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German Pages 135 [140] Year 1933
Ditersucbungen m Bienenfabel Mandevil es and zìi ibrer EMstehnngsgesetaiclite in liÉiek ani È Bienenfabeltbesc
Von
Wilhelm Deckelmann
Friederichsen, de Gruyter & Co. m. b. H. / Hamburg 1933
EINLEITUNG. Der Gegenstand der vorliegenden Arbeit soll ein einst vielgeschmähter, dann aber fast völlig vergessener Denker sein: Bernard de Mandeville. Kaye hat mit seiner vorbildlichen Ausgabe des Hauptwerkes Mandevilles, der Bienenfabel, wieder einiges Interesse für ihn erweckt und zugleich neues Licht auf die von ihm gestellten Fragen geworfen. In der Einleitung zu dieser Ausgabe finden wir die einzelnen Gedanken Mandevilles in ihrer Verbundenheit mit den allgemeinen geistigen Strömungen sorgfältig dargestellt, aber bei der Fülle des Gebrachten verliert man leicht das Gesamtbild Mandevilles aus den Augen; auch scheint die nachweisbare direkte Abhängigkeit von einzelnen Denkern nicht immer genügend gewürdigt zu sein. Die folgende Arbeit will nun im Gegensatz zu Kaye andere Wege beschreiten: sie beschränkt sich bewußt darauf, die BF. in Hinblick auf einen Problemkreis, nämlich die Bienenfabelthese, darzustellen, wobei manches Nebensächliche übergangen, und doch das Wesentliche des Mandeville'schen Denkens vorgetragen werden kann. Ausführlich werden dann die Beziehungen Mandevilles zu bestimmten Denkern geschildert, vielleicht ausführlicher, als es im Rahmen des Themas nötig gewesen wäre; hier schien aber eine Ergänzung Kayes in manchen Punkten wünschenswert. Aus der Arbeit wird sicherlich erkenntlich, wie sehr der Verfasser Kaye verpflichtet ist; er hofft aber, auch über Kaye hinaus neue Gesichtspunkte zur Beurteilung Mandevilles gefunden zu haben. Am 21. Januar 1933 jährte sich der Todestag Mandevilles zum 200. Male. Unsere Arbeit möchte dazu beitragen, diesen Denker, der so oft mißverstanden wurde, etwas zugänglicher zu machen.
ERSTER TEIL: Die BienenfabeltheM u d ihre Voraussetzungen. I. Der Gegensatz der riaeristlschen u d dar atilltarlschen Wertungsweise In dar BienenfabeL Will man die Taten eines Menschen ethisch bewerten, so kann man von zwei verschiedenen Gesichtspunkten ausgehen. Man kann sich fragen, welche Gesinnung ihn zum Handeln bewegt und feststellen, wie weit er seiner Pflicht genügt. Man kann aber auch den Nutzen betrachten, den die Allgemeinheit aus seinem Handeln zieht und seine inneren Beweggründe vernachlässigen. Gewöhnlich wird man beide Auffassungen berücksichtigen, wenn man sich dann auch für die eine oder die andere entscheidet. In manchen Fällen allerdings wird eine solche Entscheidung nicht leicht sein, etwa in Fragen der politischen Moral oder bei der Beurteilung eines edlen Wollens, das nicht in die Tat umgesetzt werden konnte. Hier kann man schwanken, welchem Gesichtspunkte man sich zuwenden soll; wer weder zu ethischem Rigorismus noch zu flacher Nützlichkeitsmoral neigt, wird vielleicht zu keinem abschließenden Urteil kommen. Diese Erscheinung verwendet Mandeville zur Aufstellung der Paradoxien seiner Bienenfabel. Hier finden wir beide Gesichtspunkte unvermittelt nebeneinander. Es ist der Kunstgriff Mandevilles, daß er, zumindest äußerlich, keiner der beiden Auffassungen den Vorzug einräumt. Diese Haltung wird noch dadurch besonders betont, daß er in der Beurteilung nach der Gesinnung zur äußersten Strenge neigt. Tugend besteht im Streben nach dem Wohle der Mitmenschen. Eine Tat, die ohne Rücksicht auf die Gesamtheit erfolgt, ist lasterhaft *). Alle Welt stimmt darin überein, daß das Wohl der Gesamtheit oder das der Mehrzahl ihrer Mitglieder dem des einzelnen vorzuziehen ist'). Das Kriterium der Tugend ist die Abwesenheit jeglicher selbstsüchtigen Regungen. Es ist die Eigenart der Ansichten Mandevilles über die menschliche Natur, daß das Gebiet der 1) F. o. B. I. 48 f. 2) Free Thoughts 283 f.
Selbstsucht als ungemein umfassend dargestellt wird. Jede Leidenschaft hält Mandeville für selbstsüchtig*), beim Zustandekommen der Tugend müssen daher alle Leidenschaften ausgeschaltet sein. Auch das natürliche Gefühl, das uns nötigt, anderen Wohltaten zu erweisen, betrachtet Mandeville als Leidenschaft und kann es nicht als selbstlos gelten lassen*). Handlungen, zu denen wir durch die Leidenschaften oder das natürliche Gefühl veranlaßt werden, dürfen also nicht als tugendhaft betrachtet werden. Mandeville räumt den Leidenschaften auf den Verstand den größeren Einfluß ein, sie trüben sein Urteil und bestimmen ihn zur Billigung ihres Strebens. Daher bedeutet für ihn sittliches Handeln vernunftgemäßes Handeln zum Wohle anderer im Gegensatz zu den eigenen Leidenschaften. Somit wird jene Tat als tugendhaft betrachtet: . . by which Man, contrary to the impulse of Nature, should endeavour the Benefit of others, or the Conquest of his own Passions out of a Rational Ambition of being good*). Ähnlich: From whence we may learn that to perform a meritorious Action, it is not sufficient barely to conquer a Passion, unless it likewise be done from a laudable Principle, and consequently how necessary that Clause was in the Definition of Virtue, that our Endeavours were to proceed from a rational Ambition of being Good'). Das formale Merkmal der Tugend ist die Selbstverleugnung, der Zwang, der den Leidenschaften auferlegt wird; darauf wird von Mandeville immer wieder verwiesen. All this I have nothing against, but I see no Self-denial, without which there can be no Virtue 7 ). The imaginary Notions that Men may be Virtuous without Selfdenial are a vast Inlet to Hypocrisy.. *). . . That there is no Merit but in the Conquest of the Passions, nor any Virtue without apparent Self-denial'). . . whereas those, who act from a Principle of Virtue take always Reason for their Guide, and combat without Exception every Passion, that hinders them from their Duty1*). . I mean by Wicked . . those, who indulge their Passions as they come uppermost, without Regard to the Good or Hurt, 3) F. o. B. I. 200. 4) Analyse des Mitleids F. o. B. I. 254 ff. 5) F. o. B. I. 48 f. 6) F o. B. I. 260. 7) F. o. B. I. 156. 8) F. o. B. I. 331. 9) F. o. B. II. 109. 10) F. o. B. II. 119.
which the Gratification of their Appetites may do to the Society "). Meist bedient sich Mandeville des Maßstabes der Selbstverleugnung, um Handlungen als lasterhaft zu enthüllen. Nur in wenigen Fällen geht er auf eine Definition der Einzeltugenden ein. So erklärt er die Mildtätigkeit (Charity) als: . . that Virtue by which part of that sincere Love we have for our selves is transferr'd pure and unmix'd to others, not tied to us by the Bonds of Friendship or Consanguinity, and even meer Strangers, whom we have no obligation to, nor hope or expect any thing from "). Mandeville glaubt, daß in der Barmherzigkeit gegen Verwandte und Bekannte noch Wirkungen der Selbstsucht nachzuweisen sind, daher wird diese Tugend ausdrücklich auf Wohltaten an Fremde beschränkt. Wir hatten oben gesehen1*), daß Handlungen aus natürlicher Neigung zum Wohle anderer nicht als selbstlos betrachtet werden können, darum warnt Mandeville vor einer Verwechslung des Mitleids mit der Tugend der Mildtätigkeit 1 *), denn das Mitleid ist als eine Leidenschaft zu betrachten, die Tugend aber erfordert die Unterdrückung leidenschaftlicher Regungen. Im „Or. of Hon." " ) behandelt Mandeville die Tapferkeit, die Gerechtigkeit und die Mäßigung. Er geht von der Etymologie des lat. Wortes Tugend: virtus aus und zeigt, daß es von vir (— Mann) abgeleitet ist und in seiner ursprünglichen Bedeutung Tapferkeit, Mannhaftigkeit bezeichnete. Er glaubt daraus schließen zu dürfen, daß in den Zeiten der ersten Gemeinschaftsbildungen die Tapferkeit die wichtigste Tugend war. Diese hohe Wertung der Tapferkeit ergibt sich schon daraus, daß sie die stärkste Leidenschaft, die dem Menschen von der Natur verliehen wurde: die Furcht vor dem Tode, zu bekämpfen hat. Allmählich hat sich die Bedeutung: virtus auch auf d i e Tugenden erstreckt, denen weniger heftige Leidenschaften entgegenstehen: die Bescheidenheit, die Gerechtigkeit und die Mäßigung. Auch hier gebraucht Mandeville also die Selbstüberwindung, die Unterdrückung der Leidenschaften, als Kriterium der Tugend. Für seine Lehre, daß die Tugend Selbstverleugnung zur Voraussetzung hat, glaubt er die Mehrzahl der Philosophen an11) 12) 13) 14) 15)
Or. of Hon. 196. F. o. B. I 253. S. 2. F. o. B. I. 254. Pref. III ff.
führen zu können ie ). Mit Vorliebe beruft er sich dabei auf die Stoiker, die das höchste Gut in der Abgeklärtheit eines zufriedenen Gemütes erblickten, das, frei von sinnlichen Begierden und von Ruhmsucht, sich der Kontemplation hingibt"). Auch das Evangelium erklärt es als die Pflicht des Christen, Selbstverleugnung zu üben. The chief duty then of real religion among Christians, consists in the sacriflce of the heart, and is a task of selfdenial to be perform'd with the utmost severity against nature "). Christus und die Apostel lehrten durch Predigt und Beispiel: Demut und Verachtung der Reichtümer, Verzicht auf den Pomp und die Eitelkeiten der Welt, die Abtötung des Fleisches "). Mandeville wendet sich entschieden gegen zeitgenössische Richtungen der Theologie, die dem Evangelium eine weniger rigorose Auslegung geben wollen. Man kann über das zurückgezogene Leben der Carthäuser und über die strenge Lebensführung in La Trappe spotten, das ändert aber nichts an der Tatsache, daß das Evangelium von uns verlangt, daß wir die Sinnenlust fliehen, uns selbst bekämpfen und das Fleisch töten"). Wenn Mandeville die Selbstverleugnung zum Maßstabe der Tugend macht, so stellt er sich auf den Standpunkt äußersten ethischen Rigorismus. Auch ohne seine scharfsinnigen Analysen der menschlichen Taten, seine pessimistische Schilderung der Menschennatur zu kennen, muß man sich sagen, daß Mandevilles sittlichen Forderungen nur in den seltensten Fällen Genüge geleistet werden kann. Zudem kennt er keinen Zustand ethischer Indifferenz: jedes Handeln, das seinem rigoristischen Maßstabe nicht entspricht, wird ohne weiteres als Laster erklärt, gleichgültig, ob es sich um ein Verbrechen handelt oder um eine Wohltat, die dem Mitleid entspringt. Der Versuch, die menschlichen Taten von der Gesinnung aus mit Hilfe des Kriteriums der Selbstverleugnung zu beurteilen, hat ihn zu diesen paradoxen Folgerungen geführt. Hier kann Mandeville nicht stehen bleiben, er führt daher einen zweiter» ethischen Maßstab ein, die Bewertung der Handlungen nach ihren Folgen, nach dem Nutzen, den sie der Allgemeinheit bringen.
16) 17) 18) 19) 20)
F. o. B. I. 323. F . o. B . I. 150. Free Thoughts 16. Or. of Hon. 99. Or. of Hon. 104.
Wenn e9 bei der Systemlosigkeit des Mandeville'schen Denkens nicht leicht fiel, seine rigoristische Ethik aus zerstreuten Formulierungen zu bestimmen, so fließen die Belege f ü r seine utilitarische Ethik noch spärlicher. Mandeville setzt sie, wie die rigoristische Ethik, überall voraus, ohne sich die Mühe zu machen, sie genauer zu definieren. Auch an ihrer Bildung hat Mandevilles Ansicht der menschlichen Natur erheblichen Anteil. Es ist seine Überzeugung, daß jeder Mensch danach verlangt, glücklich zu werden: All Human Creatures have a restless Desire of mending their Condition; and in Civil Societies and Communions of Men there seems to be a Spirit at Work, that, in Spight of the continual Opposition it receives from Vice and Misfortunes, is always labouring for . . . what can never be obtain'd whilst the World stands. Hor. What is that pray? Cleo. To make Men completely Happy upon Earth* 1 ). Das Glücksstreben aller ist in der Gesellschaft zusammengefaßt; erst die Uberzeugung, daß in ihr jedem das größtmöglichste Glück gewährleistet ist, macht die Menschen geneigt, sich ihr einzuordnen. Therefore a Creature is then truly governable, when, reconcil'd to Submission, it has learn'd to construe his Servitude to his own Advantage; and rests satisfy'd with the Account it finds for itself, in the Labour it performs for others "). Die Aufgabe der Gemeinschaft ist es daher, jedem seinen Anteil am Glück zu sichern; wenn das Wohl der Gesellschaft die Bedürfnislosigkeit der arbeitenden Masse erfordert, so glaubt Mandeville doch, daß damit deren Anteil am Glück keineswegs verkürzt ist"). Schon Mandeville nähert sich also der Forderung nach dem größten Glück der größten Zahl. . . diese Berechnung des größten Glücks der größten Zahl, wie sie uns später Bentham in so glühenden Farben schildert, all dies ist schon das Ziel des Denkens Mandevilles, wie es uns am Anfange des 18. Jahrhunderts in seiner „Fable of the Bees" entgegentritt"). Die beste Sicherung hierfür ist das Wohlergehen der Ge21) Or. of Hon. 15 f.; so auch: F. o. B. II. 178. 22) F. o. B. II. 184. 23) F. o. B. I. 314 ff. 24) Vinzenz Rüfner; die soziol. Stellung von M's BF. Archiv für Qesch. der Philos. und Soziol. !930, S. 295 f.
sellschaft, das Mandeville in wirtschaftlicher Blüte und politischer Macht erblickt"). Das allgemeine Wohl wird nun zum Maßstabe menschlicher Handlungen; im Gegensatz zu Mandevilles rigoristischer Ethik erfolgt hier die Beurteilung nach rein weltlichen Gesichtspunkten: nach dem Nutzen, den die Gesamtheit aus dem Handeln des einzelnen zieht. Für Mandevilles utilitarische Betrachtungsart mögen folgende Belege dienen: From whence it is manifest, that when we pronounce Actions good or evil, we only regard the Hurt or Benefit the Society receives from them, and not the Person who commits them "). It is in Morality as it is in Nature, there is nothing so perfectly Good in Creatures that it cannot be hurtful to any one of the Society, nor any thing so entirely Evil, but it may prove beneficial to some part or other of the Creation: So that things are only Good or Evil in reference to something else, and according to the Light and Position they are placed in "). It is the Business of all Law-givers to watch over the Publick Welfare, and, in order to procure that, to submit to any Inconveniency, any Evil, to prevent a much greater, if it is impossible to avoid that greater Evil at a cheaper Rate*8) n ). Die Beurteilung nach dem Nutzen für die Gesamtheit erfolgt ohne Rücksicht auf die Gesinnung: In this view we have no regard for the persons themselves, but only the benefit they may be of to the publick, if they please and their service be wanted; and they are only look'd upon as parts and members of the whole society "). Jodl bemerkt zu diesem Standpunkt Mandevilles: Wir haben hier eine in gewissem Sinne konsequente und scharfsinnige Ausbeutung des Satzes, auf welchen Hobbes und Locke die Ethik begründet hatten: daß die Folgen einer Handlung über ihren sittlichen Wert entscheiden"). 25) Hier ist vielleicht die B e m e r k u n g a n g e b r a c h t , daß der Begriff Gesellschaft (Society) bei Mandeville neben den rein staatlichen, auch die w i r t s c h a f t l i c h e n und kulturellen Qebiete d e s Q e m e i n s c h a f t s l e b e n s umfaßt. Eine s t r e n g e Scheidung in die verschiedenen S p h ä r e n erfolgt nicht. W e n n neben Society a u c h B o d y Politick, the Publick, Civil S o c i e t y erscheinen, s o sind dies gleichbedeutende Bezeichnungen für S o c i e t y . Im folgenden w i r d S o c i e t y m i t : Gesellschaft, G e m e i n s c h a f t , gelegentlich auch S t a a t w i e d e r g e g e b e n w e r d e n . 26) F. o. B. I. 244. 27) F. o. B. 1. 367. 28) L e t t e r 42 f. 29) s. auch das Zitat K a y e s a u s : A M o d e s t Defence . . ., LX. 30) F r e e T h o u g h t s 282. 31) Jodl, Gesch. der Ethik in der n e u e r e n Philos. Stuttg. 1882. I. Bd. S. 186.
Nachdem schon oben ") behauptet wurde, daß bei Mandeville die Beurteilung einer Tat nach der Gesinnung des Handelnden und nach den Folgen der Handlung für die Allgemeinheit unvermittelt nebeneinander stehen, müssen wir uns nun über diese doppelte Moral, die am kürzesten im Untertitel des Buches, der eigentlichen These der Fabel: Private Vices, Publick Benefits zum Ausdruck kommt, Klarheit verschaffen. Natürlich konnte diese paradoxe Gleichung nur durch einen Kunstgriff Mandevilles zustande kommen. Übersieht man dies, so kann man zu der Auffassung jener Gegner Mandevilles kommen, die annahmen, daß er jedes Laster als Nutzen für die Allgemeinheit betrachte, ein Vorwurf, gegen den sich Mandeville mehrmals verteidigen mußte "), der sogar von Männern wie Berkeley ") gegen ihn erhoben wurde. Wenn man bedenkt, wie schwer es war, der rigoristischen Bewertung zu genügen, wie schnell eine Tat als Laster abgetan wurde, dann wird es leicht verständlich, daß viele dieser „Laster" dem Gemeinwohl noch dienen können ss). Bei einer gleichzeitigen Anwendung beider Beurteilungen auf dieselbe Tat kann man wohl nach der rigoristischen Ethik zu einer ablehnenden, nach der utilitarischen zu einer billigenden Bewertung kommen. Behält man diesen Gesichtspunkt im Auge, dann enthält die Behauptung Mandevilles: Private Vices, Publick Beneflts keinen Widerspruch mehr. Da ja die Anwendung der rigoristischen Ethik Mandeville zu völlig paradoxen Folgerungen geführt hatte, so könnte man vielleicht annehmen, daß er von einer Beurteilung der Gesinnung Abstand nehmen würde und allein den utilitarischen Maßstab gelten ließe. Aber gerade für die Bienenfabelthese : Private Vices, Publick Beneflts ist die Beibehaltung der rigoristischen Ethik die Voraussetzung. Vom ethischen Standpunkt aus ergibt die Nützlichkeit des Lasters noch keineswegs die Widerlegung der rigoristischen Forderungen. Auch Mandeville ist dieser Ansicht. Man kann dies für einen Vorwand halten, der ihn vor Unannehmlich32) S. 2. 33) Vindicatio!) (F. o. B. I. 383 ff.), A L e t t e r to Dion. 34) Alciphron, 2. Dial. 35) J e d e s Mal, w e n n einem in der Bienenfabel die W o r t e L a s t e r und T u g e n d begegnen, muB man sich der rigoristischen Ethik Mandevilles erinnern und sich, hüten, sie im landläufigen Sinne zu v e r s t e h e n . —
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keiten schützen sollte, allein ein Urteil darüber läßt sich erst nach näherer Kenntnis der Gesamtheit seiner Lehren fällen *"). Das Nebeneinander von rigoristischer und utilitarischer Ethik wird zu einem Gegensatz von Tugend und dem weltlichen Wohl der Gemeinschaft erweitert. Zu diesem Schritt wird Mandeville wiederum durch seine Analysen der Natur des Menschen und seiner Handlungen bestimmt"). Diesei Gegensatz muß vorläufig als gegeben hingenommen werden, er ist eigentlich schon in der Gegenüberstellung der rigoristischen und der utilitarischen Ethik, die nach dem Nutzen für das Gemeinwohl urteilt, enthalten. Mandevilles Verteidigung gegen den unberechtigten Vorwurf, die Ausübung jeglichen Lasters zu empfehlen, besteht darin zu betonen, daß keineswegs jedes Laster von ihm gebilligt werde: When I assert, that Vices are inseparable from great and potent Societies, and that it is impossible their Wealth and Grandeur should subsist without, I do not say that the particular Members of them who are guilty of any should not be continually reprov'd, or not be punish'd for them when they grow into Crimes *8). Nach utilitarischem Maßstabe scheidet er die Laster also in solche, die der Gesellschaft nützen, und in schädliche Laster, die er als „Crimes" bezeichnet und streng bestraft sehen will. Zum anderen aber stellt er seinen Leser vor die Wahl zwischen der Verwirklichung der Tugend und dem weltlichen Glück der Gemeinschaft. Zwar ist das Glück der Gesamtheit nicht ohne das Laster zu erreichen, damit ist aber nicht gesagt, daß das Wohl der Allgemeinheit wirklich diesen Preis wert ist. Mandeville drückt diesen Gedanken in verschiedenen Vergleichen aus, so wenn er *•) erklärt, daß man sehr wohl die Mittel beschreiben könne, deren sich Jockeys zu bedienen haben, um das fürs Rennen vorgeschriebene Gewicht durch Entfettungskuren zu erreichen. Man brauche damit noch nicht zu behaupten, daß diese Mittel auch gesundheitsfördernd seien. Ähnlich wird in 36) s. u. S . 71 ff. 37) W i e schon an anderen Stellen, so muB auch hier auf Mandevilles Analysen der menschlichen Natur verwiesen werden. Seine Ethik und diese Analysen setzen sich gegenseitig v o r a u s ; zur Aufstellung des Kriteriums der Selbstverleugnung in der rigoristischen Ethik bedarf es der Ergebnisse der Zergliedciung menschlicher T a t e n , andererseits aber wird bei der Analyse der Handlungen und der Natur des Menschen stets von diesem Kriterium Gebrauch gemacht, also immer gleichzeitig ethisch g e w e r k t . 38) F . o. B . I. 10. 39) L e t t e r 34 f.
der Fabel*•) das Mittel geschildert, das zur Erreichung eines anderen Zweckes dient Auch hier braucht man das Ziel keineswegs zu billigen, wenn man den zu beschreitenden Weg schildert. Ähnlich im „Letter to Dion": The Question is not, which is the readiest Way to Riches, but whether the Riches themselves are worth being damn'd for"). Gerade wahren Christen kann doch die Wahl zwischen der Tugend und dem allgemeinen Glück nicht schwer fallen "), denn der Nutzen für die Gesellschaft (Publick Benefits) ist natürlich rein weltlicher Art"). Ein aufrichtiger Christ muß daher schließen: Since this worldly Greatness is not to be attain'd to without the Vices of Man, I will have Nothing to do with it; since it is impossible to serve God and Mammon, my Choice shall be soon made: No temporal Pleasure can be worth running the Risque of being eternally miserable; and, let who will labour to aggrandise the Nation, I will aim at higher Ends, and take Care of my own Soul *•). Mandeville fügt hinzu: The Moment such a Thought enters into a Man's Head, all the Poison is taken away from the Book, and every Bee has lost his Sting. Entschieden wendet sich Mandeville allerdings gegen jene, die weltliche Macht und Größe der Allgemeinheit mit makelloser Tugend vereinigen zu können glauben "). Als seinen eigenen Standpunkt betont er, daß er allezeit der Tugend vor dem allgemeinen Wohl den Vorzug einräume. Wenn er den Weg zu weltlicher Größe und zum Reichtum schildere, so sei dies nur ein Zugeständnis an die weltlich Gesinnten. In the First Place, he (a Man of Candour) will find, that what I call Vices are the Fashionable Ways of Living, the Manners of the Age, that are often practis'd and preach'd against by the same People: Those Vices, that the Persons who are guilty of them, are angry with me for calling them so: The Decencies and Conveniencies, which my Adversaries a r e so fond of, and which, rather than forsake and part with, they would take Pains to justify. In the Second, That I address myself to the Voluptuous, whose greatest Delight is in this World; and, that when I speak to Others, that would be contented without Superfluities, and prefer Virtue and Honesty to Pomp and Greatness, I lay down quite different Maxims: That 40) 41) 42) 43) 44) 45)
II. 103 ft. L e t t e r 34. F. o. B. II. 107. L e t t e r 38 f. L e t t e r 22. F. o B. I. 8. —
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what I have said, Page 258 "), is true, viz., Tho' I have shewn the Way to Worldly Greatness, I have, without Hesitation,, preferr'd the Road that leads to Virtue"). But if Men won't buy Virtue at the Price it is only to be had at, Whose Fault is t h a t " ) ? So bemüht sich Mandeville, den Rigorismus zu rechtfertigen und versichert uns seiner Aufrichtigkeit "). Die Bienenfabelthese würde auch augenblicklich hinfällig, wenn die rigoristische Ethik aufgegeben würde; denn damit würde der eigentümliche Schwebezustand zwischen Rigorismus und Utilitarismus aufgehoben werden, auf dem sie beruht. Den kürzesten Ausdruck findet diese Haltung unter Berufung auf Bayle im „Letter to Dion" M). . . and I defy all my Enemies to shew me, where I have recommended Vice, or said the least Tittle, by which I contradict that true, as well as remarkable Saying of Monsieur Baile. Les utilités du vice n'empêchent pas qu'il ne soit mauvais. Vice is always bad, whatever Benefit we may receive from it. Die Tatsache, daß Mandeville die Laster als Nutzen f ü r die Gesellschaft erweisen will, genügt keineswegs, um die Aufrichtigkeit seines Rigorismus in Frage zu ziehen. Das Beispiel Jurieus, eines calvinistischen Theologen, der vor allem aus der Kontroverse mit Bossuet und Bayle bekannt ist, mag uns zeigen, daß man auch von orthodoxen Ansichten aus dazu kommen kann, die Nützlichkeit des Lasters zu behaupten. Die Aufrichtigkeit dieses Mannes ist über jeden Verdacht erhaben, aber auch er kommt zu dem Schluß, daß die Beseitigung des Lasters die schlimmsten wirtschaftlichen Folgen zeitigen müßte. Als Calvinist ist er von der grundsätzlichen Verderbtheit der menschlichen Natur überzeugt, ein Standpunkt, den auch Mandeville einnimmt. Jurieu handelt von der Erfüllung der Prophezeiungen und vergleicht das künftige Reich der Demut mit den bestehenden Verhältnissen. Tous ces arts qui servent aujourd'huy à la vanité des hommes seront certainement abolis. C'est une profonde providence de Dieu: il a permis que le regne de la vanité soit venu pour suppléer à celuy de la charité, qui s'en est allé. Ce regne de la vanité nourrit une infinité de gens. Car comment vivroyent les pauvres, sans la vanité des riches; qui veulent. 46) 47) 48) 49) 50)
F. o. B. I. 232. Letter 31. l etter 32. Letter 32 f. 34.
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avoir des maisons magnifiques, des meubles superbes, des habits pompeux, d'or, de soye, des points, des dentelles, des tables delicates & chargées de mets, des maisons pleines de Domestiques? Et tout cela nourrit ce grand corps d'artisans, tapissiers, orfeures, peintres, ouvriers en étoffes de laine, d'or,