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German Pages 154 Year 2019
Thea D. Boldt Multikulturalismus im Diskurs
Kultur und soziale Praxis
Thea D. Boldt (Dr. disc. pol.) ist Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen sowie Dozentin an der Universität Bochum. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Probleme der Kulturverschränkung, Migration und Identität aus der Perspektive der Sozialwissenschaftlichen Hermeneutik unter der Anwendung qualitativer Forschungsmethoden.
Thea D. Boldt
Multikulturalismus im Diskurs Deutsche und europäische Identitätskonstruktionen im Hinblick auf die Zugehörigkeit muslimischer Migranten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4860-7 PDF-ISBN 978-3-8394-4860-1 https://doi.org/10.14361/9783839448601 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
1 1.1
1.2
Einleitung .........................................................................................7 Theoretischer Bezugsrahmen ........................................................................... 13 1.1.1 Kultur – Differenz – Fremdheit – Identität .................................................. 13 1.1.2 Diffusität und Wandlung der Begriffe ........................................................ 21 1.1.3 Multikulturalität – Interkulturalität – Transkulturalität ..................................25 Fragestellung und methodisches Vorgehen.......................................................... 31
2 2.1
Deutsche Debatten über europäische Identität: Stand der Forschung................. 37 Europäische Identitätsdiskurse in Deutschland: ein Überblick ............................... 39 2.1.1 Europäische Identität als normatives Projekt............................................. 39 2.1.2 Vielfalt als Grundlage europäischer Identität .............................................. 41 2.1.3 Deutsche Ordnung als europäische Ordnung............................................... 42 2.2 Europäische Identitätssemantiken deutscher Provenienz ...................................... 43 2.2.1 Semantik des Abendlandes ................................................................... 43 2.2.2 Idee des Westeuropas ...........................................................................45 2.2.3 Europa der Nationalsozialisten ................................................................46 2.2.4 Postnationale europäische Identität ........................................................48 2.2.5 Deutscher Sonderweg in die Moderne ....................................................... 51 2.2.6 Transnationale und multikulturelle Identitätssemantiken ..............................55 3 3.1
Identitätskonstruktionen staatlicher Akteure............................................. 57 ›Innengerichtete‹ Identitätskonstruktionen im Feld der Einbürgerungs-, Bildungs- und Integrationspolitik ...........................................59 3.1.1 Verflechtung der Organisationsstrukturen der Einbürgerungs-, Bildungs- und Integrationspolitik .............................................................59 3.1.2 Wie wird man Europäer? Wie wird man Deutscher? Identitätsstiftende Rolle der Einbürgerungs-, Bildungs- und Integrationspolitik ...............................................................................62
3.2 ›Außengerichtete‹ Identitätskonstruktionen im Feld der auswärtigen Kulturpolitik ................................................................ 78 3.2.1 Organisationsstruktur der deutschen auswärtigen Kulturpolitik...................... 78 3.2.2 Identitätsstiftende Rolle der deutschen auswärtigen Kulturpolitik................... 81 3.3 Zwischenfazit. Deutschland als Repräsentant europäischer Identität ................................................................................... 85 4 Identitätskonstruktionen nichtstaatlicher Akteure....................................... 89 4.1 Bildungschancen, Fördermaßnahmen und Bildungsreformen................................... 92 4.2 Religion in der multikulturellen Gesellschaft und die Semantik der Moderne..................................................................................................98 4.2.1 Rolle der Religion bei der Konstruktion der multikulturellen Identität...............98 4.2.2 Polarisierung der Positionen durch die Kopftuchdebatte............................... 99 4.2.3 Religionsunterricht ..............................................................................104 4.3 Integration, Migration, Einbürgerung .................................................................106 4.4 Machtverhältnisse ......................................................................................... 116 4.5 Zwischenfazit............................................................................................... 121 5
Schlussbetrachtung: Wir Deutschen als Europäer ........................................ 131
Literaturverzeichnis ................................................................................ 133 Annex ................................................................................................ 149 Leitfadeninterview................................................................................................ 149 Vollständige Liste der an den öffentlichen Debatten beteiligten Akteure ..........................150
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Einleitung
Im Jahr 2011 erklärten etliche europäische Spitzenpolitiker den Multikulturalismus für tot. Die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach sich bereits Ende 2010 für das Scheitern des Multikulti aus. Beim Deutschlandtag der Jungen Union in Potsdam im November 2010 sagte Merkel: »Wir sind das Land, dass in den Sechzigerjahren die Gastarbeiter nach Deutschland geholt hat. Und jetzt leben sie bei uns. Wir haben uns eine Weile lang in die Tasche gelogen; wir haben gesagt, die werden schon nicht bleiben, irgendwann werden sie weg sein. Das ist nicht die Realität. Und natürlich war der Ansatz zu sagen, jetzt machen wir hier Multikulti und leben so nebeneinanderher und freuen uns über einander, dieser Ansatz ist gescheitert. Absolut gescheitert.«1 Merkel folgten in Februar 2011 sowohl der damalige britische Premierminister David Cameron als auch der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy. Auch sie wussten dem Trend zum Sturz des Multikulturalismus ins Zentrum ihrer politischen Agenda zu verhelfen und haben ihre Nationalstaaten zum Ausstieg aus dem multikulturellen Gesellschaftsmodell aufgefordert. Cameron nutzte dabei die Bühne der internationalen Münchner Sicherheitskonferenz – eine relevante Schwerpunktsetzung für das Thema Multikulturalismus – um diesen mit dem Mangel an Zugehörigkeitsgefühlen seitens muslimischer Einwanderer und letztendlich mit dem islamistischen Terrorismus in Verbindung zu bringen. »We’ve allowed a weakening of our own collective identity under the doctrine of state multiculturalism«, sagte Cameron und machte damit die Staaten der Europäischen Union für das Scheitern des »Nebeneinanderlebens von Kulturen« verantwortlich.2 »It’s a failure«, folgte Nicolas Sarkozy diesem Trend in einem Interview mit dem französischen Fernsehsender TF13 : »The truth is that in all our European democracies we’ve been too preoccupied with the identities of those arriving and not enough with that of the countries which welcome 1 Die damalige Rede der Kanzlerin kann unter folgendem Link abgerufen werden: www.youtube.com/watch?v=BE6dR7T-zIQ 2 Siehe www.youtube.com/watch?v=z3xsnEzA8Fw 3 Siehe www.youtube.com/watch?v=zj41TDPFW50
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Multikulturalismus im Diskurs
them« (ebenda). Daraufhin adressierte auch er die muslimischen Migranten4 als die »signifikanten Anderen«5 im Prozess der Konstruktion europäischer Identität. In diesen Aussagen lassen sich diejenigen Semantiken erkennen, welche das baldige Abdanken des Multikulturalismus antizipieren. Multikulti erscheint als Gesellschaftsform, welche für die mangelnde Integration islamischer Akteure verantwortlich gemacht wird und deshalb zum Scheitern verurteilt ist, als Kultur des Nebeneinander statt des Miteinander, als staatlich geförderte kollektive Identitätskonstruktion, welche sowohl die einzelnen europäischen Nationalstaaten als auch die gesamte Europäische Union prägte und gleichzeitig in die Irre führte. Das wäre eine äußerst pejorative Bilanz einer Ära, welche – zumindest in Deutschland – mit den Veränderungen im Staatsangehörigkeitsgesetz im Jahr 2000 begonnen hat und mit dem Abschied von der Multikulturalität im Jahr 2011 zu Ende ging. Das hier vorliegende Buch widmet sich der Analyse der Zeitphase von 2000 bis 2011, in welcher unter dem Vorzeichen des Multikulturalismus ein fragiles und – nach wie vor – umstrittenes Bekenntnis Deutschlands zur Einwanderungsgesellschaft im Zuge der Verschränkung nationaler und europäischer Identitätskonstellationen erfolgte.6 Die Bevölkerungsstruktur in Deutschland hat sich jedoch viel früher, spätestens seit den 1950/60er-Jahren durch die sogenannte ›Gastarbeitermigration‹ und die weiteren Migrationsströme der 1980/90er-Jahre, gravierend verändert. Vor dem Hintergrund der starken Zuwanderung fand bereits in den 1970er-Jahren eine wissenschaftliche Diskussion über die Selbstdefinition der deutschen Nation statt. Die Politik reagierte jedoch erstmals im Jahre 2000 mit einer öffentlichen Debatte über die Gestaltung der deutschen Gesellschaft als Einwanderungsgesellschaft sowie über die Anerkennung der Multikulturalität als eines der Hauptmerkmale der gewandelten Bevölkerungsstruktur. Diese Entwicklung ging mit der bedeutsamen Veränderung der deutschen Staatsbürgerschaftsregeln einher, welche 2000 das Prinzip des ius sanguinis – demzufolge man von Geburt an Deutscher durch Blutsverwandtschaften mit Deutschen war – um das eingeschränkte Geburtsortprinzip (ius soli) ergänzte. Interessanterweise hat sich Deutschland in der Periode zwischen den Jahren 2000 bis 2011 – wie in diesem Buch gezeigt werden soll – als ein Vorreiter europäischer Kultur im vermeintlichen Dialog mit seinen (neuen) »signifikanten Anderen« – den Muslimen – neu erfunden. In diesem Kontext beschäftigt sich das hier vorliegende Buch mit einer Vielfalt von semantischen Strategien, mit welchen die 4 Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch durchgehend, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. 5 Zur Problematik des »signifikanten generalisierten Anderen« s. Kapitel1.1. 6 Den Begriff »Verschränkung« verdankt die Autorin der ethnologischen Arbeit an den »Moorwegen zwischen Hüben und Drüben« von Klaus Müller (Müller 2010, 2014) sowie der soziologischen Auffassung des Konzeptes von Hans-Georg Soeffner (2014).
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staatlichen und nichtstaatlichen Akteure in Deutschland die nationalen und europäischen Identitäten im Hinblick auf die Frage nach der Zugehörigkeit von als muslimisch markierten »Anderen« konstruieren. Beleuchtet werden soll dabei auch diejenige Machtkonstellation, welche den Aushandlungen der kollektiven Identität in Deutschland in dieser Zeitphase zugrunde liegt. Im Gegensatz zu anderen Veröffentlichungen, welche dem Multikulturalismus gewidmet sind, geht es hier weder um die Diskussion und den Vergleich zwischen diversen theoretischen soziologischen Konzepten der Multi-, Trans- oder Interkulturalität (s. hierzu Boldt/Soeffner 2014), noch um die Aufzeichnung potenzieller Wege aus der Migrations- und Integrationskrise (s. etwa Luft 2006). Stattdessen steht in diesem Buch die Frage im Zentrum, wie die Multikulturalität im öffentlichen Diskurs in Deutschland in den Jahren 2000 bis 2011 hergestellt wurde und welche Akteure sich in welcher Hinsicht an ihrer gesellschaftlichen Konstruktion mitbeteiligt haben. Gleichzeitig wird in den empirischen Analysen gezeigt, dass das Modell der Multikulturalität als staatlich subventioniertes Nebeneinander von Kulturen, von dem sich die deutschen und europäischen Spitzenpolitiker 2011 verabschiedet haben, politisch nie vollzogen wurde. In dieser Hinsicht gibt die Analyse von politischen Beschlüssen und Dokumenten im Kapitel 3 den Blick auf einen Diskurs im Spannungsfeld zwischen der »Dominanzkultur« (Rommelspacher 2006) und der wirtschaftlich begründeten Anerkennung der Potenziale von Migranten frei. Die Frage bleibt: Welchen politischen Zwecken der Abschied von Multikulti diente, wenn die staatlichen Programme lange vor 2011 den Weg der Integration migrantischer, vor allem muslimischer Akteure eingeschlagen haben? Das empirische Material, das einer kritischen wissenssoziologischen Diskursanalyse (Wodak et al. 1999; Keller 2004, 2005) unterzogen wurde und diesem Buch zugrunde liegt, stammt aus der deutschen Fallstudie, welche im empirischen EUProjekt »Identities and Modernities in Europe« (IME) in den Jahren 2009-2012 (7-tes Rahmenprogramm) durchgeführt worden ist. An diesem Projekt nahmen außer Deutschland die folgenden Länder teil: Frankreich, das Vereinigte Königreich, Griechenland, Finnland, Ungarn, Bulgarien, Kroatien und die Türkei. Die Autorin der hier vorliegenden Veröffentlichung leitete in diesem Rahmen die deutsche Fallstudie am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI).7 Das allgemeine Ziel des Projektes lag in der Untersuchung europäischer Identitäten als einer Vielfalt von Definitionen oder Selbstbezeichnungen ›wir, die Europäer‹, welche von verschiedenen Akteuren in und um die gegenwärtige Europäische Union vorgebracht werden. Diese Selbstdefinitionen sind insofern relevant, als dass sie als Basis für Handlungsvollzüge genutzt werden und zugleich erst durch bestimmte 7 Die empirischen Phasen des Projekts wurden mit Unterstützung folgender studentischer und wissenschaftlicher Hilfskräfte durchgeführt: Eva Schwab, Kathrin Kühn, Gion Wallmayer, Carolin Hering.
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Multikulturalismus im Diskurs
Handlungsvollzüge in Form von Texten hervorgebracht werden. Unter Bezugnahme auf die Theorie der Multiple Modernities (Eisenstadt 2002) und postkoloniale Kritik (etwa Bhambra 2009) befasste sich das Projekt mit drei Hauptproblemen im Bereich der europäischen Identitäten: was sind sie, auf welche Art und Weise sind sie entstanden, und welchen Entwicklungsverlauf werden sie in Zukunft möglicherweise nehmen? In einer Serie von neun Fallstudien untersuchte IME zunächst die Diversität europäischer Identitäten basierend auf deren Manifestation in den neun genannten nationalen Fällen. Dann wurden die verschiedenen Ausprägungen von Formulierung und Aufrechterhaltung dieser unterschiedlichen Selbstdefinitionen analysiert, die sich in voneinander abweichenden gesellschaftlichen, kulturellen und systemischen Umfeldern gebildet haben. Zuletzt wurden – mittels einer Abfolge von thematischen Vergleichsanordnungen – Gemeinsamkeiten der europäischen Identitäten in den neun Ländern identifiziert. Dies sollte die Basis für eine fundierte Prognose bezüglich möglicher Entwicklungsverläufe europäischer Identitäten bei weiterer Fortsetzung von Prozessen der europäischen Integration darstellen. Das Projekt hinterfragte dabei gängige Ansichten über europäische Identitäten und die teleologischen Implikationen, die der Diskussion über europäische Identitäten oftmals zugrunde liegen. Es zielte darauf ab, einige systematische Einblicke in die Kontexte zu liefern, in denen verschiedene Strategien der Identitätskonstruktion verfolgt werden. Das Thema der Multikulturalität wurde innerhalb der oben genannten EUStudie im europäischen Kontext diskutiert und bezog die Türkei mit ein. Aber das Problem, auf das mit dem Multikulturalismus reagiert werden sollte, nämlich »ein Weltreich gründen und erhalten zu wollen und dabei dennoch die kulturelle Vielfalt der darin zusammengefassten unterschiedlichen Völker, Religionsgemeinschaften und Traditionen zu erhalten« (Soeffner 2007: 106), ist viel älter als die Europäische Union. Zu nennen wären hier beispielsweise das mongolische Imperium des Kublai Khan oder das Reich von Alexander dem Großen. Diese Herrscher suchten und (er)fanden unterschiedliche politische Formen des Umgangs mit Vielfalt, welche in diversen Staatsformen verankert wurden. Das Postulat, Diversität anzuerkennen und zugleich Einheit zu stiften – in Anspielung auf das EU-Motto »United in Diversity« – mündet in eine grundlegenden Fragilität pluralistischer Vergesellschaftungsformen (vgl. Soeffner/Boldt 2014), welche weder dem mongolischen Herrscher auf dem chinesischen Kaiserthron, noch dem makedonischen Prinzen, welcher den Hellenismus über die griechischen Grenzen hinweg bis nach Indien und Ägypten etablierte, fremd war. In paradoxer Weise sucht diese Vergesellschaftungsform gleichzeitig nach einer Öffnung und nach einer Schließung (vgl. Soeffner 2018). Pluralismus als Struktur ist gezwungenermaßen von der Konkurrenz diverser Weltanschauungen geprägt. Auf dem Markt politischer Vergesellschaftungsformen, religiöser Vorstellungen und ethnischer Bräuche ist es vor allem in den kulturellen Kontaktzonen »zwischen Hüben und Drüben« (Müller 2014) im-
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mer wieder zum Austausch, sowie zum Konflikt zwischen Sinnbildern und Handlungsentwürfen gekommen. Im Gegensatz dazu wird mit Pluralismus als Weltanschauung ein Versuch unternommen, kulturelle Differenzen zu versöhnen und zu verschmelzen (vgl. Soeffner 2018: 51), um Ordnung zu schaffen. Die Problematik der Kulturdifferenz im Kontext des Pluralismus steht in diesem Buch in engem Zusammenhang mit der Problematik der Identität. Wie der Untertitel suggeriert, behandelt das Buch diejenigen Perspektiven auf den Multikulturalismus, welche überwiegend zwischen den Jahren 2000 und 2011 in Deutschland entwickelt wurden und sowohl die deutschen als auch die europäischen Identitätsdiskurse prägten. In theoretischer Hinsicht ergibt sich bei einer solchen Problemstellung eine Parallele zwischen den Begriffen der Kultur und der Identität, welche auf die Substanzillusionen beider Konzepte sowie auf das Postulat von deren Auflösung zurückgeht (vgl. Boldt/Soeffner 2014; Soeffner 2018). Das darauffolgende Kapitel 1.1 zielt darauf ab, die Konzepte der Kultur, Identität und Differenz in ihrer Beziehung zueinander zu bestimmen und damit eine theoretische Basis für die Darstellung der genauen Fragestellung und des methodischen Vorgehens (Kapitel 1.2) dieses Buchs zu präsentieren. In Kapitel 2 wird ein Überblick über die deutschsprachigen Debatten über europäische Identität in der Zeit vor und nach dem zweiten Weltkrieg gegeben. Die Kapitel 3 und 4 gehen der Interpretation des empirischen Materials nach. Wie bereits vorweggenommen, zeigte sich bereits in der Explorationsphase des Projekts rasch, dass die Frage nach der Konstruktion europäischer Identitäten unmittelbar mit der Frage nach der deutschen Identität und zwar vor allem im Hinblick auf die Zugehörigkeit von Menschen mit Migrationshintergrund – hier insbesondere Muslimen – zu Deutschland und zu Europa ausgehandelt wird. Um dieser These nachzugehen, widmet sich das dritte Kapitel unter Anwendung postkolonialer Kritik zunächst dem Problemfeld der Staatbürgerschaftspolitik, der Bildungspolitik mit Schwerpunkt Integration sowie der auswärtigen Kulturpolitik. Hierzu wurden politische Dokumente (darunter Beschlüsse, Gesetze und Agenden) zu Migration, Integration und Einbürgerung sowie die damit zusammenhängenden politischen Bildungsmaßnahmen, die überwiegend aus den Jahren zwischen 2000 und 2011 stammten, der Analyse unterzogen, mit dem Ziel der diskursanalytischen Rekonstruktion von Identitätskonstruktionen deutscher staatlicher und europäischer Akteure.8 Thematisch geht es hier beispielsweise um die Änderungen im deutschen Zuwanderungsgesetz, infolge derer das Abstammungsprinzip (ius sanguini) durch das Geburtsortprinzip (ius soli) ergänzt wurde (Jahr 2000), um die Erweiterung des deutschen Einbürgerungsgesetzes durch bildungspolitische 8 Auch wenn in diesem Buch der Fokus auf die Jahre 2001-2011 gelegt wird, werden in einigen Feldern bereits früher erschienene Dokumente miteinbezogen, um die diskursiven Verläufe nachvollziehbar zu machen.
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Elemente in Form von sogenannten »Integrationskursen« (Jahr 2005), sowie um weitere Modifikationen im deutschen Einwanderungs- und Einbürgerungsgesetz (Jahr 2007). Um die Ergebnisse der Diskursanalyse zu kontextualisieren, wird das Material aus den in den Jahren 2010/2011 von der Autorin durchgeführten Interviews mit Vertretern von Migrantenverbänden in Deutschland miteinbezogen (Kapitel 4). Es wurden diejenigen Organisationen ausgewählt, welche sich zwar an den öffentlichen Debatten um die Themen der Multikulturalität mitbeteiligt haben, aber aus den Bestimmungsprozessen zur Verabschiedung von politischen Beschlüssen zur Integration und Zuwanderung ausgeschlossen worden waren, obwohl sie diejenigen Migrantengruppen repräsentieren, welche von den jeweiligen politischen Vereinbarungen direkt betroffen waren, also überwiegend Muslime. In den Interviews kommen unter anderen folgende Themen zur Sprache: das Recht von Lehrerinnen, an öffentlichen Schulen ein Kopftuch zu tragen9 , die Ergebnisse der PISAStudie, welche in den Jahren 2003 und 2006 die im europäischen Vergleich signifikant schlechteren Bildungschancen von Migrantenkindern in Deutschland zeigten und nicht zuletzt Thilo Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab«, welches 2009/2010 die Nation spaltete und weitere Fragen nach der Gestaltung des multikulturellen Zusammenlebens in Deutschland aufgeworfen hatte. Im Mittelpunkt des Zwischenfazits (Kapitel 3.3. und 4.5) sowie der Schlussbetrachtung im letzten Kapitel (Kapitel 5) steht die Frage nach der Veränderung der kollektiven deutschen Identitätskonstruktion in den Jahren 2000 bis 2011 in Anbindung an die europäische Identität mit Fokus auf die Migrationsproblematik. Dabei wird unter anderem diskutiert, in welcher Art und Weise sich Deutschland in diesen Jahren gerade durch die Auseinandersetzung mit dem Multikulturalismus als eine treibende, wegweisende europäische Macht etablierte, welche vor allem in den Fragen nach dem Umgang mit Migration innerhalb der Europäischen Union den Ton angibt. Für viele Europäer war Angela Merkels Aufruf »Wir schaffen das!« Ende August 2015 eine Wende in der europäischen sowie in der deutschen Flüchtlings- und Migrationspolitik. Deutschlands Aufnahmebereitschaft in der Flüchtlingskrise war jedoch kein Einzelereignis, sondern eine der Stationen in einem fragilen Prozess der Umkehr des deutschen Staates von einer Nation des ius sanguinis zu einer multikulturellen Gesellschaft innerhalb der Europäischen Union. Das hier vorliegende Buch widmet sich einer diskursanalytisch fundierten Aufarbeitung eines Teils dieser Geschichte. 9 Dieses Thema mündete in den Jahren 2003/2004 in verschiedene Regelungen, wie beispielsweise Kopftuchverbot und -erlaubnis in unterschiedlichen Bundesländern.
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1.1 1.1.1
Theoretischer Bezugsrahmen Kultur – Differenz – Fremdheit – Identität10
Man könnte behaupten, die Funktion eines geisteswissenschaftlichen Begriffs liege in der deutlichen Definition des betreffenden Sachverhaltes, um die Reflexion und Kommunikation zu ermöglichen.11 Nähme man dieses Postulat ernst, erschiene es ziemlich paradox, dass die zentralen Begriffe der Geisteswissenschaften geradezu von ihrer »bedeutungsgeladenen Diffusität« (Soeffner 2000:155) leben. Dafür sind sowohl die Konzepte der Kultur als auch der Identität Paradebeispiele.12 Etymologisch betrachtet geht das Wort »Kultur« auf das lateinische Verb colere zurück, das »hegen, pflegen, bebauen« bedeutet und sich ursprünglich auf Urbarmachung und Pflege des natürlichen Wachstums bezog (Eagelton 2001:7). Bereits in der Antike rückte jedoch die Konzeption eines Kollektivs ins Zentrum des Kulturbegriffs. Die gemeinsame Geschichte auf demselben Territorium, dieselbe Abstammung – die sogenannte Physis – dieselbe Sprache, dieselben Sitten und dieselbe Religion gehören bei Herodot von Halikarnassos zu denjenigen prinzipiellen Kategorien, welche die Völker ausmachen sowie die Nachzeichnung ihrer »Historien« (2017) erst ermöglichen.13 Entlang dieser in die Antike zurückgehenden Tradition wurde später, seit dem 18. Jahrhundert, das Hauptaugenmerk auf die Entstehung von Nationen gelegt. So stehen als substanziell gedachte Einzelsysteme wie Nation oder Volk im Vordergrund der Konzeptionalisierung eines sprachlich, sittlich und symbolisch einheitlichen Kultursystems (s. etwa Herder 1774/1967; Kurt 2014). Die territoriale Gebundenheit geht in dieser Definition von Kultur(-en) einerseits mit der Grenzziehung zwischen dem »Eigenen« und dem »Anderen« einher, andererseits mit den Prozessen der Homogenisierung nach innen und der Heterogenisierung nach außen, die ideologisch sowie kultursoziologisch moderne kollektive Identitätsbildungsprozesse, wie z.B. die von Nationalstaaten, begleiten (s. Bonß 10 Dieses Kapitel stellt eine überarbeitete und ergänzte Version zweier Aufsätze dar: Boldt 2012: 37-60 und Boldt/Soeffner 2014. 11 Im Kapitel »Studium der Soziologie und Soziologie als Beruf« in der »Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie« lässt sich Folgendes nachlesen: »Sie [die Fachbegriffe] dienen: der Definition, d.h. der sprachlichen Eingrenzung, Festlegung und Bezeichnung eines gemeinten Sachverhaltens (Nominadefinition), der Reflexion, d.h. der gedanklichen Be- und Verarbeitung des definierten Sachverhaltes, der Kommunikation, d.h. der sprachlichen Mitteilung und Verständigung über diesen Sachverhalt« (Gukenbiehl 2010:14). 12 Vgl. auch Soeffner (2000a). Einen knappen Überblick über Entstehung, Wandel und Kritik am Kulturbegriff gibt z.B. Straub (2007). Zu verschiedenen Kulturtheorien der Gegenwart s. auch Moebius/Quadflieg (2011). 13 Geschichte, aber auch die territoriale Gebundenheit waren bereits bei der Systematisierung der sozialen Wirklichkeit sowie des Wissens (Kategorisierung, Typologisierung etc.) für Herodot unabdingbar und bildeten die zentralen Bestandteile von »Historien«.
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Multikulturalismus im Diskurs
1993; Esser 1988; Nassehi 1995; Baumann 1992; Hahn 1994). Auf Grundlage dieser Konzeption »werden ungünstigerweise ›Kulturen‹ miteinander verglichen oder nebeneinander dargestellt, als handelte es sich bei ihnen um historische Individuen« (Soeffner 2000:155; s. auch Soeffner 1995; Matthes 1992). Die Problematik des Kulturvergleiches steht in den Sozialwissenschaften in der langen Tradition einer »uneinheitlichen Praxis mit einer unübersehbaren Literatur (…), die sich in verschiedenen Fragen verliert und nur noch in ihrer regionalen, thematischen, disziplinären und anderen Spezialisierungen zu erfassen ist« (Tenbruck 1992: 15). Einer der ältesten groß angelegten Kulturvergleiche findet sich sicherlich bei dem bereits erwähnten Herodot. Seine »Historien« baute Herodot auf dem Prinzip der Differenz auf, indem er das gesamte Werk als einen allgemeinen Vergleich zwischen der griechischen Welt auf der einen und der (barbarisch-)orientalischen auf der anderen Seite begriff (vgl. Müller 1997: 124). Das Prinzip der Differenzsetzung erhob Herodot auch zum Erkenntnis- und Beobachtungsstil seiner vergleichenden Analyse, und zwar soweit, dass er ab einem gewissen Punkt nur diejenigen Gegebenheiten und Geschichten wiedergab, welche ihm ungewöhnlich oder einzigartig erschienen. So schrieb er beispielsweise über die Lykier: »Ihre Sitten sind teils kretisch, teils karisch, doch haben sie einen eigenen Brauch, der sonst nirgends auf der Welt zu beobachten ist: sie nennen sich nämlich nach ihren Müttern und nicht ihren Vätern.« (Herodot I 73) Da Herodot vor allem das Abweichende interessierte, versuchte er gleichzeitig, eine Vereinheitlichung des Eigenen zu umgehen. Auch wenn er beispielsweise bei der Bestimmung eines Volkes die gemeinsame Abstammung als wichtig betrachtet, war ihm durchaus bewusst, dass sogar seine eigene griechische Nation, die er als Vorreiter der Zivilisation ansah, »zu einer Menge von Stämmen angewachsen (ist), vor allem da viele zu ihm gestoßen sind, und zwar viele […] Barbarenstämme« (Herodot I 58). Nicht nur der Bestimmung und Beschreibung, sondern gerade auch der Übertragung bestimmter sittlicher und materieller Kulturformen widmet Herodot viel Aufmerksamkeit. Das Neue kommt demzufolge durch Erfindungen einzelner Individuen zustande – wie die Erfindung des Eisenlötens durch Glaukos von Chios (ebenda: I 25) – sowie durch Erfindungen ganzer Völker. Demzufolge sollen die Lyder zuerst Gold- und Silbermünzen geschlagen haben (ebenda: I 94). Von Ägyptern stammen diverse Tempelbauten, Altäre und Standbilder, welche in Stein gehauen waren, sowie die Kunst der Geometrie (ebenda: II 4, 49, 58). Die Babylonier stellten – auf Grundlage der Einteilung des Jahres in 12 Monate durch die Ägypter – die ersten Sonnenuhren her und ordneten die Tageszeit den entsprechenden 12 Abschnitten zu (ebenda: II 109). Die Liste der von den engen Nachbarn entlehnten oder im Zuge der Wanderung auf entfernte Gruppen übertragenen Erfindungen ist lang (s. ausführlich Müller 1997: 118f) und umfasst sowohl die Vermischung der
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Abstammung (Blutsverwandtschaft) durch Heirat als auch die Übertragung von Wissen und den Austausch von materiellen Gütern.14 Während die Differenzsetzung zum Hauptkriterium der Systematik von Herodot gehört, und während er sich von eigenen Reisen sowie von den Erzählungen anderer Fernreisender zu den Differenzierungen veranlasst gefühlt hatte – wobei er immer wieder seine Informanten namentlich nannte – kommt in den klassischen Arbeiten der soziologischen Theorie der »Andere« als der »aus der Fremde Kommende« zur Sprache (s.u.a. Simmel 1908; Schütz 1972, Park 1928, Stonequist 1937). Mit der territorialen Gebundenheit der Sozialfigur des Fremden kommt es zu seiner idealtypischen Besetzung durch den Migranten, welche durch ethnische und vor allem herkunftsbezogene Kategorien durchdekliniert wird (s. Simmel 1908; Park 1928; Stonequist 1937; Schütz 1972). In diesem Kontext entstand auch die Fremdheitsforschung als Migrationsforschung (vgl. Boldt 2012:51ff), und in eben diesem Kontext entwickelt sich bis heute ein Großteil der Kulturdebatten – nicht nur im deutschsprachigen Raum – zu Zuwanderungsdebatten.15 Seit den ersten soziologischen Studien, die sich mit Migrationsprozessen als Handlungsphänomenen in sich verändernden gesellschaftlichen Ordnungen beschäftigen, nimmt die Migrationsforschung auch aktiv an der Identitätsdebatte teil. Die in dieser Tradition entstandene Studie über polnische Migranten, »The Polish Peasant in Europe and America« von William I. Thomas und Florian Znaniecki (erschienen 1918-1920) untersucht Wanderungsprozesse empirisch anhand der Arbeitsmigration aus Polen in die USA und der Pendelwanderung nach Deutschland Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Studie hat den Anspruch, Migration als komplexen Prozess zu begreifen, indem sie einen direkten Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Vorgängen im Herkunftsland und den Kontexten am Ankunftsort herstellt, an dem die Individuen weitreichende soziale Wandlungen erfahren, die wiederum ihre Lebensorganisation beeinflussen. Thomas und Znaniecki vertreten die These, dass Personen, die aus sich stark verändernden sozialen Ordnungen herausgelöst werden, neue Haltungen im Umgang mit ihrer sich verändernden sozialen Welt entwickeln. Zu diesen Veränderungen gehören Desorganisationserscheinungen in den traditionellen Familien- und Gemeindestrukturen, aber auch in den Geschlechterbeziehungen. Diese neuen Haltungen der sozialen Welt gegenüber beeinflussen ihrerseits die 14 Zu den ›Kulturvermittlern‹ gehörten dabei in der Antike vor allem Reisende, Händler sowie Matrosen und Künstler. 15 Dabei wird freilich oft übersehen – was im empirischen Teil dieses Buches deutlich gezeigt wird – dass die sozio-ökonomischen Fragen durch die Kulturalisierung der Diskurse um die Zuwanderung verschleiert werden (s. Kapitel3).
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Wandlungsprozesse der sozialen und institutionellen Organisation innerhalb der Herkunfts- und Ankunftskontexte. Daneben lassen sich die theoretischen Grundlagen für die Betrachtung des Phänomens der Migration und Identität auf Georg Simmel zurückführen, wie er sie in seinem Aufsatz »Exkurs über den Fremden« von 1908 darlegte. Die Figur des Fremden als typischer Migrant dient Simmel dazu, die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft zu beschreiben. Das Verhältnis zum Raum wird hier als Beziehung zwischen Fixierung auf Raum einerseits und die Loslösung von Raum durch den Wandernden andererseits thematisiert. Jedoch: »Es ist hier der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt« (Simmel 1908: 509). Die Figur des Fremden, oder, um in der Terminologie Simmels zu bleiben, »die Konstellation« des Fremden ist durch die Einheit von Nähe und Entferntheit in jeglichem Verhältnis zwischen Menschen geprägt. Die Träger von Fremdheit, die Simmel am Beispiel von Händlern darstellt, werden »eigentlich nicht als Individuen, sondern als die Fremden eines bestimmten Typus überhaupt wahrgenommen […], so wie der Jude seine soziale Position als Jude hatte, nicht als Träger bestimmter sachlicher Inhalte« (ebenda: 510, 512). Simmel nimmt in seinem Aufsatz allerdings nicht den Blickwinkel des Fremden ein, sondern den der sesshaften Gruppe, die einen Fremden zur Definierung ihrer eigenen Identität benötigt. Er verortet deshalb die Figur des Fremden auch nicht außerhalb der Gruppe, sondern konsequenterweise als konstitutives Element der Gruppe selbst (ebenda: 510). Das Phänomen des Fremden wurde des Weiteren von zwei wichtigen Vertretern der Chicagoer Schule, Robert Ezra Park und Everett V. Stonequist, als Figur des marginal man diskutiert. Park positioniert diese Figur im Spannungsfeld eines konfliktreichen Aufeinandertreffens der Kulturen; er betrachtet diese Auseinandersetzung vor darwinistischem Hintergrund und gibt ihr eine ethnische Bedeutung (Park 1928). Marginal man steht bei Park für den unabdingbaren ethnischen Konflikt, der sich am deutlichsten im Migrationsgeschehen konkretisiert. Mit Blick auf das Phänomen der Migrationsbiographie spricht Park über Zerrissenheit oder über das divided self, das für den Konflikt zwischen der alten und der neuen Kultur steht. Stonequist setzt diese Überlegungen fort und beschäftigt sich vor allem mit der dynamischen Strukturierung der vom marginal man erlebten Erfahrungen. Seiner Ansicht nach können wir insbesondere im Hinblick auf Migrations-, aber auch auf Ausgrenzungs- und Rassismuserfahrungen (auch zwischen Gruppen, die auf demselben Territorium leben) von einem Konfliktpotenzial ausgehen, das Verunsicherung und Veränderung der Organisation von Identitäten mit sich bringt. In ähnlicher Weise hat in der phänomenologisch‐wissenssoziologischen Konzeption Alfred Schütz den Blick auf »die typische Situation […], in der sich ein Fremder befindet, der versucht, sein Verhältnis zu Zivilisation und Kultur einer
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sozialen Gruppe zu bestimmen und sich in ihr neu zurechtzufinden«, gerichtet (Schütz 1972: 53). Dabei übernimmt Schütz die Perspektive des Fremden, der den Willen zeigt, sich innerhalb der neuen Gruppe selbst neu zu orientieren und einzugliedern. Diese Erfahrung als typische Migrationserfahrung, deren Gültigkeit jedoch keineswegs auf diesen speziellen Fall der Migration beschränkt ist, definiert Schütz in Anlehnung an die Chicagoer Schule ebenfalls als »Krise«, die »den Fluss der Gewohnheiten unterbricht und die Bedingungen sowohl des Bewusstseins wie auch der Praxis ändert; oder wie wir sagen, sie stürzt die aktuellen Relevanzsysteme mit einem Mal um« (in Anlehnung an W. I. Thomas, Schütz 1972: 59). Schütz interessiert vor allem der Prozess der Annäherung, der innerhalb einer solchen Krise stattfindet, die Situation, die »jeder sozialen Anpassung vorhergeht und deren Voraussetzungen enthält« (ebenda: 54). Dabei gilt, dass die Menschen, die an diesem Prozess teilnehmen und diesen mitgestalten, als Handelnde wahrgenommen werden, die ihr Handeln in eigenen, für diese Handlung relevanten Begriffen organisieren. Die Organisation der Handlung verläuft innerhalb eines bestimmten Wahrnehmungsfeldes, in das nur die für die Handlung relevanten Ereignisse oder Elemente schrittweise zu einer Gestalt eingeschlossen werden. Somit ist »das Wissen des Menschen, der in der Welt seines täglichen Lebens handelt und denkt, nicht homogen […]; es ist erstens inkohärent, zweitens nur teilweise klar und drittens nicht frei von Widersprüchen« (ebenda: 56). Vor diesem Hintergrund wird die Krise als Unterbrechung der Routine des Alltagswissens, des »Denkens‐wieüblich«, typisch für die Erfahrung der Figur des Fremden in Gesellschaften. Der Fremde begreift aufgrund seiner eigenen individuellen Krise die Regeln der Organisation der neuen Gesellschaft, der er sich nähert, nicht als selbstverständlich; er stellt sie in Frage. Im Laufe der Zeit und im Prozess der Annäherung an die neue Gruppe verändert sich das Relevanzsystem des Fremden. Vom Beobachter wird er zum »Möchte‐gern-Mitglied«, das zunächst die Regeln der neuen Gruppe nach seinem alten Relevanzsystem auszulegen versucht. Dabei stößt er an die Grenzen seines alten Denksystems. Im Prozess der neuen Ordnung des Verstehens belebt er die Segmente des Wissenssystems der neuen Gruppe, deren Mitglied er zu werden bestrebt ist. Er füllt diese Wissenssegmente mit Handlungen und verändert somit seine eigene Position innerhalb der Gruppe. Dabei geht Schütz davon aus, dass im Rahmen dieses Prozesses eine bestimmte Transformation von »Sinnhorizonten« (nach William Jamesʼ fringes) bei dem Fremden stattfindet, in deren Kontext die neuen Orientierungsregeln für die Bewältigung des Alltags und somit für die Herausbildung des neuen »Denkens‐wie-üblich« entstehen. Die Wiederherstellung der Routine des Alltags steht im Mittelpunkt des Prozesses der sozialen Assimilation, so Schütz, indem sich die Position des Fremden innerhalb der neuen Gruppe verändert und indem »der Fremde kein Fremder mehr ist« (Schütz 1972: 69). Das Konzept der Krise von Schütz weist Analogien zum Ansatz des turning point bei Anselm Strauss (1959) auf. Straussʼ Überlegungen zur Transformation der Iden-
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tität befassen sich mit dem Phänomen der persönlichen Veränderung und Entwicklung (ebenda: 91). Der Autor geht davon aus, dass: »People are more or less developed along certain lines or in regard to certain tasks. […] The metaphor assumes fixed goals or norms against which the aspirantsʼ movements can be chartered. The movement may be conceived as a series of stages or as steps along a continuum. […] Development (or the relations between ›performance and change‹, between ›before and after‹) may be conceptualized as a series of related transformations […] [in which] a person becomes something other than he once was« (ebenda: 92ff.). Innerhalb des Transformationsprozesses, den die Person durchlebt, wird die Verschiebung der Definition vom Selbst und vom Anderen vollzogen. Diese Verschiebung, die auf der Wahrnehmungsebene (perception) stattfindet, ist von wichtigen Ereignissen, von Strauss turning points genannt, gekennzeichnet, und sie ist irreversibel: »One can look back, but he can evaluate only from his new situation« (ebenda: 94). Um das Phänomen der Identitätstransformation verständlich zu machen, spricht Strauss wiederum über Migrationsbiographien, die typischerweise vom turning point gekennzeichnet sind. Der turning point wird zunächst von kritischen Ereignissen gekennzeichnet, »[by those] that occur to force a person to recognize that ›I’m not the same as I was, as I used to be‹« (ebenda: 95). Diese Ereignisse werden von Erfahrungen wie »misalignment – surprise, shock, chagrin, anxiety, tension, baffelment, and self‐questioning« begleitet (ebenda: 95). Durch das Erlebnis des turning points sucht die Person nach einem neuen Selbst, um das neu Erlebte zu verstehen und als sinnvoll einzuordnen, oder, anders gesagt, um der neuen Erfahrung einen Sinn zu verleihen. Strauss stellt der Vorstellung einer stabilen Identität sein Konzept der »Struktur der Transformation« kritisch gegenüber (ebenda: 143), wobei er sich auf Erikson bezieht (Erikson 1956). Um den Prozess der Transformation einzuordnen, betont Strauss die Temporalität der Identitätsveränderung und deren Verortung in der Zeit (vgl. Strauss 1959: 126). Aus dieser Perspektive rücken die Strukturiertheit und der sich in Schritten vollziehende Verlauf der Transformation in den Vordergrund seiner Überlegungen. Der Autor geht diesem Prozess nach, der aus aufeinander aufbauenden Phasen entsteht, und beschreibt dessen innere Ordnung und Struktur, wobei er eine Typisierung des Phänomens vorschlägt, die jedoch meines Erachtens nicht ausreichend ist. Die von Strauss angebotenen institutionalisierten Formen des Transformationsverlaufs (zum Beispiel der zeremonielle Charakter der Konvertierung oder institutionalisierte Passagen der Statusveränderung im Ar-
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beitsfeld) geben nur Einblicke in einige wenige Felder, in welchen die Veränderung der Identität stattfinden kann.16 Die Aufhebung der Konzeptualisierung von Identität als naturalistisch oder psychologisch vorhandener Entitäten sozialer Wirklichkeit durchdringt die Arbeiten einiger Vertreter der Chicagoer Schule (s.u.a. Blumer 1969; Goffman 1959; Mead 1934). Die drei Prinzipien des symbolischen Interaktionismus, dass menschliche Wesen anhand der Bedeutung der Dinge mit diesen Dingen in Interaktion treten, dass die Bedeutungen aus interaktiv gestalteten Erfahrungen mit den Dingen und anderen Menschen stammen und dass die Bedeutungen nicht statisch, sondern veränderbar und interpretativ sind, bilden die theoretische Grundlage für die symbolisch‐interaktionistische Konzipierung von Identität (vgl. Blumer 1969: 2). Mead verlagerte die Überlegungen über Identität von der psychologisch‐individualistischen auf die sozial‐behavioristische Ebene (Mead 1934). Sein Konzept des »taking the role of the other« impliziert den interaktiven Charakter von Identitätskonstruktionen, die auf der bewussten kommunikativen Ebene im Rahmen jedweder sozialen Interaktion in der »conversation of gestures« entstehen. Um diesen Prozess nachvollziehbar zu machen, schlägt der Autor in seinem berühmten Werk »Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist« drei zentrale Begriffe vor: self, me und I, die in einem kommunikativen Verhältnis zueinander stehen. Self realisiert sich im kommunikativen Interaktionsprozess als ein kognitiver Akt, als umfassende soziale Konstruktion der symbolischen Bedeutungszuweisung im Identifikationsprozess. Dabei unterscheidet Mead zwischen zwei Hauptinteraktionsprozessen, die er als play und game bezeichnet. Der fundamentale Unterschied zwischen play und game besteht darin, dass play nur zwischen einzelnen Individuen stattfindet, während im game alle möglichen vielfältigen Akteure miteinbezogen sein können. Aus der Interaktion mit mehreren Gegenübern im game erwachsen Verallgemeinerungen, die Charakteristika herausbilden, die vermeintlich auf Gruppenzugehörigkeit hinweisen. Auf diese Art und Weise entsteht das sogenannte generalized other. »One is putting himself in the place of generalized other, which represents the organized responses of all the members of the group.« (ebenda: 162) In diesem Prozess der Identifikation von sich Selbst und den Anderen als zu unterschiedlichen Gruppen Zugehörigen erhält die soziale Interaktion nach Mead eine kollektive Bedeutung. 16 In Anlehnung an Anselm Strauss hat Fritz Schütze in Deutschland den Prozess der Krise in Form einer »Verlaufskurve« am deutlichsten herausgearbeitet (Schütze 1979, 1980a, 1995; Riemann/Schütze 1991). Schütze konzipiert die Verlaufskurve als ein Erzählschema und geht davon aus, dass Erzählprozesse kognitive Prozesse sind, die die Erlebnisse der Menschen widerspiegeln.
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Auf dem relationalen Verhältnis basieren auch diejenigen theoretischen Ansätze, welche die kollektive Produktion von Identitätskonstruktionen in den Blick nehmen. In der Zwischenzeit wird kaum mehr davon ausgegangen, dass Menschen statischen, intrinsisch homogenen Gruppen angehören. Vielmehr wird von einer prozesshaften, immer wieder in Fluss geratenen Konstruktion von Identitäten durch symbolische Formung (Soeffner 2010) und semantische, diskursive Konstellationen (Wodak et al. 1999) ausgegangen. Der diskursiven Konstruktion von nationalen Identitäten liegt eine komplexe Verflechtung gegenseitiger Konstitutionszusammenhänge im politischen Machtgefüge zugrunde. Zentral sind für diese Konzeptualisierung die Begriffe der Narration und des Diskurses. Benedict Anderson zufolge unterscheiden sich Nationen nicht hinsichtlich ihrer »Authentizität« voneinander, sondern in Hinblick darauf, wie sie sich selbst imaginieren (Anderson 1983: 15ff). Wodak legt den Fokus auf die Art und Weise, in welcher sich diese Vorstellungen in diversen diskursiven Strategien niederschlagen.17 Die diskursive Identitätsherstellung verläuft entlang der Festlegung der Inhalte, Etablierung narrativer Strategien und Formen der Verfestigung kultureller Repräsentationen (Wodak et al. 1999: 30ff). Das gesamte Repertoire wird von diversen Akteuren und Akteursgruppen in verschiedenen Medien und Genres in einer Vielfalt von politischen, künstlerischen, wissenschaftlichen u.ä. Arenen produziert. Ronald Hitzler und Jessica Pahl schlagen die Systematisierung sozialwissenschaftlicher Ansätze über die Fremdheit entlang der Begriffe der Differenz und Indifferenz vor (Hitzler/Pahl 2014). Die Indifferenz zeigt sich in der Universalisierung der Fremdheit. Fremdheit wird zu einem universellen und damit normalen, alltäglichen und zugleich bekannten Phänomen moderner Gesellschaften (s. Hahn 1994; Stichweh 1997; Hirschauer 1999; Nassehi 1995; Baumann 1992). Der Fremde ist hier nicht radikal oder maximal fremd (s. Schetsche 2004), sondern anders, dabei jedoch mir auch ähnlich. Dieser Fremde verhilft dem Einzelnen dazu, sich seiner subjektiven Wirklichkeit zu versichern (s. Berger/Luckmann 1969/2004: 161f.). Die Differenzierung der Fremdheit dagegen zeigt sich in den randständigen sozialen Außenseiter-Figuren, welche sowohl von Ausländern (s. Hahn 1994), Zugezogenen (s. Elias/Scotson 1993), als auch von denjenigen Menschen, die ein deviantes, abweichendes Verhalten präsentieren, wie z.B. Kriminelle, Prostituierte, Drogensüchtige u.Ä. (z.B. Girtler 1995, 2006, Lamnek 1979, 1994) besetzt werden können. Hinzu kommen weitere ›Grenzgänger‹, Inter- und Transsexuelle (s. Kraß 2003; Lindemann 1993; Reuter 2003) sowie Transmigranten (s. Pries 1998), welche nicht dauerhaft bleiben, sondern dauerhaft wandern und somit eine Zwischensphäre besetzen (s. Merz-Benz/Wagner 2002). Eine weitere Systematisierung bietet Hubert Knoblauch, wenn er zwischen Alienität und Alterität unterscheidet (Knoblauch 2007). Alterität besagt, dass der 17 Die Methode der kritischen Diskursanalyse nach Wodak wird im Kapitel1.2 erläutert.
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Fremde als ein alter ego, also prinzipiell als ein »Ähnlicher«, als ein sonstiger Anderer bezeichnet werden kann, wohingegen bei der Alienität von einem völlig Unbekannten ausgegangen werden soll, einem maximal Fremden (s. Schetsche 2004). In Alienität und Alterität sieht Knoblauch »Grundmuster nicht der Kultur, sondern Grundmuster dafür, wie wir Kultur und kulturelle Differenz sozial konstruieren. Kulturelle Differenzen sind also nicht zuvörderst Differenzen der Kultur – schon gar nicht in einer äußerst differenzierten Gesellschaft. Es sind Differenzen in der Art, wie mit Anderen umgegangen wird – eben als Ähnlichen oder als ganz Anderen« (Knoblauch 2007: 38).
1.1.2
Diffusität und Wandlung der Begriffe
Betrachtet man die Entstehung und Entwicklung des Identitätskonzepts, lässt sich die Veränderung seiner wissenschaftlichen Definition im Übergang von traditionellen zu modernen Gesellschaften nachverfolgen (vgl. Dittrich/Radtke 1990: 24). Die Transformation der Bedeutung von Identität zwischen diesen zwei Gesellschaftsformen wird als Wandlung von der vorgegebenen und zugewiesenen hin zur individuell selbst bestimmten Identität der Subjekte in mehreren Arbeiten beschrieben (s. Mead 1934; Krappmann 1973; Habermas 1968; Luckmann 1979; Schimank 1988; Nassehi/Weber 1990; Keupp 1994). Die Konzipierung der Identität wurde in konsequenter Fortsetzung des Identitätsdiskurses insofern dekonstruiert, als die kartesianisch‐essentialistische Vorstellung vom integralen, unifizierten, sich selbst erhaltenden Subjekt der Identität nicht mehr ausreichte, um die Prozesse der Postmoderne nachzuvollziehen. Derrida folgend wird jedoch das Konzept der Identität von mehreren Wissenschaftlern weiter verwendet, gleichzeitig aber als ein erodierender Begriff operationalisiert, weil sie Identität als eine Idee begreifen, die zwar nicht mehr in der veralteten Art und Weise gedacht werden kann, ohne die aber bestimmte wissenschaftliche Fragen der Gegenwart nicht konzipiert werden können (s. Hall 1996). Die quer über die unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen verbreitete Verwendung des Identitätsbegriffes zeigt die Diffusität der Konzipierung des Phänomens. Die begriffliche Verallgemeinerung von Identität führt zu einer Ausdehnung der Definition, die das Verstehen und die analytische Ausarbeitung erschwert (s. Brubaker 1956). In den Politik- und Sozialwissenschaften wird Identität im weitesten Sinne als Grundlage jeglicher politischer und sozialer Handlung verstanden. Aus dieser Perspektive betrachtet wird sie zum Ausgangspunkt der Erklärung und des Verstehens jedweder alltäglicher Handlung (s. etwa Berger 1974; Cohen 1985; Somers 1994). Innerhalb der psychoanalytisch geprägten sozialwissenschaftlichen Literatur haben wir es mit Identität in ihrem »tiefen« Verständnis zu tun. Hier wird sie als unabdingbar für das menschliche Wesen verstanden und als jedem Individuum inhärent angesehen (s. Erikson 1956, 1968, 1982). Der Be-
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griff Identität als kollektives Phänomen setzt die fundamentale und konsequente Gleichheit aller beteiligten Akteure voraus und begründet diese entweder objektiv (auf bestimmte zu objektivierende Merkmale zurückführend) oder subjektiv (gefühlt, erlebt usw.).18 Über eine multidimensionale Konzipierung von Identität sprechen die Wissenschaftler, wenn sie – dem post‐strukturalistischen Verständnis von Foucaults Werk folgend – Identität als ein sich unter dem Einfluss konkurrierender Diskurse flüchtig und brüchig herausbildendes Produkt verstehen. Die Annahme, dass Menschen zu unterschiedlichen Kulturen gehören bzw. eine Kultur miteinander teilen, wurde bereits von Max Weber in Frage gestellt. Weber geht demnach nicht von unterschiedlichen Kulturen oder Kulturkreisen aus, sondern davon, dass wir als »Kulturmenschen über die Fähigkeit und den Willen verfügen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn verleihen« (Weber 1904/1973: 223). Das ist – wie an mehreren Stellen von Hans-Georg Soeffner betont wird – eine anthropologische Konstante, ein Teil unserer conditio humana (Soeffner 2018: 41). Dieser »Zwang zur Deutung« (Soeffner 2010: 21ff) bildet auch die notwendige Grundlage für die Konstruktion »geglaubter Gemeinschaften« (Weber 1922), wie beispielsweise Nationen, also für etwas, das Benedict Anderson später »imagined communities« nannte (Anderson 1983).19 Gellner fügt die folgende Erkenntnis hinzu: »Nationalism is not the awakening of nations to self‐conciousness: it invents nations where they do not exist« (Gellner 1965: 169, Hervorhebung durch TDB). Die kollektiv geteilten Vorstellungen sind insofern machtvoll, als sie bestimmte Handlungen einleiten und zur Herausbildung von Alltagsstrukturen sowie Institutionen führen können, welche der Absicherung und Verfestigung symbolisch und sprachlich vermittelter Wissensbestände in routinisierten und ritualisierten Abläufen ermöglichen (s. Berger/Luckmann 1969). Ein einheitlicher, statischer, geographisch gebundener und volksorientierter Kulturbegriff ist seit den 1960er-Jahren kontinuierlich in Frage gestellt worden. Der sich fachübergreifend, entlang verschiedener cultural turns vollziehenden Kritik verdankt der Kulturbegriff sowohl seine Dynamisierung als auch – wie Jürgen Straub anmerkt – ironischerweise die Fortsetzung seiner andauernden Karriere, die zwischen dem Postulat der Abschaffung des Begriffs aufgrund seiner Diffusität und der Ausdifferenzierung seiner Teilbereiche verläuft (vgl. Straub 2007:7-24). Ob linguistic, interpretive, performative, reflexive, postcolonial, translational, spacial und schließlich iconic/pictorial turn, all diese Wendepunkte markieren eine kritische Auseinandersetzung mit den Vorstellungen über die Strukturierungsprinzipien von 18 Diese Art von Identität spielt damit eine entscheidende Rolle etwa in der Literatur zur sozialen Bewegung (Melucci 1995; Isaak 1975). 19 »It is imagined because the members even of the smallest nation will never know most of their fellow‐members, meet them, or even hear of them, yet in the minds of each lives the image of their communion.« (Anderson 1983/2006: 6, s. auch Seton-Watson 1977: 5).
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gesellschaftlichen Formationen, die mit der Transformation der Begriffskategorie Kultur und mit den Kulturtheorien verbunden sind (s. hierzu Bachmann-Medick 2006). Kultur als Text, Symbolsystem, Kommunikation, Differenz, Kultur in Bezug auf den sozio‐politischen Raum und auf Institutionen oder als Diskurs, im Alltag, als Sinn- und Handlungszusammenhang – die Bedeutung des Begriffes Kultur hängt vom Paradigma der Annäherung an einen unterschiedlich definierten Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit ab20 bzw. davon, »wer was oder wen unter welcher Perspektive betrachtet« (Soeffner 2000:156). Je nachdem, ob diese Paradigmen Kulturen aus der Vogelperspektive als ›objektive‹ Gebilde oder aus der Perspektive der sozialen Akteure als ›subjektiv‹ erschließen, entsteht zwischen den zwei Polen des Kulturdiskurses – entweder werden Menschen als Kulturprodukte oder Kultur als Konstruktion begriffen, die durch sinnhaftes menschliches Handeln entsteht – eine große Bandbreite von verschiedenen konzeptionellen Vorschlägen.21 Disziplin- und paradigmenübergreifend brachten die Kritik und der Wandel des Kulturbegriffes neue Begriffskategorien mit sich, die Karriere machen, weil sie den Eindruck vermitteln, sie stünden für eine neue Erkenntnis, obwohl – oder sogar weil – nicht erkennbar ist, worin diese Erkenntnis besteht. Insgesamt hat sich die Meinung durchgesetzt, dass unter den Bedingungen der Globalisierung, der (immer weiter anwachsenden) transnationalen Mobilität sowie der digitalen Mediatisierung Kulturen weder als territorial gebunden noch als homogen definiert werden können. Die prozesshafte Verflechtung unterschiedlicher Faktoren erzeugt unabdingbar neue, auch »glokale« (Robertson 1998) Konstellationen, die unter dem (Ein)Druck der rasanten Beschleunigung, der neuen Herausforderungen des Klimawandels, des Flexibilitätsdispositivs im Kontext von prekären Arbeitsverhältnissen (s. Sennett 1998) und im Zuge der Erosion nicht mehr funktionierender politischer Systeme sich dem einen als »Späte« oder »Zweite Moderne« (Beck 1986, 2008), und dem anderen als »Neue Unübersichtlichkeit« darbieten (Habermas 1985). Trotz der Einsicht in die neuen Konstellationen sollten jedoch die räumlichen und kulturellen Verflechtungen, die sich bereits in den vergangenen Epochen entfaltet haben, nicht unterschätzt werden (s. etwa Soeffner 1995, 2000, 2007). Denn in der Dramatisierung der Unterschiede zwischen »damals« und »heute« liege die Gefahr, die Isolation, die Homogenität sowie die territoriale Gebundenheit früherer Kulturen zu stark zu betonen (vgl. Hannerz 1995:69).22 20 In Anlehnung an Max Weber: »›Kultur‹ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.« Weber (1904/1988:180). 21 In Anlehnung an Soeffner (2000) u. Knoblauch (2007). S. hierzu auch etwa Weber (1904 (1988)), Geertz (1975, 1987, 1996), Hall (1999), Hannerz (1995), Huntington (1997), Luckmann (1999), Müller (2003). 22 Auch heutzutage gibt es räumlich gebundene Gesellschaften, die in klar definierten, seit Jahrzehnten kaum veränderten Grenzen leben, einem einheitlichen religiösen System verpflich-
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Die Gleichzeitigkeit des Auftretens von unterschiedlichen, sich teilweise gegenseitig widersprechenden Tendenzen im Bereich der Theorie sowie der Empirie scheint für die Entwicklung sowohl von Kulturtheorien als auch von Gesellschaften symptomatisch zu sein. In Hinblick auf die Pluralisierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit haben wir es gegenwärtig mit transnationalen Systemen zu tun, die vor der Herausforderung des ›sowohl als auch‹ von Diversität und Einheit stehen: vor dem Paradox also, die Heterogenität gleichzeitig bewahren und überwinden zu sollen. Nicht nur die Europäische Union unternimmt mit dem Motto »United in Diversity« den Versuch, die Diversität zu repräsentieren und gleichzeitig eine Einheit zu schaffen. Auch pluralistische Nationalstaaten stehen vor dieser Herausforderung. Vor ähnlichen Problemen, »ein Weltreich gründen und erhalten zu wollen und dabei dennoch die kulturelle Vielfalt der darin zusammengefassten unterschiedlichen Völker, Religionsgemeinschaften und Traditionen zu erhalten, standen schon frühere Imperien. Beispielhaft erinnert sei sowohl an das Römische Reich als auch an das Reich Kubilai Khans, des mongolischen Herrschers auf dem chinesischen Kaiserthron (1215-1294, ab 1260 chinesischer Kaiser)« (Soeffner 2007:106). Die gegenwärtig zu beobachtenden Prozesse der fortschreitenden Pluralisierung sind zwar von den früheren durch ihren Entstehungskontext grundsätzlich zu unterscheiden, das ›sowohl als auch‹ von Diversität und Einheit gibt es jedoch nach wie vor. Die neuen Konstellationen und Rahmenbedingungen bringen neue »Figurationen« (Elias 2003) hervor, die zu einer neuen Konzeption für altbekannte Probleme führen. Dies verlangt von uns, alte Fragestellungen des Kulturverstehens und Kulturvergleiches, der Kulturbewahrung und Kulturverschränkung, der Alterität und Alienität neu zu akzentuieren und uns gleichzeitig daran zu erinnern, dass im Gefolge der Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts die universalhermeneutische Fragestellung vernachlässigt, wenn nicht sogar vergessen wurde. tet sind, eine überwiegend indigene Bevölkerung mit geringen Migrationsströmen aufweisen und auf die Bewahrung ihrer Sitten achten, wobei sie einen Modernisierungs- und Demokratisierungsprozess durchlaufen, wie z.B. Bhutan. Die Ethnologie liefert hierzu weitere Beispiele. In seinem neusten Buch »Vermächtnis« stellt der amerikanische Kulturanthropologe Jared Diamond Stammgesellschaften aus Papua-Neuguinea dar, die Jahrtausende lang bis in die 1960erJahre hinein in geschlossenen, räumlich gebundenen Systemen lebten, eine hohe Immunität gegenüber den systemischen Veränderungen aufwiesen und nur begrenzte Kenntnisse über die Außenwelt hatten. Wenn die Angehörigen eines Stammes auf Angehörige eines anderen Stammes trafen, begegneten sich im wahrsten Sinne des Wortes »Fremde«. Da der essentialistische Kulturbegriff aus der Untersuchung solcher Gesellschaftsformationen resultierte, geht er von Kulturen als voneinander getrennten Einheiten aus. S. hierzu etwa Müller 2003.
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1.1.3
Multikulturalität – Interkulturalität – Transkulturalität
Gegenwärtig finden sich eine ganze Reihe von neuen Begriffen, die auf die fortschreitende Pluralisierung von Gesellschaften reagieren und dem Postulat der Anerkennung wechselseitiger Verschränkung von Kulturen nachzugehen versuchen.23 Da sich Begriffe wie etwa Multikulturalität, Interkulturalität, Transkulturalität, Hybridität, u.Ä. oft einer theoretisch komplexen, aber auch der Konkretion beraubten Sprache bedienen, sind sie in Gefahr, den Problemen der uferlosen Vielfalt divergierender kultureller Erscheinungen durch leere Abstraktion zu begegnen (vgl. Soeffner 1995:12). Seitdem das Konzept der Multikulturalität wegen seiner mangelnden Fähigkeit, Probleme von postnationalen Einwanderungsgesellschaften adäquat darzustellen, in die Kritik geriet, tritt im öffentlich‐politischen Diskurs Interkultur in verschiedenen Variationen (wie etwa Interkulturalität, interkulturelles dies oder jenes) an dessen Stelle.24 In der Kritik am Multikulturalismus, als Begriff und als daran anknüpfender Politik, wird oft übersehen, dass es sich hierbei konzeptionell ursprünglich nicht darum handelte, nebeneinander existierende Kulturmuster zu stärken oder gar zu fördern, sondern vor allem darum, ein dezentriertes Kulturmodell für eine Gesellschaft ohne leitkulturellen Anspruch zu schaffen (vgl. Leggewie 1990; Leggewie/Stemmler 2011). Tully (2002) unterstreicht den liberalen, egalitaristischen Gedanken des Multikulturalismus, wobei Barry (2002) bezweifelt, ob Multikulturalismus, was die Etablierung von Gleichheit aller Akteure unter den Bedingungen der kulturellen Diversität angeht, den Liberalismus überholen kann. Modood (2007a) verweist darauf, dass die Gleichheit in multikulturellen Gesellschaften in der formalen sowie informalen Distribution der Macht liege – »not just in law, but in representation in the offices of the state, public committees, consultative exercises and access to public fora« (Meer/Modood 2012: 198). Hierfür sei eine entsprechende Veränderung in der Konstruktion nationaler Identität, die auf der Veränderung der Staatsangehörigkeitsregeln fußt, notwendig. Meer und Modood (2012) siedeln Multikulturalismus als politisches Projekt zwischen Derridas radikaler Sozialtheorie, Populärkultur (Gilroy 1993) und liberaler politischer Theorie als einer intellektuellen Tradition an. Gleichzeitig weisen sie darauf hin, dass der Begriff von einer Polysemie lebt, es sei ein »portmanteau 23 Den Begriff »Verschränkung« verdankt die Autorin der ethnologischen Arbeit an den »Moorwegen zwischen Hüben und Drüben« von Klaus Müller (Müller 2010, 2014) sowie der soziologischen Auffassung von Kulturverschränkung durch Hans-Georg Soeffner (2014). 24 In Erinnerung bleiben hier nach wie vor die Aussagen über das Ende des Multikulturalismus von Merkel, Sarkozy und Cameron, die im Jahr 2012 zur selben Zeit aus verschiedenen europäischen Machtzentren artikuliert wurden, um die nationalen Einflüsse im europäischen Raum zu stärken.
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term« (Bhabha 1998: 31), »one that encapsulates a variety of sometimes contested meanings« (Meer/Modood 2012: 179). An die Stelle des im Jahr 2012 totgesagten Multikulturalismuskonzeptes ist allmählich die Interkultur-Metapher getreten. Ihr Erklärungsgewinn gegenüber der unveränderten Problemlage ist auf den ersten Blick nicht leicht erkennbar. Meer und Modood erkennen folgende Unterschiede zwischen den beiden Konzepten: »[F]irst, as something greater than coexistence, […] interculturalism is allegedly more geared toward interaction and dialogue than multiculturalism. Second, […] interculturalism is conceived as something less ›groupist‹ or more yielding of synthesis than multiculturalism. Third, that interculturalism is something more committed to a stronger sense of the whole, in terms of such things as societal cohesion and national citizenship. Finally, that where multiculturalism may be illiberal and relativistic, interculturalism is more likely to lead to criticism of illiberal cultural practices (as part of the process of intercultural dialogue).« (Meer/Modood 2012: 177) Ein vorläufiger Blick auf den deutschsprachigen Forschungsstand zum Thema Interkultur legt nahe, dass sich diese Forschung wie schon zuvor auf die Probleme der Zuwanderungsgesellschaft fokussiert und verstärkt um die politischen Aspekte von pluralistischen Gesellschaften bemüht (s. etwa Kunz/Puhl 2011; Terkessidis 2010; Leggewie/Zifonun 2010). Hier wird noch einmal die Abhängigkeit der sozialwissenschaftlichen Disziplinen von der jeweiligen politischen Situation sichtbar. Was der Begriff Interkultur in diesem Zusammenhang leistet, ist die Stabilisierung der Abkehr von der Differenzdebatte als Defizitdiskurs und die Stärkung der Anerkennung der Potenziale von Migranten für den Aufbau einer integrierenden, pluralistischen Gesellschaft im Dialog (s. genauer Kapitel 3 und 4). Trotz seiner politischen Wirkungskraft steht der Begriff Interkultur also weiterhin vor der Problematik der scheinbaren Unüberwindbarkeit kultureller Differenz (s. Dreher/Stegmaier 2007). Durch den Fokus auf das »Zwischen den Kulturen« werden jedoch weder die methodologischen Kontroversen des Kulturvergleiches noch das theoretische Dilemma um die porösen Ränder der kaum klar voneinander abgrenzbaren, vermeintlichen kulturellen Einheiten aufgelöst, wie bereits von Tenbruck, Shimada, Matthes und anderen Wissenschaftlern deutlich gemacht wurden (s. Matthes 1992). Auch wenn der Schwerpunkt in einigen Arbeiten nicht auf die räumliche, sondern eher auf die soziale Distanz und die damit zusammenhängende Ungleichheit gelegt wird, scheint der Begriff der Interkultur durch die prinzipielle Betonung der Differenz paradoxerweise die Anomalien der Kulturdebatte wiederzubeleben, denen sie entgegenwirken könnte/wollte, woraus sich wei-
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tere Herausforderungen für die interkulturelle Forschungspraxis ergeben.25 Auch wenn einige Autoren im Zuge der Debatten der 1980er- und 1990er-Jahre durch die Gegenüberstellung von Interkultur als Prozess vs. Kultur als Substanz den essentialistischen Charakter des Kulturbegriffes an sich in Frage stellen und vom »sinnhaften Aufbau der sozialen Welt« (Schütz 1932) oder von der »gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit« (Berger/Luckmann 1969) ausgehen, steht in vielen anderen Arbeiten weiterhin die Annahme im Vordergrund, dass Menschen verschiedenen, weitgehend homogenen Kulturkreisen, die wiederum in Bezug auf die vermeintlich territorial gebundenen Herkunfts- und Ankunftskulturen konzipiert werden, zugehören. Trotz der weitgehenden Dynamisierung der Diskussion durch die Kritik am Leitkulturmodell, der Infragestellung des Integrationsbegriffes und der Kontroversen über neue Semantiken, wie etwa »Menschen mit Migrationshintergrund«, »Menschen mit Migrationsgeschichte« u. ä. wird weiterhin, etwa im Bereich der interkulturellen Kommunikation, eher vom Dialog zwischen den »Fremden« und den »Einheimischen« gesprochen,26 statt verstärkt auf Aspekte von »fremden Eigenheiten und eigenen Fremdheiten«27 einzugehen. Die gegenwärtige Forschung zur interkulturellen Kommunikation bildet insgesamt ein ebenso breites wie ambivalentes Feld, das von einer Vielzahl wissenschaftlicher Teilbereiche im interdisziplinären Austausch bearbeitet wird. Zu diesen Teilbereichen zählen beispielweise die interkulturelle Sprach- und Literaturwissenschaft, Pädagogik, Betriebs- und Unternehmensführung, Marketing, Philosophie, Sozialwissenschaft oder die neuere Kulturgeschichtsschreibung.28 Die Forschung zur interkulturellen Kommunikation oszilliert dabei zwischen kontrastiven und prozessorientierten Ansätzen (s. Schröer 2009:7). Während Erstere die sprachlichen Phänomene im Rahmen intrakultureller Kommunikation bestimmen, un25 S. den Sammelband von Bettmann und Roslon (2013), in dem erlebnisnahe Berichte über Probleme und Herausforderungen erprobter Verfahrenswege aus der interkulturellen Forschungspraxis – und zwar überwiegend aus einer qualitativ kommunikationssoziologischen Perspektive – zur Diskussion gestellt wurden. 26 Dieser bipolare Charakter ist sicherlich auch auf die akademischen Ursprünge des Fachbereichs in der Erforschung des Kontakts zwischen Nationen und ihren Repräsentanten zurückzuführen: Die wissenschaftliche Betätigung im Bereich der interkulturellen Kommunikation setzte in den 1960er-Jahren mit der Untersuchung internationaler Beziehungen durch amerikanische Kulturanthropologen im Auftrag des US-Außenministeriums ein. (Rogers et al. 2002:9f.) Anschließend wurde das neu etablierte Paradigma von der Migrationsforschung aufgegriffen, bevor es auch in Ethnographie und Sozialpsychologie Verwendung fand (vgl. Casper-Hehne 1999:85-91 u. Lüsebrink 2004:7). Die wachsende Bedeutung des Fachbereichs spiegelt sich auch in der Bildungslandschaft wieder: Allein in Deutschland bieten bereits 22 Hochschulen Studiengänge der interkulturellen Kommunikation mit unterschiedlichen Schwerpunkten an (siehe: www.studienwahl.de/hg. v. d. Bundesagentur für Arbeit). 27 Vgl. das gleichnamige DFG-Projekt von Ronald Kurt, Jo Reichertz und Norbert Schröer. 28 Für einen Überblick vgl. insbesondere Lüsebrink (2004) u. Straub et al. (2007).
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Multikulturalismus im Diskurs
tersuchen Letztere den interkulturellen Kommunikationsprozess (von Helmolt 1997 nach Schröer 2009:7f.). Im Englischen firmieren diese Ansätze mitunter auch unter den Bezeichnungen »cross‐cultural communication« und »intercultural communication« (Kotthoff und Spencer-Otay 2007:1). Beiden gemeinsam ist die Verwendungsweise des Adjektivs »interkulturell«. Das Präfix »inter« wird konsequent als »zwischen« verstanden (s. Thomas et al. 2010:41; Schröer 2009:7; Straub et al. 2007:1), während »Kultur« meist als »[…] system of sense‐giving/orientation characteristic to a nation, society, organization or group […]« (Thomas et al. 2010:85) aufgefasst wird. Die Zuschreibung der Eigenschaft »interkulturell« charakterisiert demnach eine Beziehung zwischen zwei oder mehreren Akteuren, die Vertreter unterschiedlicher Kulturmuster sind. »Interkulturell« wird damit von der Eigenschaft »intrakulturell« abgegrenzt, die Beziehungen zwischen Akteuren beschreibt, die das gleiche Kulturmuster vertreten. Im Gegensatz zum Homogenitätspostulat der älteren Forschung (s. etwa Casper-Hehne 1999:81ff; Rogers et al. 2002:11f) begreifen zeitgenössische Ansätze in der interkulturellen Kommunikation die Differenz zwischen »interkulturell« und »intrakulturell« nicht als qualitativen, sondern als graduellen Unterschied: »This view […] suggests that particular cultures should be thought of having fuzzy boundaries and that they can be identified in terms of indefinitely many various characteristics of social groups.« (Žegarac 2007:32). Das Problem einer bipolaren Differenz zwischen »dem Eigenen« auf der einen und »dem Fremden« auf der anderen Seite bleibt jedoch auch nach dieser begrifflichen Modifikation erhalten (vgl. Koch 2009). Die Befreiung des Kulturvergleiches von essentialistischen und territorialen Elementen stellt somit – trotz der Schaffung neuer Begriffe wie etwa dem der Interkultur – Forschung und Theoriebildung weiterhin vor beachtliche Herausforderungen. Ein weiteres Problem der Interkulturforschung, das weder durch die Multikultur- noch durch die Transkulturalitätsforschung hinreichend gelöst wurde, stellt der allgegenwärtige Bezug der Theoreme auf die Migrationsforschung dar. So werden Migrationsphänomene generell als Erscheinungsformen der global grenzüberschreitenden Pluralisierung diskutiert. Durch die Miteinbeziehung des für die Migrationsforschung typischen Repertoires an konzeptionellen Erklärungsweisen verfestigt sich, trotz der weitgehenden Überwindung von statistischen Identitätskonzepten sowie des Groupismus (Brubaker 1956), weiterhin der Eindruck, dass die kulturellen Zugehörigkeiten vor allem entlang der ethnischen und religiösen (Sinn)Zusammenhänge entwickelt werden, die wiederum im Kontext der Herkunfts- und Ankunftskultur (oder eben »dazwischen«) diskutiert werden. Diese Fokussierung führt zur Einschränkung der Diskussion über
1 Einleitung
die Diversität von Formen der Pluralisierung und der mit ihnen verbundenen Reaktionen: zu Fundamentalismen unterschiedlicher Couleur. Dieser Einschränkung versucht der Begriff der Transkulturalität zu begegnen. Auch er baut jedoch auf transnationalen Migrationsstudien auf (s. Kimmich und Schahadat 2012). So werden zu den Schlüsselbegriffen der Theoriebildung zur Transkulturalität Paul Gilroys Konzept vom »Black Atlantic«, Nina Glick-Schillers, Linda Baschs und Cristina Szanton-Blancs Definition des »Transmigranten« und Gayatri Spivaks Idee von der Grenzüberschreitung (crossing borders), gezählt (Kimmich und Schahadat 2012:10). Damit wird zwar einerseits die vom Konzept des Nationalstaates losgelöste Vorstellung vom Raum »zu einer Metapher für kulturelle Dynamik: durch Grenzüberschreitungen und Grenzverlagerungen, durch Verhandlungen, durch Migration und Überlappung« (Bachmann-Medick 2006:297), sie bleibt aber andererseits befangen in der Konzeption des Migranten, eines Fremden, »der heute kommt und morgen bleibt« (Simmel 1908:509), der also territorial sesshaft wird. Auch wenn das Konzept vom Transmigranten, das eine gleichzeitige Verwurzelung in zwei oder mehreren Kulturen impliziert, im Zentrum der Transkulturalitätsforschung steht (s. Glick-Schiller et al. 1997), bleibt die Dynamik eines permanent mobilen Menschen, der heute kommt und morgen weiterzieht (und nicht nur zwischen zwei Kulturen pendelt), nicht ausreichend untersucht. Ebenso wenig schließen die im Kontext der Globalisierungsforschung entstandenen Konzepte der »Hybridisierung« (Bhabha 1994), »Kreolisierung« (Hannerz 1996) oder »scapes« (Appadurai 2005) diese Lücken. Insgesamt besteht in den Studien zur Postkolonialität ein Mangel an empirischen Untersuchungen und theoretischer Reflexion darüber, was multiple Zugehörigkeit bedeutet. Was bedeutet es zum Bespiel, ein bayerischer Zen-Buddhist zu sein, der sowohl in den USA als auch in Korea Meditationsseminare leitet und weiterhin seinen Bauernhof bewirtschaftet?29 Die Prozesse der kulturellen Sinngebung und -verhandlung durch die permanente Mobilität und die damit zusammenhängende Aushandlung und Kumulation von Erlebnissen und Erfahrungen in verschiedenen kulturellen Räumen und Milieus, auch durch die aktive oder passive Teilnahme an globalen Kommunikationsprozessen und digitalem Informationsaustausch im World Wide Web (Social Media und digitale Netzwerken, Blogs, Webseiten, Facebook etc.) werden kaum untersucht. Die sowohl empirische 29 Matthieu Ricard ist ein weiteres Beispiel – ein französischer Buddhist, der einen Doktortitel in Molekularbiologie innehat, sich in Nepal und Indien als tibetisch‐buddhistischer Mönch in Meditation unterrichten lässt und sowohl in den USA und in verschiedenen Staaten Europas als auch in Nepal und Indien Meditationsseminare leitet, und gleichzeitig als anerkannter Übersetzer, Photograph und Buchautor arbeitet. Siehe auch die Diskussion des Forschungsdesideratums zum Thema Zugehörigkeitskonstruktionen im Feld von Buddhistischen Studien bei Boldt 2014.
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Multikulturalismus im Diskurs
als auch theoriegeleitete Entfaltung eines adäquaten Begriffsrahmens für die Geisteswissenschaften führt also zwangsläufig dazu, dass die Pluralismusdebatte auch jenseits der Migrationsforschung forciert wird. Gleichzeitig verfügen die Geisteswissenschaften, vor allem die handlungsorientierten Erfahrungswissenschaften mit ihren interaktionistischen, konstruktivistischen, phänomenologischen, wissenssoziologischen und hermeneutischen Ansätzen, über eine breite Palette an Möglichkeiten, die Phänomene der Kulturverschränkung zu erfassen. Schon die Vertreter der Chicago School, die äußerst skeptisch gegenüber Begriffen wie Kultur und/oder Identität waren, gingen von Interaktionsszenarien mit offenem Ende aus (Blumer 1969), die in konkreten situationsspezifischen Rahmen (Goffman 1980) und nicht in geschlossenen Einheiten gestaltet werden – hier wäre als Beispiel die Meadsche Identitätskonzeption zu nennen (Mead 1968). Für die Forschung zur Verschränkung von Kulturen sind nicht zuletzt Anselm Straussʼ Konzepte von Bedeutung, der Prozesse (trajectories) statt Substanzen und Arenen statt geschlossener sozialer Formationen untersucht hat (Strauss 1993). Damit schließen die Überlegungen zum Prozesscharakter und zur Dynamik der Verschränkungen von Kulturen an Max Webers Kultursoziologie an: Da menschliches Handeln sich an unterschiedlichen Relevanzen und Bedeutungsdimensionen orientiert, kann ihm – neben ökonomischer, alltagspraktischer, politischer, religiöser Bedeutung – immer auch Kulturbedeutung zukommen. Aus dieser Sicht lassen sich weder ein essentialistischer Kulturbegriff noch abstrakte Kulturdefinitionen ableiten. Stattdessen muss für Max Weber jede Art der Soziologie immer auch Kultursoziologie sein. Dadurch werden »die Fallen des Kulturvergleiches« vermieden. Einerseits also lassen sich pluralistische, multikulturelle Gesellschaften nicht mit Methoden des klassischen Kulturvergleichs analysieren. Andererseits erfahren wir in solchen Gesellschaften weiterhin, dass auch in ihnen »Fremde« und »Einheimische« einander gegenübergestellt und durch stereotype Zuschreibungen angeblich erkennbarer, kultureller, ethnischer oder religiöser Eigenschaften voneinander abgegrenzt werden. Welche Austauschprozesse in pluralistischen Gesellschaften stattfinden, lässt sich nur dadurch herausarbeiten, dass die Praxis kultureller Verschränkungen, Überschneidungen und Wechselwirkungen sozial-, politik- und geisteswissenschaftlich analysiert und theoretisch neu konzeptualisiert wird. Wie Hans-Georg Soeffner auf der Tagung »Fragiler Pluralismus« am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen im Jahr 2013 bemerkte, erkaufen sich pluralistisch verfasste Gesellschaften den Gewinn an Veränderungspotentialen, Vielfalt und Toleranz mit der Gefahr eines ständig drohenden Fundamentalismus, der von Einzelnen ausgeht, die sich angegriffen fühlen und/oder Gruppen entstammt, die absolute Wahrheiten proklamieren. In dieser Konstellation entsteht im besten Falle ein fragiles, ständig neu zu schaffendes Gleichgewicht der kooperierenden oder mit-
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einander konkurrierenden Gruppen. Kulturelle Vielfalt, Beweglichkeit und Imaginationskraft auf der einen, Labilität und Fragilität des gesellschaftlichen Zusammenhalts auf der anderen Seite kennzeichnen pluralistische Gesellschaften ebenso wie eine im Kern pluralistische Verfassungs- und Rechtsidee: Pluralismus ist gelebte Balance.
1.2
Fragestellung und methodisches Vorgehen
Das hier vorliegende Buch geht von der These aus, dass in der Zeitspanne von 2000 bis 2011 unter dem Vorzeichen des Multikulturalismus ein fragiles und umstrittenes Bekenntnis Deutschlands zur Einwanderungsgesellschaft entlang der Verschränkung nationaler und europäischer Identitätskonstellationen erfolgte.30 Die Frage nach dem Multikulturalismus wird hier demnach in engem Zusammenhang mit der Frage nach der Konstruktion kollektiver Identitäten gestellt, was in Kapitel 1.1 theoretisch ausführlich dargestellt wurde. Bereits in der Explorationsphase des Projekts zeigte sich rasch, dass die Frage nach der Konstruktion europäischer Identitäten unmittelbar mit der Frage nach der deutschen Identität – und zwar vor allem im Hinblick auf die Zugehörigkeit von Menschen mit Migrationshintergrund (hier insbesondere Muslimen) – zu Deutschland und zu Europa ausgehandelt wird. Deutschland hat sich in der Periode zwischen den Jahren 2000 bis 2011 – wie das in diesem Buch analysierte Material zeigt – als ein Vorreiter europäischer Kultur im vermeintlichen »Dialog« mit seinen neuen »signifikanten Anderen«31 – den Muslimen – neu erfunden. Infolge dieser aus der Explorationsphase des Projektes resultierenden Thesen beschäftigt sich das vorliegende Buch mit einer Vielfalt von semantischen Strategien, mit welchen die staatlichen und nichtstaatlichen Akteure in Deutschland die nationalen und europäischen Identitäten im Hinblick auf die Frage nach der Zugehörigkeit von als muslimisch markierten »Anderen« konstruieren. Im Gegensatz zu anderen Veröffentlichungen, welche dem Multikulturalismus gewidmet sind, steht hier weder die Diskussion und der Vergleich von diversen theoretischen soziologischen Konzepten der Multi-, Trans- oder Interkulturalität (s. hierzu Boldt/Soeffner 2014) noch das Aufzeigen potenzieller Wege aus der Migrations- und Integrationskrise (s. etwa Luft 2006) im Vordergrund. Stattdessen wird in diesem Buch die Frage gestellt, wie die Multikulturalität im Kontext kollektiver Zugehörigkeit zu Deutschland und Europa im öffentlichen Diskurs in den 30 Den Begriff »Verschränkung« verdankt die Autorin der ethnologischen Arbeit an den »Moorwegen zwischen Hüben und Drüben« von Klaus Müller (Müller 2010, 2014) sowie der soziologischen Auffassung des Begriffes von Hans-Georg Soeffner (2014). 31 Zur Problematik des »signifikanten generalisierten Anderen« s. Kapitel 1.1.
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Multikulturalismus im Diskurs
Jahren 2000 bis 2011 hergestellt wurde, welche Akteure sich in welcher Hinsicht an ihrer gesellschaftlichen Konstruktion mitbeteiligt haben und welche Dynamiken diesen Prozessen eine strukturelle Prägung gegeben haben. Beleuchtet werden soll dabei auch diejenige Machtkonstellation, welche den Aushandlungen der kollektiven Identität in Deutschland in dieser Zeitphase zugrunde liegt. In methodologischer Hinsicht wird davon ausgegangen, dass Diskurse soziale Praktiken sind. Einerseits »formt und prägt der situationale, institutionelle und soziale Kontext den Diskurs, andererseits wirkt der Diskurs auf die soziale und gesellschaftliche Wirklichkeit formend zurück« (Wodak et al. 1998/2016: 42). Dies ist insofern im Hinblick auf die Aushandlung kollektiver Identität bedeutsam, als die sozialen Akteure ihre Lebenswirklichkeit in Diskursen verankern sowie aufgrund diskursiver Konstellationen und/oder in einer Auseinandersetzung mit diesen alltäglich gestalten. Um die oben genannten Fragen des Projektes zu beantworten, werden in Anlehnung an Keller (2004/2007: 66ff) die folgenden speziellen Teilfragen formuliert: Im Hinblick auf die Konstruktion des Diskurses: • • • • • • • • • • •
Wie, wo und mit welchen Praktiken und Ressourcen wird der Diskurs konstruiert? Welche sprachlichen und symbolischen Mittel und Strategien werden bei seiner Konstruktion eingesetzt? Welches Wissen beziehungsweise welche Phänomenbereiche werden im Diskurs wie konstruiert? Welche Formationen der Gegenstände, der Äußerungsmodalitäten, der Begriffe, der Strategien enthält der Diskurs? Was sind seine Formationsregeln, Strukturierungsprozesse und -modalitäten? Was sind die entscheidenden Ereignisse im Verlauf des Diskurses innerhalb der Untersuchungsphase 2000-2011? Welche Veränderungen des Diskurses lassen sich in diesem Untersuchungszeitraum identifizieren? Welche Bezüge enthält der Diskurs zu anderen Diskursen, und welche unterschiedlichen Subdiskurse sind im Diskursfeld enthalten? Auf welche sozialen Kontexte bezieht sich der Diskurs mit welchen Mitteln? Wie schlägt sich der Diskurs in Dispositiven nieder? Welche (Macht-)Effekte gehen von dem Diskurs aus, und wie verhalten sich diese zu weiteren gesellschaftlichen Praxisfeldern?
Im Hinblick auf die an dem Diskurs beteiligten Akteure: • •
Wer sind die Träger und Adressaten des Diskurses? Welche Akteure besetzen mit welchen Ressourcen, Interessen und Strategien die Sprecherpositionen?
1 Einleitung
•
An welchen institutionellen Orten, mit welchen damit korrespondierenden Regeln und durch welche Ereignisse wird der Diskurs verbreitet?
Ein solches Projekt verlangt nach einer methodenpluralistischen Umsetzung, welche die diskursive Konstruktion kollektiver Identitäten empirisch zugänglich und rekonstruktiv nachvollziehbar macht. Um dies zu bewerkstelligen, wird sowohl auf die wissenssoziologische Diskursanalyse (Keller 2004/2007, 2005) als auch auf die Methode der kritischen Diskursanalyse zurückgegriffen, weil sich diese – wie von Wodak gezeigt wurde (Wodak 2001; Wodak/Meyer 2001; Wodak et al. 1998) – bei den Fragen nach der sprachlichen Konstruktion kollektiver Identitäten im Spannungsfeld zwischen Aufrechterhaltung und Transformation mit hoher Sensibilität auf die soziohistorische Kontextualisierung des Forschungsvorhabens anwenden lässt. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, wurde ein mehrstufiges, aufeinander aufbauendes methodisches Verfahren entwickelt. In der ersten empirischen Phase des Projekts (Kapitel 3) sind sowohl die ›innengerichteten‹ als auch die ›außengerichteten‹ Identitätskonstruktionen staatlicher Akteure in den Fokus geraten. Die ›innengerichtete‹ Identitätskonstruktion staatlicher Akteure im Feld der Einbürgerungs-, Bildungs- und Integrationspolitik wurde in Kapitel 3.1 rekonstruiert. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, wurde zunächst die Organisationsstruktur der Bildungs- und Zuwanderungspolitik analysiert, um die relevanten Akteure auszudifferenzieren, ihre Abhängigkeitsverhältnisse zu skizzieren und ihren Beitrag zur deutschen Integrations- und Bildungspolitik zu rekonstruieren (Kapitel 3.1.1). Um die Semantik der staatlichen Akteure in Bezug auf die in diversen Texten vermittelten Identitätskonstruktionen zu analysieren, wurden einige ausgewählte und in der Zeit von 2000 bis 2011 im Feld der Bildungs- und Integrationspolitik verfasste Berichte und Beschlüsse interpretiert (Kapitel 3.1.2). Auf Ebene der Bundesländer waren dies die Beschlüsse und Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, auf Bundesebene der Nationale Integrationsplan (2007). Es soll an dieser Stelle bereits vorweggenommen werden, dass sich während der Analyse ein sichtbarer Unterschied in der Integrations- und Bildungssemantik im Hinblick auf die Kinder und Jugendlichen einerseits und im Hinblick auf die Erwachsenen im Kontext des Einbürgerungsverfahrens andererseits abzeichnete. Um diesen Unterschied zu verdeutlichen, wurden die im Rahmen der Einbürgerungspolitik in den Jahren von 2000 bis 2011 eingeführten Bildungsmaßnahmen (Integrationskurse und Einbürgerungskurse) für Erwachsene auf Basis unterschiedlicher politischer Dokumente des Bundes untersucht: darunter beispielsweise die Curricula der Integrations- und Einbürgerungskurse, der Bericht der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung«, die Integrationskursverordnung und die Bilanz der Integrationskurse. Außerdem wurden politische Dokumente, die ebendiese Akteure im Kontext der Integrations- und Bildungspolitik
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Multikulturalismus im Diskurs
aufgesetzt haben – sowie die öffentlichen Debatten während des Zustandekommens einiger dieser Dokumente, wie sie in Zeitungsartikeln dokumentiert wurden – in die Auswertung miteinbezogen. Gleichzeitig wurden die in diesem Feld bestehenden Bezüge auf Europa deutlich gemacht. Den ›außengerichteten‹ Identitätskonstruktionen der deutschen staatlichen Akteure wurde im Rahmen einer Analyse der auswärtigen Kulturpolitik nachgegangen (Kapitel 3.2). Hier wurden die Berichte der Bundesregierung zur auswärtigen Kulturpolitik, die »Konzeption 2000«, Drucksachen des Deutschen Bundestages und die Broschüre »Dialog zwischen den Kulturen« (2004), herausgegeben vom Auswärtigen Amt, interpretiert. Dabei wurde sowohl auf das Problem der aus der Organisationsstruktur der auswärtigen Kulturpolitik resultierenden Inhalte eingegangen, als auch auf die Tatsache, dass die zu vermittelnden kulturellen Bestände den außenpolitischen Zielen untergeordnet werden. Bei allen Analyseschritten wurde insbesondere auf die bestehenden Bezüge auf Europa geachtet. Bei der diskursanalytischen Rekonstruktion des Materials wurde in methodologischer Hinsicht den abduktiv‐hermeneutischen Prinzipien gefolgt (s. Soeffner 2004). Dies impliziert unter anderem, dass die Beantwortung konkreter Fragestellungen im Forschungsprozess zunächst zurückgestellt werden muss, um in erster Linie die Konstruktionsprinzipien des empirischen Materials deutlich rekonstruieren zu können. Analytisch ist – Wodak folgend – zwischen drei miteinander verwobenen Analysedimensionen unterschieden worden, nämlich zwischen Inhalten, Strategien und Realisierungsmitteln (s. genauer Wodak et al. 1998/2016: 71ff.). Da die ersten Analysen hinsichtlich der Inhalte, Strategien und Realisierungsmittel des Diskurses die Notwendigkeit der Miteinbeziehung weiterer theoretischer Denkstrukturen nach sich zogen, wurde auf die postkoloniale Kritik zurückgegriffen. Nach Reuter/Villa (2010) ist mit postkolonialer Kritik eine bestimmte Perspektive gemeint, die Abhängigkeiten und Machtasymmetrien zwischen Zentrum und Peripherie problematisiert, sowohl innerhalb einzelner Gesellschaften als auch zwischen unterschiedlichen Gesellschaften weltweit. In diesem Paradigma wird die Peripherie als konstitutiv für die Konstruktion des Zentrums gesehen. Die postkoloniale Kritik zielt auf die Dekonstruktion, Transformation und Rekonfiguration von Kategorien und Wissenssystemen im Rahmen der antizipierten Zentrum-Peripherie-Logik ab. Im Unterschied zur postmodernen Theorie nimmt die postkoloniale Kritik die Perspektive des Zentrums nicht als gegeben an und beginnt ihre Analysen somit nicht im Zentrum, sondern nimmt ihren Ausgang in den peripheren Positionen und beleuchtet von dort aus die Dialektik und den Konstruktionsprozess von Zentrum und Peripherie. Ausgehend von der Annahme, dass immer ein bestimmter Diskurs die Positionen von Zentrum und Peripherie zuteilt, hat der Wechsel von der zentralen zur peripheren Perspektive den Vorteil, dass nicht nur die periphere Position als partikular betrachtet wird, sondern
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auch die zentrale Position ihren universalisierenden Anspruch verliert und an Partikularität gewinnt. Die Mechanismen hinter der Auszeichnung einer Position als partikular und einer anderen als universal (wodurch der Sprecher hinter der eingenommenen Position verschleiert wird) werden so sichtbar. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass postkoloniale Kritik nicht nur auf Gesellschaften anwendbar ist, denen klassischerweise eine koloniale Vergangenheit im historischen Sinne (wie Frankreich, Spanien, Algerien, Namibia etc.) zugeschrieben wird (s. etwa Bhambra 2009). Vielmehr eröffnet die postkoloniale Kritik einen theoretischen Zugang zu den oben dargestellten Dialektiken zwischen Zentrum und Peripherie, beispielsweise im Kontext von Migrationsstudien oder von Phänomenen der Intersektionalität. Die zweite empirische Phase (Kapitel 4) entwickelte sich als eine empirisch gegründete Fortsetzung der ersten empirischen Phase (Kapitel 3) und diente der Kontrastierung von Ergebnissen der ersten Phase. Da sich zeigte, dass aufgrund der Machtkonstellation des Diskurses sowie als Resultat von dessen Verschleierungsmechanismen einige Freiräume entstanden sind, wurde in der zweiten empirischen Phase der Versuch unternommen, diese so weit wie möglich zu schließen. Durch die Konzeptionalisierung des empirischen Samplings ist hierdurch in zweierlei Hinsicht der diskursiven Machtverteilung entgegengewirkt worden. Zum einen sind in der zweiten empirischen Phase Vertreter von denjenigen Migrantenorganisationen befragt worden, die durch die oben genannten Maßnahmen in einer besonderen Art und Weise adressiert wurden, aber von den politischen Bestimmungsprozessen bei deren Verabschiedung weitestgehend ausgeschlossen waren.32 Zweitens sind die Fragen, die als Grundlage für die fokussierten Interviews mit diesen nichtstaatlichen Akteuren dienten, aus der ersten Analysephase hervorgegangen. In den Interviews kommen unter anderem folgende Themen zur Sprache: das Recht von Lehrerinnen, an öffentlichen Schulen ein Kopftuch zu tragen33 , die Ergebnisse der PISA-Studie, welche in den Jahren 2003 und 2006 die im europäischen Vergleich signifikant schlechteren Bildungschancen von Migrantenkindern in Deutschland zeigte, und nicht zuletzt Thilo Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab«, welches 2009/2010 die Nation gespalten und weitere Fragen nach der Gestaltung des multikulturellen Zusammenlebens in Deutschland aufgeworfen hatte. Die hier angewandte Vorgehensweise und die daraus resultierende Auswahl von Themen und Gesprächspartnern erklärt sich allein aus der Logik des Diskurses und vermeidet, sich an externen Vorannahmen (Subsumptionslogik) zu orientieren 32 Die vollständige Liste der nichtstaatlichen Organisationen sowie der Interviewleitfaden finden sich im Annex. 33 Dieses Thema mündete in den Jahren 2003/2004 in verschiedene Regelungen, wie beispielsweise Kopftuchverbot und -erlaubnis in unterschiedlichen Bundesländern.
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Multikulturalismus im Diskurs
(vgl. Kapitel 1.2). Dies entspricht der Methode der wissenssoziologischen sowie der kritischen Diskursanalyse und folgt den Regeln des theoretischen Samplings (Glaser/Strauss 1967) sowie der Abduktion (Peirce 1933/1980).
2 Deutsche Debatten über europäische Identität: Stand der Forschung1
Seit Jürgen Habermas die Debatte über europäische Identitäten durch die Frage polarisiert hat, ob die Entwicklung einer europäischen Identität notwendig oder zumindest möglich sei (Habermas 2006: 67ff), ist das Thema in Deutschland kontrovers diskutiert worden. Den Skeptikern zufolge – die in ihren verschiedenen pessimistischen Szenarios weder Notwendigkeit noch Möglichkeit anerkennen – mangelt es der Europäischen Union entweder an einer legitimatorischen Basis oder aber sie kann nicht als rational vertretbares,haltbares Konstrukt verstanden werden, da so etwas wie ein europäisches Volk nicht existiert (s. etwa Grimm 1995/2003; Brunkhorst 2007; Kielmansegg 1996; Tibi 2000). Darüber hinaus sollen die abwegigen Anforderungen der multikulturellen Immigration und der ökonomischen Globalisierung für das Nichtvorhandensein eines europäischen ›Demos‹ verantwortlich sein. Im Gegensatz dazu argumentieren die Optimisten, dass der Prozess der Europäisierung (so wie er beispielsweise durch die Einführung des Euro angestoßen wurde) die Entwicklung einer öffentlichen europäischen Sphäre nach sich zieht, die wiederum eine Transformation von nationalen Identitäten mit sich bringt (s. Risse et al. 1999; Risse 2001, 2003). Eine dritte Art von Szenario geht davon aus, dass die Entwicklung einer europäischen Identität sowohl notwendig als auch möglich ist. Gleichzeitig wird eine Herausforderung anerkannt, die daraus resultiert, dass unterschiedliche Konzepte und Konstruktionen bezüglich der Frage, was es bedeutet, ›Europäer zu sein‹, in unterschiedlichen europäischen Ländern anzutreffen sind. Die Frage, die von verschiedenen Autoren im Kontext nationaler Konstruktionen von europäischer Identität aufgeworfen wird, ist, ob die europäische Dimension nationale Identitäten ersetzt oder diese vielmehr einbezieht. Kohli (2000) unterstellt diesbezüglich, dass die Beziehung zwischen nationalen und europäischen Identitäten kompetitiver Natur ist. Im Widerspruch dazu beschreibt Lepsius (1999) Europa als die Summe der es ausmachenden Nationalkulturen, welche – so legt er nahe – immer noch ein zentrales Feld der sozialen Konstruktion von kollektiver 1 S. eine englischsprachige Version dieses Kapitels: Boldt 2011.
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Multikulturalismus im Diskurs
Identität in Form von kollektiver Solidarität sind. Andere Autoren regen an, dass europäische Identität – die sich aufgrund des Prozesses der europäischen Integration in einem Zustand des kontinuierlichen Wachstums befindet – die Relevanz und die Wirkkraft nationaler Identitäten verringern wird (s. etwa Deutsch 1979; Haas 1964). Im Gegensatz zu Loth (2002b) – der eine »vielschichtige Identitätskonstruktion in Europa« annimmt, die sich aus nationalen, regionalen und europäischen Identitätsschichten zusammensetzt – argumentiert Risse, dass deutsche und europäische Identität aus Interaktion, Vermischung und Kombination von Elementen hervorgeht (s. Risse 2005: 296; 2004: 251f). In dieser Hinsicht betonen Ichijo und Spohn, beim Vergleich unterschiedlicher Arten der Konstruktion von nationalen und europäischen Identitäten in verschiedenen Ländern, die Entstehung einer neuen Form vonverschränkten kollektiven Identitäten (s. Ichijo/Spohn 2005). Zweck dieses Kapitels ist die Präsentation einiger hauptsächlicher Identitätssemantiken, die von verschiedenen wissenschaftlichen Akteuren aus deutschen, national gebundenen Positionen in Bezug auf Europa hervorgebracht worden sind. Um dies zu bewerkstelligen, liefert das Kapitel zunächst einen Überblick der verschiedenen Spielarten von akademischem Diskurs über europäische Identität in Deutschland. Anschließend wird die Diversität existierender europäischer Identitätssemantiken in Deutschland umrissen. Dies geschieht, um die unterschiedlichen Bedeutungen herauszustellen, die dem Konzept »Europa« aus den Blickwinkeln von national verorteten Positionen zugewiesen werden. Zusätzlich wird im Rahmen dieses Kapitels dargelegt, wie die moderne Konzeptualisierung von Identitäten in den Nationalstaaten zwischen verschiedenen sozialen Akteurengruppen verhandelt und gleichzeitig die Demarkation zwischen dem »Selbst« und dem »Anderen« konstruiert wird. Auf diese Weise – indem ein Überblick der hauptsächlichen Semantiken bezüglich europäischer Identität geliefert wird, die in Deutschland entstanden sind – skizziert dieses Kapitel auch die hauptsächlichen Demarkationslinien zwischen dem Selbst und dem Anderen, die bei der Konstruktion von europäischen Identitäten aus unterschiedlichen Positionen gezogen worden sind. Um einen Überblick der Veränderungen und Transformationen in den diskursiven europäischen Identitätsformationen zu gewährleisten, wird in diesem Kapitel die Dynamik bestimmter Wendepunkte berücksichtigt. Die angesprochenen Wendepunkte sind nicht ausschließlich historische Fakten, sondern drücken auf unterschiedliche Weise die Diskontinuität und Desorganisation von diskursiven Identitätsformationen aus und manifestieren sich als Unterbrechungen des diskursiven Flusses. Derart sabotieren sie schlagartig diverse Bedeutungssysteme und stellen bis dahin allgemein verbreitete Interaktionsrahmen in Frage. Daher beeinflussen diese Wendepunkte die in Deutschland zwischen verschiedenen sozialen Akteurengruppen stattfindenden Verhandlungsprozesse, welche die Europa be-
2 Deutsche Debatten über europäische Identität: Stand der Forschung
treffende Semantik der kollektiven Identität betreffen, aufgrund der »veränderten Bedingungen von Bewusstsein und Praxis« (Schütz 1964: 96, Übersetzung TDB). Um eine Tatsache bereits vorwegzunehmen: Der aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden Zerrüttung wird eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von europäischen Identitäten zugeschrieben. Dennoch umgeht die Struktur dieses Kapitels die Logik einer statischen Demarkationslinie, welche die Zeiträume vor und nach dem Zweiten Weltkrieg voneinander abgrenzt, da diskursive Kontinuitäten ein anderes Bild zeichnen. Da es nicht der Fall ist, dass bestimmte Narrationen mit dem Ende des Holocaust obsolet geworden sind, können europäische Identitätssemantiken in Deutschland vor und nach dem Zweiten Weltkrieg nicht streng voneinander getrennt werden. Vielmehr ist zu vermerken, dass – als Resultat der Transformation von politischen Machtsystemen auf europäischer Ebene – bestimmte Zuschreibungen die Frage betreffend, was es bedeutet, ›Europäer zu sein‹, durch den Zugewinn an Legitimität und Einfluss in der öffentlichen Sphäre weiter differenziert worden sind. Was Deutschland betrifft, so bringt dieser fortlaufende Prozess es mit sich, dass einige der Definitionen von »Selbst« und »Anderem« im europäischen Kontext – die gegenwärtig in Deutschland Unterstützung finden – sich parallel zu ähnlichen unterscheidenden Kategorien entwickeln und auf eine Semantik zurückverweisen, die lange vor und während dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist: beispielsweise die Paarungen Orient und Okzident, Westeuropa und Osteuropa, Zentraleuropa und die europäische Peripherie, und so weiter. In diesem Kapitel wird auch darauf verwiesen, dass einige dieser diskursiven Semantiken relativ veränderungsresistent sind und – auf gewisse Weise – ihre Existenz in der öffentlichen Sphäre bis heute aufrechterhalten konnten.
2.1 2.1.1
Europäische Identitätsdiskurse in Deutschland: ein Überblick Europäische Identität als normatives Projekt
Die Diskussion über die europäische Identität wird bis heute hauptsächlich von dem Imperativ bestimmt, den Prozess der europäischen Integration zu legitimieren. Folglich ist ein Großteil des akademischen Diskurses in diesem Betrachtungsfeld von einer Logik geprägt, die sich bemüht, die Geschichte der europäischen Idee zurückzuverfolgen. Da dieser Diskurs die Vereinigung Europas unterstützt, handelt es sich um ein höchst normatives politisches Problem. Dieses speist sich aus der historischen Dimension eines Kanons europäischer Werte – es wird argumentiert, dass Menschenrechte, Toleranz und Freiheit der europäischen Idee inhärent seien. Die konzeptuellen Abweichungen unter den Proponenten dieses Modells ergeben sich größtenteils aus ihren unterschiedlichen Fokussierungen. Einige Autoren bemühen sich, die Gemeinsamkeiten und die Regelhaftigkeit bei der
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Entwicklung des europäischen Projekts zu betonen und wählen deshalb als Ausgangspunkt eine externe Perspektive auf die Entwicklung Europas als kohärentes Ganzes. In diesen Fällen wird immer wieder die universelle Dimension von gemeinsamen Werten und die überaus weit zurückgehende europäische Tradition akzentuiert, welche sich über Jahrhunderte simultan und fortlaufend in verschiedenen europäischen Ländern entwickelt hat (s. Meier 2009) – auch in Deutschland (s. Girardet/Nortmann 2005). Andere Autoren legen ihren Schwerpunkt auf die Diskontinuität und die Transformationsprozesse, die im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts stattgefunden haben, um die Geschichte der europäischen Idee als Entwicklungsverlauf zu beschreiben, der von fundamentaler Zerrüttung geprägt ist, welche wiederum hauptsächlich durch den Zweiten Weltkrieg ausgelöst wurde (s. Kaelble 1995). Die Vertreter, die dieser Logik folgen, empfehlen eine enge Kopplung des europäischen Integrationsprozesses an die Hervorbringung supranationaler Institutionen, um die Strategien der Nationalstaaten sowie deren kriegerische Vergangenheit zu überwinden. Habermas weist darauf hin, dass eine gemeinsame europäische Identität ihre Basis eher in einem positiven Bezogensein auf einen geteilten politischen Multikulturalismus haben sollte, statt auf der Determiniertheit eines gemeinsamen Ursprungs im europäischen Mittelalter zu fußen (s. Habermas 1994: 22). Da geteilte Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte in fast allen europäischen Verfassungen verankert sind, schlägt er die Etablierung eines »europäischen Verfassungspatriotismus« vor, der auf einem europäischen Verständnis von gemeinsamen Werten basiert (Habermas 1994: 17). In seiner Arbeit konzeptualisiert Habermas wiederholt die Entwicklung einer europäischen Identität als Ausformung des demokratischen Konstitutionalismus und prägt das Modell eines europäischen Verfassungspatriotismus, der für politische und demokratisch‐konstitutionelle Prinzipien eintritt (s. Habermas 1990, 1998, 2001). Indem er die Prozesse der demokratischem Konstitutionalisierung ins Zentrum eines politisch‐kulturellen Modells der europäischen Identität stellt, empfiehlt Tibi die Unterfütterung durch eine bindende »Leitkultur«, die auf gemeinsamen europäischen Werten basiert, die wiederum aus der Konzeptualisierung von europäischer kultureller Moderne als Form von »Leitkultur« resultieren (s. Tibi 2001). Der Autor grenzt diese Werte streng von jenen des fundamentalistischen Islam ab, der darauf abzielt, die Scharia – ein System, das keine Trennung von Religion und Politik vornimmt – für die in Europa lebenden Muslime einzuführen. In diesem Kontext sollte vermerkt werden, dass einige Autoren (s. etwa Swartz 2002; Urban 2003) abstreiten, dass Osteuropa irgendetwas zur Entwicklung von europäischen Werten beigetragen hat; zudem urteilen sie, dass Osteuropäer wenig Respekt vor der demokratischen Tradition Europas haben, da ihnen selbst die demokratische Tradition fehlt – insbesondere als Folge des kommunistischen Regimes.
2 Deutsche Debatten über europäische Identität: Stand der Forschung
Diese Perspektiven, die eine Politik der kulturellen europäischen Identität befürworten und auf die Konstruktion einer europäischen Wertegemeinschaft abzielen, haben die Gemeinsamkeit, dass sie im Grunde eine Außenperspektive auf Europa in seiner Gesamtheit einnehmen. Sie konzeptualisieren Europa als Einheit – mit einer distinktiven Geschichte und Tradition der Kontinuität oder Zerrüttung. In beiden Fällen wird die europäische Identität im Kontext der angestrebten politischen Vereinigung (EU) konzeptualisiert, die eines der zentralen politischen Ziele des europäischen Projekts darstellt (s. Schmale 2008). Diese einseitige Wahrnehmung, mit ihrem beinahe exklusiven Fokus auf das Ziel der politischen Vereinigung, hat die Auswirkung, dass viele Elemente der wirtschaftlichen, rechtlichen, kulturellen oder sozialen Integration Europas unbemerkt bleiben, obwohl es sich mehr und mehr herausstellt, dass diese Elemente eine zentrale Rolle in der Geschichte des europäischen Bewusstseins spielen (s. Kaelble 2001). Vor allem aber werden alle Ideen über Europa, die nicht mit dem Projekt der europäischen Einheit vereinbar sind, aus diesem Diskurs ausgeschlossen (s. Conze 2005). Daher mag die zugrunde liegende Idee der europäischen Legitimierung aus politischer Perspektive bedeutsam erscheinen, dennoch wird – da Europa von seinen Anfängen an als Ganzes betrachtet worden ist – ein umfänglicher Bereich potentieller Forschung hier nicht berücksichtigt.
2.1.2
Vielfalt als Grundlage europäischer Identität
Im Gegensatz zu diesem ersten Zugang zur Frage der europäischen Identität basiert ein zweiter Zugang auf der Vorannahme, dass die Geschichte Europas kaum die Entwicklung einer kulturellen Einheit widerspiegelt. Aus diesem Grund kann die europäische Identität nicht als gemeinsames zivilisatorisches Projekt konzeptualisiert werden, welches schließlich zum Hervortreten oder zur Evolution des »Homo European« (Schmale 2008) führen könnte. Einige Autoren, die diese These hinterfragen, erkennen in der europäischen Geschichte eine Fülle von veränderlichen Konzeptualisierungen Europas – die jeweilige Ausgestaltung hängt hauptsächlich von den spezifischen nationalen, regionalen, ethnischen und religiösen Settings ab. Der Fokus liegt somit mehr auf einem von innen heraus betrachteten Europa, um somit seine Vielfalt, seine lokalen und ethnischen Unterschiede sowie seine sozialen Konflikte hervorzuheben. In diesem Kontext weist Schmale (2008) darauf hin, dass Autoren, die sich auf die Vielfalt Europas konzentrieren, sich erheblich voneinander unterscheiden, wenn es um die Interpretation dieser Diversität geht. Einige – so beispielsweise Stein Rokkan – bemühen sich, die europäische Geschichte als Geschichte der Vielfalt zu schreiben (s. Flora 1999). Edgar Morin (1991) konzentriert sich weniger auf geographische Vielfalt, sondern eher auf die Vielfalt der Konzeptualisierungen von Europa, die – ihm zufolge – zusammengenommen als charakteristisches Merkmal europäischer Identität zu werten
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Multikulturalismus im Diskurs
sind. Andere Autoren leiten ihren Ausgangspunkt vom offiziellen Motto der EU ab – »United in Diversity« – und betonen die positiven Aspekte des europäischen Einigungsprozesses, die wiederum auf dem europäischen Wertesystem aufbauen. Soziologen wie Ulrich Weede (1988) verstehen die westliche Kultur als Sonderweg des Polyzentrismus und erkennen darin eine Besonderheit Europas. Was all diese Autoren gemeinsam haben, ist ihr zugrunde liegendes Verständnis, das Vielfalt als emblematisches Merkmal der Europäischen Union und ihrer Geschichte betrachtet, die bis ins 15. Jahrhundert zurückführt. Obwohl die Autoren die europäische Vielfalt betonen, versuchen sie oftmals, die nationalen, regionalen, ethnischen oder religiösen Konzepte Europas nicht von ihren jeweiligen Kontexten abzuleiten, sondern stattdessen, diese als Teil des einen europäischen Diskurses zu sehen, in dem Europa als Sphäre der Vielfalt erscheint (s. Schmale 2008).
2.1.3
Deutsche Ordnung als europäische Ordnung
Die dritte Perspektive setzt an der Kritik an den vorstehenden Konzeptualisierungen Europas an, welche die tatsächliche Bedeutsamkeit der europäischen Vielfalt zugunsten der Idee von Gemeinsamkeit in Vielfalt opfern. Vanessa Conze (2005) spricht sich für eine Form der Europaforschung aus, die vergleicht, wie unterschiedliche Nationalstaaten Europa konzeptualisieren und die die national gebundenen Kontexte untersucht. Indem sie unterschiedliche Vorstellungen von Europa analysiert, die in Deutschland vor und nach dem Zweiten Weltkrieg (1920-1970) koexistiert haben, stellt sie die Existenz verschiedener Fokussierungen fest. Deutsche haben sich in unterschiedlicher Weise auf Europa bezogen, aber was all diese Herangehensweisen gemeinsam haben, ist, dass sie im Kontext von deutschen, nationalen Identitätsdiskursen auftreten. Daher gelangt Conze zu der Schlussfolgerung, dass – zumindest bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs – deutsche Vorstellungen von einer europäischen Ordnung gleichzeitig im Dienste der Einrichtung einer deutschen Ordnung gestanden haben. Wer auch immer in Deutschland über Europa nachgedacht habe, habe entweder implizit oder explizit immer zuerst an deutsche Interessen gedacht (vgl. Conze 2005: 3).2 Daher ist es legitim, zu argumentieren, dass deutsche Europakonzepte über die unterschiedlichen Vereinigungspläne hinausreichten, die aus bestimmten politischen und wirtschaftlichen Perspektiven auf Europa resultierten – insofern, als sie die Vorstellung entwarfen, dass Europa (wie auch immer es ausgestaltet sein würde) streng im Einklang mit der Vision einer neuen deutschen Ordnung stehen würde. Aus diesem Blickwinkel 2 Die Ergebnisse der deutschen Fallstudie des EU-Projekts »Identities and Modernities in Europe«, die diesem Band zugrunde liegen, legen nahe, dass die Tendenz, die europäische Ordnung in Übereinstimmung mit der nationalen deutschen Ordnung zu konzeptualisieren, immer noch den zeitgenössischen deutschen Diskurs über europäische Identitäten dominiert.
2 Deutsche Debatten über europäische Identität: Stand der Forschung
betrachtet erscheint es klar, dass die deutschen Konzeptualisierungen nicht unbedingt zu einer fairen Entwicklung im Geiste der Römischen Verträge beitragen. Darüber hinaus müssen die teleologischen, auf die EU fokussierten Erklärungen genau überprüft werden, bevor sie akzeptiert werden können. Der Grund hierfür ist die Tatsache, dass im Verlauf der Jahrzehnte in Deutschland mehrere Europakonzepte miteinander konkurriert haben. Es war unmöglich, a priori vorwegzunehmen, dass schließlich jenes Europakonzept, welches das liberal‐demokratische und pluralistische Europa dominiert und den gegenwärtigen europäischen Integrationsprozess determiniert, die Oberhand gewinnen würde.
2.2 2.2.1
Europäische Identitätssemantiken deutscher Provenienz Semantik des Abendlandes
Conze (2005) argumentiert, dass sich der okzidentale Diskurs in Deutschland bis ins Mittelalter und die Reformationszeit zurückführen lässt, in der Folge im Kontext der politischen okzidentalen Bewegung Unterstützung fand und sich schließlich im katholischen intellektuellen Milieu des 19. Jahrhunderts etablierte. Dennoch, wie in der hier vorliegenden Veröffentlichung gezeigt wird, wird der okzidentale Diskurs heutzutage immer noch von verschiedenen politischen Gruppierungen belebt – durchlief aber ständige Transformationen im Nachgang historischer Wendepunkte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts proklamierte das ›Abendland‹, dass das europäische Volk kulturell in einer einheitlichen, vorreformatorischen, christlich‐katholischen Struktur verwurzelt sei, gestiftet durch die mittelalterliche Kirche und das ›Sacrum Imperium‹. Zu dieser Zeit wurde die Idee des Okzidents hauptsächlich von jenen konservativen Bewegungen bemüht, die Europa in antimoderner Manier konzeptualisierten und eine korporatistische und subsidiär organisierte Form von deutscher und europäischer Gesellschaft unterstützten. Die Idee des Okzidents erstarkte in Deutschland im Gefolge des Ersten Weltkriegs, als man die Interpretation anstellte, dass die deutsche Niederlage durch den Niedergang der preußisch‐protestantischen deutschen Gesellschaft nebst ihrer Organisationsprinzipien bedingt sei. Nun war das Ziel, den Katholizismus als Vision und Mittel zur Erschaffung einer besseren europäischen und deutschen Zukunft zu verbreiten. Mit rigidem Antikommunismus einerseits und der Zurückweisung amerikanischer Hegemonie auf dem europäischen Kontinent andererseits predigte der okzidentale Diskurs über politische Parteien hinweg die Mission der katholischen Elite – die darin bestand, Europa zu retten und zu führen. In Übereinstimmung mit dem propagierten Bild eines idealisierten Mittelalters zielte die Vision auf einen erneuerten und versöhnten Kontinent ab – in Einklang mit der deutschen Romantik, die eine universelle Monarchie befürwortete und sich eine Familie von
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Völkern vorstellte, die nicht durch Nationalismus getrennt waren, politisch zusammengeführt unter der Herrschaft des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation – mit Deutschland in einer Führungsrolle – sowie vereint durch die katholische Kirche. Die okzidentale Bewegung erkannte die Nationen als Grundbausteine der neuen europäischen Ordnung an und betrachtete »das Abendland als neue Ordnung der Nationen, [und] nicht [als] […] neue Weltnation« (Schreyvogel 1925/1926, zitiert nach Conze 2005: 40). In den 1920er Jahren spielte die Auseinandersetzung mit den Ideen der französischen Revolution von 1789 und jenen von 1914 insofern eine Rolle, als sich die deutsche Ordnung fundamental von der französischen unterschied. Trotz allem wurde es zu dieser Zeit als essentiell angesehen, ein gegenseitiges Verständnis und Arrangement der beiden Nationen zu erzielen, die man für den Kern der europäischen Ordnung hielt. Im Rahmen der abendländischen Haltung in Bezug auf Osteuropa wurde gerne die Position eingenommen, dass – aufgrund der gemeinsamen katholischen Tradition – eine besondere Beziehung zu Polen notwendig sei, womit eine antagonistische Stellung zum Großteil der politischen Szene Deutschlands bezogen wurde, in der eine antislavische (und insbesondere antipolnische) Attitüde fest verankert war, wie es in deutscher Politik seit der Entstehung des deutschen Nationalstaats stets der Fall gewesen war. In den 1930er Jahren verband sich der abendländische Diskurs mit dem mitteleuropäischen Diskurs, wodurch die hierarchischen Vorstellungen, die der deutsch‐europäischen Ordnung zugrunde lagen, deutlich verschärft wurden. Die Legitimation der wirtschaftlichen und kulturellen Führungsrolle des Deutschen Reiches in Mitteleuropa rückte in den Vordergrund. Außerdem wurde abendländische Semantik von den Nationalsozialisten übernommen –insofern, als die angenommene Überlegenheit der deutschen Nation auf das Heilige Römische Reich (das Erste Reich) zurückgeführt wurde. Derart war es möglich, das Dritte Reich als totalen Staat zu betrachten, der analog zur Kirche aufgebaut war. Der abendländische Diskurs hat als Folge des Niedergangs des Nationalsozialismus bestimmte Transformationen durchlaufen. Die Idee von Gleichheit und gegenseitigem Verständnis der verschiedenen Nationen – flankiert von der Anerkennung ihrer spezifischen Charakteristika und Prägungen – wurde maßgeblich. Seit den 1950er Jahren hat abendländische Semantik verschiedene Diskurse über die europäische Vereinigung durchdrungen und ist von mehreren prominenten deutschen Figuren aus Politik und Wissenschaft vertreten worden. Zeitweilig wurde das ›Abendland‹ zu einer der dominanten Kategorien unter den politischen, kulturellen und sozialen Ordnungskonzepten – musste dann aber gegenüber den liberalen und weniger homogenen (und homogenisierten) Anforderungen des westeuropäischen Konzepts nachgeben. Trotz allem findet die abendländische Semantik der europäischen und deutschen Kultur auch heute noch Ausdruck in der Konstruktion von Identitäten und verweist derart zurück auf den Antagonismus von Orient und Ok-
2 Deutsche Debatten über europäische Identität: Stand der Forschung
zident, insbesondere in Form des Gegensatzes von Christentum und Islam. Innerhalb dieses Antagonismus – wie in dem hier vorliegenden Buch empirisch gezeigt wird – entfalten sich die wichtigen Debatten über Integration, Staatsbürgerschaft und Migrationspolitik, die zwischen 2000 und 2011 in Deutschland stattgefunden haben. In diesem Kontext lassen sich auch Stimmen aus der Mitte der deutschen Gesellschaft vernehmen – wie etwa jene von Horst Seehofer, des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten – die argumentieren, dass muslimische Kultur nicht in die europäische Kultur integriert werden könne. Der ehemalige Ministerpräsident zielt darauf ab, die Migrationspolitik so zu verändern, dass Muslime nicht länger in deutsches Hoheitsgebiet einreisen dürfen. In diesem Fall verbinden sich populistische Vorstellungen mit abendländischer Leitkultur-Semantik – aber artikuliert wird die Position nicht etwa aus der rechten Ecke des politischen Spektrums, sondern aus der Mitte der deutschen Gesellschaft. In diesem Zusammenhang ist zu vermerken, dass eines der Identitätsmodelle, das von sozialen Handlungsinstanzen aus dem Feld der deutschen Christdemokraten postuliert wurde, das Kulturerbe des Islam aus dem Entwicklungsprozess europäischer Zivilisation ausschließt, welcher der gegenwärtigen humanistischen, demokratischen, liberalen und pluralistischen Ordnung der Europäischen Union Form verleiht.
2.2.2
Idee des Westeuropas
Der Antithese zu der auf konservativen katholischen Werten basierenden ›abendländischen Bewegung‹ entstand innerhalb des westeuropäischen Diskurses, der zur Zeit der Weimarer Republik simultan mit einer politischen Bewegung namens »Verband für Europäische Verständigung« auftrat – weitergeführt wurde der Diskurs von der in Deutschland nach 1945 gegründeten »Europa-Union«. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist dieser Diskurs in den Vordergrund der öffentlich geführten politischen Nachkriegsdebatten gestellt worden, die sich Deutschland und Europa widmeten (s. Elvert 1999; Meyer 1955; Stirk 1994; Conze 2005). Vor dem Zweiten Weltkrieg war die mitteleuropäische Semantik sowohl Teil des abendländischen Diskurses als auch des westeuropäischen Diskurses – da sie die Vision einer deutschen Hegemonie in Mitteleuropa vertrat. Im abendländischen Diskurs wurde sie genutzt, um die Vormacht des Deutschen Reiches in Mitteleuropa im Sinne einer christlich‐kulturellen Hegemonie zu legitimieren. Die Repräsentanten der westeuropäischen Gruppierung hingegen verwandten sie, um das Konzept eines deutschen, liberalen Imperialismus zu verbreiten. Die Voraussetzung für die wirtschaftliche und politische Ordnung Westeuropas sah man in der Idee des sogenannten »Großdeutschen Reichs«3 , dem sich die Staaten Südosteuropas und des östlichen Mitteleuropa angliedern sollten. Die ›Westeuropäer‹ hielten 3 Das nationale Konzept für die Allianz von Deutschland und Österreich-Ungarn.
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die deutsche Hegemonie über die mitteleuropäischen Staaten – in Form eines liberalen Imperialismus – für selbstverständlich. Dennoch befürworteten sich auch Freiheit und Gleichheit des deutschen Volks und der anderen europäischen Völker, in Form eines demokratischen Nationalismus. In den 1930er Jahren ließ der Einfluss des westeuropäischen Diskurses in der politischen Arena nach. Da er mit der Semantik von Kooperation der europäischen Völker auf Basis von Freiheit und Gleichheit arbeitete, war er nicht wirklich mit dem Diskurs der Nationalsozialisten vereinbar. Ferner wurden mehrere Mitglieder der deutschen »Europa-Union« festgenommen und/oder begaben sich ins Exil. In den 1950er Jahren entwickelte sich der Diskurs in eine klar bürgerlich und liberal geprägte Richtung und nahm schließlich auch das Ziel auf, die europäische Idee in der Breite der westdeutschen Gesellschaft zu verfechten. Seine Repräsentanten schlugen die Schaffung einer pluralistischen, liberalen und demokratisch organisierten europäischen Gesellschaft vor, basierend auf Werten wie Pluralismus, Freiheit, Toleranz und Demokratie. Sein Imperativ der Nichthomogenisierung gewann eine Stellung zentraler Relevanz unter den deutschen Ideen, die das Fortschreiten der europäischen Integration betrafen – und durchdringt, in Form des Grundsatzes »In Vielfalt geeint«, bis heute den zentristischen politischen Diskurs über europäische Identität.
2.2.3
Europa der Nationalsozialisten
Die Entwicklung des nationalsozialistischen Diskurses in Deutschland ist von einigen Autoren als Merkmal interpretiert worden, das auf die Fortführung der Entwicklung des deutschen Nationalstaats verweist, der ausschließlich für das deutsche Volk ausgelegt war (Ideologie der deutschen Volksnation) – eine Entwicklung, die seit dem 18. Jahrhundert stattgefunden hat (s. Burgdorf 1999; Krueger 1995: 41; Gosewinkel 2001). Die rassistische Konzeptualisierung der deutschen Gesellschaft brachte die rassistische Hierarchisierung der europäischen Völker mit sich. Aufgrund der gegenwärtig dominanten Konzeptualisierung der europäischen Ordnung bezeichnen einige Autoren den nationalsozialistischen Diskurs als antieuropäischen Diskurs. Die nationalsozialistische Idee einer »Neuordnung« Europas war von Anfang an Teil der Ideologie des Dritten Reichs unter Hitlers Führung, dessen Außenpolitik geprägt war von dem Anspruch auf mehr »Lebensraum« für das deutsche Volk in Europa. Zusammen mit der Entwicklung der Kriegsideologie entstand so das Konzept vom sogenannten »Großraum Europa«, dessen Kern das »Großdeutsche Reich« ausmachen sollte – bestehend aus Deutschland und Österreich, Böhmen und Mähren, dem Memelland, Polen, Eupen-Malmedy, Belgien mit Flandern und Wallonien, Luxemburg, Elsass-Lothringen, Nord- und Ostfrankreich, Griechenland, Teilen von Jugoslawien und den westlichen Gebieten der Sowjetunion bis
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zum Ural. Die sogenannten »Schutzstaaten« – die Slowakei, Dänemark, Norwegen, Kroatien und Burgund (als neuer Staat auf französischem Territorium) – sollten (hauptsächlich) von deutschen Sonderbeauftragten regiert werden. Die vorgesehenen »Satellitenstaaten«, darunter Finnland, Rumänien, Irland, die Niederlande, das noch zu besetzende Großbritannien und das restliche Frankreich, sollten ihre nationale Souveränität behalten, sich dabei aber in einem wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeitsverhältnis befinden. »Neutrale Staaten«, wie Schweden, Spanien und Portugal, sollten durch politische Verträge an Deutschland gebunden werden. Das faschistische Italien sollte außenpolitisch gleichgestellt werden, wirtschaftlich aber abhängig von Deutschland sein. Das Modell sah »Ergänzungsräume« mit kolonialem Status im Osten der Sowjetunion und in Afrika vor (Kletzin 2002: 26; Schumann/Nestler 1975: 27). Das Europamodell der Nationalsozialisten vereinte viele auf eine europäische Ordnung ausgerichtete Strategien, die in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg parallel hervorgetreten waren und den Weg für deutsche Ansprüche geebnet hatten, die darauf abzielten, den Versailler Vertrag zu revidieren. Es handelte sich hierbei um »die Reaktion eines historisch zu spät gekommenen Imperialismus, der mangels kolonialer Ausbreitungsmöglichkeiten und angesichts härtester Friedensbedingungen (nach dem ersten Weltkrieg) langfristig in Aussicht nahm, stattdessen den europäischen Kontinent – insbesondere und zunächst fast ausschließlich in der Ostrichtung – in eine imperialistisch bestimmte ›Quasi-Kolonialisierung‹ zu zwingen« (Kletzin 2002: 3; vgl. auch Mommsen 1979: 71). Insofern standen für das Dritte Reich zunächst die wirtschaftlichen und geopolitischen Vorzüge im Vordergrund, die sich aus der neuen europäischen Ordnung ergaben. In der Folge stellte die nach Rassen aufgeteilte gesellschaftliche Ordnung in Europa den Kern des nationalsozialistischen Europakonzepts dar, welches auf wirtschaftlichen und historisch‐biologisch aufgestellten Kriterien beruhte. Das nationalsozialistische Europakonzept leitete die deutsche Überlegenheit anderen Rassen gegenüber von der Annahme einer überlegenen Geschichte des germanischen Volks ab, die man bis in die Zeit des ersten römischen Reichs zurückdatierte. Die »Neuordnung durch Rasse und Raum« diente dazu, Europa zum »Großraum« für die gemäß der Rassenvorstellung in bestimmte Kategorien eingeteilten Völker zu inszenieren und dadurch die deutschen Ambitionen unter dem Deckmantel des gemeinsamen »europäischen Interesses« durchzusetzen. Die nationalsozialistische Ideologie der deutschen (arischen) Rasse und des deutschen Volkes war mit der neuen Vision der europäischen Ordnung unter deutscher Führung eng verzahnt (s. Kletzin 2002). Die rechtsgerichtete und rassistische Semantik in Bezug auf Europa büßte ihre öffentliche Wirkung nach dem Zusammenbruch des Naziregimes teilweise ein, ist aber heute immer noch präsent – und nicht nur in der Rhetorik deutscher Neonazis. Sie wird auch andernorts von anderen sozialen Akteuren artikuliert, die aktiv an identitätsbezogenen (und identitären) Narrationen zum Thema Nation und
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Multikulturalismus im Diskurs
Europa teilnehmen. Als Thilo Sarrazin – Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank und Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands – erklärte, dass Lernprobleme von Migrantenkindern ethnisch‐genetisch sowie durch einen niedrigeren IQ von Migranten aus muslimischen Ländern bedingt sei, ähnelte die Semantik jenen Redewendungen, die im rassistischen Diskurs Anwendung finden. In diesem Kontext gewannen auch die rechtspopulistischen Vorstellungen bezüglich einer europäischen Leitkultur an Bedeutung – wie sie beispielsweise von dem Niederländer Geert Wilders verbreitet werden und die dieser 2010, einen Tag vor dem deutschen Nationalfeiertag, in Berlin verkündet hatte.4 Er sprach sich für eine Rückkehr zur traditionellen deutschen Identität sowie für die EU als Modell nationaler Leitkultur aus (Süddeutsche Zeitung 04.10.2010). Indem er den Islam mit dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus verglich, befand sich Wilders mit jenen rechtspopulistischen Vorstellungen im Gleichklang, welche die europäische Demokratie und Freiheit durch das muslimische »Andere« bedroht sehen.
2.2.4
Postnationale europäische Identität
Die Frage, wie postnationale europäische Identitäten nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland zu gestalten seien, revitalisierte die Diskussion zwischen verschiedenen Instanzen im Sinne der älteren antagonistischen Semantikmuster. Daher entwickelt sich die alte Dialektik von Orient und Okzident in neuen historischen Zusammenhängen weiter, im Spannungsfeld von ethnischer und kultureller Vielfalt einerseits und der Vorstellung einer homogenen deutschen »Leitkultur« andererseits. Darüber hinaus entfaltete sich eine neue Diskussion in Westdeutschland – spätestens seit den 1950er Jahren, also seit der Zeit, als die ersten Projekte zur Vereinigung Europas initiiert wurden – die sich auf zwei Kernpunkte konzentrierte: Was konnte die Bedeutung Europas nach der Kriegserfahrung sein, und wie konnte die neue Rolle Deutschlands im neuen europäischen Kontext aussehen? Liebert (2008) geht im Hinblick auf die Entwicklung des deutschen Selbstverständnisses in der postnationalen Konzeption davon aus, dass »Deutschland – das 1949 in Form eines semi‐souveränen Staats neugegründet und von der Europäischen Union ›gezähmt‹ worden war« (Katzenstein 1998) – nach der Wiedervereinigung von 1989 »mehr als je zuvor zwischen den Tendenzen der Europäisierung und der Selbstbehauptung oszilliert« (Köhler-Koch/Knodt 2000). Seit dem Fall der Berliner Mauer ist diese nicht nur zum Symbol der deutschen Einheit geworden, sondern auch für 4 Die Rede Geert Wildersʼ (eines Mitglieds der niederländischen Regierung), gehalten einen Tag vor dem deutschen Nationalfeiertag, dem Tag der Deutschen Einheit am 03. Oktober 2010, zog etwa 500 Sympathisanten an und wurde von Angela Merkel und anderen Mitgliedern der deutschen Regierungsparteien scharf kritisiert.
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den Prozess der europäischen Vereinigung. Außerdem, nach Jahren der Trennung von Ost- und Westdeutschland, bemüht sich die vereinte Nation nun, sich in der Rolle einer europäischen Kernnation neu zu erfinden. Wie Liebert (2008) betont, werden die ›neu erfundenen‹ postnationalen deutschen Identitäten im Spannungsfeld verschiedener sozialer Handlungsinstanzen hervorgebracht, wobei der Fokus auf den beiden folgenden Fragen liegt: • •
die Frage der Vergangenheitsbewältigung nach 1945 die Frage nach der neuen nationalen Selbstauffassung Deutschlands im europäischen Verbund nach der Deutschen Einheit 1990
Bezüglich der Erinnerungskultur kann argumentiert werden, dass sich die Perspektiven auf Europa, die den Prozess der europäischen Identitätsentwicklung in Deutschland maßgeblich beeinflusst haben, aufgrund der einzigartigen historischen Erfahrungen der einzelnen Generationen, die sich vor dem Hintergrund zweier unterschiedlicher deutscher Staaten und im Kontext jeweils spezifischer soziokultureller Wendepunkte ereignet haben, dramatisch verändert haben. Von dieser Warte aus betrachtet sind deutsche Spielarten des ›doing European identity‹ Generationenprojekte der Selbstreflexion und der generations-übergreifenden Verhandlung in Bezug auf Europa – die sich im Rahmen der Reflexion von nationalistischer Vergangenheit und parallel zu den spezifischen Wendepunkten ereignen. Die Frage, wie mit der Vergangenheit umzugehen sei, verweist auf den selbstreflexiven Charakter des modernen Deutschland im europäischen Kontext. In den 1960er Jahren entstand ein Diskurs über Europa als Erinnerungsgemeinschaft, welcher hauptsächlich in den antagonistischen Interpretationen der Vergangenheit durch die Weltkriegsgeneration und durch deren Kinder (die Generation 1968) verwurzelt war. Der Holocaust – ein historischer Wendepunkt der extremen Gewalt und des Massenmordes von gesamteuropäischer Dimension – wurde seither als Herausforderung nicht nur für den individuellen Erinnerungsprozess, sondern auch für das kollektive deutsche Gedenken gesehen. Zwei wichtige Konsequenzen erwuchsen aus dieser Reflexion: der Aufruf, der besonderen Verantwortung für Frieden in Europa gerecht zu werden sowie die Überzeugung, dass Europa Verantwortung für eine Politik des Weltfriedens trägt (s. Derrida/Habermas 2003). Die anhaltende Debatte über Erinnerungskultur in Deutschland zielt darauf ab, die Nationalgeschichte Deutschlands zu überdenken – also die Erfahrung des Nationalsozialismus und der beiden Weltkriege – mit dem Zweck, diese nachvollziehbar zu machen. Auf der theoretischen Grundlage von Halbwachsʼ Konzept des »kollektiven Gedächtnisses« (Halbwachs 1992) wurde Geschichte zunehmend als diskursive Erfahrung innerhalb des kollektiven Erinnerungsprozesses konzeptualisiert. In diesem Kontext traten unterschiedliche Formen des »negativen
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Gedächtnisses« hervor, die sich auf den Täter-Opfer-Diskurs – den Diskurs über Schuld und Erinnerung an erlebtes Leid – konzentrierten. Da die zweite – und mittlerweile die dritte – deutsche Generation es als notwendig empfand, sich mit den NS-Biographien ihrer Eltern auseinanderzusetzen, wurde die sogenannte »Vater-Literatur« zu einem wichtigen Genre in der westdeutschen Literatur. Sie setzt sich zum Ziel, dem Schweigen der ersten Generation bezüglich der nationalsozialistischen Vergangenheit entgegenzuwirken. Zugleich widmen sich die zahlreichen qualitativen biographischen Studien, die im Nachgang dieses Trends veröffentlicht worden sind, der Rekonstruktion der Bedeutung der Vergangenheit und der generationsübergreifenden Kommunikation über die Vergangenheit (s. etwa Alheit/Fischer-Rosenthal 1995; Rosenthal 1990; Welzer et al. 2002; Welzer 2005). Diesbezüglich kann die These formuliert werden, dass diese Tendenz vielfältige Möglichkeiten eröffnet, neue deutsch‐europäische Identitäten zu begründen. Bei der Betrachtung von deutscher und europäischer Erinnerungskultur kommen einige Autoren zu dem Schluss, dass die Erinnerung an kollektive Schuld den Vertretern der Nachkriegsgeneration als Basis für eine neue europäische Identität dienlich sein kann – bisher kamen hauptsächlich heroische und nationale Vorkriegsidentitäten als Grundlage in Frage (s. Giesen 2002; Leggewie 2009). Des Weiteren haben biographische Studien Konjunktur, welche die Erfahrungen deutscher Heimkehrer – meist aus Russland, Polen oder der Tschechoslowakei – schildern. Diese Memoiren widmen sich meist nicht der Zeit zwischen 1939 und 1945, sondern legen den Schwerpunkt nachdrücklich auf persönliches Leid, das unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erfahren wurde. Diese Narrationen fechten auch den Opfer-Täter-Diskurs auf der europäischen Bühne an. Aus der Perspektive der Erinnerungskultur betrachtet, legt der Wendepunkt der deutschen Wiedervereinigung von 1990 weitere konkurrierende Konzeptualisierungen von nationalen und europäischen Identitäten offen. Die Gründung zweier deutscher Staaten nach 1949 – die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik – brachte nicht nur zwei unterschiedliche deutsche Gesellschaftsordnungen mit sich, die sich auf politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ebene manifestierten, sondern sorgte auch für die Entwicklung zweier unterschiedlicher deutscher Erinnerungs- (sowie Zukunftsprojektions-)kulturen. Auch wenn sich diese unterschiedlichen kollektiven Erinnerungskulturen auf dieselbe Zeitspanne bezogen (primär auf die Zeit des Nationalsozialismus), wurde die kollektive Bedeutung, die sie aus diesen Erfahrungen ableiteten, anders strukturiert. Dementsprechend führte die Wiedervereinigung von 1990 zu einem Aufeinanderprallen von ost- und westdeutschen kollektiven Erinnerungskulturen und leitete eine neue Debatte ein – in deren Folge sich weitere Probleme des kollektiven Gedächtnisses und der kollektiven Erinnerung ergaben. Mit dem Prozess der Wiedervereinigung wurden nicht bloß die unterschiedlichen Nachkriegshistorien zu einem zentralen Problem, sondern auch die Frage, wie eine kollektive
2 Deutsche Debatten über europäische Identität: Stand der Forschung
Bedeutung aus diesen abgeleitet werden kann. In diesem Zusammenhang tut sich die Frage auf, was eine gemeinsame deutsche Erinnerungskultur – die aus zwei unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen hervorgegangen ist, in denen wiederum zwei unterschiedliche Erinnerungskulturen ausgebildet wurden – tatsächlich für das geeinte Deutschland im europäischen Kontext bedeuten könnte.
2.2.5
Deutscher Sonderweg in die Moderne
Gegen Ende der 1980er Jahre verdichtete der sogenannte »Historikerstreit« die Hauptpositionen bezüglich der Interpretation der Vergangenheit und deren Auswirkungen auf die gegenwärtige und zukünftige deutsche Identität im Kontext einer neuen europäischen Ordnung. Im Zentrum der Debatte standen die Positionen von Ernst Nolte und Jürgen Habermas. Der konfliktträchtige Diskurs entspannte sich rund um die Frage, ob der Holocaust ein einmaliges und einzigartiges historisches Ereignis im Rahmen des sogenannten »deutschen Sonderwegs« war, oder ob er stattdessen eher im breiteren Kontext von anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie beispielsweise dem Gulag, gesehen werden sollte. Während Nolte argumentierte, dass die nationalsozialistische Politik der Judenvernichtung vom sowjetischen Gulag-System abgeleitet worden sei, entgegnete Habermas, dass der Holocaust nicht historisiert und dass dessen Einzigartigkeit nicht marginalisiert werden dürfe. Diese Debatte legte die Vielzahl von Positionen bezüglich der Interpretation des Holocaust offen, der ein Hauptbezugspunkt aller postnationalen deutschen Identitätskonstruktionen bleibt. Diese Debatte rekapitulierte auch die besonderen Eigenschaften des deutschen Wegs in die Moderne, so wie diese besonders im europäischen Diskurs über den »deutschen Sonderweg« in die Moderne aufgezeigt wurden (s. Ritter 1948; Cornelißen 2004; Taylor 1945; Berghahn 1989). Die Grundlage dieses Diskurses war einerseits die historiographische Auseinandersetzung mit deutscher Aggression in den Weltkriegen und andererseits die soziologische Frage nach dem deutschen »Habitus« im Hinblick auf Gewalt (s. Vansittarts 2003; Elias 1992). Im Wesentlichen ging es hier darum, die Entwicklung der Moderne in Deutschland als Entstehung eines nationalen Habitus, der den Entzivilisierungsprozess der Hitler-Ära ermöglicht hat, zu entschlüsseln, sowie darum, diesen Vorgang mit dem langfristigen modernen deutschen Staatsbildungsprozess in Zusammenhang zu bringen. Am Anfang der umfassenden Debatte über das ›deutsche Problem‹ in Europa stand die Frage, ob der Nationalsozialismus als Bruch oder vielmehr als Erfüllung der deutschen Geschichte zu werten sei. Gerhard Ritter versuchte bereits im Jahre 1948 historiographisch darüber Rechenschaft abzulegen, wie sich die geschichtliche Eigenart des modernen deutschen Staatsdenkens im Vergleich zu den anderen Nationen Europas eingestellt habe – vornehmlich im Vergleich zu Frankreich und Großbritannien. In seiner Analyse verfolgt der Autor die deutsche Geschich-
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Multikulturalismus im Diskurs
te bis ins 16. Jahrhundert zurück. Ausgehend von der historischen Idee des Nationalstaats legt er nahe, dass Deutschland »keinen hoffnungslosen Sonder- und Ausnahmefall unter den europäischen Nationen« (Ritter 1948: 199) darstelle. Im Gegenteil: Der Nationalsozialismus mit seinen »Gewaltmethoden« sei konkordant mit »ein[em] Zeitalter des allgemeinen Kulturverfalls und des moralischen Nihilismus« (ebenda). Die Anfänge dieses Verfalls gingen auf die Verdrängung der Religion aus dem Mittelpunkt des öffentlichen und sozialen Lebens während der Französischen Revolution zurück – hierdurch sei der Weg für die Entwicklung des modernen Totalstaats geebnet worden. Indem er seine kritischen Analysen zugrunde legte, ging es Ritter darum, die West- und Mitteleuropa verbindenden Gemeinsamkeiten und Parallelen in der allmählichen Entfaltung national geprägter politischer Kulturen in der modernen Ära herauszustellen. Eine wiederum andersartige Herangehensweise wählen Norbert Elias und Zygmunt Baumann, welche die Untersuchung der Besonderheit von nationalen deutschen Vorstellungen von Europa mit dem Konzept der Moderne kombinieren. Norbert Elias erkennt die Ursachen der Entzivilisierung Deutschlands im Vergleich zu anderen europäischen Staaten vor allem in der Auseinandersetzung zwischen bürgerlichen und höfisch‐aristokratischen Schichten in Deutschland während des 18. Jahrhunderts und sieht die Entwicklung des deutschen Habitus und die Entwicklung des modernen deutschen Staats als parallel verlaufende Prozesse (Elias 1989/1992: 21ff, 1992). Elias konzipiert in seiner Arbeit zur Soziogenese der modernen Entzivilisierung die modernen Staatenbildungsprozesse als vornehmlich durch Macht- und Gewaltmonopolisierung gekennzeichnete Prozesse, welche Integrations- und Differenzierungsstrategien auf demographischer, politischer, sozialer und ökonomischer Ebene beinhalten. Der Autor weist auf die folgenden Aspekte des Strukturwandels der Moderne hin, die, zusammengenommen, den Kern des Zivilisationsprozesses ausmachen: Steigerung und Beschleunigung des Bruttosozialprodukts in Zeiten der Industrialisierung, Veränderung der Machtbalance zwischen Establishment- und Außenseitergruppierungen verschiedenster Art (emanzipatorische Bewegungen), Verringerung des Machgefälles zwischen stärkeren und schwächeren Gruppen, Beunruhigung und Verunsicherung als Folge des Wandels der Machtverhältnisse, soziale Identitätskrisen als Folge von Veränderungen der Formalitäts-Informalitätsspanne, diachronische Informalisierungsprozesse und die Veränderung im Verhältnis von gesellschaftlichen Fremdzwängen und individuellen Selbstzwängen. Zygmunt Bauman analysiert die deutsche Identität und die deutsche Moderne auf Grundlage von Assimilationspraktiken der deutschen Juden und verortet die Modernisierungslogik im Kontext von Gewalt, Fremdheit und Holocaust (Bauman 1991: 166ff). Da die Juden in praktisch jeder sich modernisierenden europäischen Gesellschaft – und nicht nur in Deutschland – dem Assimilationsdruck ausgesetzt waren, schlägt Baumann vor, den Fall der Juden als allgemeines Beispiel für die Dy-
2 Deutsche Debatten über europäische Identität: Stand der Forschung
namik der europäischen Modernisierung zu betrachten – zudem nutzt er ihn für einen Vergleich von unterschiedlichen Spielarten der Moderne. Die Universalisierungslogik der modernen Nationalstaaten erkennt der Autor als den globalsten und wohl charakteristischsten Zug der Modernisierung. Ihren Ursprung sieht er in der Französischen Revolution, den darauffolgenden napoleonischen Eroberungen und den ersten Projekten der paneuropäischen Vereinigung. Die Modernisierung, so Bauman, »war auch ein kultureller Kreuzzug; ein machtvoller und rücksichtsloser Drang, Unterschiede in Werten und Lebensstilen, in Bräuchen und der Sprache, den Überzeugungen und im öffentlichen Benehmen auszurotten« (ebenda 166). Bauman begreift die Moderne als Drang, alle kulturellen Werte und Stile neu zu definieren – mit Ausnahme derer, die von der modernisierenden Elite als minderwertig eingestuft und zur Fremdheit verurteilt wurden. Vor dem Hintergrund der deutsch‐jüdischen Geschichte argumentiert er, dass sich die hauptsächlichen charakteristischen Elemente der Moderne im Projekt der Assimilation wiederfinden, welches er folgendermaßen beschreibt: nationalstaatliche Vereinheitlichung der Bevölkerung, Legitimierung der Autorität des Staates durch Bezug auf gemeinsame Geschichte und einen gemeinsamen Geist, Kluft zwischen dem Projekt der Homogenität der Nation und praktischer kultureller Heterogenität, Intoleranz gegenüber Differenz, Ausgrenzungs- und Diskiminierungspraktiken (Bauman 1991: 226ff). Derart gewährt Bauman in seinen Arbeiten zum Umgang mit Fremdheit nicht nur einen Einblick in die deutsche, sondern auch in die europäische Moderne. Da sich beide Autoren auf den Holocaust beziehen, scheint es auf den ersten Blick der Fall zu sein, dass Elias und Bauman sehr ähnliche Perspektiven einnehmen. Dennoch klärt sich in der Nahbetrachtung, dass Elias den Gegensatz von Establishment und Außenseitern betont, der auf der Dynamik von Exklusion und Inklusion basiert, die sich in jeglicher Gesellschaftsform und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Konfigurationen ausmachen lässt – er selbst beschäftigte sich eingehend mit dem Thema in seinen empirischen Studien in England. Bauman dagegen konzentriert sich vornehmlich auf Assimilation als zentrale dynamische Kraft der Moderne. Er nimmt folglich die nach innen gerichtete Homogenisierung des Staats in den Blick, eine repressive soziale Dynamik, die in allen modernen Gesellschaften auftritt. Übereinstimmung herrscht zwischen den beiden Autoren bezüglich des folgenden Sachverhalts: Die Prozesse der nach innen gerichteten Homogenisierung und der nach außen gerichteten Heterogenisierung, die zwischen den Figuren des »Selbst« und des »Anderen« konstruiert werden, sind wesentlich für die Entwicklung moderner Nationalstaaten und ihrer Identitätsprogramme. Ebenso wird der Hauptanteil des Identitätsdiskurses in Deutschland durch die Gestaltung (mit Elias gesprochen »die Figuration«) des »Selbst« und des »Anderen« konzipiert.In diesem Diskurs basieren die Prozesse der kollektiven Identitätsformation einerseits auf Identifikation mit einer bestimmten Gemeinschaft
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– beispielsweise im Sinne von Zugehörigkeit – und werden andererseits durch die vielschichtigen Strategien der Exklusion dynamisiert (s. Merz-Benz/Wagner 2002). Daher ist die Figur des kulturell konnotierten »Anderen« oder »Fremden« allen Identitätskonstruktionen inhärent – auch der deutsch‐europäischen (s. Kapitel 1.1.). Quenzel (2005) unterscheidet zwischen unterschiedlichen Gruppen von »Anderen«, die Teil des europäischen Projekts sind: Die »externen Anderen« sind zunächst die Türkei (und weitere Länder, die als muslimisch klassifiziert werden), aber auch Russland und die USA. Die »internen Anderen« sind die osteuropäischen Staaten. Gleichzeitig fallen gewisse Parallelen zwischen europäischer und deutscher Semantik bei der Kennzeichnung der genannten Dichotomie auf, wenn man die Entwicklung von nationalen deutschen Identitätskonstruktionen zurückverfolgt, da sowohl muslimische Länder (seit dem 15. Jahrhundert) als auch Osteuropa (insbesondere die slawischen Völker, seit dem 18. Jahrhundert) zentrale konstitutive Figurationen des »Anderen« innerhalb der nationalen deutschen Identität einerseits und der europäischen deutschen Identität andererseits sind (s. Boldt 2012). Hier wird einmal mehr jene Dynamik diskursiv aktiviert, die sich sowohl zwischen den Polen: Orient und Okzident als auch zwischen den Polen: Westeuropa und Osteuropa entfaltet. Darüber hinaus lassen sich Strategien der Exklusion sowie des Umgangs mit Fremdheit – im Kontext moderner Identität – auch in der deutschen Staatsbürgerschaftsdebatte aufzeigen. Die Anthologie »European Constructions of Belonging« misst nationaler Immigration und der Einbürgerungspolitik im Prozess europäischer Identitätskonstruktion wesentliche Bedeutung bei, weil auf diese Weise ein Gefühl der Zugehörigkeit ausgebildet hat (von Thadden/Kaudelka/Serrier 2007). Dieter Gosewinkel (2001, 2005) nimmt in diesem Zusammenhang eine historische Perspektive ein, untersucht deutsche Identitätskonstruktionen – also deren Semantik interner und externer Exklusion – und fokussiert sich dabei auf die deutsche Einwanderungspolitik und deutsche Einbürgerungsverfahren. Er geht davon aus, dass die Entwicklung hin zur deutschen Staatsbürgerschaft einen zentralen dynamischen Faktor bei der Konsolidierung einer Definition der modernen deutschen Nation ausmacht, die von der Frage bestimmt ist: Wer gehört zur deutschen Nation – und wer nicht? Die deutsche Tradition der Konstruktion von moderner kollektiver Identität basiert auf dem ius sanguinis-Prinzip, welches auch im deutschen Staatsbürgerschaftsrecht verankert ist. Dieses wurde 1913 verabschiedet und blieb bezüglich einiger seiner Hauptprämissen bis ins Jahr 2000 unverändert. Seitdem hat eine Vielzahl von Debatten in der deutschen Öffentlichkeit stattgefunden, in deren Zentrum die Frage stand, ob die deutsche Identität durch den multikulturellen Charakter der deutschen Gesellschaft infrage gestellt wird.
2 Deutsche Debatten über europäische Identität: Stand der Forschung
2.2.6
Transnationale und multikulturelle Identitätssemantiken
Die Zusammensetzung der deutschen Gesellschaft hat sich seit den Einwanderungswellen von sogenannten »ethnischen Deutschen« (»Aussiedlern«) aus Osteuropa und der Sowjetunion(denen in den 1960er Jahren »Gastarbeiter«5 und Immigranten6 folgten) beträchtlich verändert – eine Entwicklung, die mit der Emigration von deutschen Staatsbürgern in andere Länder koinzidierte. Diese demographische Transformation begünstigte eine Neuinterpretation der deutschen Selbstkonzeptualisierung von einer völkischen hin zu einer multikulturellen, multiethnischen Gesellschaft. Besagter Zustand verlagert die Diskussion über das nationale Element in deutsch‐europäischen Identitätskonstruktionen hin zur Untersuchung der transnationalen Elemente bei der deutschen Selbstkonzeptualisierung im europäischen Rahmen – da die Migranten, welche die Zusammensetzung der deutschen Gesellschaft verändert haben und die deutsche Identität andauernd infrage stellen, aus anderen europäischen Ländern kamen (darunter überwiegend die Türkei, Griechenland, Polen und die ehemalige Sowjetunion). Ebenso ist es der Fall, dass die Migranten aufgrund ihres kulturellen Hintergrunds sowohl die deutsche Kultur als auch ihre Herkunftskultur im europäischen Rahmen herausfordern. In diesem Kontext wird deutsch‐europäische Identität hinsichtlich Transnationalität und kultureller Vielfalt diskutiert. Im Jahre 1998 erkannte die sogenannte ›rot‐grüne‹ Regierung im Text ihrer Koalitionsvereinbarung erstmals die Realität hinsichtlich Einwanderung in Deutschland an. Seit September 2010 hat sich die breitgefasste öffentliche Debatte, die einmalig in der öffentlichen Sphäre Europas ist, auf die Frage konzentriert, ob die muslimische Kultur ein inhärenter Teil deutscher und europäischer Kultur ist. Diese Debatte war bereits durch vorangegangene kritische Debatten angedeutet worden, die den Gegensatz von deutscher »Leitkultur« und Multikulturalismus, den Inhalt von Einbürgerungstests im Rahmen des Einbürgerungsprozesses, Religionsfreiheit im öffentlichen Raum (die sogenannte »Kopftuchdebatte«) und der Integration von Migranten in die deutsche und europäische Gesellschaft zum Thema hatten. Der Diskurs über Multikulturalismus – der in Deutschland, wie in diesem Buch gezeigt werden soll, die Diskurse über Staatsbürgerschaft, Migration und Integration einschließt – gibt das deutsch‐europäische Identitätsprojekt als Produkt 5 Der Begriff »Gastarbeiter« wird im Kontext der Migrationswelle der 1960er und 1970er Jahre angewandt, als mehrere hunderttausend Migranten – hauptsächlich aus der Türkei, Griechenland und Italien – nach Deutschland übersiedelten, um dort Teil der Erwerbsbevölkerung zu werden. Diese kehrten nicht nach einigen Jahren in ihre Herkunftsländer zurück, sondern blieben dauerhaft in Deutschland. 6 Mehrere Migrationswellen aus Polen (seit dem 18. Jahrhundert) und der Sowjetunion (hauptsächlich nach den Zweiten Weltkrieg) müssen hier berücksichtigt werden (s. etwa Boldt 2012). Einen umfassenden Überblick gibt Pallaske (2002).
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pluralistischer Interpretationen von Zugehörigkeit auf Basis wiederholt postulierter Demarkationslinien zu erkennen. Die in Deutschland generierten europäischen Identitätskonstruktionen zeigen auf, dass die nationale deutsche Identität nicht nur einen substanziellen Einfluss auf deutsch‐europäische Identitätsdiskurse hat, sondern auch, dass diese Identitätskonstruktionen die strikte Trennung zwischen nationalen und globalen Perspektiven auf Europa überwinden. Die globalen Identitäten werden »glokal« (Robertson 1998) hervorgebracht und entstehen an verschiedenen Positionen innerhalb der verschiedenen Arten von Identitätsdiskursen, die weder nur als national klassifiziert werden können (und daher nach innen gerichtet), noch nur als europäisch (und dementsprechend nach außen gerichtet oder von außen stammend). In Folge dessen werden europäische Identitäten in diesem Buch als Produkte selbstreflexiver und relativ autonomer sozialer Akteure und Akteurengruppen verstanden werden. Die sozialen Akteure, die eine aktive Rolle bei Prozessen der Identitätsproduktion spielen, entfalten ihre Handlungsentwürfe sowie ihre Wirkungsmacht innerhalb von Diskursen, die lokal und »glokal« in Bezug auf die transnationale Öffentlichkeit entstehen und gleichzeitig von verschiedenen widerstreitenden Positionen innerhalb der deutschen Nation aus artikuliert werden. Daher werden die Identitäten als Resultat diskursiver Formationen betrachtet, die in konkreten historischen Umständen von verschiedenen und sich oftmals widersprechenden sozialen Akteurengruppen innerhalb der Machtstruktur der Diskurse hervorgebracht werden. Daraus folgt, dass die Definitionen bezüglich der Frage, was es bedeutet, Europäer zu sein, nicht in Bezug auf eine gemeinsame oder diversifizierte Geschichte der europäischen Idee verstanden werden können, sondern nur im Kontext der verschiedenen Diskursarten, in denen sie entstehen, nachvollzogen werden können. Hierin stellt die Vielfalt, die den transnationalen Konflikten inhärent ist, die Basis für die Produktion national verorteter transnationaler Identitäten mit Bezug zu Europa dar.
3 Identitätskonstruktionen staatlicher Akteure
Spätestens seit den 1950/60er-Jahren hat sich durch die sogenannte Gastarbeitermigration (vor allem aus der Türkei, Griechenland und Italien) sowie die späteren anderen Migrationsströme1 die Bevölkerungsstruktur in Deutschland gravierend verändert. Eine wissenschaftliche Diskussion über die Selbstdefinition der deutschen Nation – die vor dem Hintergrund der starken Zuwanderung von der sich als völkisch homogen definierenden zur multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft hätte umgedacht werden müssen, wodurch sich auch die Frage nach der Kollektividentität Deutschlands neu stellte – gab es seit den 1970er-Jahren. Die Politik reagierte jedoch erstmals im Jahre 2000 mit einer öffentlichen Debatte über die Gestaltung der deutschen Gesellschaft als Einwanderungsgesellschaft sowie über die Anerkennung der Multikulturalität als eines der Hauptmerkmale der gewandelten Bevölkerungsstruktur. Diese Entwicklung ging mit der gravierenden Veränderung der deutschen Staatsbürgerschaftsregeln einher, innerhalb derer im Jahr 2000 das Prinzip der ius sanguinis – demzufolge man von Geburt an Deutscher durch Blutsverwandtschaften mit den Deutschen war – durch das eingeschränkte Geburtsortprinzip (ius soli) ergänzt wurde. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, wie sich in den Jahren von 2000 bis 2011, nach dem fragilen und – nach wie vor – umstrittenen Bekenntnis Deutschlands zur Einwanderungsgesellschaft, seine neue Identitätskonstruktion in Verschränkung mit der europäischen Identitätskonstruktion entfaltet hat und wie sich Deutschland infolgedessen als Kultur der Integration im Dialog mit seinen »signifikanten Anderen« (Mead 1934) neu erfindet. Themen wie Migration und Integration fallen in Deutschland vor allem in den Verantwortungsbereich der Bildungs-, Kultur- und Zuwanderungspolitik. Aus dieser Zuschreibung resultiert die Definition des Phänomens der Migration und Integration als ein Problem der Bildung und Kultur einerseits und als Problem der Kontrolle und Regulierung des Zuzuges vor allem außereuropäischer Menschen andererseits. Somit werden die Programme mit denen auf das so definierte Phänomen der Migration reagiert wird durch ein bestimmtes Machtverhältnis inner1 In den 1980er-Jahren ereignete sich die größte Migrationswelle aus Osteuropa und den GUSStaaten, Anfang der 1990er-Jahre aus dem damaligen Jugoslawien.
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Multikulturalismus im Diskurs
halb der Bildungs-, Kultur- und innenpolitisch motivierten Zuwanderungspolitik Deutschlands systemisch vorstrukturiert. Die Bildungs- und Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland siedelt sich zwischen unterschiedlichen staatlichen Organen auf diversen Organisationsebenen des Staates – des Bundes, der Länder und der Kommunen – an. Sowohl das Kultur- als auch das Bildungswesen wird in Deutschland durch die Länder und Kommunen föderalistisch organisiert und unterliegt somit, anders als in den meisten europäischen Ländern, nicht der zentralisierten Verfügungsgewalt des Bundes. Daraus folgt, dass jedes Bundesland seine eigene Bildungs- und Kulturpolitik entwirft und somit auch eine eigene Integrationspolitik, die im Wesentlichen durch Bildung und Kultur getragen wird, betreibt. Dagegen wird die Zuwanderungspolitik insofern zentralistisch gesteuert, als sie in erster Linie dem Innenministerium unterliegt und in engem Zusammenhang mit bundesdeutschen Problemen, wie z.B. dem demographischen Wandel oder dem Fachkräftemangel (»brain drain«) entworfen wird. Die Länder genießen dabei eine weitgehende Autonomie in der Auslegung der zentral bestimmten Zuwanderungsgesetze. Im folgenden Kapitel (Kapitel 3.1) wird der ›innengerichteten‹ Identitätskonstruktion diverser staatlicher Akteure im Feld der Einbürgerungs-, Bildungs- und Integrationspolitik nachgegangen. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, wird zunächst die Organisationsstruktur der Bildungs- und Zuwanderungspolitik geschildert, um die relevanten staatlichen und nichtstaatlichen Akteure auszudifferenzieren, ihre Abhängigkeitsverhältnisse zu skizzieren und ihren Beitrag zur deutschen Integrations- und Bildungspolitik zu rekonstruieren (Kapitel 3.1.1). Außerdem werden politische Dokumente, die ebendiese Akteure im Kontext der Integrations- und Bildungspolitik aufgesetzt haben, sowie die öffentlichen Debatten während des Zustandekommens einiger dieser Dokumente, wie sie in Zeitungsartikeln dokumentiert wurden, analysiert. Darüber hinaus werden die in diesem Feld bestehenden Bezüge auf Europa deutlich gemacht (Kapitel 3.1.2). Um die Semantik der staatlichen Akteure in Bezug auf die in diversen Texten vermittelten Identitätskonstruktionen zu rekonstruieren, werden in Kapitel 3.1.2 einige ausgewählte und in der Zeit von 2000 bis 2011 im Feld der Bildungsund Integrationspolitik verfasste Berichte und Beschlüsse interpretiert. Auf der Ebene der Bundesländer werden Beschlüsse und Empfehlungen der Kultusministerkonferenz analysiert und auf der Ebene des Bundes der Nationale Integrationsplan (2007). Es soll dabei vorweggenommen werden, dass sich während der Analyse ein sichtbarer Unterschied in der Integrations- und Bildungssemantik im Hinblick auf die Kinder und Jugendlichen einerseits und andererseits im Hinblick auf die Erwachsenen im Kontext des Einbürgerungsverfahrens abzeichnete. Um diesen Unterschied zu verdeutlichen, werden die im Rahmen der Einbürgerungspolitik zwischen den Jahren 2000 und 2011 eingeführten Bildungsmaßnahmen (Integrationskurse und Einbürgerungskurse) für Erwachsene auf der Basis
3 Identitätskonstruktionen staatlicher Akteure
unterschiedlicher politischer Dokumente des Bundes untersucht: z.B. Curricula der Integrations- und Einbürgerungskurse, Bericht der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung«, die Integrationskursverordnung und die Bilanz der Integrationskurse. Darüber hinaus werden diese Dokumente kritisch im Hinblick auf Staatsbürgerschaftsrecht, Einwanderungs- und Bleiberecht sowie das Freizügigkeitsrecht der EU im Zusammenhang mit der postkolonialen Kritik diskutiert. In Kapitel 3.2 wird der ›außengerichteten‹ Identitätskonstruktion des deutschen Staates anhand der Selbstdarstellung des Staates durch die auswärtige Kulturpolitik nachgegangen. Hier werden die Berichte der Bundesregierung zur auswärtigen Kulturpolitik untersucht. Darüber hinaus wird die Konzeption 2000, Drucksachen des Deutschen Bundestages und die Broschüre »Dialog zwischen den Kulturen« (2004), herausgegeben vom Auswärtigen Amt, interpretiert. Dabei wird sowohl auf das Problem der aus der Organisationsstruktur der auswärtigen Kulturpolitik resultierenden Inhalte eingegangen, als auch auf die Tatsache, dass die zu vermittelnden kulturellen Bestände den außenpolitischen Zielen untergeordnet werden. Im Fazit (Kapitel 3.3) wird zusätzlich die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen den ›nach außen‹ und ›nach innen‹ gerichteten Identitätskonstruktionen der Bundesrepublik Deutschland angestrebt. Um die wichtigsten Ergebnisse vorweg zu nehmen: Es zeigten sich in beiden Feldern Ähnlichkeiten im Hinblick auf die zentrale Rolle der Begriffe des Dialogs und der Kommunikation. Aus diesem Grund wird in der weiteren empirischen Phase der vorliegenden Untersuchung insbesondere auf die expliziten und latenten Sinnkonstruktionen der Identität Deutschlands als Kultur im Dialog und Kultur der Integration eingegangen (Kapitel 4).
3.1 3.1.1
›Innengerichtete‹ Identitätskonstruktionen im Feld der Einbürgerungs-, Bildungs- und Integrationspolitik Verflechtung der Organisationsstrukturen der Einbürgerungs-, Bildungs- und Integrationspolitik
Die deutsche Bildungs- und Kulturpolitik wird durch eine Dualität aus dezentralisiertem Föderalismus einerseits und einer übergreifenden Idee nationaler Bildung und Kultur andererseits geprägt. Dies manifestiert sich in »komplexen Entscheidungs- und Kontrollstrukturen, die sich vertikal über die Ebenen der EU, Bund, Länder und Kommunen erstrecken« (Gomolla 2005: 95). Dabei gibt es jedoch keine umfassende gesetzliche Regelung für das gesamte deutsche Bildungswesen. Auch gibt es kein Kulturministerium, das an zentraler Stelle kulturelle Programme gesetzlich festlegt.
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Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ist das wichtigste Organ der deutschen Bildungspolitik, welche auf der horizontalen Ebene noch mit der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, sowie der Sozial-, Jugend-, Familienpolitik und seit den 1980er-Jahren zunehmend auch mit integrationspolitischen Maßnahmen verknüpft ist. Dabei setzt das BMBF aber lediglich die gesetzlichen Rahmenbedingungen, weil das Prinzip der »Kulturhoheit der Bundesländer« gilt. Die Gesetzgebungskompetenzen sowie die inhaltliche Ausgestaltung der Curricula und die pädagogische Methodik und Didaktik unterliegen größtenteils der »Kulturhoheit« und somit auch der Gesetzgebungskompetenz der sechzehn Bundesländer. Das BMBF hat, zusammen mit der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) und der ständigen Kultusministerkonferenz (KMK), eine koordinierende Funktion zwischen den bildungspolitischen Strategien der einzelnen Länder, damit sich die entsprechenden Gesetze nicht zu stark unterscheiden. Die Kultusministerkonferenz (KMK) besteht aus allen im jeweiligen Bundesland für Bildungs-, Hochschul-, Forschungs- und Kulturpolitik zuständigen Minister bzw. Senatoren und dient der Vertretung gemeinsamer Interessen gegenüber dem Bund und der Europäischen Union. Die Europäische Union hat laut §§149-151 des Vertragsgesetzes Einfluss auf die Bildungs- und Kulturpolitik innerhalb der Union und da eben dieses Politikfeld in die Zuständigkeit der deutschen Bundesländer fällt, wirken diese über den deutschen Bundesrat an EU-Angelegenheiten mit. Betrifft ein EU-Vorhaben vornehmlich den kulturellen, medien- oder bildungspolitischen Bereich, wird die Verhandlungsführung sogar einem Vertreter der Länder übertragen. Die Länder erarbeiten innerhalb der Kultusministerkonferenz und ihrer Fachgremien Positionen zu europapolitischen Grundsatzfragen und EUVorhaben, die in die Bundesratsberatungen einfließen. Außerdem stimmen sich die Länder innerhalb der Kultusministerkonferenz über die Durchführung und Umsetzung europäischer Maßnahmen im Länderbereich ab. Im Zusammenhang mit der Integrationspolitik hat sich die Kultusministerkonferenz mehrfach mit der Rolle von Migranten an deutschen Schulen beschäftigt und unter anderem eine Empfehlung zur interkulturellen Bildung sowie einen Bericht zur Förderung und Integration von jungen Migrantenherausgegeben, die in Kapitel 3.2 dieses Buches analysiert werden. Anders sieht die Verteilung der Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnissen bei der Zuwanderungs- und Einbürgerungspolitik aus. Hier ist die Gesetzgebungskompetenz des Bundes viel stärker als im Bereich der Bildungs- und Kulturpolitik. Sowohl das Zuwanderungs- als auch das Ausländergesetz, Asylrecht und Einbürgerungsverfahren werden zentral reguliert. So gibt es in jedem Landkreis und jeder kreisfreien Stadt Ausländerbehörden, die lediglich auftragsausführende Instanzen des vom Bund festgelegten Rechts sind und ausländer- und passrechtliche Maßnahmen durchführen (s. AufenthG §71 Abs.1). Gleichzeitig gibt es aber
3 Identitätskonstruktionen staatlicher Akteure
auch auf Landes- und Kommunalebene Einrichtungen, die die operative Durchführung der Bundesgesetze übernehmen. Zu nennen sind hier die Außenstellen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, die beispielsweise über Zulassungen zu Einbürgerungstests entscheiden (etwa im Hinblick auf die Zahl der Migranten im jeweiligen Bundesland). Auf der Bundesebene ist für die Integrationspolitik die Bundesbeauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration zuständig, deren Amt 1978 eingeführt wurde und zunächst am Bundesministerium für Arbeit und Soziales, von 2002 bis 2005 beim Familienministerium und seit 2005 direkt beim Bundeskanzleramt angesiedelt ist. Die wechselnde Zuordnung des Amtes unter verschiedene Ministerien, vom Arbeitsministerium bis hin zum Bundeskanzleramt, zeigt die Veränderung der Deutung der Themen Migration und Integration in der Bundesrepublik in den letzten 40 Jahren und die wachsende bundesdeutsche Relevanz der Integrationspolitik. Das Amt der Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration wird heute als eine Verbindungsstelle zwischen allen mit Integration befassten Organen in nahezu allen relevanten Bereichen, darunter Kultur und Bildung, konzipiert. Die Kompetenzen und Aufgaben der umgangssprachlich sogenannten Integrationsbeauftragten sind im Aufenthaltsgesetz §§92-94 festgeschrieben und beinhalten ihr Recht, bei der Bundesregierung Vorschläge einzureichen und dieser Stellungnahmen zuzuleiten sowie letztere anzufordern, falls öffentliche Stellen Ausländer ungleich behandeln oder ihre Rechte nicht wahren. Inhaltlich soll sie die Integration von Migranten sowie ein gutes Zusammenleben mit der deutschen Bevölkerung fördern, Fremdenfeindlichkeit entgegenwirken, für die Belange von Ausländern eintreten, über Einbürgerungsmöglichkeiten informieren und auf die Einhaltung der Freizügigkeitsrechte von Unionsbürgern achten (s. www.integrationsbeauftragte.de). Dabei soll sie mit den Stellen auf Gemeinde-, Landes- und EU-Ebene sowie in den EU-Mitgliedsländern zusammenarbeiten, die ähnliche Aufgaben wie sie haben und Initiativen zur Integration von Migranten bei Ländern, Kommunen und Verbänden anregen (s. Aufenthaltsgesetz §93). Die Integrationsbeauftragte ist somit eine Verbindungsstelle zwischen allen Themen und Einrichtungen, die im Bereich der Integrationspolitik auf bundesdeutscher und mit Einschränkungen auch auf EU-Ebene eine Rolle spielen. Weiter gehört das Bundesministerium des Innern (BMI) zu den wichtigsten bundespolitischen Einrichtungen, die an der Zuwanderungs- und Integrationspolitik beteiligt sind. Hier befasst sich die Abteilung »Migration, Integration, Flüchtlinge, Europäische Harmonisierung« mit Fragen des Aufenthalts- und Freizügigkeitsrechts, dem Asylrecht, Fragen der Rückkehr und der Angleichung der Rechtsgrundlagen auf EU-Ebene. Das Innenministerium kümmert sich außerdem um Vertriebene, Spätaussiedler und um Minderheiten in Deutschland sowie um deutsche Minderheiten im Ausland. Damit erbringt das Innenministerium eine Komplementärleistung zu den Programmen der auswärtigen Kulturpolitik, die in Ka-
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Multikulturalismus im Diskurs
pitel 3.2 analysiert werden. Komplementär zum außenpolitischen Ziel des Dialogs, vor allem mit dem Islam, richtet das Bundesministerium des Innern auch die Deutsche Islamkonferenz aus, die seit September 2006 regelmäßig im Plenum, in Arbeitskreisen oder einem Gesprächskreis zwischen Vertreter des deutschen Staates und muslimischer Organisationen tagt (s. www.deutsche‐islam-konferenz.de). Darüber hinaus hat das Bundesministerium des Innern die Fachaufsicht über das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und bestimmt maßgeblich die Gesetzesgrundlage bei Einbürgerungsfragen. Das Aufenthaltsgesetz von 2005 schreibt vor, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) neben seinen bisherigen Aufgaben im Bereich Asyl auch an der Integrationspolitik mitwirken soll. So gehört zu den Aufgaben des BAMF, die sogenannten Integrationskurse und Einbürgerungskurse zu konzipieren und durchzuführen, die seit 2005 zu den Bildungsmaßnahmen beim Einbürgerungsverfahren gehören. Außerdem fördert es Projekte zur Eingliederung von Migranten, arbeitet der Bundesregierung fachlich zu und entwickelt zusammen mit Akteuren der Integrationsförderung ein bundesweites Integrationsprogramm, das zusätzlich zu Bildungsmaßnahmen im Rahmen des Einbürgerungsverfahrens, den sogenannten Integrations- und Einbürgerungskursen, die auf allen Ebenen und von verschiedenen Trägern erbrachten Integrationsangebote erfasst und Empfehlungen zur qualitativen Weiterentwicklung beinhaltet.
3.1.2
Wie wird man Europäer? Wie wird man Deutscher? Identitätsstiftende Rolle der Einbürgerungs-, Bildungs- und Integrationspolitik
Es liegt nahe, dass die Frage nach der europäischen Identität aufgrund der fehlenden europäischen Staatsbürgerschaft über die Problematisierung der nationalen Staatsbürgerschaft konzeptualisiert werden muss, weil nur der Besitz eines nationalen Passes eines EU-Staates die Teilhabe an europäischer Bürgerschaft ermöglicht. Konsequenterweise wird der Prozess der Einwanderung nach Europa und Einbürgerung in Deutschland sowie die Erfahrungen, die Migranten mit der Aufnahme in die europäische über die nationale Gesellschaft gemacht haben, für ihre nationale und europäische Identitätskonstruktion prägend sein. Der Sammelband »Europa der Zugehörigkeiten« spricht den Einwanderungsund Einbürgerungsregeln einen zentralen Platz bei der Herausbildung der europäischen und nationalen Identität im Sinn der Zugehörigkeit zu (von Thadden/Kaudelka/Serrier 2007). So geht auch Dieter Gosewinkel der deutschen Identitätskonstruktion anhand des Einbürgerungsverfahrens und der Zuwanderungsregeln aus historischer Perspektive nach (s. Gosewinkel 2001, 2007). In der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Staatsangehörigkeit sieht er eine
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zentrale Dynamik der Konsolidierung der Definition der modernen deutschen Nation, die von der Frage geleitet wird, wer dazu gehört – und wer nicht. Das 1913 verabschiedete und bis 2000 in ihren Hauptannahmen unveränderte Staatsangehörigkeitsgesetz bestimmte die Tradition der Konstruktion kollektiver deutscher Identität anhand des ius sanguinis-Prinzips. Erstmals mit dem Reformgesetz von 2000 wurde das Abstammungsprinzip durch das Geburtsortprinzip ergänzt. Einige Wissenschaftler kritisieren jedoch, dass sich Deutschland mit den neuen Regelungen, die immer noch deutsche Eltern oder einen langen Aufenthalt in Deutschland als staatsbürgerschaftliche Voraussetzung definieren, »nicht besonders weit vom ethnischen Prinzip der Zugehörigkeit entfernt« hat (Froböse 2007: 231). So wird seit 2000 den Kindern ausländischer Eltern bei Geburt auf deutschem Boden zwar deutsche Staatsangehörigkeit zugestanden, aber nur bis zum 23. Lebensjahr. Danach müssen sie sich zwischen der deutschen und der ursprünglichen Staatsangehörigkeit ihrer Eltern entscheiden, da deutsches Recht Mehrstaatlichkeit, mit Ausnahme der Staaten der EU, grundsätzlich ausschließt. Darüber hinaus folgte die Frage nach der Einbürgerung der Nicht‐dazu-gehörigen (sogenannte »Ausländer«) bis 2000 den Ermessens- und keinerlei Anspruchsprinzipien. So hatten bis dato Menschen nichtdeutscher Herkunft die alle Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllt haben trotzdem kein Recht auf deutsche Staatsangehörigkeit. Neu im Staatsangehörigkeitsgesetz von 2000 ist die Pflicht verankert, sich zur freiheitlich demokratischen Grundordnung zu bekennen und eine Schutzklausel, die die Einbürgerung von Menschen verhindern soll, die die BRD gefährden könnten (vgl. von Münch 2007: 228ff). 2005 kam es mit der Einführung von Einbürgerungskursen und -tests zu einer weiteren Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes – diesmal bezogen auf Bildungsmaßnahmen, die später in diesem Kapitel noch diskutiert werden sollen. Die im Kontext der neuen Zuwanderungsregeln vom Bundesminister des Innern, Herrn Otto Schily (SPD), eingesetzte sogenannte Unabhängige Kommission »Zuwanderung« verfasste 2001 in ihrem Bericht Vorschläge zur Gestaltung der Zuwanderung und Integration in die BRD. Diese zeigen deutlich die zentralen Tendenzen der Politik in Bezug auf die Themen Zuwanderung und wirtschaftliche Interessen Deutschlands. Der Empfehlung zufolge sollen junge hochqualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland abgeworben und nach einem Punktesystem ausgewählt werden. Der besondere Stellenwert der Leistungsfähigkeit der Arbeitsmigranten steht im Mittelpunkt nicht nur dieses Berichts, sondern auch in der langen Tradition der deutschen Zuwanderungspolitik seit dem Kaiserreich. So steht die Verwertung der Arbeitskraft, die den deutschen wirtschaftlichen Interessen untergeordnet wird, nach wie vor im Zentrum der deutschen Migrationspolitik (s. auch Bade 2000; Herbert 2001; Treibel 2008). Der zentrale Wert der Integrationspolitik wird dabei auf die »möglichst reibungslose und effiziente Verwertung nützlicher Arbeitsmigranten« gelegt (Nghi Ha/Schmitz 2006), ohne dass den Migranten
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die uneingeschränkte Teilhabe an der europäischen und nationalen Gemeinschaft gewährleistet wird. Dabei ist der Grundgedanke nach wie vor, die Rückkehr der Arbeitskräfte vor dem Hintergrund der temporären Entwicklung des deutschen Marktes flexibel und kontrollierbar zu gestalten. Die arbeitsmarktpolitische und nationalökonomische Zielsetzung dieser Migrationspolitik, die von einigen wenigen Autoren im Rahmen der postkolonialen Kritik diskutiert wird (vgl. etwa Nghi Ha/Schmitz 2006), wird seit der Veränderung des Zuwanderungs- und Aufenthaltsgesetztes 2005 durch bildungspädagogische Elemente ergänzt, die als integrationsfördernd ausgegeben werden. So heißt es: »Der Integrationskurs ist seit seiner Einführung im Jahr 2005 die wichtigste integrationspolitische Fördermaßnahme des Bundes« (www.bmi.bund.de).2 Bei der Zusammenführung der Bildungs- und Integrationspolitik ist es von Bedeutung, in welcher Art und Weise sich die Bildungsmaßnahmen, die seit 2005 in Form von sogenannten Integrationskursen im Zuwanderungsgesetz verankert sind und vom Gesetzgeber als »integrationsstiftende Fördermaßnahme« ausgegeben werden, auf die Identität der in Deutschland lebenden Migranten auswirken. Um diesem Thema im weiteren Verlauf dieser Veröffentlichung nachgehen zu können, werden in diesem Kapitel zunächst der gesetzliche Rahmen der Integrationskurse und der Inhalt der Curricula analysiert. Da diese vom Bund ohne Beteiligung der Migrantenorganisationen verabschiedet wurden, können sie als Produkte der »Dominanzkultur« (Rommelspacher 1995) interpretiert und in ihrer Identitätssemantik untersucht werden.3 Die Verordnung über die Durchführung von Integrationskursen für Ausländer und Spätaussiedler (IntV) basiert auf einer Ambivalenz zwischen der theoretischen Freiwilligkeit jedweder Fördermaßnahme und, in diesem Fall, konkret angeordneter Pflicht. So heißt es im Aufenthaltsgesetz: »Die Integration von rechtmäßig auf Dauer im Bundesgebiet lebenden Ausländern in das wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben in der Bundesrepublik Deutschland wird gefördert und gefordert« (AufenthG 2008 § 43 Abs. 1). Ob ein Migrant am Integrationskurs teilnehmen darf oder er dazu verpflichtet wird, ist in den §§ 44 und 44a des AufenthG, § 11 Abs. 1 FreizügG EU und § 9 Abs. 1 BVFG geregelt. Dabei wird zwischen Ausländern, Bürgern der Europäischen Union, Spätaussiedlern und deutschen Staatsangehörigen unterschieden. So wird eine bestimmte Gruppe der Migranten zur Teilnahme 2 Siehe z.B. https://www.protokoll‐inland.de/DE/Themen/Migration-Integration/Integration/ Integrationskurse/integrationskurse_node.html 3 Da sowohl die Veränderungen des Zuwanderungsgesetztes von 2000 als auch von 2005 vom rot‐grünen Kabinett verabschiedet wurden, scheint die deutsche Integrationspolitik pragmatisch über die unterschiedlichen innenpolitischen Lager hinweg zu einem gesteuerten technokratischen Problemlösungskonzept der deutschen »Dominanzkultur« (Rommelspacher 1995) zu gehören, obwohl sich die ideologisch‐programmatische Einstellung der Parteien zu diesem Thema grundsätzlich unterscheidet.
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an Integrationskursen unter Androhung des Entzugs des Bleiberechts, der Einbürgerungsmöglichkeit oder der Sozialleistungen zur Teilnahme an Integrationskursen verpflichtet. Ausländer, die Leistungen nach Arbeitslosengeld II (ALG II) beziehen, können auf zwei unterschiedlichen Wegen zur Teilnahme verpflichtet werden. Die Ausländerbehörde (ABH) kann Altzuwandern im Rahmen verfügbarer und zumutbarer Plätze zur Kursteilnahme verpflichten, wenn sie Sozialleistungen beziehen und wenn ihre Teilnahme durch die Sozialbehörden angeregt worden ist (§ 44 a Abs. 1 Nr. 2a AufenthG). Hier haben die Behörden einen Ermessenspielraum bei der Entscheidung, ob eine Verpflichtung stattfinden soll oder nicht. Des Weiteren können Altzuwandern im Rahmen einer Eingliederungsvereinbarung gem. § 15 SGB II durch die ARGE/Optionskommune verpflichtet werden, einen Antrag auf Berechtigung zu einem Integrationskurs gem. § 44 Abs. 4 AufenthG zu stellen. Abhängig von dem Weg, den die ARGE/Optionskommune gewählt hat, bestehen unterschiedliche Sanktionsmöglichkeiten bei einem Verstoß gegen die Teilnahmepflicht: Im Rahmen der Anregungen können sie nach Hinweis der ABH die Leistungen um bis zu zehn Prozent kürzen, im Rahmen der Eingliederungsvereinbarung ist sogar eine vollständige Streichung der Bezüge möglich. Da diese Strafen sich ausschließlich auf aus Nicht-EU-Ländern emigrierte Menschen beschränken, tragen sie deutlich zur Ungleichbehandlung im europäischen Machtgefüge bei. Infolgedessen betreffen die Sanktionen für die Verweigerung der Teilnahme an Integrationskursen nicht alle sozialleistungsbeziehenden Menschen, sondern nur diejenigen, deren Zugehörigkeit zu Europa und Deutschland durch die Ausschließungsmechanismen der deutschen und damit europäischen Einbürgerungspolitik konstruiert wird. Somit wird die Integrationsfähigkeit der durch Geburt zur deutschen und somit zur europäischen Gemeinschaft zugehörigen Menschen, obgleich sie sozial schwach sind, keineswegs in Frage gestellt und als förderungsbedürftig eingestuft. In dieser Art und Weise wird die prinzipielle Privilegiertheit deutscher und europäischer Bürger gegenüber den vor allem aus dem nicht zur EU gehörigen Ausland stammenden Menschen verfestigt und im Rechtssystem verankert. Darüber hinaus wird auch das Erlangen des privilegierten Zugangs zur sozialen, politischen und ökonomischen Partizipation an der deutschen und europäischen Gesellschaft hierdurch von der Anpassungsfähigkeit abhängig gemacht. In diesem Zusammenhang kann die Integrationspolitik als identitätssteuerndes Instrument der Selbstvergewisserung der deutschen »Dominanzkultur« ausgelegt werden (s. Rommelspacher 1995). Für die aus dem nicht‐europäischen Ausland stammenden Menschen nehmen die Integrationsmaßnahmen die Schlüsselrolle innerhalb des Übergangsritus zur deutschen/europäischen Bürgerschaft ein. Die Verordnung über die Durchführung von Integrationskursen (IntV) setzt inhaltlich auf zwei Hauptziele. Zunächst geht es ähnlich wie bei der Erklärung der Integrationsmaßnahmen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, wo
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die deutsche Sprache zum »Schlüssel für erfolgreiche Integration« erklärt wird (www.bamf.de), um die »erfolgreiche Vermittlung der deutschen Sprache« (IntV 2004:1f). Aus Sicht der postkolonialen Kritik wird die historisch bedingte Idee der Germanisierung der Welt und der Überlegenheit der deutschen Sprache gegenüber anderen Sprachen in der Gesetzgebung nicht reflektiert und bedarf einer weiteren kritischen Analyse. Beispielsweise wird zur selben Zeit von der Kultusministerkonferenz für den Bildungsbereich folgendes empfohlen: »Im Zuge der verstärkten Deutschförderung und insgesamt beschränkter Ressourcen wird zunehmend in den Ländern eine Übernahme des Mutter- oder Herkunftssprachunterrichts durch die Konsulate oder zumindest eine Mischfinanzierung angestrebt. Gleichwohl ist eine Zertifizierung und Qualitätsentwicklung dieses Unterrichts, der einen wichtigen Beitrag zum generellen Ziel der Mehrsprachigkeit und zur interkulturellen Bildung leisten kann, wünschenswert. Staatliche Lehr- und Rahmenpläne für diesen Unterricht können eher Qualitätsstandards vermitteln, an die allerdings der Konsularunterricht nicht gebunden werden kann.« (KMK 2006:12) So wurden im Jahre 2008 insgesamt 169.400.887 EUR alleine in die Integrationskurse investiert (s. BMF Bilanz 2008), wobei die Kosten für den Muttersprachunterricht an den Schulen von den jeweiligen Konsulaten getragen werden sollen. Kritisch zu beleuchten bleibt die Tatsache, dass in einer hierarchisierenden Anordnung die Muttersprache der Migranten gegenüber der deutschen Sprache im Kontext der angestrebten Einbürgerung abgewertet wird. Darüber hinaus fällt auf, dass, obwohl die Finanzierung Aufgabe der Herkunftsstaaten bleiben soll (Konsulate), man die Qualitätskontrolle nicht aus der Hand geben will. Das zweite Ziel von Integrationskursen wird in der erfolgreichen Vermittlung »von Alltagswissen sowie von Kenntnissen der Rechtsordnung, der Kultur und der Geschichte Deutschlands, insbesondere auch der Werte des demokratischen Staatswesens der Bundesrepublik Deutschland und der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit« (IntV 2004: 1f) gesehen. Da nicht nur die Teilnahme am Integrationskurs, sondern auch der Abschluss des Kurses in Form einer Prüfung staatlichen Kontrollmechanismen unterliegt – wobei mangelnder Erfolg bei der Prüfung ebenso durch Einschränkung des Bleiberechts und Aberkennung der Sozialleistungen sanktioniert werden kann – stellt sich die Frage nach der Bedeutung dieser Bildungsmechanismen im Prozess des Deutsch- und/oder Europäisch-Werdens der Migranten. Die Frage ist insofern noch brisanter, als die Integrationskurse als eine »Erfolgsgeschichte und ein Modell für Europa« ausgegeben werden, wobei von den 155.504 im Jahre 2008 zugelassenen TeilnehmerInnen etwa 40% verpflichtet wurden und etwa ein Fünftel den Kurs wiederholte (s. BMF Integrationskurse Bilanz 2008). Die Bilanzierung der Integrationskurse, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge selbst
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durchgeführt wurde, bringt eine Verschleierung bestimmter statistischer Ergebnisse mit sich. Die Bilanz folgt im Aufbau der Erfolgslogik des Bundesamtes und erschwert eine von dieser Logik unabhängige Bewertung der Integrationskurse. So geht zwar aus der Bilanz hervor, dass die hohe Wiederholungsquote für die besonders starke Motivation der TeilnehmerInnen spräche, ohne die Verpflichtung der insgesamt etwa 40% der TeilnehmerInnen dazu in Verhältnis zu setzten. Durchgefallene werden dabei nur als Wiederholer explizit aufgeführt. Man kann sich ihre Menge, die immerhin deutlich über 50% beträgt, nur implizit erschließen (BMF Integrationskurse Bilanz 2008). Diese Entwicklung des Einbürgerungsverfahrens zeigt deutlich, dass die Tendenz zur erheblichen Beeinflussung der Migranten im Sinne der Nationalpädagogik nicht hinterfragt, sondern – im Gegenteil – verstärkt wird. Seit 2008 werden in Deutschland zusätzliche Bildungsmaßnahmen auch in das Einbürgerungsverfahren eingebettet. Der Einbürgerungswillige wird dazu verpflichtet, einen sogenannten Einbürgerungstest zu bestehen – zusätzlich zu den bis dato notwendigen Nachweisen über seine Deutschkenntnisse, ein ausreichendes Einkommen und eine bereits seit acht Jahren bestehende Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung. Der Einbürgerungstest beinhaltet 33 Fragen aus einem 310 Fragen umfassenden Fragenkatalog, die sich ähnlich wie beim sogenannten Orientierungskurs (ein Teil des Integrationskurses) auf die folgenden Themenfelder beziehen: • • •
Leben in der Demokratie Geschichte und Verantwortung Mensch und Gesellschaft
Mit dem Test sollen »Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland« nachgewiesen werden, die nun als weitere Einbürgerungsvoraussetzung verlangt werden (www.bmi.bund.de). Trotz der Kritik aus SPD-Reihen, 72 von 310 Fragen seien falsch formuliert (s. Edathy in Welt Online 14.08.2008), wurde der Test weiterhin innenpolitisch als eine integrationsunterstützende Maßnahme verteidigt. In einem Interview zu diesem Bericht, das von der Autorin im Jahr 2010 durchgeführt wurde, kritisierte jedoch der Leiter einer der Mittlerorganisationen, die durch das Ministerium für Migration und Flüchtlinge zur Durchführung des Tests autorisiert wurde, dass es sich dabei weniger um eine Bildungsaufgabe und vielmehr um eine Prüfungssituation handle (s. unten). Einige Institutionen standen, vor dem Hintergrund ihres Selbstverständnisses als Bildungseinrichtung, dem Verfahren kritisch gegenüber: »So wie die Einbürgerung nach 2008 organisiert wurde, ist diese aber keine Vermittlung von Inhalten, sondern ein standardisiertes Abfragen von festgelegten Prüfungsfragen. Der Einbürgerungstest ähnelt insofern eher der theoretischen
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Führerscheinprüfung als dem Erlernen der Gesellschafts- und Politikordnung Deutschlands«. (Interview mit einer Mittlerorganisation, 2010) Diese Kritik wurde in den Interviews von den nichtstaatlichen Mittlerorganisationen häufig geäußert. Fernab von der Vermittlung tatsächlich für die Lebenswirklichkeit in Deutschland relevanter Inhalte, diene der Test mit seinen Fragen vielmehr dazu, eine deutsche Identität zu stilisieren. Mithilfe des Tests werde eine Grenze im Sinne eines Übergangsrituals zwischen dem Nicht-Deutschen und Deutschen in einer bestimmten Art und Weise institutionalisiert. Eine ähnliche Praxis lässt sich auch in anderen europäischen Ländern beobachten, die seit 2008 ein Verfahren nach dem deutschen Modell eingeführt haben. Aus der Perspektive der postkolonialen Kritik an der Konstruktion der deutschen Identität im Machtgefüge zwischen der »Dominanzkultur« und den Einwandern (vor allem aus Nicht-EU-Ländern) lässt sich feststellen, dass die Inhalte, die als für die Integration notwendig geprüft werden, zugunsten der deutschen Leitkultur – wie sie sich anhand der 310 Fragen aus dem Katalog des Einbürgerungstests rekonstruieren lässt – und zuungunsten der Herkunftskulturen der Migranten ausgelegt werden können. Das ausgerechnet der Zwang zur sekundären Sozialisation nun als favorisiertes Mittel ihrer gesellschaftlichen Integration präsentiert wird, trage nicht zur Vertrauensbildung bei (s. Gomolla 2005). Nicht nur die mangelnde Anerkennung der ausländischen, vor allem Nicht-EU Studienabschlüsse, sondern auch die Notwendigkeit der Umerziehung der ausländischen Subjekte im Sinn der deutschen Nationalpädagogik und europäischen Wertevorstellung mit hegemonialen Ansprüchen auf Überlegenheit, lasse die sozio‐kulturellen Abwertungsprozesse fortbestehen und markiere die strukturell angelegte Diskriminierungspraxis des deutschen Staates gegenüber den als fremd stigmatisierten »Anderen«. Da diese Praxis im Rahmen der Gewährung des Bleiberechts und mit dem Ziel der Eingliederung in die gesellschaftlichen Vorgänge angesiedelt sei, lasse sich vermuten, dass sie wesentliche Spuren im fortgehenden Selbstzuschreibungsprozess der Migranten hinterlasse und damit ihre spezifische Zugehörigkeit zu Deutschland und Europa präge. Solange dieser Prozess in derart aufgezeigten Asymmetrie weiter fortgesetzt werde, solange werde ein Teil der deutschen und europäischen Gesellschaft auf ihre Herkunft reduziert und im Zuge der so konzipierten Integrationspraxis zur Unterlegenheit und Minderwertigkeit erzogen. Die Problematik der Erziehung steht im direkten Zusammenhang mit denjenigen Integrationsmaßnahmen, welche für Kinder mit sogenanntem Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem vorgesehen sind. Diese Thematik wird im Folgenden diskutiert. Interessanterweise stellten Migration, Integration und Bildung in den 1950/60er-Jahren in der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft trotz der größten Einwanderungswelle von sogenannten Gastarbeitern zu dieser Zeit noch keinen
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relevanten Zusammenhang dar. Die ersten Ansätze zur Zusammenführung dieser Themen fanden 1964 in der Empfehlung zum »Unterricht für Kinder von Ausländern« der Kultusministerkonferenz (KMK) statt, welche die bis heute in der Bildungspolitik anhaltenden Leitgedanken prägt. Vorherrschend war hier von Anfang an ein Defizitgedanke, der die Migranten und ihre Kinder als Problem der Gesellschaft und der Bildungseinrichtungen definierte (s. Mecheril 2004: 83ff). Die daraus resultierenden Bildungsmaßnahmen der 1970er- und 1980er-Jahre formierten sich als Antwort auf den im Defizitdiskurs konstruierten besonderen Förderbedarf der Migrantenkinder. Den ausländischen Kindern »sollte der Schulbesuch durch Zusatzmaßnahmen erleichtert werden, vorwiegend nach dem Modell der separaten Vorbereitungsklassen. Nach dem Wechsel in die Regelklasse konnten die Kinder zum Teil zusätzlichen Förderunterricht in der deutschen Sprache erhalten« (Gomolla 2005: 99). Ab den 1970er-Jahren wurden die Lehrpläne zur Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache in Methodik und Didaktik zum Teil je nach Nationalität, Alter und Vorbildung der Schülern ausdifferenziert. All diesen Bildungsmaßnahmen lag eine Grundannahme über eine Unterentwicklung der Migrantenkinder zugrunde, die im Vergleich zu den deutschen Kindern aufgrund ihrer kulturellen Herkunft in unterschiedlichem Maße unterlegen seien – eine Vorstellung, die sich analog zur Hierarchisierung von Kulturen im Modernisierungsparadigma denken lässt. Die damit verbundene Hierarchisierung der ausländischen Schülern folgte weniger deren tatsächlichem Bildungsniveau, das mit der sozialen Schichtung und regionalen Unterschieden (sowohl im Herkunfts- wie auch im Aufnahmeland) verbunden ist, sondern vielmehr der unterstellten Ähnlichkeiten innerhalb der vom deutschen Staat konzipierten kulturbedingten Gruppierungen. So wurden etwa alle Aussiedler derselben Gruppe zugeteilt und denselben Bildungsmaßnahmen unterzogen, also dieselben Defizite unterstellt. Diese Maßnahmen gingen bis in die späten 1970er-Jahre einher mit der weitverbreiteten Vorstellung, dass sowohl für die Migranten selbst als auch für ihre Kinder eine baldige Rückkehr in die Heimatländer vorgesehen sei, was die Notwendigkeit der Einbürgerung und/oder Integration in das gesellschaftliche Zusammenleben wegfallen ließ. So wurde zu dieser Zeit auch der sogenannte muttersprachliche Ergänzungsunterricht eingeführt. Aufgrund dessen, dass die Migranten in dieser Zeit überwiegend als Arbeiter ›eingeladen‹ worden waren, stellte man ihnen nur Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt ihrer wirtschaftlichen Verwertbarkeit und somit Nützlichkeit für Deutschland zur Verfügung, ohne ihnen – obwohl sie wie jeder andere Deutsche zu Steuerabgaben verpflichtet worden waren – das Recht auf gesellschaftliche und politische Partizipation zu gewähren; ein insgesamt zeitübergreifendes Merkmal der deutschen Migrationspolitik (vgl. Treibel 1999; Bade1994; Gomolla 2005, Gosewinkel 2001; Boldt 2010). Auch wenn von der Migranten- und insbesondere von der Gastarbeiter-Integration die Rede war, fehl-
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te »eine entsprechende Gesetzesbasis und ein umfassendes integrationspolitisches Dispositiv« (Gomolla 2005: 89). Aus diesem Umstand heraus resultierte sowohl eine ambivalente Identitätskonstruktion der Migranten hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zur deutschen und europäischen Gesellschaft, als auch die Selbstdefinition der deutschen Gesellschaft, die sich immer noch als eine ethnisch‐homogene begriffen hat und einen Anspruch darauf erhoben hat, dass sich die Migranten selbst eingliedern und anpassen (worauf die Maßnahmen abzielten), und nicht, dass sich die Mehrheitsgesellschaft multikulturell öffnet. So beurteilte man »die einzelnen Ausländerinnen und Ausländer nach ihrer individuellen Integrationsbereitschaft und die verschiedenen Nationalitäten nach ihrer kulturell‐herkunftsbedingten Integrationsfähigkeit« (Treibel 1999: 62). Dieser Trend ging mit dem Anwerbestopp 1973 und der zunehmend restriktiven Zuwanderungspolitik der Bundesrepublik Deutschland einher. Im Laufe der 1980er-Jahre lässt sich in der Wissenschaft (vor allem in den qualitativen Migrationsstudien und in der Pädagogik) zunehmend ein Perspektivenwechsel beobachten, indem die Migranten und ihre Kinder nicht mehr als vorübergehende Erscheinung in der Gesellschaft angesehen werden, sondern als ihr fester, obwohl immer noch höchst problematischer, Bestandteil. Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem erheblichen Zuzug von sogenannten Spätaussiedlern aus Osteuropa (Russland, Polen, Rumänien und Ungarn), kommt der Differenzdiskurs und die Anerkennung der Anwesenheit von Migranten und ihren Kindern schließlich als »interkulturelles Phänomen« in den Bildungseinrichtungen an (Mecheril 2004: 86). In der neuen Tendenz der »›Hinwendung zur Differenz‹ werden die Kulturen der Migranten und Minderheiten ›entdeckt‹. Rhetorik der Anerkennung, Forderung nach der Respektierung von Differenz und Vielfalt haben Konjunktur« (Mecheril 2004: 85f). Dieser Trend geht mit der internationalen Thematisierung von kultureller Vielfalt einher (in der EU unter dem Motto der Europäischen Union »Einheit in Vielfalt«, in den USA »Diversity Management« als Reaktion auf kulturelle Vielfalt auf dem Arbeitsmarkt). Besagter Prozess wird von der Idee der wertvollen Vielfalt forciert, die für die neue Selbstdefinition Deutschlands als multikulturelle Gesellschaft zentral sein sollte. Dabei handelt es sich jedoch um die Anerkennung der durch die bereits stattgefundene Migration vorhandenen Vielfalt und nicht um die Wertschätzung der Migration als Phänomen, das zur Umgestaltung der Einwanderungspolitik führen müsste. Somit zeigt sich die für die deutsche und europäische Identitätskonstruktion zentrale Ambivalenz, die aus der Einschränkung der Zuwanderung und Festigung der europäischen Grenzen einerseits (Heterogenisierung nach außen) und andererseits aus der Aufnahme der vorhandenen Vielfalt in das Selbstbild mit der gleichzeitigen Forderung, sich bei der Einbürgerung zu
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einem bestimmten Wertesystem zu bekennen (Homogenisierung nach innen), besteht4 . Dabei lassen sich seit den 1990er-Jahren in der Bildungspolitik und in der öffentlichen Debatte Semantiken der Hybridität rekonstruieren. Einerseits wird besonders im Bericht »Interkulturelle Erziehung. Nationaler Beitrag der Bundesrepublik Deutschland an die Kommission der Europäischen Gemeinschaften« (1992) und im »Beschluss zur interkulturellen Bildung und Erziehung in der Schule« (1996) der Kultusministerkonferenz die interkulturelle Bildung als Bestandteil der allgemeinen Bildung postuliert, was mit der gegebenen sprachlichen und kulturellen Heterogenität in der deutschen Gesellschaft begründet wird. Die den Beschluss der Kultusministerkonferenz durchdringende Semantik nimmt den zu dieser Zeit bereits in der Wissenschaft postulierten Hybriditätsdiskurs auf und nimmt Kultur als hybrides und flexibles Set von Wertorientierung und Weltsichten an, da sie von dem Standpunkt argumentiert, dass »wo sich Menschen unterschiedlicher Sprache, Herkunft und Weltanschauung begegnen, wo sie zusammenleben oder sich auseinandersetzen, verändern und entwickeln sich Weltbilder und Wertsysteme: Kulturen bilden ein sich veränderndes Ensemble von Orientierungs- und Deutungsmustern mit denen Individuen ihre Lebenswelt gestalten. Moderne Gesellschaften sind daher auch in kultureller Hinsicht komplex und pluralistisch.« (KMK 1996: 2) Hier geht es nicht mehr um eine spezielle Ausländerpädagogik, die Förderprogramme für die als defizitär angesehenen Migrantenkinder und –jugendlichen entwirft, auch geht es nicht mehr, wie noch im oben genannten Differenzdiskurs, darum, vielfältige andere Kulturen einfach nur kennenzulernen, wodurch die relative Abgegrenztheit und Stabilität der einzelnen Kulturen behauptet wurde. Vielmehr wird hier vom gesellschaftlichen und kulturellen Wandel ausgegangen, der durch interkulturellen Kontakt entsteht. Darüber hinaus wird von der Kultusministerkonferenz der Versuch unternommen, die Opposition zwischen den zur Anpassung aufgeforderten Migranten und der Mehrheitsgesellschaft aufzugeben. Die Reflexion der eigenen kulturspezifischen Weltsicht wird nicht mehr als Aufgabe an die Migranten herangetragen, also als Aufgabe des »Anderen« gesehen, sondern als eigene Aufgabe definiert: »Wie andere übergreifende Erziehungsanliegen erfordert auch interkulturelle Bildung und Erziehung Lernformen, die die Komplexität der zur Diskussion stehenden Sachverhalte und Empfindungen verdeutlichen und die Wahrnehmung von Zusammenhängen, Wechselwirkungen und eigener Verantwortung fördern. Eine 4 Siehe weiter zur nationalen Pädagogik und Verbindlichkeit des normativen europäischen Wertekanons in diesem und folgenden Kapiteln.
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besondere Bedeutung kommt dabei der Selbstreflexion, der kritischen Beobachtung des eigenen Standpunktes und des eigenen Handelns zu.« (KMK 1996: 4) Somit lässt sich hier eine Vorstellung von der Hybridität von Kulturen und ein fortschrittliches Postulat, welches die Mehrheitsgesellschaft zur Selbstreflexion auffordert, feststellen. Diese entwickelten sich vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse der Pädagogik und Migrationsforschung und wurden von den Beschlüssen und Empfehlungen der Kultusministerkonferenz während der 1990erJahre getragen. Nach den in den Jahren 2000 und 2003 durchgeführten PISA-Studien verändert sich die Semantik der Berichte der Kultusministerkonferenz deutlich. Dazu trägt wesentlich das aus der PISA-Studie entnommene niedrige Bildungsniveau der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund bei. Zwischen 2000 und 2003 kommt es zur weiteren Ausdifferenzierung in der Klassifikation dieser Gruppe, indem die Bildungsbenachteiligung als von der zeitlichen Nähe zu bzw. Entfernung von der Migrationserfahrung abhängig ausbuchstabiert wurde. So wurden die Schüler mit Migrationshintergrund in der PISA-Studie 2003 (anders als 2000) in drei Risikogruppen eingeteilt (KMK 2006: 5): • • •
die Schülerinnen und Schüler, die im Ausland geboren und mit ihren Eltern zugewandert sind (Gruppe der Zuwanderer) die Schülerinnen und Schüler, die in Deutschland geboren wurden, deren Eltern aber beide aus dem Ausland stammen (Gruppe der ersten Generation) die Schülerinnen und Schüler aus Familien, in denen ein Elternteil im Ausland geboren wurde (Gruppe mit einem in Deutschland geborenen Elternteil)
Damit werden die Phänomene der sozialen Benachteiligung im Aufnahmeland sowie der institutionellen und alltäglichen Diskriminierung – ob durch die fehlende Anerkennung der ausländischen Bildungsabschlüsse von Migranten und ihren Kindern oder durch das erhöhte Risiko der Arbeitslosigkeit von Menschen mit Migrationshintergrund, bis hin zur Kontextualisierung des Bildungserfolgs durch die institutionell verankerte und alltägliche schulische Diskriminierung der Migrantenkinder – völlig außer Acht gelassen. Stattdessen wird dem Migrationsereignis eine Schlüsselstellung beim Bildungserfolg zugewiesen. Diese Erfahrung wird insofern pathologisiert, als man die Nähe der Kinder und Jugendlichen zu dieser Erfahrung in systematisierender Form erfasst und dadurch eine Hierarchie der Gefährdung (Bildungsrisiko) konzipiert. Diese Hierarchie fließt weiterhin innerhalb des Bildungswesens in bestimmte Förderprogramme ein, durch die sich die von der Mehrheitsgesellschaft imaginierte Gruppenbildung verfestigt und Grenzziehungen festgeschrieben werden.
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In diesem Zusammenhang lässt sich auch in den Beschlüssen und Berichten der Kultusministerkonferenz aus den 2000er-Jahren, die direkten Bezug auf die PISA-Studien nehmen, eine Tendenz der Rückkehr vom Hybriditätsdiskurs zur Defizitorientierung beobachten. Die in den Entwürfen der Kultusministerkonferenz in den 1990er-Jahren vorgeschlagene »interkulturelle Bildung für alle« geriet aus dem Fokus. Obwohl in der Einleitung des KMK-Berichts »Zuwanderung« ausdrücklich davon gesprochen wird, dass Integration »Anstrengungen nicht nur von den Migrantinnen und Migranten [erfordert], sondern auch von der aufnehmenden Gesellschaft« (KMK 2002/2006: 3), geht es im Bericht in der Folge nur noch um Maßnahmen für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund. Darüber hinaus wird einem »sozial schwierigen Umfeld« die gleiche Bedeutung wie dem Migrationshintergrund zugerechnet (KMK 2002/2006: 6). In der von der KMK zitierten PISA-Studie wurde zwar untersucht, »inwieweit Merkmale der sozialen und kulturellen Herkunft mit Unterschieden in der Kompetenz und in der Bildungsbeteiligung verbunden sind« (KMK 2002/2006: 5). Dann wird allerdings darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse »für Deutschland besonders interessant [sind], da 22,2% der fünfzehnjährigen Schülerinnen und Schüler aus Familien mit Migrationshintergrund stammen« (KMK 2002/2006: 5). Auch wenn der Aspekt der sozialbedingten Benachteiligung zu Anfang des Berichts »Zuwanderung« noch Erwähnung findet, wird er klar dem Moment der Migrationserfahrung untergeordnet und mangelnde Integration letztlich als Auslöser für eine schwache soziale Stellung dargestellt, ohne auf die diskriminierende Rolle der gesellschaftlichen Formation im Machtgefüge der »Dominanzkultur« einzugehen, obwohl diese die Rahmenbedingungen und Beurteilungskriterien, nach welchen Chancen für soziale Teilhabe und Bildungserfolg vergeben werden, erst festlegen. So wird die Stigmatisierung des Migrationshintergrundes als Herkunftsmerkmal aufrechterhalten. Trotz dieses Rückschritts zum Defizitdiskurs der Akteure auf der Ebene der Bundesländer, muss hervorgehoben werden, dass in Deutschland viele staatliche und nicht‐staatliche Akteure ihre Angebote zu interkultureller Bildung sowohl an Migranten- als auch an Nicht-Migrantenkinder richten. Einige dieser Programme wurden auf der Tagung »Interkulturelle Bildung – Ein Weg zur Integration« (2008) vorgestellt. Diese Programme zielen auf einen intersektionalen Zugang zu sozialen Ungleichheiten ab, was – im Vergleich zu anderen europäischen Ländern – als sehr fortschrittlich gewertet werden kann. Nichtsdestotrotz können bei der Analyse der Reden und Dokumente von Akteuren auf der Ebene des Bundes Semantiken ausgemacht werden, die die Migrantenkinder als defizitär annehmen. Die Rede des Staatssekretärs des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, Michael Thielen (CDU), auf der Tagung »Interkulturelle Bildung – ein Weg zur Integration« (Thielen 2008) weist darauf hin, dass das Phänomen der Migration als ein der pluralistischen Gesellschaft zu Grunde liegendes angesehen wird. Dabei stellt Thielen die Probleme der Multikulturalität, insbesondere »des Nebeneinan-
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der von Parallelgesellschaften« als direktes Resultat der Migration dar. Seine Rede zur »interkulturellen Bildung für alle« [Herv. d. V.] wird kontextualisiert durch eine Aneinanderreihung von statistischen Daten, die auf der Basis von Ergebnissen des Mikrozensus (2005) ausschließlich ein benachteiligtes Milieu von Zugewanderten umreißt. Das so auf das Migrantenmilieu bezogene Problem der mangelnden kulturellen und sozialen Kohäsion stellt nach Thielen eine »Herausforderung [dar], die es konsequent (…) mit zusätzlichen Fördermaßnahmen (…) anzunehmen und anzugehen gilt« (Thiele 2008: 15). Vielfalt wird hier nicht als Wert an sich gesehen, sondern als ein durch Migration hervorgerufenes Problem, mit dem es umzugehen gilt. Gleichzeitig bleibt ausgeblendet, in welcher Art und Weise sich die Mehrheitsgesellschaft an der Integrationsaufgabe durch die interkulturelle Bildung »für alle« mitbeteiligen soll. Ähnlich wird von der Staatsministerin und Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration, Maria Böhmer (CDU), auf derselben Tagung in ihrer Rede »Kultur und Integration als Teil des Nationalen Integrationsplanes« argumentiert (Böhmer 2008). »Akzeptanz für kulturelle Unterschiede« wird als Voraussetzung (Herv. d. V.) für Integration als gesamtgesellschaftlicher Prozess dargestellt. Wie diese Akzeptanz jedoch bei der Mehrheitsgesellschaft erzeugt werden soll, bleibt offen. Dagegen wird von der Notwendigkeit weiterer Förderprogramme, die über die Sprachförderung und Leseförderung (in der deutschen Sprache) hinausgehen und nun auch im Bereich der künstlerisch‐kreativen Aktivitäten im Schulunterricht angesiedelt werden sollen, gesprochen. So wird Integration durch künstlerische Betätigung der Migrantenkinder angestrebt, wodurch gleichzeitig eine Separation in diesem Feld der Jugendkulturen vorausgesetzt wird. Es wird außer Acht gelassen, dass die Aspekte der sozio‐historischen Segregation fernab von der Unterscheidung Migrant/Nicht-Migrant mittlerweile in der Lebenswirklichkeit (nicht nur in der Schule) eine zentrale Rolle spielen. Das Problem der Chancengleichheit wird kulturalisiert, statt die soziale Bedingtheit der Ungleichverteilung von kultureller Teilhabe und Lebenschancen herzuleiten, die etwa aus der »ethnisierten Arbeitsmarktpolitik« resultieren (vgl. Nghi Ha 2004). Das Thema der Kulturalisierung von Integration lässt sich weiter anhand des von der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration koordinierten Nationalen Integrationsplans 2007 aufzeigen. Die Entstehungsgeschichte dieses Nationalen Integrationsplans geht auf den Deutschen Integrationsgipfel im Jahr 2006 zurück und weist auf ein ungleiches Machtverhältnis zwischen den staatlichen und den Migrantenorganisationen hin, welches im Folgenden diskutiert werden soll. Die Zuschreibung der Migration und Integration als Aufgabe der Bildung zeigte sich am deutlichsten beim Deutschen Integrationsgipfel, der im Juli 2006 anlässlich der europaweiten PISA-Studie einberufen wurde, in der die besonders schlechten Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern offensichtlich wur-
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den. Der Bund reagierte, indem er einen nationalen Integrationsgipfel veranstaltete, an dem Vertreter von Bund, Ländern, Kommunen und von nichtstaatlichen gesellschaftlichen Organisationen und Migrantenverbänden zusammenkommen sollten. Die Debatte um den Integrationsgipfel fand im Jahr 2007 zeitgleich mit der erneuten Änderung des deutschen Zuwanderungsgesetzes statt, in dem vor allem der Ehegattennachzug aus Nicht-EU-Ländern von den deutsch‐türkischen Verbänden als benachteiligend kritisiert wurde. Um ihre Kritik wirksam zu artikulieren, drohten sie, die offizielle Einladung zum Integrationsgipfel zu boykottieren. Der drohende Boykott wurde von den staatlichen Akteuren als politische Äußerung nicht ernst genommen. Die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte, dass sie sich »nicht erpressen« ließe (Spiegel Online 4.7.2007). Andere deutsche Politiker wiesen darauf hin, dass es sich beim Integrationsgipfel um »keine dritte Gesetzgebungskammer« handle (ebenda). Letztendlich blieben zwar nur drei, darunter aber der größte deutsch‐türkischer Dachverband, dem Gipfel fern. Die Gestaltung der Diskussion um den Boykott zeigt jedoch, dass auch ohne die Teilnahme der Migrantenorganisationen der Integrationsgipfel als beschlussfähig angesehen worden wäre. Der Aussage der Bundeskanzlerin zufolge, »man stelle der Bundesregierung keine Ultimaten« (FAZ 12.07.2007), lässt sich eine Asymmetrie der Machtverhältnisse, in welcher sich die Integrationsdebatte vollzieht, rekonstruieren. Kritisch betrachtet, werden die Migranten, um die es sich in der Integrationspolitik handelt, sowie ihre politischen Repräsentanten auf eine freiwillige Mitwirkung reduziert, die allerdings für die Beschlussfähigkeit als nicht notwendig konzipiert wird. Insofern wird auf dem Integrationsgipfel die Asymmetrie der deutschen demokratischen Gesellschaftsordnung reproduziert, in der die Mehrheit über die Minderheit entscheidet, obwohl in der Einleitung des aus dem Integrationsgipfel hervorgehenden Nationalen Integrationsplans über die »gemeinsame Grundlage der Integrationsinitiative des Bundes, der Länder, der Kommunen und der Bürgergesellschaft« gesprochen wird (NI 2007: 1). Diese sei »im Dialog von Vertreterinnen und Vertretern aller staatlichen Ebenen, der wichtigsten nichtstaatlichen Organisationen und der Migrantinnen und Migranten erarbeitet« worden (NI 2007: 1). Vor dem Hintergrund der den Integrationsgipfel und Integrationsplan umrahmenden Debatte stellt sich die Frage nach der Definition des dem Integrationsprojekt zugrunde liegenden »Dialogs« und seiner Rolle in der neuen deutschen Identitätskonstruktion. Der Nationale Integrationsplan (2007) gibt vor, »kultureller Bildung im Integrationsprozess einen größeren Stellenwert einzuräumen« (Böhmer 2008: 213). Die rund 400 im Nationalen Integrationsplan festgehaltenen Selbstverpflichtungen von Bund, Ländern, Kommunen und Migranten-Selbstorganisationen beziehen sich unter anderem auf schulische Bildung, aber auch auf berufliche Ausbildung und das Vermitteln der deutschen Sprache in sogenannten Integrationskursen (die oben in diesem Kapitel ausführlich diskutiert wurden). Die Analyse des Nationalen
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Integrationsplans, der in der deutschen Integrationspolitik als bahnbrechend angesehen wird, lässt einige Einblicke in die latenten Sinnstrukturen der deutschen Identitätskonstruktion zu. Integration wird im Nationalen Integrationsplan (2007) als eine Leistung der deutschen Gesellschaft zugerechnet, obwohl der Erfolg der Integration von der Anstrengung der Migranten selbst abhängig gemacht wird und nicht als Aufgabe der Gesamtbevölkerung konzipiert wird. Gleichzeitig zielen die vorgeschlagenen Integrationsleitlinien auf Förderkonzepte für Migranten ab, die insofern als defizitär betrachtet werden, als sie die Unterstützung des Staates und die Aktivierung ihrer Potenziale bei ihrer Integrationsleistung benötigen. Die so als defizitär (oder förderbedürftig) definierten Migrationssubjekte werden durch vielfältige Kriterien, wie sich später noch in der Analyse dieses Dokuments zeigen wird, je nach ihrer wirtschaftlichen Verwertbarkeit und die diese Verwertung möglicherweise verhindernde Verschiedenheit von der Mehrheitsgesellschaft in Gruppen unterteilt. Den Migranten wird die Aufgabe zugeteilt, »Bereitschaft [zu zeigen], sich auf ein Leben in unserer Gesellschaft einzulassen, unser Grundgesetz und unsere gesamte Rechtsordnung vorbehaltlos zu akzeptieren und insbesondere durch das Erlernen der deutschen Sprache ein deutliches Zeichen der Zugehörigkeit zu Deutschland zu setzen« (NI 2007: 1). Dagegen wird die Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft darin gesehen, »Akzeptanz, Toleranz, zivilgesellschaftliches Engagement und die Bereitschaft, Menschen, die rechtmäßig bei uns leben, ehrlich willkommen zu heißen« (NI 2007: 1). Dabei stellt sich insbesondere die Frage, welches Verhalten und welche Orientierungen akzeptiert werden müssen und Toleranz benötigen, wenn als Grundvoraussetzung für ein Zusammenleben »vorbehaltlose« Anpassung der Zugewanderten verlangt wird. Die Bereitschaft zur Toleranz und Akzeptanz, die als Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft formuliert wird, wird gleichzeitig als gegeben vorausgesetzt und bedarf keiner weiteren Förderung. Während der Anteil der Mehrheitsgesellschaft an der Integration als bloß freiwilliges Engagement angesehen wird, werden die Migranten unter Androhung von Strafe und Entziehung der Rechte auf Teilhabe (z.B. Verweigerung der Einbürgerung, Entziehung der sozialen Leistungen, Entziehung der Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis u.Ä.) zur Integration aufgefordert. So zeigt sich im gesamten Text des Dokuments eine ambivalente Semantik, indem einerseits »die Anerkennung der Potenziale der Migranten« betont wird, andererseits mit »Sanktionen« gedroht wird. So heißt es explizit: »Diejenigen Migrantinnen und Migranten, die sich einer Integration dauerhaft verweigern, müssen auch mit Sanktionen rechnen« (NI 2007: 1). Dabei spricht der Nationale Integrationsplan vor allem erwachsene Migranten an, die so gezwungen werden können, sich an als integrationsförderlich angesehenen Bildungsmaßnahmen zu beteiligen. Im Unterschied zu den Diskursen der Kultus-
3 Identitätskonstruktionen staatlicher Akteure
ministerkonferenz bezüglich primärer und sekundärer Bildung in den deutschen Schulen und den Ideen von Hybridität und Transformation des Bildungskanons verlangt der Nationale Integrationsplan die vorbehaltlose Anpassung von Migranten an die deutsche Leitkultur und ihre Wertorientierung. Dadurch wird die Integrationsaufgabe – die gleichzeitig als »Dialog« zwischen den Migranten und der Mehrheitsgesellschaft stilisiert wird – asymmetrisch vor allem zu Ungunsten der Migranten unter Androhung von Strafen bei Nichterfolgen vorbehaltloser Anpassung gewichtet (vgl. auch Nghi Ha/Schmitz 2006). In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass die Identitätskonstruktion Deutschlands von der Mehrheitsgesellschaft im Sinn der »Dominanzkultur« geprägt und bestimmt wird und so Kategorien festgelegt werden über das dominante und ›normale Selbst‹ sowie das ›abweichende Andere‹ (vgl. Rommelspacher 1995). Dabei werden sowohl das »Selbst« als auch das »Andere« als homogene Gruppen konzeptualisiert, im Hinblick auf bestimmte Merkmale, die beiden Gruppen in stereotypisierender Weise zugeschrieben werden. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Integration aufgrund des Nutzfaktors für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands konzipiert ist: »Angesichts des demografischen Wandels und des weltweiten Wettbewerbs um die besten Köpfe müssen wir auch künftig Zuwanderung gezielt für die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen Deutschlands nutzen.« (NI 2007: 1) Nicht nur der Wortschatz, sondern auch die Idee gezielter Steuerung der Zuwanderung aus eigenem wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Bedarf sowie nach Gewinnprinzipien deuten auf einen postkolonialen Sprachduktus hin. In diesem Sinne kann davon ausgegangen werden, dass Elemente der postkolonialen Semantik ohne weitere Reflexion in den Nationalen Integrationsplan einfließen. Es geht um die Abschöpfung von Arbeitskraft aus dem Umland von (West-)Europa und darum, die gegebene Verteilung von Macht, Gütern etc. zwischen Zentrum und Peripherie aufrecht zu erhalten (vgl. Nghi Ha 2004; Steyerl/Rodriguez 2003). Darüber hinaus werden die Anstrengungen der Migranten sehr wohl gesamtgesellschaftlich bilanziert, solange diese erfolgreich verlaufen sind. So heißt es: »Sehr viele Migrantinnen und Migranten haben längst ihren Platz in unserer Gesellschaft gefunden. Sie sind erfolgreich und tragen mit ihren Fähigkeiten und Leistungen zum Wohlstand und zur gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt des Landes bei.« (NI 2007: 1) Grundsätzlich fällt bei der Analyse auf, dass die deutsche Gesellschaft als eine solche konzipiert wird, die aus »Menschen mit und ohne Migrationshintergrund« besteht. Dabei wird durchgehend von einem ›Wir‹ ausgegangen, das eine Vorstellung über die »Dominanzkultur« transportiert, welche unhinterfragt ist und unreflektiert bleibt. Schon alleine diese Gegenüberstellung produziert die Vorstellung ei-
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Multikulturalismus im Diskurs
nes heterogenen ›Anderen‹ und homogenen ›Wir‹ und stellt eine für die deutsche und europäische Gesellschaft grundlegende Differenz zwischen den nationalstaatlichen, räumlich gebundenen Subjekten und den mobilen Migranten dar.
3.2
›Außengerichtete‹ Identitätskonstruktionen im Feld der auswärtigen Kulturpolitik
Auswärtige Kulturpolitik in Deutschland ist geprägt durch die Komplexität der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern, deren Umsetzung wiederum an eine Vielfalt von staatlichen und nichtstaatlichen Trägern delegiert wird. Komplexität und Dezentralität dieser Struktur begünstigen ein ambivalentes Verhältnis, das sich einerseits im Pluralismus von kulturellen Angeboten zeigt, welche eine weitgehende Autonomie von Kulturprogrammen ermöglichen, andererseits aber undurchsichtige bürokratische Prozesse zwischen den Organen des Bundes, der Länder und den Mittlerorganisationen nach sich ziehen. Dabei spielen die EUOrgane keine steuernde Rolle. Dieses systemische Verhältnis zieht die Frage nach sich, ob in der deutschen auswärtigen Kulturpolitik überhaupt eine einheitliche, institutionalisierte politische Konzeption von kultureller Identität möglich ist (vgl. Schulte 2000). Dies wird in diesem Kapitel anhand der strukturellen Analyse der Organisation der auswärtigen Kulturpolitik Deutschlands, der kritischen Diskursanalyse von Jahresberichten der Bundesregierung zur auswärtigen Kulturpolitik 2000 – 2011 und eines Experteninterviews untersucht. In der Analyse wird davon ausgegangen, dass die aus der Organisation des deutschen Staates resultierende Ordnung der Zuständigkeiten und Verfügungsrechte strukturierend auf die Machtverhältnisse im Feld der auswärtigen Kulturpolitik wirkt und bestimmte Sprecherpositionen befördert. Insofern ist zu berücksichtigen, dass die innerhalb der auswärtigen Kulturpolitik produzierten Inhalte bereits aus diesem (Macht-)System heraus resultieren. Konsequenterweise wird in der Analyse zunächst das Primat der Struktur gegenüber den Inhalten angenommen. Dies wird sich in Kapitel 3.2.1 zeigen. Weiter wird untersucht, welche Themen im Zentrum der auswärtigen Kulturpolitik seit 1989 stehen, die über die strukturell vermittelten Inhalte hinausgehen (Kapitel3.2.2). Hierbei wird sowohl auf die nationalen als auch auf die Europa‐bezogenen Inhalte geachtet, um ihre identitätskonstruierende Semantik zu entschlüsseln bzw. in Frage zu stellen.
3.2.1
Organisationsstruktur der deutschen auswärtigen Kulturpolitik
An der Gestaltung und Konzipierung der auswärtigen Kulturpolitik ist die folgende Vielfalt von Akteuren beteiligt (vgl. Mumme 2006: 139f): auf der Bundesebene:
3 Identitätskonstruktionen staatlicher Akteure
• • • • • •
Das Auswärtige Amt Das Bundesministerium des Innern Das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Das Ministerium für Zusammenarbeit und Entwicklung Das Ministerium für Bildung und Forschung Das Bundeskanzleramt
auf der Länderebene: • • • • •
Zahlreiche Ausschüsse, Unterausschüsse und Kommissionen der Parlamente Kultusministerien der Länder Ministerpräsidentenkonferenzen Die Kultusministerkonferenzen Gemeinden und Stiftungen (staatlich und nichtstaatlich)
Mittlerorganisationen: • • • • • • • • •
Das Goethe Institut Inter Nationes Der Deutsche Akademische Auslandsdienst Die Carl Duisburg Gesellschaft Das Institut für Auslandsbeziehung (ifa) Der Deutsche Entwicklungsdienst Die Alexander‐von-Humboldt-Stiftung Die Deutsche Stiftung für Internationale Entwicklung Das Haus der Kulturen der Welt Die Deutsche Welle
Zwar stellt die auswärtige Kulturpolitik den Kernbereich der ansonsten stark begrenzten Kulturhoheit des Bundes dar, dennoch weist das Grundgesetz die auswärtige Gewalt nicht vollständig dem Bund zu, sondern auch die Länder und die Nicht-Völkerrecht-Subjekte können rein rechtlich gesehen ihre eigene auswärtige Kulturpolitik betreiben und im Rahmen ihrer Sachkompetenzen getrennte Regelungen mit dem Ausland treffen (Schulte 2000: 98; vgl. auch Köstlin 1998: 17). Der Bund hat innerhalb der auswärtigen Kulturpolitik kein Weisungsrecht und darf mit keinerlei Erlassen die Kulturpolitik steuern. Er hat fast ausschließlich restriktives Einspruchsrecht und schafft durch das Kulturabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und anderen Nationalstaaten den politischen Rahmen und durch Budgetierung (Etatpolitik) den finanziellen Rahmen für die von den Ländern inhaltlich gefüllten Kulturprogramme. Schulte (2000: 24) spricht in diesem Zusammenhang von einer Struktur der auswärtigen Kulturpolitik, die als »kooperativer Kulturföderalismus mit eindeutiger Länderdominanz« charakterisiert wer-
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den kann. Darüber hinaus wird Kulturpolitik in ihrer auswärtigen Form und somit auch die kulturelle Identitätskonstruktion Deutschlands (nach außen) durch die spezielle Logik der Außenpolitik geformt. Dies wird sich im Kapitel 3.2.2 in der Analyse des Datenkorpus zeigen. Durch das Scheitern des Versuches, die außenkulturpolitischen Aktivitäten des Bundes in Form einer Kulturabteilung in den 1970er-Jahren zu bündeln, blieb die auswärtige Kulturpolitik weiterhin der vertikalen Logik intraministerieller Kommunikation unterworfen. Jedes Bundesressort stimmt sich getrennt von den anderen vertikal mit den Ländern ab. Nahezu alle Bundesländer und viele Städte und Kommunen haben eigene auswärtige Kulturbeziehungen. Nach 1989 lässt sich auf Landesebene Kulturaustausch insbesondere mit Ost-Mittel-Europa beobachten, etwa in Form von Städtepartnerschaften. Diese werden über Protokolle, Absprachen oder Kommuniqués geregelt, welche grundsätzlich unterhalb der völkerrechtlich verbindlichen Ebene angesiedelt sind. Einige Wissenschaftler meinen in diesem Zusammenhang, dass »trotz politischer Vereinnahmung für kulturfremde Zwecke die natürliche Instrumentalisierungsbarriere der Delegation in Verbindung mit dem Pluralismus an Mittlerorganisationen für eine im internationalen Vergleich fast einzigartige Liberalität in der Programmarbeit der deutschen Außenkulturpolitik sorgte, insbesondere wenn man sie mit verstaatlichenden Formen wie dem französischen Modell vergleicht« (Schulte 2000: 127). Die Liberalisierung und die Strukturierung der auswärtigen Kulturpolitik durch die föderalistische Demokratie ist zwar durch seine Organisationsstruktur auf die Schaffung von Pluralismus und Vielfalt der kulturellen Programme und ihrer Inhalte ausgerichtet, was scheinbar mit einer fehlenden einheitlichen Konzeption von auswärtiger Kulturpolitik einhergeht, was aber auch als Vielfältigkeit und Dezentralisierung der deutschen Identitätskonstruktion nach außen ausgelegt werden kann. In diesem Sinn könnte die deutsche Identitätsarbeit anhand der Organisation der auswärtigen Kulturpolitik als Förderung der Vielfalt vorhandener kultureller Angebote verstanden werden. Es könnte weiterhin angenommen werden, dass in Bezug auf auswärtige Kulturpolitik die relative Autonomie der vielfältigen Kulturträger im Zentrum der liberalen deutschen Identitätskonstruktion steht. Anhand der Analyse der Hauptziele der auswärtigen deutschen Kulturpolitik, wie sie sich aus den Jahresberichten der Bundesregierung zur auswärtigen Kulturpolitik bis zum Jahr 2011 rekonstruieren lassen, lässt sich jedoch eine Vereinheitlichungstendenz nachweisen, die nicht nur durch die Budgetierung erfolgt, sondern auch durch die Zielsetzungsregelung sowie durch die Tatsache, dass die auswärtige Kulturpolitik den außenpolitischen Interessen Deutschlands untergeordnet ist. Die Analyse dieser Dokumente im folgenden Kapitel zielt auf die Rekonstruktion der Grundsätze und Ziele, der Inhalte und Strategien der Umsetzung auswärtiger Kulturpolitik ab, deren Potenzial als identitätsstiftende Strategie des deutschen Staates es zu analysieren gilt.
3 Identitätskonstruktionen staatlicher Akteure
3.2.2
Identitätsstiftende Rolle der deutschen auswärtigen Kulturpolitik
Mit der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland 1990 veränderten sich die Rahmenbedingungen für die auswärtige Kulturpolitik (AKP) drastisch. Entsprechend wurden die Grundsätze und Ziele der auswärtigen Kulturpolitik auf die Repräsentation des deutschen Bundesstaates als kulturelle, politische und rechtliche Einheit ausgerichtet, um seine Position auf internationaler Ebene als souveräner kerneuropäischer Akteur zu stärken. »Die für die deutsche Außenpolitik spezifischen Bedingungen der Nachkriegszeit sind nicht mehr bestimmend. Die besondere Herausforderung an unsere auswärtige Kulturpolitik, die sich aus der Existenz zweier deutscher Staaten und der Konfrontation der Blöcke ergab, ist Geschichte. Das wiedervereinigte Deutschland sieht sich weiter wachsenden internationalen Erwartungen gegenüber und ist bereit, eine gestaltende Rolle zu übernehmen.« (Konzeption 2000: 2f) Das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland stellt die Hauptziele seiner auswärtigen Kulturpolitik folgendermaßen dar: »Kultur und Kommunikation sind Kernelemente glaubwürdiger und nachhaltiger deutscher Außenpolitik und erreichen Köpfe und Herzen der Menschen unmittelbar. Sie sollen Menschen in aller Welt mit Deutschland, seiner Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft in Kontakt bringen und sie für Dialog und Austausch gewinnen; die Identität Deutschlands und seiner Gesellschaft sichtbar und erlebbar machen; Verständnis für europäische Werte wecken und damit ein Grundverständnis schaffen, auf dem Außenpolitik aufbaut; deutsche Außenpolitik überzeugend und kohärent nahe bringen, Deutschlands Engagement zur Lösung globaler Herausforderungen verdeutlichen, und um Unterstützung für deutsche Positionen werben.« (Abteilung für Kultur und Kommunikation des Auswärtigen Amtes) Hier stellen sich die folgenden Fragen, welchen in diesem Kapitel anhand der Analyse des Datenkorpus weiter nachgegangen wird: • • • •
aus welchem Verständnis der deutschen Identität und der deutschen Kultur heraus die deutsche auswärtige Kulturpolitik formuliert wird, inwiefern durch die auswärtige Kulturpolitik »deutsche Positionen« unterstützt werden sollen, welches Verständnis für den »Dialog« innerhalb der auswärtigen Kulturpolitik vermittelt wird, welchem Ziel der interkulturelle Dialog dienen soll und
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•
inwiefern die deutsche auswärtige Kulturpolitik im Rahmen europäischer Werte zu verstehen ist
Bei der auswärtigen Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland ist die Kulturpolitik der Außenpolitik untergeordnet, die wiederum den wirtschaftlichen Interessen des Landes dienen soll. Damit werden die Grundsätze und Ziele der auswärtigen Kulturpolitik nicht innerhalb der Kulturpolitik, sondern innerhalb der Außenpolitik definiert. »Die auswärtige Kulturpolitik ist integraler Teil unserer Außenpolitik. Sie ist an den allgemeinen Zielen und Interessen der deutschen Außenpolitik – Sicherung des Friedens, Konfliktverhütung, Verwirklichung der Menschenrechte, partnerschaftliche Zusammenarbeit – ausgerichtet und unterstützt sie« (Konzeption 2000: 1). Die Grundlage dieser Auffassung von auswärtiger Kulturpolitik bildet ein bestimmter Kulturbegriff, den die Bundesregierung 1970 im Anschluss an die öffentliche Debatte um die Frage nach einer neuen Definition des Kulturbegriffs entwickelte. Der sogenannte erweiterte Kulturbegriff wurde als »alle geistigen Werte unseres Volkes umfassend« (Stellungnahme der Bundesregierung, Bulletin Nr. 91, 1977: II.3.) seitens der Bundesregierung dekretiert und ging auf die Vorstellung einer besseren Völkerverständigung durch die Vermittlung von Lebenswirklichkeit zurück. Die der Analyse unterzogenen Dokumente weisen jedoch gegensätzliche Tendenzen auf. Die größten Veränderungen auf dem Gebiet der auswärtigen Kulturpolitik Anfang der 1990er-Jahre fanden in der geographischen Schwerpunktsetzung statt. »Ab 1990 erfolgte eine deutliche Neuorientierung, insbesondere im Hinblick auf die Regionen Mittel- und Osteuropas (MOE), den Nachfolgestaaten der Sowjetunion (GUS) und Asien.« (Konzeption 2000:2) Der geographischen Neuorientierung nach 1990 folgte verstärkt die Förderung der deutschen Sprache in Ost- und Mitteleuropa. Lothar Wittmann, Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts, betont, dass »Sprache der Schlüssel zur kulturellen Identität, Herzstück jeder Kultur« sei (Wittmann 1996: 69). Die weitere Analyse der Dokumente macht jedoch deutlich, dass die Förderung der deutschen Sprache nicht nur Vermittlung eines Teils der deutschen Lebenswirklichkeit bezweckt, sondern vor dem Hintergrund der geopolitischen Interessen als Mittel verstanden werden kann, sich einen neuen Markt zu erschließen. So gab es deutliche Versuche, die deutsche Sprache als lingua franca und Wirtschaftsverkehrssprache in Osteuropa zu etablieren – hier wäre vor allem der Ausbau des Netzes an Goethe-Instituten zu nennen.
3 Identitätskonstruktionen staatlicher Akteure
Darüber hinaus soll die auswärtige Kulturpolitik eine unterstützende Rolle bei der Festigung von Werten spielen, die Deutschland als Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens anerkennt. »Unsere Kulturarbeit im Ausland ist nicht einfach neutral, sondern orientiert sich an Werten. In Fragen der Demokratieförderung, Verwirklichung der Menschenrechte, Nachhaltigkeit des Wachstums, Teilhabe am wissenschaftlich‐technologischen Fortschritt, Armutsbekämpfung oder Schutz der natürlichen Ressourcen bezieht sie eindeutig Position« (Konzeption 2000: 1) Die Vermittlung von Werten kann im Kontext der Vermittlung der Lebenswirklichkeit verstanden werden, insofern als Deutschland über die Wertevermittlung sein Außenbild moduliert und seine Lebenswirklichkeit mit Hilfe dieser Werte artikuliert. So gehört es zu den obersten Prioritäten der auswärtigen Kulturpolitik, »das Ansehen und das Gewicht des vereinten Deutschlands als Kulturnation in einer sich wandelnden Welt zu festigen und nach Kräften zu fördern« (Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/6504, 1993: 2). Kultur wird in diesem Sinn nicht als ein sich autonom entwickelndes Phänomen der Gesellschaft anerkannt und von der auswärtigen Kulturpolitik nach außen transportiert. Nur diejenigen Anteile der Kultur, die die normativen Wertvorstellungen unterstützen und stärken, werden nach außen getragen und als für die deutsche Lebenswirklichkeit repräsentativ dargestellt. Insofern rücken eher die zivilisatorischen Errungenschaften Deutschlands in den Vordergrund der auswärtigen Kulturpolitik, was zur Verwischung der Grenzen zwischen dem Begriff der Kultur und dem der Zivilisation in diesem Feld beiträgt und weniger zur Vermittlung der Alltagskultur, worum es in der öffentlichen Debatte der 1970er-Jahre eigentlich ging. Weiterhin verortet sich Deutschland als Kulturstaat im europäischen Kontext und innerhalb des internationalen Dialogs. Interessanterweise stellt sich Deutschland hiermit nicht als eine bestimmte Kultur dar, sondern als universeller Träger der europäischen Kultur, wodurch es sich selbst als maßgeblichen Vertreter und Sprecher Europas nach außen positioniert. »Auswärtige Kulturpolitik vermittelt Kultur aus Deutschland als Teil der europäischen Kultur. Sie kennzeichnet Deutschland als Kulturstaat im Dialog mit der internationalen Gemeinschaft der Staaten.« (Konzeption 2000:1) Die Festigung Deutschlands als Kulturnation ist der Ausgangspunkt interkulturellen Dialogs zum Zwecke der Etablierung zivilisatorischer Werte. »Auswärtige Kulturpolitik beschränkt sich jedoch nicht auf Kulturvermittlung, sondern fördert Dialog, Austausch und Zusammenarbeit zwischen Menschen und Kulturen. Sie dient der zwischenstaatlichen und zwischenmenschlichen
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Verständigung, setzt sich für Weltoffenheit und Weltläufigkeit ein und baut Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und unverzichtbare Netzwerke für die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit auf – und zwar langfristig. Auswärtige Kulturpolitik gewinnt Partner und Freunde für Deutschland und fördert so unmittelbar vitale Interessen unseres Landes.« (Konzeption 2000: 1) »Dialog« wird hiermit als eine bestimmte Strategie der Vermittlung zwischen den Kulturen »über politische und kulturelle Grenzen hinweg« mit dem Zweck, die »Konflikte durch besseres Wissen voneinander und mehr Verständnis füreinander vorzubeugen«, konzipiert (Konzeption 2000: 4). Dabei stellt sich die Frage, welche Rolle Deutschland für sich im »Dialog zwischen den Kulturen« sieht und welchen Stellenwert die deutschen Wertvorstellungen in diesem Dialog haben. »Offenheit, Respekt und Vertrauen sind die Voraussetzungen für einen Dialog auf Augenhöhe und für Freundschaften auf allen Ebenen in unseren Ländern, wie zwischen Deutschland und der islamischen Welt.« (Dialog zwischen den Kulturen 2010: 3) Die Behauptung eines gleichberechtigt geführten Dialogs zwischen Deutschland und der islamischen Welt könnte auf den ersten Blick irritieren, da diese beiden Partner in vielerlei Hinsicht ungleichberechtigt sind. Eine solche Aussage deutet auf Deutschlands Selbststilisierung als Repräsentant der gesamten europäischen Gemeinschaft hin, da Deutschland sich mit der »islamischen Welt« als Partner für interkulturellen Dialog als relevanter Akteur in einen international wohlbekannten Konfliktrahmen (Islam vs. Christentum) setzt. Mit dem Schwerpunkt des Islamdialogs setzt die Bundesregierung einen deutlichen Akzent und Vermittelt deutsche Werte als europäische Werte. Die Broschüre des Auswärtigen Amtes zum »Dialog zwischen den Kulturen« (2010), die in drei Sprachen auf Deutsch, Englisch und Arabisch verfasst wurde, gibt folgende Hinweise darauf, welche universellen Bestandteile zum interkulturellen Dialog gehören: Vertrauen, Kooperation, Diskussion, Partnerschaft, Engagement und Verständigung. Dies gilt sowohl innen- als auch außenpolitisch: »Auswärtige Kulturpolitik findet also in zwei Richtungen statt: Gleichberechtigt neben die Beteiligung Deutschlands am Kulturdialog im Ausland tritt – auch als Aufgabe aller für die Kultur- und Bildungspolitik im Innern Verantwortlichen – die Förderung des Kulturdialogs im Inland. Die Vorstellungen der Partnerländer, ihre Erwartungen und Konzeptionen sind dabei zu berücksichtigen.« (Konzeption 2000: 2) Die Dialogarbeit in den islamisch geprägten Staaten ist insofern mittlerweile nicht mehr zu trennen vom Dialog mit Muslimen und Musliminnen in den jeweiligen deutschen Bundesländern. Dieses Thema wird im Kapitel 4 im Kontext von inner-
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staatlicher Integration, Bildung und interkulturellem Dialog in Deutschland kritisch diskutiert werden und zwar vor allem vor dem Hintergrund des asymmetrischen Machverhältnisses zwischen den staatlichen Organen und nichtstaatlichen, auch islamischen Migrantenverbänden.
3.3
Zwischenfazit. Deutschland als Repräsentant europäischer Identität
Die oben angeführte Analyse wirft die Frage nach der Bedeutung der Kultur in der außenpolitischen Darstellung Deutschlands und in den innenpolitischen Bildungsund Integrationsansätzen in den Jahren 2000 bis 2011 auf. Aus der Struktur der auswärtigen Kulturpolitik, die sich ohne Beteiligung der EU-Organe aus der Vielfalt von Akteuren des Bundes, der Länder und der Mittlerorganisationen konstituiert, resultiert das Bild Deutschlands als einer pluralistischen Kulturgesellschaft ohne zentrale einheitliche Konzeptualisierung der Kulturprogramme. Dies würde für ein demokratisch gestaltetes kollektives Identitätsbild sprechen, in dem sich die Kultur autonom von staatlicher Verfügung entwickeln kann. Wie sich jedoch in der Analyse gezeigt hat, kann man die auswärtige Kulturpolitik, obwohl keine bindenden Dokumente in Form von Erlassen vorhanden sind, trotzdem als strategisch bezeichnen. Es gibt bestimmte Instrumente und Wege, mit deren Hilfe die Bundesregierung die auswärtige Kulturpolitik steuern kann. Dazu gehört vor allem, Leitlinien für Projektanträge zu formulieren (Schwerpunktsetzung auf Dialog oder Vermittlung deutscher Sprache) sowie die Budgetierungsregeln festzulegen (nur diejenigen Projekte, die zu bestimmten aus politischer und wirtschaftlicher Sicht strategisch relevanten Themenbereichen gehören, werden finanziert). Die Homogenisierung von Inhalten resultiert insofern aus dem ambivalenten Verhältnis von relativer Autonomie der Mittlerorganisationen als Kulturträger einerseits und der Verfügung des Haushalts andererseits. So könnten Zweifel aufkommen, ob beispielsweise ein muslimischer, in Deutschland ansässiger Migrantenverband sein eigenes auswärtiges Kulturprogramm entwickeln könnte. Damit stellt sich die Frage, inwiefern die auswärtige Kulturpolitik sich mit dem Selbstverständnis Deutschlands als multikultureller Gesellschaft vereinbaren lässt. Gleichzeitig ließe sich fragen, ob es zu diesem Modell legitime und praktikable Alternativen geben könnte. Es ist zumindest bedenkenswert, ob die auswärtige Kulturpolitik, die sich als »Vermittler von deutscher Lebenswirklichkeit« (s. oben) definiert, ebendiese in ihrer multikulturellen Form abbilden kann. Festgestellt werden kann, dass Kultur als Lebenswirklichkeit – so wurde sie bereits in den 1970er-Jahren während der sogenannten Kulturdebatte definiert und von staatlichen Akteuren postuliert – so ihrem eigenen Anspruch nicht nachkommt. Denn die staatlichen Akteure, die Deutschland als Kulturnation definieren, ver-
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fügen dabei »nur selten über ein Vokabular, das das affektive Leben der Bürger anspricht – das Gefühl von öffentlicher Angst, Ambivalenz, Unsicherheit, Unentschlossenheit« (Bhabha 2007: 31) Was die deutsche Identitätskonstruktion einzigartig macht, ist vor allem die Förderung der deutschen Sprache, die als »Herzstück deutscher Kultur« herausgestellt wird. Die Analyse weist jedoch darauf hin, dass diese Förderung nicht nur der »Repräsentation deutscher Lebenswirklichkeit« dient, sondern außenpolitisch Deutschland die Möglichkeit eröffnet, neue Wirtschaftsräume zu erschließen. In diesem Zusammenhang könnte die Förderung der deutschen Sprache als Kulturexport bewertet werden, bei dem es einerseits um den interkulturellen »Dialog«, andererseits aber auch um die Durchsetzung politischer und wirtschaftlicher Interessen geht. Deutschland stellt sich innerhalb der auswärtigen Kulturpolitik als Träger der europäischen Werte dar, welche als Errungenschaften der europäischen Zivilisation definiert werden und nicht als Besonderheiten der deutschen Kultur im Unterschied zu den anderen (auch europäischen) Kulturen. Diese Strategie dient der Profilierung des Bildes Deutschlands nach außen im Sinn der Stilisierung Deutschlands als europäische Führungsnation. Weiterhin präsentiert sich Deutschland als europäische Vermittler zwischen Kulturen, was zur Vorbeugung von Konflikten und insofern der weltweiten Friedenspolitik dienen soll. Durch die Betonung des Dialogs, sowohl in der Innen- als auch in der Außenkulturpolitik, vor allem aber mit der »islamischen Welt«, positioniert sich Deutschland als Träger der universellen europäischen Werte und tut sich als ihr primäre Vermittler hervor, der den Dialog mit Europas wichtigstem Kontrahenten – dem Islam – organisiert. Durch die Betonung der Untrennbarkeit von deutschen und europäischen Zielen gelingt es Deutschland, seine eigene nationale außenpolitische Position zu stärken und seine eigenen nationalen Ziele in die Semantik der wünschenswerten europäischen Identität zu verpacken. »Das immer enger zusammenwachsende Europa, erweitert um neue Mitglieder in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, entwickelt eine neue, auch kulturelle Identität. Die Belange des Kulturbereichs müssen in den anderen Politikbereichen der Europäischen Union (z.B. Wirtschafts-, Wettbewerbs-, Verbraucher- und Regionalpolitik) stärker berücksichtigt werden. Die kulturelle Dimension der europäischen Einigung – unter Bewahrung und Förderung der Vielfalt der europäischen Sprachen, Geschichte und Kulturen – muss für Europas Bürger erlebbar werden. Dies trägt zur Entwicklung und Stärkung der europäischen Identität bei.« (Konzeption 2000: 3) Die Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland wird sowohl nach außen (auswärtige Kulturpolitik) als auch nach innen (Bildung, Zuwanderung und Integration) komplementär konzipiert. So werden durch die kulturelle Bildungspolitik und
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die auswärtige Kulturpolitik ergänzende Ziele verfolgt. In der »Konzeption 2000« der Bundesrepublik heißt es: »Auswärtige Kulturpolitik findet also in zwei Richtungen statt: Gleichberechtigt neben die Beteiligung Deutschlands am Kulturdialog im Ausland tritt – auch als Aufgabe aller für die Kultur- und Bildungspolitik im Innern Verantwortlichen – die Förderung des Kulturdialogs im Inland.« (Konzeption 2000: 2) In diesem Sinn kann davon ausgegangen werden, dass die Identität Deutschlands nach außen und nach innen vor dem Hintergrund ähnlicher Ziele konstruiert wird, also als komplementäre Identitätskonstruktion verstanden werden könnte. Ein besonderer Schwerpunkt der Kultur- und Bildungspolitik liegt auf dem Dialog, vor allem mit der »islamischen Welt«: »Dialog mit der islamischen Welt findet überall dort statt, wo es einen prägenden Bevölkerungsanteil von Menschen muslimischen Glaubens gibt: im Mittleren Osten, wo das islamische Herz schlägt, in Asien, wo über 60 Prozent aller 1,5 Milliarden Muslime leben und Indonesien das größte muslimische Land ist, aber auch in Europa, wo der Anteil der muslimischen Bevölkerung wächst. So leben in Deutschland heute über 4 Millionen Muslime.« (Dialog zwischen den Kulturen 2010: 5) Eine Analyse der Dokumente zur innenstaatlichen Integrations- und Bildungspolitik ergibt jedoch, dass sich der deutsche Staat der Semantik der Macht bedient, obwohl er sich gleichzeitig als Kultur im Dialog stilisiert. Der Begriff des Dialogs dient der Verschleierung eines bestimmten Machtverhältnisses, indem die Migrantenorganisationen in die Entscheidungsfindung scheinbar gleichberechtigt einbezogen werden sollen, ihre Teilnahme jedoch auf die freiwillige Mitwirkung reduziert wird, sobald diese ihre Möglichkeit auf politische Mitbestimmung im Sinn einer eigenen, der Regierung entgegenstehenden Position nutzen wollen. Die Analyse der Texte zur deutschen Integrationspolitik ermöglicht einige Einblicke in die latente Bedeutung dieses Dialogs, der mit dem Fokus auf die Auseinandersetzung der Mehrheitsgesellschaft mit islamischen Zugewanderten ausgerichtet ist. »Unsere Integrationspolitik setzt insbesondere auf ein modernes Zuwanderungsrecht und den institutionalisierten Dialog mit Migrantinnen und Migranten gerade auch im Rahmen des Nationalen Integrationsplanes und der Deutschen Islamkonferenz.« (NI 2007: 2) Dem in dieser Art und Weise institutionalisierten Dialog fehlt die für einen Dialog benötigte Symmetrie, die nicht gewahrt werden kann, wenn maßgeblich einer der beiden Partner den Rahmen setzt, festschreibt und in einer die beiden Partner verpflichtenden, institutionalisierten Ordnung verankert. Vor dem Hintergrund der relativ neuen Definition Deutschlands als Einwanderungsgesellschaft und als Kultur im Dialog fällt auf, dass die Identitätskonstruktion des deutschen Staates auf
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die Stärkung der »Dominanzkultur« einerseits und andererseits auf die Förderung der Anpassung seitens der Migranten, vor allem aus dem Nicht-EU-Ausland, hinarbeitet. Auf der expliziten Ebene, wie im Motto des Integrationsportals des Bundesministeriums für Migration und Flüchtlinge, »Integration – Voneinander Lernen, Gemeinsam Leben«, wird von einem reziproken, dialogischen Verhältnis zwischen Deutschland und seinen jeweiligen Anderen gesprochen. So basiert auch die Selbststilisierung Deutschlands als Kultur der Integration, die sich im Dialog mit den »signifikanten Anderen« selbst neu erfindet, auf der Vorstellung des Austauschs von Wissensbeständen, die in unterschiedlichen kulturellen Kontexten von verschiedenen Akteuren-Gruppen produziert werden. Die Programme der staatlichen Organe aus den Jahren 2000 – 2011 zielen jedoch vor allem darauf ab, die Migranten mithilfe von diversen Bildungsmaßnahmen zu einem gemeinsamen Leben zu erziehen und nicht die Mehrheitsgesellschaft zu einer Öffnung gegenüber den anderen Kulturen zu fördern. Sie setzt selbstverständlich auf die Toleranz jene, die in Deutschland geboren sind und von deutschen Eltern abstammen. Innerhalb der Integrations- und Bildungspolitik werden sowohl Rassismus der einheimischen Bevölkerung als auch institutionalisierte Formen der Diskriminierung ausgeblendet. Die Verschleierungsmechanismen werden damit innerhalb der Selbstvergewisserung durch das normative Wertesystem, das europäisch konnotiert wird, angesiedelt.
4 Identitätskonstruktionen nichtstaatlicher Akteure
Die in diesem empirischen Kapitel durchgeführten Analysen bauen auf den Ergebnissen der vorherigen empirischen Phase (Kapitel 3) auf, in der die diskursive Formation der deutschen und europäischen Identitätskonstruktion durch die staatlichen Akteure im Feld der Einbürgerungs-, Bildungs- und Integrationspolitik einerseits und auswärtigen Außenpolitik andererseits rekonstruiert wurde. Es zeigte sich, dass die Konstruktionen von europäischer und nationaler Identität in Deutschland ineinandergreifen und mithilfe verschiedener semantischer Strategien ausgehandelt werden. Was hier beobachtet werden kann, ist ein bestimmter Prozess des kollektiven Übergangs von deutscher nationaler Identitätskonstruktion, die auf Blutsverwandtschaft beruhte, hin zur Konstruktion einer kollektiven multikulturellen Identität, welche sich zwischen der Öffnung für die Aufnahme von Menschen mit Migrationshintergrund und der Schließung durch die Integrationsmaßnahmen im Machgefüge der »Dominanzkultur« abspielt. Obgleich dieser Prozess für die deutsche Geschichte einmalig ist, zeigte sich auch, dass Deutschland sein Modell des multikulturellen Zusammenlebens als europäisches Modell diskutiert und teilweise erfolgreich umsetzt. So wurden Integrations- und Einbürgerungskurse nach deutschem Konzept auch in anderen europäischen Ländern eingeführt (Holland, Belgien). Infolgedessen wird davon ausgegangen, dass der deutsche Staat sich im Zuge der Umsetzung seiner multikulturellen Politik als europäischer Vorreiter etabliert. Dass die deutschen Diskurse über Multikulturalität einen wesentlichen Einfluss auf die europäischen Diskurse haben, zeigte sich nicht zuletzt darin, dass der Feststellung Angela Merkels, die Multikulturalität für gescheitert erklärte (Spiegel 19.10.2010), sowohl der französische Präsident Nicolas Sarkozy (Die Presse 11.02.2011) als auch der britische Premierminister David Cameron (FAZ 08.02.2011) folgten. Den Analysen des vorherigen Kapitels folgend, in denen politische Dokumente (Beschlüsse, Gesetze und Agenden) zu Integration, Migration, Einbürgerung und damit zusammenhängenden Bildungsmaßnahmen interpretiert und auf ihre semantischen Strategien hin untersucht wurden, werden in diesem Kapitel diejenigen nicht‐staatlichen Organisationen aufgeführt (20 insgesamt), die sich an den konfliktreichen Debatten, die mit diesen Beschlüssen einhergingen, beteiligt ha-
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ben, aber aus den Bestimmungsprozessen zur Verabschiedung von politischen Beschlüssen zur Integration und Zuwanderung ausgeschlossen worden waren, obwohl sie diejenigen Migrantengruppen repräsentieren, welche von den jeweiligen politischen Vereinbarungen direkt betroffen sind, also überwiegend Muslime. Die vollständige Liste der nicht‐staatlichen Organisationen findet sich im Annex. Ausgangspunkt zur Auswahl dieser Organisationen waren Petitionen an die Regierung sowie Medienberichte, die sich vor allem an die Integrationsgipfel, Islamkonferenzen und die öffentliche Sarrazin-Debatte (2009/2010) anschlossen und Meinungen der Migrantenorganisationen und religiöser Verbände präsentierten. Auf Grundlage dieser Exploration des Feldes wurden Repräsentanten all dieser Institutionen und Organisationen um ein Interview gebeten. Insgesamt konnten acht Interviews mit Repräsentanten von folgenden nicht‐staatlichen Organisationen durchgeführt werden: 1 2 3 4 5 6 7 8
Islamrat für die Bundesrepublik, Köln (Vorsitzender, Ali Kizilkaya) Zentralrat der Muslime e.V., Köln (Generalsekretär, Aiman A. Mazyek) Türkische Gemeinde in Deutschland e.V., Berlin (Bundesgeschäftsführerin, Nalan Arkat) Türkisch-Deutscher-Akademischer Bund, Köln (Vorsitzender, Alp Saraç) Liberal-Islamischer Bund e.V., Duisburg-Rheinhausen (Vorsitzende, Lamya Kaddor) Verband Demokratisch-Europäischer Muslime (VDEM), Aachen (Präsident, Eyüp Özgün) CGIL Bildungswerk e.V., Frankfurt a.M. (Vorsitzender, Franco Marincola) Eurotürk, Aachen (stellv. Vorsitzende, Frauenbeauftragte, Marie-Jose Dassen)
Die Interviews umfassten all die konfliktreichen Themen, die in den öffentlichen Debatten angesprochen wurden (Interviewleitfaden als Annex). Sie erfolgten in deutscher Sprache, dauerten jeweils etwa eine Stunde und wurden vollständig transkribiert und ausgewertet. Sowohl die Transkriptionen als auch die Analysen sind von den Interviewpartnern autorisiert und für die Veröffentlichung freigegeben worden. Die Ergebnisse der Interpretation, welche in diesem Kapitel vorgestellt werden, spiegeln ein breites Spektrum von diversen Einstellungen zum deutschen Modell der Multikulturalität und zu den politischen Maßnahmen, die dieses Modell begleiten, wider. Die hier angewendete Vorgehensweise bei der Exploration des Feldes und bei der daraus resultierenden Auswahl von Gesprächspartner erklärt sich allein aus der Logik des Diskurses und vermeidet, sich an externen Vorannahmen (Subsumptionslogik) zu orientieren (siehe genauer in Kapitel1.2). Dies entspricht der Methode der wissenssoziologischen sowie der kritischen Diskursanalyse (Keller 2004, 2005;
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Wodak 2001, Wodak/Meyer 2001) und folgt den Regeln des theoretischen Samplings (Glaser/Strauss 1967) sowie der Abduktion (Peirce 1933/1980). Durch die Auswahl der Gesprächspartner werden die in Kapitel 3 identifizierten Lücken und freien Räume des Diskurses gefüllt, welche aus einer bestimmten Machtkonstellation resultieren und als Folge der Verschleierungsmechanismen der dominanten Semantik des Diskurses anzusehen sind. Innerhalb dieser Makrostrategien wird zwar ein »Dialog« zwischen der Mehrheits- und der Minderheitengesellschaft proklamiert, die dafür notwendige Herrschaftsfreiheit des Diskurses aber nicht eingelöst (vgl. Habermas 1981). So werden zwar Stimmen der Migrantinnen und Migranten in der öffentlichen Diskussion über die Gestaltung der multikulturellen Gesellschaft zugelassen, die konkreten Gesetze und Beschlüsse werden jedoch immer noch von der Semantik der »Dominanzkultur« (Rommelspacher 1995) bestimmt1 . Dieser Dynamik soll in diesem Kapitel entgegengewirkt werden, indem gerade diejenigen Akteurengruppen befragt werden, welche durch ihre Position innerhalb der Machtkonstellation des Diskurses lediglich eingeschränkten Einfluss auf die politischen Entscheidungen haben und insofern am Rande des Diskurses stehen, obwohl sie gerade diejenigen Teile der Gesellschaft repräsentieren, die durch diese Maßnahmen direkt angesprochen werden und von diesen betroffen sind. Dadurch wird zunächst die Diversität der Akteurengruppen und damit auch die Vielfalt der multikulturellen Alltagswirklichkeit in Deutschland und in Europa in den Fokus gerückt. Weiterhin wird hier aber auch die große Bandbreite der Meinungen und Einstellungen innerhalb der Minderheitengesellschaft nachgegangen, welche in der diskursiven Praxis vielmehr als eher homogene Gruppe behandelt und auf bestimmte pauschalisierte Positionen reduziert wird. So wird in der hier vorgestellten Studie die Vielfalt der sozialen Akteure, die an der deutschen und europäischen multikulturellen Identitätskonstruktion mitwirken, sichtbarer. 1 Wie bereits in Kapitel 3 angeführt, scheint die deutsche Integrationspolitik pragmatisch über die unterschiedlichen innenpolitischen Lager hinweg zu einem gesteuerten technokratischen Problemlösungskonzept der deutschen »Dominanzkultur« (Rommelspacher 1995) zu gehören, obwohl sich die ideologisch‐programmatische Einstellung der Parteien – auch der Regierungsparteien zum damaligen Zeitpunkt – zu diesem Thema grundsätzlich unterscheiden. Die Veränderungen des Zuwanderungsgesetztes von 2000 als auch von 2005 wurden tatsächlich vom rot‐grünen Kabinett verabschiedet. Dabei müsste zusätzlich berücksichtigt werden, dass das Bündnis 90/die Grünen in ihrem politischen Programm eine Position zur Multikulturalität bezogen haben, die sich deutlich von der hier herausgearbeiteten dominanten Semantik unterscheidet. Um dem Diskurs über das deutsche Multikulturalitätsmodell vollständig gerecht zu werden, müssten zusätzlich noch umfangreiche Analysen von verschiedenen politischen Programmen der Regierungs- und Oppositionsparteien aus den Jahren 2000 bis 2011 mit in die Untersuchung einbezogen werden. Dies war in diesem Projekt aus Zeit- und Kostengründen nicht möglich und sollte in den darauf aufbauenden Projekten vervollständigt werden. Dadurch ließe sich die Diversität der Einstellungen zur multikulturellen Identität Deutschlands noch deutlicher aufzeigen.
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Der hier als Multikulturalität identifizierte Diskurs entzieht sich der Dichotomie von Poesis und Praxis. Er beinhaltet sowohl die Ebene des Textes als auch die der sozialen Praxis, und zwar nicht nur dadurch, dass allein der Akt des Sprechens schon eine soziale Handlung darstellt, sondern auch insofern, als bestimmte politische Handlungen hierdurch initiiert werden und so die Alltagspraxis prägen. Die diskursiven Makrostrategien des Multikulturalitätsdiskurses, die bereits in Kapitel 3 herausgearbeitet wurden, werden hier durch die Analyse von Interviews mit Repräsentanten von Migrantenorganisationen und religiösen Gemeinschaften weiter ausdifferenziert. Zu diesen Makrostrategien gehören: •
•
• • •
Im Zentrum des multikulturellen Identitätsdiskurses steht nach wie vor (wie im früheren deutschen Identitätsdiskurs, der auf dem ius sanguinis beruhte) die Auseinandersetzung zwischen dem ›Eigenen‹ und dem ›Fremden‹ oder ›Anderen‹. Das ›Fremde‹/das ›Andere‹ wird in einer bestimmten Art und Weise als das Nichteuropäische verallgemeinert und homogenisiert (im Unterschied zu vorherigen Modellen, in welchen das ›Fremde‹/›Andere‹ überwiegend als das Nichtdeutsche konstruiert wurde). Das deutsche nationale Modell der Multikulturalität wird als Modell für Europa ausgehandelt. Es wird über Anerkennung der Diversität gesprochen, statt sie zu repräsentieren. Durch die Semantik des »Dialogs« zwischen Mehrheits- und Minderheitengesellschaft wird die Machtkonstellation des Diskurses verschleiert.
Im Folgenden werden unterschiedliche Themen präsentiert sowie die diversen Topoi (argumentative Strategien) analysiert, mit denen die interviewten Vertreter von Migrantenorganisationen diese Themen verhandelten.
4.1
Bildungschancen, Fördermaßnahmen und Bildungsreformen
2005 erschien die PISA-Studie, die aufzeigte, dass die Bildungschancen von Migrantenkindern im Vergleich zu einheimischen Kindern in Deutschland signifikant schlechter sind als in den anderen EU-Staaten. Daraufhin wurde Bildung im Nationalen Integrationsplan als Schlüssel für erfolgreiche Integration bezeichnet. In Kapitel 3 zeigte sich, dass Bildungsmaßnahmen, die dieser Ungleichheit der Bildungschancen entgegenwirken sollen, vor allem auf die Sprachförderung der Migrantenkinder ausgerichtet sind. Gleichzeitig zeigt sich in den öffentlichen Diskussionen um das Thema Migration und Integration aus den Jahren 2000 bis 2011, dass Migranten überwiegend als
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Problem der Aufnahmegesellschaft gesehen werden. Hier wird die Fokussierung hauptsächlich auf Kriminalität, Arbeitslosigkeit und mangelnde Deutschkenntnisse gelegt. Die Migranten werden dabei latent mit der bildungsfernen Schicht gleichgesetzt. Damit werden die bestehenden Unterschiede zwischen der Aufnahmegesellschaft und Migranten in Form von Defiziten konzeptualisiert. Die Politik reagiert dementsprechend mit Förderprogrammen für Migranten, statt Programme zu entwickeln, die die Öffnung von Institutionen – wobei vor allem die Mitglieder der Aufnahmegesellschaft gefördert wären – begünstigen und in der Folge der Anerkennung von Diversität den Weg ebnen. In den Interviews begrüßten alle Gesprächspartner zwar die Förderprogramme, standen aber der weitgehenden Pauschalbewertung der Migranten und Migrantenkinder als defizitär – und somit als Problem der Bildungspolitik und der Gesellschaft – kritisch gegenüber. Obgleich sie die Ergebnisse der PISA-Studie ernst nahmen, betonten sie gleichzeitig, dass mit der Kategorie Migrant oder Migrantenkind mehr verschleiert als erklärt wird. So unterstrich Frau Kaddor vom Liberal-Islamischen Bund die in den Diskussionen im Anschluss an PISA entstandene Undifferenziertheit der Darstellung und sagte, es mangele an Forschung zu den Ursachen von Bildungsungleichheiten, die genau erklären könnte, wie die sozialen Ungleichheiten mit den Bildungserfolgen zusammenhängen. Auch die anderen Befragten bezogen die Bildungsprobleme von Migrantenkindern in erster Linie auf soziale Lagerung und warnten davor, die Bildungsproblematik zu kulturalisieren oder diese gar auf religiöse Zugehörigkeit zurückzuführen (s. das Interview mit Herrn Mazyek unten). Frau Arkat von der Türkischen Gemeinde in Deutschland brachte dies folgendermaßen auf den Punkt: »Ich denke, die Problematik der PISA-Studie ist keine, die mit ethnischen oder migrantischen Gründen erklärbar ist. Die Ergebnisse müssen anhand der sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten bewertet werden. Wenn man sich diejenigen Schülerinnen und Schüler anguckt, die ganz schlecht abgeschnitten haben, sieht man, dass diese in den Bezirken mit sozialen Problemen und vielen Hartz IV-Empfängern wohnen und dort auch andere Spannungen vorhanden sind. Viele deutsche Schüler haben auch ähnliche Probleme. Sie sind genauso schlecht in der Schule wie auch die Migrantenkinder. Nur bei den Migranten kommt es noch hinzu, dass viele nicht die vorschulische Bildung genießen, das heißt nicht in die Kita gegangen sind und mit sehr geringen, zum Teil sogar ganz ohne Deutschkenntnisse eingeschult werden. Genau da sehe ich eine Möglichkeit. Wenn man das Problem erkannt hat, kann man sofort Förderklassen für Kinder, die sprachlich noch nicht so weit sind, einrichten, nicht nur für Migrantenkinder. Es gibt auch deutsche Kinder, die die Sprache nicht richtig anwenden können.« (Int.3:3/15-30) Herr Saraç, der Vorsitzende des Vereins »Türkisch-Deutscher-Akademischer Bund e.V.«, sprach im Zusammenhang mit der öffentlichen Pauschalbetrachtung von Mi-
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grantenkindern als förderbedürftig die Benachteiligungen an, die diese Art der Stereotypisierung in Entscheidungssituationen bewirken kann, etwa bei der Ausstellung einer Gymnasialempfehlung: »Eine solche Schubladensystematik führt automatisch dazu, dass man nach dem Namensprinzip entscheidet und so zum Beispiel bei der Gymnasialempfehlung, wo man eigentlich schon die entscheidenden Weichen für eine Chancenvielfalt in der Bildung schaffen müsste, letztendlich Entscheidungen getroffen werden, die schon von vornherein zu einer Benachteiligung führen. Wie soll sich da so ein Migrantenkind aus dem Arbeitermilieu überhaupt in dieser Gesellschaft etablieren? Das sind nur fünf bis zehn Prozent, die das schaffen, gegenüber vierzig Prozent bei den deutschen Kindern. Von daher wird Chancengleichheit bislang noch nicht umgesetzt und da müssen wir ansetzen, auch schon bei den Pauschalisierungen in den Medien.« (Int.4:5/25-36) Der Vorsitzende des Islamrates für die Bundesrepublik Deutschland, Herr Kizilkaya, hob demgegenüber aber auch die spezifischen Hürden, mit denen sich muslimische Kinder im deutschen Bildungswesen auseinandersetzen müssen, hervor. Er grenzte sich damit insbesondere von der Semantik der Aufnahmegesellschaft ab, die Migranten seien unwillig oder per se bildungsfern und defizitär. Dem stellte er den Topos der besonderen Anstrengung von Migrantenkindern gegenüber, der sie im Unterschied zu den einheimischen Kindern auszeichne: »Die PISA-Studie hat natürlich festgestellt, dass es Bildungsunterschiede zwischen deutschen und Migrantenkindern gibt, aber die Ursachen sind andere. Die Ursachen sind nicht in der Unwilligkeit der Migranten zu sehen – sicherlich gibt es da auch schwarze Schafe wie in jeder anderen Gesellschaft auch, aber das ist nicht die Mehrheit der Minderheitsgesellschaft der Migranten. Die Mehrheit in der Minderheit ist sehr bemüht, nur ist es sehr anstrengend, ein Leben lang einen Hindernislauf zu laufen. Ich will damit nicht sagen, dass immer die Mehrheitsgesellschaft Steine in den Weg legt, aber auch sie tut es manchmal. Wenn Sie nun die Migranten mit der deutschen oder Mehrheitsgesellschaft-Unterschicht vergleichen, da werden Sie sehen, dass die Muslime und die Migranten viel erfolgreicher sind und sich viel mehr anstrengen als die Unterschicht der Mehrheitsgesellschaft. Insofern werden da manchmal Äpfel mit Birnen verglichen und man kommt dann zu falschen Schlussfolgerungen.« (Int.1:7/12-27) Die Notwendigkeit von Fördermaßnahmen wird somit für alle Kinder aus sozial schwachen Milieus, unabhängig von der kulturellen Herkunft, postuliert (s. Arkat, Int.3:3/15-30). Herr Marincola vom CGIL-Bildungswerk kritisiert hier insgesamt das deutsche Schulsystem, dass zu wenig auf die Förderung der unteren sozialen Schichten ausgelegt ist:
4 Identitätskonstruktionen nichtstaatlicher Akteure
»Bei vielen Familien ist das Bildungsbewusstsein nicht vorhanden, und das lässt sich noch nicht mal nach Nationalitäten einteilen. Das gilt nicht nur für türkische Zuwanderer, sondern auch für italienische – da haben wir einen ganz großen Erfahrungsschatz in dreißig Jahren Arbeit – die kommen aus sozial schwachen Verhältnissen schon aus Italien, in denen sie selber nie Bildung erfahren haben oder Bildung eben sekundär war, weil man tagtäglich ums Überleben kämpfen musste. Und als Kind ist das dann eine ganz schwierige Hürde. Um die Integration der Kinder dieser Familien zu verfolgen, müsste eigentlich die Schule das ausbaden, was vorher gesellschaftlich nicht funktioniert hat. Aber das ist in Deutschland einfach nicht vorhanden, die Kinder werden nicht adäquat gefördert, wenn sie aus solchen Schichten kommen, denn das Schulsystem sieht das gar nicht vor. Wir gehen immer noch nach dem Bildungsgedanken einer gutbürgerlichen deutschen Gesellschaft aus dem neunzehnten Jahrhundert vor.« (Int.7:4/23-37) Um der Pauschalbetrachtung der Migrantenkinder als förderungsbedürftig entgegenzuwirken und die Chancengleichheit zu fördern, wurde von Frau Kaddor, der Vorsitzenden des Liberal-Islamischen Bundes, vorgeschlagen, die interkulturellen Kompetenzen der Lehrer zu stärken: »Die Bildungsunterschiede zwischen deutschen Kindern und Migrantenkindern können sicherlich auch daraus resultieren, dass die Lehrer nicht genügend interkulturell geschult sind, um eben auch auf Unterschiede zwischen den Kindern oder auf andere Fähigkeiten eines Kindes näher einzugehen.«(Int.5:2/4-10) Auch Herr Saraç stellte die Weiterbildung der Lehrer in interkulturellen Kompetenzen in den Vordergrund der Maßnahmen, die in Reaktion auf PISA eingeleitet werden sollten. Dabei ging es ihm nicht um die positive Diskriminierung von Lehrern mit Migrationshintergrund, sondern Fortbildung aller Lehrer gemäß der multikulturellen Lebenswirklichkeit in Deutschland. Dabei gingen bislang all die diversen Initiativen, die in Reaktion auf die PISA-Studie eingeleitet wurden, schwerpunktmäßig auf die Förderung der Migrantenkinder ein oder versuchten, die multikulturelle Realität in Schulen besser zu berücksichtigen, indem interkulturelle Bildungsangebote für Schüler in den Curricula verankert wurden. Diese Maßnahmen sind von Gesprächspartnern insofern begrüßt worden, als sie den direkten Austausch auf Augenhöhe zwischen den Schülern unterschiedlicher Herkunft fördern. Dazu sagte Herr Kizilkaya folgendes: »Interkulturelle Begegnung und Aktionen sind natürlich immer begrüßenswert, weil man dadurch auch die Chance bekommt, den anderen in seinem eigenen Selbstverständnis kennenzulernen. Wir leiden immer sehr darunter, dass wir übereinander und weniger miteinander kommunizieren, also dass der direkte Austausch fehlt. Deshalb sehen wir Menschen häufig mit den Augen des Dritten und nicht mit eigenen Augen, nicht mit eigenen Erfahrungen. Ich glaube, das
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ist sehr schädlich, weil das ein Nebeneinander-, nicht Miteinanderleben ist. Das Miteinander kann man nur miteinander lernen.« (Int.1:6/22-29) Bislang wurden die Möglichkeiten zur Gestaltung der multikulturellen Lebenswirklichkeit – zumindest im dominanten Diskurs – überwiegend im Bereich des Deutschunterrichts für Migrantenkinder gesehen. Im Gegensatz dazu wurde von den befragten Migrantenorganisationen und religiösen Gemeinschaften auch diskutiert, um welche Inhalte die Schulcurricula ergänzt werden sollten, um der multikulturellen Lebenswirklichkeit in Deutschland gerecht zu werden und diese im Bildungssystem zu repräsentieren. So sah Frau Arkat in der Ergänzung des Geschichtsunterrichts um die Geschichte der Einwanderung nach Deutschland eine Möglichkeit, die Integrationsprobleme richtig zu kontextualisieren. Sie betonte, dass die Probleme des multikulturellen Zusammenlebens in der öffentlichen Diskussion häufig enthistorisiert und nicht auf die Versäumnisse der Politik zurückgeführt werden, sondern den Migranten zugerechnet werden. Auch Herr Özgül teilte diese Meinung: »Es wird immer gesagt, man hat Arbeiter gerufen, und die Menschen kamen. Diese Menschen haben aber auch ihre Geschichte. Ich würde mir wünschen, dass diese Geschichte in den Schulbüchern erscheint, weil uns das diese Menschen näherbringt und erklärt, wer sie waren und wie sie geworden sind, was sie sind« (Int.6:15/39-44) Auf diese Weise betonte auch Herr Marincola die Geschichte der Integrationspolitik als wichtigen Bestandteil der Bildung. So könne verstanden werden, woher etwa Sprachprobleme der Migranten resultieren: »Ich finde das sehr, sehr wichtig, dass man in Deutschland über Integrationspolitik als Teil der Nachkriegsgeschichte unterrichtet. Es ist wirklich unheimlich wichtig, zu sehen, weswegen denn so viele Menschen in Deutschland leben, die angeblich, in Anführungsstrichen, nicht dazugehören. Das ist ja am besten behandelbar in der Schule, indem man zeigt, dass eigentlich die erste und zweite Generation der Migranten teilweise angeworben worden ist, weil man hier Arbeitskräfte gebraucht hat, die keine besondere Qualifikation mitbringen mussten und sicherlich auch keine Sprachkenntnisse erforderlich waren. Man hat nicht Menschen integriert oder geholt, die Deutsch konnten, sondern man hat einfach Leute angeworben, die für bestimmte Zeiträume hier bestimmte Arbeiten verrichten sollten, um diese dann wieder nach Hause zu schicken, was ja nicht so funktioniert hat. Aber diese Geschichte, die kennen die wenigsten.« (Int.8:7/27-39) Aufklärung über die Historie der Migrationsströme zum Bestandteil des Geschichtsunterrichts zu machen hielt Herr Mazyek für eine Möglichkeit, die Anerkennung von unterschiedlichen Migrantengruppen in der deutschen Ge-
4 Identitätskonstruktionen nichtstaatlicher Akteure
sellschaft voranzutreiben, was zum Selbstwertgefühl der Migranten deutlich beitragen könne. Sowohl er als auch Herr Saraç, Frau Arkat und Herr Özgül betonten, wie wichtig es für ein gelungenes multikulturelles Zusammenleben in Deutschland sei, nun auch den Beitrag der Gastarbeiter zum heutigen Wohlstand der deutschen Gesellschaft anzuerkennen. So setzten sie dem Integrationsdiskurs mit seiner Semantik des »Förderns und Forderns« (s. Kapitel3; AufenthG 2008 § 43 Abs. 1) einen Diskurs der Anerkennungskultur gegenüber, den sie sich einerseits wünschten, andererseits aber auch als Unabdingbar für das Gelingen von Multikulturalität betrachteten. Frau Kaddor stellte die Notwendigkeit der Anbindung des Geschichtsunterrichts an die konkreten Erfahrungen, die die Schüler in ihrem Alltag machen, heraus: »Die Geschichte richtet sich ja nicht danach, wann Menschen wo leben, sondern Geschichte muss sich doch an Erfahrungen und an historische Ereignisse knüpfen. Das heißt aus meiner Sicht: Wenn man im Unterricht über das gegenwärtige Deutschland spricht, dann muss natürlich auch diese ganze Politik rund um die Gastarbeiteranwerbung besprochen werden, weil Muslime mittlerweile auch Teil der deutschen Geschichte sind und daher auch erwähnt werden müssen« (Int.5:3/20-27) In diesem Zusammenhang betonte Herr Kizilkaya weiterhin, dass in den Schulbüchern, trotz der multireligiösen Lebenswirklichkeit in Deutschland, der Islam als Feindbild dargestellt wird: »Man muss in Schulbüchern auf eine differenzierte Sichtweise achten. Im Moment sind die Geschichtsbücher noch von Kreuzzugsgedanken geprägt und das Feindbild Islam ist leider noch vorherrschend. Meine Kinder, oder die muslimischen Kinder überhaupt, sind, wenn sie ein Geschichtsbuch lesen, teilweise über ihre eigene Kultur und Religion irritiert, weil das, was in den Schulbüchern darüber steht, mit ihren Erfahrungen und ihrem Wissen nicht übereinstimmt. Deswegen muss man auch in den Schulbüchern darauf achten, dass Muslime, der Islam, die muslimischen Bürger, objektiv rüberkommen, damit sich das Ausgrenzungsklima in der Gesellschaft nicht auch in den Schulbüchern niederschlägt, denn das hätte dann zur Folge, dass muslimische Kinder dort wieder einmal erkennen, dass sie ausgegrenzt werden und die Identifikation und auch die Integration so wieder erschwert werden.« (Int.1:16/11-23) Die interviewten Migrantenorganisationen und religiösen Gemeinschaften sahen die Probleme bezüglich der Bildungschancen von Migrantenkindern nicht in ihrer Herkunft, sondern vielmehr in der sozialen Schichtung, die herkunftsübergreifend ist. So setzten sie der Pauschalisierung der Migranten und Ihrer Kinder als förderbedürftig bzw. defizitär ein Postulat der Differenzierung der Ursachen kon-
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kreter Probleme entgegen (z.B. die soziale Bedingtheit von Bildungsungleichheiten oder die Versäumnisse der Integrationspolitik als Ursache für Sprachprobleme bei Migranten). So begrüßten sie zwar die bereits eingeleiteten Fördermaßnahmen in Form von Deutschunterricht sowie vereinzelter Projekte zu interkultureller Bildung, schlugen aber gleichzeitig progressivere Bildungsreformen vor, welche konsequent die Multikulturalität der Gesellschaft in den Bildungseinrichtungen repräsentieren sollten. Weiterhin wurden die Begrenzten Chancen von Migrantenkindern in Zusammenhang mit Alltagsdiskriminierung gebracht: Die Praxis des Labelings als Migrant (oder Kind mit Migrationshintergrund) beeinflusse die Verteilung von Lebenschancen. Themenübergreifend entsteht hier der Topos der Gleichverteilung der Lebenschancen unabhängig von der Herkunft als Postulat.
4.2
Religion in der multikulturellen Gesellschaft und die Semantik der Moderne
4.2.1
Rolle der Religion bei der Konstruktion der multikulturellen Identität
Religion wurde von allen Interviewpartnern als ein wichtiger Bestandteil der Identitätskonstruktion angesehen. Sie spielt, wie Herr Özgün sagte, »eine identitätsstiftende Rolle. Über Religion wird viel definiert, obwohl auch andere Aspekte wichtig sind, wie Geschlecht, Familiengeschichte und all die Erfahrungen, die wir als Menschen machen« (Int.6:20/31-33). Dabei ist Religion laut Herrn Kizilkaya sowohl für die christliche Mehrheitsgesellschaft als auch für die Muslime in Deutschland und Europa identitätsprägend: »Ich glaube, die Religion spielt eine außerordentliche Rolle in der Identitätsbildung. Auch die Mehrheitsgesellschaft definiert sich über Religion, definiert ihre Identität über die christlich‐abendländische Kultur. Die Mehrheitsgesellschaft nimmt sich da einfach ihre Freiheit – das ist ja auch ihr gutes Recht. Ich habe davor großen Respekt. Aber im Gegenzug muss sie auch respektieren, dass andere Menschen andere religiöse Identitäten und eine andere Kultur haben. Das ist auch in der Verfassung so vorgesehen, und deshalb sollten sich die unterschiedlichen Gruppen gegenseitig respektieren. Gegebenenfalls können sie sich sogar gegenseitig bereichern, wenn es zum Austausch auf freiwilliger Basis kommt. Aber dass es die Möglichkeit unterschiedlicher religiöser Identitäten geben muss, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Und das gilt nicht nur für die Muslime, sondern für alle Religionen, auch für die christliche, auch in Deutschland. Das sieht man schon allein daran, dass wir hier in Deutschland einen Gottesbezug im Grundgesetz haben. Es gibt Religionsunterricht, es gibt Staatskirchenverträge. Hier wurde Identitätsbildung durch die Religion so ernst genommen, dass man Religion in die
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Verfassung aufgenommen hat. Das ist Kulturtradition, aber auch Identität. Also: Man sagt nicht von ungefähr christlich‐abendländische Kultur.« (Int.1:4/48-5/14) Dabei wehrte er sich gegen den Topos der säkularen Identität Europas, der die Muslime als vermeintlich nicht‐aufgeklärte ›Andere‹ konstruiert. Für ihn ist die muslimische Religion keineswegs ein Hemmnis für das multikulturelle Zusammenleben in Deutschland und in Europa. Vielmehr hob nicht nur er, sondern auch die anderen Gesprächspartner Respekt und gegenseitige Anerkennung als wichtigste Modi für die Gestaltung des multikulturellen Zusammenlebens hervor. Einige Gesprächspartner betonten darüber hinaus, dass »die modernen Gesellschaften gerade dann stark sind, wenn sie kulturelle und religiöse Vielfalt aufweisen und nicht monolithisch sind« (Herr Mazyek, Int.2:3/38-40). Damit stellten sie sich gegen den Topos der Mehrheitsgesellschaft, dass die vermeintlich traditionellen, religiösen Migranten über Erziehung in die moderne, aufgeklärte Lebenswirklichkeit Europas integriert werden müssten. Weiter wurde von vielen Gesprächspartner die Ausgrenzung des Islam im europäischen Kontext kritisiert. So griff etwa Herr Saraç auf ein Zitat aus dem Literaturkanon der deutschen Leitkultur zurück, um gerade die Zugehörigkeit des Islam zu Europa zu begründen: »Vor mehr als zweihundert Jahren hat Goethe in seinen Schriften schon gesagt, dass das Moderne auch den Islam mit einbezieht, und ich denke, dass der Islam damit seit über zweihundert Jahren – und wenn man die Spanier anschaut, sogar seit über tausend Jahren – eine Religion ist, die in Europa angekommen ist.« (Int.4:11/47-50) Viele Interviewte beriefen sich auf den Topos der verfassungsrechtlich angelegten Gleichberechtigung aller Religionen und forderten die Anerkennung des Islam. Dabei bezogen sie klar Stellung in der Auseinandersetzung um das kulturelle Erbe Europas. Sie wehrten sich gegen die Ausgrenzung des Islam aus der europäischen Kultur. In diesem Zusammenhang wurde auch auf jenen Topos zurückgegriffen, der besagt, dass die Moderne durch Vielfalt gekennzeichnet ist und erst im Wechselspiel verschiedener Religionen entsteht. Dabei wurden etliche Probleme bei der Umsetzung der Gleichberechtigung von Religionen angesprochen, die dann im Zusammenhang mit der Frage nach religiösen Symbolen in Schulen diskutiert wurden.
4.2.2
Polarisierung der Positionen durch die Kopftuchdebatte
Obwohl unter den Interviewten Repräsentanten der Migrantenorganisationen und religiösen Gemeinschaften Einigkeit bezüglich der Gleichberechtigung der verschiedenen Religionen herrschte, fiel auf, dass die Frage nach dem Kopftuch in
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öffentlichen Bildungseinrichtungen, die 2003/2004 in der Öffentlichkeit – nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern – kontrovers diskutiert wurde, auch hier polarisierte. In der Öffentlichkeit wurde von einigen Meinungsträgern im humanistisch geprägten Bildungsauftrag der Schule Raum für den Ausdruck des individuellen religiösen Bekenntnisses auch nicht‐christlicher Lehrer und Lehrerinnen gesehen, während andere christliche Ursprünge des Bildungsauftrages in den Mittelpunkt stellten und im Kopftuchtragen einen Widerspruch zur Vermittlung christlicher Werte sahen. Ein anderes Argument in der Kopftuchdebatte war, dass Lehrer an ein Neutralitätsgebot gebunden seien, da sie Vorbilder für die Schüler seien. Einige Meinungsträger betonten, die Lehrer müssten nicht religionsneutral in Erscheinung treten, sondern in ihrem Verhalten gegenüber den Schülern bekenntnisneutral sein. Die Gegenposition betonte dagegen die Notwendigkeit absoluter Neutralität der Lehrpersonen, die sich auch in ihrer Kleidung äußern müsse. Nur dadurch wäre Gleichbehandlung aller Schüler gewährleistet (vgl. Bpb 28.06.2005). In der Kopftuchdebatte wurde weiterhin auch der Aspekt der Geschlechtergerechtigkeit in Zusammenhang mit islamischem Fundamentalismus diskutiert. Die einen sahen in der Präsenz einer kopftuchtragenden Lehrerin an der Schule, die durch ihre Berufswahl bereits ausgedrückt habe, dass sie sich für gesellschaftliche Partizipation und Gleichberechtigung der Frau einsetze, zum einen ein positives Signal an muslimische Schülerinnen, die dadurch mit einem modernen weiblichen Rollenmodell konfrontiert würden. Ferner könne die Präsenz einer kopftuchtragenden Lehrerin an der Schule die Erziehung zu Toleranz und Anerkennung von Pluralismus bei allen Schülern und Schülerinnen unterstützen. Andere bewerteten eine muslimische Kopftuchträgerin als negatives Vorbild, da sich im Kopftuch das Bekenntnis zur Unterordnung der Frau unter den Willen des Mannes und schließlich auch die Zugehörigkeit zu einer fundamentalistischen Orientierung ausdrücke (vgl. Karakasoglu 2005). Aygül Özkan, die damalige Ministerin für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration in Niedersachsen (CDU, erste Ministerin mit Migrationshintergrund in Deutschland), forderte direkt nach ihrer Amtseinführung 2010 die Befreiung öffentlicher Schulen von jeglichen religiösen Symbolen: keine Kreuze und keine Kopftücher. Von ihrer Partei wurde sie heftig zurückgewiesen mit der Mahnung, dass Kreuze Symbole des Grundsteines der deutschen Kultur seien und sie sich überlegen solle, ob sie mit einer solchen Forderung in der CDU eine konsensfähige Meinung verträte (Focus 24.04.2010). Frau Arkat von der Türkischen Gemeinde Deutschland plädierte in ihrem Interview auch für die Neutralität in der Schule: »Wir sind eine säkulare Organisation und sind somit für Religionsfreiheit. Wir sind der Meinung, dass Religion Privatsache bleiben soll und dass die Religion eigent-
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lich auch in den Schulen nichts zu suchen hat. Wer also sein Kind religiös erziehen will, soll und darf das tun, aber in der Öffentlichkeit soll man schon bestimmte Normen einhalten, und dazu gehört für uns diese Neutralität.« (Int.3:6/15-20) Herr Özgün vom Verband Demokratisch-Europäischer Muslime war ähnlicher Meinung: »An staatlichen Schulen sind meiner Meinung nach religiöse Symbole nicht angebracht, weder das eine noch das andere Symbol. Nur an den konfessionsgebundenen Schulen, da sollte es weiterhin freigestellt sein, welche Symbolik man wählt, ob Kreuz oder Kopftuch oder sonst was, denn da steht der Name drauf, und wer in eine solche Schule geht, der weiß, welche Ausrichtung diese Schule hat. Aber eine staatliche Schule sollte sich meiner Meinung nach hundertprozentig neutral verhalten und nicht irgendwelche Religionen bevorzugen. Ich meine, die Tatsache, dass man ein Kreuz anbringt in einer Klasse, ist schon, wenn auch in einem geringem Maße, eine gewisse Werbung für eine Religion. Das gehört meiner Meinung nach nicht in die Schule, und das gleiche gilt für das Kopftuch.« (Int.6:20/48-21/5)
Frau Kaddor vom Liberal-Islamischen Bund hob vor allem die Wichtigkeit der Gleichbehandlung aller Religionen im öffentlichen Raum hervor: »Ich könnte mit beiden Modellen leben. Also: Wenn ich in einem Land lebe, wo religiöse Symbole zum öffentlichen Leben und auch zur Bildung, zur Schulbildung, dazugehören, dann muss das natürlich gleichbehandelt werden. Wenn ich aber in einem Land lebe, wo Religion tatsächlich keine Rolle spielt, nur bei den Christen, also das Christentum plötzlich eine Rolle spielt im öffentlichen Leben, dann habe ich tatsächlich ein großes Problem damit. Ich persönlich präferiere schon Religion als Gegenstand des öffentlichen Lebens, aber dann muss es tatsächlich gleichberechtigt geschehen.« (Int.5:4/16-24) Herr Kizilkaya vom Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland betonte die Diskriminierung der muslimischen Religion in Bildungseinrichtungen. Er stellte einen bestehenden Konflikt zwischen der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung von Religionen und dem die Alltagspraxis prägenden Leitkulturverständnis heraus: »In Deutschland gibt es, soweit ich weiß, in acht Bundesländern Kopftuchverbote – in einigen anderen Bundesländern sogar direkte Kopftuchverbote. Das Kopftuch ist ein religiöses Gebot für muslimische Frauen, die, wenn sie sich daran halten möchten, ihre Religionsfreiheit geltend machen und darauf bestehen können. Aber manche Frauen können das nicht. Also: Manche kopftuchtragenden muslimischen Frauen dürfen ihren Beruf, zum Beispiel den der Lehrerin, nicht ausüben, weil das Kopftuch scheinbar ein Hindernis ist, weil die Mehrheitskultur das in die-
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sem Bereich nicht akzeptieren will. Das ist genau das Leitkulturverständnis. In Nordrhein-Westfalen, zum Beispiel, ist es erlaubt, als Lehrerin Nonnentracht oder auch Kippa in der Schule zu tragen. Ich habe kein Problem damit, dass die Nonnen mit Nonnentracht kommen, dass die jüdischen Gläubigen mit Kippa kommen. Ich habe allerdings ein Problem, wenn die Muslime es nicht dürfen. Das ist eine Ungleichbehandlung. Das ist Leitkultur pur und das ist auch gegen die Verfassung, denn vor der Verfassung, vor dem Gesetz, sollten alle Bürger, alle Menschen gleich sein. In der Praxis wird das aber nicht so umgesetzt. Und das ist natürlich auch relevant für die Identität und Identifikation. Jemand, der ständig ausgegrenzt wird, dem wird es schwerfallen, sich mit der Gesellschaft zu identifizieren, die ihn ausgrenzt.« (Int.1:4/12-30) Herr Mazyek vom Zentralrat der Muslime in Deutschland nahm eine progressive Haltung gegenüber den kopftuchtragenden Lehrerinnen ein. Er sah in der Präsenz unterschiedlicher Religionen im Bildungswesen die Möglichkeit, die Auseinandersetzung zwischen den Menschen unterschiedlicher Religionen von Kindesbeinen an zu fördern. So setzte er dem Topos der Leitkultur ein erzieherisches Konzept entgegen, nachdem Kinder mündig und in der Lage sein sollten, mit Vielfalt in einer Gesellschaft umzugehen: »Die Länder haben in den letzten Jahren nach und nach Kopftuchverbotsgesetze formuliert, die aber wahrscheinlich in den nächsten Jahren alle samt kippen werden, weil das Religionsfreiheitsgesetz das nicht zulässt. Aber das Spannungsverhältnis bleibt, dass die Mehrheitsgesellschaft meint, den christlichen Lehrern oder Nonnen die Religionsfreiheit ermöglichen zu müssen, den Muslimen aber nicht. Ich glaube, das ist eine Ambivalenz, die aufzubrechen ist. Wenn wir die Frauen mit Kopftuch, die Lehrerin sein wollen, in der Mitte der Gesellschaft zulassen wollen, dürfen wir Ihnen kein Berufsverbot erteilen. Wir sollten Muslime mit und ohne Kopftuch als Lehrerinnen haben. Die unterschiedliche Bekleidung von Lehrerinnen bringt auch ein Stück weit die Vielfalt der Gesellschaft zum Ausdruck. Das zuzulassen, betont die Gelassenheit, die hier stärker kultiviert werden sollte. Auch Rückfragen – »Warum trägst du das Kopftuch?«, und so weiter – sollten in den Schulen zugelassen werden. Wir wollen doch mündige Kinder erziehen, oder? Dann dürfen wir keine Angst vor Fragen haben! Lassen Sie sie doch fragen!« (Int.2:6/25-59) Auch Herr Marincola sah kein Problem, wenn Lehrer religiöse Symbole tragen, solange sie die Kinder zu keinem religiösen Bekenntnis drängen: »Ich sehe das so, dass das Kopftuchtragen an sich dem Kind keinen Schaden zufügen würde, so wie auch kein Lehrer, der ein Kreuz trägt, oder ein Lehrer, der einen Turban tragen würde – das kann es ja auch mal geben – solange er die Kin-
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der nicht in der Schule zur Religiosität in einer bestimmten Richtung auffordert.« (Int.8:9/11-14) Herr Saraç vom Verein »Türkisch-Deutscher-Akademischer Bund e.V.« plädierte dafür, die Diskussion weg von den Symbolen und hin zu den Inhalten der Konflikte zu lenken. Er hob damit hervor, dass Gleichberechtigung der Religionen nicht Trennung bedeuten muss, sondern vielmehr zu einer Ausgangssituation führen kann, die Austausch zwischen den Religionen fördern kann, die Gemeinsamkeiten erkennen lässt, statt über Symbole immer wieder abzugrenzen: »Ich denke, wir sollten über Symbole hinweg schauen, so dass die Gemeinschaft gemeinsamen Sinn in den Vordergrund stellen kann. Wenn man ständig über Symbole spricht, dann kann man nicht auf eine Gleichberechtigung der Religionen kommen. Das gilt vor allem dann, wenn in einer Gesellschaft eine bestimmte Religion gegenüber einer Minderheitenreligion überwiegt. Gerade dann muss man erstmal gleiches Recht für alle walten lassen, und dazu gehört auch die öffentlich‐rechtliche Anerkennung des Islam in Deutschland. Das muss einfach sein, denn Symbole werden heute politisch stark instrumentalisiert. Sei es gegen rechts, gegen Extremismus, oder gegen jegliche in diesem Falle sogenannte Überfremdung. Wir als Organisation sind säkular ausgerichtet, und wir bleiben auch dabei. Wir plädieren dafür, das Thema inhaltlich zu diskutieren – und nicht symbolträchtig. Nur so kann man die vielen Gemeinsamkeiten herausarbeiten, statt immer wieder zu trennen. Für mich stellt sich die Frage nach dem Kopftuch gar nicht. Wir nehmen das als normal hin, dass die Menschen so in die Schule reinkommen, wie sie sich woanders auch bewegen. Welche Kleidung sie dann tragen, und ob das aus gewissen weltanschaulichen Überzeugungen resultiert, das hinterfrage ich erstmal nicht. Solange die Kinder dadurch nicht vom Schulunterricht abgelenkt werden, ist das für uns nicht wichtig. Es darf natürlich nicht dazu kommen, dass mit dem Kopftuch beispielsweise das Gehör komplett ausgeschaltet wird, aber solche Fälle gibt es bei uns auch nicht.« (Int.4:12/27-13/1) Die Polarisierung der Positionen in der Kopftuchdebatte zeigt deutlich, dass auch unter den Migrantenorganisationen und religiösen Gemeinschaften viele unterschiedliche Meinungen zu diesem Thema vertreten sind. Dabei zeigt sich, dass in der Diskussion immer auf dieselben Topoi zurückgegriffen wird, dabei aber verschiedene Schlussfolgerungen gezogen werden. Der Topos der Gleichberechtigung, der Religionsfreiheit, des Rechts auf gesellschaftliche Partizipation, des Verbots der religiösen Indoktrination an öffentlichen Schulen, sind in allen Narrationen gleichermaßen vertreten. Die Reflexion darüber führt jedoch zu verschiedenen Konzepten der Gestaltung der Gesellschaft, die von religiöser Vielfalt geprägt ist. Dabei wird eine Gleichberechtigung der Religionen postuliert, die nicht zu einem isolierten Nebeneinander der Religionen führen soll, sondern als Grundlage
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für einen Austausch der Religionen auf Augenhöhe beitragen soll. Die Umsetzung der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung wird überdies im Bereich des Religionsunterrichts diskutiert.
4.2.3
Religionsunterricht
In Deutschland ist seit 1978 gesetzlich geregelt, dass jede religiöse Gruppe ein Anrecht darauf hat, Religionsunterricht an öffentlichen Schulen anzubieten. Die Umsetzung des Gesetzes spiegelt laut einigen Interviewpartnern jedoch eine gewisse Islamophobie in der Gesellschaft wider. Dies stelle die Repräsentation der Multikulturalität im Bildungswesen und in der breiten Öffentlichkeit in Frage. Frau Kaddor führte dazu aus: »Ich sehe nicht, dass das Recht auf Religionsunterricht an öffentlichen Schulen tatsächlich exekutiert wird. Im Falle des Islam besteht es bis heute nicht, obwohl man bereits 1978 dieses Recht eingeklagt und gesagt hat: Wir wollen diesen Religionsunterricht, und wir klagen ihn ein. Aber bis heute, also über dreißig Jahre später, hat man ihn immer noch nicht eingeführt. Also: Was im Grundgesetz steht, sind Forderungen oder Ziele. Das heißt noch lange nicht, dass das in der Realität umgesetzt wird.« (Int.5:4/38-46) Herr Mazyek vom Zentralrat der Muslime betonte die Unwilligkeit der Politik, das Recht auf Religionsunterricht für die Muslime geltend zu machen: »Seit über 20 Jahren wird darüber diskutiert, dass Artikel 7 des Grundgesetzes umgesetzt wird. Und der besteht übrigens nicht erst seit 1978, sondern ist schon etwas älter. Das heißt: Die Umsetzung des Grundgesetzes, das verbriefte Recht für die Muslime, Religionsunterricht, unter deutscher Schulaufsicht, aber mit dem Vocatio der Religionsgemeinschaften, die die Inhalte und auch Lehrstühle bestimmen, dieses Recht wird uns in Deutschland faktisch nicht gewährt. Es gibt Ansätze in einigen Bundesländern, es gibt einige vielversprechende Gespräche zwischen Politik und Religionsgemeinschaft, aber bisher scheitert es an dem good will der Politik. Das ist die Situation, die wir seit über 20 Jahren vorfinden, und ein bisschen Resignation ist mittlerweile schon da.« (Int.2:7/6-28) Herr Marincola vom CGIL-Bildungswerk betonte, dass die Gleichberechtigung der Religionen nicht zur Trennung der Menschen von Kindesbeinen an führen sollte – schon bei der Zuteilung zu unterschiedlichem Religionsunterricht – sondern vielmehr der Austausch schon an den Schulen durch gemeinsamen Ethikunterricht für Kinder aller Religionen gefördert werden sollte. Religionsfreiheit wird hier nicht als isoliertes Nebeneinander, sondern als gleichberechtigter Austausch zwischen den Religionen definiert.
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»Der getrennte Religionsunterricht führt natürlich dazu, dass die Kinder getrennte religiöse Ansichten vermittelt bekommen. Demgegenüber wäre meiner Meinung nach ein gemeinsamer Ethikunterricht wichtig, in dem wir uns gegenseitig kennenlernen. So können die Kinder zusammenbleiben, was für ein Zusammenleben der Kulturen und Religionen doch das Wichtigste ist. Heute werden die Kinder aber ständig getrennt, und es wird ihnen klar gemacht, dass sie anders sind. Aus meiner Sicht wäre es ein Schritt in die richtige Richtung, wenn unsere Kinder gemeinsam über ihre Religionen sprechen und sich gegenseitig respektieren und so lernen, eine freie Meinung und eine freie Religionsausübung zu haben.« (Int.8:9/15-28) Herr Özgün wies in diesem Zusammenhang auf die Vielfalt der Einstellungen zu Islam und religiösem Unterricht hin, die in Deutschland bei verschiedenen Organisationen, die Muslime vertreten, vorhanden sind: »Grundsätzlich finde ich es richtig, dass den religiösen Organisationen die Möglichkeit gegeben wird, Religionsunterricht zu erteilen. Es stellt sich aber die Frage, welchen Islam sie hier leben und unterrichten wollen, und auch wer eine religiöse Gruppe darstellt. Wie definiert man eine religiöse Gruppe? Das ist zumindest im Islam sehr schwierig, weil keine Institution da ist, so wie die Kirche bei den Christen, die sagt: Das ist die Meinung, die für alle gilt. Im Islam ist das nicht so, da kann jeder eine eigene Meinung haben, und so gibt es eine Vielfältigkeit der Auffassungen, die es schwer macht, eine Gruppe zu bilden, die alle repräsentiert. Wir sehen zum Beispiel einen deutlichen Unterschied zwischen unserer Auffassung des Islam und der Auffassung der anderen religiösen Organisationen, die jetzt so bekannt sind. Da besteht ein fundamentaler Unterschied, und auf diesen Unterschied machen wir immer wieder aufmerksam. Dennoch gibt es natürlich übergeordnete Auffassungen, auf deren Basis man zumindest eine grundlegende Lehre anbieten könnte. Aber auch diese Lehre muss hinterfragt werden können, denn wenn ich mir zum Beispiel die traditionelle islamische Lehre anschaue, die besagt, dass man den Koran und die Hadithe sehr ernst nehmen muss, und nicht nur sehr ernst, sondern auch wörtlich, dann ist das nicht meine Sicht der Dinge. Meiner Meinung nach darf man das nicht wörtlich nehmen, stattdessen muss man alles kontextbezogen interpretieren, wodurch man vielfach zu anderen Schlüssen kommt. Deswegen, grundsätzlich gesehen, bin ich für religiösen Unterricht, aber es ist darauf zu achten, was da gelehrt wird.« (Int.6:5/10-15; 21/14-30) In Bezug auf das Thema Religion besteht nicht nur unter den Migrantenorganisationen und religiösen Gemeinschaften eine große Diversität an Meinungen und Einstellungen, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung stehen das säkulare Selbstverständnis Europas und die
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verfassungsrechtlich angelegte Gleichberechtigung der Religionen. Die Argumentationslinien verlaufen dabei zwischen den folgenden Topoi: • •
• • • •
4.3
Leitkultur vs. Erziehung zum mündigen Umgang mit Vielfalt Moderne als Projekt der Aufklärung jenseits religiöser Weltbilder vs. Entstehung und Entwicklung der Moderne im Wechselspiel unterschiedlicher, auch religiöser, Weltanschauungen Säkularität als Neutralität vs. gleichberechtigte Repräsentation aller Religionen Christlich‐abendländisches Kulturmodell vs. Zugehörigkeit des Islam zum europäischen Kulturerbe Säkulares Selbstverständnis europäischer Gesellschaften vs. identitätsprägende Rolle der Religion Praxisprägendes Leitkulturverständnis vs. verfassungsrechtliche Gleichberechtigung der Religionen
Integration, Migration, Einbürgerung
Trotz der immensen Gastarbeitermigration nach Deutschland seit den 1950erJahren und den darauffolgenden großen Migrationswellen aus den ehemaligen GUS-Staaten, begann das »Integrationsprojekt« der Bundesregierung erst im Jahr 2000 mit dem Bekenntnis der Politik, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist – was zuvor lange bestritten wurde. Diese Entwicklung ging mit der Einführung des Begriffs der Integration einher, der den Prozess des Selbstbekenntnisses Deutschlands zu seinem Status als multikulturelle Gesellschaft charakterisiert. Das Projekt der Integration wird vor allem durch die Bildungsmaßnahmen begleitet, die innerhalb der Aufenthalts- und Einbürgerungspolitik seit 2000 eingeführt wurden. Darüber hinaus werden seit 2006– anlässlich der europaweiten PISA-Studie, in der die besonders schlechten Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern offensichtlich wurden – durch die Bundesregierung die sogenannten Deutschen Integrationsgipfel veranstaltet. Neben Vertretern von Bund, Ländern und Kommunen werden von der Regierung ausgewählte nicht‐staatliche gesellschaftliche Organisationen, Migrantenverbände und religiöse Gemeinschaften eingeladen. Auf dem Integrationsgipfel 2007 wurde das folgende Ziel für die Integrationspolitik formuliert: emotionale und faktische Zugehörigkeit der Migranten zu stiften. Der auf dem Integrationsgipfel verabschiedete Integrationsplan schreibt dabei die »vorbehaltlose Anpassung der Migranten an die deutsche Lebenswirklichkeit« als Voraussetzung für erfolgreiche Integration fest (NI 2007:1).
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Gleichzeitig hat die Kultusministerkonferenz im Bericht »Zuwanderung« aus dem Jahr 2002 formuliert, dass Integration nicht nur Anstrengungen von den Migranten einfordere, sondern auch von der aufnehmenden Gesellschaft (KMK 2002). Die Makrostrategie des Integrationsdiskurses ist insofern in der Dynamik der unterschiedlichen Aufgabenstellungen an die Migranten und an die Mehrheitsgesellschaft zu sehen. Die Migranten werden durch verschiedene Maßnahmen des »Förderns und Forderns« (s. Kapitel3) zum Nachweis über ihr Bekenntnis zur Demokratie und zur »vorbehaltlosen Anpassung an die deutsche Lebenswirklichkeit« verpflichtet. Dagegen werden die Aufgaben der Mehrheitsgesellschaft bei der Integration nur als vages Postulat formuliert: »Die Gesellschaft muss sich öffnen«. Herr Marincola wies in seinem Interview darauf hin, dass dieses Postulat während des Integrationsgipfels 2007 nur unter dem Druck der Migrantenorganisationen in den Plan aufgenommen wurde. In den Debatten um Integrationsprobleme werden, wie Frau Arkat herausstellte, die Ursachen dieser Probleme, die in den Versäumnissen der Politik zu Zeiten der großen Einwanderungswellen seit den 1950er-Jahren zu sehen sind, insgesamt verschleiert, aus ihrem historischen Kontext gerissen und stattdessen auf die Migranten projiziert: »Der Aufbau Ost war ein Fass ohne Boden, da sind so viele Gelder geflossen, und dann hatte man durch die Weltwirtschaftskrise von 2001 noch größere Arbeitslosigkeit. Zum Schluss mussten wieder die Fremden als Sündenbock herhalten. Als dann noch der 11. September 2001 kam, wurde die Stimmung insbesondere gegen Muslime nur noch schlimmer. Bis jetzt reden wir von Integration und Integrationsproblematik. Das ist aber an sich kein Problem, das wir erst seit fünf oder zehn Jahren haben, das Problem haben wir eigentlich seit 50 Jahren. Die Versäumnisse der Politik über Jahrzehnte hinweg werden jetzt auf dem Rücken der Ausländer ausgetragen.« (Int.3:7/5-14) Auch Herr Mazyek kritisierte die Verschleierung grundlegender gesellschaftlicher Probleme in der Integrationspolitik und bemerkte die Diskrepanz zwischen der groß aufgezogenen Integrationspolitik und der relativ schmalen Budgetierung dieses Bereichs. »Was da gerade betrieben wird ist eine Art Sündenbockpolitik, in der die Ausländer zum Ventil für andere Probleme gemacht werden. Aber die eigentlichen Probleme sind ja nicht die Migranten in diesem Land, sondern die latente, strukturelle Arbeitslosigkeit, die Schere zwischen Arm und Reich, die immer größer wird. Das sind die eigentlichen Herausforderungen. Die Frage ist, wie wir die bewältigen. Überhaupt wird immer gesagt, dass so viel gefördert würde. Wird denn viel gefördert? Das muss man erstmal verifizieren. Und da kann man es sich sicherlich nicht so leicht machen, einfach zu sagen, mit einem Bundesintegrationsministe-
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rium wird alles gut. Ich will damit nur sagen, dass das zwar Signale sind, aber was dann wirklich getan wird, ist nochmal eine andere Geschichte. Frau Böhmer hat einen ganz kleinen Stab im Bundeskanzleramt, das ist verglichen mit anderen Stellen wirklich nichts. Die Sprachkurse und andere Programme sind doch schon zurückgefahren worden. In den Jahren 2006 und 2007 wurden die Mittel für Sprachkurse zurückgenommen und nicht ausgeweitet. Also, nochmal die Frage: Was wird denn jetzt da getan? Manchmal hat das den Anschein von Flickschusterei, nur ein richtiges Konzept ist da nicht zu erkennen.« (Int.2:8/34-9/10) Auch Herr Saraç wünschte, dass die Debatte mit mehr Sachlichkeit geführt werden solle, »statt mit Pauschalisierungen zu argumentieren, insgesamt differenzierter zu werden, so dass man gezielte Förderangebote machen kann, wie wir seit dem Jahr 2006 ja auch schon einige haben, obwohl der Bedarf dafür schon vierzig Jahre vorher mit der Zuwanderung entstanden ist«. Er hob die Notwendigkeit der multikulturellen Denkweise auch in der Stadtplanung hervor, um so gegen die soziale und kulturelle Segregation zu wirken (vgl. Int.4:15/38-45). Die meisten der Gesprächspartner wiesen darauf hin, dass in der deutschen Gesellschaft immer noch viel Angst vor Überfremdung existiert und hielten einen Bewusstseinswandel für notwendig. So argumentierte etwa Herr Mazyek: »Ist das denn schlechter, wenn eine Straße, die vielleicht in den 1950er-Jahren rein deutsch war, jetzt relativ multikulturell aussieht, ist das denn etwas Schlechtes? Das fragt man sich bei vielen Bürgern, vor allen Dingen der älteren Generation, die Angst davor bekommen. Warum sollte man davor Angst haben? Veränderung gab es in allen Gesellschaften, auch in Deutschland. Auch in Zukunft wird es immer Veränderung geben, aber dieser Bewusstseinswandel hat aus meiner Sicht bei der hiesigen Bevölkerung noch nicht stattgefunden.« (Int.2:7/35-43) Frau Arkat sah die Angst vor den Fremden als Teil der deutschen Mentalität, die sie bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgte: »Die deutsche Mentalität ist nicht so flexibel, sie öffnet sich nicht für Neues, für Unbekanntes. Die deutsche Gesellschaft ist an und für sich eine konservative Gesellschaft. Ich habe ein Buch in die Hände bekommen, das im 18. Jahrhundert geschrieben wurde, und da finden sich genau diese Befürchtungen wieder, die heute gehegt werden: Unsere Gesellschaft wird verfremdet, unsere Sprache wird mit Fremdworten übersät, und die deutsche Kultur wird untergehen, so kann es nicht weiter gehen, und so weiter. Da musste ich wirklich lachen. Das ist fast vierhundert Jahre her, und da hat sich kaum etwas geändert. Jede Gesellschaft hat ihre Dynamik, die deutsche Gesellschaft hat sie auch, vielleicht ein bisschen langsamer, aber die ändert sich auch, und ich denke mit der demografischen Entwicklung wird diese Änderung auch beschleunigt. Die Migrantenanteile werden immer höher. Bald wird in einigen Bundesländern sogar die Hälfte der Gesamtbe-
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völkerung Migrationshintergrund haben. So ist es absehbar, dass irgendwann in vielen Gremien fast ausschließlich Menschen mit Migrationshintergrund sitzen. Insofern muss sich die Mentalität ändern, denn diese Angst vor Überfremdung ist mit ein Grund, weshalb sich die deutsche Gesellschaft so verschließt und die meisten nicht wollen, dass die Migranten überall dabei sind und mitmischen. Aber es ist unvermeidlich – so sehe ich das. Das darf ich vielleicht nicht so offen sagen, das macht bestimmt vielen Menschen in der hiesigen Gesellschaft Angst. Aber wenn man realistisch ist, ist es so.« (Int.3:12/1-21) Wie bereits in Kapitel 3 diskutiert, fokussiert man sich innerhalb der dominanten Semantik auf die Probleme, die Migranten verursachen, statt auf Probleme hinzuweisen, die die Mehrheitsgesellschaft mit der sich verändernden kulturellen Lebenswirklichkeit in Deutschland hat. So ist in politischen Beschlüssen lediglich die Rede von vermeintlichen Intergrationsverweigerern und sonstigen Integrationshemmnissen, die die Migranten selbst verursacht haben. Auf Basis dieses Topos wurde das Zuwanderungsgesetz in den Jahren 2000 – 2011 durch bildungspolitische Elemente ergänzt, die als integrationsfördernd ausgegeben werden (sogenannte Integrationskurse). Diese beinhalten vor allem die Sprachförderung, zudem sollen sie aber auch Grundlagen der Demokratie, Rechtstaatlichkeit und der Geschichte Deutschlands vermitteln. Die Interviewpartner fanden die Maßnahmen grundsätzlich begrüßenswert, obwohl sie durch die Topoi der dominanten Semantik irritiert waren. Keiner der Interviewten bestritt, dass die deutsche Sprache notwendig ist, um in Deutschland leben zu können. Herr Saraç setzte jedoch hier das Motto »Mehrsprachigkeit ist ein Schlüssel zum Erfolg«, welches als Gegenmodell zu dem Motto der Bundesregierung, »Deutsche Sprache ist ein Schlüssel zur erfolgreichen Integration«, interpretiert werden könnte. »Das muss man sich mal vorstellen: In Nordrhein-Westfalen, wo es mehr als fünfhunderttausend türkischsprachige Kinder gibt, sind nur drei Gymnasien vorhanden, die diese Sprache bis zum Abitur durchgehend anbieten. Und mit durchgehend meine ich: als fester Bestandteil des Curriculums, wie auch bei uns an der Schule, und nicht als Arbeitsgemeinschaft, die mal zustande kommt, und mal nicht. Deshalb ist meine Empfehlung dahingehend, dass man vor allem in der Grundschule nicht nur Englisch als eine zweite Sprache unterrichten sollte, sondern – je nach Zusammensetzung der Bevölkerung oder des Einzugsgebiets – auch türkisch, italienisch, polnisch, russisch, arabisch anbieten sollte, damit die Kultur der Mehrsprachigkeit eine Selbstverständlichkeit wird. In einer Studie hat man sogar festgestellt, dass Kinder des ersten Schuljahres ganz einfach und ganz natürlich eine andere kulturelle Prägung bei Mitschülern akzeptieren, annehmen und damit umgehen können. Das heißt, was das anbetrifft, können wir von den Kindern dazulernen. Aus meiner Sicht ist Mehrsprachigkeit der Schlüssel
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zum Erfolg, gerade zu Zeiten der Globalisierung. Nicht nur aus wirtschaftlicher Perspektive, aber auch, weil ein Mensch, der mehrere Sprachen beherrscht, sich überall auf der Welt zurechtfinden und wohlfühlen kann.« (Int.4:9/19-34) Zentraler Bestandteil der Integrationspolitik – wie im Kapitel 3 rekonstruiert wurde – sind die im Jahr 2004 eingeführten Integrationskurse, die von der Regierung als Fördermaßnahme dargestellt werden und damit den Charakter eines freiwillig wahrnehmbaren Angebots an die Migranten haben sollen. Tatsächlich kann aber die Nichtteilnahme an dem Kurs oder etwa das Nichtbestehen des anschließenden Tests sanktioniert werden (NI 2007:1). Von den Sanktionen können auch etwa Altzuwanderer oder Sozialhilfeempfänger mit Migrationshintergrund betroffen. Die Idee der Integrationskurse fanden alle Befragten, vor allem aufgrund des jahrzehntelangen Mangels an Angeboten, die den Migranten das Ankommen in der Aufnahmegesellschaft erleichtern könnten, sehr begrüßenswert. Einige Interviewpartner kritisierten jedoch die Rahmung sowie die Umsetzung des Angebots. So gab Herr Marincola zu bedenken, dass mit den Integrationskursen auch diejenigen, die im Zuge der ersten Gastarbeiteranwerbung keine Sprachkurse angeboten bekommen haben, nun in hohem Alter dazu verpflichtet werden könnten, vor allem wenn sie sich einbürgern lassen wollen: »Mir sind viele Beispiele von älteren Personen bekannt, die die Umstände der damaligen Anwerbung von Gastarbeitern kritisch sehen, weil sie nicht mit Unterstützungsangeboten des Aufnahmelandes untermauert war. Dass man jetzt Integrationskurse anbietet, ist erstmal nichts Falsches. Nur wenn man dadurch Leute wieder in Schwierigkeiten bringen will, die schon lange in Deutschland leben, sehe ich das natürlich als problematisch an. Also, es gibt da zwei Seiten der Medaille. Grundsätzlich aber würde ich einen Integrationskurs oder einen Kurs zur gesellschaftlichen Einführung in Deutschland als absolut wichtig ansehen.« (Int.8:14/36-43) Auch Frau Dassen sensibilisierte für die Rahmung und Umsetzung der Integrationskurse bei älteren Frauen mit Migrationshintergrund: »Das kann unter Umständen sehr schwierig sein, wenn es um die Menschen geht, die hier in Deutschland bereits alt geworden sind. Sie sind 30 Jahre in Deutschland, und sie sollen plötzlich einen Integrationskurs machen? Das geht einfach nicht. Das sind unter anderen die Frauen, die drei, vier Kinder bekommen haben und die nur im Haushalt gearbeitet haben, und die sollen plötzlich wissen, wer Goethe ist? Was soll das bringen?« (Int.8:10/42-47) Frau Arkat kritisierte, dass die Integrationskurse mit Sanktionen, statt mit positiven Anreizen versehen sind. Dies verstärke das Gefühl des Nicht-WillkommenSeins bei Migranten noch zusätzlich:
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»Generell können Menschen, wenn sie die Landessprache beherrschen, sich natürlich besser behaupten, besser entwickeln und hier ihre Rechte besser wahrnehmen. Aber dann muss man dafür sorgen, dass die Menschen, wenn sie hier sind, sofort die Möglichkeit bekommen, Deutsch zu lernen. Und das sollte nicht mit Sanktionen belegt werden, nach dem Motto: »Wenn ihr das nicht schafft, dann werdet ihr weggeschickt«. Nein, ganz im Gegenteil, mit Preisen und Belohnungen sollte das ausgezeichnet werden. Zum Beispiel: »Wenn Sie so und so schnell B2 schaffen, dann bekommen Sie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.« Das ist eine Motivation, das gibt einen Schub, das gibt einem auch das Gefühl: »Die Gesellschaft hier will, dass ich ihre Sprache lerne, und sie wollen mit mir kommunizieren.« Aber wenn sie sagen: »Wenn du das nicht lernen kannst, dann musst du hier raus!«, dann habe ich das Gefühl: »Sie wollen nicht, dass ich hierbleibe.« Die Willkommenskultur ist gleich am Anfang gefragt.« (Int.3:9/31-42) Herr Mazyek präsentierte auch eine progressive Herangehensweise an die Umsetzung des Angebots: »Als würde ein Integrationskurs irgendetwas bei irgendjemandem bewirken können, den man dazu gezwungen hat… da wird man höchstens eine Abwehrhaltung provozieren. Ich finde, man sollte das Einbürgerungsverfahren mit Anreizen verbinden, und nicht mit Sanktionen. So könnte es etwa in den Lebenslauf aufgenommen werden, wenn man einen Integrationskurs macht – das könnte für Bewerbungen interessant sein. So sollte man das über Anreize und nicht über Sanktionen gestalten, aber ich habe diese Politik nicht zu verantworten.« (Int.2:13/25-31) Herr Saraç bezog sich in seinem Interview auf die pauschale Darstellung der Migranten als unwillig und unmotiviert – eine Darstellung, die die Sanktionsmaßnahmen in erster Linie legitimiert und das negative Bild der Migranten in der Öffentlichkeit, die sie als Belastung der Gesellschaft darstellt, verschärft. Dem stellte er gegenüber, dass diejenigen, die sich für die Migration entschieden haben, in der Regel stark motiviert sind und das Ziel verfolgen, sich zu verwirklichen und unter Umständen einen neuen Lebensmittelpunkt aufzubauen. Insofern sei die Mehrheit der Migranten stark daran interessiert, schnellstmöglich die deutsche Sprache zu erlernen, um einer Profession nachzugehen (s. Int.4:15/12-17). Darüber hinaus werden die Inhalte kritisiert, die in den Integrationskursen weitergegeben werden sollen, und die mit der Vermittlung der »deutschen Lebenswirklichkeit« eine Leitkultur stilisieren. Frau Arkat ging darauf folgendermaßen ein: »Integrationskurse finde ich im Prinzip nicht ganz falsch, aber wie sie durchgeführt werden, macht keinen Sinn. Die Förderung und die Unterstützung, ja, da bin ich dafür, wo ich skeptisch bin, ist aber diese Idee: »Migranten müssen die deutsche Leitkultur lernen.« Was ist denn deutsche Leitkultur? Was ist deutsche Le-
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bensweise? Gibt es eine einheitliche, homogene, deutsche Lebensweise? Gibt es den Deutschen? Gibt es die deutsche Kultur? Nein, sicherlich nicht. Da frage ich mich, was bekommen die Menschen dann beigebracht? Man sollte natürlich Unterstützung anbieten, damit sich Menschen in der neuen Umgebung zurechtfinden. Dabei ist die Art der Ansprache sehr wichtig. In welcher Art und Weise und mit welchen Absichten Menschen angesprochen werden, das ist sehr wichtig. Wenn das mit so einer Haltung geschieht: »Ihr seid sowieso alle dumm, ihr seid alle Barbaren, ihr seid alle zurückgeblieben, und wir haben euch sehr viel beizubringen.« Das ist keine gute Ausgangssituation, um mit Menschen zu kommunizieren. Es ist einfach die Herangehensweise, die nicht stimmt. Hier wäre eine Willkommenskultur angemessen, aber diese Kultur ist in der deutschen Gesellschaft leider nicht verwurzelt.« (Int.3:10/9-26) Zusätzlich zu den bis dato notwendigen Nachweisen über Deutschkenntnisse und ausreichendes Einkommen sowie eine seit acht Jahren bestehende Aufenthaltsund Arbeitsgenehmigung, ist seit 2008 ein sogenannter Einbürgerungstest zu bestehen. Der Test beinhaltet 33 Fragen aus einem 310 Fragen umfassenden Fragenkatalog, die sich ähnlich wie beim sogenannten Orientierungskurs (ein Teil des Integrationskurses) auf die folgenden Themenfelder beziehen: • • •
Leben in der Demokratie Geschichte und Verantwortung Mensch und Gesellschaft
Mit dem Test sollen »Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland« nachgewiesen werden, die nun als weitere Einbürgerungsvoraussetzung verlangt werden (www.bmi.bund.de). Herr Mazyek, der sich insgesamt nicht gegen den Einbürgerungstest aussprach, monierte jedoch vor allem die auch in der Öffentlichkeit bereits stark in die Kritik geratenen Inhalte des Einbürgerungstests. »Manche Fragen sind signifikant falsch formuliert. Nehmen wir ein Beispiel, eines der krassesten Beispiele, auf das wir als muslimischer Verband gemeinsam mit den jüdischen Verbänden hingewiesen haben. Das ist nämlich die Frage – ich weiß nicht ob sie mittlerweile rausgenommen ist – aus welchem Erbe speist sich Europa?2 Das ist eine Multiple-Choice-Frage, und da haben wir einmal Buddhis2 Es handelt sich hier um die Frage Nr. 295 im Einbürgerungstest: »Welche Religion hat die europäische und deutsche Kultur geprägt?« Die Antwortmöglichkeiten im Multiple-Choice-Verfahren sind: »der Hinduismus, das Christentum, der Buddhismus, der Islam«. Die Frage ist bis jetzt nicht verändert worden (siehe Bundesinnenministerium, Gesamtfragenkatalog zum Einbürgerungstest).
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mus als Antwort, einmal Christentum, und dann auch Islam. Ich finde, diese Frage ist nicht ernst zu nehmen. Schließlich wissen wir alle, dass Europa sich aus verschiedenen Kulturen speist. Sicherlich hat das Christentum Europa maßgeblich geprägt, das stellt hier keiner in Frage, aber die jüdische, die muslimische, und übrigens die immer vergessene hellenistische, die griechische Kultur, haben Europa auch maßgeblich geprägt. Wenn man diese Frage so stellt, suggeriert man den Befragten, es ist nur eine christliche Prägung da, aber die ist historisch nicht erwiesen, das kann man historisch einfach nur verneinen. Bei solchen Fragen muss man wirklich überlegen, wer der Autor von dem Einbürgerungstest war, und dann fällt auf, dass das sehr egozentrisch ist und meines Erachtens stark überarbeitet werden muss.« (Int.2:14/18-37) Somit wurde die von einigen Wissenschaftlern bereits kritisierte Ausrichtung des Einbürgerungsverfahrens zugunsten einer deutschen Leitkultur und zu Ungunsten der Herkunftskulturen der Migranten (vgl. Kapitel3) auch von den Gesprächspartner aufgegriffen. Herr Mazyek betonte die Janusköpfigkeit der Integrationskurse, mit denen einerseits dem Eigeninteresse der Einwanderer an der Aufnahmegesellschaft Rechnung getragen wird, andererseits aber auch die Herkunftskulturen der Migranten implizit degradiert werden, und der Einbürgerungstest so auch als Inszenierung des Eintritts in eine Hochkultur gesehen werden könnte: »Generell sind wir nicht grundsätzlich gegen einen Einbürgerungstest, ich denke vielmehr, dass es auch etwas Gutes hat. Ein Einbürgerungswilliger oder auch ein Einwanderer hat ja ein eigenes Interesse, zu wissen, wie die Gesellschaft funktioniert, in der er leben will, und wie dieses Volk tickt. Viele Fragen in dem Einbürgerungstest, die gehen in diese Richtung, die finden wir in Ordnung. Aber viele andere Fragen haben eine Suggestivkraft, indem zum Beispiel unterstellt wird, dass der Eingewanderte aus einer minderwertigen Kultur kommt und nun in eine Hochkultur eingeführt wird. Dieses Gefühl gibt es bei einigen Fragen.« (Int.2:14/2-14/18) Herr Kizilkaya betonte die Rückständigkeit der Diskussion um Leitkultur, die dem pluralistischen, demokratischen und freiheitlichen Selbstverständnis der deutschen und europäischen Gesellschaft entgegenstünde und zu einer Diskriminierung der Minderheitenkulturen führe: »Respekt darf nicht von Herkunft abhängig gemacht werden. Ob eine Kultur hier im Land entsteht oder ob sie von außen kommt, darf keine Rolle spielen, gerade in einer globalisierten Welt sind wir – auch ohne dass Menschen anderer Kulturen hier sind – über Kommunikationsmedien in Berührung mit allen anderen Kulturen, die sich bestenfalls gegenseitig bereichern könnten. Insofern muss Kultur vor dem Gesetz gleichberechtigt werden, genau wie es eine Gleichbehandlung der Bürger vor dem Gesetz gibt. Dass dabei eine Kultur etwas dominanter ist, hängt natürlich mit der Zusammensetzung der Gesellschaft zusammen und ist dem We-
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sen der Demokratie geschuldet. Es ist aber wichtig, dass keine Kultur aufgrund ihrer Herkunft benachteiligt wird. Wir hatten in Deutschland und sogar auch in Europa diese unselige Diskussion über die Leitkultur gehabt. Das ist meiner Ansicht nach sehr bedauerlich und hat gerade Europa mit seinem Freiheitsgedanken gar nicht gut zu Gesicht zugestanden. Es gibt keine Kultur, die mehr wert ist und keine Kultur die weniger wert ist. Es kann keine Institution geben, die das beurteilen darf, und die Deutungshoheit darüber hat, welche Kultur mehr und welche Kultur weniger wert ist. Das widerspricht dem Selbstverständnis einer Gesellschaft, die auf Demokratie und Gleichheit beruht, und darüber hinaus auf den Menschenrechten. Dass diese Diskussion immer wieder geführt wird, das sorgt natürlich für Spannungen zwischen Mehrheit und Minderheit, weil die Gesellschaft dann in eine Schiene gerät, wo eine Kultur oder eine Minderheit diskriminiert wird. Diese Ungleichheit zwischen den Kulturen, die da hergestellt wird, ist eine Art der Diskriminierung, bei der die minderwertige, in Anführungsstrichen, Kultur, sich zurückhalten, sich zurücknehmen muss. Das läuft doch dem modernen Verständnis von Kultur und Freiheit zuwider, das ist einer modernen Gesellschaft doch nicht würdig. Also, diese Diskussionen schaden und sind ein Rückschritt, das sind immer rückständige Kräfte, die auch die Verfassung untergraben.« (Int.1:3/33-4/9) Auch im Bereich der Zuwanderungspolitik kritisierten viele der Interviewpartner die Diskriminierung von Menschen bestimmter Herkunft, die auf einer Hierarchisierung der Kulturen (ausgehend von einer Leitkultur) beruhe. So sagte Frau Kaddor: »Die amerikanischen Einwanderer haben sehr viel leichtere Anforderungen als zum Beispiel Einwanderer aus der Türkei oder Einwanderer aus den arabischen Ländern generell. Deshalb ist das in der Zuwanderungspolitik, denke ich, schon ein Messen mit zweierlei Maß. Und da vermutet man natürlich finanzielle, aber auch kulturelle Gründe dahinter.« (Int.5:7/21-25) Herr Mazyek sprach folgendermaßen über die Ambivalenzen, zu denen das Gemenge aus leitkulturellen und wirtschaftspolitischen Motiven in der Zuwanderungspolitik führt: »Es lässt sich feststellen, dass sich im Zuge der Integrationsdebatte die Schwelle zur Einbürgerung erhöht und nicht verringert hat. Damit ist das Gegenteil von dem passiert, was man propagiert. Man propagiert: Integriert Euch und bürgert Euch hier ein. Das war die Losung in den 1990er-Jahren, und auch später noch. Aber was faktisch passiert ist, ist, dass die Hürden mit dem Zuwanderungsgesetz höher gesetzt worden sind. Natürlich kann Deutschland auch entscheiden, vor allem qualifizierte Fachkräfte zu holen, jetzt mal fernab von humanitären Verpflichtungen und der globalen Problematik, dass wir immer mehr Wirtschaftsflüchtlinge aufgrund unserer Welthandelspolitik haben. Wir müssen einfach gucken, dass diese
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Hürden oder die Signale, die an die Migranten oder an die Einbürgerungswilligen gehen, nicht mit der Message gesetzt werden: Wir wollen Euch hier nicht. Statt das Einbürgerungsverfahren mit Sanktionen zu versehen, sollte man besser Anreize schaffen. Aber die Hürden wurden eher höher gesetzt, anstatt sie runterzufahren, was eigentlich der Weg zu mehr Einbürgerungen wäre, und das sieht man übrigens auch signifikant an den Zahlen. Da ist eine Divergenz zwischen dem, was man sagt, und was man politisch tut.« (Int.2:13/44-14/1) Nicht nur Herr Mazyek, sondern auch Herr Saraç bewerteten die Migrationspolitik Deutschlands vor dem Hintergrund seiner national‐wirtschaftlichen Interessen, die als legitim angesehen werden. So wies Herr Saraç auf die Notwendigkeit hin, Deutschland aus wirtschaftlichen Motiven als Einwanderungsland attraktiver zu machen und die Potenziale der bereits Eingewanderten und ihrer Kinder nicht verkümmern zu lassen: »Wenn man sich anschaut, wo Menschen heute gerne leben, dann doch eher in Australien als in Deutschland, lieber in der Schweiz als in Deutschland, lieber in den USA oder Luxemburg als in Deutschland. Das bedeutet für uns, wir sind nicht mehr ganz an der Spitze und müssen für die Attraktivität Deutschlands als Einwanderungsland etwas tun. Da sind die Migrantenkinder, geradezu aus der Not geboren, die Tore, die wir nutzen könnten, wenn wir sie denn richtig mit ihren Potenzialen als Menschen auf Augenhöhe wahrnehmen. Das fängt bei der Bildung an, geht über zum Arbeits- und Sozialleben und endet schließlich überall in der Gesellschaft.« (Int.4:7/49-8/5) Frau Arkat wies, als Gegenentwurf zur Modellierung der Einwanderung nach wirtschaftspolitischen Motiven, auf die Eigendynamik der Migration, vor allem im Hinblick auf Kettenmigration, hin: »Endlich hat Deutschland zugegeben, dass es ein Einwanderungsland ist. Da haben wir uns gefreut, endlich wurde die Realität verstanden. Aber der Name des Gesetzes, Zuwanderung, trifft nicht so ganz den Kern dessen, was mit diesem Gesetz bewirkt werden soll. Tatsächlich haben wir hier den Versuch, Einwanderung zu stoppen, mehr noch, rückgängig zu machen. Wenn Zuwanderung gewünscht wird, heißt es: nur dann, wenn nach wirtschaftlichen Kriterien, wie in Kanada oder Australien oder in den USA ausgesucht werden kann, wer hier leben darf, wer nützlich ist, und wer nicht. Aber diesen Zug haben sie verpasst. In diesem Land leben über drei Millionen Menschen türkischer Abstammung. Es gibt Familienzuzug, es gibt andere Gründe, um hin und her zu pendeln. Neulich hat sich auch herausgestellt, dass jedes Jahr viel mehr Türken zurückkehren, als in das Land kommen, und merkwürdigerweise sind die Rückkehrer qualifizierte Personen. Also, die Politik bewirkt genau das Gegenteil von dem, was wir eigentlich beabsichtigt haben und sollte sich wirklich Gedanken darüber machen, was es bewirkt, diesen Men-
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schen immer das Gefühl zu geben: Ihr seid unerwünscht, bleibt da, wo ihr seid.« (Int.3:8/49-9/11) Zur Gestaltung des multikulturellen Zusammenlebens sind innerhalb des Integrationsdiskurses die Aufgaben zwischen der Minderheiten- und Mehrheitsgesellschaft unterschiedlich verteilt. Während im dominanten Diskurs die Integration der Minderheiten durch den Topos des »Förderns und Forderns« (s. Kapitel3; AufenthG 2008 § 43 Abs. 1) postuliert wird, wird von einigen Migrantenorganisationen und religiösen Gemeinschaften vielmehr die Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft betont, eine Willkommenskultur zu entwickeln. Dabei werden die Integrationsaufgaben der Migranten keineswegs bestritten und die eingerichteten Fördermaßnahmen begrüßt. Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass, während im dominanten Integrationsdiskurs überwiegend über die Migranten als Belastung der Gesellschaft geredet wurde, viele der Interviewpartner die Nützlichkeit von migrantischen Potenzialen hervorgehoben haben. Dem in der Diskussion um die Integrationsprobleme entwickelten Topos der Integrationsverweigerer wurde die Willigkeit der Migranten, sich in der deutschen Gesellschaft einzufinden und einzubringen, entgegengestellt. So forderten die meisten der Gesprächspartner eine Umsetzung der Förderprogramme durch positive Anreize für die TeilnehmerInnen, statt pauschal, wie es im dominanten Diskurs unterstellt wurde, von der Unwilligkeit der Migranten auszugehen und die Förderprogramme mit Sanktionen zu versehen. Dem Leitkulturmodell wurde häufig die Bereicherung der europäischen Gesellschaften durch die Vielfalt entgegengesetzt und betont, dass dies in der Verfassung der EU angelegt ist. In der Leitkulturdebatte wurde von einigen der Interviewpartnern die Angst vor Überfremdung der deutschen Gesellschaft gesehen. So kritisierten auch viele die Integrationskurse, da sie eher eine deutsche Leitkultur stilisierten, als die deutsche Lebenswirklichkeit in ihrer multikulturellen Realität zu vermitteln.
4.4
Machtverhältnisse
Der Multikulturalitätsdiskurs entfaltet sich, wie bereits im Kapitel 3 herausgearbeitet wurde, in einer bestimmten Machtkonstellation zwischen Repräsentanten von Mehrheits- und Minderheitengesellschaft. So wurden sowohl die Änderungen im Zuwanderungsgesetz als auch die Curricula der Integrationskurse und die Inhalte des Einbürgerungstests vom Bund ohne die Beteiligung der Migrantenorganisationen verabschiedet. Zwar werden seit 2006 auch Migrantenorganisationen und Repräsentanten von religiösen Gemeinschaften, vor allem den muslimischen, zu den Integrationsgipfeln und öffentlichen Diskussionen um die Integration dazu geladen, ihre Partizipation an der Gestaltung von konkreten Maßnahmen wird
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jedoch begrenzt. Das Interviewmaterial ermöglicht einen Einblick in die Erfahrungen, die die Minderheitenorganisationen mit den Machtverhältnissen gemacht haben, in denen Integrations-, Migrations- und Bildungspolitik in Deutschland in den Jahren 2000-2011 ausgehandelt worden ist. Darüber hinaus gibt es Antworten auf die Fragen, welche Rolle die Migrantenorganisationen in der Gestaltung des multikulturellen Zusammenlebens in Deutschland einnehmen möchten sowie in welcher Art und Weise sie in diejenigen politischen Entscheidungsprozesse einbezogen werden möchten, welche die durch sie repräsentierten Gruppen betreffen. Herr Özgün vom Verband Demokratisch-Europäischer Muslime sah in der breiten Debatte um Migration und Integration, die in Deutschland in den Jahren 2000-2011 stattfand sowie in den offiziellen Einladungen, mit denen Migrantenorganisationen zu dieser Debatten eingeladen wurden, einen Schritt in Richtung der Anerkennung der multikulturellen Lebenswirklichkeit in Deutschland: »Grundsätzlich gesehen ist das schon mal gut, das akzeptiert worden ist, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass man anerkannt hat, dass Handlungsbedarf besteht. Lange Zeit hat man dies nicht einmal wahrgenommen. Auf der einen Seite hat man gesagt: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Auf der anderen Seite wurde die Multikulturalität lange Zeit durch eine rosarote Brille betrachtet, nach dem Motto: Wir müssen nichts tun, lass jeden so, wie er ist. Beides sind extreme Haltungen. Sowohl die Ausblendung als auch die Romantisierung der Multikulturalität sind falsch. Die Tatsache, dass die Notwendigkeit der Gestaltung des multikulturellen Zusammenlebens nun auf höchster staatlicher Ebene thematisiert wird, ist eine Anerkennung der Tatsachen. Das ist schon der erste Schritt in die richtige Richtung. Das muss nun weitergehen, das halte ich für absolut notwendig. Die Konferenzen sind unter Beteiligung von Migrantenorganisationen zustande gekommen, aber man muss den Migrantenorganisationen mehr Handhabe geben, etwas zu tun, und ihnen mehr Gehör schenken, und vor allen Dingen auch Mittel zur Verfügung stellen.« (Int.6:22/26-36) Auch Frau Dassen von Eurotürk betonte die entscheidende Rolle der Migrantenorganisationen bei der Gestaltung der Integration und weist auf den Mangel an finanziellen Mitteln hin, die diese Organisationen benötigen, um ihre Aufgabe wahrzunehmen: »Im Moment wird vonseiten der Regierung sehr viel dafür getan. Ob das der richtige Ansatz ist, ist fraglich. Da muss man zur Diakonie, zu Caritas, zum Roten Kreuz und so weiter, und Migranten wollen das häufig gar nicht. Sie sagen: Was habe ich mit dem Roten Kreuz oder mit Caritas zu tun? Ich möchte in meinem Verein lernen, und ich möchte mit den Leuten lernen, mit denen ich auch viel in Kontakt bin. Aber gerade da wird gespart, und bei uns scheitert es dann absolut am Geld. Wir
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machen zwar alles ehrenamtlich, aber ganz ohne Geld geht das nicht, das funktioniert einfach nicht.« (Int.8:11/9-15) Herr Mazyek wies darauf hin, dass er die Integrationsdebatte mehr als Debatte von und für die Mehrheitsgesellschaft versteht, bei der diese ihr eigenes Selbstverständnis diskutiert, anstatt sich der multikulturellen Lebenswirklichkeit zuzuwenden und mit den Muslimen und den Migranten zu sprechen, die Teil dieser neuen Lebenswirklichkeit sind: »Die Zusammensetzung des Integrationsgipfels ist vom Staat selbst festgelegt worden. Die Migranten oder die Migrantenverbände sind nicht gefragt worden. So ein Gipfel ist sicherlich ein wichtiges und gutes Signal in beide Richtungen: in Richtung der Migranten und in Richtung der einheimischen Bürger. Aber dieser ganze Gipfeltourismus, der da immer wieder stattfindet, ist mehr an die Deutschen adressiert – es kommt uns zumindest so vor – als an die Migranten. Und das sehen Sie bei der Islamkonferenz in ähnlicher Weise. Was die Adressierung angeht – auch in der Sarrazin-Debatte – so sind es die Deutschen selbst, die fragen, was wir sind, wohin wir gehen, was unser Land ausmacht und wo wir in zwanzig Jahren sind. Das sind Fragen, die natürlich alle interessieren, aber der Deutsche arbeitet sie ab und merkt nicht, dass er eigentlich auf der Couch liegt und gerade über sich selbst sinniert. Er bildet sich ein, dass er über die Migranten und über die Muslime spricht, aber er arbeitet sich nur an ihnen ab. Wir diskutieren seit fast drei Wochen in der Sarrazin-Debatte nur über Problemfälle. Haben Sie irgendwo mal eine Sendung gesehen, in der man sagt, heute reden wir über Lösungen? So was finden Sie nicht. Und wenn man das dann sagt, dann sind die Leute peinlich überrascht oder sagen: Ja stimmt, also lassen Sie uns jetzt heute mal über Lösungen reden.« (Int.2:9/14-35) Herr Kizilkaya äußerte sich ähnlich über die Zusammensetzung der Islamkonferenz, die sich mehr aus den Interessen der Mehrheitsgesellschaft speise, als den Anspruch zu verfolgen, die in Deutschland lebenden Muslime adäquat zu repräsentieren und so mit ihnen auf politischer Ebene in einen Dialog zu treten: »Die Islamkonferenz verdient den Namen nicht. Die deutsche Islamkonferenz ist keine Islamkonferenz mehr, sondern ein Freundeskreistreffen des Innenministers, zu dem vor allem Islamkritiker eingeladen werden, die teilweise sogar islamfeindliche Einstellungen haben. Es ist ein Treffen von einigen muslimischen Vertretern, die der Minister eingeladen hat und mit denen er dann diskutiert, was er sich wünscht, und dann abschließend auch zu dem Ergebnis kommt, das von ihm gewünscht ist. Insofern ist die Islamkonferenz keine Konferenz, mit der sich die Muslime in Deutschland identifizieren. Das gilt für die zweite Islamkonferenz noch mehr als für die erste. Bei der ersten wusste man gar nicht, wohin sie geht, deswegen hat man schon Hoffnungen gehabt, dass was daraus werden könnte. Ich
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glaube, es hängt von der Legitimation der Vertreter ab. So wählt der Minister Vertreter für die so genannten nicht‐organisierten Muslime, die dann für die NichtOrganisierten sprechen sollen, obwohl sie von der nicht‐organisierten Mehrheit, in Anführungsstrichen, nicht legitimiert sind. Das führt dazu, dass jemand, der ein islamkritisches Buch geschrieben hat oder die Muslime gedemütigt hat, automatisch Mitglied der Islamkonferenz wird und in dieser auch über den Islam schimpfen darf. Es ist wichtig, hier zu erwähnen, dass ich kein Problem damit habe, wenn jemand den Islam kritisiert. Aber in der deutschen Islamkonferenz hat jemand, der mit dem Islam abrechnet, überhaupt nichts zu suchen. Wenn jemand, der den Muslimen vorschreiben möchte, wie sie ihre Moscheen und Predigten zu gestalten haben, zu so einer Konferenz eingeladen wird, ist das natürlich etwas, wo die Politik keinen guten Willen zeigt, den Islam wirklich zu integrieren. Vielmehr scheint mir das ein Ansatz zur Assimilation zu sein, wo man den Islam fast schon beleidigt und die Muslime beleidigt. Insofern sehe ich die Islamkonferenz sehr kritisch.« (Int.1:10/37-11/12) Auch Herr Saraç betonte, dass in der gesamten Integrationsdebatte, welche bislang stattgefunden hat (trotz der Integrationsgipfel) die Stimmen der betroffenen Migranten und Muslime nicht wirklich miteinbezogen wurden. Somit wurde kaum Sensibilität für die spezifischen Problemlagen von Migranten in der deutschen Gesellschaft entwickelt – weder bei der Verabschiedung von Maßnahmen, noch in der öffentlichen Semantik, mit der die Debatte geführt wurde: »Mir fällt bei der ganzen Integrationsdebatte immer wieder auf, dass die Menschen, um die es da geht, keine Lobby haben. Insofern stellt sich dann für mich die Frage nach der Wahrnehmung. Ist die Wahrnehmung soweit in Ordnung? Sie ist natürlich nicht in Ordnung, weil nämlich die öffentlichen Vertreter des Volkes, der Politik, der Institutionen und der Medien permanent und tagtäglich nur Pauschalurteile propagieren, so dass man darüber die Sensibilität gegenüber Migrantenkindern verliert. Die sind ja alle pauschal verurteilt. Darauf achtet ja schon gar keiner mehr, das sieht man als Normalität an, und das ist höchst gefährlich. Wir müssen versuchen, das so schnell wie möglich zu verändern. Außerdem, der Integrationsgipfel, der ist nicht für die Migranten da, der ist für die deutsche Mehrheitsgesellschaft da. Was wurde denn da nach vier oder fünf Gipfeln bisher nachhaltig für die betroffenen Menschen geschaffen, außer ein paar pauschalen Gesetzen, die dann wiederum Schönfärberei waren, weil man am Kern der Sache vorbeiregiert hat? Wir haben momentan leider Gottes in Deutschland nicht mehr die Kräfte, die eine wirkliche gesellschaftliche Reform vorantreiben können, weil auch die Gesellschaft insgesamt immunisiert ist.« (Int.5:7/19-44) Herr Kizilkaya bezweifelte den Willen der Politik, ein multikulturelles Zusammenleben zu gestalten und sah den Ursprung der Integrationsdebatte eher als poli-
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tischen Reflex auf die terroristischen Anschläge vom 11. September und die Ausschreitungen in europäischen Ländern, die als Scheitern des Zusammenlebens unterschiedlicher Religionen gesehen wurden: »Nach meiner Beobachtung sind weder die Islamkonferenz noch der Integrationsgipfel aus Überzeugung initiiert worden, sondern aus dem Zwang, auf die Ereignisse vom 11. September oder den van Gogh-Mord in Holland3 politisch zu reagieren. Da ist man in Hysterie geraten und hat erstmal die Multikultur für gescheitert erklärt. Erst aufgrund dieser beiden Ereignisse, mit denen ja die Muslime und die Migranten in Deutschland überhaupt nichts zu tun hatten, hat man das, was in Deutschland war, für gescheitert erklärt. Und dann hat man gesagt, wir machen jetzt einen Integrationsgipfel und eine Islamkonferenz, was eigentlich eine Erziehungstherapie für Muslime ist, wo sie dann belehrt und erzogen werden sollen. Das ist natürlich auch keine Kultur der Anerkennung.« (Int.1:8/41-9/2) Auch Frau Kaddor stellte die Forderung der Politik, Multikulturalität anzuerkennen und gemeinsam mit den Migranten zu gestalten, vor dem Hintergrund in Frage, dass dies als Botschaft bei der Mehrheitsgesellschaft noch immer nicht angekommen ist: »Die Ziele des Integrationsgipfels wurden nicht umgesetzt, oder, anders ausgedrückt, auf hoher politischer Ebene ist man sich darüber einig, aber beim Volk, unten, in der Basis, wurde das nicht umgesetzt, da hat bis heute kein Umdenken stattgefunden. Ich finde das auch wichtig, dass man vor allem die Politik erstmal für diese Themen sensibilisiert. Aber wenn die Politik es nicht schafft, das tatsächlich in die Gesellschaft hineinzutragen, dann war die Politik offensichtlich selbst gar nicht so davon überzeugt.« (Int.5:5/35-44) Auch Frau Arkat sah in der Haltung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Migranten ein Hindernis dafür, Migranten in Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Sie betonte, dass die Mehrheitsgesellschaft immer noch die alte deutsche Angst vor Überfremdung in sich trage und so den Konsequenzen, die aus dem Wandel der Bevölkerungsstruktur auch in der politischen Repräsentation der Gesellschaft gezogen werden müssten, mit Schrecken gegenüber stehe. Dabei wies sie aber darauf hin, dass langfristig die Einbeziehung der Migranten in die politischen Entscheidungen der einzige Weg sei, um mit der Politik auch all die diversen Bevölkerungsgruppen zu erreichen, die in Deutschland leben (s. Int.3:12/2-23). Insgesamt fällt auf, dass bei den interviewten Migrantenorganisationen und religiösen Gemeinschaften eine große Bereitschaft und ein Wunsch bestand, sich 3 Theo van Gogh wurde 2004 nach der Ausstrahlung seines Films »Submission«, in dem es um die Unterdrückung der Frau im Islam geht, von einem Marokkaner getötet, der laut Presseberichten aus fundamentalistisch‐religiösen Motiven handelte.
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bei der Lösung von Problemen zu beteiligen, aber auch insgesamt bei der proaktiven Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken. Auch wenn die Islamkonferenz und der Integrationsgipfel von einigen als Schritt der Migranten in Richtung Mitbestimmung gesehen wurde, kritisierten jedoch viele, dass die Zusammensetzung dieser Treffen eher die Stimmen der Mehrheitsgesellschaft repräsentiert, wodurch wirklicher Austausch weder zustande kommt noch als erwünscht wahrgenommen werden kann. Vielmehr sahen einige sowohl in den Konferenzen als auch in den politischen Beschlüssen eine Selbstvergewisserung der deutschen Mehrheitsgesellschaft (s. Kapitel 3). In diesem Zusammenhang stellten einige Interviewpartner die Aufrichtigkeit des Postulats der Regierung, Deutschland sei ein Einwanderungsland, in Frage. Der dominanten Semantik, die die Unwilligkeit der Migranten, am gesellschaftlichen Leben mitzuwirken, andeutet, wurde hier die Einschränkung der Möglichkeiten für die Migrantenorganisationen gegenübergestellt, das Zusammenleben zu gestalten. Dabei betonten all die Befragten, dass sich die bisherige Integrations-, Migrations- und Bildungspolitik für die Migranten in Deutschland keineswegs identitätsstiftend auf die von ihnen repräsentierten Gruppen der Bevölkerung auswirkt. Sie kritisierten, dass sie durch den Ton der Debatten um Integration in Deutschland – die hauptsächlich an die Mehrheitsgesellschaft gerichtet zu sein schienen – nicht adäquat adressiert worden seien. Ebenso wenig hätten sie den Eindruck gehabt, nach ihrer Sicht gefragt worden zu sein. Vor allem die Sarrazin-Debatte wurde als weitgehende Störung in der Annäherung zwischen der Mehrheits- und Minderheitengesellschaft gesehen.
4.5
Zwischenfazit
Die in diesem Kapitel durchgeführten Analysen verdeutlichen, dass der so aufgefasste Multikulturalitätsdiskurs durch die folgenden zentralen Inhalte geprägt wird: • • • • •
Gestaltung des multikulturellen Zusammenlebens in Deutschland zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen Rolle der Herkunftskulturen der Migranten in der Lebenswirklichkeit in Deutschland und in Europa Repräsentation sprachlicher und kultureller Heterogenität Partizipationsmöglichkeit von Migranten in der Gestaltung der deutschen und europäischen Gesellschaft Anerkennung von Leistungen, Potenzialen und Kompetenzen der Migranten
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Die in Kapitel 3 analysierten Diskurse, die vor allem von der Bundesregierung in den Jahren 2000-2011 bestimmt worden sind und zugleich die Positionen der Mehrheitsgesellschaft in dieser Zeit repräsentiert haben, stellen die Aufgabe der Integration in die deutsche Gesellschaft überwiegend als Aufgabe der Migranten dar. Insofern wird hier implizit ein ›Wir‹ angenommen, in das sich die ›Anderen‹ integrieren müssen. Im Gegensatz dazu gehen die interviewten Repräsentanten von Migrantenorganisationen und religiösen Gemeinschaften davon aus, dass die große Mehrheit der Migranten sich nicht nur bereits integriert hat, sondern auch viele Leistungen in Deutschland erbracht hat, was wenig Anerkennung findet. Insofern wird die Semantik der Integrationsnotwendigkeit, die in den öffentlichen Diskursen von zentraler Bedeutung ist, von den Migrantenorganisationen und religiösen Gemeinschaften in Frage gestellt und als Pauschalisierung des Migrationsthemas – und innerhalb dessen vor allem der Muslime – behandelt. So wird der Integrationssemantik, die in Kapitel 3 herausgearbeitet wurde, vor allem bei der Anstrengung der Migranten ansetzt und nur sehr vage die Aufgaben der Mehrheitsgesellschaft – nämlich, dass diese sich »öffnen« möge – formuliert, von den interviewten nicht‐staatlichen Akteuren die Semantik der Anerkennung entgegengestellt. Gleichzeitig wird von einigen Repräsentanten der Migranten auf die Praxis des ›Labellings‹ aufmerksam gemacht und dabei herausgestellt, dass nicht nur in der deutschen Alltagspraxis, sondern auch im politischen und öffentlichen Diskurs der Begriff Migrant – vor allem, wenn er sich auf muslimische Migranten bezieht – negativ besetzt ist und die Ausschließung der so bezeichneten Menschen aus der Gesellschaft befördert. Wenn man in der Öffentlichkeit über Migranten spricht, spricht man pauschal nur Probleme an. Insofern verbindet man den Begriff des Migranten nicht mit positiven Qualitäten, geschweige denn mit der Bereicherung der Gesellschaft, sondern nur mit Bildungsferne, Integrationsunfähigkeit und schließlich sogar Kriminalität. Dabei bleiben die Leistungen, die die Migranten in der Gesellschaft bereits erbracht haben, unbeachtet und die Positivbeispiele werden systematisch ausgeblendet. Frau Arkat stellte das Problem folgendermaßen dar: »Wenn man von Migranten redet, dann redet man nur von Problemen. Es werden immer Negativbeispiele in den Vordergrund gestellt, nur die schlechten Muster rausgepickt und in der Öffentlichkeit präsentiert. Ich kann Ihnen ein Beispiel liefern: Das ZDF fragte bei uns an – wir bekommen sehr viele solcher Anfragen – ob wir Interviewpartner für sie finden könnten. Es sollte eine Familie sein. Die Dame, die mich angerufen hat, suchte nach den Interviewpartnern, ich zitiere, »die noch nicht hier angekommen sind, obschon sie seit Jahren hier leben«. Ich fragte: »Wie meinen Sie das denn?« Dann ihre Antwort: »Ja, so dass man sofort sieht, dass sie nicht hierher gehören«. Dann habe ich eine Familie gefunden – ich wollte nur mal sehen, was daraus wird – eine sehr traditionsbewusste und religiöse Familie, mit vier Kindern, zwei Kinder haben studiert und die anderen beiden waren auf
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dem Gymnasium. Aber die Mutter und die Töchter tragen Kopftücher. Es war eine wirklich traditionelle türkische Familie, aber sie wurde abgelehnt. Diese Familie war einfach zu gut, oder nicht schlecht genug, um in der Öffentlichkeit als türkische Familie präsentiert zu werden. Da sieht man: Diese öffentliche Darstellung der Migranten, das ist wirklich absichtlich, das ist gezielt.« (Int.3:3/45 – 4/10) Auch andere Interviewpartner thematisierten die mangelhafte Darstellung von Migranten – vor allem von muslimischen Frauen – in der Öffentlichkeit. Es fehle an positiven Identifikationsfiguren, zumal, wie sie weiterhin kritisierten, zumeist nur schlechte Beispiele ausgewählt und in der Folge pauschalisiert werden. So betonte Herr Saraç: »Ich denke, wir brauchen mehr denn je auch Menschen mit Kopftuch in der Öffentlichkeit. Sei es als Moderatorinnen im Fernsehen – die wir noch gar nicht haben, soweit ich das kenne – oder eben auch als Intellektuelle. Denn je mehr diese Menschen Repräsentanten aus ihrem eigenen gesellschaftlichen Milieu hervorbringen, die von sich aus, ohne Zwang, ohne Verpflichtung, ohne Unterdrückungsgefühl etwas zur Bereicherung der Gesellschaft beitragen, indem sie ihre Meinung zu diversen Sachverhalten ausdrücken oder dergleichen, desto mehr wird sich das Thema normalisieren. Dann wird man möglicherweise sagen: Kopftuchtragen, das ist eine Sache, die mit ihrem Bekenntnis zu tun hat und nichts mit irgendeiner politischen Ausdrucksweise. Politik macht man nur damit, dass man zur Wahl geht und da seine Stimme abgibt, oder zu einem Parteitag geht, oder Mitglied einer Partei wird. Die Frauen, die Kopftuch tragen, sind aber häufig Menschen, die noch nicht mal einer Partei angehören, geschweige denn Politik machen. Von daher ist das Thema also sehr verfälscht dargestellt.« (Int.4:14/27-44) Die Problematik der negativ besetzten Definition von Menschen als Migranten – womit ihre Zugehörigkeit markiert wird – wurde auch in anderen Interviews deutlich. So betonte Herr Saraç: »Wenn man heute von Migranten spricht, muss man erstmal eine neue Definition finden. Was meint man eigentlich mit Migrantenkindern? Die Kinder, die heute zehn Jahre alt sind und zu unserer Schule kommen, empfinden sich nicht als Menschen mit Migrationshintergrund, sie empfinden sich als Kölner. Und wenn man diese Kinder dann anspricht – und da liegt auch der Fehler, den die Presse, aber auch Menschen im Alltag machen, darunter auch Lehrer – und fragt: »Woher kommst Du?« Und das Kind antwortet: »Ich komme aus Köln.« Daraufhin wird dann erwidert: »Nein, das meine ich nicht! Wo bist Du geboren?« Das Kind sagt: »Ja, natürlich in Köln! Das ist meine Heimatstadt.« Darauf entgegnet man dann wieder: »Nein, das meine ich auch nicht!« Das Kind: »Ja, was meinen Sie denn?« Und dann fragt man: »Woher kommen deine Eltern?« Und überall dort, wo man eine Antwort bekommt, auf die man nicht aus war, bohrt man weiter, und das
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ist pädagogisch, datenschutzrechtlich und schulrechtlich sehr bedenklich.« (Int.4: 4/32-44) Auch andere Migrantenorganisationen unterstützten die Argumentation, dass die Frage, woher man kommt, eine falsche Frage ist, da durch diese eine Grenze zwischen den Dazugehörigen und den Nichtdazugehörigen gezogen werde. Entgegen der dominanten Semantik, die darauf fokussiert ist, die Migranten in die deutsche und europäische Gesellschaft zu integrieren, sagten die Repräsentanten von Migrantenorganisationen und religiösen Gemeinschaften: »Wir sind Deutsche, wir sind Europäer, wir sind ein fester Bestandteil dieser Gesellschaft.« So setzten die Interviewten dem Topos der Integration den Topos der Anerkennung, welcher mit der Semantik der Partizipation einherging. Beide Topoi verbanden sich im Thema der bereits erbrachten, aber noch nicht anerkannten Leistungen der Migranten in Deutschland. So führte Frau Arkat aus: »Die Mehrheitsgesellschaft sollte sich Gedanken machen, welche Beiträge die damaligen Gastarbeiter zum heutigen Lebensstandard, zur heutigen Wohlfahrtsgesellschaft geleistet haben. Es kann nicht angehen, dass alle Probleme einfach auf Ausländer geschoben werden und dass gesagt wird: »Ihr Migranten, ihr seid die Wurzel allen Übels«. Das geht nicht. Deswegen sind wir so selbstbewusst, deswegen wollen wir weiterkämpfen, deswegen wollen wir Anerkennung und Partizipation. Keine Integration mehr, wir wollen das Wort nicht mehr hören! Keine Integration, sondern Partizipation! Wir sind ein Teil der Gesellschaft, und wir wollen auch an dieser Gesellschaft in gleichem Maße teilhaben. Wir haben Pflichten, aber wir haben auch Rechte.« (Int.3:8/22-32) Mit dem Topos der Anerkennung der Leistungen geht einher, dass auch die Nützlichkeit der interkulturellen Kompetenzen und die Mehrsprachigkeit der Migranten gewürdigt werden sollten, da diese schließlich eine Bereicherung für die Gesellschaft darstellen. So stellt man dem Topos der »Dominanzkultur« – »Deutsche Sprache ist ein Schlüssel zur erfolgreichen Integration« – die Semantik »Mehrsprachigkeit als Schlüssel zum Erfolg auf globalisierten Märkten« (Int.4:9/31) gegenüber und nimmt dabei Bezug auf Europa, ohne dabei zu bestreiten, dass »Deutsch eine Bezugssprache und die Kommunikationssprache in der deutschen Gesellschaft« (Int.4:8/47-48) ist. Die wirtschaftspolitische Argumentation ist sowohl in den Interviews mit Migrantenorganisationen als auch in der Dominanzsemantik präsent, allerdings mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Die Repräsentanten von Migrantenorganisationen betonen dabei die Notwendigkeit der Anerkennung von im Land lebenden Migranten, während innerhalb der Dominanzsemantik eher die Steuerung der Neuzuwanderung im Vordergrund steht. Darüber hinaus wurde der Wunsch geäußert, dass Migranten fernab von ihrer wirtschaftlichen Verwert-
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barkeit als Individuen mit eigenen Erwartungen, Hoffnungen und Zielen wahrgenommen werden. So betonte Frau Arkat: »Schon in den 1960er-Jahren hat die Politik versäumt, die Migranten in die Gesellschaft einzugliedern. Die damals angeworbenen Menschen aus anderen Ländern wurden als Arbeitskräfte, als eine vorübergehende Unterstützung angesehen, und man hat sich keine Gedanken darüber gemacht und kein Konzept entwickelt. Max Frisch hat das so schön zum Ausdruck gebracht: »Wir riefen Arbeiter, Menschen kamen.« Diese Menschen dachten selber damals nicht, dass sie bleiben würden. Sie sind aber geblieben, und die Probleme haben schon damals angefangen. Damals war die Migration aber kein Problemthema, weil es der Bundesrepublik wirtschaftlich gut ging. Alle haben genug zu essen gehabt, Geld war gar kein Problem, es gab keine Arbeitslosigkeit und die fremden Arbeitskräfte haben gut gearbeitet. Ob der Arbeiter Ali die deutsche Sprache konnte oder nicht, war egal. Da haben sich alle bemüht, man hat beispielsweise mit Körpersprache, ihm beizubringen, was man von ihm erwartet, und das hat geklappt. Man hat sich nie Gedanken darüber gemacht, dass diese Menschen auch unsere Sprache, unsere Kultur kennenlernen sollten. Man hat nicht gedacht: Wir müssen diese Leute etwas näher kennenlernen, was sind das für Menschen, mit welchen Erwartungen sind sie hierhergekommen, aus welcher Kultur kommen sie? Sie waren einfach Arbeitskräfte, sie haben ihre Leistung erbracht, und das war genug.« (Int.3: 7/35-45) Im Zusammenspiel der beiden Topoi – der Anerkennung der vorhandenen Vielfalt und der wirtschaftlichen Nützlichkeit – vertrat Herr Saraç eine progressive Haltung, indem er darauf hinwies, dass Pluralität nicht nur verfassungsrechtlich angelegt sei, sondern auch zum Wohlstand europäischer Gesellschaften beitrage. Damit wandte er sich gegen den dominanten Topos, dass wirtschaftlicher Wohlstand vor allem durch eine rigide Einwanderungspolitik entsteht. Im Kampf um die ›besten Köpfe‹ werden die in Deutschland lebenden Migranten eher als Bedrohung für den gesellschaftlichen Wohlstand wahrgenommen: »Die kulturelle und religiöse Vielfalt ist eine Tatsache innerhalb der europäischen Gesellschaft. Und nun brauchen wir viel mehr Impulse in eine positive Richtung. Das heißt, dass man sagt, wir sind nicht nur Deutschland, wir sind Europa, und zu Europa gehört, geographisch gesehen, Trakien, der Westteil der Türkei, genauso, wie der Islam bereits seit mehreren Jahrhunderten dazu gehört. Wir sollten mehr über diese Konstellation reden, denn nur als Europa, und nicht als Deutschland, können wir den globalen Wettbewerb bestehen. Dazu gehört, dass man die Europäisierung als Motor ansieht, der uns weiterbringen kann. Als Subtext sollte da auch immer mitlaufen, dass es dann auch mehrere Kulturen, mehrere Sprachen, mehrere Identitäten in Europa gibt und alle gleichermaßen Potenzial haben, zur Entwicklung, zum Wohlstand und zum Frieden beizutragen. Der Begriff Europa
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hat uns dazu verholfen, dass wir seit über sechzig Jahren – zumindest in Westeuropa – keinen Krieg mehr haben, und daher dürfen, sollten und müssen wir diesen Begriff weiter prägen, um auch zwischen dem Abend- und dem Morgenland eine friedensstiftende Basis zu schaffen. Das könnte vielleicht ein Leitgedanke sein, um über die Menschen, die als Vorbilder und Vordenker der Mehrheitsgesellschaft dienen, einen Wandel dahin gehend einzuleiten, dass die Mehrheitsgesellschaft sagt: Wir haben auch eine selbstverständliche, eine menschliche Verpflichtung, zu sagen, wir geben dem neu angekommenen Nachbarn die Hand. Denn diese Art von Nachbarn werden aufgrund der demographischen Entwicklung mehr denn je gebraucht. Wenn wir ab heute nicht pro Jahr zusätzlich fünfhunderttausend Menschen einwandern lassen, dann sind wir in zwanzig, dreißig Jahren kein Volk von achtzig Millionen mehr, sondern ein Volk von sechzig Millionen, überwiegend vergreisten Menschen. Und so kann eine führende Gesellschaft wie Deutschland nicht im globalen Wettbewerb überleben. Deshalb ist diese Not, die wir derzeit haben, in eine Tugend umzuwandeln, indem die Vordenker dieser Gesellschaft, die Intellektuellen dieser Gesellschaft, schon mal in diese Richtung vorpreschen. Da muss man aber wirklich vorpreschen, genauso wie Sarrazin, nur im positiven Sinne, proaktiv. In diesem Bundesland, NRW, haben über ein Viertel der Menschen einen Migrationshintergrund, in Deutschland sind es zwanzig Prozent der Menschen. Die müssen sich alle hier beheimatet fühlen, und das geht nur durch eine Willkommenskultur, und diese Kultur muss mit mehr Lächeln, mit mehr Interesse an den neuen Lebensformen und an den neuen Lebensläufen gestaltet werden.« (Int.4:16/18-17/6) Dabei zeigt sich deutlich, dass die Vorstellungen für die Gestaltung des multikulturellen Zusammenlebens zwischen den Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft und den Minderheiten stark auseinandergehen. Während die Dominanzsemantik in der Integrationsleistung der Migranten ein erfolgreiches Rezept für das Zusammenleben sieht, setzen die Migrantenorganisationen ihre Schwerpunkte anders und heben die Notwendigkeit der Herausbildung von Willkommenskultur und Akzeptanz für alle hervor. Herr Özgün brachte dies wie folgt zur Sprache: »Ich denke, der allerwichtigste Faktor ist die Sprache, die wir verwenden. Wenn ich immer sage, du musst, du musst, du musst, dann wird in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, dass die Migranten der Gesellschaft ständig etwas schulden. Dass sie etwas bringen müssten, was sie nicht täten. Aber Integration ist in meinen Augen eher wie ein Mosaikbild zu betrachten. Wenn ich einen Stein in ein Mosaikbild setzen will, dann muss ich sowohl den Stein anpassen als auch das Gesamtbild, um für diesen Stein Platz zu schaffen. Wenn die Umgebung des Steines, dieses Mosaiksteines, nicht bereit oder nicht in der Lage ist, diesen Stein aufzunehmen,
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dann kann dabei kein harmonisches Gesamtbild entstehen. Wenn ich für diesen Stein nur ein wenig Platz schaffe, ihn aber trotzdem nicht einsetzen kann, dann ergibt sich kein schönes Mosaikbild. Aber damit die Gesellschaft das in der Breite akzeptiert, muss über Integration auch so geredet werden, dass die Bring- und Holschuld alle betrifft.« (Int.6:22/9-20) Dabei brachten einige Interviewpartner Vorschläge vor, wie genau diese in der Dominanzsemantik nur vage formulierte »Öffnung der Mehrheitsgesellschaft« aussehen könnte. So führte etwa Herr Saraç aus: »Es muss ein Wandel geschehen, angefangen bei der Pädagogik, der Ausbildung der Pädagogen, die in interkultureller Kompetenz weitergebildet werden müssten, hin zu den einzelnen Behörden des öffentlichen Lebens, aber auch in den Medien, sei es in Print oder Bild. Da brauchen wir mehr denn je das Bewusstsein, dass man den Menschen nicht von vornherein schon beim Kennenlernen ausgrenzt.« (Int.4:5/5-11) Auch Herr Marincola sprach über die Öffnung der Mehrheitsgesellschaft und sah diese vor allem in der Einbeziehung von Migranten in öffentlichen Institutionen und in der Politik: »Dass also nicht nur gefordert wird, sondern ebenfalls von der deutschen Gesellschaft oder der aufnehmenden Gesellschaft entsprechend mitgewirkt wird bei der Integration, das war einer der Punkte, die wir als Migrantenorganisation damals auch unbedingt im Integrationsplan drinstehen haben wollten. Ich würde das vielleicht ganz allgemein formulieren, dass wir den Menschen, die hier nach Deutschland kommen, den gleichen Respekt zollen, den wir auch anderen deutschen Einwohnern entgegenbringen. Es geht also um Gleichbehandlung der Menschen, die hierherkommen, die hier leben und sich einbringen wollen, was dann allen zum Vorteil gereicht. Es geht zum Beispiel darum, sich zu öffnen, das heißt Institutionen zu öffnen, um zu ermöglichen, dass dort Zuwanderer schnell Fuß fassen. Wir haben viele Institutionen in denen die Beteiligung von Zuwanderern immer noch sehr niedrig ist. Als Beispiel ließe sich die Politik anführen: In der Politik und in den jeweiligen Parteien könnte die umfangreichere Beteiligung von Migranten forciert werden. Wenn man bedenkt, dass es so einen großen Migrantenanteil in der Bevölkerung gibt, sind wir da noch unterrepräsentiert. Man darf in der Politik nicht davon ausgehen, dass ein Fremder automatisch auf einen zugeht – auch umgekehrt ist das gefordert. Also: Vereine, öffnet euch! Politische Parteien, werbt um den Zutritt von Migranten! Holt sie aus ihren Quartieren heraus! Und wenn ihr seht, dass sie nicht kontaktfähig sind, dann ist es eure Aufgabe, dies zu ändern.« (Int.8:10/7-27)
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So betonte auch Herr Mazyek, dass die Integration der Migranten in die Gesellschaft nur gestaltet werden kann, wenn die aufnehmende Gesellschaft ihren Beitrag leistet: »Integration ist keine Einbahnstraße. Es ist nicht nur eine Seite, die sich anstrengen muss, und man kann davon ausgehen, dass sich die Minderheit immer wesentlich mehr anstrengt als die aufnehmende Gesellschaft, und das ist auch hier der Fall. Wenn also ein Vertreter der Mehrheitsgesellschaft sagt, »ihr Migranten, ihr müsst da mehr tun«, dann sage ich ihm, »das tun wir bereits, es ist ein Naturgesetz, dass die Minderheit sich immer wesentlich mehr anstrengt, einen weiteren Weg zu gehen hat als die Mehrheit«. Aber die Mehrheit, wie auch immer man das nennt, die aufnehmende Gesellschaft, hat sich natürlich auch darauf einzustellen. Das gehört dazu, und das ist letztendlich ein Mehrwert, ein Gewinn, und kein Verlust. Also, es muss an der Bewusstseinsentwicklung, am Wandel angesetzt werden.« (Int.2:8/1-12) Frau Dassen von Eurotürk teilte diese Meinung: »Es heißt immer gegenüber den Migranten: Ihr müsst das und das machen, ihr müsst euch integrieren. Aber ich muss da an meine eigene Tür klopfen, denn eigentlich macht der Deutsche zu wenig und kommt den Migranten zu wenig entgegen. Er sagt nur immer: »Ihr seid in unserem Land, ihr müsst euch an unsere Regeln halten«. Das ist über Jahre so gegangen. Aber irgendwann hat der Migrant, egal welcher Herkunft, gesagt: »Ich mache nichts mehr, wenn ihr mir nicht entgegenkommt, und immer nur zu uns sagt, ihr seid in unserem Land, ihr müsst das und das tun und befolgen«. Das war eben diese ganze, jahrelange Auseinandersetzung. Wir sind ein Einwanderungsland, nur das haben wir viele, viele Jahre leider nicht beachtet. Das ist aber einfach so, und da müssen wir uns einfach arrangieren, und wir müssen eben auch auf die Migranten zugehen.« (Int.8:9/44-10/4) Die Willkommenskultur der Mehrheitsgesellschaft wurde von vielen Gesprächspartnern als praktisch nicht vorhanden eingeschätzt. Viele Interviewpartner sahen dies auch als Anzeichen dafür, dass sich die deutsche Gesellschaft letztlich noch nicht als multikulturell begriffen hat. So sagte Frau Kaddor: »Es geht darum, zu erkennen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, und genau dieses Faktum muss auch in die Geschichtsbücher eingehen, weil man sonst tatsächlich immer noch in der Illusion lebt. Ich habe mittlerweile das Gefühl, dass die meisten Deutschen, oder die Mehrheitsgesellschaft, immer noch denkt: »Ja, wir sind gar kein Einwanderungsland, hier leben nur Deutsche, und die paar Fremden, die müssen sich uns anpassen«. Ich denke schon, dass das auch in Geschichtsbüchern kritisch und fordernd angesprochen werden muss.« (Int.5:3/37-44) Herr Özgün brachte dies auf den Punkt, indem er sagte:
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»Die öffentliche Meinung ist noch nicht so weit wie die Meinung der Wissenschaftler, die es realisiert haben, dass Deutschland bereits viele Kulturen beherbergt, dass viele Kulturen hier leben. Diese alte Sicht auf die Gastarbeiter, von denen man annimmt, dass sie zurückgehen werden, die stimmt einfach nicht mehr. Aber das ist in der breiten Öffentlichkeit noch nicht angekommen, und es ist die Aufgabe aller Medien, das so zu transportieren, dass diese Botschaft im letzten Winkel dieser Gesellschaft, in der Kneipe, im Verein sowie in den Wohnzimmern sämtlicher deutscher Haushalte ankommt, dass die Einwanderung langfristig und nicht vorübergehend ist. Dass das als Faktum akzeptiert wird und man daher lernen muss, miteinander umzugehen. Wenn man den Anderen immer nur als einen Fremden betrachtet, der nicht zu uns gehört, dann wird man schwerlich einen Zugang zu ihm finden. Wenn ich nicht das Signal gebe, dass ich diesen akzeptiere, dann wird es für ihn seinerseits auch schwer sein, um Sympathie zu werben. Also, es ist immer ein gegenseitiges Verhältnis.« (Int.6:21/37-49) So hob Frau Kaddor die Notwendigkeit eines grundsätzlichen Bewusstseinswandels in der deutschen Gesellschaft hervor: »Ich glaube, das Bewusstsein muss sich verändern. Wenn man sich nämlich bewusst macht, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist – beziehungsweise mittlerweile sogar ein Auswanderungsland, was für die Gesellschaft und für die Demographie eine Katastrophe ist – aber ich glaube, wenn man dieses Bewusstsein verändert und ein anderes Bewusstsein schafft, dann wäre es zumindest die Basis für ein Umdenken oder ein Andersdenken. So lange man aber immer noch an diesen Bildern festhält, wer oder was deutsch ist, an dieser Bodentheorie oder Vererbungstheorie, so lange wird man hier nie vernünftige Integrationspolitik machen können.« (Int.5:5/20-29).
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5 Schlussbetrachtung: Wir Deutschen als Europäer
Die deutsche Identitätspolitik hat in jüngster Zeit durch die Auseinandersetzung mit muslimischen Migranten eine neue Wendung erfahren. Um diese Wendung zu rekonstruieren, bemühte sich die hier vorliegende Studie um eine empirisch fundierte Analyse an der Schnittstelle von staatlichen und nichtstaatlichen Diskursen mit besonderem Fokus auf die Auseinandersetzung mit dem Konzept des Multikulturalismus. Unter dem Vorzeichen des Multikulturalismus – wie in diesem Band argumentiert wurde – entwickelte sich in den Jahren 2000-2011 ein fragiles und umstrittenes Bekenntnis Deutschlands zur Einwanderungsgesellschaft. Gleichzeitig etablierte sich Deutschland in dieser Zeitphase gerade durch die Auseinandersetzung mit dem Multikulturalismus als eine treibende, wegweisende europäische Macht, welche vor allem in den Fragen nach dem Umgang mit Migration innerhalb der Europäischen Union den Ton angibt. Vor diesem Hintergrund erscheint die deutsche Debatte um Multikulti als Vorbote einer neuen europäischen Identität und einer neuen europäischen Migrationsagenda.1 Die in dieser Veröffentlichung diskutierten Ergebnisse (siehe genauer Kapitel 3.3. und Kapitel 4.5) weisen darauf hin, dass das Modell des Multikulturalismus, von welchem sich die europäischen Spitzenpolitiker im Jahr 2011, Angela Merkel folgend, verabschiedet haben, in politischer Hinsicht nur bruchstückhaft umgesetzt wurde. Ein später kritisiertes »staatlich subventioniertes Nebeneinander von Kulturen« (vgl. Kapitel 1) gehörte nicht auf die politische Agenda. Der Abschied von Multikulti diente nebst einer selbstkritischen Distanzierung anscheinend auch anderen Zwecken, die einer weiterführenden Analyse benötigen. Was tatsächlich in den Jahren 2000-2011 vollzogen wurde, ist die Etablierung Deutschlands als einer der Hauptträger europäischer Werte und als einer führenden europäischen Kraft in diversen globalen Fragen. In dieser Hinsicht gelingt Deutschland ein Sprung nach vorne, insofern, als die früheren deutschen kollektiven Identitätskonstruktionen sich aus der Vergangenheitsbewältigung und Auseinandersetzung mit der Schuld der beiden Kriege speiste. Durch die deutsche Erfindung des Multikulti setzt die 1 Beispielsweise wurden die deutschen Integrationskurse als eine »Erfolgsgeschichte und ein Modell für Europa« ausgegeben und in weiteren EU-Ländern umgesetzt (s. genauer Kapitel3.1.2).
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Multikulturalismus im Diskurs
Konzeptionalisierung der kollektiven Identität Deutschlands im europäischen Rahmen neue Schwerpunkte. Der Multikulturalismus dient dabei als ein Metadiskurs, um die Probleme der Zuwanderung, Wirtschaft, Bildung und europäischer Kultur in einen Zusammenhang zu bringen. Im Rahmen der multikulturellen Öffnung – sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik – positioniert sich Deutschland als Träger universeller europäischer Werte und tut sich als deren primärer Vermittler hervor, der den vermeintlichen »Dialog« mit Europas wichtigstem Kontrahenten – dem Islam – organisiert. Europa nach dem deutschen Modell aus den Jahren 2000-2011 zeigt sich als Balanceakt zwischen Öffnung im Hinblick auf die neuen »Anderen«, die Muslime, deren Integration in ein kollektives Selbstbild im Spannungsfeld von Freiwilligkeit der Einheimischen und angeordneter Pflicht der Einwanderer erfolgt, und einem Wunsch nach Anerkennung nicht nur der (immer wieder) erwähnten »Potenziale der Migranten«, sondern auch ihrer tatsächlichen Leistung bei der gemeinsamen Gestaltung einer zukunftsorientierten europäischen Lebenswirklichkeit. Innerhalb dieses Spagats werden sowohl die Themen wie der allgemeine Wohlstand jenseits der bekannten Demarkationslinien verhandelt als auch Fragen nach den Folgen von und dem Umgang mit der Globalisierung, nach der Rolle der Religion in Europa sowie nach der Gleichberechtigung jenseits wirtschaftlicher Nützlichkeit neu gestellt. Die Frage bleibt offen, wie die angestrebte Anerkennung der Diversität der deutschen und europäischen Gesellschaft nicht nur diskursiv bejaht, sondern tatsächlich repräsentiert werden kann, um einen – von Habermas postulierten – herrschaftsfreien, symmetrischen Dialog zwischen diversen Akteurengruppen zu ermöglichen.
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Annex
Leitfadeninterview Fragen Thema: Bildungschancen Wie bewerten Sie die Bildungschancen von Migrantenkindern im Vergleich zu jenen von einheimischen Kindern? Wie könnte die Situation verbessert werden? Wie bewerten Sie die deutsche Bildungspolitik in dieser Hinsicht? Wie bewerten Sie die Hilfsmaßnahmen der deutschen Regierung? Sollten die Lehrpläne angesichts der multikulturellen Zusammensetzung der Schülerschaft reformiert werden?
Thema: Religion Welche Rolle spielt Religion ihrer Meinung nach bei der Identitätskonstruktion Deutschlands als multikultureller Gesellschaft? Welche Position beziehen Sie bezüglich religiöser Symbole in der Schule? Welche Position beziehen Sie bezüglich der Kopftuchdebatte? Wie beurteilen Sie die Einführung und die Umsetzung des Gesetzes, das jeder religiösen Gruppierung das Recht zuspricht, in öffentlichen Schulen Religionsunterricht anzubieten?
Thema: Integration Was halten Sie von den Initiativen des Integrationsgipfels? Wie bewerten Sie die Besetzung, die Ziele und die Maßnahmen des Integrationsgipfels?
Thema: Migration Was halten Sie von neuen Zusätzen zum Zuwanderungsgesetz? Welche Auswirkung hätte dies ihrer Meinung nach auf die Identität von Migrantenkindern?
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Multikulturalismus im Diskurs
Thema: Einbürgerungspolitik Glauben Sie, dass Integrationskurse und Einbürgerungstests zur Bildung beitragen und die Integration befördern? Was beurteilen Sie die Organisation der Integrationskurse?
Thema: Multikulturalismus Wie sehen Sie das Arrangement des multikulturellen Zusammenlebens in Deutschland? Welche Rolle sollten Einheimische ihrer Meinung nach im Alltag Migranten gegenüber einnehmen? Wie kann die Heterogenität von Sprache und Kultur am besten repräsentiert werden?
Fazit: Identitätskonstruktion Haben Sie den Eindruck, dass Integration, Migration und Bildungspolitik eine Rolle bei der Identitätskonstruktion in Deutschland spielen?
Vollständige Liste der an den öffentlichen Debatten beteiligten Akteure • • • • • • • • • • • • • • • • • • •
Islamische Föderation, Berlin Islamrat, Köln Zentralrat der Muslime e.V., Köln Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB), Köln Türkische Gemeinde in Deutschland e.V., Berlin Förderation Türkischer Elternvereine Türkisch-Deutscher-Akademischer Bund e.V., Köln Verband Islamischer Kulturzentren, Köln Liberal-Islamischer Bund e.V., Duisburg-Rheinhausen Verband Demokratisch-Europäischer Muslime (VDEM), Aachen Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V. (DOMiT), Köln Volkshochschule, Essen Deutscher Lehrerverband, Ergoldingbei Landshut Alevitische Gemeinde Deutschland, Köln Förderation türkischer Elternvereine in Deutschland Südost-Europa Kultur, Berlin–Kreuzberg Verband binationaler Familien und Partnerschaften, Frankfurt a.M. CGIL Bildungswerk e.V., Frankfurt a.M. Bundesverband Deutsch-Arabischer Vereine in Deutschland, Düsseldorf
Annex
• •
Dien Hong – Gemeinsam unter einem Dach, Rostock Bund spanischer Elternvereine in Deutschland, Berlin
Insgesamt konnten acht Interviews mit RepräsentantInnen von folgenden nicht‐staatlichen Organisationen durchgeführt werden: • • • • • • • •
Islamrat für die Bundesrepublik, Köln (Vorsitzender, Ali Kizilkaya) – Zitation im Text: Int. 1 Zentralrat der Muslime e.V., Köln (Generalsekretär, Aiman A. Mazyek) – Zitation im Text: Int. 2 Türkische Gemeinde in Deutschland e.V., Berlin (Bundesgeschäftsführerin, Nalan Arkat)– Zitation im Text: Int. 3 Türkisch-Deutscher-Akademischer Bund, Köln (Vorsitzender, Alp Saraç) – Zitation im Text: Int. 4 Liberal-Islamischer Bund e.V., Duisburg-Rheinhausen (Vorsitzende, Lamya Kaddor) – Zitation im Text: Int. 5 Verband Demokratisch-Europäischer Muslime (VDEM), Aachen (Präsident, Eyüp Özgün) – Zitation im Text: Int. 6 CGIL Bildungswerk e.V., Frankfurt a.M. (Vorsitzender, Franco Marincola) – Zitation im Text: Int. 7 Eurotürk, Aachen (stellv. Vorsitzende, Frauenbeauftragte, Marie-Jose Dassen) – Zitation im Text: Int. 8
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Soziologie Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018
Februar 2019, 246 S., kart. 24,99 €(DE), 978-3-8376-4474-6
Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)
Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten 2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7
Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf
Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Soziologie Gianna Behrendt, Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Fakten 2018, 166 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4362-6 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4362-0
Heike Delitz
Kollektive Identitäten 2018, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3724-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3724-7
Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Materialität 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 €(DE), ISBN 978-3-8394-4073-5
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