen (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten) bestehen, infolge einer äußeren Bestimmung durch Objekte in der Welt. 29 Durch die Empfindung sind die qualitativen Charaktere und leiblich-gewahrten Zustände jedoch allererst unmittelbar und »unentwickelt« gesetzt. 30 Das heißt, sie werden weder mit anderen Inhalten oder Zuständen in Beziehung gesetzt noch werden die qualitativen Charaktere einem Gegenstand zugeschrieben, der vom Subjekt unterschieden wird. 31 Indes sind die qualitativen Charaktere und die Zustände bereits als das »Eigenste« gesetzt. 32 Das bedeutet, sie werden als der jeweils eigene Inhalt verstanden. 33 Sie sind Aspekte der eigenen Subjektivität, sodass durch die Empfindung ein erster rudimentärer Fall von Selbstgewahrsein besteht. Das Subjekt unterscheidet sich jedoch noch nicht von den von ihm gewahrten Inhalten. Es besteht kein Gewahren des Unterschieds zwischen qualitativen Charakteren und einem selbst. 34 Für Hegel ist die Empfindung eine leibhaft-erlebnisinkludierende Enz, 99, 102, 104 und 110. Enz, 106 und 112. 28 Enz, 97 f. Ich übersetze an dieser Stelle und auch bei der Darstellung des Selbstgefühls die Wörter ›setzen‹ und ›gesetzt‹ mit Gewahren oder erlebnisartig präsent, da ›setzen‹ (im vorliegenden Kontext) die Funktion erfüllt, Inhalte nicht-begrifflich zu gewahren. 29 Enz, 102: »Das Empfindende ist hierbei von außen bestimmt, d. h. seine Leiblichkeit wird von etwas Äußerlichem bestimmt. Die verschiedenen Weisen dieses Bestimmtseins machen die verschiedenen äußeren Empfindungen aus«. 30 Enz, 97. 31 Enz, 99 f. 32 Enz, 97 f. 33 Enz, 98. 34 Enz, 100: »Zugleich ist in dem Obigen schon enthalten, daß der bloßen Empfindung der Gegensatz eines Empfindenden und eines Empfundenen, eines Subjektiven und eines Objektiven, noch fremd bleibt.« Enz, 119: »Was ich auf diesem Standpunkt empfinde, das bin ich, und was ich bin, das empfinde ich. Ich bin hier unmittelbar gegenwärtig in dem Inhalte, der mir erst nachher, wenn ich objektives Bewußtsein werde, als eine gegen mich selbstständige Welt erscheint.« Enz, 98. 26 27
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Tätigkeit. 35 Hegel charakterisiert die Empfindung zwar als passiv. Sie ist passiv, da insbesondere die durch die fünf Sinne gewonnenen qualitativen Charakteren nicht als vom Individuum selbst hervorgebrachte und gestaltete Inhalte aufgefasst werden, sondern als gegebene Inhalte, die von äußeren Gegenständen bestimmt sind und die »gefunden« werden. 36 Das bedeutet jedoch nicht, dass die Empfindung keine Tätigkeit ist. Sie ist eine Aktivität, da sie qualitative Charaktere setzt, d. h. gewahrt. Sie ist daher keine Handlung (agency), wenn unter Handlungen absichtliche, intentionale Leistungen verstanden werden, mit denen ein Subjekt ein Interesse verfolgt, 37 aber sie ist eine Aktivität des Subjekts oder, mit anderen Worten gesprochen, ein leibhaft-erlebnisinkludierendes Ereignis. Das gilt auch für das Selbstgefühl. Das Selbstgefühl ist eine Tätigkeit, die von der Empfindung zu unterscheiden ist. 38 Durch das Selbstgefühl interpretiert das Subjekt die leiblichen Empfindungen als besondere, voneinander unterschiedene Empfindungen. 39 Im Unterschied zur Tätigkeit der Empfindung Enz, 97: »Die Empfindung ist die Form des dumpfen Webens des Geistes«. – Vgl. Enz, 95. 36 Enz, 102 und 117. 37 Enz, 298. 38 Gegen diese Interpretation scheinen zwei Aussagen Hegels zu sprechen. Die erste Aussage lautet, dass die Empfindung »mehr die Seite der Passivität betont, während das Gefühl mehr auf die »Selbstischkeit« geht. Ebd., 117. M. E. ist das Gefühl vom Selbstgefühl zu unterscheiden. Das Gefühl bezieht sich auf das rudimentäre Selbstgewahrsein, das bei der Empfindung besteht. Es ist aber von dem Selbstgefühl zu unterscheiden, das eine komplexere Form von Selbstgewahrsein darstellt. Die zweite Aussage Hegels, die gegen die präsentierte Interpretation zu sprechen scheint, lautet, dass das »Selbstgefühl, in die Besonderheit der Gefühle […] versenkt […] ununterschieden von ihnen [ist].« Enz, 182. Diese Aussage bedeutet m. E. nicht, dass die Empfindung und das Selbstgefühl numerisch identisch sind. Hegel meint an dieser Stelle, dass das Subjekt noch kein Gewahren oder kein Bewusstsein vom Unterschied seiner selbst gegenüber seinen Gefühlen bzw. Empfindungen hat, d. h. den qualitativen Charakteren und leiblichen Zuständen. Das bedeutet aber nicht, dass das Selbstgefühl numerisch identisch mit der Empfindung ist. Denn auch wenn das Subjekt sich im Modus des Selbstgefühls nicht von den Empfindungen unterscheidet, bedeutet das nicht, dass kein Unterschied besteht. 39 Ich interpretiere Hegels Ausführungen in § 407 also so, dass das Subjekt, insofern es das Selbstgefühl leistet, nicht nur in die Besonderheit seiner Empfindungen versenkt ist und sich mit diesen als »subjektives Eins« zusammenschließt. Das Subjekt setzt zudem mithilfe des Selbstgefühls seine Empfindungen. Eine alternative Lesart besagt, dass das Subjekt seine Gefühle als seine eigenen Gefühle setzt, diese Tätigkeit vom Selbstgefühl aber noch zu unterscheiden ist. Die Textlage erlaubt es nicht ein35
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werden sie nunmehr in Beziehung zueinander gesetzt. 40 Zudem werden sie als die eigenen Empfindungen bestimmt und es besteht eine rudimentäre Form von Einheit vom Subjekt und seinem Selbstgewahrsein. 41 Das Subjekt fasst die unterschiedlichen leiblichen Empfindungen jeweils als seine eigenen Empfindungen auf und versteht sich als ein und dasselbe Subjekt dieser Empfindungen, sodass ein weiterer, komplexerer Typ von Selbstgewahrsein vorliegt. Auch im Fall des Selbstgefühls unterscheidet sich das Subjekt jedoch noch nicht als ein mentales Subjekt von seinen leibhaften Empfindungen. 42 Das Subjekt ist mit dem Selbstgefühl mit Hegels Worten gesprochen in die »Besonderheit seiner Gefühle« »versenkt« 43 und »ununterschieden von ihnen«. 44 Das bedeutet einerseits, dass das Selbstgefühl und die Empfindungen jeweils eine Einheit bilden, sodass das Selbstgefühl mit dem Bewusstsein vom qualitativen Charakter vorhanden ist. Es ist neben dem Bewusstsein vom qualitativen Charakter ein Bestandteil phänomenalen Bewusstseins. Es bedeutet andererseits, dass das Selbstgefühl ein Fall leiblichen Selbstbewusstseins ist. 45 Gleichwohl besitzt das Subjekt eine bewusste egologische Informadeutig zu entscheiden, welche Interpretation zutrifft. Dies ist jedoch nicht von entscheidender Bedeutung, da der Unterschied beider Interpretationen im vorliegenden Diskussionszusammenhang in systematischer Hinsicht keine große Rolle spielt. Die Einwände, die an späterer Stelle gegen Hegel vorgebracht werden, gelten unter Maßgabe beider Interpretationen. 40 Dies ist daran zu erkennen, dass Hegel erklärt, dass es »besondere« Gefühle sind. Dieser Ausdruck signalisiert, dass Beziehungen vorliegen. Vgl. bspw. Enz, 32. 41 Enz, 160: »Das Subjekt als solches setzt dieselben als seine Gefühle in sich. Es ist in diese Besonderheit der Empfindungen versenkt, und zugleich schließt es durch die Idealität des Besonderen sich darin mit sich als subjektivem Eins zusammen.« [Die Kursivsetzungen »sich« und »mit sich« sind von mir eingefügt worden.] Ich vermute, dass mit dem ›Zusammenschluss zu einem subjektiven Eins‹ auch eine rudimentäre Form von Identitätsbewusstsein gemeint ist. Es ist jedoch ebenso möglich, dass an diesem Punkt der Theorie zwar eine rudimentäre Form von Einheit des Subjekts besteht, sie jedoch nicht auch ein rudimentäres Identitätsbewusstsein mit einschließt. Die Frage, welche Interpretation Hegels Standpunkt entspricht, lässt sich nicht eindeutig entscheiden. 42 Enz, 161. 43 Enz, 160 und 182. Empfindungen und Gefühle unterscheiden sich nach Hegel durch eine jeweils unterschiedliche Akzentuierung. Das Wort ›Gefühl‹ betont die subjektive Seite der Empfindung, während das Wort ›Empfindung‹ die Bestimmtheit des qualitativen Charakters und sein Gegebensein für das Subjekt betont. Enz, 117. 44 Enz, 182. Vgl. Enz, 187 f. 45 Enz, 160 f.: »Um der Unmittelbarkeit, in der das Selbstgefühl noch bestimmt ist, d. i. um des Moments der Leiblichkeit willen, die darin noch ungeschieden von der
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Hegel über präreflexives Selbstbewusstsein
tion: Es sind die (je) eigenen Gefühle. Hegel betont dies, indem er in Kursivsetzung ausführt: »Das Subjekt als solches setzt dieselben als seine Gefühle in sich.« 46 Hegel vertritt somit einen egologischen Ansatz: Das Selbstgefühl schließt eine egologische Information, eine Vorstellung von »Meinigkeit« mit ein. In Hegels Theorie entspricht damit das Selbstgefühl präreflexivem Selbstbewusstsein. Es ist ein präreflexives Selbstbewusstsein, da es von begrifflichem und propositionalem Selbstbewusstsein zu unterscheiden ist. Es wird nicht durch eine Identifizierung, eine Reflexion oder die Wahrnehmung gewonnen. Präreflexives Selbstbewusstsein ist ein Bestandteil phänomenalen Bewusstseins. Es besteht mit dem Bewusstsein vom qualitativen Charakter. Es ist daher phänomenangemessen als ein leibhaft-phänomenales Selbstbewusstsein bezeichnet. Dieser Fall von egologischem Selbstbewusstsein ist nach Hegel von Ich-Bewusstsein zu unterscheiden, das Hegel in der Enzyklopädie in Abschnitt »b. Das Selbstbewußtsein« behandelt. 47 Das Ich-Bewusstsein enthält die Information, ein Subjekt zu sein, das Vorstellungen von Gegenständen besitzt, die es als seine Vorstellungen versteht, und zwar als seine Vorstellungen von Gegenständen, von denen es sich unterscheidet. Ich-Bewusstsein enthält somit Bewusstsein von einem selbst als das Subjekt seiner Vorstellungen. 48 Diese Information zählt jedoch nicht zum Eigenbestand phänomenalen Bewusstseins. Ich-Bewusstsein besteht im Zusammenhang mit der Denktätigkeit, 49 also einer Tätigkeit, die von der Empfindung und dem Selbstgefühl zu unterscheiden ist. Nach Hegel gilt es folglich zwei Typen von egologischem Selbstbewusstsein zu unterscheiden: Im Fall des Selbstgefühls bzw. von phänomenalem Selbstbewusstsein besteht eine bewusste egologische Information im Sinn der »Meinigkeit« der Gefühle. Dieses egologische Selbstbewusstsein ist von IchBewusstsein zu unterscheiden. Ich-Bewusstsein schließt die bewusste Information mit ein, das Subjekt seiner Vorstellungen von Gegenständen zu sein. Phänomenales Selbstbewusstsein ist ein Fall egologisch-leibhaften Selbstgewahrens. Ich-Bewusstsein besteht mit der Tätigkeit des Denkens. In zugespitzter Formulierung ist zu sagen, Geistigkeit ist, und indem auch das Gefühl selbst ein besonderes, hiermit eine partikuläre Verleiblichung ist«. Vgl. Enz, 182. 46 Enz, 160. 47 Enz, 213 ff. 48 Enz, 213. 49 Enz., 197.
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dass das Selbstgefühl zwar egologisch verfasst ist, es schließt die Vorstellung einer »Meinigkeit« mit ein, aber es ist vom »Ich« und von Ich-Bewusstsein zu unterscheiden. Das bedeutet nicht, dass für Hegel Subjekte auch dann phänomenales Bewusstsein haben, wenn sie nicht denken und begriffliches Bewusstsein besitzen. Im Fokus von Hegels Theorie stehen erwachsene, wache und rationale Subjekte, die u. a. begriffliches Bewusstsein haben. 50 Sie besitzen nicht ausschließlich phänomenales Bewusstsein und präreflexives Selbstbewusstsein. Jedoch sind begriffliches Bewusstsein und dasjenige Selbstbewusstsein, das im Zusammenhang mit dem Denken besteht, vom Eigenbestand phänomenalen Bewusstseins zu unterscheiden, den Hegel v. a. in der »Anthropologie« der Enzyklopädie erläutert. Dieser Eigenbestand besteht in den spezifischen Tätigkeiten und bewussten Informationen, die phänomenales Bewusstsein, einen Ausschnitt wirklichen Bewusstseins einer rationalen Person, auszeichnen. Zu diesem Eigenbestand phänomenalen Bewusstseins zählen die Empfindung und das Selbstgefühl und damit präreflexives bzw. phänomenales Selbstbewusstsein. Hegels Erklärung phänomenalen Selbstbewusstseins hinsichtlich seines Eigenbestandes ist mit dem Selbstgefühl abgeschlossen. 51 Vorausgesetzt, ein Individuum befindet sich in einem wachen Zustand, besteht phänomenales Selbstbewusstsein durch die Empfindung und das Selbstgefühl. Diese Tätigkeiten konstituieren phänomenales bzw. präreflexives Selbstbewusstsein. Mit der Empfindung besteht ein rudimentäres Bewusstsein vom qualitativen Charakter und von Zuständen des Subjekts sowie eine erste Form von Selbstgewahrsein. Durch das Selbstgefühl werden die Empfindungen als die eigenen Empfindungen »gesetzt«, d. h. sie werden als die eigenen Empfindungen gewahrt, und es besteht ein rudimentäres Gewahren der Identität des Subjekts in seinen Empfindungen. Hegel berücksichtigt durchaus psychopathologische Fälle und das Bewusstsein von Kleinkindern. Enz, 80, 172. Sein Fokus ist jedoch auf rationale und erwachsene Personen gerichtet. Sie sind das Zielsubjekt der Untersuchung. 51 Dies gilt nicht für Hegels Erklärung des Bewusstseins vom qualitativen Charakter. Hegel ergänzt seine Interpretation des Bewusstseins vom qualitativen Charakter durch a) die Berücksichtigung der Beziehung zwischen phänomenalem Bewusstsein und der praktischen Dimension menschlichen Bewusstseins und b) durch die Unterscheidung von inneren und äußeren Empfindungen. Vgl. Enz, 99–102 und 290 ff. Hegels Erklärung des Bewusstseins vom qualitativen Charakter ist nicht mit seiner Erklärung präreflexiven Selbstbewusstseins abgeschlossen. 50
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Hegel über präreflexives Selbstbewusstsein
3. Hegels Standpunkt im Diskurs Im ersten Abschnitt wurden drei Fragestellungen erörtert, die für analytische Philosophen von Bedeutung sind. Sie lauten: a. Begleitet präreflexives Selbstbewusstsein phänomenales Bewusstsein ubiquitär? b. Ist präreflexives Selbstbewusstssein egologisch verfasst oder anonym? c. Wie wird präreflexives Selbstbewusstsein konstituiert? Hegels Antwort auf die erste Frage lautet, dass präreflexives Selbstbewusstsein phänomenales Bewusstsein ubiquitär begleitet. Immer dann, wenn eine Person Bewusstsein von einem qualitativen Charakter besitzt, besteht das Selbstgefühl und damit präreflexives egologisches Selbstbewusstsein. Es ist zu beachten, dass diese Interpretation durch Hegels Analyse der Gewohnheit nicht widerlegt wird. Mit dem Wort ›Gewohnheit‹ sind habituell (»mechanisch«) gewordene Tätigkeiten, die Gleichgültigkeit gegenüber der Befriedigung von Begierden und Triebe oder bspw. auch die Abhärtung gegenüber äußerlichen Empfindungen, wie der Hitze und Kälte gemeint, 52 sodass ein Subjekt die Inhalte ihrer Empfindungen »empfindungs- und bewußtlos an ihr hat und in ihnen sich bewegt«. 53 Das Subjekt hat anhand der Gewohnheit den Inhalt der Empfindungen auf eine solche Weise »im Besitz«, dass sie »in solchen Bestimmungen nicht als empfindend ist«. 54 Die Ubiquitätsthese besagt mit Blick auf phänomenales Bewusstsein, dass, wenn eine Person Bewusstsein vom qualitativen Charakter besitzt, sie immer auch präreflexives Selbstbewusstsein hat. Wenn eine Person anhand der Gewohnheit einen Inhalt »empfindungslos an ihr hat«, besitzt sie kein Bewusstsein vom qualitativen Charakter. Hegels Erläuterung der Gewohnheit zeigt daher nicht, dass er die Ubiquitätsthese nicht vertritt. Die Gewohnheit bedeutet nicht, dass Subjekte Bewusstsein vom qualitativen Charakter besitzen und kein präreflexives Selbstbewusstsein. Gegen die Annahme, dass Hegel die Ubiquitätsthese vertritt, scheint jedoch folgender Einwand zu sprechen. Er besagt, dass bei Hegel präreflexives Selbstbewusstsein dem Selbstgefühl entspricht. Von dem Selbstgefühl ist jedoch die Empfindung zu unterscheiden. Hegel behandelt in der Enzyklopädie das Selbstgefühl nach der Emp52 53 54
Enz, 185. Enz, 183. Enz, 183.
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findung. Mit der Empfindung besteht Bewusstsein vom qualitativen Charakter. Sie schließt nicht Selbstbewusstsein mit ein. Es ist daher nach Hegel möglich, dass Subjekte Empfindungen haben, aber kein Selbstgefühl. Das bedeutet, dass nach Hegel Subjekte Bewusstsein von qualitativen Charakteren, mithin phänomenales Bewusstsein haben können, ohne dass sie auch präreflexives Selbstbewusstsein besäßen. Dieser Einwand trifft nicht zu. Hegel erklärt, dass bereits die Empfindung eine erste rudimentäre Form von Selbstgewahrsein darstellt. Der Inhalt der Empfindung wird als das »Eigenste gesetzt« und dies »Eigene ist das vom wirklichen konkreten Ich Ungetrennte«. 55 Auch wenn es wahr wäre, dass für Hegel Subjekte Empfindungen haben, ohne dass sie ein Selbstgefühl besitzen, würde die Ubiquitätsthese gelten. Die Empfindung als solche schließt ein Selbstgewahrsein mit ein. Außerdem entspricht die im Einwand formulierte These, dass Subjekte Empfindungen haben, ohne dass sie auch ein Selbstgefühl besitzen, nicht Hegels Standpunkt. Hegel behandelt das Selbstgefühl zwar im Anschluss an seine Darstellung der Empfindung. Das bedeutet aber nicht, dass Subjekte Empfindungen haben, aber kein Selbstgefühl besitzen. Für Hegel sind Phänomene oder auch Strukturen, die in der Theorie erst an späterer Stelle angeführt werden, der Sache nach mit bereits zuvor erläuterten Phänomenen und Strukturen präsent. Zudem sind Phänomene oder Strukturen, die in der Darstellung der Theorie zuerst erwähnt werden, oftmals Aspekte von komplexeren Strukturen oder Phänomenbeständen, die an späterer Stelle erläutert werden. Sie sind immer schon in komplexere Strukturen und Zusammenhänge eingebettet. Bspw. ist das Ich-Bewusstsein, das Hegel in § 424 der Enzyklopädie näher untersucht, die »Wahrheit des Bewußtseins« und »der Grund von jenem«, 56 obgleich das Bewusstsein (als solches) vor dem Ich-Bewusstsein behandelt wird. Ähnlich verhält es sich auch im Fall der Empfindung und ihrer Beziehung zum Selbstgefühl. Die Empfindung besteht nur gemeinsam mit dem Selbstgefühl. 57 Schließlich ist zu beachten, dass das Enz, 98. – Vgl. Enz, 100 und 119. Enz, 213. 57 Gegen diese Interpretation spricht, dass Hegel, soweit ich es überblicke, an keiner Stelle erwähnt, dass die Empfindung nur gemeinsam mit dem Selbstgefühl vorhanden ist. Es gibt aber auch keine Stelle, in der Gegenteiliges behauptet würde. Die These, dass nach Hegel Subjekte Empfindungen haben können, auch ohne dass sie ein Selbstgefühl besitzen, scheint jedoch mit der grundsätzlichen Anlage von Hegels Theorie in der Enzyklopädie in Widerspruch zu stehen, nach der an späterer Stelle innerhalb der 55 56
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Hegel über präreflexives Selbstbewusstsein
Zielsubjekt von Hegels Untersuchung rationale, wache Subjekte sind, die nicht nur phänomenales Bewusstsein haben, sondern auch begriffliches Bewusstsein. Selbst wenn es sinnvoll wäre, anzunehmen, dass es nach Hegel möglich ist, dass Subjekte Empfindungen haben, aber kein Selbstgefühl, gilt dies nicht mit Blick auf das Zielsubjekt seiner Untersuchung. Hegels Antwort auf die zweite Frage lautet, dass präreflexives Selbstbewusstsein egologisch verfasst ist. Es schließt die bewusste Information mit ein, dass es die eigenen Empfindungen sind, und ein Gewahren der Identität des Subjekts in den unterschiedlichen Empfindungen, die es hat. Wie erwähnt ist präreflexives Selbstbewusstsein jedoch von Ich-Bewusstsein zu unterscheiden. Letzteres besteht im Zusammenhang mit Denken und Urteilen. Ich-Bewusstsein schließt die bewusste Information mit ein, ein Subjekt zu sein, das Vorstellungen von Gegenständen besitzt, die es als seine Vorstellungen versteht. 58 Präreflexives Selbstbewusstsein wird demgegenüber nicht durch das Denken oder Urteilen gewonnen. Es ist ein leibhaftes Selbstgewahren. Hegels Antwort auf die dritte Frage lautet schließlich, dass die Konstitution von präreflexivem Selbstbewusstsein durch die Empfindung und das Selbstgefühl erfolgt. Durch die Empfindung werden Zustände und qualitative Charaktere gewahrt, und zwar derart, dass sie als das »Eigenste« gewahrt werden, d. h. als Aspekte der eigenen Subjektivität. Durch das Selbstgefühl werden die leiblichen Empfindungen als besondere Empfindungen und als die eigenen Empfindungen verstanden. Sie werden miteinander in Beziehung gesetzt und es besteht eine rudimentäre Form von Gewahren der Identität des Subjekts in seinen Empfindungen. Ein in systematischer Hinsicht wichtiger Aspekt von Hegels Antwort auf die dritte Frage besteht darin, dass die Empfindung und das Selbstgefühl numerisch verschieden sind. Das bedeutet, dass Hegel mit den Worten neuerer analytischer Theorien phänomenalen Bewusstseins gesprochen einen higher-order Ansatz vertritt, gemäß dem präreflexives Selbstbewusstsein durch die Beziehung zwischen zwei numerisch verschiedenen Tätigkeiten bzw. Zuständen konstituiert wird: Das
Darstellung erwähnte Aspekte die Grundlage von zuvor erwähnten Aspekten sind oder mit diesen bestehen. Damit ist freilich die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass es sich beim Verhältnis zwischen der Empfindung und dem Selbstgefühl um einen Sonderfall innerhalb von Hegels Theorie handelt, für den dies nicht gilt. 58 Enz, 213.
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Subjekt setzt bzw. gewahrt mit dem Selbstgefühl eine andere Tätigkeit, die Empfindung, sodass auf diese Weise präreflexives Selbstbewusstsein besteht. Gegen dieses Erklärungsmodell ist ein Einwand vorzubringen. Er lautet, dass auf der Grundlage dieses Modells nicht nachzuvollziehen ist, wie die bewusste egologische Information präreflexiven Selbstbewusstseins konstituiert wird. Wie ist es möglich, dass durch die Beziehung zwischen zwei numerisch verschiedenen Tätigkeiten die bewusste Information konstituiert wird, dass es die eigenen Gefühle sind, die gewahrt werden? Das Subjekt besitzt diese Information nicht bevor es mit dem Selbstgefühl die Empfindungen setzt. Wie soll es jedoch die bewusste Information gewinnen, dass es seine eigenen Empfindungen sind, wenn die Empfindung von einer anderen Tätigkeit des Subjekts gesetzt und gewahrt wird? Das ist nicht nachzuvollziehen. Es überrascht daher auch nicht, dass Hegel nicht näher erläutert, wie es möglich ist, dass das Subjekt die Empfindungen als seine Empfindungen gewahrt. Er führt lediglich an, dass das Subjekt die Gefühle als »seine Gefühle« setzt und dass es »durch die Idealität des Besonderen sich darin mit sich als subjektivem Eins zusammen [schließt]«. 59 Es ist daher zu vermuten, dass es sich nach Ansicht Hegels bei der Empfindung und dem Selbstgefühl um ursprüngliche Tätigkeiten handelt, welche das Subjekt erbringt, deren Leistungen identifiziert, aber nicht weiter erklärt werden können. Angesichts von Hegels higher-order Modell ist jedoch einzuwenden, dass nicht nachzuvollziehen ist, wie durch diese Tätigkeiten die Konstitution präreflexiven Selbstbewusstseins möglich sein soll. Es ist unklar, wie das Selbstgefühl (und das Subjekt), die Leistung erbringen können soll, die Hegel ihr zuschreibt. Der erste Einwand, der gegen Hegels Interpretation präreflexiven Selbstbewusstsein vorzubringen ist, lautet daher, dass Hegel die Konstitution präreflexiven Selbstbewusstseins nicht überzeugend erklärt.
4. Identitätsbewusstsein Im Zentrum von Hegels Forschungsinteresse stehen wache und rationale Subjekte, die nicht nur phänomenales Bewusstsein und damit präreflexives Selbstbewusstsein besitzen, sondern auch begriffliches Bewusstsein und Ich-Bewusstsein. Subjekte verstehen sich als ein 59
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Hegel über präreflexives Selbstbewusstsein
und dasselbe Subjekt, das empfindet, denkt und praktisch handelt. Präreflexives Selbstbewusstsein ist ein Aspekt des Selbstbewusstseins eines rationalen Subjekts. In systematischer Hinsicht wichtige Fragen, die an Hegels Theorie des Selbstbewusstseins zu richten sind, lauten daher, wie die Einheit unterschiedlicher Varietäten von Selbstbewusstsein konstituiert wird und das Bewusstsein, ein und dasselbe Subjekt zu sein, das unterschiedliche bewusste Informationen über sich selbst besitzt. Wie ist es möglich, dass ein Subjekt sich als ein und dasselbe Subjekt seiner Empfindungen und Gedanken versteht? Wie werden die Einheit und das Identitätsbewusstsein des denkenden und fühlenden Subjekts konstituiert? Auf diese Fragen gibt Hegel keine überzeugende Antwort. Hegel thematisiert zwar die Einheit des Subjekts unterschiedlicher Empfindungen. Sie ist eine Leistung des Selbstgefühls, sodass das Subjekt sich als ein und dasselbe Subjekt seiner unterschiedlichen Empfindungen zu verstehen vermag. Das Denken und Urteilen, mit dem das Ich-Bewusstsein besteht, ist davon aber zu unterscheiden. Das Selbstgefühl ist ein leibhaftes Selbstgewahren, das von der Tätigkeit des Denkens und Urteilens, mit dem das Bewusstsein vom Subjekt der Vorstellungen besteht, noch zu unterscheiden ist. Hegels Erklärung des Bewusstseins der Identität des Subjekts der Empfindungen zeigt daher nicht, wie das Bewusstsein der Identität dieses Subjekts mit dem Subjekt seiner (begrifflichen) Vorstellung konstituiert wird. Ebensowenig erklärt Hegel bei seiner Analyse des Selbstbewusstseins des Subjekts der Vorstellungen, die er in § 424 in dem Abschnitt »b. Das Selbstbewußtsein« entwickelt, wie das Bewusstsein seiner Identität mit dem fühlenden Subjekt gewonnen wird. Der zweite Einwand gegen Hegels Theorie lautet daher, dass Hegel das Identitätsbewusstsein des Subjekts nicht erklärt. Dieser Einwand wird auch nicht dadurch entschärft, dass nach Hegel auch das Denken von einer leibhaften Empfindung begleitet wird. 60 Dies erklärt nicht, wie Subjekte ihr Identitätsbewusstsein gewinnen. Die bewusste egologische Information, die im Zusammenhang mit dem Selbstgefühl besteht, enthält nicht die bewusste Information, das Subjekt der (begrifflichen) Vorstellung zu sein, und umgekehrt: Hegel zeigt nicht, wie es möglich ist, dass das Selbstbewusstsein des Subjekts der Vorstellungen die Information mit ein schließt, das empfindende Subjekt zu sein. Gegen diese Kritik an Hegel spricht insbesondere ein Einwand. Er 60
Enz, 113.
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Stefan Lang
besagt, dass Hegel bei seiner Untersuchung der Gewohnheit und der wirklichen Seele zeigt, wie der Übergang von leibhaftem Selbstgewahren zu Ich-Bewusstsein erfolgt. Seine Untersuchung der Gewohnheit und der wirklichen Seele beantwortet die aufgeworfenen Fragestellungen. Dies ist jedoch nicht richtig. Nach Hegel unterscheidet sich das Subjekt durch die Gewohnheit von seiner Leiblichkeit. 61 Mit Blick auf die Frage, wie das Identitätsbewusstsein des Subjekts der Empfindungen und der Vorstellungen gewonnen wird, ist jedoch entscheidend, dass durch die mit der Gewohnheit einsetzende Unterscheidung des Subjekts von seinem Leib noch nicht Ich-Bewusstsein besteht. 62 Die Gewohnheit erklärt daher nicht, wie das Identitätsbewusstsein gewonnen wird, da das Subjekt der Vorstellungen nicht thematisch ist. Die Gewohnheit hat nicht die Funktion, dieses Identitätsbewusstsein zu stiften. Die Sachlage ist anders, wenn Hegel im Anschluss an die Gewohnheit die wirkliche Seele behandelt. Mit der Leistung des Subjekts, die Hegel als »wirkliche Seele« bezeichnet, eignet sich das Subjekt seinen Leib wieder an, von dem es sich durch die Gewohnheit distanziert und unterschieden hat. Er ist nunmehr u. a. Ausdruck für die mentale und geistige Seite menschlicher Subjektivität, die sich bspw. im Lachen oder Weinen äußert. 63 Durch die Leistung der wirklichen Seele wird der Leib Ausdruck des menschlichen Geistes, sodass beide eine Einheit bilden. 64 Indem das Subjekt sich im Leib ausdrückt, bezieht es sich, wenn es sich auf den Leib bezieht, zugleich auf sich selbst als ein mentales Subjekt. Und dieses Selbstverhältnis markiert nach Hegel den Übergang zum »Ich« und zum Denken. 65 Die Antwort auf die Enz, 183. Gegen diese Behauptung spricht nicht, dass Hegel an anderer Stelle ausführt, dass erst durch die Gewohnheit ein Ich als denkendes Subjekt existiert. Enz, 186. In § 409 der Enzyklopädie erklärt Hegel jedoch unmissverständlich, dass durch die Gewohnheit das Ich noch nicht besteht. Ebd., S. 183. Die Gewohnheit ist lediglich eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der Existenz des Ichs und seines Selbstbewusstseins. 63 Enz, 192. 64 Enz, 193: »So entsteht eine durch die Trennung der Seele von ihrer Leiblichkeit und durch die Aufhebung dieser Trennung vermittelte Einheit jenes Inneren und jenes Äußeren. Diese aus einer hervorgebrachten zu einer unmittelbaren werdende Einheit nennen wir die Wirklichkeit der Seele.« 65 Enz, 197: »Die Seele, die ihr Sein sich entgegengesetzt, es aufgehoben und als das ihrige bestimmt hat, hat die Bedeutung der Seele, der Unmittelbarkeit des Geistes, verloren. […] Dies Fürsichsein der freien Allgemeinheit ist das höhere Erwachen der 61 62
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Hegel über präreflexives Selbstbewusstsein
Frage, wie das Bewusstsein der Identität des empfindenden Subjekts und des Subjekts seiner Vorstellungen gewonnen wird, könnte somit lauten, dass es eine Leistung der wirklichen Seele ist. Doch beantwortet Hegels Darstellung der Leistungen der wirklichen Seele die Frage, wie das Identitätsbewusstsein gewonnen wird? Hegels Auskunft, dass ein Subjekt durch die Leistungen der wirklichen Seele sich seinen Leib zuzuschreiben vermag und damit der Übergang zum »Ich« erfolgt, erklärt nicht, wie das Identitätsbewusstsein konstituiert wird. Die Frage lautet, wie das Subjekt ein Bewusstsein davon haben kann, sowohl das Subjekt ihrer (begrifflichen) Vorstellungen als auch ihrer Empfindungen zu sein. Es steht außer Zweifel, dass ein Subjekt sich als ein und dasselbe Subjekt seiner Empfindungen und Vorstellungen versteht und es folglich eine Verbindung zwischen dem Subjekt der Empfindungen und seinem Selbstbewusstsein und dem Subjekt der Vorstellungen und seinem Ich-Bewusstsein gibt. Die Frage, die zu beantworten ist, lautet, worin die Verbindung näher betrachtet besteht und wie sie konstituiert wird, sodass nachzuvollziehen ist, wie es möglich ist, dass ein Identitätsbewusstsein besteht. Die Auskunft, dass das Subjekt sich von seinem Leib unterscheidet und ihn doch auch als den eigenen Leib versteht und damit der Übergang zum »Ich« erfolgt, beantwortet nicht die Frage, wie das Identitätsbewusstsein konstituiert wird. Wenn das Subjekt infolge der Gewohnheit sich von seinem Leib unterscheidet, wie vermag es dann ein Bewusstsein seiner Identität mit dem empfindenden Subjekt auszubilden? Hegel beantwortet diese Fragen nicht. Gegen diese Kritik könnte der Einwand erhoben werden, dass diese Fragen für Hegel nicht von Interesse sind. Hegel beansprucht nicht, diese Fragen zu beantworten. In diesem Fall gilt jedoch, dass der formulierte Einwand eine Aufgabenstellung identifiziert, die von zukünftigen Untersuchungen beachtet werden sollte. Schließlich sollte das Zielsubjekt philosophischer Theorien menschlicher Subjektivität (in der Regel) letzten Endes so wie bei Hegel das selbstbewusste Subjekt sein, das u. a. denkt, fühlt und praktisch tätig ist. Eine Theorie präreflexiven Selbstbewusstseins sollte eine Antwort auf die Frage geben können, wie präreflexives Selbstbewusstsein mit anderen Seele zum Ich, der abstrakten Allgemeinheit, insofern sie für die abstrakte Allgemeinheit ist, welche so Denken und Subjekt für sich, und zwar bestimmt Subjekt seines Urteils ist«.
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Stefan Lang
Varietäten von Selbstbewusstsein, und zwar insbesondere mit IchGedanken verbunden ist, sodass ein Subjekt sich als ein Subjekt versteht, das auf unterschiedliche Weisen Informationen über sich selbst besitzt.
5. Schlussbemerkung In aktuellen Untersuchungen präreflexiven Selbstbewusstseins wird Hegels Interpretation kaum beachtet. Dies ist bedauerlich, da Hegel eine originäre Interpretation präreflexiven Selbstbewusstseins entwickelt und den Standpunkt einiger analytischer Philosophen teilt, dass es egologisch verfasst ist und phänomenales Bewusstsein ubiquitär begleitet. Es ist daher zu wünschen, dass Hegels Ansatz zukünftig mehr Aufmerksamkeit zu Teil und diskutiert wird. Jedoch sind Einwände gegen Hegels Theorie vorzubringen. Hegel entwirft ein Erklärungsmodell, das nicht geeignet ist, um die Konstitution präreflexiven Selbstbewusstsein zu erklären. Außerdem beantwortet er eine weiterführende Fragestellung nicht, die von Untersuchungen präreflexiven Selbstbewusstseins beantwortet werden sollte. Es ist dies die Frage, wie präreflexives Selbstbewusstsein mit anderen Varietäten von Selbstbewusstsein verbunden ist, sodass ein Subjekt sich als ein und dasselbe Subjekt unterschiedlicher Fälle von Selbstbewusstsein zu verstehen vermag.
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Kierkegaards reflexives und präreflexives Selbst* Klaus Viertbauer, Innsbruck
Der vorliegende Beitrag versucht anhand einer Textexegese die Unterscheidung von Kierkegaards reflexiven und präreflexiven Selbst aus dessen Schrift Die Krankheit zum Tode (1849) herauszuarbeiten. Zunächst sei die zu diskutierende Passage umfänglich zitiert, ehe in einem ersten Schritt im Rahmen einer Makroanalyse in zwei Selbstmodelle und einem Selbstbegriff unterschieden wird, sowie in einem zweiten Schritt Kierkegaards anthropologische Thesen vom Mensch als Geist und Selbst bzw. dem Verhältnis von Selbst und Anderen zur Sprache kommt. 1 a b
c
Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das SKS 11,129 / KT, 8 Selbst. Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst SKS 11,129 / KT, 8 verhält, oder ist das an dem Verhältnisse, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und SKS 11,129 / KT, 8 Endlichkeit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthese.
* Die Überlegungen des vorliegenden Beitrags gehen zurück auf meine Monographie Klaus Viertbauer, Gott am Grund des Bewusstseins? Skizzen einer präreflexiven Interpretation von Kierkegaards Selbst (ratio fidei 61), Friedrich Pustet, Regensburg 2017. 1 Die Zitation Kierkegaards wird zweisprachig angegeben: Zunächst wird die Stelle gemäß den von Bent Rohde, Niels Jørgen Cappelørn, Joakim Garff, Johnny Kondrup, Tonny Aagaard Olesen und Steen Tullberg im Gads Forlag besorgten 28 Bände umfassenden Søren Kierkegaards Skrifter (1997 ff.) im dänischen Original zitiert. Sodann wird die deutsche Übersetzung gemäß der bei Eugen Diederichs in 36 Abteilungen erschienenen und von Emanuel Hirsch, Hans Martin Junghans und Hayo Gerdes (1950 ff.) verantworteten Gesamtausgabe angeführt. Bei der deutschen Übersetzung wird ein Sigel mit der jeweiligen Seitenzahl angegeben: DO = De omnibus dubitandum est und KT = Die Krankheit zum Tode.
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Klaus Viertbauer Eine Synthese ist ein Verhältnis zwischen Zweien. Auf diese Weise ist der Mensch noch kein Selbst. d In dem Verhältnis zwischen Zweien ist das Verhältnis das Dritte als negative Einheit, und die Zwei verhalten sich zu dem Verhältnis, und in dem Verhältnis zum Verhältnis; so ist z. B. unter der Bestimmung Seele das Verhältnis zwischen Seele und Leib ein Verhältnis. Verhält dagegen das Verhältnis sich zu sich selbst, so ist dies Verhältnis das positive Dritte und das ist das Selbst. e Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muß entweder sich selbst gesetzt haben, oder durch ein Anderes gesetzt sein. f Ist das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, durch ein Anderes gesetzt, so ist das Verhältnis freilich das Dritte, aber dies Verhältnis, verhält sich zu demjenigen, welches das ganze Verhältnis gesetzt hat. g Ein solches abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist des Menschen Selbst, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, und, indem es sich zu sich selbst verhält, zu einem Andern sich verhält. h Daher kommt es, daß für eigentliche Verzweiflung zwei Formen möglich werden. Hätte des Menschen Selbst sich selber gesetzt, so könnte nur von einer Form die Rede sein, von der, nicht man selbst sein zu wollen, sich selbst los werden zu wollen, aber es könnte nicht davon die Rede sein, daß man verzweifelt man selbst sein will. Letztere Formel ist nämlich der Ausdruck für die Abhängigkeit des ganzen Verhältnisses (des Selbst), der Ausdruck dafür, daß das Selbst durch sich selber nicht zu Gleichgewicht und Ruhe gelangen oder darinnen sein kann, sondern allein dadurch, daß es, indem es sich zu sich selbst verhält, zu demjenigen sich verhält, welches das ganze Verhältnis gesetzt hat. Ja, es ist so weit davon, daß diese zweite Form der Verzweiflung (verzweifelt man selbst sein wollen) lediglich eine eigene Art von Verzweiflung bezeichnet, daß vielmehr letztlich alle Verzweiflung in sie aufgelöst und auf sie zurückgeführt werden kann. Wofern ein Verzweifelnder auf seine Verzweiflung, wie er meint, aufmerksam ist, nicht sinnlos von ihr spricht, wie von etwas, das ihm widerfährt (ungefähr wie wenn der, welcher an Schwindel leidet, vermöge einer nervösen Täuschung von einem Schwersein des Kopfes spricht, oder daß es sei als ob etwas auf ihn niederfiele, usw., während die Schwere
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Kierkegaards reflexives und präreflexives Selbst
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und der Druck doch nichts Äußerliches sind, sondern eine verkehrte Spiegelung des Inwendigen) – und nun mit aller Macht aus eigenem Vermögen und allein aus eigenem Vermögen die Verzweiflung beheben will: so ist er annoch in der Verzweiflung und arbeitet sich mit aller seiner vermeintlichen Anstrengung nur desto tiefer in eine tiefere Verzweiflung hinein. Der Verzweiflung Mißverhältnis ist nicht ein einSKS 11,130 / KT, 9 f. faches Mißverhältnis, sondern ein Mißverhältnis in einem Verhältnisse, das sich zu sich selbst verhält, und durch ein Anderes gesetzt ist, so daß das Mißverhältnis in jedem für sich seienden Verhältnis sich zugleich unendlich reflektiert in dem Verhältnis zu der Macht, welche es gesetzt hat. Folgendes ist nämlich die Formel, welche den Zustand SKS 11,130 / KT, 10 des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz und gar ausgetilgt ist: indem es sich zu sich selbst verhält, und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welches es gesetzt hat.
1. Selbstmodell und Selbstbegriff 1.1.
Selbstmodelle
Die argumentative Gewichtung innerhalb der zu diskutierenden Anfangspassage variiert in ihrem Bedeutungsspektrum erheblich. Die entscheidenden Abschnitte sind b, e und j. Unmittelbar gestützt werden diese durch die Segmente a und g, wobei die Funktion von a in der Bestimmung der Termini (Mensch, Geist und Selbst) besteht, die von g im Fazit der Aussage von e (das auch an späterer Stelle in j implizit gezogen wird). Diese erste Sondierung soll am Text selbst nachvollzogen werden. Dazu gilt es mit Abschnitt b einzusetzen. Die dort vorgetragene Formulierung enthält eine Definition des Selbst: b Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnisse, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.
Dieser ersten Bestimmung des Selbst sei unmittelbar die Formulierung aus dem Abschnitt j an die Seite gestellt. Dort wird das Selbst in einem anderen Zusammenhang eingeführt: 97 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
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Folgendes ist nämlich die Formel, welche den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz und gar ausgetilgt ist: indem es sich zu sich selbst verhält, und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welches es gesetzt hat.
Bei diesem Vergleich wird die Spannung spürbar, in welcher die Selbstmodelle von b und j zueinander stehen. Abschnitt e erfüllt zwischen ihnen die Funktion einer Drehscheibe: e Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muß entweder sich selbst gesetzt haben, oder durch ein Anderes gesetzt sein.
Die durch die Segmente b, e und j hervorgehobene Grundarchitektur weist zwei Selbstmodelle (b, j) auf, die durch e miteinander vermittelt werden. Die Vermittlung e besteht darin, dass sie in einem ersten Schritt den Selbstbegriff b zitiert. Dabei wird in e das Selbst als »ein […] Verhältnis, das sich zu sich selber verhält« eingeführt und in einem zweiten Schritt auf seine Provenienz hin befragt. Entsprechend lässt sich der Abschnitt e in zwei Teile untergliedern: e1 Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, e2 muß entweder sich selbst gesetzt haben, oder durch ein Anderes gesetzt sein.
Erst in der Frage nach der Provenienz, die in e2 thematisiert wird, zeigt sich die vermittelnde Rolle dieses Abschnittes. Der Selbstbegriff aus b und j ist derselbe. Laut b ist ein Selbst »ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält«, und gemäß j besteht es darin, dass »es [sc. das Selbst oder Verhältnis] sich zu sich selbst verhält«. Damit stellt die Passage e einen gemeinsamen Nenner dar, auf den sich die Selbstmodelle aus b und j verständigen können. Der Unterschied liegt folglich nicht im Selbstbegriff, sondern im Selbstmodell, d. h. der kontextuellen Prägung des Selbst. Diese hängt von der Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Selbst ab: Selbstmodell 1 »sich selbst gesetzt haben« Selbst Selbstmodell 2 »durch ein Anderes gesetzt sein«
Die beiden skizzierten Selbstmodelle sind nicht willkürlich gewählt, vielmehr haben sie paradigmatischen Charakter. Die Selbstmodelle stehen für richtungsweisende subjektphilosophische Positionen, die 98 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
Kierkegaards reflexives und präreflexives Selbst
– mit Blick auf den enigmatischen Terminus eines Anderen aus Selbstmodell 2 – bereits an dieser Stelle unter genuin religionsphilosophischen Bedingungen erschlossen werden. 2 Die Selbstmodelle thematisieren den Ursprung ein und desselben Selbstbegriffs. Dabei zeichnen sich zwei Interpretationslinien ab. Das Selbstmodell 1 spricht sich für eine Selbstsetzung aus. Diesem Modell folgend, hat sich das Selbst von alleine ins Dasein gebracht. Das Selbstmodell 2 verortet den Ursprung des Selbst in einem nicht näher bestimmten Anderen. Damit optiert das Selbstmodell 1 für die These einer Selbstsetzung und das Selbstmodell 2 für eine Fremdsetzung. Für ein deutlicheres Verständnis des Szenarios einer Selbstsetzung sind die Passagen c und d dienlich. Umgekehrt erhellen die Abschnitte f und g das Verständnis des Szenarios einer Fremdsetzung.
1.2.
Selbstbegriff
Nachdem die Architektur der Textpassage in einem ersten Schritt rekonstruiert wurde und sich dabei zwei Selbstmodelle voneinander unterscheiden ließen, ist nun in einem zweiten Schritt der Selbstbegriff zu analysieren. Aus dem bisher erhobenen lässt sich so viel ablesen, dass die beiden Selbstmodelle aus zwei Komponenten zusammenzusetzen sind: Zum einen aus der für beide gleichermaßen gültigen Verhältnisstruktur und zum anderen aus der Bestimmung des Ursprungs, in der sich die beiden Modelle unterscheiden. Verdichtet wird dies im Abschnitt e zum Ausdruck gebracht. Dabei greift e1 die Bestimmung des Selbstbegriffs als Verhältnisstruktur auf, und in e2 werden die beiden Provenienzen in Form einer Selbst- und Fremdsetzung benannt. Um zu einem angemessenen Verständnis des Selbstbegriffs zu gelangen, bedarf es einer Analyse der Abschnitte b, c, d, f und g. Während die Abschnitte b, c und d die Grundlagen beinhalten und damit für beide Selbstmodelle Verbindlichkeit erlangen, berühren die Abschnitte f und g lediglich das Selbstmodell 2. Für die
Wie Michael Theunissen, Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung, Anton Hain, Frankfurt am Main 1991, 36 und Tilo Wesche, Kierkegaard. Eine philosophische Einführung, Reclam, Stuttgart 2003, 92 f. bemerken, setzte Kierkegaard in einer ersten Skizze zum späteren Buch Die Krankheit zum Tode (1849) an die Stelle des Begriffes des Anderen unmittelbar den von Gott.
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gesamte Passage – und somit auch für die hier angeführten Abschnitte – ist die Begriffsprägung aus Abschnitt a verbindlich. Die hier zu diskutierenden Teile b, c, d, f und g sind ihr eingeschrieben. Dies soll im Folgenden amText selbst demonstriert werden. Der begriffsprägende Charakter, der Abschnitt a attestiert wurde, besteht in der Einführung der zentralen Termini von Mensch, Geist und Selbst. Die Textierung erscheint für eine philosophische Abhandlung als eigenwillig und folgt einem Frage-Antwort-Schema: a Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst?
Der Abschnitt a führt mit Mensch, Geist und Selbst drei innerhalb der Philosophiegeschichte viel diskutierte Termini ein und erklärt sie in Form einer internen Relationierung. Das wird in einer weiteren Untergliederung des Abschnittes sichtbar: a1 a2 a3 a4
Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst?
Bei den Abschnitten a1 und a3 handelt es sich um Aussagen. Diese erfolgen in Form von Relationierungen und lassen sich zu einem hypothetischen Syllogismus verbinden: (A (A
B) ^ (B C)
C) (wenn Mensch [A], dann Geist [B]) und (wenn Geist [B], dann Selbst [C]) (wenn Mensch [A], dann Selbst [C])
Diese Aussage ist für sich genommen trivial. Es wird erklärt, dass ein Mensch deshalb ein Selbst ist, weil er zugleich Geist ist. Hinter diese Aussage wird sich, wenngleich auch an der konkreten Formulierung Kritik anmeldend, der überwiegende Teil der Philosophen stellen. Kierkegaard zählt sich nicht zu diesem Teil. Er hinterfragt den hypothetischen Syllogismus. Indem er nach dessen Abschluss in a3 mit a4 erneut die Frage nach dem Selbst aufwirft, stellt er sich außerhalb des Kreises der Befürworter. Mit anderen Worten: Für Kierkegaard wird ein Mensch nicht allein aufgrund des Geistes ein Selbst. Die in a4 erhobene Frage nach dem Selbst ergibt sich damit aus der Konsequenz, dass a3 zwar eine notwendige, jedoch keine hinreichende Begründung für a2 liefert. Damit ist die Unterscheidung von Selbstbegriff und Selbstmodell vollzogen.
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Kierkegaards reflexives und präreflexives Selbst
2. Die anthropologischen Grundaussagen 2.1.
Der Mensch als Geist
Die These, dass der Mensch als Geist zu identifizieren ist, ist innerhalb der Philosophiegeschichte nicht neu. Sie drückt die Relation zwischen dem Subjekt und den als immateriell veranschlagten Ideen aus. In der in Abschnitt a1 vorgenommenen Bestimmung des Menschen als Geist kommt der Mensch folglich als das Wesen in den Blick, das in wesensprägender Unterscheidung zu anderen Seienden über einen Zugang zum Bereich der Ideen verfügt. Diese Aussage ist für sich genommen trivial, zumal dann, wenn man den ideengeschichtlichen Kontext des 19. Jahrhunderts betrachtet: »Freilich knüpft Kierkegaard mit dem Satz ›der Mensch ist Geist‹ an eine zu seiner Zeit gängige romantisch-idealistische Formel und Überzeugung an, für deren allgemeine Verbreitung kaum einzelne Nachweise gegeben werden müssen. Und unbestreitbar stellt dieser Satz Kierkegaards sich ganz allgemein gesehen auch in den Horizont der Hegel’schen Philosophie, die zu seiner Zeit auch in Dänemark weiterhin führend war.« 3 Kierkegaard bleibt aber bei der besagten These aus a1 nicht stehen. Ganz im Gegenteil: In a2 problematisiert er die Identifikation des Menschen als Geistwesen nicht nur, sondern er hinterfragt das Konzept des Geistwesens an sich. So besteht die eigentliche Pointe von a2 darin, dass Kierkegaard »diese gemeinidealistische Übereinkunft, als sei mit dem Stichwort ›Geist‹ alles Entscheidende gesagt [… durchbricht] und […] unverzüglich auf eine Präzisierung« 4 drängt. Diese Präzisierung ist nun, so meine These, nichts anderes als eine Kritik an Hegels Geistphilosophie. Dass diese Kritik in ihrer zumeist impliziten Durchführung mehr an dänischen Hegel-Rezipienten als am unmittelbaren Original Maß nimmt, wurde hinreichend gezeigt. 5 Dies ist nicht mein Thema. Ich möchte an dieser Stelle nur vorausschicken, dass all das, was Kierkegaard über die These aus a1 sagt, auf das Selbstmodell 1 bezogen wird.
3 Joachim Ringleben, Die Krankheit zum Tode von Sören Kierkegaard. Erklärung und Kommentar, Vadenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995, 50. 4 Ringleben (1995) 50. 5 Vgl. Jon Stewart, Kierkegaard’s Relation to Hegel Reconsidered, CUP, New York 2003.
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Klaus Viertbauer
Will man verstehen, wie Kierkegaard den Geistbegriff prägt, so erscheint es mir nicht nur hilfreich, sondern auch redlich, sich am Fragment De omnibus dubitandum est (1844) zu orientieren. Es handelt sich um einen etwa 50 Seiten langen Text, der im Anhang zu den Philosophischen Brocken (1844) bereits im vollen Titel dem Pseudonym Johannes Climacus zugeschrieben wird. Als Thema wird die Frage nach dem Zweifel und dessen Voraussetzungen in den Blick genommen. Der Text besteht aus zwei Teilen, wobei der erste Teil in zwei Kapitel mit in Summe fünf Paragraphen untergliedert ist und der zweite, der gegen Ende hin fragmentarisch verläuft, nur ein Kapitel mit einem Paragraphen aufweist. Diesem letzten Paragraphen mit dem Titel »Wie die Existenz beschaffen sein muß, damit das Zweifelen möglich werde?« gilt im Weiteren meine volle Aufmerksamkeit. 6 Kierkegaard, so die Ausgangsposition, sträubt sich gegen einen radikalen Skeptizismus. Deshalb versucht er im Rahmen des Fragments die impliziten Voraussetzungen des Zweifelns aufzuzeigen: »Jeder Beginn einer Philosophie«, so Jann Holl, »setzt immer schon das Denken des Philosophierenden voraus, aber dieses Denken wird sich wiederum erst in seiner Philosophie thematisch.« 7 Damit ist auf eine grundsätzliche Zirkularität von Begründungsverfahren hingewiesen. Kierkegaard unterscheidet eingangs eine empirische Antwort von einer ideellen. Erstere erweist sich als nicht durchführbar. Sie verortet den Zweifel als eine Form von Wissen. Dagegen sprechen drei Gründe: Erstens kann alles, was sich als Wissen deklariert lässt, als Grundlage für den Zweifel infrage kommen. Wäre dem so, so wäre man mit einer unendlichen Anzahl von Wissen konfrontiert. Dagegen spricht alleine schon die Pragmatik, da der Zweifel nur zufällig, d. h. bei der Auffindung des richtigen Wissensobjekts, eintreten würde. Zweitens spricht gegen eine empirische Antwort, dass ein und dasselbe Wissensobjekt bei unterschiedlichen Personen unterschiedliche Wirkungen hervorrufen kann. Dies führt drittens mitunter so weit, dass das, was bei einem den Zweifel hervorruft, bei einem anderen sogar dessen Gegenteil, nämlich den Glauben auslösen kann. Vor diesem Hintergrund spricht sich Kierkegaard gegen eine empirische SKS 15,53–15,59 / DO, 153–159. Jann Holl, Kierkegaards Konzeption des Selbst. Eine Untersuchung über die Voraussetzung und Formen seines Denkens, Anton Hain, Meisenheim am Glan 1972, 13. 6 7
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Antwort und für eine ideelle aus. Mit dem Versuch einer ideellen Antwort ist eine Elementarstruktur des Bewusstseins in den Blick genommen. Diese ist aus den oben genannten Gründen a priori, d. h. unabhängig von Erfahrung konstituiert. In diesem Zusammenhang findet man sich mit einer Reihe von begrifflichen Distinktionen konfrontiert. Es handelt sich um die Unterscheidung von kindlichen und erwachsenen Bewusstsein, von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit, von Realität und Idealität, von einem dichotomischen und trichotomischen Verhältnis sowie um die Begriffe von Reflexion, Geist und Interesse. Ich werde diese Unterscheidungen und Begriffe klären und hoffe, dadurch gleichzeitig Kierkegaards Antwort kurz zu resümieren. Mit der Unterscheidung von kindlichem und erwachsenem Bewusstsein versucht Kierkegaard die Unterscheidung von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit bzw. Realität und Idealität zu verdeutlichen: »Im Kind ist das Bewußtsein«, so beginnt Kierkegaards Vergleich, »aber dieses Bewußtsein hat den Zweifel außerhalb seiner.« 8 Das kindliche Bewusstsein zeichnet sich folglich dadurch aus, dass es, im Unterschied zum erwachsenen Bewusstsein, noch nicht über den Zweifel verfügt. Da der Zweifel die Fähigkeit zur Diskriminierung, d. h. epistemologischen Unterscheidung, voraussetzt, bleibt er dem kindlichen Bewusstsein äußerlich. Vor diesem Hintergrund beschreibt Kierkegaard das kindliche Bewusstsein als unmittelbar, wobei sich diese epistemologische Unmittelbarkeit als Unbestimmtheit identifizieren lässt: »In der Unmittelbarkeit ist keine Beziehung«, konstatiert Kierkegaard, »denn sobald die Beziehung vorhanden ist, ist die Unmittelbarkeit aufgehoben.« 9 Dies bleibt nicht ohne Folgen. So lässt sich selbst ein universales Gesetz der Logik, wie es der Satz vom Widerspruch verkörpert, nicht mehr für den Bereich des unmittelbaren Bewusstseins aussagen. Mit den Worten Kierkegaards: »Unmittelbar ist daher alles wahr, aber diese Wahrheit ist im nächsten Augenblick Unwahrheit; denn unmittelbar ist alles unwahr.« 10 Diesen Begriff der Unmittelbarkeit identifiziert Kierkegaard sodann mit dem Begriff der Realität. Es handelt sich um das, was an sich in der Welt ist und nicht für sich ins Bewusstsein tritt. Als Komplementärbegriff zur Realität führt Kierkegaard die Idealität an, die er mit SKS 15,54 / DO, 154. SKS 15,54 / DO, 154. 10 SKS 15,55 / DO, 154. 8 9
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Klaus Viertbauer
der Sprache identifiziert: »Die Unmittelbarkeit ist die Realität, die Sprache ist die Idealität [… und] das Bewußtsein ist der Widerspruch.« 11 Vor diesem Hintergrund lassen sich die referierten Begriffe in folgendes Verhältnis bringen: Kindliches Bewusstsein : Erwachsenem Bewusstsein Unmittelbarkeit : Mittelbarkeit Realität : Begriff Entscheidend ist im Weiteren die Frage nach dem Prinzip, das den Übergang vom kindlichen in das erwachsene Bewusstsein, von der Unmittelbarkeit in die Mittelbarkeit bzw. von der Realität in den Begriff beschreibt. Die Antwort auf die Frage, »wie […] die Unmittelbarkeit aufgehoben« wird, ist laut Kierkegaard einfach, nämlich »durch die Mittelbarkeit, welche die Unmittelbarkeit aufhebt.« 12 Indem man, so das dritte Begriffspaar, die Realität ausspricht und diese sprachlich formuliert, hebt man die Realität an sich in die begriffliche Idealität auf. »Das Axiom der Reflexion ist der Satz vom Widerspruch, weil das erste Urteil die erste Ur-Teilung ist. Ohne den Widerspruch verschwindet auch das Bewußtsein als Verhältnis zu den Momenten der Ur-Teilung, Realität und Idealität, aber damit sind Realität und Idealität keine Widersprüche, sondern nur als widersprüchlich gesetzt.« 13 Offenkundig orientiert Kierkegaard den herausgestellten Transformationsprozess an der dialektischen Aufhebung von Hegel, die gemäß den Parametern von conservare, elevare und tollere verfährt. Umgelegt auf unser Beispiel: Die Realität als Unmittelbarkeit wird in der Idealität als Mittelbarkeit negiert (tollere), gleichzeitig in eine allgemeinere, d. h. sprachliche Form gebracht (elevare) und dadurch bewahrt (conservare). Kierkegaard spricht in diesem Zusammenhang von Reflexion: »Die Reflexion ist die Möglichkeit des Verhältnisses [… und] das Bewußtsein ist das Verhältnis.« 14 Dabei unterscheidet er weiter in zwei Formen von Verhältnis: das dichotomische Verhältnis und das trichotomische. Bei ersterem handelt es sich um ein Verhältnis, das von den Polen aus konstruiert ist. Kennt man einen Pol, so kann man durch dessen Ne11 12 13 14
SKS 15,55 / DO, 155. SKS 15,55 / DO, 154. Holl (1972) 27. SKS 15,56 / DO, 156.
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Kierkegaards reflexives und präreflexives Selbst
gation auf den zweiten schließen. In diesem Sinn, so Kierkegaard in De omnibus dubitandum est (1844), sind die Pole von »Idealität und Realität« 15 bzw., so in Übereinstimmung mit Die Krankheit zum Tode (1849), von »Seele und Leib« 16 konstruiert. Anders verhält es sich beim trichotomischen Verhältnis. Dies wird nicht ausgehend von den Polen, sondern deren Verhältnisbestimmung her gedacht. Das, so die Unterscheidung, was zwischen den Polen steht und diese erst zu einem Verhältnis aufspannt, deren, um das lateinische Substantiv zu verwenden, Interesse, bringt die subjektive Neigung eines Selbst zu den Polen zum Ausdruck. So wie das dichotomische Verhältnis durch die Reflexion, von einem Pol auf den anderen schließend, konstituiert wird, steht der Geist hinter dem trichotomischen Verhältnis, da – so Kierkegaard weiter – »wenn in der Welt des Geistes eines geteilt wird, es zu drei, niemals zu zwei« 17 wird. Folglich ist das dichotomische Verhältnis, das von den Polen her gedacht wird, uninteressiert und das trichotomisch, das vom Interesse her aufgezogen wird, interessiert. Der Geist, der das trichotomische, d. h. an sich selbst interessierte Verhältnis konstituiert, ist, so die Schlussfolgerung, mit dem Bewusstsein selbst zu identifizieren. Damit wäre die erste These ausbuchstabiert: Der Mensch als Geist ist das Wesen, das als Geistwesen über Bewusstsein verfügt und seine Interessen und sich selbst zum Reflexionsgegenstand erhebt.
2.2.
Der Mensch als Selbst
Der Mensch ist als Geistwesen in der Lage sich ein subjektives Wissen von der Welt zu verschaffen. Darin besteht der Kern der in a1 getätigten Aussage. Die Funktion des vorangehenden Abschnitts bestand darin, a1 vor dem Hintergrund der in a2 aufgeworfenen Frage einer Antwort zuzuführen. Da Kierkegaard sich mit Blick auf a4 gegen den logischen Syllogismus ausspricht, gemäß dem sich aus den Zusammenhängen »Mensch ist Geist« und »Geist ist Selbst« unmittelbar vom Menschen auf das Selbst schließen lässt, gilt es an dieser Stelle den Zusammenhang von a3 und a4 näher in den Blick zu nehmen.
15 16 17
SKS 15,56 / DO, 156. SKS 15,56 / DO, 156 bzw. SKS 11,129 / KT, 8. SKS 15,56 / DO, 156.
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Klaus Viertbauer
Zunächst sei die konkrete Formulierung in Erinnerung gerufen. Diese lautet: a3 Geist ist das Selbst. a4 Was aber ist das Selbst?
Während die Aussage in a3 den zu klärenden Begriff des Selbst mit dem zuvor geklärten Begriff des Geists identifiziert, wird dies mit der anknüpfenden Rückfrage aus a4 umgehend wieder infrage gestellt. Somit lässt sich der Aussage aus a3 nur so viel abringen, dass der Geist eine notwendige, keinesfalls aber eine hinreichende Bedingung für das Selbst verkörpert. Um eine Klärung der getätigten Aussagen zu erreichen, ist es notwendig weitere Textabschnitte zu konsultieren. Es handelt sich um die Abschnitte b, c, d, f und g. Dabei betreffen die in b, c und d erhobenen Aussagen die grundsätzliche Form eines Selbst. Dieses wird in e1 zitiert und trifft somit auf beide Selbstmodelle zu. Anders verhält es sich mit den in f und g formulierten Aussagen, deren Gültigkeit nur für das Selbstmodell 2 zutrifft. Von daher sind f und g für uns an dieser Stelle vernachlässigbar. c Ableitung 1
d Ableitung 2 b Selbst
Die Bestimmung des Selbst erfolgt in Abschnitt b in Form einer hochkomplexen Übersetzung des Selbstbegriffs in eine Verhältnisstruktur. Dabei behält die Aussage aus a3, gemäß der das Selbst als Geist zu identifizieren ist, ihre Gültigkeit. Von daher kann der Geist von der Umformung des Selbst in eine Verhältnisstruktur nicht unberührt bleiben. Dessen oben abgeleitete Funktion tritt an dieser Stelle erneut an die Oberfläche. Auch wenn der Geist keine hinreichende Bestimmung für das Selbst ist, verdeutlicht er zumindest, wie das Selbst in der Tradition von a3 bestimmt wurde. Die Aporie der klassischen Identifikation, die durch die Bestimmung in a3 dokumentiert wird, wird von Kierkegaard in a4, spätestens aber mit der Formulierung in c ad absurdum geführt. Kierkegaard schlägt deshalb einen anderen Weg ein. Dabei lässt er nicht nur den Substanzbegriff hinter sich, sondern erreicht sogar eine Bestimmung von Subjektivität auf nachmetaphysischem Niveau. 18 Dies alles versuche ich im Folgenden zu 18
In diesem Sinn bezieht sich Habermas mehrfach auf Kierkegaard. Die m. E. sub-
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Kierkegaards reflexives und präreflexives Selbst
zeigen. Bevor die unmittelbare Auslegung einsetzt, soll der Text allerdings weiter untergliedert werden: b1 b2 b3 b4
Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.
Der Abschnitt beginnt in b1 unmittelbar mit der Umformung des Selbst in ein Verhältnis. Der skizzierte Transformationsprozess ist aber deutlich anspruchsvoller, als die Formulierung selbst vermuten lässt. Denn die in b1 getätigte Aussage impliziert zwei unterschiedliche Formen von Verhältnis: b1.1 Das Selbst ist ein Verhältnis b1.2 Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält
Während das Verhältnis in b1.1 in Form einer Dichotomie vorliegt, weist das in b1.2 die Form einer Trichotomie auf. Ganz offensichtlich wird die ursprüngliche Relation von Geist und Selbst aus a3 auf deren Eigenschaften übertragen. In der Rekonstruktion des Selbst als Verhältnis begegnen daher dieselben Strukturen wie zuvor in der Bestimmung des Geistes. Zunächst ist jedoch die Aussage über das Selbst in b1.1 zu rekonstruieren. Ein Verhältnis besteht aus mindestens drei Elementen: Zwei Pole (A, B) und eine diese Pole zum Verhältnis aufspannende Linie. Eine Klärung innerhalb dieser Anordnung bedarf der Relation, durch welche die beiden Pole erst zu einem Verhältnis aufgespannt werden. Bei dem in b1.1 formulierten Verhältnis handelt es sich um eine dichotomische Relation. Dies lässt sich implizit aus ihrem elementaren Schema entnehmen, das keine weiteren Optionen zulässt. Es handelt sich um die einfachste Form eines Verhältnisses. Die Linie steht in einer strengen Abhängigkeit zu den beiden Polen. A
B
Die dichotomische Verhältnisstruktur determiniert die Bestimmung der Pole als Komplementärbegriffe. So lässt sich, sobald man einen Pol kennt, automatisch der andere ableiten. In Abschnitt d wird dies stanziellsten Bezugnahmen liegen in Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992, 33 f. und ders., Zwischen Naturalismus und Religion, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, 251 f. vor.
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an einem Beispiel vorexerziert. Dort heißt es, dass »unter der Bestimmung Seele das Verhältnis zwischen Seele und Leib ein Verhältnis« ist. Es genügt im dichotomischen Verhältnis, einen der beiden Pole zu kennen. Von daher lässt sich von »Seele« auf das Verhältnis von »Leib und Seele« schließen. In diesem Sinn kennzeichnet Kierkegaard die dichotomische Relation als Modell des »negative[n] Verhältnis[ses]«. Dabei handelt es sich um die unterste Stufe des Geistes. Diese wurde oben als Reflexion bestimmt. In diesem negativen Verhältnis berühren sich die Pole unter einem bestimmten Gesichtspunkt. So lautet das Verhältnis von A etwa: A und Non-A und berühren sich in der wechselseitigen Bestimmung von A. Dabei wird A sowohl positiv (A) als auch negativ (Non-A) erschlossen. Die Negativität des dichotomischen Verhältnisses besteht in dessen Bezug. Es ist strikt auf einen Punkt konzentriert, den es unter antinomischen Gesichtspunkten bestimmt. Indem allerdings der Aspekt A lediglich unter dessen positiver (A) und negativer (Non-A) Geltung erschlossen wird, unterbleibt sowohl eine inhaltliche Bestimmung, als auch eine bewusste Bezugnahme des Subjekts zu diesem. Deshalb bleibt das dichotomische Verhältnis in sich gekehrt und ist somit negativ. A
A (positiv)
Non-A (negativ)
An dieser Stelle lässt sich mit dem in b1.2 beschriebenen Verhältnis anknüpfen. Dies ist ungleich komplexer und setzt jenes in b1.1 in vollem Umfang voraus. Zur näheren Unterscheidung des dichotomischen Verhältnisses in b1.1 vom trichotomischen in b1.2 sei der Abschnitt d herangezogen. Dieser lässt sich in die Unterabschnitte d1 und d2 untergliedern, wobei d1 auf b1.1 und d2 auf b1.2 bezogen wird: d1 In dem Verhältnis zwischen Zweien ist das Verhältnis das Dritte als negative Einheit, und die Zwei verhalten sich zu dem Verhältnis, und in dem Verhältnis zum Verhältnis; so ist z. B. unter der Bestimmung Seele das Verhältnis zwischen Seele und Leib ein Verhältnis. d2 Verhält dagegen das Verhältnis sich zu sich selbst, so ist dies Verhältnis das positive Dritte und das ist das Selbst.
Mit anderen Worten: Während das dichotomische Verhältnis das Verhältnis A und Non-A unter dem Aspekt A betrachtet, hebt das trichotomische Verhältnis das dichotomische in sich als Selbst auf. Indem 108 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
Kierkegaards reflexives und präreflexives Selbst
dabei als Vermittlungspunkt das Selbst gewählt wurde, verwandelt sich das negative auf A orientierte Verhältnis in ein positives. Dabei wird das in b1.1 als dichotomisch beschriebene Verhältnis in b1.2 in einen trichotomischen Selbstbezug umgeformt. Im trichotomischen Verhältnis wird der dichotomischen Struktur ein drittes Glied zugefügt. Auch dies wurde bereits im Zusammenhang mit der Erörterung des Geistes beschrieben. Dabei wurde festgehalten, dass das trichotomische Verhältnis gegenüber dem dichotomischen deshalb höherstufig ist, weil es auch die Form des Zueinanderbringens mit in die Reflexion einzubeziehen weiß. In der gewählten Formulierung »zu sich« kommt deshalb die positive, d. h. zum Selbst hingewandte Orientierung des trichotomischen Verhältnisses zum Ausdruck. Dem gegenüber lässt sich das dichotomische Verhältnis als bloß negativ, d. h. an A und somit an einen »in sich« liegenden Aspekt orientiert, abgrenzen. In der Beschreibung des Selbst als Selbstverhältnis in b1.2 wird demnach der durch das dichotomische Verhältnis vorgegebene Rahmen gesprengt. Dabei wird eine Aufhebung beschrieben, gemäß der das Verhältnis ein Bewusstsein seiner selbst erlangt. Vor dem Hintergrund der in d2 getätigten Aussagen lässt sich festmachen, dass das trichotomische Verhältnis die formalen Bedingungen des Selbstseins bereitstellt. Damit ist eine Begründung der in a3 veranschlagten These umrissen: Denn – wie oben gezeigt wurde – ist es der Geist, der eine konkrete Bewusstwerdung realisiert. Indem sich die Attribuierungen des Selbst mit jenen des Geistes identifizieren lassen, wird das Selbst als Prozess der Bewusstwerdung bestimmt. Im Selbst kommt es zu einer Begegnung des Selbst mit sich selbst. Dabei lässt sich der dieser Selbstbegegnung zugrundeliegende Akt als Aufhebung des dichotomischen Verhältnisses in das trichotomische beschreiben. Die konkrete Form, in der die Bewusstwerdung des dichotomischen Verhältnisses als trichotomisches vonstattengeht, kann weiter als Interessensstruktur konzeptualisiert werden. 19 Dies gilt es, am konkreten Text nachzuempfinden. Die in Abschnitt b1.2 veranschlagte These des Selbst als Selbstverhältnis wird in b2 näher bestimmt. Dabei wird die Innenperspektive des Selbstverhältnisses in den Blick genommen. Nicht das dichotomische Verhältnis, d.s. die Elemente der Pole A, B und die diese aufVgl. Heinrich Schmidinger, Das Problem des Interesses und die Philosophie Sören Kierkegaards, Karl Alber, Freiburg im Breisgau 1983, 297–309.
19
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spannende Linie, sondern nur die Linie wird dabei anvisiert. Ihre Funktion besteht darin, »daß das [dichotomische] Verhältnis sich zu sich selbst verhält«. Von daher kommt es auf Form und Funktion der Linie an, die dafür sorgt, dass die einzelnen Elemente zueinander überhaupt in ein Verhältnis gebracht werden. Die vorgetragene These bestimmt diese Linie als Interesse und identifiziert sie mit dem Geist. Der Terminus des Interesses wird dabei an der Semantik seiner lateinischen Wurzel orientiert. Es geht beim Interesse um ein Zwischensein. Dabei ist das Interesse des dichotomischen Verhältnisses uninteressiert, während jenes des trichotomischen interessiert ist. Anders ausgedrückt: Im dichotomischen Verhältnis werden zwei einander ausschließende Pole gegenübergestellt. Das Interesse drückt sich in ihrer wechselseitigen Bezugnahme aus. Als Beispiel gilt das Verhältnis von A und Non-A, dessen Interesse in der positiven (A) und negativen (Non-A) Bestimmung von A liegt. Dabei setzt die Bestimmung mit A bei einem der beiden Pole an. Anders verhält es sich beim trichotomischen Verhältnis. Dabei erfolgt eine bewusste Zuwendung zu A. Bei einer bewussten Zuwendung verschiebt sich aber ganz offenkundig der Einstiegspunkt: Nicht von einem der Pole aus wird das Verhältnis in den Blick genommen, sondern unmittelbar vom Interesse. Ein solches Interesse schließt sodann auf die Pole von A und Non-A. Es ist nicht eingespannt als logische Vermittlung, sondern spannt diese auf. Ein solches Interesse ist interessiert. Dadurch kommt eine subjektive Aneignung zum Ausdruck. 20 Damit ist die Arbeit an der Selbstdefinition abgeschlossen. Die hinreichende Bedingung des Selbstseins wird durch die Unterscheidung von b1.1 und b1.2 angezeigt. Demnach lässt sich ein Selbst nicht in Form eines dichotomischen (wie in b3), sondern nur als ein trichotomisches Verhältnis (so das Fazit aus b4) darstellen. Indem sich ein Selbst in Form eines trichotomischen Verhältnisses rekonstruieren lässt und auch der Geist in eben dieser Form konzeptualisiert wird, lässt sich die Aussage aus a3, gemäß der das Selbst Geist ist, verifizieren. Nach der Klärung der Begriffe Geist und Selbst aus Abschnitt a kann der hypothetische Syllogismus genauer analysiert werden. Dieser lautet: (A (A 20
B) ^ (B C)
C) (wenn Mensch [A], dann Geist [B]) und (wenn Geist [B], dann Selbst [C]) (wenn Mensch [A], dann Selbst [C])
Vgl. Schmidinger (1983) Kap. 10.
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Kierkegaards reflexives und präreflexives Selbst
Während zuvor mit A, B und C eine Gleichung mit drei Variablen vorlag, sind mittlerweile zwei dieser Variablen (B, C) bekannt. Vor diesem Hintergrund sollte eine Bestimmung der Variable A logisch möglich sein. Der Syllogismus besagt, dass der Mensch ein Selbst ist. Damit ist das zentrale Anliegen von Kierkegaard ausgesprochen. Es geht um die Bestimmung des Menschen als Selbst. Dabei handelt es sich nicht um Synonyme. Die Unterscheidung von Mensch und Selbst besteht in der Perspektive. Beide Begriffe beschreiben Subjektivität und wählen dazu unterschiedliche Ausgangspunkte: Mit dem Begriff Mensch wird Subjektivität aus der Beobachterperspektive der dritten Person anvisiert. Mit Mensch bezieht man sich auf die Gattung und charakterisiert deren Wesen. Dies erfolgt im Rahmen des Diskurses der Anthropologie. In diesem Sinn charakterisiert Abschnitt c den Menschen als Synthese, was an den drei dichotomischen Bestimmungen von »Unendlichkeit und Endlichkeit«, »dem Zeitlichen und dem Ewigen« sowie »Freiheit und Notwendigkeit« veranschaulicht wird. Damit werden dem Leser Attribuierungen der klassischen Tradition in Erinnerung gerufen. Die Pointe besteht allerdings genau darin, dass sich auf diesem Weg zwar ein Menschenbild, nicht aber ein Selbstbild generieren lässt. Denn auf diese Weise wird der Mensch nur als Synthese bestimmt. Bei einer Synthese handelt es sich aber bloß um »ein Verhältnis zwischen Zweien« und »auf diese Weise ist der Mensch noch kein Selbst«. Um zu erfahren, wofür der Begriff Selbst steht, darf man somit in der Bestimmung nicht von den Gliedern her denken – so wie in der Tradition üblich – sondern man muss das Selbst als Ganzes ins Zentrum stellen. Dies gelingt nur, wenn man das dichotomische Verhältnis in ein trichotomisches umformt, und dazu bedarf es des Geistes. Indem der Mensch über den Geist verfügt, ist er befähigt, ein Selbst auszubilden. Mit dem Selbst als zweitem Terminus wird Subjektivität aus der Teilnehmerperspektive der ersten Person anvisiert. Mit Selbst bezieht man sich auf ein konkretes Subjekt einschließlich dessen phänomenalen Bewusstseins und dessen existenzieller Lebensform. Dabei wird – so die klassische These – der Übergang von Mensch zum Selbst durch den Geist geleistet. Der Geist ermöglicht, dass ein Mensch nicht äußerlich als dichotomisches Verhältnis bestimmt wird, sondern sich selbst als Summe seiner Interessen konstituiert. An dieser Stelle tut sich ein Scheideweg auf: Auf der einen Seite stimmt der Text der These, dass das Selbst Geist ist, in d2 zu, auf der anderen Seite verifiziert er den logischen Syllogismus, gemäß dem der Mensch Selbst ist, in g gerade 111 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
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nicht. Die Lösung liegt darin, dass sich die erste These auf die Selbstdefinition und die zweite auf das Selbstmodell bezieht. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Selbst zwar Geist ist, es sich aber beim Menschen noch nicht um ein Selbst handelt. Der Syllogismus, gemäß dem der Mensch ein Selbst wird, bedarf einer weiteren Instanz – des Anderen.
2.3.
Das Selbst und das Andere
Kierkegaard operiert im Rahmen der berühmten Anfangspassage von Die Krankheit zum Tode (1849) mit dem Terminus des Verhältnisses. Dies tut er aber nicht in einheitlicher Form. Vielmehr lassen sich, wie Manfred Frank herausgestellt hat, drei Typen von »Verhältnis« unterscheiden. 21 Schauen wir uns diese Formen an: 1.
Verhältnis im Sinn einer Relation zwischen zwei Polen:
Mit dieser ersten Verhältnisbestimmung wird das dichotomische Verhältnis in den Blick genommen. Es handelt sich dabei um eine negative Verhältnisbestimmung, in der die Pole A und B als Antinomien aufgespannt werden. Sobald man einen der beiden Pole kennt, lässt sich durch dessen Negation automatisch der zweite ermitteln. Das Verhältnis von A zu B entspricht dabei jenem von A und Non-A. In diesem negativen Verhältnis berühren sich die Pole in einem Punkt, der sowohl positiv (A), wie auch negativ (Non-A) erschlossen wird. Folglich wird das Verhältnis ganz von den Polen (A, B) her bestimmt. Es ist negativ, was bedeutet, dass es keine bewusste Zuwendung zu dem die Pole A und B aufspannenden Zwischensein gibt. 2.
Verhältnis im Sinn eines Zwischenseins, also als Ambiguität zwischen den beiden Polen
Dies ändert sich mit dem zweiten Verhältnisbegriff. Dieser verschiebt den Akzent von den Polen zu dem diese erst in eine Verhältnisform bringenden Zwischensein. Übersetzt man den Kunstbegriff des »Zwischenseins« zurück ins Lateinische, so sieht man, was ein Verhältnis Vgl. Manfred Frank, Selbstbewusstseins-Theorien von Fichte bis Sartre, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, 501–505.
21
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Kierkegaards reflexives und präreflexives Selbst
im innersten prägt: Es handelt sich um seine »Interessen«. Wenn man vom Selbst als Verhältnis spricht, so ist das Verhältnis auf dieser Stufe angesiedelt. Bei einem Selbst handelt es sich um die Summe seiner Interessen. Die Frage nach dem Selbst lässt sich folglich durch Angabe seiner Interessen, d. h. der Synthesis seiner Verhältnisse beantworten. 22 Diese Bezugnahme des Selbst zu seinen Interessen formt das negative Verhältnis in ein positives um. Doch Kierkegaard geht noch einen Schritt weiter. Er abstrahiert und unterscheidet in seiner Schrift Entweder/Oder (1843) zwei Prototypen voneinander: Der erste Prototyp, der Ästhetiker, orientiert seine Interesse am sinnlich Affizierbaren. Der zweite Prototyp, der Ethiker, orientierte diese an sittlichen und gesellschaftlichen Normen. Dabei bildet man sein Selbst in Freiheit gemäß den eigenen Interessen heraus. 3.
Verhältnis im Sinn eines Verhaltens zu seinem eigenen Grund
Der dritte Verhältnisbegriff verfährt in Analogie zum zweiten und deckt dabei dessen implizite Voraussetzungen auf: Indem die Orientierung weder am sinnlich Affizierbaren, noch an sittlichen oder gesellschaftlichen Normen ihren Ausgang nimmt, sondern an der Frage nach dem eigenen Grund, fragt das Selbst nicht nach der Form des eigenen »Soseins«, sondern nach der Provenienz des eigenen »Seins«. Mit anderen Worten: Die beiden ersten Verhältnistypen sind dem »Sosein« zugeordnet, und nur der dritte Typus wird auf das »Sein« bezogen. Bekanntermaßen verortet Kierkegaard die Antinomie von »Freiheit und Notwendigkeit«, neben den Antinomien von »Unendlichkeit und Endlichkeit« und »Zeitlichem und Ewigem«, in der Form des zweiten Verhältnistypus. 23 Konkret lässt sich die Zuordnung der Antinomien zum zweiten Verhältnistypus aus dem Umstand ableitet, dass Kierkegaard diese als Synthesisbestimmung einführt. Folglich ist auch »Freiheit« nicht dem »Sein«, sondern dem »Sosein« zuzuordnen. Mit anderen Worten: Freiheit ist eine Form, in der sich der Mensch als Existierender vorfindet und sein Selbst modelliert. Diese
Dieses zweite Verhältnis entspricht etwa Kants ursprünglich-synthetischer Einheit der transzendentalen Apperzeption. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft [21787], in: Gesammelte Werke, hg. von der Preussischen Akademie für Wissenschaften, Göttingen 1900 ff., Bd. 3, 108 ff. 23 SKS 11,129 / KT, 8. 22
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Klaus Viertbauer
Freiheit ist aber begrenzt. Absolute oder schlechthinnige Freiheit kann es nicht geben.
3)
8 >
:
1)
egologisches Selbstnicht-egologischesSelbst
Kierkegaard unterscheidet deshalb in Religiosität A und Religiosität B: Religiosität A steht für die natürliche Religion und bezeichnet einen Menschen, der im Sinn des dritten Verhältnisses nach seinem eigenen Grund fragt. Es handelt sich um existenzielle Fragen, gemäß denen, ein Mensch erkennt, dass sein »Sein« seinem »Sosein« notwendig vorangeht und außerhalb seines, anhand der Freiheit abgesteckten, Handlungsspielraums liegt. Der Handlungsspielraum markiert den Kontext in dem sich der Mensch mithilfe des Geistes reflexiv vermittelt. Die Grenze von »Sosein« und »Sein« koinzidiert folglich mit der Grenze von »Reflexion« und »Präreflexion«. Sein =
»Ich«
t1
t2
t3
»Ich«
t4
t5
t6
Sein
Diese Grenze rückt lebensweltlich in sogenannten existenziellen Grenzsituationen von Krankheit, Leid und Tod in den Fokus der Aufmerksamkeit: Ein Mensch erkennt, dass er sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten seines Leben (t2, t5) aus ein und derselben Ersten-Person-Perspektive wahrnehmen kann, obwohl sein »Sosein« als völlig verändert erscheint. Ob als spielendes Kind oder grübelnder Greis, ob als schüchterner Junge oder abgeklärter Erwachsener, stets nimmt sich ein Mensch aus derselben Ersten-Person-Perspektive war. Vor diesem Hintergrund setzt Kierkegaards Unterscheidung eines reflexiven und eines präreflexiven Selbst ein: Ein reflexives Selbst eines Menschen konstituiert sich aus dem ersten und zweiten Verhältnis. Es liegt innerhalb des Handlungsspielraums des Menschen und wird durch die Reflexionen des Geistes gesteuert. Das präreflexive Selbst eines Menschen konstituiert sich aus dem dritten Verhältnis. Es liegt außerhalb des Selbst des Menschen, nämlich im Anderen 114 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
Kierkegaards reflexives und präreflexives Selbst
des Selbst, von dem es auch ins Sein gesetzt wird. Die Beschreibung dieses dritten Verhältnisses, desjenigen von einem Selbst zum Anderen am Grund seines Bewusstseins, entspricht dem Phänomen, das Manfred Frank als präreflexives Selbstbewusstsein beschrieben hat: »Jede Reflexion vollzieht sich als Beziehung zwischen zwei unterschiedlichen Termen […, deren] Paradox [darin] besteht […], daß sie diese Unterschiedenheit auch wieder leugnen muß, denn sonst erreichte ich am Ziel der Rückwendung auf mich nicht mich selbst, sondern anderes oder anderswen.« 24 Von daher »kann [man] die Reflexion weder denken, ohne einfach selbstbewußte Identität vorauszusetzen […,] noch kann man davon absehen, daß diese Identität sich nicht unmittelbar präsent ist, sondern [muss] den Anderen […] zum Zeugen ihres Sich-selbst-gleich-Seins bestellen.« 25 An dieser Stelle bringt Kierkegaard die Religion ins Spiel: Das Christentum kennt für den Fluchtpunkt des Anderen den Namen Gott. Der Wechsel vom Anderen zu Gott, den Kierkegaard als Religiosität B beschreibt, lässt sich deshalb nicht mehr philosophisch erklären, sondern nur mehr theologisch beschreiben. Dabei schwebt Kierkegaard eine Reinform des christlichen Glaubens vor, wie sie sich etwa bei Abraham, Maria (so in Furcht und Zittern) oder Jesus (so in Philosophische Brocken) zeigt. Demgegenüber rückt mit Religiosität A der zweifelnde Gläubige in den Mittelpunkt, der als Sünder um ein unmittelbares Verhältnis mit Gott ringt. Dieses wurde im Sündenfall, im Moment als der Mensch sich mit dem Geist von sich aus zu Gott ins Verhältnis setzte, zerstört.
24 25
Frank (1991) 435. Frank (1991) 498.
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Präreflexives Selbstbewusstsein in der Analytischen Philosophie
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Was ist präreflexives Selbstbewusstsein?* Daniel Wehinger, Innsbruck
1. Das Comeback einer Idee Die Idee des präreflexiven Selbstbewusstseins erlebt gegenwärtig einen Aufschwung. Vertreter 1 unterschiedlicher Positionen berufen sich auf sie, Dualisten 2 ebenso wie Reduktionisten 3, Verteidiger des Selbst 4 wie auch dessen Leugner 5. In der kontinentalen Philosophie hat die Annahme, dass es Selbstbewusstsein vor aller Reflexion gibt, eine lange Tradition und nach wie vor prominente Fürsprecher. 6 Seit geraumer Zeit findet diese Annahme aber auch in die analytische Philosophie Eingang. Diverse analytische Philosophen greifen sie auf und bringen sie mit ihren eigenen Ansätzen in Verbindung. 7 Der Ausdruck »präreflexives Selbstbewusstsein« wird dabei jedoch keineswegs einheitlich verwendet. Unterschiedliche Autoren haben Unterschiedliches im Sinn, wenn sie von präreflexivem Selbstbewusstsein sprechen. Der vorliegende Aufsatz dient angesichts dessen einer ersten Klärung der Redeweise von Präreflexivität: Was, so * Die Ausführungen in diesem Aufsatz beruhen auf Daniel Wehinger, Das präreflexive Selbst: Subjektivität als minimales Selbstbewusstsein, mentis, Münster 2016. 1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden in diesem Text nur männliche Formen verwendet. Die entsprechenden weiblichen Formen sind stets mitgemeint. 2 Vgl. Martine Nida-Rümelin, The Experience Property Framework: A Misleading Paradigm, in: Synthese, (forthcoming). 3 Vgl. zahlreiche der Beiträge in Pre-Reflective Consciousness: Sartre and Contemporary Philosophy of Mind, hg. von Sofia Miguens, Gerhard Preyer und Clara Bravo Morando, Routledge, London 2016. 4 Vgl. Shaun Gallagher, Phenomenology, Palgrave-Macmillan, London 2012. 5 Vgl. Thomas Metzinger, Being No One: The Self-Model Theory of Subjectivity, MIT Press, Cambridge, MA, 2003. 6 Manfred Frank, Ansichten der Subjektivität, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2012 und Präreflexives Selbstbewusstsein. Vier Vorlesungen, Reclam, Stuttgart 2015. 7 Auch dafür finden sich in Miguens/Preyer/Morando (2016) zahlreiche Beispiele.
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Daniel Wehinger
soll gefragt werden, ist präreflexives Selbstbewusstsein? Welche Konzeptionen von präreflexivem Selbstbewusstsein gibt es? Und was spricht für, was gegen sie? Beansprucht wird dabei weder Vollständigkeit noch Detailtreue. Ich behaupte weder, sämtliche Verwendungsweisen von präreflexivem Selbstbewusstsein wiederzugeben, noch, alle Nuancen jener Positionen, die ich herausgreife, einzufangen. Ich werde vieles weglassen und manches vereinfachen. Mein Hauptziel ist es, die Relevanz der behandelten Präreflexivitätskonzeptionen für die analytische Philosophie des Geistes aufzuzeigen. Die Autoren, auf die ich mich konzentriere, sind einerseits Sartre, andererseits Zahavi. Die Auseinandersetzung mit ihnen legt sich aus verschiedenen Gründen nahe. So stellt Sartre den natürlichen Ausgangspunkt für jede Auseinandersetzung mit präreflexivem Selbstbewusstsein dar. Er hat diesen Ausdruck eingeführt und die wohl umfassendste Theorie der Präreflexivität vorgelegt. Zahavi ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil er hauptverantwortlich für das Comeback des präreflexiven Selbstbewusstseins ist. Er ist dessen bekanntester Vertreter in der zeitgenössischen Bewusstseinsphilosophie. Ich werde im Folgenden zunächst Sartres Position darstellen und mit den analytischen Higher-order-Theorien und den jüngeren selbstrepräsentationalistischen Ansätze in Verbindung bringen. Sartres Deutung des präreflexiven Bereichs werde ich dann jene Zahavis gegenüberstellen. Letztere kann die Schwierigkeiten, die ich in Sartres Ansatz sehe, vermeiden und ist ihr deshalb meines Erachtens vorzuziehen. Schließlich werde ich auf die Konsequenzen, die Zahavis Konzeption des präreflexiven Selbstbewusstseins für die analytische Unterscheidung zwischen schwierigem und einfachem Problem des Bewusstseins hat, hinweisen. Mit Zahavi werde ich argumentieren, dass Selbstbewusstsein im Zentrum der Bewusstseinsproblematik steht und nicht an deren Rand, wie in der analytischen Debatte oft angenommen wird.
2. Sartres Konzeption des präreflexiven Selbstbewusstseins: Präreflexives Selbstbewusstsein als ichlose Dimension Am deutlichsten lässt sich der Gedankengang, der Sartre zur Annahme eines präreflexiven Selbstbewusstseins führt, in der Einleitung 120 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
Was ist präreflexives Selbstbewusstsein?
von Das Sein und das Nichts nachverfolgen. Sartre betont dort, dass alles Bewusstsein Bewusstsein von einem intentionalen Objekt ist, oder wie er auch sagt: »Alles Bewußtsein ist … Bewußtsein von etwas.« 8 Sartres Ausgangspunkt ist also das intentionale Bewusstsein. Das ist vor dem Hintergrund der analytischen Debatte insofern bemerkenswert, als dort von präreflexivem Selbstbewusstsein in der Regel im Zusammenhang mit phänomenalem Bewusstsein die Rede ist. Und Intentionalität und Phänomenalität werden in der analytischen Philosophie oft als getrennte Phänomene behandelt. Diesem sogenannten »Separatismus« zufolge ist ein bewusster Zustand, insofern er phänomenal ist, nicht intentional, und insofern er intentional ist, nicht phänomenal. 9 In jüngerer Vergangenheit ist der Separatismus in der analytischen Philosophie zwar vermehrt in Frage gestellt worden. So haben Vertreter der sogenannten »phänomenalen Intentionalität« betont, dass es eine Form von Intentionalität gibt, die durch und durch phänomenal ist. 10 Dennoch ist der Separatismus nach wie vor weit verbreitet. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts [EA 1943], Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2006, 19. 9 Den Begriff des Separatismus haben Horgan und Tienson eingeführt, die selbst jedoch keinen Separatismus vertreten (vgl. Terence Horgan und John Tienson, The Intentionality of Phenomenology and the Phenomenology of Intentionality, in: Philosophy of Mind: Classical and Contemporary Readings, hg. von David J. Chalmers, OUP, Oxford 2002, 520–533). Einen Separatismus scheint etwa Blocks und Chalmers’ Unterscheidung zwischen Zugangsbewusstsein beziehungsweise psychologischem Bewusstsein einerseits und phänomenalem Bewusstsein andererseits nahezulegen (vgl. Ned Block, On a Confusion About a Function of Consciousness, in: Behavioral and Brain Sciences 18 (1995) 227–247, und David J. Chalmers, The Conscious Mind: In Search of a Fundamental Theory, OUP, Oxford 1996). Bayne und Montague weisen jedoch darauf hin, dass Block nicht als Separatist verstanden werden muss (vgl. Tim Bayne und Michelle Montague, Cognitive Phenomenology: An Introduction, in: Cognitive Phenomenology, hg. von dens., OUP, Oxford 2011, 1–34, hier: 8). Es finden sich in seinem Werk auch Stellen, die gegen eine separatistische Deutung sprechen. Und dasselbe gilt für Chalmers. Auch er verpflichtet sich nicht zu einem Separatismus, sondern sagt ganz explizit, dass phänomenale Zustände als solche einen repräsentationalen Gehalt haben können (vgl. David J. Chalmers, The Representational Character of Experience, in: The Future for Philosophy, hg. von Brian Leiter, OUP, Oxford 2004, 153–181). Die Unterscheidung zwischen Zugangs- beziehungsweise psychologischem Bewusstsein einerseits und phänomenalem Bewusstsein andererseits scheint für Block und Chalmers also einen vorwiegend heuristischen Zweck zu haben und keine prinzipielle Trennung der beiden Bereiche zu implizieren. 10 Vgl. Phenomenal Intentionality, hg. von Uriah Kriegel, OUP, Oxford 2013. 8
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Daniel Wehinger
Dies ist nicht der Ort, um auf die Details der analytischen Debatte zum Verhältnis von Intentionalität und Phänomenalität einzugehen. 11 Was jedoch festgehalten werden sollte, ist, dass sich Sartres Theorie, unter der Voraussetzung eines Separatismus, bereits in ihrem Ausgangspunkt von den Überlegungen der meisten analytischen Philosophen zum präreflexiven Selbstbewusstsein unterscheidet. Nach seiner Betonung der Intentionalität allen Bewusstseins geht Sartre näher auf die Struktur des intentionalen Bewusstseins ein. So schreibt er, dass alles intentionale Bewusstsein nicht nur Bewusstsein von seinem intentionalen Objekt ist. Es ist darüber hinaus auch selbstbewusst. Diese Formulierung lässt sich anhand der Unterscheidung zwischen transitivem und intransitivem Bewusstsein, die in den zeitgenössischen Higher-order-Theorien von entscheidender Bedeutung ist, weiter ausfalten. Transitives Bewusstsein liegt demnach vor, wenn dieses Bewusstsein auf etwas bezogen ist. Es ist, mit anderen Worten, Bewusstsein von etwas, intentionales Bewusstsein. Mit intransitivem Bewusstsein haben wir es demgegenüber zu tun, wenn wir von einer Person sagen, sie sei bei Bewusstsein, oder wenn wir von einem mentalen Zustand sagen, er sei bewusst. Das intentionale Bewusstsein, das Sartre zum Ausgangspunkt seiner Präreflexivitätstheorie macht, ist demnach transitives Bewusstsein. Und wenn Sartre behauptet, dass dieses intentionale Bewusstsein stets auch selbst bewusst ist, dann ist damit das intransitive Bewusstsein gemeint. Sartres Beispiel ist das der Wahrnehmung eines Tisches: Diese Wahrnehmung ist für ihn sowohl ein transitives Bewusstsein, ein Bewusstsein vom Tisch, als auch ein intransitives Bewusstsein: »… wäre mein Bewußtsein nicht Bewußtsein, Bewußtsein von Tisch zu sein, so wäre es ja Bewußtsein von diesem Tisch, ohne Bewußtsein davon zu haben, daß es das ist oder, wenn man so will, ein Bewußtsein, das von sich selbst nichts wüßte, ein unbewußtes Bewußtsein – was absurd ist.« 12
Einen sehr aufschlussreichen Überblick liefert diesbezüglich Charles Siewert, Consciousness and Intentionality, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2017 Edition), hg. von Edward N. Zalta, URL = hhttps://plato.stanford.edu/ archives/spr2017/entries/consciousness-intentionality/i. 12 Sartre (2006) 20. 11
122 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
Was ist präreflexives Selbstbewusstsein?
Doch wie kommt es nun zur intransitiven Bewusstheit des transitiven Bewusstseins vom Tisch? Wie lässt sich diese intransitive Bewusstheit erklären? Sartre nennt diesbezüglich zunächst zwei Antwortmöglichkeiten, die er alle beide ablehnt. Zum einen ist da der Weg, den die bereits erwähnten Higherorder-Theoretiker einschlagen. Sie versuchen, alles intransitive Bewusstsein auf transitives zurückzuführen. Stellvertretend schreibt etwa Rosenthal: »… a mental state’s being intransitively conscious simply consists in one’s being transitively conscious of it.« 13 Mentale Zustände sind den Higher-order-Theoretikern zufolge also für sich genommen nicht intransitiv bewusst. Sie erlangen intransitive Bewusstheit vielmehr erst dann, wenn höherstufige mentale Zustände sich auf sie richten, sie zum Gegenstand ihres transitiven Bewusstseins machen. Die These, dass erststufigen mentalen Zuständen als solchen intransitive Bewusstheit fehlt 14 und dass sie diese erst erlangen, wenn sie von höherstufigen mentalen Zuständen repräsentiert werden, versuchen die Higher-order-Theoretiker empirisch zu belegen. So führt Armstrong etwa das vielzitierte Beispiel des geistesabwesenden LKW-Fahrers an. 15 Diesem wird, nachdem er schon seit vielen Stunden in der Nacht unterwegs ist, plötzlich mit einem gewissen David M. Rosenthal, A Theory of Consciousness, in: The Nature of Consciousness: Philosophical Debates, hg. von Ned Block, Owen Flanagan und Güven Güzeldere, MIT Press, Cambridge, MA, 1997, 729–753, hier: 739. 14 Die Higher-order-Theoretiker bedienen sich in der Formulierung dieser These unterschiedlicher Terminologien. So spricht Rosenthal bevorzugt von nicht-bewussten qualitativen Zuständen (David M. Rosenthal, Introduction, in: ders., Consciousness and Mind, Clarendon Press, Oxford 2005a, 1–18) und nicht-bewussten Erfahrungen (David M. Rosenthal, Sensory Qualities, Consciousness, and Perception, in: ders., Consciousness and Mind, OUP, Oxford 2005b, 175–226), Lycan von nicht-bewussten Qualia (William G. Lycan, Representational Theories of Consciousness, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2015 Edition), hg. von Edward N. Zalta, URL = hhttps://plato.stanford.edu/archives/sum2015/entries/consciousness-representatio nal/i) und Carruthers von nicht-bewussten Wahrnehmungen (Peter Carruthers, Phenomenal Consciousness: A Naturalistic Theory, CUP, Cambridge 2000). Was sie trotz dieser terminologischen Differenzen eint, ist der Gedanke, dass jene mentalen Zustände, die das sogenannte schwierige Problem des Bewusstseins ausmachen (vgl. Abschnitt 4 dieses Beitrags) – man mag von qualitiativen Zuständen, von Erfahrungen, von Qualia usw. sprechen –, sowohl mit als auch ohne intransitives Bewusstsein auftreten können. 15 David M. Armstrong, The Nature of Mind and Other Essays, Cornell University Press, Ithaca 1980, 59. 13
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Schrecken klar, dass er nicht weiß, was er während des letzten Streckenabschnitts gemacht hat. Er kann sich nicht erinnern, wie er dorthin gekommen ist, wo er sich jetzt befindet. Armstrong deutet dies so, dass der LKW-Fahrer zwar Wahrnehmungen gehabt und entsprechend auf diese reagiert hat, dass seine Wahrnehmungen aber nicht intransitiv bewusst gewesen sind. Dass der LKW-Fahrer Wahrnehmungen gehabt hat, erklärt laut Armstrong, warum es zu keinem Unfall gekommen ist, und dass sie nicht intransitiv bewusst gewesen sind, erklärt, warum er sich nicht an sie erinnern kann. Als weitere Beispiele für Wahrnehmungen ohne intransitives Bewusstsein führen die Higher-order-Theoretiker etwa die Fälle des peripheren Sehens 16 und der visuellen Extinktion 17 sowie das Phänomen der Rindenblindheit 18 an. Sie ziehen aus diesen Phänomenen den Schluss, dass mentale Zustände für sich genommen nie intransitiv bewusst sind. Erst das transitive Bewusstsein eines höherstufigen mentalen Zustands, der sich auf sie richtet, macht sie intransitiv bewusst. Von entscheidender Bedeutung für die Higher-order-Theoretiker ist nun, dass die höherstufigen mentalen Zustände, die unsere erststufigen mentalen Zustände intransitiv bewusst machen, für sich genommen wiederum nicht intransitiv bewusst sind. Intransitive Bewusstheit erlangen sie vielmehr erst dann, wenn sie selbst zum Gegenstand weiterer numerisch verschiedener höherstufiger mentaler Zustände werden. Jene mentalen Zustände, die in der Kette ganz oben stehen, sind jedenfalls nicht selbst intransitiv bewusst. Sie geben lediglich anderen mentalen Zuständen deren intransitive Bewusstheit mit. Dem Ausgangspunkt allen intransitiven Bewusstseins fehlt den Higher-order-Theoretikern zufolge jedoch intransitives Bewusstsein. Gegen diese Sichtweise wendet sich Sartre vehement. Dass der Ursprung allen intransitiven Bewusstseins nicht intransitiv bewusst ist, leugnet er schlicht. Denn unter dieser Annahme fällt »die Totalität des Phänomens ins Unerkannte« 19, wie er meint. Die zweite, von Sartre ebenfalls abgelehnte Antwortmöglichkeit auf die Frage, wie die intransitive Bewusstheit des Bewusstseins vom Tisch zu erklären ist, besteht in der Annahme, dass es für jeden in16 17 18 19
Rosenthal (2005a) 2. Rosenthal (2005b) 191 f. Carruthers (2000) 155 ff. Sartre (2006) 21.
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transitiv bewussten mentalen Zustand einen weiteren intransitiv bewussten mentalen Zustand gibt, der ersterem seine intransitive Bewusstheit mitgibt. Diese Sichtweise hat zur Folge, dass das intransitive Bewusstsein eines einzelnen mentalen Zustands eine Unendlichkeit intransitiv bewusster Zustände voraussetzt. Sie führt zu einem infiniten Regress. Und ein solcher infiniter Regress scheint intransitive Bewusstheit insgesamt unmöglich zu machen. In der von ihm vorgeschlagenen Deutung der intransitiven Bewusstheit des Bewusstseins vom Tisch versucht Sartre nun, die beiden genannten Antwortmöglichkeiten mitsamt ihren Problemen zu umgehen. Die intransitive Bewusstheit des Bewusstseins vom Tisch soll in einer Weise erklärt werden, die weder einen im intransitiven Sinn nicht bewussten Anfang allen intransitiven Bewusstseins noch einen infiniten Regress impliziert. Sartre führt die intransitive Bewusstheit des Bewusstseins vom Tisch deshalb nicht auf Relationen zwischen numerisch verschiedenen mentalen Zuständen zurück. Die intransitive Bewusstheit des Bewusstseins vom Tisch kommt seines Erachtens vielmehr daher, dass sich dieses Bewusstsein zusätzlich zum Tisch auch seiner selbst bewusst ist. Das Bewusstsein vom Tisch ist nicht nur Tisch-Bewusstsein, sondern auch Selbstbewusstsein, Bewusstsein von sich selbst. Und eben dieses Selbstbewusstsein macht es intransitiv bewusst. Das Bewusstsein, das die Tisch-Wahrnehmung von sich selbst hat, muss Sartre zufolge nun grundsätzlich unterschieden werden von allem intentionalen beziehungsweise transitiven Bewusstsein. Es hat eine gänzlich andere Struktur als letzteres. Sartre bringt dies zum Ausdruck, indem er betont, dass es im Selbstbewusstsein in seiner ursprünglichen Form keine »Subjekt-Objekt-Dualität« (dualité sujet-objet) gibt. Wenn Sartre hier von »Subjekt« spricht, dann ist damit keine mentale Substanz, kein Selbst oder dergleichen gemeint. Das »Subjekt« ist vielmehr das Bewusstsein selbst. »Subjekt« und »Objekt« sind für Sartre relationale Begriffe, die die zwei Hälften des intentionalen beziehungsweise transitiven Bewusstseins bezeichnen, die zwei Pole der intentionalen Relation. »Subjekt« ist dasjenige, das Bewusstsein von etwas hat, und »Objekt« dasjenige, von dem es Bewusstsein gibt. Das Bewusstsein, das das intentionale beziehungsweise transitive Bewusstsein von sich selbst hat und das seine intransitive Bewusstheit erklärt, kann für Sartre nun nicht in einer solchen Subjekt125 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
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Objekt-Dualität bestehen. Denn sonst entstünde erneut das Dilemma von nicht intransitiv bewusstem Anfangsgrund einerseits und infinitem Regress andererseits. Wie Sartre schreibt: »Das Bewußtsein von sich ist nicht paarig. Wenn wir den infiniten Regress vermeiden wollen, muß es unmittelbarer und nicht kognitiver Bezug von sich zu sich sein.« 20 Und Sartre schreibt weiter: »Wir verstehen jetzt, warum das erste Bewußtsein von Bewußtsein nicht setzend [das heißt nicht paarig; D. W.] ist: es ist ja eins mit dem Bewußtsein, von dem es Bewußtsein ist. Es bestimmt sich zugleich als Wahrnehmungsbewußtsein und als Wahrnehmung.« 21
Das Bewusstsein, das das Wahrnehmungsbewusstsein von sich selbst hat – sein Selbstbewusstsein –, besteht also nicht in einer Zweiheit von Bewusstseinen. Im Selbstbewusstsein ist sich das Bewusstsein als eins mit dem, wovon es Bewusstsein ist, gegeben. Dieses nicht-entzweiende Bewusstsein, das das Bewusstsein von sich selbst hat, nennt Sartre nun eben »präreflexives Selbstbewusstsein«. »Präreflexiv« ist es deshalb, weil »Reflexion« in Sartres Verwendungsweise stets eine Dualität von Subjekt und Objekt, von Reflektierendem und Reflektiertem, schafft. Reflexion spaltet immer. Man kann dieses Reflexionsverständnis Sartres in Frage stellen. So betont Zahavi, dass Reflexion zwar eine gewisse Distanzierung, einen gewissen Abstand zwischen Reflektierendem und Reflektiertem, gestattet. Doch Reflektierendes und Reflektiertes werden sich in der Reflexion Zahavi zufolge nicht tatsächlich fremd; es kommt nicht zu einer wirklichen Bewusstseinsspaltung. Reflexion bringt lediglich das, was zuvor schon bewusst war, zu neuer Klarheit. 22 Und auch bei Sartre finden sich Stellen, in denen er eine Form von Reflexion anzunehmen scheint, die nicht entzweit – die sogenannte »pure Reflexion«. Doch seine Äußerungen zu diesem Konzept bleiben dunkel. 23 Um den einheitlichen Charakter des präreflexiven Selbstbewusstseins weiter zu unterstreichen, geht Sartre in Folge dazu über, das »von« in der Redeweise vom »Bewusstsein von sich« in Klammern zu setzen. Denn es soll auf keinen Fall der Eindruck entstehen, wir Sartre (2006) 21. Sartre (2006) 23. 22 Dan Zahavi, Subjectivity and Selfhood: Investigating the First-Person Perspective, MIT Press, Cambridge, MA, 2005, 91. 23 Sartre (2006) 2. Teil, 2. Kapitel, III. Abschnitt. 20 21
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hätten es mit einer Zweiheit von Bewusstseinen zu tun. Das Modell der Subjekt-Objekt-Dualität ist um jeden Preis zu vermeiden. Wie Sartre schreibt: »Die Erfordernisse der Syntax zwangen uns bisher, vom ›nicht-setzenden Bewußtsein von sich‹ zu sprechen. Aber wir können diesen Ausdruck nicht länger verwenden, weil das ›von sich‹ noch die Idee von Erkenntnis weckt. (Wir werden von jetzt an das ›von …‹ in Klammern setzen, um anzuzeigen, daß es nur einer grammatischen Regel entspricht.)« 24
Sartre spricht vom Selbstbewusstsein, dem Bewusstsein (von) sich, schließlich gar als der einzig möglichen Seinsweise des intentionalen beziehungsweise transitiven Bewusstseins. Wie ein materieller Gegenstand nicht ohne die drei Dimensionen des Raumes sein kann, so meint er, kann auch ein intentionaler Zustand nicht sein ohne Bewusstsein (von) sich: »Dieses Bewußtsein (von) sich dürfen wir nicht als ein neues Bewußtsein betrachten, sondern als den einzig möglichen Existenzmodus für ein Bewußtsein von etwas. So wie ein ausgedehnter Gegenstand in den drei Dimensionen existieren muß, kann eine Intention, eine Lust, ein Schmerz nur als unmittelbares Bewußtsein (von) ihnen selbst existieren. Das Sein der Intention kann nur Bewußtsein sein …« 25 »Die Lust lässt sich nicht – nicht einmal logisch – vom Bewußtsein von Lust unterscheiden. Das Bewußtsein (von) Lust ist für die Lust konstitutiv eben als der Modus ihrer Existenz, als der Stoff, aus dem sie gemacht ist, und nicht als eine Form, die sich hinterher einem hedonistischen Stoff aufprägte. Die Lust kann nicht ›vor‹ dem Bewußtsein von Lust existieren …« 26
Mit diesen Formulierungen wendet sich Sartre klar gegen jede Form der Reduktion von intransitivem Bewusstsein auf transitives. Für Sartre kommt die intransitive Bewusstheit von Wahrnehmungen, Lüsten, Schmerzen usw. daher, dass in diesen Wahrnehmungen, Lüsten, Schmerzen usw. ein Bewusstsein (von) ihnen liegt. Doch dieses Bewusstsein (von) ihnen ist eben nicht transitiv. Es hat nicht die Struktur des intentionalen beziehungsweise transitiven Bewusstseins, es enthält keine Dualität von Subjekt und Objekt. Das Einklammern der Präposition soll dies anzeigen.
24 25 26
Sartre (2006) 23. Sartre (2006) 23. Sartre (2006) 24.
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In seiner Ablehnung der Higher-order-Theorien kommt Sartre mit den jüngeren selbstrepräsentationalistischen Ansätzen in der analytischen Philosophie des Geistes überein. Auch die Selbstrepräsentationalisten betonen, dass sich die intransitive Bewusstheit mentaler Zustände nicht auf das transitive Bewusstsein, das numerisch verschiedene mentale Zustände von ihnen haben, zurückführen lässt. Stattdessen, so meinen sie, müssen mentale Zustände sich selbst repräsentieren, um intransitiv bewusst zu sein. Intransitive Bewusstheit wird also auf Selbstrepräsentation zurückgeführt. Wie einer der führenden Selbstrepräsentationalisten, Uriah Kriegel, auf dessen Ansatz ich im Folgenden näher eingehen werde, schreibt: »… what makes something a phenomenally conscious state at all, what constitutes its subjective character, is a certain kind of self-representation: a mental state has phenomenal character at all when, and only when, it represents itself in the right way. All and only phenomenally conscious states are suitably self-representing. Thus, whatever else a conscious state represents, it always also represents itself, and it is in virtue of representing itself that it is a conscious state. This is self-representationalism.« 27
Kriegel formuliert seinen Selbstrepräsentationalismus als Theorie über das phänomenale Bewusstsein. Er vertritt jedoch keinen Separatismus von phänomenalem und intentionalem Bewusstsein; Phänomenalität und Intentionalität sind für ihn nicht getrennt. In der Tat ist Kriegel einer der Hauptvertreter der bereits erwähnten phänomenalen Intentionalität. Eine Schwierigkeit für Kriegels Ansatz ergibt sich vor dem Hintergrund von Sartres Konzeption des präreflexiven Selbstbewusstseins nun daraus, dass Kriegel sowohl das transitive Bewusstsein vom Tisch als auch das intransitive Bewusstsein des Bewusstseins vom Tisch auf mentales Repräsentieren zurückführt. Sowohl transitives als auch intransitives Bewusstsein beruht für ihn auf mentaler Repräsentation. So wird in der Tisch-Wahrnehmung eben der Tisch mental repräsentiert. Und wenn die Tisch-Wahrnehmung darüber hinaus sich selbst mental repräsentiert, wird sie intransitiv bewusst. Die Frage, die sich angesichts dessen nun stellt, ist, ob Kriegel damit die Subjekt-Objekt-Dualität, die laut Sartre kennzeichnend ist für das transitive beziehungsweise intentionale Bewusstsein, in das Bewusstsein importiert. Denn eben dies war Sartres Einwand gegen Uriah Kriegel, Subjective Consciousness: A Self-Representational Theory, OUP, Oxford 2009, 14.
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die Higher-order-Theorien: Sie erklären das intransitive Bewusstsein mentaler Zustände am Modell einer Subjekt-Objekt-Dualität und machen es so unmöglich. Eine tatsächliche Entzweiung des Bewusstseins kann Kriegel nun nicht vorgeworfen werden. Seine selbstrepräsentationalistische Theorie führt intransitive Bewusstheit eben nicht auf eine Zweiheit mentaler Zustände zurück. Denn der mentale Zustand muss sich selbst repräsentieren, um intransitiv bewusst zu sein. Repräsentierender und repräsentierter Zustand sind nicht numerisch verschieden. Was Kriegel aber dennoch nicht ausschließen kann, ist der Anschein einer Zweiheit von repräsentierendem und repräsentiertem Zustand. Obwohl der repräsentierende mentale Zustand de facto sich selbst repräsentiert, bleibt doch die Möglichkeit, dass er den repräsentierten mentalen Zustand nicht als sich selbst erkennt. Kriegel sieht dieses Problem und reagiert darauf. So schreibt er zunächst: »It is important to distinguish a thing’s representing what happens in fact to be itself and its representing itself qua itself.« 28 Auch Kriegel betont also, dass Selbstrepräsentation nicht hinreichend ist für die Einsicht der sich selbst repräsentierenden Entität, dass sie eben sich selbst repräsentiert. Und er führt dies anhand von Perrys bekanntem Beispiel über die Sauerei im Supermarkt aus. Perry schreibt dort: »I once followed a trail of sugar on a supermarket floor, pushing my cart down the aisle on one side of a tall counter and back the aisle on the other, seeking the shopper with the torn sack to tell him he was making a mess. With each trip around the counter, the trail became thicker. But I seemed unable to catch up. Finally it dawned on me. I was the shopper I was trying to catch.« 29
Perry bemerkt also, dass jemand im Supermarkt eine Sauerei macht. Doch er erkennt nicht, dass dieser Jemand er selbst ist. Die Überzeugung, die in dem Satz »Der Einkäufer, der eine Sauerei im Supermarkt macht, hat nicht gut genug aufgepasst« zum Ausdruck kommt, ist also allem Anschein nach nicht reduzierbar auf die Überzeugung, die Perry mit dem Satz »Ich habe nicht gut genug aufgepasst« ausdrückt. Perry nennt das indexikalische »ich« im zweiten Satz essentiell, um dies zum Ausdruck zu bringen. Zwar referiert er auch mit Kriegel (2009) 162. John Perry, The Problem of the Essential Indexical, in: Noûs 13 (1), 1979, 3–21, hier: 3. 28 29
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»der Einkäufer, der im Supermarkt eine Sauerei macht« auf sich selbst. Doch er tut dies anhand einer inessentiellen, akzidentellen Beschreibung. In der erstpersönlichen Selbstreferenz hingegen referiert Perry auf sich selbst als sich selbst, unabhängig von akzidentellen Beschreibungen. Er bezieht sich auf sich selbst mit dem Wissen, dass er es eben mit sich selbst zu tun hat. Kriegel schreibt nun im Hinblick auf Perrys Beispiel: »The story brings out the difference between, on the one hand, representing what happens to be oneself, and, on the other hand, representing oneself as oneself.« 30 Und er betont, dass, in Anwendung von Perrys Idee auf seine eigene Theorie, nur eine Selbstrepräsentation im essentiellen Sinn intransitive Bewusstheit zu erzeugen vermag. Nur wenn der sich selbst repräsentierende mentale Zustand das von ihm Repräsentierte auch als sich selbst erkennt, bringt seine Selbstrepräsentation intransitive Bewusstheit mit sich. Wie Kriegel schreibt: »… it seems quite reasonable, prima facie, that a mental state’s self-representing accidentally would not suffice to make it conscious. If a mental state has a representational content that it itself happens to satisfy, but the state does not in some (obviously metaphorical) sense ›mean‹ to pick out itself, then the subject’s inner awareness of the state would not be of the right sort to make the subject aware of it as the state she is currently and thereby in. This suggests that only essential self-representation may be sufficient for subjective character and hence consciousness.« 31
Dieser Abschnitt wirft nun einige Fragen auf. Die Frage, auf die ich zunächst eingehen will, ist, ob Kriegel mit der Einführung der Essentialitätsbedingung nicht seinen selbstgesteckten metaphysischen Rahmen verlässt. Denn bloße Selbstrepräsentation, so gibt Kriegel damit zu verstehen, ist nicht hinreichend für die Einsicht des sich selbst repräsentierenden mentalen Zustands, dass er eben sich selbst repräsentiert. Was es braucht, ist ein de se-Selbstbezug des mentalen Zustands, ein Selbstbezug also, in dem der mentale Zustand das, auf das er sich bezieht, als sich selbst erkennt. Doch dieser de se-Selbstbezug lässt sich augenscheinlich nicht auf Selbstrepräsentation reduzieren. Kriegel setzt ihn schlicht voraus. Seine selbstrepräsentationalistische Theorie scheint ihm jedoch nicht die Mittel zu geben, den de se-Selbstbezug, den er verlangt, zu fundieren. Mit der Essentialitätsbedingung überschreitet Kriegel deshalb allem Anschein nach seinen 30 31
Kriegel (2009) 161. Kriegel (2009) 162.
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selbstrepräsentationalistischen Rahmen. Dies wird auch von Frank betont. Er schreibt: »[Die Selbstrepräsentationalisten übersehen] – und wiederholen damit den Fehler der höherstufigen Modelle –, dass eine Selbstrepräsentation nur dann zu einer Selbstrepräsentation wird, wenn Repräsentierendes und Repräsentiertes nicht nur numerisch dasselbe …, sondern sich als dasselbe auch bekannt sind.« 32
Und weiter: »Die Same-Order-Theorie [das ist der Selbstrepräsentationalismus; D. W.] kann nicht erklären, wie das repräsentierende Bewusstsein auf das repräsentierte Bewusstsein als auf dasselbe, nämlich auf sich, zurückkommen kann. Sie scheitert am de-se constraint.« 33
Die zweite Frage, die ich angesichts des obigen Zitats Kriegels ansprechen will, ist die nach dem Verhältnis zwischen den sich selbst repräsentierenden mentalen Zuständen und dem Subjekt, das in diesen Zuständen ist. Der Ausdruck »Subjekt« wird im Kontext dieser Frage nicht wie oben bei Sartre als relationales Gegenstück zum Ausdruck »Objekt« verwendet. Stattdessen wird mit diesem Ausdruck das Selbst bezeichnet, der Erfahrende, das Ich. Kriegel schreibt in obigem Zitat nun, dass nur essentielle Selbstrepräsentation dazu führen kann, dass das Subjekt sich des sich selbst repräsentierenden mentalen Zustands als eines Zustands bewusst ist, in dem es, das Subjekt, sich selbst befindet. Nur essentielle Selbstrepräsentation kann dem Subjekt also das Bewusstsein mitgeben, dass es selbst in dem betreffenden mentalen Zustand ist. Mit dieser Aussage macht Kriegel deutlich, dass sein Erklärungsziel letztlich nicht bloß das phänomenale Bewusstsein mentaler Zustände ist, sondern das Bewusstsein des Subjekts, dass diese phänomenal bewussten Zustände ihm selbst angehören. Diese Eigenschaft phänomenal bewusster Zustände, ihrem Subjekt als Zustände, die ihm, dem Subjekt, selbst angehören, gegeben zu sein, nennt Kriegel deren for-me-ness. Und er leitet sie aus der in der analytischen Debatte klassischen Charakterisierung phänomenal bewusster Zustände als sich auf eine gewisse Art und Weise anfühlend ab. Denn, so betont Kriegel, alles, was sich auf eine gewisse Art
32 33
Frank (2012) 20 f. Frank (2012) 23; vgl. auch Frank (2015) vierte Vorlesung.
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und Weise anfühlt, fühlt sich für jemanden auf eine gewisse Art und Weise an. Es gibt keine what-it’s-like-ness ohne for-me-ness: »When I have a conscious experience of the blue sky, there is something it is like for me to have the experience. In particular, there is a bluish way it is like for me to have it. This ›bluish way it is like for me‹ constitutes the phenomenal character of my experience … [It] has two distinguishable components: (i) the bluish component and (ii) the for-me component.« 34
Sein Selbstrepräsentationalismus ist für Kriegel nun in erster Linie eine Theorie der for-me-ness von Erfahrungen. Auf diesem Aspekt des phänomenalen Bewusstseins liegt sein Fokus. Ihn möchte er erklären und fundieren. Es bleibt jedoch fraglich, ob Kriegel dies auch gelingt. Denn wie es von der Selbstrepräsentation der mentalen Zustände zum Bewusstsein des Subjekts kommt, dass es selbst sich in diesen Zuständen befindet, führt er nicht weiter aus. Der Übergang vom Bewusstsein der Zustände zum Bewusstsein des Subjekts, in diesen Zuständen zu sein, bleibt in Kriegels Ansatz letztlich unerklärt. Das Explanans führt allem Anschein nach nicht ohne weiteres zum Explanandum. Kriegel ist sich dieser Schwierigkeit durchaus bewusst. So schreibt er in Anlehnung an einen Einwand, den Levine 35 erstmals gegen die selbstrepräsentationalistischen Ansätze vorgebracht hat: »The awareness we have of our conscious experiences, in virtue of which they are ›for us,‹ involves a kind of direct acquaintance with those states that brute representations simply do not seem to replicate, not even when they are representations of themselves. For a self-representation as for an otherrepresentation, we can always ask: why is there something it is like for me to have this representation? Call this the just more representation objection.« 36
Kriegel räumt also ein, dass der Verweis auf die Selbstrepräsentation mentaler Zustände nicht hinreichend erklärt, was diese Zustände zu Zuständen für das Subjekt macht. Er führt dies folgendermaßen aus:
Kriegel (2009) 1. Joseph Levine, Awareness and (Self-)Representation, in: Self-Representational Approaches to Consciousness, hg. von Uriah Kriegel und Kenneth Williford, MIT Press, Cambridge, MA, 2006, 173–197. 36 Uriah Kriegel, Self-Representationalism and the Explanatory Gap, in: Consciousness and the Self, hg. von JeeLoo Liu und John Perry, CUP, Cambridge 2012, 51–75, hier: 68–69. 34 35
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»What Levine’s line of objection seems to press is the need for a sui generis notion of representation-for-me, a kind of primitive intentional relation borne by subjects, rather than by subjects’ internal states. The problem with positing such a relation is that it seems to resist physicalist reduction.« 37
Mit dieser Äußerung scheint Kriegel die Annahme in Frage zu stellen, dass mentale Zustände die letzten Träger von Intentionalität sind, und stattdessen vorzuschlagen, Subjekte als deren letzte Träger anzusehen. Doch diese Annahme erweist sich für den Selbstrepräsentationalismus als Problem. Denn Selbstrepräsentationen mentaler Zustände scheinen die geforderte Intentionalität auf Subjekt-Ebene allem Anschein nach nicht herbeizuführen. Und so bleibt for-me-ness letztlich auch in Kriegels Ansatz mysteriös, wie er selbst zugesteht: »In fact, I am persuaded by Levine that there is something fundamentally mysterious about for-me-ness … that is not removed simply by citing selfrepresentation. Levine is right that the question of subjective significance applies with equal force to self-representation as to other-representation. For a self-representing state too, we can ask what it is about the state that makes it represent itself to me, rather than merely represent itself in me.« 38
Das Phänomen der for-me-ness, das Kriegel so betont, an dem er aber zuletzt scheitert, ist meines Erachtens auch das Hauptproblem für Sartres Präreflexivitätstheorie. Denn das präreflexive Selbstbewusstsein ist für Sartre, wie wir gesehen haben, nicht das Bewusstsein, das ich vor aller Reflexion von mir selbst habe, sondern das Bewusstsein, das das Bewusstsein reflexionsunabhängig von sich selbst hat. Besonders in Die Transzendenz des Ego betont Sartre die Apersonalität und Anonymität des präreflexiven Bereichs. So schreibt er dort etwa, »daß das transzendentale Feld unpersönlich wird oder, wenn man lieber will, »präpersonell«, es ist ohne Ich …« 39 In späteren Arbeiten scheint Sartre diese Position zu relativieren. Er betont zwar weiterhin, dass das präreflexive Selbstbewusstsein ichlos ist. Doch er gesteht ihm einen gewissen personalen Charakter zu. Wie Sartre schreibt:
Kriegel (2012) 69. Kriegel (2012) 70. 39 Jean-Paul Sartre, Die Transzendenz des Ego [EA 1936], Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1997, 43. 37 38
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»… tatsächlich ist das Bewußtsein, wenn es auf der Ebene des Unmittelbaren und der Nicht-Reflexivität kein Ego hat, deshalb nicht weniger persönlich. Es ist persönlich, weil es trotz allem Verweis auf sich selbst ist.« 40
Wie die behauptete Personalität des ichlosen, präreflexiven Selbstbewusstseins genau zu verstehen ist, führt Sartre jedoch nicht aus. Und selbst wenn man den präreflexiven Bereich als personal im Sinne Sartres versteht, bleibt for-me-ness ein Problem. Denn das Für-michSein von Erfahrungen scheint zumindest jemanden zu verlangen, für den die präreflexiv bewussten Zustände sind. Dieser Jemand muss kein Ego im starken cartesianischen Sinn sein, keine res cogitans, die sich selbst anhand des erstpersönlichen Pronomens erfasst und das Cogito denkt. Aber for-me-ness setzt doch allem Anschein nach einen Erfahrenden voraus, ein Selbst im minimalen Sinn. Und für ein solches minimales Selbst scheint in Sartres Ansatz kein Platz zu sein. 41 Sartre verpflichtet sich durch seine selbstlose Konzeption des präreflexiven Bereichs letztlich zur Annahme von Schmerzen, die präreflexiv bewusst sind, die sich also auf eine gewisse Art und Weise anfühlen, die jedoch nicht für jemanden sind. Diese präreflexiv bewussten Schmerzen haben what-it’s-like-ness, sie fühlen sich schmerzhaft an. Doch da ist niemand, für den sie schmerzhaft sind. Denn der präreflexive Bereich ist für Sartre eben selbstlos. Er ist ohne Selbst, Subjekt oder Erfahrenden. Und damit führt Sartres Ansatz letztlich zu einem Auseinanderfallen von what-it’s-like-ness und for-me-ness. What-it’s-like-ness kann für ihn auch ohne for-me-ness bestehen. Bewusste Schmerzen sind laut Sartre nicht notwendigerweise für jemanden. Diese These ist nicht mit der These der Higher-order-Theoretiker zu verwechseln. Letztere behaupten, dass es Schmerzen gibt, die nicht bewusst sind und folglich weder über what-it’s-like-ness noch über for-me-ness verfügen. Doch sobald diese Schmerzen bewusst werden, fühlen sie sich auch den Higher-order-Theoretikern zufolge für ihr
Jean-Paul Sartre, Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis, in: ders., Der Existenzialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays [EA 1948], Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2000, 267–326, hier: 288. 41 Zahavi sieht in Sartres obigem Zitat und in ähnlichen Äußerungen eine Annäherung an seinen Standpunkt, wonach das präreflexive Selbstbewusstsein eben ein präreflexives Bewusstsein, das ich von mir selbst habe, ist (Zahavi (2005) 115–116). Meines Erachtens bleiben die Äußerungen Sartres, auf die Zahavi sich bezieht, jedoch unklar. 40
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Subjekt auf eine gewisse Art und Weise an. Die Higher-order-Theoretiker trennen what-it’s-like-ness und for-me-ness nicht, so wie Sartre dies tut. Sie behaupten lediglich das Bestehen von Schmerzen ohne ein Bewusstsein von ihnen. Bewusste Schmerzen sind aber auch für die Higher-order-Theoretiker immer schmerzhaft für jemanden. Sartres Abspaltung des Für-mich-Seins vom Sich-auf-eine-gewisse-Art-und-Weise-Anfühlen scheint letztlich unvereinbar mit unserem Konzept von Phänomenalität. Denn diesem Konzept zufolge kann what-it’s-like-ness nicht ohne for-me-ness bestehen. Die zwei Aspekte des phänomenalen Bewusstseins gehören wesentlich zusammen. Das Phänomen der for-me-ness stellt demnach einen grundsätzlichen Einwand gegen Sartres Konzeption des präreflexiven Selbstbewusstseins dar. 42
3. Zahavis Konzeption des präreflexiven Selbstbewusstseins: Präreflexives Selbstbewusstsein als for-me-ness Während for-me-ness sich für Sartre als schwerwiegendes Problem erweist, macht Zahavi das Für-mich-Sein phänomenal bewusster Zustände zum Ausgangspunkt seiner Theorie der Präreflexivität. Es ist der Boden, auf dem diese Theorie steht. Wie Kriegel leitet auch Zahavi die for-me-ness phänomenal bewusster Zustände von der Charakterisierung dieser Zustände als sich für mich auf eine gewisse Art und Weise anfühlend ab: »Whatever their character, whatever their object, all experiences are subjective in the sense that they feel like something for somebody. They are
Die gleiche Kritik kann auch gegen die Vertreter der Heidelberger Schule vorgebracht werden. In ihren Theorien des präreflexiven Selbstbewusstseins scheint ebenfalls kein Platz für for-me-ness zu sein. So heißt es etwa bei Henrich: »Vor [dem Auftreten des Selbst] gibt es aber bereits Selbstbewußtsein, anonym und keinesfalls Eigentum oder Leistung des Selbst.« (Dieter Henrich, Selbstbewusstsein: Kritische Einleitung in eine Theorie, in: Hermeneutik und Dialektik I, hg. von Rüdiger Bubner, Konrad Cramer und Rainer Wiehl, Mohr Siebeck, Tübingen 1970, 257–284, hier: 279) Und Frank schreibt: »Statt ›Mir tut’s weh‹ sollten wir auf [der Ebene des präreflexiven Selbstbewusstseins] sagen: ›Es tut weh‹.« (Frank (2012) 357) Auch Henrich und Frank scheinen die Annahme von for-me-ness im präreflexiven Selbstbewusstsein also zu verneinen. Ihre Position führt somit allem Anschein nach ebenfalls zu einem Auseinanderfallen von what-it’s-like-ness und for-me-ness, den zwei Aspekten der Phänomenalität.
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subjective in the sense that there is a distinctive way they present themselves to the subject or self whose episodes they are.« 43
Die Besonderheit von Zahavis Ansatz besteht nun darin, dass er eben in der for-me-ness von Erfahrungen eine minimale, präreflexive Form von Selbstbewusstsein sieht: Insofern meine phänomenal bewussten Zustände sich für mich auf eine gewisse Art und Weise anfühlen, kann ich sie nicht haben, ohne mir meiner selbst bewusst zu sein. Jede Erfahrung geht mit einem präreflexiven Bewusstsein von mir selbst einher: »One commonality [of conscious experiences] is the quality of mineness, the fact that the experiences are characterized by first-personal givenness. That is, the experience is given (at least tacitly) as my experience, as an experience I am undergoing or living through. Given this outlook, it is natural to argue that self-awareness is of pertinence for an understanding of phenomenal consciousness. In fact, phenomenal consciousness must be interpreted precisely as entailing a minimal or thin form of self-awareness. On this account, any experience that lacks self-awareness is nonconscious …« 44
Zahavi versteht präreflexives Selbstbewusstsein also nicht im Sinne Sartres als das Bewusstsein, das das Bewusstsein vor aller Reflexion von sich selbst hat, sondern als mein präreflexives Bewusstsein von mir selbst. Der präreflexive Bereich ist für Zahavi nicht selbstlos und anonym, sondern beheimatet mich selbst. Ich bin mir im präreflexiven Selbstbewusstsein meiner selbst bewusst. Kriegels obige Charakterisierung von for-me-ness legt nahe, dass auch er for-me-ness als eine Form von Selbstbewusstsein ansieht. So hat er dort geschrieben, dass for-me-ness das Bewusstsein des Subjekts verlangt, dass es selbst sich in dem betreffenden mentalen Zustand befindet. Und dieses Bewusstsein scheint eben eine Form von Selbstbewusstsein zu sein. In der Tat behauptet Kriegel eben dies. Er schreibt: »… the fact that a conscious experience is for the subject and the fact that the subject self-consciously undergoes the experience is one and the same fact: to say that there is a way it is like for me to perceive the sky is to say that I self-consciously perceive the sky.« 45 Dan Zahavi, Unity of Consciousness and the Problem of the Self, in: Oxford Handbook of the Self, hg. von Shaun Gallagher, OUP, Oxford 2011, 317–335, hier: 326. 44 Zahavi (2005) 15 f. 45 Kriegel (2012) 57. 43
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Was ist präreflexives Selbstbewusstsein?
Sowohl für Zahavi als auch für Kriegel ist das Problem der for-meness also letztlich das Problem des Bewusstseins meiner selbst. Und anders als Kriegel, der die Aussichten für eine reduktive Erklärung dieses Phänomens anfänglich optimistisch eingeschätzt hat und erst später skeptisch geworden ist, betont Zahavi von vornherein die Irreduzibilität unseres präreflexiven Bewusstseins von uns selbst. Er beruft sich dabei auf Shoemaker und dessen Kritik am Wahrnehmungsmodell des Selbstbewusstseins. 46 In dieser Kritik führt Shoemaker aus, dass Selbstwahrnehmung nicht die Grundlage von Selbstbewusstsein sein kann. Denn um eine Entität, die ich wahrnehme, als mich selbst zu erkennen, muss ich mir bereits meiner selbst bewusst sein. Und dieses Selbstbewusstsein kann nicht seinerseits in einer Selbstwahrnehmung bestehen, da sich das Problem sonst nur verschiebt. Die Einsicht, dass eine Entität, die ich wahrnehme, ich selbst bin, setzt demnach ein Bewusstsein meiner selbst voraus, das nicht wahrnehmungsartig ist. Wie Shoemaker in Anwendung dieser Kritik auf die Annahme einer inneren Wahrnehmung des Selbst schreibt: »… in order to identify a self as myself by its possession of [the property of being an object of my inner sense], I would have to know that I observe it by inner sense, and this self-knowledge, being the ground of my identification of the self as myself, could not itself be grounded on that identification.« 47
Selbst wenn ich also faktisch mit dem Selbst, das ich innerlich wahrnehme, identisch wäre, ließe sich mein Selbstbewusstsein doch nicht auf diese innere Wahrnehmung zurückführen. Denn um das Wahrgenommene als mich selbst zu erkennen, muss ich mir bereits meiner selbst bewusst sein. Zahavi zieht aus diesem Argument den Schluss, dass sich Selbstbewusstsein insgesamt nicht reduzieren lässt – weder auf Selbstwahrnehmung oder Selbstrepräsentation, wie bereits die Auseinandersetzung mit Kriegel nahegelegt hat, noch auf sonst etwas. In diesem Punkt stimmt er mit Sartre überein. Doch anders als Sartre leitet Zahavi die Annahme eines präreflexiven Selbstbewusstseins eben aus der for-me-ness von Erfahrungen ab. Es gibt für ihn folglich keine präreflexiv bewussten Zustände, die nicht für jeman-
Zahavi (2005) 28. Sydney Shoemaker, Self-Reference and Self-Awareness, in: The Journal of Philosophy 65 (1968) 555–567, hier: 563. 46 47
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Daniel Wehinger
den sind. For-me-ness und what-it’s-like-ness werden von Zahavi nicht getrennt. Auch auf der präreflexiven Ebene gilt für ihn, dass sich alles, was sich auf eine gewisse Art und Weise anfühlt, für jemanden auf eine gewisse Art und Weise anfühlt. Auch präreflexiv bewusste Schmerzen sind in Zahavis Ansatz stets schmerzhaft für jemanden, für ein Selbst. Zahavi verhindert damit das Auseinanderfallen von for-me-ness und what-it’s-like-ness. Seine Theorie steht nicht in einer Spannung zu unserem Konzept von Phänomenalität. Daher ist sie meines Erachtens jener Sartres vorzuziehen.
4. Präreflexives Selbstbewusstsein als das schwierige Problem des Bewusstseins Nach dieser Darstellung möchte ich schließlich noch auf die Konsequenzen von Zahavis Konzeption des präreflexiven Selbstbewusstseins für die in der analytischen Philosophie des Geistes allgegenwärtige Unterscheidung zwischen dem schwierigen und dem einfachen Problem des Bewusstseins, 48 zwischen jenen Bewusstseinsformen, die eine Erklärungslücke hinterlassen und jenen, die dies nicht tun, 49 eingehen. Unter analytischen Philosophen wird in der Regel klar zwischen phänomenalem Bewusstsein und Selbstbewusstsein unterschieden. Und es wird angenommen, dass phänomenales Bewusstsein das schwierige Problem des Bewusstseins ist, während Selbstbewusstsein ein vergleichsweise leicht zu lösendes Problem darstellt. So schreibt etwa Block: »It is of course [phenomenal consciousness] rather than … self-consciousness that has seemed such a scientific mystery.« 50 Zahavis Ansatz stellt diese Sichtweise der Bewusstseinsproblematik grundsätzlich in Frage. Denn phänomenales Bewusstsein und Selbstbewusstsein sind für ihn wesentlich miteinander verbunden. Und Selbstbewusstsein ist seines Erachtens keineswegs ein leicht zu lösendes Problem. In der Tat ist das, was unser phänomenales Bewusstsein so schwer fassbar macht, für Zahavi eben das Bewusstsein meiner selbst, das in Chalmers (1996). Joseph Levine, Materialism and Qualia: The Explanatory Gap, in: Pacific Philosophical Quarterly 64 (1983) 354–361. 50 Block (1995) 230. 48 49
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Was ist präreflexives Selbstbewusstsein?
der for-me-ness phänomenal bewusster Zustände liegt. Das eigentliche hard problem ist Selbstbewusstsein. Dieses steht in Zahavis Ansatz im Zentrum der Bewusstseinsproblematik, und nicht an deren Rand. Kriegel stimmt auch in diesem Punkt mit Zahavi überein. Er schreibt: »… the alleged explanatory gap between phenomenal consciousness and physical properties is eo ipso an explanatory gap between … self-consciousness and physical properties.« 51 Angesichts dessen legt sich eine Neubewertung des Phänomens des Selbstbewusstseins nahe. Selbstbewusstsein, so zeigt sich, lässt sich nicht von phänomenalem Bewusstsein trennen. Es ist ebenso grundlegend wie das Erleben und keineswegs leicht zu reduzieren.
5. Abschließende Bemerkungen Was diese Ausführungen zeigen sollen, ist, dass die Idee eines präreflexiven Selbstbewusstseins, sowohl in der Konzeption Sartres als auch in jener Zahavis, von großer Relevanz für die analytische Philosophie des Geistes ist. Besonders die Kritik an Versuchen, Selbstbewusstsein auf Selbstwahrnehmung oder Selbstrepräsentation zurückzuführen, die in der Idee des präreflexiven Selbstbewusstseins enthalten ist, ist meines Erachtens bedenkenswert. Denn in der analytischen Debatte wird meist vorausgesetzt, dass Selbstbewusstsein keine grundsätzliche Schwierigkeit für den Reduktionismus darstellt. Die Ausdrücke »Selbstbewusstsein«, »Selbstrepräsentation« und »Selbstwahrnehmung« werden häufig synonym verwendet. Der Blick auf Sartre und Zahavi macht demgegenüber deutlich, dass Selbstbewusstsein eben nicht die Struktur einer Selbstrepräsentation beziehungsweise einer Selbstwahrnehmung hat. Im Selbstbewusstsein kann nicht der Anschein einer Zweiheit entstehen, in Selbstrepräsentation und Selbstwahrnehmung sehr wohl. Die Idee des präreflexiven Selbstbewusstseins eröffnet somit einen neuen Blick auf bekannte Fragen. Sie bietet eine Sichtweise der Bewusstseinsproblematik, die vor dem Hintergrund der analytischen Debatte sowohl eine Herausforderung als auch eine Bereicherung darstellt. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass sich die schulübergreifende Diskussion zu präreflexivem Selbstbewusstsein weiter vertieft.
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Kriegel (2012) 51.
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Präreflexives Selbstbewusstsein im Kontext von Kognitionswissenschaften: vom impliziten zum expliziten Selbst* Kristina Musholt, Leipzig
Sowohl in der Tradition des Deutschen Idealismus als auch in der Analytischen Philosophie ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass Selbstbewusstsein nicht als eine Form der Subjekt-Objekt-Relation gedacht werden kann. Vielmehr setzt eine jede Selbstbezugnahme als Objekt die Existenz eines vorgängigen präreflexiven Selbstbewusstseins voraus. In der Phänomenologie spricht man diesbezüglich auch häufig von der Meinigkeit. Jedoch stellt sich die Frage, wie genau dieses präreflexive Selbstbewusstsein zu verstehen ist. In diesem Beitrag soll mit Blick auf Überlegungen aus der Sprachphilosophie einerseits und der Philosophie der Kognitionswissenschaften andererseits der Versuch einer weitergehenden Analyse des präreflexiven Selbstbewussseins unternommen werden. In einem zweiten Schritt soll die Frage beleuchtet werden, wie der Übergang von einem präreflexiven zum reflexiven Selbstbewusstsein gedacht werden kann. Dabei wird, gestützt auf empirische Befunde aus der Entwicklungspsychologie, die Rolle sozialer Interaktion für die Entwicklung eines expliziten Selbstbewusstseins im Zentrum stehen.
1. Einleitung Der Begriff Selbstbewusstsein referiert auf eine besondere Art der Beziehung, die jeder zu sich selbst zu haben scheint. Er ist nicht ohne Grund ein Begriff, der traditional im Zentrum vieler philosophischer Theorien steht und zunehmend auch von den Naturwissenschaften in
* Dieser Beitrag basiert zu großen Teilen auf meinem Artikel Kristina Musholt, Selbstbewusstsein als perspektivische Differenzierung, in: Pädagogische Rundschau 66 (2012), 477–487, sowie auf Überlegungen aus meinem Buch Thinking about Oneself: From Nonconceptual Content to the Concept of a Self, MIT Press, Cambridge, MA 2015.
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Präreflexives Selbstbewusstsein im Kontext von Kognitionswissenschaften
den Blick genommen wird. Die Fähigkeit, sich seiner selbst gewahr zu sein und über sich nachzudenken, ist nicht weniger als eine Fähigkeit, die zum Wesen dessen, was wir als menschlich bezeichnen, gehört. Erst mit dem Bewusstsein unserer selbst können wir eine Identität entwickeln, uns zu uns verhalten, über uns reflektieren, Gründe für unser Handeln angeben und uns fragen, wer wir sind und welche Art von Leben wir führen möchten. In der Philosophie wird der Begriff Selbstbewusstein in der Regel so verstanden, dass damit ein unmittelbares Wissen von den eigenen körperlichen und mentalen Zuständen gemeint ist. Ich weiß beispielsweise, dass ich jetzt gerade an meinem Schreibtisch sitze und darüber nachdenke, was ich als nächstes schreiben möchte. Vielleicht weiß ich auch, dass ich dabei leichte Rückenschmerzen verspüre. Und ich weiß dies sehr unmittelbar, ohne dass ich mich dazu beobachten oder Informationen von Dritten einholen müsste. Die paradigmatische Ausdrucksform dieses Wissens beinhaltet die Verwendung des Erste-Person-Pronomens »ich«. Nicht jedes Wissen, dass ich über mich haben kann, ist eine Form von Selbstbewusstsein. Jemand kann mir zum Beispiel sagen, dass KM im Lotto gewonnen hat, und obwohl dies faktisch eine Information über mich selbst ist, kann es sein, dass ich mir dessen nicht bewusst bin (wenn ich etwa meinen Namen vergessen habe). Es kann auch sein, dass ich mich im Vorbeigehen im Spiegel sehe und zu dem Schluss komme, dass die Person im Spiegel mal wieder zum Friseur gehen könnte, ohne dass mir bewusst ist, dass es sich dabei um mich selbst handelt. Habe ich dagegen einen »ich«-Gedanken, kann mir dieses nicht passieren. »Ich«-Gedanken, so wird daher häufig behauptet, sind irreduzibel – sie lassen sich nicht ohne Verlust in Gedanken, die eine Beschreibung oder den Namen des Subjekts enthalten, übersetzen. 1 Diese, sich notwendig auf das denkende Subjekt beziehenden Gedanken, zeichnen sich außerdem, im Gegensatz zu anderen selbstbezüglichen Gedanken, durch eine unmittelbare Handlungsrelevanz aus. 2 Wenn ich denke, dass ich mal wieder zum Friseur gehen könnte, wird mich dieser Gedanke dazu veranlassen, dies auch zu tun. Anders im Fall des Lotteriegewinns – solange mir nicht klar ist, dass ich KM 1 John Perry, The Problem of the Essential Indexical and Other Essays, CSLI Publications, Standford 2000. 2 Perry (2000).
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bin, wird mich die Information, dass KM im Lotto gewonnen hat, nicht dazu veranlassen, etwas zu unternehmen (etwa eine Reise zu buchen), auch wenn die Information faktisch mich betrifft. Wir können aber noch spezifischer werden, und zwar können wir, Wittgenstein 3 folgend, zwischen dem »ich«-Gebrauch als Objekt und dem »ich«-Gebrauch als Subjekt unterscheiden. Letzterer zeichnet sich dadurch aus, dass ich, wenn ich mir eine bestimmte Eigenschaft zuschreibe, mich nicht darüber täuschen kann, wem ich diese Eigenschaft zuschreibe. Wenn ich beispielsweise Schmerzen habe, und aufgrund meiner Schmerzempfindung den Gedanken »Ich habe Schmerzen« fasse, dann kann ich mich nicht darüber täuschen, dass wirklich ich das Subjekt dieser Schmerzempfindung bin. Ich kann mich zwar bezüglich des Prädikats der Schmerzzuschreibung täuschen, nicht aber bezüglich der Frage wer Schmerzen hat. Gedanken dieser Art sind also, in den Worten Shoemakers, immun gegenüber einem Irrtum durch Fehlidentifizierung relativ zum Erste-Person-Pronomen. 4 Shoemaker führt dies darauf zurück, dass ich mich mit einem solchen Satz nicht identifiziere. Ich muss mich nicht erst anhand von bestimmten Kriterien identifizieren, um wissen zu können, dass ich Schmerzen habe. Entsprechend kann ich mich mit einer solchen Selbstzuschreibung auch nicht fehlidentifizieren. Anders ist es im Fall des objektiven »ich«-Gebrauchs. Wenn ich etwa in einen Unfall mit mehreren Personen verwickelt bin und in meiner unmittelbaren Nähe ein gebrochen aussehendes Bein entdecke, könnte ich irrtumlicherweise zu dem Schluss kommen, dass ich ein gebrochenes Bein habe, obwohl es sich in Wahrheit um das Bein meines Nachbarn handelt. Bei der Zuschreibung des gebrochenen Beins handelt es sich also nicht um eine unmittelbare Form des Selbstwissens. Es ist demnach diejenige Art von »ich«-Gedanken, in denen »ich« als Subjekt verwendet wird, die konstitutiv für Selbstbewusstsein ist. Entsprechend lässt sich Selbstbewusstsein als die Fähigkeit »ich«Gedanken haben zu können definieren. Diese »ich«-Gedanken zeichnen sich durch drei Charakteristika aus: 1. Sie beziehen sich notwendigerweise (und für das Subjekt explizit) auf das Subjekt des Gedankens, 2. Sie sind unmittelbar handlungsrelevant, und 3. Sie sind immun gegen Irrtum durch Fehlidentifikation. Ludwig Wittgenstein, The blue and brown books, Basil Blackwell, Oxford 1958. Sydney Shoemaker, Self-reference and self-awareness, in: Journal of Philosophy 65 (1968) 555–567.
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Präreflexives Selbstbewusstsein im Kontext von Kognitionswissenschaften
2. Präreflexives Selbstbewusstsein Wie lässt sich nun die Fähigkeit, diese Art von »ich«-Gedanken zu haben, erklären? Traditionelle philosophische Theorien gehen davon aus, dass ein Subjekt ein Bewusstsein von sich selbst erlangt, indem es auf sich reflektiert (oder sich wahrnimmt), sich also zum Gegenstand seiner Reflektion oder Wahrnehmung macht. Es zeigt sich allerdings, dass Selbstbewusstsein nicht im Rahmen von Wahrnehmungs- oder Reflektionsmodellen erklärt werden kann, da solche Modelle zirkulär sind. Wenn ein Subjekt erst in einem Akt der Selbstreflektion oder Selbstbeobachtung zu einem Bewusstsein seiner selbst gelangen könnte, dann müsste es bereits über Kriterien verfügen, die es ihm ermöglichen, eine bestimmte Eigenschaft, oder einen bestimmten Zustand als eigenen zu erkennen. Dies wäre aber bereits eine Form von Selbstwissen, und damit würde eine solche Theorie entweder in einen Regress führen, oder aber sie wäre zirkulär. Dieses Problem wurde bereits von Kant und Fichte erkannt, und später vor allem von Vetretern der sogenannten ›Heidelberger Schule‹ betont. 5 In der Analytischen Philosophie findet sich eine ähnliche Argumentation bei Sydney Shoemaker. Dieser weist zunächst darauf hin, dass Selbstbewusstsein nicht als Objektbewusstsein zu verstehen ist. Wir nehmen uns nicht selbst wahr, so wie wir andere Objekte wahrnehmen. Vielmehr haben wir ein Bewusstsein unserer Selbst »als Subjekt« – d. h. als Subjekt unserer Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen sowie als rationale Akteure. Darüber hinaus könnte das Bewusstsein unserer selbst als eines Objektes auch nicht die Möglichkeit des Selbstwissens erklären, denn, so Shoemaker, dieses würde bereits eine Form des Selbstwissens voraussetzen – das Wissen nämlich, dass mir bestimmte Eigenschaften zukommen. »But it is worth noting that if one were aware of oneself as an object […], this would not help to explain one’s self-knowledge. For awareness, that the presented object was φ, would not tell one, that one was oneself φ, unless one had identified the object as oneself; and one could not do this unless one already had some self-knowledge, namely the knowledge, that one is the unique possessor of whatever set of properties of the presented object one 5 Manfred Frank, Fragmente einer Geschichte der Selbstbewusstseins-Theorien von Kant bis Sartre, in: Selbstbewusstseinstheorien von Fichte bis Sartre, hg. von Manfred Frank, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, 413–599.
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took to show it to be oneself. Perceptual self-knowledge presupposes nonperceptual self-knowledge, so not all self-knowledge can be perceptual.« 6
Selbstbewusstsein ist also gerade nicht als eine Form von Gegenstandsbewusstsein zu denken. Zwar kann ich auch zu Wissen über mich kommen, indem ich mich beispielsweise im Spiegel betrachte (oder mich auf Aussagen anderer stütze) – und dies wäre dann Selbstwissen in Analogie zum gegenständlichen Wissen. Aber letztlich muss ich dieses Wissen an ein unmittelbares Wissen über mich anknüpfen können. Mit anderen Worten: Die Frage nach der Identität muss irgendwo ihr Ende finden, andernfalls droht ein Regress bzw. bleibt das Modell zirkulär. Vertreter der Heidelberger Schule haben aus dem Scheitern des traditionellen Modells gefolgert, dass es ein präreflexives Selbstbewusstsein geben muss, welches die Grundlage für reflexives Selbstbewusstsein bildet und letzteres erst möglich macht. 7 Damit eine reflexive Selbstbezugnahme möglich ist, muss, so die These, eine Form des präreflexiven Selbstbewusstseins angenommen werden, welches gerade nicht als eine Relation zwischen einem Subjekt und einem Objekt gedacht werden kann. Der Gedanke, dass es eine präreflexive, nicht-relationale Form des Selbstbewusstseins, eine Art der primitiven Vertrautheit mit sich selbst, geben muss, findet sich auch in der Phänomenologie. So argumentiert etwa Sartre, dass jede Erfahrung von einem präreflexiven Selbstbewusstsein begleitet ist. 8 Autoren der Gegenwart, wie etwa Zahavi, sprechen auch davon, dass präreflexives Selbstbewusstsein ein notwendiges Merkmal jeder bewussten Erfahrung ist. 9 Bewusste Erfahrung ist demnach durch eine ›erstpersonale Gegebenheit‹ oder ein Gefühl der Meinigkeit charakterisiert, welches sie unmittelbar als je eigene Erfahrung auszeichnet. Anders ausgedrückt: Bewusste Erfahrung ist immer Erfahrung für ein Subjekt und in diesem Sinne immer auch selbstbewusst. Dieses Selbstbewusstsein ist jedoch in einem präreflexiven, nicht-repräsentationalen Sinn zu verstehen. Das Subjekt wird dabei – im Unterschied zum reflexiven SelbstSydney Shoemaker, Personal Identity: A Materialist’s Account, in: Personal Identity, hg. von Sydney Shoemaker und Richard Swinburne, Blackwell, Oxford 1984, 105. 7 Vgl. Frank (1991). 8 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts [EA 1943], Rowohlt, Hamburg 1993. 9 Dan Zahavi, Subjectivity and Selfhood: Investigating the First-Person Perspective, MIT Press, Cambridge, MA 2005. 6
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Präreflexives Selbstbewusstsein im Kontext von Kognitionswissenschaften
bewusstsein – nicht explizit repräsentiert, sondern ist, auf eine noch näher zu bestimmende Weise, implizit Teil der Erfahrung. Es scheint also, als müssten wir eine Art des unmittelbaren, nichtrelationalen, präreflexiven Selbstbewusstseins annehmen, um einerseits die Möglichkeit einer reflexiven Selbstbezugnahme erklären und andererseits der Struktur bewusster Erfahrung Rechnung tragen zu können. Wie aber kann eine positive Charakterisierung des präreflexiven Selbstbewusstseins bzw. des Gefühls der Meinigkeit aussehen? Kann das präreflexive Selbstbewusstsein mit den Mitteln der Analytischen Philosophie gefasst und näher bestimmt werden? Einige Autoren gehen so weit zu behaupten, dass dies prinzipiell unmöglich sei. So schreibt etwa Manfred Frank: »However, we must also humbly declare that the basic element of our theory, familiarity, cannot be further analyzed«. 10
3. Nichtbegriffliches Selbstbewusstsein Jedoch gibt es durchaus Versuche, eine solche Analyse vorzunehmen. Einen vielversprechenden Ansatz dafür liefern Theorien des nichtbegrifflichen Selbstbewussteins, wie sie von einigen Autoren, so etwa José Luis Bermúdez, vertreten werden. 11 Diesen Theorien zufolge gibt es bereits auf der vor-sprachlichen, nicht-begrifflichen Ebene ›ich-artige‹ repräsentationale Gehalte, die die Artikulation von »ich«-Gedanken erst möglich, und deren unmittelbare Handlungsrelevanz verständlich machen. Zunächst möchte ich kurz darauf eingehen, was hier mit nichtbegrifflichen Gehalten gemeint ist. Nicht-begriffliche Gehalte sind solche Gehalte, die wir einem Subjekt zusprechen können, obwohl dieses Subjekt nicht über die Begriffe verfügt, die notwendig wären, um den Gehalt der betreffenden Repräsentation zu spezifizieren. Die Existenz nicht-begrifflicher Gehalte ist in der Philosophie umstritten, es gibt aber gute Gründe dafür, diese anzunehmen. So zeigen Kinder und Tiere, denen man noch keine begrifflichen Fähigkeiten zuschrei-
Manfred Frank, Self-consciousness and self-knowledge: On some difficulties with the reduction of subjectivity, Constellations, 9 (2002) 400. 11 Jośe L. Bermúdez, The Paradox of Self-Consciousness, MIT Press, Cambridge, MA 1998; siehe auch Gottfried Vosgerau, Mental representation and self-consciousness: From Basic Self-Representation to Self-Related Cognition, mentis, Paderborn 2009. 10
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ben möchte, in bestimmten Situationen intentionales Verhalten, welches sich nicht erklären ließe, ohne davon auszugehen, dass diese die Umwelt in einer bestimmten Art repräsentieren. Nicht-begriffliche Gehalte unterscheiden sich von begrifflichen Gehalten dadurch, dass wir es hier nicht mit einem propositionalen (also kompositional struktierten) ›Wissen-dass‹ zu tun haben, sondern eher mit einem prozeduralen ›Wissen-wie‹. 12 Als ein Beispiel für nicht-begriffliches Selbstbewusstsein wird nun in der Regel darauf verwiesen, dass wir mittels der externen Wahrnehmung nicht nur Informationen über unsere Umgebung erhalten, sondern gleichzeitig immer auch über uns. Schließlich nehmen wir die Umwelt immer aus einer bestimmten uns eigenen (egozentrischen) Perspektive wahr und erhalten somit immer auch relationale Informationen – also beispielsweise Informationen über unsere Entfernung zu bestimmten Objekten, oder darüber, welche Art der Interaktion diese Objekte uns ermöglichen. 13 Indem ich also Informationen über die Umwelt erhalte, erhalte ich gleichzeitig immer auch schon Informationen über mich selbst, welche meine Interaktion mit der Umwelt steuern (und somit unmittelbar handlungsrelevant sind). Ferner, so das Argument, steht bei diesen Informationen außer Frage, auf welches Subjekt sie sich beziehen – sie können sich jeweils nur auf den wahrnehmenden Organismus beziehen, denn das Subjekt kann die Umwelt immer nur aus seiner je eigenen Perspektive wahrnehmen. Der – nicht-begriffliche – Gehalt der Wahrnehmung ist also dieser Auffassung zufolge sowohl selbst-referenziell als auch handlungsrelevant und immun gegenüber einem Irrtum durch Fehlidentifizierung. Ein weiteres Beispiel für sogenannte nicht-begriffliche ›ich‹-Gehalte ist die interne Körperwahrnehmung (Propriozeption). Diese liefert mir beispielsweise Informationen über meine Position im Raum oder über die Stellung meiner Gliedmaßen. So kann ich mittels Propriozeption stets nur meinen eigenen Körper (etwa meine gekreuzten Beine) wahrnehmen, nicht den Körper eines Anderen, und die Informationen, die ich über meinen Körper erhalte, sind unmittelbar handlungsrelevant. Für eine ausführlichere Diskussion siehe Musholt (2015) Kap. 2. Psychologen sprechen, James J. Gibson folgend, diesbezüglich auch von »affordances«. Vgl. James J. Gibson, The ecological approach to perception, Haughton Mifflin, Boston 1979.
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Präreflexives Selbstbewusstsein im Kontext von Kognitionswissenschaften
Jeder wahrnehmende Organismus verfügt dieser Konzeption zufolge immer schon über nicht-begriffliche »ich«-Gedanken, welche in sprachbegabten Wesen dann mithilfe des Erste-Person-Pronomens ausgedrückt werden können.
4. Implizit selbstbezügliche Informationen vs. explizite Selbstrepräsentation Bei genauerer Betrachtung sind Theorien des nicht-begrifflichen Selbstbewusstseins aber problematisch. Indem sie behaupten, das Selbst sei Teil des Gehalts der (externen sowie internen) Wahrnehmung, bleiben sie, wenn auch unwissentlich, dem problematischen Subjekt-Objekt-Modell des Selbstbewusstseins verhaftet. Denn die Grundannahme dieser Theorien lautet, dass das Selbst genauso Teil der Wahrnehmung ist, wie etwa der Gegenstand vor mir auf dem Tisch. In der Tat spricht Bermúdez beispielsweise mit Bezug auf Propriozeption explizit davon, dass »[w]hat somatic proprioception offers is an awareness of the body as a spatially extended and bounded physical object […]«. 14 Wie wir bereits gesehen haben, sollten wir die paradigmatische Form des Selbstbewusstseins – und insbesondere das präreflexive Selbstbewusstsein – aber gerade nicht im Sinne eines Gegenstandsbewusstseins verstehen. Vielmehr bin ich mir als Subjekt meiner Wahrnehmung, Emotionen oder Handlungsabsichten gewahr. Verstünden wir den Begriff des präreflexiven Selbstbewusstseins also im Sinne Bermúdez’, so könnte er nicht das leisten, was er leisten soll, nämlich eine Grundlage für die Möglichkeit eines expliziten Selbstbezugs zu schaffen. Darüber hinaus spiegelt die Analyse von Bermúdez aber auch nicht das richtige Bild von der Struktur bewusster Wahrnehmungserfahrung wider. Es ist zwar richtig, dass Wahrnehmung und Propriozeption mir notwendigerweise immer auch selbstbezügliche Informationen liefern. Implizit selbstbezügliche Informationen müssen aber von expliziter Selbstrepräsentation getrennt werden. Eine Analogie aus dem Bereich der Sprachphilosophie macht das sehr schön deutlich: In Perry 15 findet sich das Beispiel der Z-lander. 14 15
Bermúdez (1998) 150. Perry (2000).
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Z-lander leben isoliert in Z-land und haben keinerlei Bewusstsein von der Existenz anderer Orte. Wenn Z-lander sich nun über das Wetter unterhalten, verwenden sie Ausdrücke wie »es regnet«. Nun machen Perrys Z-lander zwar notwendig eine Äußerung, die sich auf Z-land bezieht, wenn sie etwa sagen, dass es regnet; Z-land kommt jedoch als expliziter Bestandteil der Äußerung nicht vor – wird also nicht explizit repräsentiert (denn eine explizite Repräsentation setzt voraus, dass einen Ausdruck gibt, der sich direkt auf den zu repräsentierenden Sachverhalt bezieht). Stattdessen fungiert der Ort hier als »nicht-artikulierter Konstituent« der Äußerung. Damit will Perry ausdrücken, dass der Ort zwar zu einer vollständigen Bestimmung der Wahrheitsbedingungen der Äußerungen hinzugezogen werden muss. Dies kann jedoch über den Kontext erfolgen und erfordert keine explizite Referenz. Ähnlich ist es bei der Wahrnehmung: Sie liefert mir explizit Informationen über das wahrgenommene Objekt, und damit (notwendigerweise) implizit über mich; das Subjekt der Wahrnehmung wird aber selbst nicht explizit repräsentiert. Mit anderen Worten: Es ist eine Sache, eine egozentrische Perspektive auf die Welt zu haben, es eine andere Sache, diese auch als solche zu repräsentieren. Meiner Auffassung zufolge ist das Selbst also nicht Teil des repräsentationalen Gehalts von Wahrnehmungserfahrungen. Diese haben vielmehr einen »monadischen Gehalt« – sie repräsentieren Objekte als »vorne«, »zur Rechten« usw., ohne dabei zu spezifizieren, was es ist, zu dessen Rechten sie sich befinden. 16 Dennoch kann man in einem gewissen Sinne davon sprechen, dass das Selbst Teil der Wahrnehmung ist. Denn Wahrnehmung erfolgt, wie wir gesehen haben, immer aus der je eigenen Perspektive des Subjekts. Das Selbst kann in diesem Sinne als Teil des Modus der Erfahrung verstanden werden – Recanati spricht in diesem Zusammenhang auch vom »EGO-Modus« der Wahrnehmung. 17 Nur wenn man zwischen implizit selbstbezüglichen Informationen und expliziter Selbstrepräsentation unterscheidet, kann man auch erklären, wie Wahrnehmung und Propriozeption die Grundlage
16 Vgl. John Campbell, Past, Space, and Self, MIT Press, Cambridge, MA 1994 und John Perry, Thought Without Representation, in: Supplementary Proceedings of the Aristotelian Society 60 (1986) 137–152. 17 Francois Recanati, Perspectival thought: a plea for (moderate) relativism, OUP, Oxford 2007.
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Präreflexives Selbstbewusstsein im Kontext von Kognitionswissenschaften
für explizite Selbstzuschreibungen, die immun gegen Irrtum durch Fehlidentifizierung sind, bilden können. Denn wenn das Subjekt der Erfahrung selbst nicht repräsentiert wird, wenn Wahrnehmung also keine Informationen zur Verfügung stellt, die als Grundlage für eine Selbst-Identifikation dienen könnten, dann kann es auch nicht fehlidentifiziert werden. Stattdessen sollte man explizite Selbstzuschreibungen, die auf der Grundlage von Wahrnehmung vorgenommen werden, so verstehen, dass diese den selbst-spezifischen Modus der Erfahrung explizit machen. 18 Anders ausgedrückt: Da Erfahrung immer nur Erfahrung für ein bestimmtes Subjekt sein kann, stellt sich die Frage nach dem Subjekt nicht – und kann entsprechend auch nicht falsch beantwortet werden. Wenn wir eine explizite Selbstzuschreibung vornehmen – indem wir einen »ich«-Gedanken fassen – machen wir nur das explizit, was implizit immer schon in unserer Erfahrung vorhanden ist, nämlich die Perspektivität und damit die Selbstbezüglichkeit unserer Wahrnehmungserfahrung. Indem wir dies tun, identifizieren wir aber nicht das Subjekt der Erfahrung – da dieses selbst nicht repräsentiert wird, wäre eine Identifikation auf der Grundlage von Wahrnehmungserfahrung auch gar nicht möglich. Unsere Selbstzuschreibungen sind, in der Terminologie von Evans 19, identifikationsfrei. Damit bewahren wir die zentralen Einsichten des Deutschen Idealismus, der Heidelberger Schule und auch von Philosophen wie Wittgenstein, Evans und Shoemaker. Gleichzeitig verträgt die hier vorgestellte Konzeption sich aber auch mit den Einsichten oben zitierter Phänomenologen, die ja ebenfalls darauf bestehen, dass präreflexives Selbstbewusstsein in einem nicht-repräsentationalen Sinn zu verstehen ist. So charakterisiert Zahavi die Meinigkeit etwa folgendermaßen: »If the experience is given in a first-personal mode of of presentation, it is experienced as my experience, otherwise not.« 20 Der so verstandene Begriff der Meinigkeit bezieht sich also nicht auf dasjenige, was erfahren wird, sondern auf die Art und Weise, wie es erfahren wird. 21
Vgl. Recanati (2007). Gareth Evans, The varieties of reference, OUP, Oxford 1982. 20 Zahavi (2005) 124. 21 Vgl. auch Dan Zahavi/Uriah Kriegel, For-Me-Ness: What It Is and What It Is Not, in: Philosophy of Mind and Phenomenology, hg. von Daniel O. Dahlstrom, Andreas Elpidorou und Walter Hopp, Routledge, Oxford 2015, 36–53. 18 19
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5. Vom impliziten zum expliziten Selbstbewusstsein Dies wirft natürlich die Frage auf, wie es zu expliziten »ich«-Repräsentationen kommen kann. Meine These lautet, dass soziale Interaktion eine wesentliche Voraussetzung für das Bilden expliziter »ich«-Gedanken ist. 22 Zunächst einmal ist hierfür der Erwerb begrifflicher Fähigkeiten erforderlich. Nur wenn ich über die entsprechenden Begriffe verfüge, kann ich explizite »ich«-Gedanken formulieren und also die selbstbezüglichen Informationen, die bereits in meinem nicht-begrifflichen »Wissen-wie« ich mit der Welt interagieren kann impliziert sind, explizit machen. Der Erwerb von Begriffen beruht wesentlich auf sozialer Interaktion – er besteht im Erlernen der sozialen Praxis des Begründens. Begriffe unterliegen normativen Kriterien der Anwendung, die jeweils durch die Sprachgemeinschaft definiert sind. Indem wir Begriffe anwenden, machen wir unsere Gedanken zugleich intersubjektiv zugänglich und überprüfbar und unterwerfen uns damit den Standards unserer sozialen Praxis. Die Fähigkeit dazu kann nur durch soziales Lernen erworben werden. 23 Die Abgrenzung meiner Perspektive von derjenigen Anderer erfordert gleichfalls eine konkrete Interaktion und Auseinandersetzung mit Anderen. Genauso wie die explizite Repräsentation »es regnet hier« oder »es regnet in Z-land« den Kontrast mit dem »dort« (oder nicht-Z-land) erfordert, erfordert die explizite Repräsentation »ich habe Schmerzen« den Kontrast zu anderen möglichen Subjekten. Erst wenn wir ein Bewusstsein von der Perspektive anderer erlangen, wird uns auch unsere eigene Perspektive als solche bewusst. Erst in der Abgrenzung zu und Auseinandersetzung mit Anderen werden wir wirklich unserer selbst gewahr und gewinnen ein Bewusstsein dafür, wer wir sind. 24 Was nicht heißt, dass nicht auch bereits das präreflexive Selbstbewusstsein entscheidend durch soziale Interaktion geprägt ist. Vgl. Jennifer Greenwood, Becoming Human, MIT Press, Cambridge, MA 2015 und Aikaterini Fotopoulou/Manos Tsakiris, Mentalizing Homeostasis: The social origins of interoceptive inference, in: Neuropsychoanalysis 19 (2017) 3–28. 23 Vgl. David Bakhurst, The Formation of Reason, Wiley-Blackwell, New Jersey 2011. 24 Diese These hat natürlich prominente Vorläufer in der Geschichte der Philosophie, so etwa bei Fichte, Mead, Strawson und anderen. Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Wissenschaftslehre nova method, Meiner, Hamburg 1982; George Herbert Mead, Mind, Self, and Society: From the Standpoint of a Social Behaviourist, University of Chicago Press, Chicago 2009; Peter F. Strawson, Individuals, Methuen, London 1959. 22
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Präreflexives Selbstbewusstsein im Kontext von Kognitionswissenschaften
Solange ein Individuum oder ein Organismus nur damit beschäftigt ist, sich in der Umgebung zurechtzufinden, benötigt es kein explizites Bewusstsein seiner selbst. Wie wir gerade gesehen haben, muss zwar jeder Organismus, der sich in der Welt bewegt, über implizit selbstbezügliche Informationen verfügen, die es ihm ermöglichen, sich in der Welt zu orientieren und mit ihr zu interagieren. So sehe ich beispielsweise den Tisch vor mir als ein Objekt, das sich in einer bestimmten Distanz zu mir befindet und mit dem ich in verschiedener Weise interagieren kann. Das heißt, indem ich das Objekt vor mir wahrnehme, erhalte ich immer schon auch Information in Relation zu mir, zu meinem Körper – aus meiner Perspektive. Ich muss mich selbst aber nicht explizit in Relation zu dem wahrgenommenen Objekt repräsentieren. Vielmehr wird mir meine Perspektive erst als solche bewusst, wenn ich ein Bewusstsein von der Existenz anderer Subjekte, mit ihren jeweils eigenen Perspektiven, erlange. Erst im Kontrast zur Perspektive Anderer wird mir meine Perspektive als meine Perspektive bewusst, erst dann kann man von expliziten Selbstrepräsentationen, und damit von reflexivem Selbstbewusstsein sprechen. 25 Im Folgenden möchte ich ein Stufenmodell dieser perspektivischen Differenzierung präsentieren, welches verständlich machen soll, wie wir von implizit selbstbezüglichen Informationen – die wir auch bereits schon bei Tieren und Kleinkindern finden – zu expliziten Selbstrepräsentationen (und damit zu reflexivem Selbstbewusstsein) gelangen. 26 Das Modell basiert auf der Interpretation entwicklungspsychologischer Studien und bezieht sich damit zunächst auf die Entwicklung von Selbstbewusstsein und Intersubjektivität. Man kann aber durchaus davon ausgehen, dass primitive Formen der Fremdund Selbsterfahrung auch bei erwachsenen Menschen noch aktiv sind, dass es also auch bei Erwachsenen verschieden ausdifferenzierte
Vgl. Ansgar Beckermann, Self-consciousness in cognitive systems, in: Persons: An interdisciplinary approach, hg. von Christina Kanzian, Josef Quitterer und Edmund Runggaldier, ÖBV-hpt, Wien 2003, 72–86. 26 Vgl. auch Michael Pauen, Selbstbewusstsein: Ein metaphysisches Relikt?, in: Das Selbst und seine neurobiologischen Grundlagen, hg. von Kai Vogeley und Albert Newen, mentis, Paderborn 1999; Kristina Musholt, Self-consciousness and intersubjectivity, in: Grazer Philosophische Studien 84 (2012) 75–101; Musholt (2015) Kap. 6 sowie Wolfgang Prinz, »Modeling self on others: An import theory of subjectivity and selfhood«, in: Consciousness and Cognition, 49 (2017) 347–362. 25
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Kristina Musholt
Formen der Selbst- und Fremdrepräsentation (die in unterschiedlichen Situation je unterschiedlich zum Tragen kommen) gibt.
6. Stufen der Selbst-Fremd-Differenzierung Interessanterweise sind Menschen – im Gegensatz zu den meisten anderen Tieren, mit Ausnahme einiger anderer Primaten – bereits wenige Stunden nach der Geburt dazu in der Lage, Gesichtsausdrücke zu imitieren. 27 Dies ist deshalb interessant, weil diese Fähigkeit vorauszusetzen scheint, dass das Neugeborene das andere Gesicht automatisch als dem eigenen Gesicht ähnlich erkennt – obwohl es das eigene Gesicht ja noch nie »von außen« wahrgenommen hat –, so dass die wahrgenommenen Gesichtsausdrücke mit den Bewegungen der eigenen Gesichtsmuskeln in Übereinstimmung gebracht werden können. 28 Obwohl dies eine beindruckende Leistung ist, zeigt dies aber noch nicht, dass Neugeborene bereits ein Bewusstsein von anderen Subjekten als dem Selbst ähnlich haben, oder, dass sie bewusst zwischen sich selbst und Anderen unterscheiden können. Die eben beschriebenen Reaktionen können rein automatisch vollzogen werden, ohne dass damit bereits ein Selbst- oder Fremdbewusstsein einhergeht. Auch muss auf dieser Stufe natürlich noch kein Bewusstsein von anderen Subjekten als solchen, die Wahrnehmungen, Emotionen, Überzeungen oder Intentionen haben können (also als Subjekten, die propositionale Einstellungen haben können), vorhanden sein. So sind
Andrew N. Meltzoff/Keith Moore, Imitation of facial and manual gestures by newborn infants, in: Science 198 (1977) 75–78. Ob bereits Neugeborene tatsächlich zur Imitation in der Lage sind, ist mittlerweile umstritten. Möglicherweise handelt es sich hier also weniger um eine angeborene als um eine – in der sozialen Interaktion erworbene – Fähigkeit. (Vgl. Janine Oostenbroek, et al. Comprehensive longitudinal study challenges the existence of neonatal imitation in humans, in: Current Biology 26 (2016) 1334–1338.) Unumstritten ist aber, dass Menschen grundsätzlich zur Imitation in der Lage sind, und dass diese Fähigkeit verhältnismäßig früh auftritt. 28 Die Grundlage dieser Fähigkeit bilden möglicherweise die sogenannten »Spiegelneuronen«. Dies sind Neuronen, die sowohl bei der Ausführung einer bestimmten Handlung (beispielsweise einer Greifhandlung) als auch bei der Beobachtung derselben Handlung bei einer anderen Person aktiv sind (siehe Pier Francesco Ferrari/ Gino Coudé, Mirror Neurons, in: The International Encyclopedia of Primatology (2017) 1–7). 27
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Präreflexives Selbstbewusstsein im Kontext von Kognitionswissenschaften
Menschen zwar von Geburt an in einen sozialen Kontext eingebunden, sie erfahren sich aber noch nicht als ein Subjekt unter anderen. 29 Ab dem Alter von 9 Monaten erreichen soziale Interaktionen eine neue Qualität (in der Entwicklungspsychologie spricht man nun von »sekundärer Intersubjektivität«) 30, die interessante neue Fähigkeiten vermuten lässt. Ab diesem Alter gehen Kleinkinder sogenannte triadische Interaktionen ein, d. h. sie koordinieren ihr objekt-gerichtetes Verhalten mit ihrem personen-orientierten Verhalten. Beispielweise zeigen sie geteilte Aufmerksamkeit auf einen wahrgenommenen Gegenstand. Sie versuchen etwa, den Blick des Gegenübers aktiv auf diesen Gegenstand zu richten, indem sie wiederholt vom Gegenstand zum Gesicht des Gegenübers blicken oder darauf zeigen. 31 Andere Subjekte werden also nun implizit als Wahrnehmungssubjekte behandelt. Auch zeigen Kinder ab diesem Alter das Phänomen der »sozialen Referenz«: Wenn Kinder in diesem Alter etwa unsicher sind, wie sie sich verhalten sollten, orientieren sie sich an den emotionalen Ausdrücken ihrer Bezugsperson. 32 Sie behandeln andere Subjekte nun also implizit als emotionale Subjekte. Ferner beginnen Kinder ab diesem Alter, proto-deklarative und proto-imperative Zeigegesten zu verwenden. 33 Ersteres bezeichnet die Tatsache, dass bestimmte Situationen mit Geräuschen oder durch Zeigegesten »kommentiert« werden, letzteres die Tatsache, dass Kinder etwa auf einen gewünschten Gegenstand in auffordernder Form zeigen. Sie behandeln Andere damit implizit als epistemische Subjekte sowie als Akteure. Allerdings zeigen auch diese Fähigkeiten weder, dass Kinder in diesem Alter in der Lage sind, Anderen mentale Zustände als solche zuzuschreiben (sie verstehen beipielsweise noch nicht, dass mentale Zustände fehl-repräsentieren können), noch, dass sie explizit zwiObwohl in der entwicklungspsychologischen Literatur hier von »primärer Intersubjektivität« gesprochen wird, sollte man also strenggenommen noch nicht von Intersubjektivität sprechen, da letzteres voraussetzt, dass zwei Subjekte sich als solche begegnen (d. h. gegenseitig als Subjekte erkennen und anerkennen). 30 Colwyn Trevarthen, Communication and cooperation in early infancy: A description of primary intersubjectivity, in: Before speech: The beginning of interpersonal communication, hg. von Margaret Bullowa, CUP, Cambridge 1979, 321–347. 31 Michael Tomasello et al., Understanding and sharing intentions: The origins of cultural cognition, in: Behavioral and Brain Sciences 28 (2005) 675–691. 32 Saul Feinman, Social referencing in infancy, in: Merrill-Palmer Quarterly 28 (1982) 445–470. 33 Elizabeth Bates, The emergence of symbols: Cognition and communication in infancy, Academic Press, New York 1979. 29
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schen sich und Anderen unterscheiden können. Es findet zwar eine automatische Koordination des eigenen Verhaltens mit dem Verhalten der Anderen statt, dies setzt aber noch keine explizite Unterscheidung zwischen Eigen und Fremd voraus. Mentale Zustände werden also faktisch »geteilt«, es muss dafür aber kein explizites Bewusstsein von Fremd und Selbst vorliegen. 34 Um sich als ein Subjekt unter anderen zu begreifen und damit zu einem expliziten Selbstbewusstsein zu kommen (welches sich letztlich in »ich«-Zuschreibungen artikuliert), müssen Kinder nicht nur faktisch die mentalen Zustände Anderer teilen können, sondern sie müssen auch verstehen, dass andere Subjekte mentale Zustände haben können, die sich von den eigenen unterscheiden, und sie müssen sich der Tatsache bewusst werden können, dass sie selbst zum Gegenstand der mentalen Zustände Anderer werden können (dass Andere sie beispielsweise wahrnehmen, an sie gerichtete Wünsche und Aufforderungen haben, über sie nachdenken und sich eine Meinung bilden können). Ein Zeichen dafür, dass diese Bewusstseinstufe (zumindest ansatzweise) erreicht wird, besteht im erfolgreichen Bestehen des Spiegeltestes im Alter von 18–24 Monaten. 35 Das Kind nimmt sich nun zum ersten Mal sozusagen aus der »Außenperspektive« – also aus der Perspektive, aus der es auch von anderen wahrgenommen werden kann – wahr. Bezeichnenderweise treten ab diesem Alter auch zum ersten Mal Zeichen sogenannter »selbstbewusster oder sekundärer Emotionen«, wie etwa Scham und Schüchternheit auf. 36 Ferner zeigen Kinder ab diesem Alter erste Zeichen von Empathie. 37 Jüngere Kinder reagieren typischerweise gestresst, wenn sie in der Nähe einer anderen Person sind, die Zeichen von emotionaler Belastung zeigt. (Sie fangen beispielsweise selbst an zu weinen, wenn ein Kind in ihrer Nähe weint.) Sie lassen sich sozusagen von der Emotion des Anderen anstecken, ohne zwischen diesen und ihren eigenen Emotionen unterscheiden zu können. In der zweiten Hälfte des zweiten LebensjahVgl. John Barresi/Chris Moore, Intentional relations and social understanding, in: Behavioral and Brain Sciences 19 (1996) 107–154. 35 Beulah Amsterdam, Mirror self-image reactions before the age of two, in: Developmental Psychobiology 5 (1972) 297–305. 36 Michael Lewis et al., Self development and self-conscious emotions, in: Child Development 60 (1989) 146–156. 37 Peter Hobson, The cradle of thought: Explorations of the origins of thinking, Macmillan, Oxford 2002. 34
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Präreflexives Selbstbewusstsein im Kontext von Kognitionswissenschaften
res beginnen Kinder demgegenüber ein tröstendes Verhalten an den Tag zu legen. Sie zeigen also ein Bewusstsein dafür, dass der emotionale Zustand tatsächlich der Zustand eines Anderen ist. Auch sind sie nun zum ersten Mal in der Lage, zu verstehen, dass ein Gegenstand, den sie wahrnehmen, nicht unbedingt von einer anderen Person wahrgenommen werden kann. 38 Das Verhalten von Kindern in diesem Alter drückt also nun ein gewisses Verständnis davon aus, dass ihre eigenen mentalen Zustände sich von denen Anderer unterscheiden können und dass sie selbst zum Gegenstand dieser mentalen Zustände werden können. Dieses Verständnis muss aber noch nicht begrifflich-sprachlicher Natur sein. Ferner haben Kinder in diesem Alter noch keinen Begriff von mentalen Zuständen als solchen, die in einem kausalen Zusammenhang mit anderen mentalen Zuständen stehen, und die fehlrepräsentieren können. Diese Erkenntnis wird erst im Alter von etwa 4–5 Jahren erreicht, wenn Kinder den sog. »false-belief-task« bestehen. 39 Experimente, die diese Fähigkeit testen, laufen nach folgendem Schema ab: Das Kind wird mit zwei Akteuren (etwa Handpuppen) konfrontiert – z. B. Sally und Anne. Sally hat einen Ball, den sie einen Korb legt. Sie verlässt nun den Raum. Anne nimmt den Ball aus dem Korb und legt ihn in eine Box. Anschließend kommt Sally wieder zurück und möchte mit dem Ball spielen. Das Kind wird gefragt, wo Sally nach ihrem Ball suchen wird. Jüngere Kinder antworten typischerweise, dass Sally dort nach dem Ball schauen wird, wo er sich tatsächlich befindet (also in der Box). Erst ab einem Alter von 4–5 Jahren sind Kinder in der Lage dazu, diese Frage richtig zu beantworten. Interessanterweise gilt dies nicht nur für die Überzeugungen Anderer, sondern auch für die eigenen Überzeugungen. Zeigt man Kindern beispielsweise eine Smarties-Box, in der sich überraschenderweise Stifte befinden, und fragt sie dann, welchen Inhalt sie ursprünglich in der Box vermuteten, so antworten Kinder, die jünger als 4–5 Jahr alt sind, dass sie dort immer schon Stifte vermuteten. 40 Henrike Moll/Michael Tomasello, Level 1 perspective-taking at 24 months of age, in: British Journal of Developmental Psychology 24 (2006) 603–613. 39 Heinz Wimmer/Josef Perner, Beliefs about beliefs: Representation and constraining function of wrong beliefs in young children’s understanding of deception, in: Cognition 13 (1983) 103–128. 40 Alison Gopnik, How We Know Our Minds: The Illusion of First-person Knowledge of Intentionality, in: Readings in Philosophy and Cognitive Science, hg. von Alvin 38
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Erst im Alter von 4–5 Jahren verstehen Kinder also, dass Überzeugungen fehlrepräsentieren können, und dass Wirklichkeit und Glaube zwei verschiedene Dinge sind. Kinder ab diesem Alter zeigen auch erstmals die Fähigkeit zum absichtlichen Lügen, und zur Unterscheidung zwischen »Sein und Schein« (beispielsweise lernen sie, dass ein Objekt wie ein bestimmter Gegenstand aussehen kann – etwa wie ein Stein – aber trotzdem ein anderer Gegenstand sein kann – etwa ein Schwamm). Diese Fähigkeiten sind darüber hinaus eng mit sprachlichen Entwicklungen korreliert. 41 Erst wenn diese Differenzierungsstufe erreicht ist, kann das Kind beginnen, ein Selbstkonzept als jemand mit bestimmten propositionalen Einstellungen (also etwa bestimmten Überzeugungen, Wünschen und Absichten) – in Abgrenzung zu den propositionalen Einstellungen Anderer – zu entwickeln. Und erst dann kann es Stellung zu den eigenen Überzeugungen, Wünschen und Gründen (sowie zu denen Anderer) beziehen und sich bewusst mit diesen auseinandersetzen. Wir sehen also, dass es eine Vielzahl von Formen sozialer Interaktion gibt, die aufeinander aufbauen, und so den Übergang von implizit selbst-bezüglichen Informationen zu expliziten Selbstrepräsentationen – und damit vom präreflexiven zum reflexiven Selbstbewusstsein – möglich machen. Selbstbewusstsein entsteht somit in einem stufenweisen Prozess der Fremd-Selbst-Differenzierung. Dabei werden die implizit selbstbezüglichen Repräsentationen (welche wesentlich für ein Verständnis der Handlungsrelevanz und der Immunität gegen Irrtum durch Fehlidentifizierung von »ich«-Gedanken sind) schrittweise konzeptualisiert und damit explizit gemacht. Wie genau dieser Prozess vonstattengeht, ist Gegenstand aktueller Forschung. Wie ich bereits angedeutet habe, spielt das soziale Lernen – und hier vermutlich insbesondere Prozesse, in denen die sogenann-
Goldman, MIT Press, Cambridge, MA 1993, 315–346. – Eine detaillierte Meta-Studie zur Parallelität der Entwicklung der Fähigkeit, sich selbst und Anderen Fehlüberzeugungen zuschreiben zu können findet sich in Henry M. Wellman et al., Meta-Analysis of Theory-of-Mind-Development: The truth about false belief, in: Child Development 72 (2001) 665–684. 41 Eine Übersicht der verschiedenen Fähigkeiten, die in diesem Alter auftreten, findet sich in Hannes Rakoczy, Du, Ich, Wir: Zur Entwicklung sozialer Kognition bei Mensch und Tier, in: Other minds. Die Gedanken und Gefühle anderer, hg. von Ricarda Schubotz, mentis, Paderborn 2008, 93–110.
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Präreflexives Selbstbewusstsein im Kontext von Kognitionswissenschaften
te »natürliche Pädagogik« zur Anwendung kommt 42 – hierfür eine tragende Rolle.
7. Fazit Präreflexives Selbstbewusstsein lässt sich weiter analysieren, es sollte aber nicht im Sinne einer nichtbegrifflichen Selbstrepräsentation verstanden werden. Vielmehr sollten wir zwischen implizit selbst-bezüglichen Informationen und expliziter Selbstrepräsentation unterscheiden. Das Selbst ist nicht Gegenstand, sondern Teil des Modus der Erfahrung. Nur wenn wir präreflexives Selbstbewusstsein so verstehen, verhindern wir einen Rückfall in das problematische SubjektObjekt-Modell des Selbstbewusstseins und erhalten eine Erklärung für das Phänomen der Immunität gegen Irrtum durch Fehlidentifizierung. Der Übergang vom präreflexiven zum reflexiven Selbstbewusstsein wiederum kann nicht ohne soziale Interaktion gedacht werden. Die perspektivische Differenzierung, die uns erst die Abgrenzung zu Anderen, und damit ein Bewusstsein von uns selbst ermöglicht, erfolgt ihrerseits in einem mehrstufigen Prozess. Dabei muss ein besseres Verständnis dieses Prozesses – und damit ein besseres Verständnis unserer selbst und unseres Verhältnisses zu Anderen – keineswegs mit einem wissenschaftlichen Blick auf den Menschen im Widerspruch stehen. Vielmehr können und sollten sich Philosophie und Wissenschaft sinnvoll in der Erforschung dieses Verhältnisses ergänzen.
Gergely Csibra/György Gergely, Natural pedagogy, in: Trends in Cognitive Sciences 13 (2009) 148–153.
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TOPS: Eine neurowissenschaftlich basierte Theorie präreflexiven Selbstbewusstseins Marc Borner, Berlin
Seit einigen Jahren schon hat die Erforschung präreflexiven Selbstbewusstseins und Bewusstseins eine erfreuliche Renaissance erfahren. Sicherlich ist ein Teil dieser Bewegung auf eine Workshop-Reihe zurückzuführen, die 2010 in Berlin ihren Anfang nahm und zu der nach und nach beinahe alle namhaften Autoren, die sich mit Präreflexivität befasst hatten und befassen, versammelt werden konnten. Von einer grundsätzlichen Frage ist bis dato, wie das Konzept eines präreflexiven Selbstbewusstseins in die gegenwärtige Philosophie des Geistes integriert werden kann, ob dies überhaupt ein angemessenes Unterfangen ist und falls ja, wie dieses Konzept fruchtbar gemacht werden kann, um mentale Phänomene angemessener zu erklären. Die Proponenten präreflexivistischer Theorien behaupten, dass die Postulierung und Erklärung desselben nicht nur hilfreich, sondern auch notwendig ist, um reflexives Selbstbewusstsein angemessen erklären zu können. Sie begründen es damit, dass alle bisher präsentierten Theorien höherer Ordnung (higher order monitoring theories 1,2,3,4 und auch same order monitoring theories 5) in unabwendbare Zirkelschlüsse geraten, wenn diese versuchen, Selbstbewusstsein zu erklären. Das Für und Wider dieser Annahmen ist an anderer Stelle David Rosenthal, State Consciousness and Transitive Consciousness, in: Consciousness and Cognition (1993) 355–363. 2 David Armstrong, The Nature of Mind and Other Essays, University of Queensland Press, Brisbane 1980. 3 William G. Lycan, »The superiority of HOP to HOT«, in: Higher-Order Theories of Consciousness, hg. von Gennaro Rocco, John Benjamins Publishing, Philadelphia 2004. 4 Gennaro Rocco, Between Pure Self-Referentialism and the Extrinsic HOT Theory of Consciousness, in: Self-Representational Approaches to Consciousness, hg. von Uriah Kriegel und Kenneth Williford, MIT Press, Cambridge, MA 2006, 221–248. 5 Uriah Kriegel, The Same-Order Monitoring Theory of Consciousness, in: Self-Representational Approaches to Consciousness, hg. von Uriah Kriegel und Kenneth Williford, MIT Press, Cambridge, MA 2006, 143–170. 1
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Eine neurowissenschaftlich basierte Theorie präreflexiven Selbstbewusstseins
ausführlich erörtert worden. 6,7 Der Ansatz präreflexivistischer Theorien ist ein Alternativvorschlag, der eben diese Zirkelschlüsse umgehen möchte und dabei davon ausgeht, dass es selbstbewusste Zustände auch schon vor jeglicher Reflexivität geben kann und auch muss. Präreflexivistischen Theorien haftete dabei zumeist ein Problem an, das in seiner Natur selbst begründet liegt: Sie konnten zumeist beschreiben, was Präreflexivität nicht ist, sich dem Phänomen selbst aber weitgehend nur metaphorisch annähern. Dieser Unschärfe möchte ich in diesem Artikel entgegentreten, indem ich ein Modell vorstelle, das versucht mögliche neuronale Korrelate für präreflexives Selbstbewusstsein zu erörtern und sie in ein gemeinsames Modell zu integrieren. Dadurch soll ermöglicht werden, nicht nur das Phänomen genauer positiv definitorisch zu beschreiben, sondern es auch als Grundlage zur Erörterung selbstbewusstseinsrelevanter psychischer Zustände wie z. B. zur Beschreibung psychologischer Pathologien heranzuziehen. Ich nenne diese Theorie präreflexiven Selbstbewusstseins TOPS (Theory of Pre-reflective Self-Consciousness). Immer noch gibt es keine allgemein akzeptierte Theorie neuronaler Korrelate von Bewusstsein. Immerhin ist dagegen identifiziert, dass bestimmte Hirnareale notwendig dafür sind, dass Bewusstsein in all seinen Varianten auftreten kann. Allerdings ist weithin unklar, wie oder warum Bewusstsein mit diesen neuronalen Regionen in Zusammenhang steht. Dabei ist es nicht so, dass es hierzu keine oder nur unelaborierte Vorschläge gäbe. Aber dennoch ermangelt es an einer allgemein akzeptierten Theorie, die es uns ermöglicht, ähnlich wie mit dem Alpha-Doppelhelix-Modell der DNS 8, einen eigenen Code des Bewusstseins zu formulieren. Diese grundsätzliche Situation macht es schwierig, sich auch über neuronale Korrelate präreflexiven Bewusstseins und Selbstbewusstseins zu äußern. Die erneute erhöhte Aufmerksamkeit für präreflexivistische Theorien des Bewusstseins und Selbstbewusstseins wurde v. a. angeregt durch Bemühungen, die Philosophie der so genannten Heidelberger Schule 9 in die angelsächsische Philosophie zu bringen und sie Manfred Frank, Ansichten der Subjektivität, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2012. Marc Borner, Über präreflexives Selbstbewusstsein. Subpersonale Bedingungen – empirische Gründe, mentis, Münster 2016. 8 James D. Watson/ Francis Crick, Molecular Structure of Nucleic Acids: A Strucutre for Desoxyribose Nucleic Acid, in: Nature 171 (1953) 737–738. 9 Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979. 6 7
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Marc Borner
damit einem größeren Kreis an Philosophen des Geistes zugänglich zu machen, in welchem es bislang eher zu den Randphänomenen gehörte, sich mit Philosophen wie Sartre, Castañeda, Henrich, Pothast, Cramer und auch Frank auseinanderzusetzen. Bereits der Begriff der Präreflexivität deutet an, dass diese nicht oder nur schwerlich einer reflexiven Beschreibung zugänglich ist. Zwar können Hilfskonstrukte geschaffen werden, mit denen man sich dem Unbeschreibbaren und Unsagbaren vor jeglicher Reflexion annähern kann und das kann, wie wir aus der Mathematik wissen, durchaus hilfreich sein, allerdings scheint sich Präreflexivität je mehr dem reflexiven Denken zu entziehen, umso mehr man sich demselben annähert. An anderer Stelle 10 hatte ich dazu vorgeschlagen, dass diese deskriptive Verflüchtigungs-Tendenz v. a. dadurch erklärt werden könnte, dass Präreflexives Selbstbewusstsein als v. a. basales emotionales Phänomen zu betrachten wäre und als solches als vorsprachlich aufzufassen ist. Die entscheidende Frage der Präreflexivität ist, warum diese überhaupt bei Selbstbewusstsein angenommen werden sollte und welcher Erklärungsvorteil sich daraus ergibt, wenn wir doch als Kontrastmodell schlicht von reflexiven und nicht-reflexiven Zuständen ausgehen können. Man könnte darauf kurz in folgender Weise antworten: Präreflexiv selbstbewusste Zustände anzunehmen, hat v. a. den Vorteil, dass mit diesem Modell Bewusstsein und Selbstbewusstsein erklärt werden kann, das eben noch nicht reflexiv ist, aber bereits als selbstbewusst klassifiziert werden kann. Dies setzt voraus, dass man zulässt, dass Reflexivität nicht eine conditio sine qua non für Selbstbewusstsein darstellt. Wenn es aber vorteilhaft sein soll diese Zustände anzunehmen, wie wären sie dann genauer zu beschreiben? »Il y a un ›cogito‹ pré-réflexif qui est la condition du ›cogito‹ cartésien. Toute conscience positionnelle d’object est nécessairement conscience nonpositionnelle de soi.« 11
Mit diesen Worten erwähnt Sartre zum ersten Mal den Begriff einer präreflexiven cogito. Er brachte damit zum Ausdruck, dass es zum Selbstbewusstsein eine Bedingung desselben gibt, die bereits ein cogito ist, ohne aber reflexiv zu sein. Sartre beschreibt so eine Kognition, die als direkte, noch nicht reflexive Erfahrung fungiert und Borner (2016). Jean Paul Sartre, Conscience de soi et connaissance de soi, [EA 1947], Gallimard, Paris 1993, 368.
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Eine neurowissenschaftlich basierte Theorie präreflexiven Selbstbewusstseins
bringt mit ihr zum Ausdruck, dass es nicht ein »Ich« ist, das denkt. Denn das wäre eine Setzung, die bereits einen reflexiven Denkakt erfordern und diesen daher unangemessen voraussetzen würde. Vielmehr ist selbstbewusstes Denken zwar schon vorhanden – aber eben präreflexiv. Das Selbst in dieser Wendung kann dabei nicht-egologisch verstanden werden, wie Frank 12 im Anschluss an Brentano 13 und Schmalenbach 14 hervorgehoben hat. In diesem Sinn ist jedes Bewusstsein immer auch ein Selbstbewusstsein. Wenn wir also von Bewusstsein sprechen, so denken wir immer auch ein präreflexives, nicht-egologisches Selbstbewusstsein mit. Dieser Sichtweise widersprechen viele Autoren. 15,16,17 Allerdings gibt es bislang kein überzeugendes Argument, dass erklärt, warum Bewusstsein jenseits eines präreflexiven Selbstbewusstseins – also rein nicht-reflexiv – existieren können sollte. Autoren, die von Bewusstsein jenseits eines reflexiven Selbstbewusstseins sprechen, sind in ihren Beschreibungen dieses Phänomens oftmals sehr parallel zu dem, was Autoren, die präreflexives Selbstbewusstsein postulieren, auch beschreiben, abgesehen davon, dass letztere bei diesen Zuständen von nicht-egologischen präreflexivem Selbstbewusstsein sprechen und erstere diese Zustände nicht als selbstbewusst qualifizieren würden. V. a. aber kommt dies daher, dass sie Selbstbewusstsein bereits vorab als notwendig reflexiv definieren. Ein besonders für die Betrachtung neuronaler Korrelate von Selbstbewusstsein bedeutendes Argument, warum man angemessen von Selbstbewusstsein auch in einem präreflexiven Sinne sprechen kann, könnte lauten, dass es immer ein Organismus ist, in dem eben diese selbstbewussten Zustände ablaufen und auch wenn diese dem Organismus nicht reflexiv bewusst sind, so sind sie im Organismus dennoch bewusst und eben das kann man als präreflexiv bezeichnen.
Manfred Frank, Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, Reclam, Stuttgart, 1991, 26. 13 Franz Brentano, Psychologie vom Empirischen Standpunkt [EA 1874], Meiner, Hamburg 1924. 14 Hermann Schmalenbach, Geist und Sein, Haus zum Falken, Basel 1939. 15 Michael Pauen, Neurowissenschaften und Philosophie, UTB, Stuttgart 2001, 105. 16 Albert Newen, Selbst und Selbstbewusstsein aus philosophischer und kognitionswissenschaftlicher Perspektive, in: Selbst und Gehirn, Paderborn, hg. von Albert Newen und Kai Vogeley, mentis, Paderborn 2000, 25. 17 Thomas Metzinger, Being No One: The Self-Model Theory of Subjectivity, MIT Press Cambridge, MA 2003, 403 und 547. 12
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Die Annahme präreflexiv selbstbewusster Zustände ermöglicht es also, jenseits eines rein dichotomen Modells reflexiver und nicht-reflexiver Zustände das Entstehen reflexiver Zustände genauer zu beschreiben, in dem Sinne, indem nicht-reflexive Zustände nochmals differenziert werden können in präreflexive und rein nicht-reflexive Zustände und damit auch die Entstehung von selbstbewusster Reflexivität in bestimmten Aspekten angemessener beschrieben werden kann. Da die in diesem Zusammenhang alle zu nennenden Aspekte nicht allesamt in diesem Artikel diskutiert werden können, möchte ich mich auf die Herausarbeitung bestimmter möglicher neuronaler Korrelate von präreflexivem Selbstbewusstsein beschränken, um an diesen möglichen Korrelaten zweierlei aufzuzeigen. Zum einen: Mögliche neuronale Korrelate von präreflexivem Bewusstsein und auch Selbstbewusstsein können beschrieben werden. Zum anderen: In der Betrachtung dieser möglichen neuronalen Korrelate von präreflexivem Bewusstsein und Selbstbewusstsein können wir etwas über Präreflexivität lernen, was aus der nicht-empirischen Betrachtung heraus nur schwer erschließbar wäre.
1. Neuronale Korrelate von Selbstbewusstsein Die meisten Vorschläge, neuronale Korrelate von Bewusstsein und Selbstbewusstsein zu identifizieren haben gemein, dass sie beschreiben, welche neuronalen Regionen notwendig dafür sind, dass eines der beiden Phänomene auftritt. Sie erklären jedoch nicht, wie oder warum es in Erscheinung tritt. Bereits Sartre, welcher den Begriff der cogito prérelfexif in die Philosophie einführte, resümierte in seiner Esquisse d’une théorie des émotions / Skizze einer Theorie der Emotionen seinerzeit ganz ähnlich »daß die Psychologie, soweit sie sich als Wissenschaft ausgibt, nur eine Summe heterokliter Fakten liefern kann, von denen die meisten keinerlei Verbindung miteinander haben«. 18 Ganz so negativ kritisch wollen wir die empirischen Kognitionswissenschaften nicht betrachten. Denn, wie ich zeigen möchte, können sie uns auch für philosophische Theorien relevante Aspekte aufJean Paul Sartre, Esquisse d’une théorie des emotions [EA 1939], Gallimard, Paris 1960, 258.
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Eine neurowissenschaftlich basierte Theorie präreflexiven Selbstbewusstseins
zeigen. Ein geläufiger Ansatz, eine empirisch basierte Theorie des Bewusstseins und Selbstbewusstseins zu beschreiben, besteht darin, psychologische, psychiatrische und neurologische Pathologien zu betrachten. Anhand der Störung und des Ausfallens bestimmter Merkmale von Bewusstsein und Selbstbewusstsein werden Rückschlüsse darauf gezogen, wie sich die Phänomene selbst gestalten. Der Pathologie- und Läsions-Ansatz kann in seiner nüchternen Beschreibung Hinweise dafür liefern, welche Phänomene eine umfangreiche Theorie des (Selbst-)Bewusstseins erklären können muss. Mit nüchterner Beschreibung ist dabei eine angestrebte möglichst neutrale Beschreibung von Phänomenen nach bestem Wissen und Gewissen der Untersucher gemeint, die nicht davon geleitet sein soll, eine bestimmte Theorie zu stützen oder zu stürzen. Empirische Untersuchungen in diesem Sinne sind aufschlussreich, denn es ist mit ihrer Hilfe möglich, pathologische mit gesunden Zuständen zu vergleichen und zudem Korrelationen zwischen neuronalen und phänomenalen Aktivitäten zu bilden. Die resultierenden pathologischen Beschreibungen erlauben allerdings immer nur indirekt, auf das zu beschreibende Phänomen zu schließen. Denn die Beschreibung eines gestörten Systems lässt zunächst nur Rückschlüsse auf eben dieses pathologische System, nicht aber direkt Schlüsse auch auf das gesunde System zu. Die funktionale Assoziation von Hirnarealen und neuronalen Netzwerken mit bestimmten kognitiven Funktionen unterliegt noch einer weiteren grundsätzlichen Beschränkung. Nur weil bestimmte Areale und Netzwerke mit gewissen kognitiven Funktionen korreliert werden können, bedeutet dies nicht, dass diese Areale und Netzwerke auch ursächlich für die jeweilige Kognition sind. Wir können von ihnen einzig aussagen, dass sie eine Rolle bei bestimmten Kognitionen spielen. Diese Rolle kann grundsätzlicher oder peripherer Natur sein, d. h. Areale und Netzwerke können dahingehend bestimmt werden, dass ihr Funktionieren und ihr Vorhandensein mit dem Funktionieren und Vorhandensein bestimmter Kognitionen korreliert werden kann. Innerhalb dieser Einschränkungen können Aussagen darüber getroffen werden, inwieweit neuronale Areale und Netzwerke in ihren spezifischen Funktionen und Verknüpfungen mit bestimmten Kognitionen assoziiert werden können und was man von dieser Assoziation tentativ über bestimmte kognitive Modelle lernen kann. Allerdings bleiben einige methodische Schwierigkeiten bestehen, die v. a. darum angesiedelt sind, dass Hirnfunktionen im Rahmen besten Wissens und Gewissens angemessen beschrieben 163 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
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werden, dass bestimmte Attribute ggf. übersehen werden können oder auch dass bestimmte Analyseverfahren schlicht noch nicht ausgereift genug sind, um sich der Funktion bestimmte Regionen in extenso anzunähern. Die philosophische Betrachtung empirischer Sachverhalte der Neurowissenschaften setzt also voraus, dass man diese nicht einfach nur unkritisch konsumiert, sondern selbst am neurowissenschaftlichen Wissen prüft. Ich möchte ein Modell zur Theorie des präreflexiven Selbstbewusstseins (TOPS: theory of pre-reflective self-consciousnes) vorstellen, welches nicht auf einer Analyse der Intuitionen unserer Alltagssprache sowie aus einer auf Introspektion gewonnenen Phänomenologie beruht, wie es beispielsweise die Gedankenexperimente wie inverted spectrum 19, Zombie-Argument 20, absent qualia 21 oder das modale Argument für Dualismus 22 tun, sondern auf empirischen Beobachtungen aufbauend. Ich nenne sie TOPS – eine Theorie subpersonaler Bedingungen.
2. Eine Theorie Subpersonaler Bedingungen Kurz gefasst gestaltet sich die Theorie subpersonaler Bedingungen dadurch, dass im Hinblick auf die Empirie zunächst versucht wird eine weitgehend neutrale Position einzunehmen, die nicht bestrebt ist, bestimmte Theorien zu bestätigen oder zu widerlegen, sondern erst einmal eine möglichst faktische Beschreibung empirischer Sachverhalte betrachtet. Diese faktische Beschreibung wird herangezogen, um anhand ihrer negativ definitorische Eingrenzungen vorzunehmen, v. a. dahingehend, wie ein mentaler Zustand empirisch abgrenzbar ist und wenn möglich, positiv definitorische Aussagen darüber zu treffen, wie dieser Zustand genauer zu beschreiben ist. Eine Theorie subpersonaler Bedingungen muss es leisten können, diesen empirischen Sachverhalten zumindest nicht zu widersprechen, auch wenn sie diese letztlich nicht vollkommen erklären können muss.
Ned Block, Inverted Earth, in: Philosophical Perspectives 4 (1990) 53–79. David Chalmers, Facing Up to the Problem of Consciousness, in: Journal of Consciousness Studies 3 (1995) 200–219. 21 Daniel Dennett, Quining Qualia, in: Philosophy of Mind: Classical and Contemporary Readings, hg. von David Chalmers, OUP, Oxford 1988, 226–246. 22 Saul Kripke, Naming and Necessity, HUP, Cambridge, MA 1980. 19 20
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Eine neurowissenschaftlich basierte Theorie präreflexiven Selbstbewusstseins
Betrachten wir ein weitgehend diskutiertes Modell, das 2013 von Carvalho und Damasio vorgestellt wurde. Es beschreibt als eines der gegenwärtig elaboriertesten Ansätze ein System neuronaler Areale, welche nach Aussage der Autoren an der neuronalen Repräsentation und Bewusstwerdung von Körperregionen beteiligt ist – einem Prozess, den die Autoren Gefühl nennen. Die Beschreibung der Entstehung von Gefühlen schließt dabei an die alte Theorie von James und Lange an. In beiden Fällen werden Emotionen und emotionale Gefühle als aus viszeralen Veränderungen entstanden beschrieben. Damasio und Carvalho beschreiben den entsprechenden Körper-Kartierungs-Prozess im Wesentlichen anhand zweier Pfade: zum einen der aus C- und Aδ-Fasern bestehende Lamina I-Pfad, zum anderen ein Pfad über den Nervus vagus. 23 Der Lamina I-Pfad wurde v. a. assoziiert mit der Übertragung von Körperinformation an Hirnstamm-und thalamischen Kernen. Diese sind v. a. Muskelkontraktion in Gefäßwänden, peripherer Blutfluss, Temperatur, Gewebeverletzungen, pH-Wert und Konzentration von Sauerstoff und Kohlenstoff-Dioxid. Der Nervus vagus vermittelt dagegen Veränderungen in den Viscera über den Hirnstammkern Nucleus tractatus solitarius (NTS), der besonders an der Verarbeitung von Geschmack beteiligt ist. Daneben gehören zum System der Hirnstamm-assoziierten-Körperinformationsverarbeitung zudem das Netzwerk um Area Postrema (AP), Parabrachialen Nucleus (PBN) und Periaquäduktalem Grau (PAG), welches mit den Colliculi Superiores (SP) interagiert. AP kommt v. a. eine Verarbeitungsfunktion im Hinblick auf Toxizitätsdetektion und körperlichen Abwehrreaktionen zu. Der PBN wurde mit der Verarbeitung von Wachheit und Geschmack assoziiert. Das PAG ist an der Prozessierung von Angst und Schmerz beteiligt, während die SP v. a. an der Verarbeitung schnellen Bewegungen der Augen, den Sakkaden, beteiligt sind. Insgesamt finden sich in diesen Gruppen also überlebensrelevante Informationsverarbeitungen, die es dem Organismus erlauben, festzustellen, wie seine gegenwärtige Konstitution im Verhältnis zur Umwelt ist. Diese Kerngruppen übertragen ihre Informationen direkt bzw. über den Hypothalamus, der zentralen Schaltstelle zur Verarbeitung von Nahrungs- und Wasseraufnahme, Schlaf und circadianer Rhythmik, Sexualverhalten sowie homöostatischer Balance des inter23 Antonio Damasio/Gil B. Carvalho, The nature of feelings: evolutionary and neurobiological origins, in: Nature Reviews Neuroscience (2013) 146.
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Marc Borner
nen Körpermilieus, an das komplexe System thalamischer Kerne, welche nicht nur anatomisch, sondern auch funktional in wesentlich zwei verschiedene Bereiche unterschieden werden können: palliothalamische Kerne (anterior, medial, lateral, Pulvinar, Corpus geniculatum mediale und laterale) sowie truncothalamische Kerne. 24 Im anterioren Teil palliothalamischer Kerne ist als Hauptkern der Nucleus anterior thalami hervorzuheben, dem eine Funktion im emotionalen Gedächtnis zugeschrieben wird. Mediale Kerne werden mit emotionaler Verhaltenssteuerung und Verhaltensbewertung assoziiert. Laterale Kerne scheinen als Umschaltstelle somatosensorischer Informationen zum somatosensorischen Cortex zu dienen. Das Pulvinar ist mit visueller und auditorischer Aufmerksamkeitssteuerung sowie Sprache und symbolischem Denken korreliert worden. Der Corpus geniculatum mediale ist als zentrale Verarbeitungsstelle am Hörprozess beteiligt. Eine dazu parallele visuell verarbeitende Funktion nimmt der Corpus geniculatum laterale ein. Die truncothalamischen Kerne beispielsweise intralaminäre und Mittellinienkerne wurden im Zusammenhang mit Wachheits-, Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsregulation beschrieben. 25 Die palliothalamischen Kerne sind v. a. an der Verarbeitung von emotionalem Gedächtnis (Nucleus anterior thalami), emotionaler Verhaltenssteuerung und Verhaltensbewertung (mediale und anteriore Kerngruppe), visueller und die auditorischer Aufmerksamkeitssteuerung sowie Sprache, symbolischem Denken (Pulvinar) und visueller Reizverarbeitung (CGL) beteiligt. Bereits diese verschiedenen funktionalen Assoziationen verdeutlichen, warum der Thalamus lange als Tor zum Bewusstsein beschrieben wurde. 26,27 Wozu auch passt, dass die von Descartes 28 als Organ der Seele hervorgehobene Zirbeldrüse (Epiphyse) Teil desselben ist 29 – eine Struktur, die v. a. mit der Verarbeitung von Lichtempfindlich-
Roth (2010). Roth (2010) 191 ff. 26 Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001, 205. 27 Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, 54 ff. 28 René Descartes, Les passsions de l’ame / Die Leidenschaft der Seele [EA 1649], Meiner, Hamburg 1996, Artikel 34 und 59. 29 Gerhard Roth/Nicole Strüber, Neurobiologische Merkmale von Gewalttätern mit antisozialer Persönlichkeitsstörung und die Frage ihrer Schuldfähigkeit, Eickelborner, Lippstadt 2009. 24 25
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Eine neurowissenschaftlich basierte Theorie präreflexiven Selbstbewusstseins
keit und Biorhythmen korreliert werden kann. 30 Im Thalamus konvergiert die ankommende Information externer und interner körperlicher Stimuli und wird von da über den posterioren Teil zum anterioren Teil der Insula und von dort an alle anderen Teile des Cortex übertragen. 31 In der Insula kommt es zu einer zentralen Verarbeitung interner Körperinformation, psychomotorischer Kontrolle, der Verarbeitung von Emotionen sowie darüber insgesamt auch zu einer emotionalen Selbstreferenz. V. a. dem anterioren Teil wurde dabei eine Verarbeitung von Gefühlen, also bewusst werdenden Emotionen, zugeschrieben. 32 Auch wenn die Beschreibung des Thalamus als »Tor zum Bewusstsein« überzeichnet scheint, kommt ihm, wie die zuvor gemachten Beschreibungen verdeutlichen, dennoch eine zentrale Bedeutung in der Bewusstseins- und Selbstbewusstseinsverarbeitung zu. Ein genauerer Blick auf die Afferenzen und Efferenzen der von Carvalho und Damasio beschriebenen Areale verdeutlicht, dass es zudem eine afferente Bahn vom internen körperlichen Milieu über Lamina I zu thalamischen Kernen und Insula sowie vom internen körperlichen Milieu über die Area Postrema und Hirnstammkerne zu Thalamus und Insula gibt. Efferente Bahnen dagegen laufen von den Viscera über den Nervus Vagus zum NTS sowie vom Hypothalamus, PAG und die Colliculi Superiores (SC) zu den Viscera (vgl. Abbildung 1). Aus der Pfadbetrachtung und den jeweilig korrelierten Teilfunktionen der entsprechenden Gehirnareale lassen sich bestimmte Schlüsse ableiten. Zunächst scheint es notwendig, die klassische Theorie von James und Lange über viscerale Veränderungen, die zu Emotionen führen, zu präzisieren und zu erweitern. Denn zwar fließt ein visceraler Einfluss auf bewusste emotionale Verarbeitung durch Pfad über den Nervus vagus ein, allerdings scheinen die Viscera hauptsächlich efferent innerviert zu sein. Emotional verarbeitende Zentren wirken sich also auf die inneren Organe aus. Diese Intuition kommt bereits in Sprichwörtern wie »Liebe geht durch den Magen«, »Das schlägt mir auf den Magen.«, »Sich ein Herz fassen.«, »Schmet-
Roth (2001) 98. Gerhard Roth, Wie einzigartig ist der Mensch? Die lange Evolution der Gehirne und des Geistes, Spektrum Akademischer Verlag, Berlin/Heidelberg 2010, 192. 32 Antonio Damasio, The Feeling of What Happens, Harcourt Brace, Orlando 1999, 44 ff. 30 31
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Marc Borner
Andere kortikale Areale
Anteriore Insula
Posteriore Insula
Thalamische Kerne
Hypothalamus SC
Lamina I
PAG
PBN
NTS
AP
Internes Körper-Milieu
Viscera Abbildung 1
terlinge im Bauch haben.« und anderen aus. Das weitere körperliche Milieu wirkt sich über Lamina I exitatorisch direkt bzw. vermittelt über Kerne des Hirnstamms auf den Thalamus aus. Viscerale Veränderung scheinen nur über den Hirnstamm vermittelt auf den Prozess der Entstehung von Körperrepräsentationen zu wirken, auch wenn die viscerale Innervierung über den Nervus vagus und den Nucleus Tractatus Solitarius mit weiteren Kernen des Hirnstamms fungiert. Läsionsstudien weisen darauf hin, dass bereits ab der thalamischen Ebene bewusste emotionale Prozesse auftreten können, die allerdings wenig differenziert und moduliert sind. 33,34 Dazu passt auch, dass präfrontal geschädigte Patienten oft ein stark impulsives 33 34
Damasio/Carvalho (2013) 147. Damasio (1999) 44 ff.
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Eine neurowissenschaftlich basierte Theorie präreflexiven Selbstbewusstseins
Verhalten, gestörte Planungs-Kognitionen sowie einen starken Drang nach unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung zeigen. Personen mit thalamischen Läsionen leiden dagegen oft an Gefühllosigkeit bzw. Gefühlsmodifikationen. 35, 36 Wenn wir das zuvor genannte Modell erweitern und in Bezug setzen zu externen und internen Stimuli im Prozess der Selbstbewusstwerdung von Reizen, so können wir folgendes, im Wesentlichen dreistufige Modell entwerfen, welches präreflexives Selbstbewusstsein zwischen unbewussten und reflexiv selbst-bewussten Prozessen einordnet (vgl. Abbildung 2). Äußere Reize erhält der Organismus aus den Objekten und Ereignissen der Umwelt. Er agiert und reagiert in dieser. Aber er grenzt sich auch von dieser ab, indem er auf externe Reize mit einer positiven (Hinwendung) bzw. negativen Valenz (Abwendung) reagiert. Diese erste Valenzreaktion verdeutlicht dem Organismus in der Welt und von der Welt verschieden zu sein. Sie erfolgt direkt 37, d. h. ohne zeitliche Verzögerung, da der Organismus immer in einer bestimmten Umwelt situiert ist und zudem, so lange er lebendig ist, immer über irgendeine Art von internem Zustand verfügt. Umwelt und Organismus bilden in diesem Sinne ein zusammenhängendes System. Die ursprüngliche positive und negative Valenz kann in Verbindung gebracht werden zu Sartres notwendiger Binnendifferenzierung im cogito préréflexif. 38 Ähnlich wie im Fall von Sartres Forderung, dass präreflexives und reflexives Selbstbewusstsein ein einheitliches sein mögen, ist dennoch eine Binnendifferenzierung derselben notwendig, damit überhaupt eine Aussage über präreflexives Selbstbewusstsein jenseits von reflexivem Selbstbewusstsein getroffen werden kann. 39,40,41 Diese Binnendifferenzierung verlangt jedoch nicht, dass beide Phänomene getrennt voneinander zu betrachten sind. Ähnlich ist es auch mit der ursprünglichen Valenzreaktion, die zwar in sich und von ihren Reizen differenziert werden Damasio/Carvalho (2013) 147. Damasio (1999) 44 ff. 37 Andy Clark/David Chalmers, The extended mind, in: Analysis 58 (1998) 7–19. 38 Sartre (1993). 39 Dieter Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, in: Subjektivität und Metaphysik, hg. von Dieter Henrich und Hans Wagner, Klostermann Frankfurt am Main 1966, 188–232. 40 Frank (1991). 41 Frank (2012). 35 36
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kann und daher eine Reaktion ist, aber dadurch, dass die Reizeinbettung immer unmittelbar erfolgt, bildet sie ein eigenes UmweltValenz-Reaktionssystem. Auch Präreflexivität bildet im Sartre’schen Sinne ein Präreflexiv-Reflexiv-System, bei dem man von einer relativen Irrelationalität sprechen kann. 42, 43 Sie stellt den Beginn eines Prozesses dar, den ich subjektive Konstruktion nenne, da er das Entstehen des Subjekts der Erfahrung beschreibt mit dem Resultat eines komplexen reflexiven Selbstbewusstseins. In ihm kann sich sowohl präreflexives als auch reflexives Selbstbewusstsein nochmals abbilden und Metarepräsentation formen. Zeitlich kann man die entsprechenden Prozesse in einen prospektiven und in einen retrospektiven Aspekt aufteilen. Den prospektiven Aspekt möchte ich als Symbolisierung bezeichnen, den retrospektiven Aspekt als Reflexion. Symbolisierung ermöglicht Funktionen der Planung, Reflexion Funktionen des Gedächtnisses. Neben der Symbolisierung bzw. Reflexion reflexiv selbstbewusster Zustände können aber auch Symbolisierung bzw. Reflexion phänomenaler Zustände vorkommen. Im Gegensatz zur eigentlich auf Valenzreaktion beruhenden unmittelbaren Erfahrung phänomenaler Veränderungen, stellt die Reflexion derselben eine mittelbare Erfahrung dar. Diese Zusammenfassung aus Pfaden und Verknüpfungen bezeichne ich als TOPS (Theory of Prereflective Self-Consciousness). Von äußeren und inneren Reizen über die Verarbeitung von Valenzreaktionen in den verschiedenen Hirnstammkernen, über präreflexiv selbstbewusste Prozesse zu Thalamus und insulär zu cortikalen Arealen, die letztlich auch am Großteil reflexiv selbstbewusster Verarbeitung beteiligt ist, vereinigen sich so in TOPS rein physiologische Beschreibungen (Abbildung 1) mit Korrelaten von präreflexivem und reflexivem Selbstbewusstsein (Abbildung 2). Reize scheinen zunächst unterschiedlich danach verarbeitet zu werden, ob sie dem internen körperlichen Milieu (Lamina I, AP-Pfade) oder visceralem Milieu (Nervus Vagus Pfad) entstammen. In ihren jeweiligen Pfaden und Rückkopplungen aus externen und internen Sinnesverarbeitungen bilden sie ein präzises Bild dessen ab, was in einem jeweiligen Moment mit dem Organismus geschieht. Die entsprechende Information sammelt sich in den thalamischen Kernen und wird von dort an die insulären Areale übertragen. Ab dieser Ebene findet sich auch 42 43
Frank (1991). Frank (2012).
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Obj.
davor
danach
Unmittelbarkeit
PC
Binnendifferenzierung keine Schleife direkte Interaktion
NC
Geschmack & Geruch
–
danach
Unmittelbarkeit
davor
+
prSbw
PR
Abbildung 2
SC
rSbw
subjektive Konstruktion
Subjektivierung
phänomenale Reflexion
RR Zukunft
CP
VMP
CP Autobio.
CR
Ideales Selbst
RP Vergangenheit
Gedächtnis
RC
const.
RC
CF
CF
RF
HX
Symbolisierung (Sprache)
HOC
Planung
Eine neurowissenschaftlich basierte Theorie präreflexiven Selbstbewusstseins
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Marc Borner
bewusste Verarbeitung, die die Information über den Organismus trägt, aber nicht kognitiv reflexiv ist. Damasio und andere haben diese Information bewusst gewordene Emotionen oder die Ebene der Gefühle genannt. Sie ist in ihrer direkten Körperinformationsverarbeitung etwas, das dem sehr nahekommt, was Autoren seit Sartre präreflexives Selbstbewusstsein genannt haben. In einem Prozess, den ich Subjektivierung nenne, kann mit dem Fortschreiten zu weiteren cortikalen Arealen immer komplexeres Selbstbewusstsein korreliert werden, das schließlich auch als reflexives Selbstbewusstsein bezeichnet werden kann. Ich nenne den Prozess des Entstehens reflexiven Selbstbewusstseins subjektive Konstruktion. Reflexives Selbstbewusstsein kann zu sich selbst Bezug nehmen in einem Prozess der Symbolisierung, d. h. Abbildung seiner selbst als seiner selbst. Oder es kann Bezug auf präreflexive Zustände nehmen. Ich nenne dies phänomenale Reflexion. In ihr versucht das reflexive Selbstbewusstsein abzubilden, was auf der emotionalen, noch nicht reflexiv selbstbewussten Ebene mit eben diesem Organismus geschieht. In metarepräsentationalen Zuständen kann der Prozess der Symbolisierung nochmals reflektieren und zwar entweder, indem es sich in die Zukunft projiziert und somit Prozesse wie Planung ermöglicht oder indem es ein Bild seiner selbst von der Vergangenheit entwirft und damit Prozesse wie Gedächtnis ermöglicht. Die Zukunftsrepräsentation ermöglicht eine Projektion auch als ideales Selbst, d. h. als Selbst, wie es in einer Idee repräsentiert wird. Die Repräsentation in die Vergangenheit ermöglicht ein autobiographisches Gedächtnis, was sich im Laufe des Lebens auch wieder auf präreflexive und reflexiv selbstbewusste Zustände auswirkt. Werfen wir in diesem Zusammenhang noch einen Blick auf den Vergleich von neuronalen und kognitiven Schleifen. Denn die Frage liegt nahe, ob das Vorhandensein neuronaler Schleifen nicht auch notwendig bedeutet, dass es zu entsprechenden kognitiven Schleifen und damit zu zirkulären Begründungen kommen muss. Man kann dies relativ klar beantworten: Neuronale Schleifen und Schleifen in TOPS bedeuten nicht, dass Schleifen des Bewusstseins angenommen werden. Insbesondere für die Ebene präreflexiven und phänomenalen Selbstbewusstseins ist dieses explizit nicht der Fall. Vielmehr kann an jenen Stellen von unmittelbar reagierenden und sich beeinflussenden Systemen gesprochen werden. Das Beschreiben neuronaler Schleifen bedeutet also nicht, dass diese auch in bewusst reflexiven Schleifen münden müssen. Neuronale Schleifen beziehen sich zunächst auf 172 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
Eine neurowissenschaftlich basierte Theorie präreflexiven Selbstbewusstseins
Veränderungen neuronaler Aktivationen (z. B. im Sinne von Aktionspotentialen). Sie sind nicht direktes Abbild mentaler Phänomene, sondern können allenfalls mit diesen korreliert werden. Ob und wie diese beteiligt sind, ist weitgehend unbeschrieben und zum großen Teil auch unverstanden. Nichtsdestotrotz können theoretische Überlegungen wie in TOPS hilfreich sein, die zugrundeliegenden Mechanismen von präreflexivem und reflexivem Selbstbewusstsein besser zu verstehen.
3. Fazit Fassen wir nochmals zusammen. Die Annahme präreflexiven Selbstbewusstseins kann mit aktuellen neurowissenschaftlichen Erforschungen zum Thema Selbstbewusstsein zusammengebracht werden. Man kann von der Annahme ausgehen, dass Selbstbewusstsein auch bereits vor reflexiven Zuständen vorliegt und Reflexivität daher nicht eine conditio sine qua non für Selbstbewusstsein darstellt. Es scheint durchaus vorteilhaft, auch von präreflexiv selbstbewussten Zuständen zu sprechen, denn bestimmte mentale Zustände bringen bereits direkte selbst-Zustände zum bewussten Ausdruck, ohne jedoch selbst-referentiell zu sein. Der in diesem Aufsatz vertretene Ansatz korreliert diese Annahme mit der Prozessierung emotionaler Körperinformation. 44 Das hier vorgestellte Modell TOPS (vgl. Abbildung 2) kann es ermöglichen, Selbstbewusstsein auch jenseits reflexivistischer Theorien zu denken und dieses fruchtbar zu machen für ein erweitertes Verständnis auch von Psychopathologien und Ansätzen künstlicher Intelligenz. Insbesondere bietet es eine Alternativerklärung dafür, wie Selbstbewusstsein entstehen könnte, wie sich entsprechende Pfade sowie mögliche neuronale Korrelate gestalten und wie wir letztlich zu einer umfassenden Theorie des Selbstbewusstseins gelangen können.
44
Für eine ausführliche Darstellung zu diesem Ansatz siehe: Borner (2016).
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Blindes Vertrauen in die Ich-Identität. Neuroethische Unterstellungen Lukas Ohly
1. Menschliche Autonomie trotz inadäquater IchRepräsentation? Das präreflexive Subjekt verdankt seine Entdeckung wohl vor allem der Vermeidung eines infiniten Regresses: Wäre Subjektivität eine Entität, so müsste ein Subjekt sie »als etwas« identifizieren und bedürfte dazu einen Vergleichspunkt, an dem sie die Identifikation messen könnte. Ein solcher Vergleichspunkt müsste aber selbst »als etwas« aufgefasst werden und bedürfte seinerseits einen Vergleichspunkt – ad infinitum. 1 Mit solchen Regressen ist allerdings noch nichts Signifikantes über Subjektivität ausgemacht, sondern nur eine bestimmte Zugangsweise ausgeschlossen worden. Das Problem des Regresses der Identifikation tritt auch bei anderen Phänomenen von Ungegenständlichkeit auf, derer wir zwar im Vollzug gewahr werden, ohne sie jedoch gegenständlich adäquat begreifen zu können. Hierzu gehört etwa die Kategorie der Erstheit bei Peirce 2, mit der er Gott verbindet 3, oder auch die Alterität des Anderen, der sich jeglicher Verobjektivierung versperrt, da er als anderes Bewusstsein immer schon vorausgesetzt werden muss, um ihn als einen Anderen überhaupt denken zu können. 4 Damit ergibt sich ein Dilemma: Um das präreflexive Ich von anderen ungegenständlichen Phänomenen unterscheiden zu können, Manfred Frank, Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002, 127. 2 Charles Sanders Peirce, Religionsphilosophische Schriften, Meiner, Hamburg 1995, 120. 3 Peirce (1995). 4 Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über Exteriorität, Karl Alber, Freiburg im Breisgau 1987, 28, 110, 131, 345 f. und 394, sowie ders., Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über Betroffenheit von TranszendEnz, Karl Alber, Freiburg im Breisgau 21988, 20, 26, 99, 143, 163, 175, 184 und 209. 1
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Blindes Vertrauen in die Ich-Identität
müsste es »als etwas« ausgelegt werden. Dazu bedarf es mehr als nur der Vermeidung infiniter Regresse. Da sich aber das präreflexive Ich gerade einer Als-Struktur entzieht, kann jegliche Darstellung von Subjektivität nur inadäquat sein. In der Konsequenz hängt sich die Debatte um das präreflexive Ego an den Begriff der Repräsentation: 1. Ist Subjektivität zwar ein Repräsentat, nicht aber eine Repräsentation? In diesem Fall ist Subjektivität ein Konstrukt geistiger Prozesse, die zunächst vor-subjektiv ablaufen. Es gibt dann kein apriorisches Ego, sondern nur ein aposteriorisches. Präreflexivität ist eine Chimäre: Der infinite Regress wird einfach so umgangen, dass die Bedingung für subjektive Reflexivität immanente Ähnlichkeit eines neuronalen Systems ist: Das, womit sich das Ich vergleicht, gibt es nicht außer durch den Vergleich, der das Verglichene überhaupt erst herstellt. 5 2. Oder gibt es vor-intentionale Phänomene, die nichts repräsentieren? Dann ist das »Ich denke« ein leerer Gedanke, der zwar alle Denkprozesse begleitet, ohne aber selbst zum Thema werden zu können. 6 Dasselbe gilt für Schmerzen, die nichts repräsentieren, sondern direkt empfunden werden. 7 3. Oder repräsentiert Subjektivität sich selbst für sich selbst? Dann besitzen das Erleben und das sich Erlebte eine subjektive Indifferenz, die zwar kategorial inadäquat ist, aber trotzdem phänomenal nicht umgangen werden kann. Ich werde in meinem Beitrag diese dritte Spur verfolgen – also genau die, die in der subjekttheoretischen Diskussion aufgrund ihrer logischen Aporien ins Hintertreffen geraten ist. Mir scheint aber, dass sie die einzige ist, die ethische Signifikanzen erzeugt, um Subjekte in ihrer Autonomie zu schützen. Sollte nun die subjektive Indifferenz zwischen Erleben und dem sich Erlebten fehlschlagen, so sind den Manipulationen des sogenannten Neuroenhancements Tür und Tor geöffnet. Die neurowissenschaftlichen Kenntnisse und technischen Thomas Metzinger, Ganzheit, Homogenität und Zeitcodierung, in: Bewußtsein. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie, hg. von Thomas Metzing, mentis, Paderborn 52005, 595–633, hier: 628; ders., Subjekt und Selbstmodell. Die Perspektive phänomenalen Bewußtseins vor dem Hintergrund einer naturalistischen Theorie mentaler Repräsentation, mentis, Paderborn 21999, 243. 6 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft [21787], in: Gesammelte Werke, hg. von der Preussischen Akademie für Wissenschaften, Göttingen 1900 ff., Bd. 3, 108 ff. 7 Frank (2002) 110. 5
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Lukas Ohly
Möglichkeiten reichen bereits aus, um den menschlichen Willen gezielt umzuleiten: Durch Psychopharmaka können die Stimmung auch von psychisch gesunden Probanden aufgehellt und Glücksgefühle erzeugt werden. Die kognitive Leistungsfähigkeit kann gesteigert werden. 8 Durch die Verschränkung von Nano-, Bio-, Informationstechnologie und Neurowissenschaft kann das menschliche Gehirn zu einem Hybrid aus natürlichen und technischen Bestandteilen erweitert werden – mit allen Chancen und Risiken: Werden etwa kognitive Kapazitäten mit einem Computerchip erweitert, so könnte die Frage der Verantwortung für das menschliche Handeln ebenso schwer zu beantworten sein wie gegenwärtig bei selbstfahrenden Autos. Erhält ein Proband eine eingebaute WLAN-Antenne, so drohen dem Subjekt ähnliche Hacker-Angriffe, wie sie heimische Computer schon heute unterwandern. Und wenn Alzheimer- oder eines Tages auch Koma-Patienten mit Computerchips wieder eine Kontrolle über ihr Leben gewinnen, so stellt sich die Frage, wer das »Selbst« dieser Kontrolle ist. Aber auch abgesehen von solchen Risiken stellt sich die Frage, welche Erweiterungen subjektiver Fähigkeiten die Autonomie eines Menschen bedrohen. Könnte es nicht sein, dass sogar ein Mensch, der sich zu einer entsprechenden Maßnahme des Neuroenhancements entscheidet, dabei seine Autonomie zerstört und sich unter eine fremdbestimmte Herrschaft gut meinender Experten stellt? Entspricht es noch der subjektiven Autonomie eines Menschen, wenn er sich entscheidet, eine Fremdsprache nicht mehr mühsam erlernen zu müssen, sondern mit einem neuronal vernetzten Spracherkennungschip umgehend zu beherrschen? Oder beherrscht umgekehrt dabei der Chip den Menschen, so dass die Autonomie angetastet wird? Solche ethischen Probleme tangieren unser Selbstverständnis als autonomiefähige Subjekte. Dabei ist zu klären, ob unser Selbstverständnis kohärent ist, wenn Subjekte nicht konsistent sich selbst denken und erfahren können. Kommen wir also zurück auf die drei Varianten, Subjektivität mit Repräsentation in ein Verhältnis zu setzen. Die neuroethisch ent-
Eine Liste pharmazeutischer Mittel und ihrer Wirkung findet sich bei Uwe-Fritjof Haustein, Neuroenhancement – medizinische Aspekte, in: Der Mensch der Zukunft – Hintergründe, Ziele und Probleme des Human Enhancement. Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, hg. von Udo Ebert, Ortrun Riha und Lutz Zerling, Verlag S. Hirzel, Stuttgart/Leipzig 2013, 159–169, hier: 162–165.
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Blindes Vertrauen in die Ich-Identität
scheidende Leitfrage lautet: Gibt es einen Unterschied zwischen sich selbst verändern und ein anderer werden? 9 Alle Subjekttheorien müssen einräumen, dass Subjekte nicht einfach identisch bleiben, sondern sich auch verändern. Sie müssen also Identität und Veränderung in ein Verhältnis setzen. 1. Der erste Vorschlag zur Repräsentation von Subjektivität erkennt jedoch keinen Unterschied zwischen sich selbst verändern und ein anderer werden: Denn da das Verglichene erst im Vergleich entsteht und dabei einer internen Kongruenz entspricht, kann es bei keiner Manipulation des Gehirns in eine Inkongruenz geraten: Das Selbstmodell bleibt ja das Modell des Gehirns, auch wenn es ein anderes Selbstmodell ist. Wird also ein Subjekt durch Manipulation mit einem anderen ausgetauscht, so besteht nach dieser Variante kein Unterschied zu einem Subjekt, das sein Selbstbild an biografische Veränderungen selbst anpasst. 2. Die zweite Variante wiederum kann keine signifikanten Unterschiede zu anderen empfundenen, aber nicht repräsentierten Phänomenen identifizieren. Zwischen Ich und dem Anderen kann nur ein empfundener, aber kein repräsentierter Unterschied bestehen. Es hilft jedoch für die Signifikanz der Präreflexivität nichts, wenn das Ich Unterschiede empfindet, der Andere aber begegnet. Denn wie soll der Unterschied zwischen Empfinden und Begegnung nicht nur begrifflich, sondern auch phänomenologisch ausgewiesen werden können, ohne dabei Ich und den Anderen intentional zu erfassen? Hier droht ein zirkuläres Vorurteil. Offenbar kann in dieser Variante nicht vorurteilsfrei entschieden werden, mit welchen Eingriffen die menschliche Autonomie angetastet wird. 3. Mein Beitrag wird die These begründen, warum Subjektivität in zwei Kategorien auftaucht: nämlich zum einen als ungegenständliches Begleiten allen Denkens und Fühlens und zum anderen als Selbstvergegenständlichung. Wird Subjektivität nur in einer Kategorie beachtet, so geht sie als Phänomen verloren. Beide Kategorien sind im Subjektivitätsphänomen wechselseitig aufeinander angewiesen. Sie sind es aber nur deshalb, weil sie durch ein blindes, unbegründetes Vertrauen vermittelt werden. Dieses Vertrauen beruht wiederum auf einer dritten Kategorie. Die Evidenz dieses blinden Vertrauens macht das Vorurteil der zweiten Variante Lukas Ohly/Catharina Wellhöfer, Neuroenhancement aus theologisch-ethischer Perspektive, in: Forum Erwachsenenbildung 49 (2016) 34–38, hier: 38.
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Lukas Ohly
verständlich, Präreflexivität von anderen nicht-intentionalen Phänomenen abzugrenzen. Zugleich wird damit ein blinder Fleck der ersten Variante aufgewiesen, der nicht nur neuroethisch relevant ist, sondern auch phänomenologisch erhärtet wird.
2. Erlebnis, Erleben und erlebtes Erleben 10 Im Folgenden binde ich die Diskussion um die Präreflexivität des Ich an alltägliche Situationen zurück. Damit versuche ich, in phänomenologischer Naivität abstraktive Fehlschlüsse zu vermeiden. Für neuroethische Fragestellungen ist dieser Gang ratsam, um ethischen Subjekten eine lebensnahe Entscheidungsfähigkeit zu ermöglichen und um die menschliche Autonomie zu schützen. Mein Ausgangspunkt sind also nicht »leere« Subjekte oder reflexive Denkprozesse, sondern menschliche Wahrnehmungen. Wenn die menschliche Autonomie zu Recht Achtung verdient, muss die Unterscheidung zwischen sich selbst verändern und ein anderer werden signifikant sein. Ansonsten ist Autonomie eine Chiffre für bloße Entscheidungsprozeduren, die den subjektiven Charakter der Autonomie übergehen. Tatsächlich zeigt sich zwar eine solche Tendenz in der Medizinethik, die Autonomie des Patienten unabhängig von seiner subjektiven Betroffenheit wahren zu wollen – etwa in Patientenverfügungen, die das Subjekt vertreten sollen, wenn es »ausgefallen« ist. Diese Tendenz sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit ein verzerrter Begriff von Autonomie zugrunde gelegt wird. 11 Es wird sich aber zeigen, dass mit der Frage nach der Autonomie des Subjekts ein Phänomen auftritt, das in subjekttheoretischen Diskursen Präreflexivität genannt wird. Subjektivität zeichnet aus, dass sie Erlebnisse hat. Von anderen Subjekten unterscheidet sich jedoch ein Subjekt nicht zwingend dadurch, dass es andere Erlebnisse hat, sondern primär dadurch, dass es
Zur folgenden Sektion siehe auch Lukas Ohly, Können wir autonom unser Gehirn manipulieren, bis wir jemand anderes sind? Zum Verhältnis von Neuroethik, Bewusstseinsphilosophie und Theologie, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 56 (2014) 141–159; ders., Schöpfungstheologie und Schöpfungsethik im biotechnologischen Zeitalter, De Gruyter, Berlin 2015, 85–112. 11 Lukas Ohly, Einstellung lebenserhaltender Maßnahmen und der gemutmaßte Wille von Koma-Patienten, in: Wege zum Menschen 58 (2006) 122–134. 10
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Blindes Vertrauen in die Ich-Identität
ein anderes Erleben dieser Erlebnisse hat. Wenn zwei Menschen gleichzeitig dasselbe Frühstück zu sich nehmen, so haben sie dabei dasselbe Erlebnis. Hätten sie aber auch dasselbe Erleben, so wäre ihre Subjektivität identisch, und sie könnten sich nicht subjektiv voneinander unterscheiden. Mit dem Ausdruck »Erleben« verbinde ich kein bestimmtes Gefühl wie Müdigkeit oder Freude. Vielmehr werden auch Gefühle erlebt und sind damit einem Erleben zugeordnet. Die erlebte Müdigkeit ist das Erlebnis – oder auch der Erlebnisgehalt. Davon ist das Erleben der Müdigkeit zu unterscheiden, das nämlich nicht selbst müde ist: Erlebe ich mich als müde, so ist dieses Erleben klar und deutlich. Ansonsten würde ich meine Müdigkeit kaum merken. Vielleicht könnte ich sie dann auch vergessen und munter weiterarbeiten. Ein müdes Erleben von Müdigkeit könnte also die Müdigkeit aufheben. Um diese Absurdität zu vermeiden, ist zwischen Müdigkeit und ihrem Erleben zu unterscheiden. Das Erleben ist deswegen selbst nicht ein Gefühl zu nennen, schließt aber alle Gefühle eines Subjektes ein. Nun können aber auch andere Menschen manchmal erkennen, dass ich müde bin. Diese Erkenntnis bezieht sich jedoch wieder nur auf den Erlebnisgehalt der Beobachter, in dem sie sich auch täuschen können. Dieselbe Fehleranfälligkeit liegt auch meiner Wahrnehmung von Müdigkeit zugrunde: Einerseits können andere als auch ich uns darin täuschen, dass ich müde bin, denn beide können die Zeichen falsch deuten, die auf die Müdigkeit hinweisen: Vielleicht trocknet das Raumklima meine Augen so sehr aus, dass ich fälschlicherweise annehme, ich sei müde. Andererseits können sowohl andere als auch ich nicht daran zweifeln, dass wir den Erlebnisgehalt meiner Müdigkeit haben: Ich kann mich dann nicht täuschen, dass ich mich müde fühle, ebenso wie andere sich nicht darin täuschen können, dass sie mich so wahrnehmen, wenn sie mich so wahrnehmen. Es besteht also hier keine privilegierte Erkenntnis meiner Müdigkeit gegenüber dem Eindruck anderer Subjekte, dass ich müde bin. Einen solchen privilegierten Zugang gegenüber anderen habe ich hingegen im Hinblick auf mein Erleben: Wenn ich meine Müdigkeit erlebe, so ist dieses Erleben klar und unbezweifelbar. Das Erleben ist daher kategorial verschieden von bestimmten Erlebnissen bzw. Erlebnisgehalten und auch kategorial verschieden von Wahrnehmungen bzw. Gefühlen. Zum Erleben gehört wesentlich sein Widerfahrenscharakter: Denn kein Subjekt kann sein Erleben steuern; es kann allenfalls Entscheidungen treffen, was es wahrnimmt und wie es seine 179 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
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Gefühle kontrolliert. Das Erleben aber überkommt das Subjekt; es konstituiert das Subjekt, indem es ihm widerfährt. Nach Bernhard Waldenfels tritt dieses Pathos/Widerfahrnis immer gemeinsam mit einer Response/Antwort des Subjekts auf: »Das fremde Pathos, das auf uns zukommt, und die eigene Antwort, die von uns ausgeht, stoßen aufeinander, ohne sich zu einem einzigen Erfahrungsstrom zu vereinigen.« 12 Indem Pathos und Antwort sich nicht in einem Erfahrungsstrom vereinigen, werden sie bereits in zwei Kategorien unterschieden, die kein höheres Allgemeines haben, nämlich zum einen im Widerfahrenscharakter und zum anderen in einer gehaltvollen Reaktion, die sich in gegenständlicher Wahrnehmung, in bestimmten Gefühlsgehalten oder intentionalen Handlungen ausdrückt. Bereits die Antwort auf ein Widerfahrnis hat nach Waldenfels die beiden Momente: »Antwortereignis und Antwortgehalt fallen nicht zusammen.« 13 Nach meinem Eindruck zögert Waldenfels jedoch, diese beiden Momente kategorial zu unterscheiden: »Ich nenne diese Trennlinie, die das Antwortgeschehen durchschneidet, responsive Differenz. Sie ist weder ontologisch noch hermeneutisch angelegt, sondern entspringt dem Erfahrungsvollzug.« 14 Mit dieser Zurückhaltung könnte Waldenfels dann aber auch nicht von »dem« einen »Erfahrungsvollzug« sprechen, weil es nach dem ersten Zitat nicht den einen Erfahrungsstrom dieses Vollzuges gibt. Das gilt auch dann, wenn mit »Erfahrungsvollzug« im letzten Zitat nur die Antwort gemeint ist. Denn die Antwort fällt ja selbst auseinander in Pathos und Gehalt, die sich gerade nicht in einem Erfahrungsstrom vereinigen lassen, da die Antwort selbst das Pathos (»Antwortereignis«) enthält. Daher stehen »Pathos« und »Antwort« nicht auf der gleichen kategorialen Ebene – und damit ebenso wenig das Erleben (sein Widerfahrenscharakter) und Erlebnisse (Erlebnisgehalte). Dennoch beziehen sich beide aufeinander und treten nicht unabhängig voneinander auf. Das Erleben ist immer ein Erleben von etwas; und Erlebnisse können nur »gehabt« werden, wenn sie von einem Erleben begleitet werden. Subjektivität ist daher als ein Phänomen zu verstehen, das zugleich aus zwei irreduziblen Kategorien betrachtet werden muss, um es adäquat zu erfassen. Da sie sich eben Bernhard Waldenfels, Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, Suhrkamp, Berlin 2015, 218. (Hervorhebung im Original) 13 Waldenfels (2015) 270. 14 Waldenfels (2015) 270. 12
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nicht in einem einzigen »Erfahrungsstrom« vereinigen lässt, ist Subjektivität ein paradoxes Phänomen, das sich in solchen Sätzen widerspiegelt: »Ich denke mich«, oder »Ich nehme mich wahr.« Die cartesianische Evidenz, dass das Ich aus dem »Ich denke« mit dem »mich« identisch ist, kann also zwar allein schon aus kategorialen Gründen zurückgewiesen werden: Während das »Ich denke« ein Erlebnis beschreibt und ebenso wie das »mich« einen Erlebnisgehalt (das »denke« eine Handlung und das »mich« einen Gegenstand), ist das »Ich« das Erleben mit seinem Widerfahrenscharakter. Da sich beide Kategorien nicht ineinander überführen lassen, kann von einer Identität zwischen dem Ich und dem Mich nicht gesprochen werden, so dass eine epistemische Kluft zwischen beiden bestehen bleibt. Die Paradoxie der Subjektivität überbrückt jedoch diese Kluft, da sich Erleben und Erlebnis wechselseitig bedingen. Ich muss zwar nicht mich denken, wenn ich denke. Aber der Widerfahrenscharakter des Erlebens und der Erlebnisgehalt sind aufeinander bezogen, so dass, wenn ich mich denke, das Erleben sich als Erlebnisgehalt erleben muss, als wäre hier keine Kluft. Diese Paradoxie, dass zwei Kategorien im Subjektivitätsphänomen aufeinander treffen, drücke ich so aus, dass das Mich das erlebte Erleben ist. Es wird zwar als Erkenntnisgegenstand gedacht, aber zugleich in seinem Widerfahrenscharakter erlebt. Nicht nur Ich (das Erleben) widerfahre mir (einer Person, einem Menschen), sondern auch das erlebte Erleben hat für die Person einen Widerfahrenscharakter. Ich und Mich sind zwar nicht gegenständlich identisch, denn das Ich ist kein Gegenstand. Ich und Mich sind aber in ihrem Widerfahrenscharakter identisch. »Ich denke mich« ist also das Erleben des Erlebens und damit das Erleben des erlebten Erlebens. Seine Reflexivität besteht darin, dass das Erleben seinen Widerfahrenscharakter erlebt: Es ist das Erleben des Widerfahrens. Die Identität von Ich und Mich besteht darin, dass das Erleben des Widerfahrens (hier: Mich, denn das Widerfahren ist Erlebnisgehalt) mit dem Widerfahren des Erlebens (hier: Ich, denn das Erleben ist Widerfahren) als identisch erlebt wird. Aber ist diese Identität auch evident? Anderes widerfährt uns ebenso, und auch die Begegnung mit dem Anderen, dem Nicht-Ich, hat einen Widerfahrenscharakter. Zudem wird auch alles, was uns widerfährt, von uns erlebt. Tatsächlich ist der Widerfahrenscharakter in allen solchen Ereignissen oder Begegnungen derselbe; denn da er kein Gegenstand ist, wäre es ein Kategoriefehler, mehrere Wider181 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
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fahrenscharaktere numerisch zu unterscheiden. Allenfalls kann man Situationen unterscheiden, in denen uns etwas widerfährt – und beschreibt sie dann in ihrer Gegenständlichkeit. Dennoch kann das Selbsterleben von anderen Widerfahrnissen abgegrenzt werden. Zum einen muss nämlich nicht jedes Ereignis in seinem Widerfahrenscharakter wahrgenommen werden: Menschen können sich auf die gegenständliche Seite eines Ereignisses konzentrieren. Ihnen ist dann zwar dieses Ereignis widerfahren, und sie haben es erlebt, aber sie haben ihm nicht eigens ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Das ist anders in dem Fall: »Ich denke mich.« Es impliziert das Erleben des Widerfahrens. Zum anderen müssen Subjekte auch nicht in allen Erlebnissen ihr Erleben bewusst erleben. Wenn sie es tun, erleben sie es als erlebtes Erleben. Hier erleben sie die Identität des Erlebens des Widerfahrens mit dem Widerfahren des Erlebens. Diese Identität wird etwa beim Widerfahren eines Anderen nicht erlebt: Es widerfährt ihnen dann ein anderes erlebtes Erleben; sie erleben das Widerfahren eines anderen Gehaltes. Doch wird die Beschreibung hier nicht zirkulär? Wird nicht die Differenz zwischen Ich und Anderem vorausgesetzt, damit sich das Erleben des Widerfahrens einmal mit dem Widerfahren des Erlebens als identisch erlebt und ein anderes Mal nicht? Was macht es denn, dass diese Identität erlebt wird?
3. Das blinde Vertrauen in die Tatsächlichkeit von Tatsachen Tatsächlich hat das Subjekt keine andere Kontrolle über das Identitätserlebnis als ein blindes Vertrauen: Denn zum einen fehlen objektive Kriterien, um das Ich mit dem Mich zu identifizieren; zum anderen wären subjektive Kriterien in Ludwig Wittgensteins Sinn eine »private Sprache«, die keine gesicherte Identifikation zulässt: Bei der nächsten Identifikation könnte das Subjekt völlig andere Kriterien zur Identifikation heranziehen, ohne dass es diesen Wechsel erkennen würde, weil seine Kriterien nur private sind. 15 Daher kann die Identifikation des Erlebens mit dem erlebten Erleben nur blind, also ohne Kriterien vollzogen werden. Dass das Subjekt diese IdentifikaLudwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen [EA 1953], Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, § 259.
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tion auch wirklich vollzieht, verweist auf ein blindes Vertrauen: Die Identifikation vollzieht sich nicht mechanisch, denn sonst gäbe es doch objektive Kriterien mechanischer Art, nach denen sie vorgenommen wird, und es gäbe die denkbaren Alternativen des Einwandes nicht, das eigene erlebte Erleben mit einem anderen erlebten Erleben verwechseln zu können. Das Ich vertraut vielmehr primär in etwas anderes, um sich selbst zu finden: nämlich in die Verlässlichkeit der Wirklichkeit. Die Präreflexivität ist also keine Präreflexivität des Ich, sondern das blinde Vertrauen in die Verlässlichkeit der Wirklichkeit, in die das Subjekt auch bei der Identifikation des Erlebens mit dem erlebten Erleben vertraut. Die Verlässlichkeit der Wirklichkeit ist deshalb präreflexiv, weil sie die Bedingung jeglichen Verhaltens, Wahrnehmens und Denkens darstellt. Ohne sie könnten wir uns nicht einmal auf die »immanente« Evidenz 16 verlassen, dass wir wahrnehmen, was wir wahrnehmen. In meinen bisherigen Studien 17 habe ich die Verlässlichkeit der Wirklichkeit die Tatsächlichkeit von Tatsachen genannt. Menschen vertrauen in die Tatsächlichkeit von Tatsachen, die nicht von den Tatsachen selbst verbürgt wird. Auch wenn Tatsachen gelten, stellen sie nicht selbst ihre Geltung sicher. Denn Tatsachen sind veränderlich; sie besitzen nur eine relative Beharrlichkeit und erzeugen nicht selbst ein Gesetz ihrer Verlässlichkeit. Verlässlichkeit kann aber auch nicht durch ein Gesetz sichergestellt werden, da jedes Gesetz selbst bereits der Verlässlichkeit bedarf, um zu gelten. Mit dem Begriff der Tatsächlichkeit von Tatsachen soll ausgedrückt sein, dass sich alle Tatsachen einer Verlässlichkeit verdanken, die nicht selbst eine Tatsache ist. Verlässlichkeit kann auch nicht verursacht sein, weil zum einen Ursachen auch Tatsachen sind und zum anderen bereits der gesetzliche Zusammenhang von Ursache und Wirkung der Tatsächlichkeit bedarf. Ohne Tatsächlichkeit wiederum wäre eine Tatsache nicht einmal relativ verlässlich; es könnte dann also sein, dass sie auch dann keine Tatsache ist, wenn sie eine ist. Tatsächlichkeit bedeutet, dass Tatsachen sind, was sie sind – und dass auch Veränderungen von Tatsachen sind, was sie sind. Ebenso wenig wie die Tatsächlichkeit eine Tatsache ist, kann sie durch menschliches Handeln erzeugt werden oder durch Erkenntnis geEdmund Husserl, Ding und Raum. Vorlesungen 1907, Meiner, Hamburg 1991, 18; ders., Ideen zu einer reinen Phänomenologie, Meiner, Hamburg 1992, 68. 17 Ohly (2015) 32–63. 16
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bildet werden. Ihr gegenüber ist alles »schlechthinnig abhängig« 18. Friedrich Schleiermacher, der diesen Begriff des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls geprägt hat, ist dabei von der Präreflexivität des Selbstbewusstseins 19 ausgegangen, da es kein gegenständliches Bewusstsein, sondern unmittelbar ist. 20 Er überträgt aber die schlechthinnige Abhängigkeit auf alle kosmischen Gegebenheiten 21 und damit auf das gesamte Universum: Von endlicher Ursächlichkeit können wir nämlich nicht schlechthinnig abhängig sein. 22 Das gilt aber dann von allen weltlichen Entitäten, dass sie von keiner anderen weltlichen Entität schlechthinnig abhängig sind: Daher muss alles von einer außerweltlichen Instanz schlechthinnig abhängig sein. Wenn »unsere ganze Selbsttätigkeit ebenso von anderwärts ist« 23, so sind kein weltlicher Gegenstand und keine weltliche Tatsache davon ausgenommen. 24 Was daher als Präreflexivität des Ich verhandelt wird, ist nur ein Sonderfall der Präreflexivität der Tatsächlichkeit der Wirklichkeit. Dass dabei die Tatsächlichkeit kein innerweltlicher Gegenstand oder Sachverhalt ist, wird subjekttheoretisch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass das präreflexive Ich leer ist. Aber nicht nur das präreflexive Ich, sondern alles – und zwar sowohl alles Seiende als auch das Nicht-Seiende, alle Möglichkeiten und Unmöglichkeiten – ist schlechthinnig abhängig von der Tatsächlichkeit, weil es sonst nicht verlässlich wäre. Lässt sich damit aber wirklich schon verstehen, wie sich das Ich treffsicher im Mich identifiziert? Ein gewichtiger Einwand ist hier anzumelden: Denn das Erleben ist ja dann nicht mehr, was es ist, wenn es mit dem erlebten Erleben identifiziert wird. Denn da beide kategorial verschieden sind – das Ich ist ein Widerfahren, das Mich ein intentionaler Gegenstand –, beruht nur ihre Verschiedenheit auf
Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt [EA 21830/31], De Gruyter, Berlin 1960, Bd. 1, 27. 19 Frank (2002) 195. 20 Frank (2002) 16. 21 Frank (2002). 22 Frank (2002) 290. 23 Frank (2002) 28. 24 Den logischen Nachweis dafür erbringe ich in Lukas Ohly, Eine leibphänomenologische Herleitung der Allwissenheit Gottes, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 51 (2009) 64–75, hier: 67 f. 18
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der Tatsächlichkeit. Ihre Identifizierung würde dagegen der Tatsächlichkeit widersprechen. Um dieses Problem zu lösen, möchte ich nochmals auf den Prozess der Selbstidentifikation aufmerksam machen: Das Ich identifiziert sich nicht einfach mit dem Mich, sondern geht im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl dabei den Umweg über die Tatsächlichkeit von Tatsachen. Dem Identitätserlebnis geht also das Verschiedenheitserlebnis des Ich von einer Instanz voraus, der es nur blind vertrauen kann. Für Erlebnisse wiederum gilt, dass ihr Erleben widerfährt. Kombiniert man beide Beschreibungen, so folgt: Das Erleben des Erlebens ist das Widerfahren von Tatsächlichkeit. Das Erleben ist, was es ist, indem es widerfährt. Hier besteht im Erleben keine Kluft zum erlebten Erleben trotz der kategorialen Differenz. Das Erleben widerfährt zum Erlebnisgehalt durch die Tatsächlichkeit, nämlich dadurch, dass das Erleben nicht einfach nur widerfährt, sondern auch ist, was es ist. Meine These ist nun, dass die Tatsächlichkeit das Erleben im erlebten Erleben vergegenständlicht, also das Widerfahren in die Kategorie der Gegenständlichkeit einträgt. Nur so ist es möglich, dass Menschen den Widerfahrenscharakter von Ereignissen thematisieren können, indem sie ihn nämlich beschreiben als etwas, das ist, was es ist. Und nur so ist es möglich, dass im Spezialfall der Subjektivität das Ich sich im Mich identifiziert: Das Erleben identifiziert sich im erlebten Erleben, weil das Erleben eine Tatsächlichkeit hat: Es ist, was es ist. Dieses »ist« ist nicht ontologisch gemeint, sondern allenfalls präontologisch, intentional, nämlich als phänomenale Beständigkeit des Ich. Die Tatsächlichkeit bürgt somit für die phänomenale Beständigkeit des Widerfahrens von Subjektivität, also dafür, dass das Erleben ist, was es ist. Subjektivität besteht also nicht nur im wechselseitigen Verweis zweier Kategorien – des Widerfahrens und der Gegenständlichkeit. Denn dann wäre eine Verwechslung von Ich und Mich noch möglich. Der wechselseitige Verweis beruht jedoch seinerseits auf dem wechselseitigen Verweis von Widerfahren und Tatsächlichkeit, die sich beide evident aufeinander beziehen, obwohl sie selbst zwei unterschiedliche Kategorien sind. Hier ist eine Verwechslung nicht mehr möglich, dass das Erleben ein anderes wäre, als es ist: Das Widerfahren von Subjektivität hat Tatsächlichkeit, und die Tatsächlichkeit widerfährt im Erleben. In der Evidenz dieses wechselseitigen Bezugs besteht die Evidenz, dass das erlebte Erleben dasselbe ist wie das Erleben. 185 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
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Es wird damit nicht gesagt, dass das Erleben mit dem erlebten Erleben identisch ist. Denn beide sind gerade kategorial verschieden. Es wird vielmehr gesagt, dass das Erleben immer auch ein erlebtes Erleben hat, das sich eineindeutig zum Erleben verhält: Ich erlebe eben mich, und niemand sonst ist mein Erleben. Natürlich kann ich auch dich erleben, aber dann erlebe ich deine Tatsächlichkeit, die ich wiederum nicht mit mir verwechseln kann – also nicht mit meinem Erleben. Der leeren Tatsächlichkeit entspricht es, dass das Mich für das Ich zwar evident ist, ohne dass das Ich aber dafür objektive Identifikatoren heranziehen könnte. Zwar ist das Ich, was es ist. Und doch kann das Ich nicht mit Evidenz sagen, was es ist. Das Ich ist zwar tatsächlich, aber keine Tatsache. Erst wenn es sich mit bestimmten biografischen Markern beschreibt, wird es »Fleisch« und inkarniert sich in der Welt. Es wird damit zu einem weltlichen Konstrukt, das sowohl durch lebensgeschichtlich kontingente Widerfahrnisse als auch durch soziale Interaktion mitbestimmt wird. Welcher Gegenstand das Ich wird, ist fallibel und wird lebensgeschichtlich immer umstritten bleiben, allein weil sich das Ich einer vollständigen Vergegenständlichung sperrt. Die Bedingung aber, Fleisch zu werden, liegt in der Tatsächlichkeit begründet. Alle weltlichen Gegenstände und alle Inkarnationen sind daher von der Tatsächlichkeit schlechthinnig abhängig. 25
4. Wie kann ich mich über zeitliche Wechsel hinweg wiedererkennen? Der ausgeführte Gedankengang hat sich nun doch von alltäglichen Lebenserfahrungen weitgehend verselbstständigt. Lebensrelevant wird er aber in der Frage, wie sich ein Subjekt auch in zeitlicher Distanz wiedererkennen kann. Diese Frage ist für die Neuroethik essenziell, weil sich an ihr die Differenz von sich verändern und ein anderer werden bewähren muss. Wenn also ein Patient nach einer Kopfverletzung plötzlich andere Werte annimmt, wie kann man sagen, dass er nur sich verändert hat, aber nicht ein anderer Mensch an seine Stelle getreten ist? Objektive Gesichtspunkte können hier nicht entscheiden, denn sonst wären Menschen nicht autonom in der Lage, Ich verdanke meiner Mitarbeiterin Catharina Wellhöfer diese Beobachtung, das blinde Vertrauen der Selbstidentifikation aus der Tatsächlichkeit herzuleiten.
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ihre Werte zu verändern. Fremdzurechnungen seiner sozialen Umwelt können aber ebenso wenig entscheiden. Denn zum einen übergehen sie die subjektive Selbstperspektive, in die sie nicht eindringen können, weil der wechselseitige Verweis von Widerfahren des Erlebens und seiner Tatsächlichkeit stets nur am Subjekt evident wird, nicht aber am Fremdpsychischen. Zum anderen wird ansonsten auch die Autonomie übersprungen, wenn andere in Zweifel ziehen, dass ein Erleben ein anderes als vormals ist. Ich werde in der Sektion 5 zeigen, dass genau darin der Angriff auf die Autonomie besteht, dass sich bei bestimmten Manipulationen eines Subjekts die intersubjektive Evidenz einstellt, es sei nun ein anderes als vorher. Es können daher nur subjektive Gesichtspunkte entscheiden, ob ich mich über zeitliche Wechsel hindurch wiedererkenne. Gleiche Gefühle können dafür aber auch nicht hinreichen, denn der Vergleich zwischen zwei Gefühlen würde sie verobjektivieren; es müsste ja zwischen ihnen eine objektive Ähnlichkeit bestehen. Ansonsten könnte sich das Subjekt täuschen. Wie ich jedoch oben bemerkt habe, sind objektive Gesichtspunkte nicht hinreichend und nicht einmal notwendig, damit ein Subjekt sich wiedererkennt. Das Erleben ist etwas anderes als ein Gefühl: Ich kann mich an eine Begebenheit erinnern, die damals für mich traurig war, und heute damit das Gefühl des Stolzes verbinden, weil ich sie bewältigt habe. Das Erlebnis von damals ist zwar das gleiche wie das aktuell erinnerte Erlebnis, aber die begleitenden Gefühle sind verschieden. Daraus folgt nicht, dass ich ein anderes Subjekt geworden bin. Zudem kann ich mich in der Erinnerung täuschen, welches Gefühl ich wirklich in der damaligen Begebenheit hatte. Dennoch täusche ich mich nicht, wer ich damals gewesen bin. 26 Die Wiedererkennung muss vielmehr im Erleben selbst liegen: Das aktuelle Erleben muss dasselbe sein wie das erlebte Erleben. Das Erleben nimmt eine solche Identifikation aber bar jeglicher Kriterien vor. Es folgt in der Selbstidentifikation einem blinden Vertrauen. Dieses Vertrauen richtet sich auf die Selbstidentifikation, nämlich darauf, dass sie ist, was sie ist. Das Erleben erlebt zugleich seine Tatsächlich-
Täuschungen richten sich nur auf die Erlebnisgehalte: Wenn ich mich etwa auf einem Klassenfoto nicht wiedererkenne, weil ich den lachenden Schüler nicht mit mir identifiziere, nur weil ich mich darin täusche, dass ich damals nicht fröhlich gewesen bin, misslingt die Identifikation. Ich zweifle dann aber nicht daran, dass ich damals ein Erleben hatte.
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keit: Damit wird das Widerfahren des Erlebens über die Tatsächlichkeit in die Intentionalität gezogen, indem das, was rein widerfährt und damit von anderer Kategorie ist als etwas Gegenständliches, zugleich ist, was es ist: Das Ich erlebt sich, es erlebt sein Mich. Dafür gibt es keine anderen Gründe als seine Tatsächlichkeit: Die Tatsächlichkeit des Erlebens ist das erlebte Erleben, wenn sie widerfährt. Die widerfahrende Tatsächlichkeit des Ich ist also seine Reflexivität, die ohne Kriterien blind vollzogen und damit ohne Abstand zwischen Subjekt und Objekt erlebt wird. Diese Nicht-Distanz zwischen Subjekt und Objekt ist Evidenz. 27 Das Ich kann also die Erinnerung an sein erlebtes Erleben von der Erinnerung an andere Subjekte blind unterscheiden durch die Tatsächlichkeit des Erlebens: Zwar kann ich mich darin täuschen, was ich gestern auf dem Ostheimer Bahnhof erlebt habe; und ich kann mich darin täuschen, dass ich gestern überhaupt etwas auf dem Ostheimer Bahnhof erlebt habe, während eigentlich meine Frau dieses Erlebnis hatte und mir nur davon erzählt hatte. Ich kann mich aber nicht darin täuschen, welches Erleben ich gehabt habe, wenn ich gestern etwas auf dem Ostheimer Bahnhof erlebt habe: Ich habe nämlich dann dasselbe Erleben gehabt wie jetzt. Eine Tautologie markiert somit die Tatsächlichkeit des Subjekts: Es ist, was es ist. Die Tatsächlichkeit besteht unabhängig davon, dass ich mich gestern erlebt habe. Denn vielleicht lag ich gestern im Koma und täusche mich jetzt darin, dass ich gestern etwas erlebt habe. Oder der cartesianische Dämon 28 hat mich erst vor fünf Minuten erschaffen und täuscht mich darin, gestern bereits existiert zu haben. Dennoch ist die Tatsächlichkeit des Subjekts auch in diesen Fällen tautologisch. 29 Dem Erleben muss in der Erinnerung kein reales erlebtes Erleben entsprechen. Ich täusche mich dann zwar in der vergangenen Situation, aber nicht in mir. Denn mich gibt es nur in Nicht-Distanz zum Erleben. Weder Raum noch Zeit kann das Ich auf Distanz zum Mich bringen. Deshalb besteht kein Unterschied zwischen dem erlebten aktuellen Erleben und dem erlebten vergangenen Erleben: Das
Ohly (2015) 77, ferner 40 f. René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Reclam, Stuttgart 1986, Med. I, 16. 29 Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass die Tatsächlichkeit auch nicht vom logischen Gesetz der Tautologie abhängt, sondern umgekehrt die Tatsächlichkeit dafür bürgt, dass logische Gesetze sind, was sie sind. Tautologien markieren daher nur die Tatsächlichkeit und verweisen auf sie. 27 28
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vergangene Erleben ist nämlich dasselbe Erleben wie mein aktuelles Erleben – ebenso wie mein erlebtes aktuelle Erleben. Übrigens muss ich mich dafür nicht zu jedem Zeitpunkt an jeden Zeitpunkt erinnern, den ich jemals erlebt habe. Die Ich-Erinnerung hat vielmehr hypothetische Voraussetzungen: Wenn ich mich an eine bestimmte Situation erinnere, dann erkenne ich blind mein erlebtes Erleben wieder. 30 Meine Tatsächlichkeit vergangener Situationen muss mir dabei widerfahren, sonst würde mein Zugriff auf mein erlebtes Erleben nicht blind und zugleich evident erfolgen. Wenn ich dagegen ein anderes Subjekt identifiziere, so unterstelle ich ihm zwar ein Erleben, ohne aber dieses Erleben zu sein – denn ansonsten könnte ich nichts Fremdpsychisches wahrnehmen. Diese Unterstellung erfolgt zwar ebenso unmittelbar 31 wie mein blinder Zugriff auf mich, weil Alterität überhaupt erst die Bedingung ihrer Wahrnehmung ist. 32 Dennoch weist sich gerade so das Fremdpsychische aus, dass mein Erleben nicht aus mir zu ihm heraustreten könnte, wenn es mir nicht als Anderer widerfährt. (Darin steckt die Präreflexivität von Alterität, dass sie ein Phänomen aus zwei Kategorien ist: Sie ist ebenso evident Widerfahren wie sie evident Gehalt ist.) Die Tatsächlichkeit des Erlebens macht jedoch nicht den Anderen evident, sondern nur das Erleben.
5. Manipulationen, ein Anderer zu werden Ob ich ein Anderer werde, kann ich nicht selbst erkennen, weil der Selbstbezug nur subjektiv verbunden wird. Bei einer Manipulation des Subjekts, bei dem ein Ich gegen ein anderes eingetauscht wird, ändert sich daran nichts: Denn da die Selbstidentifikation bar jeglicher Kriterien vollzogen wird, kann das Ich nicht erkennen, dass es ein anderes geworden ist. Kann es dann überhaupt solche Manipula-
Ohly (2015) 92. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts [1943], Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 92003, 466. 32 Sartre (2003) 490; Alex Honneth, Die Gleichursprünglichkeit von Anerkennung und Verdinglichung. Zu Sartres Theorie der Intersubjektivität, in: Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, hg. von Bernhard N. Schumacher, De Gruyter, Berlin 2003, 135–157, hier: 151. 30 31
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tionen geben, die nicht nur ein Subjekt verändern, sondern ein Ich zu einem Anderen machen? 33 Entscheidend für die Charakterisierung einer Maßnahme als Manipulation des Subjekts ist nicht die phänomenologische, sondern die ethische Ebene: Sie besteht darin, dass bei Manipulationen in der intersubjektiven Interaktion die Tatsächlichkeit des Ich übergangen wird. Gerade wenn eine soziale Gemeinschaft die neurologische Manipulation eines Subjekts damit rechtfertigt, dass das Ich unverändert bleibt, weil es nach wie vor seine Tatsächlichkeit hat, wird die Tatsächlichkeit als ethische Orientierung der Achtung eines Subjekts nivelliert: Denn wenn alle möglichen Manipulationen die Autonomie eines Menschen nicht antasten, weil auch nach der Manipulation seine Subjektivität eine Tatsächlichkeit besitzt, verliert die Tatsächlichkeit ihre orientierende Kraft – und mit ihr die subjektive Autonomie. Die intersubjektive Achtung der Autonomie eines Menschen entscheidet sich daher an der Haltung, der Tatsächlichkeit der Subjektivität eine Orientierungsfunktion zuzugestehen.
5.1.
Ein Anderer qua intersubjektiver Zurechnung
Die Autonomie und Tatsächlichkeit des Subjekts verliert bereits ihre Orientierungsfunktion, wenn durch eine plötzliche neurologische Veränderung (eine Hirnverletzung oder einen Schlaganfall) meine soziale Umwelt mich besser kennt als ich mich. Dann nämlich wird die Tatsächlichkeit des Selbsterlebens durch objektive Erkenntnis der sozialen Umwelt übersprungen. Zwar ist auch jetzt noch das Ich, was es ist. Es ist ein Erleben und hat vermittelt durch die Tatsächlichkeit ein erlebtes Erleben. Dennoch tritt die soziale Umwelt in die Beobachterperspektive des cartesianischen Dämons ein und kennt das Subjekt grundsätzlich besser, als es sich selbst kennt: Sie weiß dann, dass das Ich nicht vor fünf Minuten existiert hat, obwohl das Subjekt sich nicht anders erleben kann, wenn es sich irrtümlich an ein Erlebnis vor fünf Minuten erinnert: Die Tatsächlichkeit der Subjektivität gibt ihm zwar die Evidenz des erlebten Erlebens, der aber real nicht das-
Haustein (2013) 161; Jens Clausen/Oliver Müller/Sebastian Schwenzfeuer, Neuroethik. Aktuelle Fragen im Spannungsfeld zwischen Neurowissenschaften und Ethik, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 52 (2008) 286–297, hier: 290.
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selbe Subjekt entspricht. Es ist nicht einfach so, dass Evidenz und Realität auseinander treten – denn das konnten sie bisher immer schon, wenn das Ich sich in einem Erlebnisgehalt getäuscht hat. Vielmehr kann nun die soziale Umwelt durchschauen, dass der Evidenz eines erlebten vergangenen Erlebens nichts Reales entspricht. Das Erleben ist dann zwar auch weiterhin kein anderes als das erlebte Erleben; aber da ihm kein oder ein anderes reales Subjekt aus der entsprechenden vergangenen Situation entspricht, bürgt die Tatsächlichkeit nicht mehr für die Selbstidentität: Die Selbstidentifikation ist real leer. Die soziale Umwelt erkennt die Zurechnungsunfähigkeit des Subjekts und wird seine Identifikationsleistungen auch nicht mehr in ethischen Anwendungsfragen anerkennen. Man wird das Subjekt vielmehr »vor sich selbst« schützen. Damit verliert ein Subjekt seine Autonomie, weil das Kriterium dafür verloren gegangen ist, nämlich der privilegierte Zugang zu sich selbst im autonomen Widerfahren des eigenen Erlebens. Dieser privilegierte Zugang ist nun nicht mehr hinreichend zur Bestimmung menschlicher Autonomie. Nehmen wir also an, ein Mensch hätte einen Unfall gehabt und eine Hirnverletzung erlitten. Nun hält er sich für einen begnadeten Paraglider, obwohl er vor seinem Unfall Höhenangst hatte und sich daher nie für einen Flug präpariert hatte. In seinen Erinnerungen hat er jedoch schon etliche Flüge hinter sich gebracht. Nun möchte er baldmöglichst einen Flug absolvieren und lehnt einen begleiteten Flug ab, weil er sich genau daran erinnern kann, sich selbst steuern zu können. Der Autonomie eines Menschen müsste es entsprechen, diesen Willen zu respektieren. Da es jedoch die soziale Umwelt besser weiß, dass der Patient nicht der ist, für den er sich hält, wird sie den Flug verhindern: Ärzte werden etwa davon dringend abraten und ggf. mit Abbruch der Arzt-Patienten-Beziehung drohen. Evtl. wird sogar ein Vormundschaftsgericht angerufen werden, um den Patienten vor sich selbst zu schützen. Aber ist der Patient wirklich nicht der, für den er sich hält? Ein Einwand könnte folgendermaßen vorgetragen werden: Sein Ich ist ein Erleben, das sich zudem treffsicher auf das erlebte Erleben bezieht. Die Treffsicherheit der Selbstidentifikation ist durch die Tatsächlichkeit vermittelt: Sie ist evident, obwohl sie blind vollzogen wird. Worin sich der Patient täuscht, sind die objektiven Gehalte seiner Biografie. Solche Täuschungen sind aber gewöhnlich und treten immer wieder auch bei Menschen ohne Hirnverletzungen auf: Auch 191 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
Lukas Ohly
ein gesunder Mensch kann sich darin täuschen, was er gestern gefrühstückt hat, ohne dass man deshalb schon befürchten muss, er sei nicht mehr er selbst. Auf diesen Einwand ist aber zu antworten, dass die soziale Umwelt durchaus objektive Gründe heranzieht, Menschen mit neuronalen Erkrankungen von gesunden Menschen zu unterscheiden. So sperren sich etwa Menschen nach einer Hirnverletzung oft dagegen, eine adäquate Sicht auf ihre Vergangenheit zurückzugewinnen. 34 Es ist dann also ihre autonome Entscheidung, sich über die eigene Vergangenheit zu täuschen und damit die Täuschung zur Grundlage ihrer weiteren Entscheidungen zu nehmen. Entscheidend ist nun, dass die objektiven Differenzen, etwa der Grad der Abweichung zur Realität, den Anlass für die soziale Umwelt bilden, die Autonomie des Patienten unberücksichtigt zu lassen. Objektive Gründe sprechen nun dafür, die Tatsächlichkeit der Subjektivität in der Behandlung des Patienten zu übergehen: Er hat jetzt nicht mehr deshalb Autonomie, weil sein Erleben im erlebten Erleben seine Tatsächlichkeit findet. Vielmehr wird ihm keine Autonomie zugerechnet, weil objektive Gründe dafür sprechen, dass er jemand anderes ist, als er meint zu sein. Es kann tatsächlich nicht ausgeschlossen werden, dass in diesem Fall wirklich das Subjekt ein anderes geworden ist. Das Erleben könnte ja ein anderes sein als vor dem Unfall. Seine Tatsächlichkeit würde sich auf etwas anderes beziehen als die Tatsächlichkeit der Subjektivität vor der Hirnverletzung. – Aber das weiß niemand, da es weder objektive noch subjektive Gründe gibt, um die Subjektivität eines Menschen wiederzuerkennen. In gewöhnlichen Fällen intersubjektiver Interaktion lässt sich die Achtung der Autonomie daher mit einer epistemischen Epoché rechtfertigen, dass man allein der immanenten Evidenz der subjektiven Selbstidentifikation vertraut. In Sonderfällen neurologischer Veränderungen dagegen wird diese Epoché übersprungen – und mit ihr die Tatsächlichkeit. Damit wird die subjektive Autonomie ethisch unwirksam gemacht. Im Streit, wer denn nun jemand ist, entscheidet die Außenperspektive anhand objektiver Kriterien.
Hans J. Markowitsch, Warum wir keinen freien Willen haben. Der sogenannte freie Wille aus Sicht der Hirnforschung, in: Psychologische Rundschau 55 (2004) 163–168, hier: 165.
34
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Blindes Vertrauen in die Ich-Identität
5.2.
Ein Anderer durch Fremd-Manipulation
Dieses Problem verschärft sich noch, wenn die soziale Umwelt nicht nur Beobachter einer Fehl-Identifikation ist, sondern die Fehl-Identifikation durch neurologische Manipulationen mutwillig herbeiführt. Zwar sind solche Manipulationen nicht durch die Autonomie des Subjekts gedeckt. Wenn man jedoch einen Menschen so manipuliert, dass er der Manipulation nach ihrer Durchführung zustimmt, so wird die Autonomie rückwirkend ebenso geachtet wie sie übersprungen wird: Denn ein Weg zurück würde nun der Autonomie des Subjekts widersprechen, das aber eben damit zugleich seiner Fremdbestimmung zustimmt. Nehmen wir also an, ein Patient willigt aufgrund einer neurologischen Erkrankung in eine Hirn-Operation ein und legt dabei die Grenzen des Eingriffs fest: So verlangt er etwa, sein Gedächtnis zu behalten, so dass entsprechende Hirnregionen nicht angetastet werden dürfen. Während der Narkose aber entscheiden sich die Ärzte, die Maßnahme doch auszuweiten, so dass der Patient nach dem Erwachen kein Gedächtnis mehr hat. Wie in analogen Fällen könnte nun der Patient plötzlich darauf beharren, dass keine weiteren Maßnahmen ergriffen werden, um sein Gedächtnis wiederzuerlangen. Er stimmt also rückwirkend der ärztlichen Maßnahme zu, obwohl sie seinem ursprünglichen Willen widersprochen hat, der zudem nur durch die neurologische Manipulation verändert worden ist – und nicht indem das Ärzteteam den Patienten vom Eingriff überzeugen konnte. Denken wir den Fall weiter: Nun könnte die Ehefrau des Patienten vor einem Vormundschaftsgericht klären lassen, ob der Patient die erforderlichen Maßnahmen erhält, um sein Gedächtnis wiederzuerlangen. Dabei könnte sie geltend machen, dass der Wille ihres Mannes bei der Operation manipuliert worden ist und er also gegen seinen ursprünglichen Willen jetzt einen anderen Willen hat. Dann wird ein Streit darüber geführt, welcher Wille denn nun der »echte« ist, welcher Wille also dem Patienten wirklich gehört. Und damit wird darüber debattiert, wann der Patient wirklich »er selbst« ist. Die Ehefrau zieht aber bei diesem Streit nur ein objektives Kriterium heran, nämlich den Willensgehalt oder vielleicht auch eine Patientenverfügung. Die Frage, wer der Patient ist, will sie Ehefrau dann objektiv entscheiden. Wie ist es aber, wenn sowohl der Patient als auch das Ärzteteam 193 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
Lukas Ohly
darauf beharren, der aktuelle Wille müsse zählen, weil nur hier die Autonomie geachtet werde? Zwar ist diese Regel der Achtung der Autonomie durch den Eingriff gebrochen und damit der ursprüngliche Wille des Patienten missachtet worden. Aber dieser Regelbruch lässt sich nicht damit wieder rückgängig machen, dass der aktuelle Wille erneut manipuliert wird. Die Manipulatoren können also nun die Achtung der Autonomie zur Unterstützung ihrer Manipulation heranziehen, indem sie den aktuellen Willen des Patienten als Abwehrrecht beanspruchen. Die Autonomie schützt dann ein Subjekt, indem es seine Manipulation schützt. Dadurch wird die Achtung der Autonomie ins Gegenteil verkehrt: Sie wird zur Grundlage dafür genommen, dem Subjekt einen anderen Willen aufgezwungen zu haben. Auch hier spielen letztendlich objektive Gründe zur Bestimmung des Subjekts die entscheidende Rolle: Die objektiven Maßnahmen, die zum Willenswandel geführt haben, werden durch einen trickreichen Verweis auf die Autonomie des Subjekts abgesichert. Es wird damit objektiv abgesichert, dass der Patient nicht sich verändert hat, sondern durch andere Subjekte verändert worden ist.
5.3.
Ein Anderer durch Selbst-Manipulation
Derselbe Befund zeigt sich, wenn ein Subjekt autonom entscheidet, ein anderes Subjekt zu werden. Eine solche Entscheidung widerspricht der Tatsächlichkeit der Subjektivität, denn man rechnet dann mit Kriterien, sich selbst von dem Subjekt unterscheiden zu können, das man stattdessen werden soll. Also widerspricht diese Entscheidung auch der Autonomie, die nämlich im Widerfahren des Erlebens und in seiner Tatsächlichkeit im erlebten Erleben besteht. Anstelle der Achtung der Autonomie steht der Wille, Subjektivität durch Kriterien zu bestimmen und damit am Autonomieprozess vorbeiführen zu können. Aber wann könnte ein Subjekt eine solche selbstwidersprüchliche Entscheidung treffen? Kurz gefasst immer dann, wenn die subjektiven Veränderungen durch Maßnahmen vorgenommen werden, an denen das Erleben nicht beteiligt werden soll. Autonome Entscheidungen, die die Autonomie überspringen, sind solche, die das Erleben des erlebten Erlebens überspringen. Das trifft auf Maßnahmen des Neuroenhancements zu, die geistige Kompetenzen generieren, ohne dass sich diese entwickeln müssen. Wenn also ein Mensch sein Ge194 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
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hirn mit einem Fremdsprachenchip ausstatten möchte, damit er eine Fremdsprache durch automatische Spracherkennung verstehen und sprechen kann, ohne sie mühsam erlernt haben zu müssen, ist die Autonomie von diesem Sprachvorgang entkoppelt: Das Subjekt versteht und spricht dann, ohne sich dazu entscheiden zu müssen und ohne ein Verhältnis zwischen seiner Autonomie und dem Sprachvermögen entwickelt, eben gelernt zu haben. 35 Zwar kann man einräumen, dass dieses Subjekt nachträglich ein solches Verhältnis entwickeln wird und sich sein automatisiertes Vermögen im Nachhinein aneignet, ebenso wie sich Menschen andere angeborene Fähigkeiten subjektiv aneignen und sogar darüber autonom verfügen, etwa indem sie die Luft anhalten oder das Blinzeln hinauszögern. Zudem könnte man einen Schalter einbauen, der dem Subjekt die autonome Entscheidung lässt, wann es seine Spracherkennung ein- und ausschaltet. Das ändert aber nichts daran, dass das Subjekt mit solchen Aneignungsprozessen ein anderes Subjekt sein soll als das, das sich entschieden hat, dieses Sprachmodul zu bekommen. Der Proband bestimmt sich dann über objektive Eigenschaften, deren Erwerb am eigenen Erleben vorbei laufen. Das Erleben kann sich nur die erworbenen Eigenschaften aneignen, nicht aber das Erwerben dieser Eigenschaften: Es erlebt also ein Spracherlebnis, hat aber nicht das erlebte Erleben des Spracherwerbs und wird es nie haben: Denn wenn es das Modul einschaltet, erlebt es beim abrupten Übergang vom Ab- zum Einschalten keinen Prozess des Spracherwerbs. Zwar ist auch das fertige Spracherlebnis von einem erlebten Erleben begleitet. Es bezieht sich aber nicht auf einen Lernprozess, der dem Subjekt widerfährt, sondern auf eine fertige Eigenschaft. Technisch wird also der Widerfahrenscharakter des Lernerlebens übersprungen. Allenfalls wird der Widerfahrenscharakter einer Sprachkompetenz erlebt, also eine Alteritätserfahrung: Es spricht. Die Sprachkompetenz läuft insofern an der Autonomie vorbei. Das Subjekt entscheidet autonom, dass seine Autonomie beim nun einsetzenden Spracherwerb unbeteiligt bleibt. Es trennt also seine Entscheidung von der Sprachentwicklung ab und ent-subjektiviert daher den Spracherwerb. Ob das Subjekt mit dieser künstlichen Sprachkompetenz ein anderes ist, lässt sich zwar aufgrund der fehlenden Kriterien der Selbstidentifikation nicht entscheiden. Deutlich ist aber, dass das Subjekt sich selbst beim Spracherwerb überspringen 35
Ohly (2015) 107 und 148 f.
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will – und in dieser Hinsicht ein anderes sein will, als es ist. Die Autonomie wird an dieser Stelle unberücksichtigt gelassen; an seine Stelle tritt die immerhin faszinierende objektive Eigenschaft, eine Fremdsprache sprechen zu können, die das Subjekt nie gelernt hat. Problematisch ist dabei also nicht die unentscheidbare phänomenologische Frage, ob das Subjekt nun noch dasselbe ist. Vielmehr liegt das Problem auf der ethischen Ebene, nämlich dass die Autonomie übersprungen wird. Zwei Rückfragen möchte ich zu diesem Ergebnis noch stellen: Hängt die Selbst-Manipulation nur daran, an welchem Ort sich das Sprachmodul befindet, nämlich intra- oder extrakorporal? 36 Wenn mein Sprachmodul nicht in meinem Gehirn implementiert ist und ich stattdessen eine Sprach-App auf meinem Smartphone benutze, behalte ich dann etwa meine Autonomie, obwohl ich auch hier keine Fremdsprache erlerne? Es hängt davon ab, wie die App gesteuert wird. Sobald ich die Entscheidung treffen muss, die App zur Übersetzung meiner Gedanken und zum Verstehen der Äußerungen einer Person in einer mir fremden Sprache heranzuziehen, kann meine Autonomie gar nicht von mir unberücksichtigt bleiben. Das wäre vergleichbar mit dem Neurochip, den ich bei jeder Verwendung eigens einschalten müsste, um in der Fremdsprache zu kommunizieren. Das umständliche Verfahren der Nutzung macht den Ort des Chips im Gehirn irrelevant. Allerdings habe ich dann auch in beiden Fällen keine Sprachkompetenz, sondern benutze Werkzeuge, die meine sprachliche Einschränkung objektiv kompensieren. Das führt zum zweiten Einwand: Meint die soziale Umwelt auch bei der Selbst-Manipulation, mich besser zu kennen als ich mich? Kommen wir wieder zurück auf den Neurochip, der durchgehend funktioniert und mir die Fähigkeit gibt, in einer fremden Sprache zu sprechen. Während ich mein Sprechen als mein Sprechen erlebe und daher in diesem Spracherlebnis ein Erleben meines Erlebens habe, werden andere Menschen, die von dem Implantat wissen, vermutlich behaupten, dass nicht ich diese Sprache beherrsche, sondern etwas in mir. Evtl. werden sie sogar in Zweifel ziehen, dass der Inhalt, den ich ausdrücke, wirklich durch mich generiert worden ist. Sie werden sich fragen, wie die Fremdsprachenkompetenz, die ich mir nicht durch Lernen angeeignet habe, wirklich meine Gedanken ausdrücken kann. Zwar könnte man Tests durchführen, ob ich einen vorgegebenen 36
Zur Kritik siehe Ohly/Wellhöfer (2016) 34.
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deutschen Text in diese Fremdsprache übersetzen kann. Aber dieser Test beweist nicht, dass die Übersetzung auch mit meinen Gedanken gelingt, es sei denn, ich schreibe mir meine Gedanken vorher für alle lesbar ins Deutsche, bevor ich sie übersetze. Sofern man mir noch zugesteht, eigene Gedanken zu denken, könnte dieser Test akzeptabel sein, um die Glaubwürdigkeit der Übersetzung als Ausdruck meiner Gedanken zu erhöhen. Das ändert aber nichts daran, dass mit diesem Verfahren eine objektive Übereinstimmung die Zurechenbarkeit meiner Gedanken absichern soll. Erst recht wenn ich durchschaue, dass meine Sprachkompetenz nicht »meine« ist, lokalisiere ich mich dabei auf der Seite meiner sozialen Umwelt und beurteile mich an objektiven Gesichtspunkten: Ich betrachte mich dann als einen Anderen.
6. Aussichten Bereits die Patientenverfügung, die für die Willenserklärung eines Menschen im Fall seiner Bewusstlosigkeit oder Kommunikationsunfähigkeit stellvertretend eintritt, ist der Versuch, die subjektive Autonomie zu überspringen. Zwar soll gerade umgekehrt seine Autonomie in der sozialen Interaktion gerettet werden. Der Begriff von Autonomie wandelt sich aber dabei: Er beruht sozialethisch nicht mehr auf der Epoché, die subjektive Autonomie eines Menschen zu achten, weil man epistemisch nicht von außen in den blinden Prozess der Selbstidentifikation von Erleben und erlebtem Erleben eindringt. Vielmehr werden mit der Patientenverfügung objektive Korrelate geschaffen – die zudem zweifelhaft sind. Denn wer unterstellt, dass der Patient keinen Willen mehr hat, gebraucht mit der Patientenverfügung nur eine formelle Entscheidungsprozedur ohne inhaltlichen Bezug zur Autonomie des Patienten. Wer hingegen meint, der Patient habe zwar einen aktuellen Willen, den er nur nicht äußern könne, hat mit der Patientenverfügung kein geeignetes Mittel zur Hand, um den aktuellen Willen festzustellen. Es gibt starke Indizien, die dafür sprechen, dass man sich in den aktuellen Patientenwillen schwer hineinversetzen kann, je dichter der Tod droht. 37 Eine Patientenverfügung kann dagegen keine Abhilfe schaffen, weil sie den aktuellen Patientenwillen mutwillig übergeht. – Wer eine Patientenverfügung unterChristopher J. Ryan, Betting your life: an argument against certain advance directives, in: Journal of Medical Ethics 22 (1996) 95–99, hier: 96.
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zeichnet, gibt daher zwar der sozialen Umwelt nicht seinen Willen zu erkennen, den er für den vorgesehenen Fall haben wird. Aber genau dadurch gibt er sich der sozialen Umwelt preis, die ihn dann aufgrund objektiver Kriterien besser zu kennen meint als er sich selbst. Darin besteht der Autonomieverlust, der in der Patientenverfügung nicht etwa aufgehalten, sondern nur dokumentiert wird. Ebenso wie bereits heute einzelne Ausfälle sinnlicher und geistiger Aktivitäten durch Hirn-Maschine-Schnittstellen ausgeglichen werden können 38, könnte es eines Tages möglich sein, Koma-Patienten durch entsprechende Kompensationen wieder in den Alltag zu integrieren. Während Robotizisten an die Speicherung der gesammelten Gehirninformationen denken, die mit künstlicher Intelligenz regeneriert werden 39, dürften Mediziner zu diesem Zweck eher neuro-prothetische Maßnahmen für einzelne Ausfälle in Blick nehmen. In all diesen Fällen bleibt jedoch die Frage, wer das Subjekt einzelner Entscheidungen, Handlungen oder Verhaltensweisen sein wird: Überspringen Computerprogramme die Autonomie des Menschen oder stellen sie sie wieder her? Vermutlich werden solche Fragen zunehmend an objektiven Eigenschaften entschieden werden: Wenn sich ein Koma-Patient mit Neuro-Prothese in der Regel richtig an seine Lebensgeschichte erinnert und sich so verhält, wie man ihn vor seiner Erkrankung kannte, wird man ihm sein Selbst-Sein zugestehen. Will er jedoch seine Maschine abschalten lassen, weil er mit seiner Lebensgeschichte nicht konfrontiert werden möchte und so nicht weiterleben will, wird man daran zweifeln, ob er wirklich noch derselbe ist. In beiden Fällen wird die Autonomie des Erlebens sozialethisch keine Rolle spielen, selbst wenn man dem Patienten das Recht einräumt, über seine eigene Abschaltung zu verfügen. Denn: Wer nicht mehr er selbst ist, kann dann auch ohne ethische Skrupel abgeschaltet werden. Mit diesen Aussichten ist aber auch die Frage verbunden, ob Systeme künstlicher Intelligenz Subjektivität haben werden. 40 Bislang scheinen objektive Vergleichspunkte mit menschlicher Subjektivität dagegenzusprechen, dass dies möglich ist. 41 Sie treiben das Beispiel Haustein (2013) 160. Robert M. Geraci, Apocalyptic AI. Visions of Heaven in Robotics, Artificial Intelligence, and Virtual Reality, OUP, Oxford 2010, 22 und 34. 40 Thomas Metzinger, Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, Piper, Berlin 2009, 268. 41 Bernhard Irrgang, Posthumanes Menschsein? Künstliche IntelligEnz, Cyberspace, 38 39
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vom Fremdsprachen-Modul aus Sektion 5.3. auf die Spitze, weil jegliche Kompetenz solcher Systeme zunächst gemacht ist. Selbst wenn es sich um selbstlernende Systeme handeln soll, deren Prozesse sogar ihre Ingenieure nicht mehr verstehen, so ist diese Fähigkeit zum Lernen ihnen eingebaut worden. Es gibt an solchen Systemen nichts, was den Widerfahrenscharakter ihres Erlebens ermöglichen könnte. Denn der Widerfahrenscharakter widerspricht einer gegenständlichen Machbarkeit. Anders ausgedrückt: Ohne Präreflexivität können Systeme künstlicher Intelligenz keine Subjekte sein. Subjekte werden daher geboren und nicht gemacht. 42 Ihre Geburt ist das Widerfahren ihres Erlebens und seine Tatsächlichkeit. Gemachten geistigen Leistungen fehlt dagegen der Widerfahrenscharakter. Mit dem vorliegenden ethischen Beitrag zum Phänomen der Präreflexivität wollte ich zeigen, wie Subjektivität als ethisches Kriterium der Achtung des Menschen heranzuziehen ist, obwohl sie sich nicht an Kriterien ausweisen lässt. Das, was unter dem Stichwort Präreflexivität verhandelt wird, sperrt sich sowohl objektiver als auch subjektiver Kriterien. Dennoch lässt sich identifizieren, wann die menschliche Autonomie, für die die subjektive Identität Bedingung ist, verletzt wird, nämlich dann, wenn man auf objektive Korrelate ausweicht. Selbst wenn also die neurologische Manipulation eines Menschen die Präreflexivität der Subjektivität nicht erkennbar verändert, weil dafür die Kriterien fehlen, kann die Verletzung der Autonomie aufgezeigt werden. Sie besteht nämlich darin, dass die fehlenden Kriterien ignoriert werden, indem der blinde Prozess der Selbstidentifikation durch scheinbare Kriterien objektiver Eigenschaften übersprungen wird. Abschließend möchte ich erwähnen, dass ich meine hier angeführten Kategorien des Widerfahrens, der Tatsächlichkeit und der Evidenz einer theologischen Rekonstruktion der Gotteserfahrung verdanke. 43 Die Tatsächlichkeit von Tatsachen, die ich an Schleiermachers Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit rekonstruiert habe, war bereits ein Hinweis darauf. Ansonsten habe ich bis jetzt auf explizite theologische Bezüge verzichtet. Niemand muss von Gott reden, wenn er Roboter, Cyborgs und Designer-Menschen – Anthropologie des künstlichen Menschen im 21. Jahrhundert, Franz Steiner, Wiesbaden/Stuttgart 2005, 138; Lukas Ohly/Catharina Wellhöfer, Ethik im Cyberspace, Peter Lang, Frankfurt am Main 2017, 288. 42 Ohly/Wellhöfer (2016) 292. 43 Ohly (2015) 32–45.
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das Phänomen der Präreflexivität auf meine Art thematisiert. Dennoch wird man auch dann auf dieselben Kategorien zurückgreifen, die Theologen auf Gott beziehen, nämlich in einer trinitätstheologischen Struktur menschlicher Erfahrung. Diese Struktur zeigt sich in nuce am Phänomen der Subjektivität.
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Autoren- und Herausgeberverzeichnis
Marc Borner; geb. 1980 in Darmstadt (Deutschland); Studium der Philosophie und Psychologie in Berlin, Darmstadt, Frankfurt am Main und Los Angeles; Promotion 2014 in Tübingen; zur Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Charité in Berlin. Katja Crone; geb. 1970 in Lüdenscheid (Deutschland); Studium der Literaturwissenschaften und Philosophie in Montpellier und Hamburg; 2004 Promotion in Hamburg; 2015 Habilitation in Berlin; seit 2014 Professorin für Philosophie an der TU Dortmund. Manfred Frank; geb. 1945 in Wuppertal (Deutschland); Studium der Anglistik, Germanistik und Philosophie in Berlin und Heidelberg; 1971 Promotion in Heidelberg; 1977 Habilitation in Düsseldorf; von 1982 bis 1987 Professor für Philosophie in Genf; von 1987 bis zur Emeritierung 2010 Professor in Tübingen; Ehrendoktorate: 2004 Universität Cluj, Rumänien; 2005 Pécs, Ungarn und 2015 Turku, Finnland. Stefan Lang; geb. 1977 in Wien (Österreich); Studium der Philosophie und Politikwissenschaft in Halle/Saale und Wien; 2008 Promotion und 2016 Habilitation in Halle/Saale; seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen. Kristina Musholt; geb. 1981 in Ahaus (Deutschland); Studium der Humanbiologie, Neurowissenschaften und Philosophie in Marburg, Magdeburg, Neapel, Berlin und am MIT Cambridge, MA (USA); 2011 Promotion in Berlin; von 2013 bis 2015 Juniorprofessorin für Neurophilosophie in Magdeburg; seit 2015 Professorin für Kognitive Anthropologie in Leipzig.
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Autoren- und Herausgeberverzeichnis
Lukas Ohly; geb. 1969 in Frankfurt am Main (Deutschland); Studium der Evangelischen Theologie und Philosophie in Frankfurt; ebenda 2000 Promotion und 2007 Habilitation in Systematischer Theologie; seit 2013 apl. Professor für Systematische Theologie in Frankfurt am Main. Jürgen Stolzenberg; geb. 1946 in Lingen (Deutschland); Studium der Germanistik, Linguistik und Philosophie in Heidelberg, Köln und Stuttgart; 1982 Promotion in Heidelberg; 1993 Habilitation in Göttingen; von 1998 bis 2013 Professor für Philosophie an der Universität Halle. Klaus Viertbauer; geb. 1985 in Salzburg (Österreich); Studium der Philosophie, Katholischen Theologie und Religionspädagogik in Salzburg; ebendort 2015 Promotion in Philosophie; seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Christliche Philosophie der Universität Innsbruck. Daniel Wehinger; geb. 1985 in Graz (Österreich); Studium der Philosophie in Innsbruck, Notre Dame und München; 2016 Promotion an der Hochschule für Philosophie in München; seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Christliche Philosophie der Universität Innsbruck.
202 https://doi.org/10.5771/9783495817384 .
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