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German Pages 262 Year 2014
Eran Gündüz Multikulturalismus auf Türkisch?
Kultur und soziale Praxis
Eran Gündüz (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte sind Nation, Staatsbürgerschaft, Einwanderungsgesellschaft und insbesondere das Heiratsverhalten der Einwandererfolgegenerationen.
Eran Gündüz
Multikulturalismus auf Türkisch? Debatten um Staatsbürgerschaft, Nation und Minderheiten im Europäisierungsprozess
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Inhalt
Vorwort | 9
Abkürzungsverzeichnis | 13 Einführung | 15 I.
Zum Forschungsrahmen der Arbeit | 25 1. Nation, Staatsbürgerschaft und Multikulturelle Staatsbürgerschaft in der Türkei: ein Überblick über den Stand der Forschung | 25 2. Forschungsfragen und Erkenntnisinteresse | 29 3. Hypothesen | 33 4. Zum Forschungsdesign der Arbeit | 38 5. Zum Begriff der ethno-kulturellen Gruppe | 4 2 6. Ethno-kulturelle Diversität in der Türkei | 49
II.
Theoretische Grundlagen von Nation | 55 1. Zur Herausbildung von nationalen Gesellschaften | 55 2. Zum Verständnis von Nation im Sinne der idealtypischen Unterscheidung von »ethnischem« und »politischem« Nationenbegriff | 63 3. Zur Bedeutung des Nationalstaates heute | 71
III. Begriffliche und historische Verortung des türkischen Nation-Verständnisses | 79
1. Versuche der Errichtung einer osmanischen Staatsbürgerschaft | 79 2. Zur Entwicklung des türkischen Nationalbewusstseins Ende des 19. Jahrhunderts | 83 3. Die Herstellung einer türkischen nationalen Gesellschaft | 90 4. Zur Ideologie des Kemalismus | 91
5. Politische Schritte zur Herstellung einer nationalen Kultur | 106 6. Zur Einordnung des türkischen Nationenbegriffs im Sinne der Kategorien »ethnisches« und »politisches« Nation-Verständnis | 109 7. Schlussfolgerungen | 113 IV. Zum Begriff der Staatsbürgerschaft | 117
1. Zum Zusammenhang von Nation und Staatsbürgerschaft | 117 2. Zur Bedeutung der Institution der Staatsbürgerschaft | 118 3. Republikanische versus liberal-individualistische Staatsbürgerschaftskonzepte | 122 V.
Zum Staatsbürgerschaftsbegriff in der Türkei | 127
1. Zur Institutionalisierung der Staatsbürgerschaft in der Türkei | 127 2. Zur rechtlichen und verfassungsrechtlichen Definition der türkischen Staatsbürgerschaft | 133 3. Gibt es mögliche liberale Elemente im türkischen Staatsbürgerschaftsverständnis? | 135 VI. Die Problematik der Anerkennung von ethno-kulturellen Minderheiten in der Türkei | 139
1. Welche Gruppen wurden im Vertrag von Lausanne als Minderheiten anerkannt? | 143 2. Die Situation der Minderheiten bis Anfang der 1980er Jahre | 149 VII. Zur Diskussion um Staatsbürgerschaft in der Türkei im Kontext der Integration von ethno-kulturellen Gruppen seit den 1990er Jahren | 151
1. Zur Debatte um Minderheiten und Staatsbürgerschaft seit den 1990er Jahren | 151 2. Zur Unwahrscheinlichkeit einer föderalistischen Lösung der kurdischen Frage | 153 3. Die Auseinandersetzung der türkischen Sozialwissenschaften mit ethno-kultureller Diversität | 155 4. Zur Debatte um die Begriffe »Türk« versus »Türkiye’li« | 160 5. Schlussfolgerungen | 173
VIII. Europäisierung und die Frage von Minderheiten in der Türkei | 175
1. EU-Integration und die Debatte um Staatsbürgerschaft | 178 2. EU-Annäherung und die Ausweitung von kulturellen Rechten für Minderheiten in der Türkei | 180 3. Zur Frage der Kompatibilität türkischer Politik mit den Anforderungen einer EU-Mitgliedschaft anhand von Experteninterviews | 184 IX. Multikulturelle Staatsbürgerschaft und die Minderheitenproblematik in der Türkei: warum Kymlickas Theorie für die Türkei? | 191
1. Zu den gesellschaftspolitischen Hintergründen der Debatten um den Nationalstaat und multikulturelle Staatsbürgerschaft | 191 2. Will Kymlickas Theorie des Multicultural Citizenship | 195 3. Warum Kymlickas Theorie für die Türkei? | 212 4. Individual- oder Gruppenrechte in der Türkei? | 217 5. Ist der Türkiyeli’lik-Ansatz als eine »Multicultural Citizenship« im Sinne Kymlickas zu sehen? | 219 Schlussfolgerungen | 231 Literatur | 237
Internetdokumente | 255 Zeitungsartikel | 256 Interviews | 256 Glossar | 257
Vorwort
Während die Debatte um eine Integration der Türkei in die EU seit den letzten Jahren an Bedeutung eingebüßt hat – sowohl bisher mangelnde Bemühungen auf türkischer als auch die ökonomische und politische Krise auf europäischer Seite sind hierfür verantwortlich –, ist der Einfluss der europäischen Politik und von westlichen Gesellschaftsmodellen in der Türkei immer noch groß. Die europäische Orientierung der Türkei scheint, trotz der vielen Brüche, seit ihren Gründungstagen bis heute ihre Kontinuität zu wahren. Ungeachtet der gegenwärtigen Stagnation des Annäherungsprozesses zwischen der Türkei und der EU und der gewachsenen Ungewissheit über das Ob und die Form der Integration (Vollmitgliedschaft versus Privilegierte Partnerschaft) ist seit Beginn der 2000er Jahre in der Türkei eine offenere politische Debatte über bislang tabuisierte Fragen in Gang gekommen: so insbesondere die armenische Frage (d.h. der Umgang mit der eigenen Geschichte) als auch die Frage der demokratischen Integration von ethno-kulturellen Gruppen. Die jüngeren Diskussionen über eine neue Verfassung für die Republik Türkei zeigen, dass für eine solche Verfassung auch eine Neudefinition des Staatsbürgerschaftsbegriffs angedacht ist. Gerade in Hinblick auf eine demokratische Inklusion von ethno-kulturellen Gruppen scheint eine Neuverhandlung von staatsbürgerlicher Zugehörigkeit unter egalitäreren Bedingungen eine große Bedeutung zu haben. Diesem im türkischen politischen Feld insbesondere seit Beginn der 1990er Jahre umkämpften Thema widmet sich die vorliegende Untersuchung und versucht die diesbezüglichen Debatten vor dem Hintergrund ihres historischen Kontextes zu beleuchten. Die vorliegende Arbeit wurde 2010 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt a.M. als Dissertation angenommen.
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Ich schulde insbesondere Frau Prof. Dr. Ursula Apitzsch, die diese Arbeit betreut und durch ihre vielfältige Förderung maßgeblich zu ihrem Gelingen beigetragen hat, großen Dank. Ebenso gilt mein aufrichtiger Dank Frau Prof. Dr. Lena Inowlocki, die das Zweitgutachten dieser Arbeit übernommen und mich auch stets in verschiedenen Stadien meiner Promotion großzügig unterstützt hat. Frau Prof. Melanie Tatur bot mir mehrmals die Gelegenheit, mein Dissertationsprojekt im Rahmen ihrer Kolloquien vorzustellen. Auch ihr danke ich sehr für diese Offenheit. Diese Dissertation wurde nicht zuletzt auch möglich durch Weiterbildungsangebote, die vom IPC (Internationales Promotions-Centrum) und später von der FGS (Frankfurt Graduate School) bereitgestellt wurden. Ich habe diese Angebote sehr gerne angenommen und danke Herrn PD Dr. Helmut Brentel stellvertretend für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Einrichtungen. Schließlich gebührt mein Dank der Heinrich-Böll-Stiftung und allen ihren geschätzten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die finanzielle und ideelle Förderung von 2007-2010, die die Fertigstellung dieser Untersuchung ermöglicht hat. Necla Ertem danke für die wertvollen Beiträge und Mustafa Özkul für die anregenden Gespräche und die Lektüre dieser Arbeit in ihren verschiedenen Stadien. Brigitte und Gilles Savat danke ich für ihre großen Herzen, Safiye, Zeynep, Saadet, Döne und Meral für ihre Ermutigungen. Marjolaine gilt meine Dankbarkeit für die Geduld, die sie über die Jahre aufgebracht hat, bis wir beide unsere Dissertationen fertiggestellt hatten. So haben wir Freud und Leid der Promotion teilen können. Unsere Tochter Nora hat mit ihrem Dasein seit Oktober 2007 meinem Leben eine schönere Note verliehen.
Meinen Eltern, Döndü und Haydar Gündüz in Dankbarkeit Für Marjolaine und Nora Xezal Marie
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AKP: Adalet ve Kalkinma Partisi – Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei CHP: Cumhuriyet Halk Partisi – Republikanische Volkpartei DSP: Demokratik Sol Parti – Linksdemokratische Partei DTP: Demokratik Toplum Partisi – Partei der Demokratischen Gesellschaft EU: Europäische Union MHP: Milliyetci Hareket Partisi – Partei der Nationalistischen Bewegung MIT: Milli Istihbarat Tesisi – Nationaler Staatssicherheitsdienst PSK: Partiya Sosyalist a Kurdistan – Sozialistische Partei Kurdistans PKK: Partiya Karkeren Kurdistan – Arbeiterpartei Kurdistans RTÜK: Radyo ve Televizyon Üst Kurumu – Hoher Rundfunk- und Fernsehrat TESEV: Türkiye Ekonomik ve Sosyal Etüdler Vakfi – Türkische Stiftung für ökonomische und soziale Studien TOBB: Türkiye Odalar ve Barolar Birligi – Kammern- und Börsenvereinigung der Türkei TRT: Türkiye Radyo ve Televizyon Kurumu – Türkische Radio- und Fernsehanstalt
Einführung
Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit den Debatten um Nation, Staatsbürgerschaft und ethno-kulturelle Gruppen in der Türkei, die sich durch die gesamte Republikgeschichte bis in die aktuellere Zeit ziehen.1 Neben einer historisch-begrifflichen Analyse der Genese dieser Problematik im türkischen Kontext, liegt der Fokus der Untersuchung hierbei auf den politischen und sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzungen ab den 1980er und besonders 1990er Jahren, die angesichts von Anerkennungsforderungen seitens ethno-kultureller Gruppen daraufhin untersucht werden, welche Konzepte die Politik und die Sozialwissenschaften für eine »inklusive Staatsbürgerschaft« formulieren. Ab den 2000er Jahren gewann die innenpolitische Debatte zudem eine neue Dimension, die im EU-Integrationsprozess besteht und zu einer Intensivierung der
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Beispielsweise im August 2009 entstand eine lebhafte öffentliche Debatte über eine so genannte »demokratische Öffnung« in der kurdischen Frage. Die von der AKPRegierung eingeleiteten Maßnahmen zielten darauf, die Forderungen der kurdischen Bevölkerung nach Anerkennung bis zu einem bestimmten Grad zu erfüllen. Die mediale Berichterstattung äußerte sich über die Ankündigungen der »pragmatischen« AKP-Regierung für eine Demokratisierung in der kurdischen Frage in großen Teilen geradezu enthusiastisch und sah einen Dialog mit der kurdischen Seite in Sicht. Dazu siehe z.B. die Reihe in der Tageszeitung »Milliyet«: Türkiye kendi modelini ariyor (»Die Türkei sucht ihr eigenes Modell«), vom 03. August 2009. Hierin heißt es: »In der Türkei hat der Prozess der Lösung der kurdischen Frage begonnen, indem die Türkei ihr eigenes Modell hervorbringt.« Der türkische Innenminister (AKP) hatte am 29. Juli 2009 die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zur Teilnahme an diesem Prozess eingeladen und gesagt, dass man in der Frage der Lösung »hoffentlich ein Türkei-Modell entwickeln wird, das ein Vorbild für die Welt sein kann« (Milliyet vom 03. August 2009, S. 17).
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türkischen »Staatsbürgerschaftsdebatte« führte2, und von der in dieser Frage scheinbar weniger ideologisch beeinflussten AKP-Regierung unterstützt wurde. Wenn hier von »inklusiver Staatsbürgerschaft« im Kontext der türkischen Debatten gesprochen wird, dann ist damit ein Konzept gemeint, das im Gegensatz zur bisherigen »republikanischen« und »differenzblinden« Staatsbürgerschaft kemalistischer Prägung in der Lage gesehen wird, kulturelle Differenzen zu integrieren und anzuerkennen. Ich gehe hier von der Annahme aus, dass genau diese »republikanische« Institution der Staatsbürgerschaft in der Türkei besonders seit den 1990er Jahren einer Kritik ausgesetzt ist, die diese als »türkisch-kulturell« und sogar ethnisch gefärbt bewertet und eine Neuformulierung als notwendig ansieht.3 Diese Neuformulierung tendiert zu einer »Konstitutionellen Staatsbürgerschaft« oder auch im Sinne Will Kymlickas zu einer »Multicultural Citizenship«.4 Folglich gehe ich davon aus, dass die türkische Problematik insbesondere mithilfe von Kymlickas Ansätzen und Begriffen analysiert werden kann, auch wenn diese zunächst für einen westlichen Kontext formuliert wurden. Trotz der historischen und politischen Brüche, die sich im türkischen Nationenbildungsund Modernisierungsprozess zeigen, so das vorliegende Argument, handelt es sich im türkischen Fall um moderne, an westliche Diskurse um Multikulturalismus und die Anerkennung von kultureller Differenz angelehnte Debatten. Diese Position werde ich im Kapitel IX begründen. Historisch und begrifflich betrachtet, werden im Rahmen dieser Untersuchung in Bezug auf die Konzepte von Nation, Staatsbürgerschaft und die Integration von ethno-kulturellen Gruppen in der Türkei folgende Problematiken und Fragen formuliert: Inwiefern stellt es ein Problem dar, wenn in der Türkei, wie auch in vielen historischen Nationalstaaten, eine ethnische Gruppe als die staatstragende Nation im Nationenbildungsprozess »periphere« ethnische Gruppen an diese assimiliert? Verlief dieser Prozess in Frankreich oder sogar in Deutschland histo-
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Hierzu siehe: Kaya, Ahmet und Tarhanli, Turgut (Hg.): Türkiye’de azinlik ve cogunluk politikalari. AB sürecinde yurttaslik tartismalari (Minderheiten- und Mehrheitenpolitiken in der Türkei. Die Debatten über Staatsbürgerschaft im Zuge des EU-Prozesses). TESEV Yayinlari (TESEV Editionen), Istanbul.
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Z.B. Oran, Baskin (2004a): Türkiye’de Azinliklar. Kavramlar, Teori, Lozan. Ic Mevzuat, Ictihat, Uygulama (Minderheiten in der Türkei. Begriffe, Theorie, Lausanne, Gesetzgebung, Auslegung, Praxis). Iletisim yayinlari, Istanbul oder Kurban, Dilek (2004a): Unravelling a Trade-Off: Reconciling Minority Rights and Full Citizenship in Turkey. In: European Yearbook of Minority Issues, Vol. 4, 2004/5, S. 341-372.
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Siehe Kymlicka, Will (1995a, 1999).
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risch nicht auf ähnliche Weise? Wurden z.B. in Frankreich die Bretonen, Okzitanier oder Elsässer nicht »wie von selbst« zu gleichen und gleichberechtigten Franzosen, die hiermit von nun an unter einem gemeinsamen Gesetz stehen sollten?5 Verlief die deutsche Nationenbildung nicht auch ähnlich, indem die polnische Bevölkerung Preußens als Teil des späteren Deutschen Reiches inkorporiert wurde? Einerseits sind diese Fragen richtig und berechtigt, indem sie das türkische Nationenbildungsprojekt auf das den meisten historischen Projekten dieser Art innewohnende Moment der kulturellen Homogenisierung zurückführen lassen, die als unabdingbar für die Herstellung einer gemeinsamen nationalen Kultur gilt. Andererseits kann – im Gegensatz zu Frankreich oder Deutschland – die wichtige kurdische Minoritätenfrage in den Grenzen der türkischen Republik auch heute noch nicht als friedlich gelöst gelten.6 Hier ist neben der zeitlichen Dimension des Vergleichs, die vor allem darin besteht, dass die türkische Nationenbildung mehr als hundertdreißig Jahre nach der Formulierung der Ideen der Französischen Revolution entstanden ist, auf die Tatsache hinzuweisen, dass es heute noch ernst zu nehmende Forderungen nach Anerkennung von kulturellen Rechten auf kurdischer Seite gibt. Konnten diese Forderungen im französischen
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Hierzu z.B. Hobsbawm, Eric J. (1996).
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Die kurdische Frage kann durch die Maßnahmen der AKP-Regierung als entschärft gelten, jedoch kommt sie immer wieder auf die politische Tagesordnung. Nachdem die Regierung im August 2009 ihre Pläne zur »demokratischen Öffnung« bekannt gegeben hatte, wurde im Dezember 2009 seitens des türkischen Verfassungsgerichts die pro-kurdische Partei DTP, die in den Wahlen von 2007 in die türkische Nationalversammlung gezogen war, einstimmig verboten. Der DTP wurden Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK (Partiya Karkeren Kurdistan) nachgesagt. Siehe Frankfurter Rundschau vom 11.12.2009: »Gericht verbietet Kurdenpartei DTP« und Frankfurter Rundschau vom 14.12.2009: »Parteienfriedhof Türkei«, von Gerd Höhler, S. 10. Der Umstand des Verbots kann als ein Widerstreit zwischen der gemäßigt islamischen AKP-Regierung, die eine »liberale« Politik der »Öffnung« betreibt und den Vertretern der kemalistischen Staatsdoktrin, die sich als Garanten des laizistisch-republikanischen Erbes sehen, gedeutet werden. Eine ähnliche Situation hatte sich in einem Verbotsverfahren gegen die AKP selbst ergeben. Hier waren die Argumente des Verfassungsgerichts, dass die AKP mit ihrer pro-islamischen Politik die laizistischen Grundwerte der Republik vernichten wolle. Die AKP als Regierungspartei wurde schließlich doch nicht verboten. Sie durfte ihre Geschäfte unter bestimmten Auflagen weiterführen.
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Fall7 – auf der Grundlage des verfassungsmäßig festgeschriebenen Konzepts einer unteilbaren Nation – durch ein auf individuelle Staatsbürgerrechte (citoyenneté individuelle)8 basierendes Verständnis von Franzose-Sein einen wenn auch begrenzten Artikulations- und Anerkennungsrahmen finden, so setzten ein sicherheitspolitisches Denken in der Türkei einer Anerkennungspolitik für die kurdische Bevölkerung ihre Grenzen. Die Tatsache, dass sich die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches von feindlichen Staaten umgeben sah sowie der Umstand, dass die kurdische Frage nicht auf die Türkei allein beschränkt ist, begünstigten bislang die interne Behandlung der kurdischen Frage als nationales Sicherheitsproblem, das als Bedrohung für die nationalen Grenzen der Republik Türkei gesehen wurde. Folglich wurden die kurdische Frage im Besonderen und die Minderheitenfragen im Allgemeinen bis in die 1990er Jahre hinein kaum als Problem von Staatsbürgerrechten betrachtet. Vor diesem kurz skizzierten historisch-begrifflichen Hintergrund kann der aktuelle Problembezug der Untersuchung folgendermaßen formuliert werden: Bei den Auseinandersetzungen um eine Neuformulierung von Nation und Staatsbürgerschaft in der Türkei handelt es sich um einen modernen Diskurs in einem nationalstaatlichen Rahmen »westlichen Typs«, der im türkischen Fall einige Besonderheiten aufweist: Während die zivile Regierung die kurdische Frage durch mehr kulturelle Rechte entschärfen möchte, berufen sich die kemalistischen Staatsvertreter/innen in der Justiz, im Militär und im Verwaltungsapparat auf einen von der Verfassung festgeschriebenen Nationenbegriff, wonach die
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Zur aktuellen Debatte um nationale Identität in Frankreich, die unter anderem auf eine Krise des – auf Assimilation beruhenden – republikanischen Integrationsmodells zurückzuführen ist und durch die Einrichtung eines »Ministeriums für Einwanderung, Integration, nationale Identität und solidarische Entwicklung« (Ministère de l’Immigration, de l’Intégration, de l’identité nationale et du Développement solidaire«) einen Höhepunkt erreicht hat, siehe z.B.: Noiriel, Gérard (2007): A quoi sert »l’identité nationale«. Marseille oder auch Meyran, Régis (2009): Le mythe de l’identité nationale. Paris. Siehe zur allgemeinen Debatte um Multikulturalismus und Nation in Frankreich auch: Wieviorka, Michel (1997): Une société fragmentée? Le multiculturalisme en débat. Paris; Union des étudiants juifs de France (Hg.) (2004): Les enfants de la République. Y a-t-il un bon usage des communautés? Paris; oder Schnapper, Dominique (2007): Qu’est-ce que l’intégration? Paris.
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Hierzu Schnapper, Dominique (2004, 135)
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Nation eins und unteilbar ist und ein Ganzes mit dem Staat darstellt.9 Überspitzt formuliert: Die Nation und ihre Staatsbürger/innen wurden und werden in diesem Sinne vom Staatsapparat als »Nation des Staates« definiert, d.h. als durch diesen hervorgebracht. Diese Definition hat einen totalen Charakter, der im verfassungsmäßigen und durch die kemalistische Staatsdoktrin vorgegebenen Rahmen zum Ausdruck kommt, in dem Devianzen von der politisch, kulturell und religiös total definierten Nation als nicht hinnehmbar gelten. Es handelt sich hierbei um einen Widerstreit zwischen einer offiziellen Staatsdoktrin, die jegliche öffentlich artikulierte ethno-kulturelle Differenz im Korpus der Nation verbot und verbietet, sich andererseits aber zunehmend dem gesellschaftlichen Faktum von Forderungen nach Anerkennung ethno-kultureller Differenz ausgesetzt sieht. Während die Begriffe »Minderheit« oder »Kurden« im offiziellen Sprachgebrauch lange Zeit nicht existierten, sieht sich die offizielle Staatsdoktrin dem zunehmenden Gebrauch dieser Begriffe ausgesetzt, die als Teil einer seit Beginn der 1980er Jahre andauernden zivilgesellschaftlichen und medial vermittelten Debatte zur Beschreibung der gesellschaftlichen Problemlage in üppiger Weise benutzt werden. Dabei reicht das Spektrum der Begriffe, die in dieser Debatte benutzt werden, von der Rede über die »Türken und Kurden« (als die Gesamtbevölkerung der Türkei hauptsächlich konstituierende Bevölkerungsgruppen) über »unsere kurdischstämmigen Mitbürger« bis zum Ausdruck »Türkiyeli« (»Einwohner der Türkei«), der die offiziell und gesellschaftlich gängige Bezeichnung für die Staatsbevölkerung »Türk« als ethnisch kritisiert und dekonstruiert. Die Bezeichnung »Türkiyeli« versteht sich als inklusiv und repräsentativ gegenüber allen in der Türkei lebenden ethno-kulturellen Gruppen und begreift die türkische Gruppe somit als eine unter anderen. Damit stellt sie die offizielle Auslegung in Frage, wonach alle Staatsbürger/innen in der Türkei Türken und damit gleich seien. Im Anschluss an die insbesondere von Will Kymlicka formulierte Kritik am »differenzblinden« Nationalstaat10 wird im Zusammenhang mit dieser Debatte untersucht, inwiefern die formell-juristische Gleichheit der türkischen Staatsbür-
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In zahlreichen Verfassungsvorschriften gibt es die Formel von der »unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk«. Der Nationalismus gilt als Verfassungsprinzip und Türkisch wird als die »Sprache des Staates« bezeichnet. Zudem verbietet der Gleichheitssatz der Verfassung (Art. 10) »Unterschiede in Sprache, Rasse, Religion oder Bekenntnis zu schaffen oder auf sonstigem Wege eine auf diesen Begriffen und Ansichten beruhende Staatsordnung zu gründen.« Hierzu Rumpf, Christian (2004, 74): Einführung in das türkische Recht. München.
10 Kymlicka, Will (1995a, 1999).
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ger/innen ethno-kulturelle Differenz zu integrieren und anzuerkennen in der Lage ist. Konnte und kann Türkisch-Sein als eine rein ethnische Kategorie verstanden werden? Inwiefern wird das Türkisch-Sein als staatsbürgerliche Kategorie neu definiert und erweitert, um die Forderungen ethno-kultureller Gruppen nach Anerkennung aufzunehmen? Im Sinne Charles Taylors (1997) normativ gefragt: Inwieweit ist im türkischen Fall eine Politik der Anerkennung erforderlich und sinnvoll, um vergangene Ungerechtigkeiten, die in der bisherigen Nichtanerkennung bestehen würden, abzumildern? Zeichnet sich hierbei eher eine auf individuelle kulturelle Rechte oder auf Kollektivrechte basierende Anerkennung ab? Bergen Kollektivrechte nicht die Gefahr der ethnischen Gruppenbildung unterhalb des Nationalstaates und führen ihrerseits zu illiberalen Praktiken gegen »Andere« innerhalb dieser Gruppe? Ist schließlich in multikulturellen und multinationalen Staaten, wie Belgien, Spanien oder Kanada die gleichberechtigte Koexistenz von zwei oder mehr Gruppen eine Gewähr für ein gerechtes und friedliches Zusammenleben? Wo kann der türkische Fall in diesem Kontext situiert werden? Zeichnet sich ein türkisches Modell der Inklusion von kultureller Differenz ab, das sich von anderen, westlichen Modellen des Multikulturalismus abheben würde? Bei der Analyse der Problematik des »Multicultural Citizenship« im Allgemeinen und im Besonderen für den türkischen Fall hebt sich der von Will Kymlicka vertretene Ansatz von anderen Theoretiker/innen dadurch ab, dass er eine explizite Theorie von Minderheitenrechten entwickelt hat. Die ausführliche Auseinandersetzung mit seinem Ansatz im Rahmen dieser Untersuchung kann folglich damit begründet werden, dass er einerseits die allgemeine theoretische Debatte um ethno-kulturelle Gruppen bündelt und darauf fokussiert, wie mit »ethno-kultureller Differenz« innerhalb von »multikulturellen Gesellschaften« umzugehen ist. Andererseits gehe ich davon aus, dass seine Begriffe und Ansätze gerade wegen der »Multikulturalität« im türkischen Fall fruchtbar auf diesen angewandt werden können, auch wenn sie eines theoretischen »Korrektivs« bedürfen, das insbesondere in der von Seyla Benhabib11 formulierten Kritik an Kymlickas Ansatz gesehen wird (hierzu Kapitel IX.2.2). Darüber hinaus können auch anhand des empirischen Beispiels der türkischen Diskussionen Kymlickas theoretische Ansätze und Begriffe einer kritischen Analyse unterzogen werden. Insbesondere sein Gruppenbegriff wird hier einer kritischen Untersuchung standhalten müssen, wie am Beispiel der kurdischen Gruppe gezeigt wird (hierzu Kapitel IX).
11 Siehe insbesondere Benhabib, Seyla (2000).
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Durch die Analyse des empirischen Falles der Türkei bettet sich die vorliegende Untersuchung in einen breiteren theoretischen Problembezug ein, der folgendermaßen beschrieben werden kann: Nation und Staatsbürgerschaft sind Konzepte, die eng mit Bürgerrechten verbunden sind. Die Staatsbürger/innen erhalten über ihren Status als Mitglieder in einem Nationalstaat bestimmte Rechte, die sie als formell gleichberechtigte Staatsbürger/innen in ein demos einbinden. Die formelle Gleichheit ist in diesem Sinne zunächst eine abstrakte juristische Kategorie, die Staatsbürger/innen als gleichberechtigte Personen vor dem Gesetz behandeln soll. Nach dem idealtypischen republikanischen aber auch liberalen Modell von Nation und Staatsbürgerschaft haben diese im öffentlichen Bereich differenzblind zu sein, d.h. sie sollen nicht »sensibel« und anerkennend gegenüber ethno-kulturellen oder religiösen Differenzen innerhalb der eigenen Bevölkerung sein.12 Somit wird ein allgemeiner, abstrakter Gleichheitsgrundsatz in der öffentlichen Sphäre sichergestellt und kulturelle Differenzen werden in die private Sphäre verdrängt. In den letzten Jahrzehnten wurde dieser Umstand durch Einwanderung in als sprachlich-kulturell relativ homogen geltende europäische Nationalstaaten und durch kulturelle Pluralisierung intensiv in Frage gestellt. Gleichzeitig kam es in vielen etablierten Nationalstaaten nach dem Zusammenbruch des Ostblocks weltweit zu einem renouveau von autochthonen ethno-kulturellen Gruppen, die durch ihre Forderungen nach Anerkennung kultureller Rechte – sofern sie nicht schon solche Rechte hatten – das Konzept des auf einer homogenen Kultur basierenden Nationalstaates in Frage stellten. Auch in der Türkei fand dieser Prozess statt. Dabei ist die türkische Diskussion weniger auf die Integration von Einwanderern fokussiert als auf die Frage der Integration von autochthonen Gruppen. Nicht erst wegen der EU-Integrationsdebatte stellt sich die Frage, inwiefern die Debatten um Nation, Staatsbürgerschaft und die Anerkennung von ethno-kulturellen Gruppen in der Türkei eine »europäisierte«, d.h. eine an die Erfüllung von EU-Beitrittskriterien angelehnte Debatte ist. Sondern: seit ihrer Gründung im Jahr 1923 beansprucht die Türkei als formell säkularer und demokratischer Nationalstaat eine europäische und westliche Vokation, die sich in den Reformen zum »Anschluss« an die westliche Zivilisation offenbaren. Die Debatten um Nation, Staatsbürgerschaft und ethno-kulturelle Gruppen können nicht mehr als an einen geschlossenen nationalstaatlichen Raum gebun-
12 Hiermit sind nicht diejenigen Staaten gemeint, in denen mehrere nationale Gruppen offiziell als Teil der Nation oder Gesellschaft anerkannt sind. So z.B. Belgien, Schweiz oder Kanada.
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den gedacht werden, sondern bedürfen des Mitdenkens der Konsequenzen von Migration, Globalisierung und Forderungen von ethno-kulturellen Gruppen in etablierten Nationalstaaten, die zudem einem Souveränitäts- und Kompetenzverlust gegenüber stehen. Folglich lässt sich die vorliegende Auseinandersetzung mit dem empirischen Fall der Debatte um Nation, Staatsbürgerschaft und Multikulturelle Staatsbürgerschaft in der Türkei einerseits in den breiteren Kontext der Debatten um den Nationalstaat transzendierende, d.h. postnationale und kosmopolitische Konzeptionen von Mitgliedschaft situieren. Andererseits verliert auch der Glaube an die fortbestehende Bedeutung des »liberalen« Nationalstaates, der sich sowohl an die Bedingungen der Globalisierung anpasst als auch die Forderungen nach Anerkennung ethno-kultureller Differenz integriert, weiterhin nicht an Relevanz.13 Indem die Untersuchung die türkische Debatte in diesen breiteren Kontext setzt, fragt sie auch danach, inwiefern die türkischen Debatten um Nation, Staatsbürgerschaft und Multikulturelle Staatsbürgerschaft »anschlussfähig« an »westliche« bzw. globale Debatten in diesem Feld sind. Worin unterscheiden sich die türkischen Debatten möglicherweise von anderen Fällen? Die Arbeit sieht ihren Beitrag in diesem Zusammenhang auch in einer Transferleistung, nämlich in der Übertragung und »Anschlussfähigmachung« der türkischen Debatte um Nation, Staatsbürgerschaft und Multikulturelle Staatsbürgerschaft an die Auseinandersetzung über die Bedeutung und Relevanz des Nationalstaates im Allgemeinen und an die »EuropatauglichkeitsDebatte« der Türkei im Besonderen.14 In einem ersten Kapitel (I) wird ein Überblick über den Stand der Forschung zu Nation, Staatsbürgerschaft und ethno-kulturellen Gruppen in der Türkei gegeben. Anschließend werden die Forschungsfragen und Hypothesen der Arbeit
13 Zur Debatte zwischen Anhänger/innen kosmopolitischer Konzeptionen einer »Weltgesellschaft« einerseits und Verfechtern der Persistenz des liberalen Nationalstaates andererseits siehe: Post, Robert (Hg.) (2008): Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte. Frankfurt a.M. Positionen des liberalen Nationalismus werden insbesondere Will Kymlicka, Charles Taylor, Yael Tamir, David Miller und Margaret Canovan zugeschrieben. Iris Marion Young führt den liberalen Nationalismus und seine sozialphilosophische Verteidigung als Antwort auf den der meisten Moral- und politischen Theorie zugrunde liegenden »kosmopolitischen Individualismus« an (Young 2002, 93). 14 Zu dieser Frage und Debatte siehe Kramer, Heinz (2003): EU-kompatibel oder nicht? Zur Debatte um die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union. SWPStudie, S 34, August 2003, Berlin.
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sowie zentrale Begriffe expliziert, und es wird auf das Forschungsdesign der Arbeit eingegangen. Das zweite Kapitel (II) beschäftigt sich mit Theorien des Nationalstaates und dessen gegenwärtiger Bedeutung, um im dritten Kapitel (III) mithilfe der zuvor erarbeiteten Begrifflichkeit das türkische Nationenverständnis und die Herausbildung des Nationalstaates in der Türkei zu analysieren. Das vierte Kapitel (IV) leitet von der Analyse der Herausbildung der Nationalgesellschaft in der Türkei über zur Frage, wie Staatsbürgerschaft innerhalb der Nation gedacht wurde und wird. Die Mikroebene der »Staatsbürgerschaft« wird hier im Gegensatz zur Makroebene der »Nation« als eine analytische Ebene gesehen, bei der die Staatsbürger/innen mit ihren konkreten Rechten sichtbar werden. Folglich kann danach gefragt werden, wer unter welchen Bedingungen als Staatsbürger/in definiert wurde. In diesem Kapitel werden zentrale Begriffe und Themen der Staatsbürgerschaft erarbeitet, um sie im fünften Kapitel (V) für den türkischen Fall zur Anwendung zu bringen. Im sechsten Kapitel (VI) wird auf die Problematik der Integration und Anerkennung von ethno-kulturellen Gruppen in der Türkei eingegangen und es wird die historische Dimension der Problematik dargestellt. Im siebten Kapitel (VII) wird die öffentliche Debatte um Nation, Staatsbürgerschaft und die Anerkennung von ethno-kulturellen Gruppen dargestellt, wobei der Schwerpunkt auf die Zeit nach 1990 gelegt wird. Einerseits wird die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung in Hinblick darauf analysiert, welche Probleme im türkischen Fall der Nationenbildung, Staatsbürgerschaft und Inklusion von ethno-kulturellen Gruppen diskutiert werden. Andererseits werden hier auch einzelne Ansätze aus der türkischen Politik herausgearbeitet, die z.B. mit dem Konzept der »Konstitutionellen Staatsbürgerschaft« operierten. Das achte Kapitel (VIII) widmet sich der Frage, inwiefern die Debatte um die EU-Integration einen Einfluss auf die innere Debatte um Anerkennung ethnokultureller Gruppen in der Türkei ausübt. Welche Reformen wurden in diesem Prozess im Bereich der Minderheitenrechte durchgeführt und institutionalisiert? Wie verhält es sich mit der »EU-Kompatibilität« der türkischen Politik? Das neunte Kapitel schließlich versucht die Debatten um Nation, Staatsbürgerschaft und die Integration von ethno-kulturellen Gruppen in der Türkei im Kontext einer generelleren Auseinandersetzung um die Inklusion solcher Gruppen zu beleuchten. Hier wird insbesondere danach gefragt, inwieweit ein westlich geprägter Ansatz zu Multikultureller Staatsbürgerschaft, vor allem um Will Kymlickas Arbeiten herum, für die Analyse der türkischen Debatten angewandt und für die Erklärung dieser eingesetzt werden kann.
I. Zum Forschungsrahmen der Arbeit
1. N ATION , S TAATSBÜRGERSCHAFT UND M ULTIKULTURELLE S TAATSBÜRGERSCHAFT IN DER T ÜRKEI : EIN Ü BERBLICK ÜBER DEN S TAND DER F ORSCHUNG Die folgende Beschreibung des Stands der Forschung kann an dieser Stelle keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern möchte zunächst einen Überblick über die Facetten und die Stränge der türkischen Diskussion verschaffen.1 Die in dieser Arbeit behandelte Thematik des Nationenverständnisses und der Institution der Staatsbürgerschaft in der Türkei in Verbindung mit der Frage, wie diese sich zu ethno-kulturellen Gruppen verhält, ist in zahlreichen Arbeiten zum Gegenstand der Forschung gemacht worden.2 Die kurdische Frage z.B. wurde zumeist als eigenständige Fragestellung bearbeitet, deren Entstehen zwar im Kontext des türkischen Nationenbildungsprozesses analysiert, die jedoch seltener einer Betrachtung im Lichte der Staatsbürgerschaft unterzogen wurde. Das Prinzip der Egalität unter Staatsbürger/innen, das auch im türkischen Verständnis des Nationalen postuliert wurde, wird in zahlreichen Arbeiten problematisiert.3 Hier wird vor allem anhand der Dichotomie des ethnischen und 1
Auf die relevante Literatur zum Gegenstand dieser Arbeit wird ohnehin im Laufe der
2
Insbesondere Keyman, E. Fuat (2005); Baban, Feyzi (2005), Soner, B. Ali (2005)
3
Siehe insbesondere die Arbeiten von Kurban, Dilek (2003): Confronting Equality: The
Untersuchung Bezug genommen werden.
Need for the Constitutional Protection of Minorities on Turkey’s Path to the European Union. In: Columbia Human Rights Law Review, 35:101/2003, S. 151-223 oder Kurban, Dilek (2004b): Türkiye’nin azinlik sorununun anayasal cözümü: Esitlik ile yüzles(me)mek (Die verfassungsrechtliche Lösung der Minderheitenfragen der Türkei: Sich (nicht) mit Gleichheit auseinandersetzen). In: Birikim, Dezember 2004, S. 36-44.
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politischen Verständnisses von Nation4 untersucht, wen das sich mit der Republikgründung etablierende Verständnis der türkischen Nation unter welchen Bedingungen als zur nationalen Gemeinschaft zugehörig definiert hat.5
Zur generellen Diskussion um Staatsbürgerschaft, Demokratie und Identität siehe vor allem die Beiträge im Band: Cumhuriyet, Demokrasi ve Kimlik (Republik, Demokratie und Identität), Bilgin, Nuri (Hg.) (1997): Symposium der Ege-Universität Izmir. Istanbul, Baglam yayincilik 4
Siehe: Kadioglu, Ayse (1996): The Paradox of Turkish Nationalism and the Construction of Official Identity. In: Middle Eastern studies, 32/2, April 1996, S. 177-193; auch Kadioglu, Ayse (2002); Yildiz, Ahmet (2001): »Ne mutlu Türküm diyebilene«. Türk ulusal kimliginin etnoseküler sinirlari (1919-1938) (»Glücklich, der von sich sagen kann, ich bin eine Türke«. Die ethno-säkularen Grenzen der türkischen nationalen Identität [1919-1938]). Iletisim yayinlari, Istanbul; Akcam, Taner (1997): Hizla türklesiyoruz (Mit hoher Geschwindigkeit werden wir zu Türken). In: Cumhuriyet, Demokrasi ve Kimlik (Republik, Demokratie und Identität), Hg.: Bilgin, Nuri. Symposium der Ege-Universität Izmir. Baglam yayincilik, Istanbul, S. 143-158; Maksudyan, Nazan (2007): Türklügü ölcmek. Bilimkurgusal Antropoloji ve Türk milliyetciliginin irkci cehresi 1925-1939 (Das Türkentum vermessen. Die fiktionale [engl.: science-fictive] Anthropologie und das rassistische Gesicht des türkischen Nationalismus 1925-1939). Metis yayinlari, 2. Aufl., Istanbul. Maksudyan untersucht in dieser Studie unter anderem anhand der Zeitschrift Türk Antroploji Mecmuasi (»Sammlung der türkischen Anthropologie«), erschienen von 1925-1939, die damaligen Bemühungen zur Begründung des türkischen Nationalismus im Sinne einer gemeinsamen rassischen Herkunft der Türken; Bora, Tanil (1995): Milliyetciligin kara bahari (»Der schwarze Frühling des Nationalismus«). Birikim yayinlari, 2. Aufl., Istanbul. Der Autor setzt sich mit diversen Aspekten des türkischen Nationalismus vor dem Hintergrund politischer Umbrüche (das Ende der Sowjetunion und die Neubestimmung des Verhältnisses der Türkei zu den so genannten Turkrepubliken) und kriegerischer Konflikte in den 1990er Jahren (der Golfkrieg und die neue Rolle der Türkei sowie der Jugoslawien-Krieg und das Verhältnis des türkischen Nationalismus zur Balkanfrage) auseinander. Insbesondere unterscheidet er fünf wichtige Formen des türkischen Nationalismus und Nation-Verständnisses, die in Konkurrenz zueinander stehen, und die je nach politischer und gesellschaftlicher Situation unterschiedlich nachgefragt werden können.
5
U.a. auch Gündüz, Eran (2005): Das türkische und französische Nation-Verständnis im Vergleich. Zwischen staatsbürgerlicher Gleichheit und kultureller Differenz. Frankfurt a.M.
I. ZUM FORSCHUNGSRAHMEN DER ARBEIT | 27
Folglich ist die Menge der Arbeiten, die sich mit der Genese des türkischen Nationalismus6 historisch auseinandersetzen, groß. Häufig findet diese Auseinandersetzung mit dem türkischen Nationenbegriff im Rahmen einer generellen Auseinandersetzung mit der türkischen Staatsgründung und dem Prozess der politischen und gesellschaftlichen Modernisierung durch den Kemalismus7 statt. Arbeiten, die die Institution der Staatsbürgerschaft8 in der Türkei historisch und sozialwissenschaftlich untersuchen, sind hingegen kleiner an der Zahl. Erst
6
Aguicenoglu, Hüseyin (1997): Genese der türkischen und kurdischen Nationalismen im Vergleich. Vom islamisch-osmanischen Universalismus zum nationalen Konflikt. Heidelberger Studien zur internationalen Politik, Band 5, Münster; Kieser, Hans-Lukas (Hg.) (2006): Turkey beyond nationalism: Towards post-national identities. New York. Dieser Band setzt sich einerseits mit der historischen Genese des türkischen Nationalismus auseinander, andererseits werden Aspekte einer möglichen Transformation (im Sinne einer Überwindung eines monokulturellen NationVerständnisses) des türkischen Nationalismus hin zu einem »postnationalen« und pluralistischen Gesellschaftsmodell beleuchtet; Akcam, Taner (1995): Türk ulusal kimligi ve Ermeni sorunu (Die türkische nationale Identität und die armenische Frage). Iletisim yayinlari, 4. Aufl., Istanbul.
7
Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kemalismus und seiner gesellschaftspolitischen Bedeutung siehe: Parla, Taha; Davison, Andrew (2004): Corporatist ideology in Kemalist Turkey. Progress or order? New York. Für eine eingehende Analyse der kemalistischen Staatsdoktrin und ihrer Bedeutung für den EU-Beitrittsprozess siehe: Bezwan, Naif (2008): Türkei und Europa. Die Staatsdoktrin der Türkischen Republik, ihre Aufnahme in die EU und die kurdische Nationalfrage. Baden Baden. Eine eingehende und umfangreiche Auseinandersetzung mit unterschiedlichen historischen, ideologischen und sozio-politischen Aspekten, unter anderem auch mit dem Nation- und Staatsbürgerschaftsverständnis des Kemalismus bietet: Insel, Ahmet (Hg.) (2002): Modern Türkiye’de siyasi düsünce: Kemalizm (Politisches Denken in der modernen Türkei: Kemalismus). Bd. 2, Iletisim yayincilik, 3. Aufl., Istanbul.
8
Siehe die Aufsatzsammlung: 75 yilda Tebaa’dan Yurttas’a dogru (In 75 Jahren vom Untertan zum Staatsbürger). Ünsal, Artun (Hg.) (1998). Tarih Vakfi yayinlari, Istanbul. Insbesondere zu nennen ist auch die Arbeit von Üstel, Füsun (2004): »Makbul Vatandas"in pesinde. II. Mesrutiyet’ten bugüne vatandaslik egitimi (Auf der Suche nach dem »annehmbaren Staatsbürger«. Die Staatsbürgerkunde seit der 2. konstitutionellen Periode). Iletisim Yayinlari, Istanbul, ebenso Üstel, Füsun (2002): Die Autorin untersucht anhand von Schulbüchern den Begriff von Staatsbürgerschaft in den verschiedenen Perioden seit dem Ende des Osmanischen Reiches bis heute. Zur Institution der Staatsbürger-
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seit Anfang der 1990er Jahre – mit dem verstärkten Aufkommen von Forderungen nach Anerkennung durch ethno-kulturelle Gruppen – entsteht zunehmend eine wissenschaftliche Literatur, die das Verhältnis des türkischen National- und Staatsbürgerschaftsverständisses zu ethno-kulturellen Gruppen problematisiert.9 Schließlich entsteht zur selben Zeit durch eine stärkere Rezeption westlicher Literatur auch eine sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit »Konstitutioneller Staatsbürgerschaft«, die in Hinblick auf ihre Inklusionsfähigkeit gegenüber ethno-kulturellen Gruppen diskutiert wird. Seitdem sich abzeichnete, dass die Türkei den Status einer Beitrittskandidatin für die EU erhalten würde, beschäftigte sich die sozialwissenschaftliche Literatur zunehmend auch mit dem Verhältnis zwischen Nationalismus, Minderheitenrechten, der Definition von Türkisch-Sein, der Institution der Staatsbürgerschaft und dem EU-Integrationsprozess. Diese Literatur ist dementsprechend relativ jung.10 Ein neuerer Strang der türkischen »Staatsbürgerschaftsforschung« beschäftigt sich zunehmend auch mit den Konsequenzen der Dissoziation von Staatsbürgerschaftsstatus und individuellen Rechten.11 Die Debatte über eine »multikulturelle Staatsbürgerschaft« kann als relativ jung bezeichnet werden.12
schaft siehe auch: Keyman, E. Fuat und Icduygu, Ahmet (Hg.) (2005): Citizenship in a Global World. European questions and Turkish experiences. London 9
Siehe insbesondere die hier zitierten Arbeiten von Keyman, E. Fuat und Kadioglu, Ayse.
10 Kaya, Ayhan und Tarhanli, Turgut (Hg.) (2005): Türkiye’de azinlik ve cogunluk politikalari. AB sürecinde yurttaslik tartismalari (Minderheiten- und Mehrheitenpolitiken in der Türkei. Die Debatten über Staatsbürgerschaft im Zuge des EU-Prozesses). TESEV Yayinlari (TESEV Editionen), Istanbul; Özkirimli, Umut (2008): Milliyetcilik ve Türkiye-Avrupa Birligi Iliskileri (Nationalismus und die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU). TESEV yayinlari (TESEV Editionen), Istanbul. Der Autor untersucht anhand von wissenschaftlicher Literatur, Umfragen und Zeitungsartikeln die Frage, inwiefern es im Zuge der EU-Beitrittsdiskussion einen Anstieg des Nationalismus in der türkischen Gesellschaft gibt. Er relativiert die These eines außerordentlichen Anstiegs des Nationalismus seit dem Jahr 1999, indem er den Nationalismus als ohnehin konstitutiven und hegemonialen Bestandteil von Politik und Gesellschaft in der Türkei betrachtet. 11 Siehe Kadioglu, Ayse (Hg.) (2008): Vatandasligin dönüsümü. Üyelikten haklara (Der Wandel der Staatsbürgerschaft. Von der Mitgliedschaft zu Rechten). Metis yayinlari, Istanbul. 12 Siehe Keyman, E. Fuat (2008): Türkiye’de cokkültürlü anayasal vatandaslik ve demokratiklesme (Multikulturelle konstitutionelle Staatsbürgerschaft in der Türkei und Demokratisierung). In: Kadioglu, Ayse (Hg.) (2008): Vatandasligin dönüsümü. Üye-
I. ZUM FORSCHUNGSRAHMEN DER ARBEIT | 29
Die vorliegende Arbeit bündelt und diskutiert die hier dargestellte wissenschaftliche Literatur und schließt somit als eigener Beitrag an diese an.
2. F ORSCHUNGSFRAGEN
UND
E RKENNTNISINTERESSE
Fuat Keymans folgende Problematisierung für die Türkei nach 1990 kann als Ausgangspunkt der hier zu formulierenden Forschungsfragen angesehen werden: »[…] if it is true that the possibility of the project of democracy has been impeded by the essentialist and communitarian claims to identity, then it is necessary to think of identity in relation of difference, to problematize any unifying and totalizing notion of identity, to put identity under an historical investigation to discover how it is constituted in relation to difference, that is to recognize that the very unity of an identity is always achieved through the practice of the exclusion of other identities« (Keyman 2000, 88).
Darüber hinaus stellt Keyman fest: »[…] one of the effective strategies against the predominance of essentialism in Turkish politics of the 1990s would be to investigate the historical and discursive construction and reproduction of nationalism and national identity in such a way to see how ›Turkey has been and continues to be made‹. This entails posing the question of Kemalist nationalism as a theoretical and historical object of inquiry« (Keyman 2000, 89; Hervorh. im Original).
Ich setze mich im Sinne von Fuat Keymans obigen Feststellungen mit der Frage auseinander, inwiefern und ob das türkische Verständnis von Nation, wie es seit der türkischen Republikgründung von offizieller staatlicher Seite formuliert wurde und sich seitdem historisch entwickelt hat, dem Kriterium der nationalkulturellen Egalität zwischen Staatsbürger/innen genügt. Die Egalität wird über die formal-juristische Gleichheit der Staatsbürger/innen hinausgehend unter dem Gesichtspunkt der »ethno-kulturellen Gleichheit« oder »ethno-cultural justice« (Kymlicka) analysiert. Es wird folglich nach dem ethno-kulturelle Differenz zulassenden und anerkennenden Potential des türkischen Verständnisses von Nation und Staatsbürgerschaft gefragt. Mit dem Begriff »Potential« wird einerseits darauf Bezug genommen, dass es bestimmte historische Determinanten des türkischen Nation- und Staatsbürgerschaftsver-
likten haklara (Der Wandel der Staatsbürgerschaft. Von der Mitgliedschaft zu Rechten). Metis yayinlari, Istanbul, S. 218-244.
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ständnisses gibt, auf die in den Kapiteln III und V eingegangen wird. Andererseits impliziert »Potential« auch einen möglichen Veränderungsprozess und meint in dem hier benutzten Sinn, dass das türkische Nation- und Staatsbürgerschaftsverständnis historisch gesehen weder statisch noch konstant ist. Jedoch legen die besagten Determinanten, die in der historischen Konstituierung, theoretischen und gesellschaftspolitischen Konzeption des türkischen Nation- und Staatsbürgerschaftsverständnisses bestehen, die Grenzen dieses Veränderungsprozesses bis zu einem bestimmten Grad fest. Hierbei stellt das kemalistische Staats- und Gesellschaftsverständnis eine wichtige Grenze für diesen Veränderungsprozess dar. Die Frage der Egalität wird hier folglich nicht primär aus Sicht der ökonomischen Gleichheit von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen untersucht, auch wenn die ökonomische Ressourcenverteilung ein wichtiges Standbein neben den auf kulturelle Anerkennung basierenden Politiken in modernen Gesellschaften ist (Fraser, 2002). Der Fokus der Arbeit liegt auf der Frage der Anerkennung von kulturellen Besonderheiten, die eine bestimmte Gruppe für sich beansprucht (siehe Fraser und Honneth 2003). Es geht hier nicht darum, die Frage der gesellschaftlichen Anerkennung auf eine Frage der kulturellen Anerkennung zu reduzieren. Ebenso wenig geht es darum, eine Hierarchie zwischen diesen aufzustellen. Vielmehr geht es bei dieser Argumentation um kulturelle Anerkennung im Sinne Charles Taylors (1997), die dazu herangezogen werden kann, vergangenes Unrecht und Leiden, das Nicht-Anerkennung verursacht haben könnte, zu mildern. In der Türkei wurde lange Zeit eine Politik der kulturellen Nicht-Anerkennung gegenüber Kurden im Besonderen und ethno-kulturellen Differenzen im Allgemeinen betrieben. Folglich ist es eine Frage, inwieweit die kulturelle Anerkennung in der Türkei zunächst nicht prioritär gegenüber einer ökonomischen Gleichstellungspolitik ist. Fragen der ökonomischen Gleichheit scheinen aus Sicht einer liberalen Wirtschaftspolitik, die in der Türkei seit den 1980er Jahren vorherrschend ist, weniger problematisch zu sein. In diesem Sinne kann überspitzt formuliert werden, dass hier die Ökonomie egalitärer und differenzblinder gegenüber ethno-kulturellen Gruppen war als die Politik, die von einem türkisch geprägten »Staatsnationalismus« (Akan 2003) dominiert wurde. Dieser Behauptung kann entgegengesetzt werden, dass vor allem der kurdische Südosten der Türkei eine der wirtschaftlich am meisten vernachlässigten Regionen der Türkei ist. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass eine allein auf die ökonomische Gerechtigkeit zielende Politik nicht ausreichend wäre, solange sie nicht von kultureller Anerkennung begleitet wird. Dies kann damit begründet werden, dass das dominierende Verständnis von Nation und Staatsbürgerschaft
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seit der Gründung der Republik auf Nicht-Anerkennung, Assimilation und Verleugnung von nicht-türkischen Gruppen gegründet war und teilweise noch ist. Wie oben erwähnt, ist das Verständnis von Nation und Staatsbürgerschaft nicht statisch und über die Zeit veränderbar. Jedoch kann seit der türkischen Staatsgründung 1923 bis heute eine dominante, staatstragende Version des türkischen Nation-Verständnisses, nämlich der offizielle oder Atatürksche Nationalismus, ausgemacht werden (Bora 199513, auch Özkirimli 2008). Folglich besteht ein Hauptthema der Arbeit darin, den strukturellen Einfluss dieser dominanten Form von Nationalismus und Staatsbürgerschaft in der Türkei zu diskutieren.
13 Nach Tanil Bora können fünf Stränge des türkischen Nationalismus unterschieden werden. Dabei berufen sich die ersten drei Formen auf ein klassisches territoriales Nationalismus-Verständnis, während die letzten beiden Formen einerseits auf religiöse und andererseits auf kulturell-ethnische Gemeinsamkeiten rekurrierend expansiv sind. Die unterscheidbaren Formen sind Folgende: 1.: Der »offizielle Nationalismus« oder der »Nationalismus Atatürks« (»Resmi milliyetcilik« oder »Atatürk milliyetciligi«) ist hierbei die dominierende, staatlich institutionalisierte Form. Er wird durch die staatlichen Institutionen und die offizielle kemalistische Ideologie gestützt und reproduziert. Dabei wird er als staatsbürgerlich-territoriales Konzept des Nationalismus angesehen, weil davon ausgegangen wird, dass er prinzipiell jeden, der sich dazu bekennt, als Türken akzeptiert. 2.: Der »Kemalistische Nationalimus« (»Kemalist ulusculuk«), der auf den »Linken Kemalismus« der 1960er Jahre zurückgeht und sich als »linke Alternative« zum offiziellen Nationalismus versteht. Dieser Strang des türkischen Nationalismus beruft sich auf Laizismus, beinhaltet aber auch eine Ablehnung des Westens und xenophobische Elemente, da er den Gedanken der nationalen Souveränität und Unabhängigkeit besonders hervorhebt. 3.: Der liberale, neue Nationalismus (»Liberal ›yeni milliyetcilik‹«). Er bedient sich des modernistisch-westlichen Aspekts des offiziellen Nationalismus, wobei er die »nationale Identität« als auf der Grundlage der Begeisterung für und der Fähigkeit zum Erreichen des westlichen Wohlstandsniveaus beruhend definiert. 4.: Der radikale türkistische Nationalismus (»Türkcü radikal milliyetcilik«). Der türkistische Gedanke sieht die gesamte »Turkwelt« als Heimat der Türken an und ist mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder aufgekommen. Dabei hat er sich von seinen rassistischen Inhalten teilweise distanziert und hat einen stärkeren historisch-kulturellen Essentialismus angenommen. 5.: Der nationalistische Diskurs von islamisch Orientierten (Islamciliktaki milliyetcilik) sieht die Türkei in der Führungsrolle der islamischen Welt. Dieser Nationalismus zeichnet sich auch durch xenophobische und antiwestliche Züge aus (hierzu siehe Bora 1995a, 95-131, auch Bora 2002b, 18-20).
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Eine weitere zentrale Frage, der diese Arbeit nachgeht, ist, inwieweit das dominante türkische Nation- und Staatsbürgerschaftsverständnis, wie es in der offiziell-staatlichen Form zum Ausdruck kommt, sich historisch an europäische Modelle der Nation anlehnt. Wenn dem so ist, welche Schlüsse können daraus für die heutige Debatte um Nation und Staatsbürgerschaft gezogen werden? Das türkische Verständnis des Nationalstaates wird im politischen und wissenschaftlichen Diskurs als vom republikanischen französischen Modell beeinflusst gesehen (hierzu u.a. Gündüz 2005; Kadioglu 1996, 1998, 2005, Bora 1995b). Jedoch werden dem türkischen Nationalverständnis auch Anleihen vom als ethnisch gedachten deutschen Nationalismus zugeschrieben (Kadioglu 1996, Bora 1996). Auf diesem konzeptuellen und historischen Hintergrund aufbauend, wird im Rahmen dieser Arbeit untersucht, ob und inwieweit das türkische Nation- und Staatsbürgerschaftsverständnis sich unter den veränderten Bedingungen seit den 1980er Jahren »transformiert« und ethno-kulturelle Gruppen durch deren kulturelle Anerkennung in ein neues (postnationales) Gesellschaftsmodell einbezieht. Zu den veränderten Bedingungen, denen sich die türkische Gesellschaft und Politik seit den 1980er Jahren ausgesetzt sieht, zählen: Eine innere Kritik eines monolithischen (essentialistischen und assimilatorischen) türkischen Nationalismus seit Beginn der 1980er Jahre, die seitens islamisch, links und liberal orientierter gesellschaftlicher Akteure vorgetragen wird. Die verstärkten Forderungen ethno-kultureller Gruppen nach Anerkennung ihrer kulturellen Differenz seit Beginn der 1980er und in intensivierter Form seit den 1990er Jahren. Zu den Forderungen nach Anerkennung zählt auch die verstärkte Präsenz eines politischen Islam, der jedoch nicht den Fokus der vorliegenden Arbeit darstellt.14
14 Es gibt jedoch entscheidende Unterschiede: Die Integration des politischen Islam – in Form von politischer Beteiligung – in der Türkei scheint sich trotz aller Kämpfe mit dem kemalistisch und säkular orientierten Staatsapparat sowie dem Militär als weniger konfliktreich zu gestalten und der dominierenden Idee einer türkischen Nation zu widersprechen als die Anerkennung und Integration von ethno-kulturellen Gruppen in das politische System. Daraus kann auch die enorme Bedeutung des Nationalismus als hegemoniale Ideologie in der Türkei entnommen werden. Seit 2002 regiert die AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi) als moderat islamisch orientierte politische Partei die Türkei. Die Tatsache, dass eine islamisch orientierte Partei in der Türkei regiert, ist trotz der offiziellen säkularen Verfassung der Türkei als Hinweis auf die »traditionelle« Allianz von Islam und türkischer Nationalität als konstitutive Elemente des türkischen Nationalverständnisses zu beurteilen. Der Begriff »Türk-Islam Sentezi« (Türkisch-Islamische Synthese), der
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Die internationale Aufmerksamkeit für das Thema des neuen Nationalismus und ethno-kultureller Gruppen nach dem Ende des Kalten Krieges. Die EU-Beitrittsperspektive der Türkei, die mit dem 1987 gestellten Antrag auf Aufnahme aktualisiert und mit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen im Jahr 2005 konkretisiert wurde. Schließlich kann eine liberalere Wirtschaftspolitik, die zu Beginn der 1980er Jahre einen protektionistischen und staatszentrierten Dirigismus weitestgehend abgelöst hat, zu diesen veränderten Bedingungen der türkischen Gesellschaft gezählt werden. Zudem nahm nach dem Militärputsch von 1980 und der Wiedereinführung einer zivilen Regierung 1983 der zivilgesellschaftliche Organisationsgrad zu. Folgende Fragen erlangen in diesem Zusammenhang Bedeutung: Inwieweit kann unter den beschriebenen Bedingungen die türkische Debatte über die Integration und Anerkennung von ethno-kulturellen Gruppen mithilfe »westlicher Begriffe« – d.h. mit Begriffen, die zur Beschreibung und Untersuchung der Problematik der Integration von ethno-kulturellen Minderheiten in den westlichen Gesellschaften elaboriert und eingesetzt werden – untersucht werden? Umgekehrt gefragt: Handelt es sich in der politisch und gesellschaftlich institutionalisierten Form des türkischen Nationalismus nicht ohnehin um ein genuin westliches Verständnis von Nation und Staatsbürgerschaft? Inwieweit erfordert darüber hinaus die Erfüllung von EU-Beitrittskriterien und der Beitrittsprozess selbst zunehmend eine Behandlung der Minderheitenproblematik in der Türkei mithilfe »westlicher« Begriffe?
3. H YPOTHESEN Es wird davon ausgegangen, dass die verstärkten Forderungen von ethno-kulturellen Gruppen, so vor allem der Kurden, spätestens seit Beginn der 1990er Jahre zu einem modernen gesellschaftlichen Diskurs über die Bedingungen des Türkisch-Seins und der demokratischen Integration von ethno-kulturellen Gruppen in der Türkei geführt haben. Dieser Diskurs ist einerseits im politischen Feld (das Handlungsfeld der Politik betreffend, da dieses Antworten auf diese Forderungen finden muss) zu beobachten. Andererseits handelt es sich auch um einen öffentlichen zivilgesellschaftlichen Diskurs, der über die Medien (Printmedien und Fernsehen) vermittelt wird und zu einer starken Präsenz dieser Fragen in der
seit den 1980er Jahren eine neue Identität – jenseits von »Rechts und Links« – stiften sollte, bringt diesen Umstand einleuchtend zum Ausdruck.
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Öffentlichkeit geführt hat und führt. Aber auch und vor allem die türkischen Sozialwissenschaften im breitesten Sinne setzen sich seit Beginn der 1990er Jahre verstärkt mit den Forderungen von ethno-kulturellen Gruppen auseinander. Die EU-Beitrittsoption der Türkei seit 2005 hat zudem – vor dem Hintergrund, dass Kandidatenstaaten bei ihrer Aufnahme die so genannten Kopenhager Kriterien von 1993 vollständig erfüllen müssen – die Institutionalisierung von kulturellen Rechten (die Achtung von Minderheitenrechten, Meinungsfreiheit etc.) und die Thematik einer Konvergenz zwischen Minderheitenpolitiken der EU und denen der Türkei auf die politische Tagesordnung gebracht. Auch wenn die Minderheitenpolitiken- und praktiken in den verschiedenen EU-Staaten historisch unterschiedlich sind und es zwischen den EU-Staaten beträchtliche Unterschiede in der Zusammensetzung ihrer Bevölkerungen gibt, ist davon auszugehen, dass es ein Verständnis und eine Praxis von Minderheitenpolitik der EU gibt, das auf Anerkennung von kultureller Diversität beruht. Es ist anzunehmen, dass die türkische Debatte um Nation, Staatsbürgerschaft und die Inklusion von ethno-kulturellen Gruppen sich an europäische Debatten anlehnt und sich in die »Tradition« derselben einordnen lässt. Wie hier argumentiert wird, ist dies spätestens mit der Konstituierung der Türkei als »moderne Nation« seit dem Jahr 1923 möglich. Folglich können die im Rahmen dieser Arbeit diskutierten Begriffe einer Theorie von Minderheitenrechten und Multikultureller Staatsbürgerschaft (v.a. von Will Kymlicka) – als ursprünglich vom Westen ausgehende Debatte – auf die türkische Situation angewandt und für die Analyse der türkischen Debatte fruchtbar gemacht werden.15 Die Hypothese der Anwendbarkeit besagt nicht, dass es keine grundlegenden Eigenheiten des türkischen Falles gibt, die sich von liberalen westlichen Gesellschaften unterscheiden. Kritisch hierzu wird z.B. von Hamit Bozarslan (2001) geäußert, dass sich die kurdische Frage in der Türkei und die Minderheitenfragen allgemein nicht mithilfe europäischer oder amerikanischer Debatten über Multikulturalismus begreifen ließen, da es sich bei der kurdischen Frage um eine länderübergreifende Minderheitenproblematik handele, die in den verschiedenen Ländern bereits mehrere Hunderttausend Tote gefordert habe – darunter auch in der Türkei mit mehreren Zehntausend zumeist kurdischen Opfern.16 Dennoch wird auch von
15 Zur Frage der Übertragbarkeit und der weltweiten Diffusion der Ideen des Multikulturalismus als im »Westen« verankerte Ideen siehe: Multiculturalism in Asia (2005). Hg.: Kymlicka, Will und He Boagang. Oxford, New York. 16 Die Tatsache, dass die Kurden heute auf vier Staaten verteilt leben und somit das von ihnen bewohnte Gebiet nach dem 1. Weltkrieg unter den mit Ausnahme des Iran neu entstandenen Staaten Türkei, Syrien, Irak aufgeteilt wurde, ist für Hamit Bozarslan die
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Bozarslan die Lösung der Minderheitenfragen in der Türkei als mithilfe eines neuen »contrat social« und einer Erweiterung des Staatsbürgerschaftsbegriffs für möglich angesehen, der Raum für die »Spezifizität« der jeweiligen Gruppen gewährt (Bozarslan 2001, 354). Zu den Unterschieden gegenüber liberalen westlichen Demokratien kann auch angeführt werden, dass – wie bereits oben erwähnt – ein kemalistisches Verständnis von Nation und Nationalismus als politisches und kulturelles Herrschaftsinstrument zum Erhalt eines unitarischen und assimilatorischen türkischen Nationalismus dient, da es in die grundlegenden politischen und gesellschaftlichen Institutionen festgeschrieben ist (siehe Bezwan 2008; Rumpf 1992 und 1996; Parla und Davison 2004). So kann argumentiert werden, dass in der Türkei ein sicherheitspolitisches Denken des Staates seit der Gründung der Republik die »Einheit« des Staates und der Nation über die Rechte des Individuums gestellt hat. Dieses Nationalismus-Verständnis bietet zunächst wenig Raum für politische Veränderungen und ein liberales Verständnis von Gesellschaft, das die Anerkennung von ethno-kultureller Differenz zulassen würde. Ein liberales Verständnis von Gesellschaft beinhaltet gerade auch die Idee eines freien Individuums, das mithilfe von individuellen Rechten vor den Eingriffen des Staates geschützt sein soll. Eben an diesem Punkt wird es schwierig, den Fall der Türkei als »liberal-demokratischen« Staat und Gesellschaft zu behandeln und hier von einer Anwendbarkeit westlicher Konzepte von multikultureller Staatsbürgerschaft auszugehen. Hier spielen unterschiedliche demokratische Traditionen und Erfahrungen eine Rolle: während im christlich geprägten Europa die Renaissance und die Aufklärung sowie die Ideen der Allgemeinen Menschenrechte eine fundamentale Bedeutung für die Staatsbildungsprozesse und die Etablierung der Idee der Gleichheit des Einzelnen hatten, gab es im Osmanischen Reich keine ähnlichen Prozesse. Die Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution wurden hier lediglich ansatzweise rezipiert. Hinzu kommt, dass politische und intellektuelle Eliten zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches die Idee der Nation aus Europa »importiert«17
Ursache für die Angst dieser Staaten, dass ihre Grenzen permanent in Frage gestellt werden könnten. Diese Befürchtungen würden es nicht erlauben, dass die kurdische Frage jeweils als »interne Frage« behandelt werde (Bozarslan 2001, 347). 17 Der Gedanke des Imports legt nahe, dass es sich um eine bloße Übernahme einer Idee handelte, die sich in einem Zug vollzogen hat. Dabei war der Vorgang viel komplexer und prozesshafter als es der Begriff »Import« suggeriert.
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haben.18 Neben dem geographischen und religiösen Aspekt wirft dies in der »Europa-Kompatibilitätsdebatte« der Türkei die Frage nach der Verinnerlichung der »europäischen Werte« auf, da hiermit der Türkei die Verkörperung westlicher Werte abgesprochen wird. Dennoch gibt es heute in der Türkei das moderne Phänomen der Forderungen von ethno-kulturellen Gruppen nach Anerkennung und kulturellen Rechten, die bezeichnend sind für multiethnische und multikulturelle nationale Gesellschaften westlicher Prägung. Diese westlichen Gesellschaften beruhen jedoch zunächst auf der Idee und den verfassungsmäßigen Grundsätzen der Gleichheit aller, die zumeist durch die universelle Staatsbürgerschaft erreicht wird. Die strukturellen Ähnlichkeiten, die in der Verfasstheit als nationale Gesellschaft im europäischen Sinne bestehen, so das Argument der vorliegenden Untersuchung, erlauben – mit Berücksichtigung der Eigenheiten und Grenzen – prinzipiell das Verstehen der türkischen Debatten um Nation, Staatsbürgerschaft und ethno-kulturelle Gruppen mithilfe der Begriffe, die für die Debatten in westlichen Gesellschaften verwendet werden. Anders formuliert, bedeutet dies auch, dass die türkische Form der Nation und Staatsbürgerschaft formell und theoretisch über das staatsbürgerliche Individuum verfügt, das prinzipiell offen ist für eine Weiterentwicklung von Rechten, die es ab 1923 qua staatlicher Ideologie zugeschrieben bekommen hat. Auch wenn eine solche Weiterentwicklung, die sich in den Debatten um die Bezeichnung für die Staatsbevölkerung der Türkei zeigt – und die somit eine grundlegende Kritik am bisherigen NationalismusVerständnis beinhaltet – auf Widerstände der Vertreter der kemalistischen Staatsdoktrin stößt, so zeigt die öffentliche, sozialwissenschaftliche und politische Debatte, dass die Forderungen von ethno-kulturellen Minderheiten, vor
18 Im Kontext der Imitation oder der Ideenübernahme ist auch die Debatte um späte Nationenbildungsprozesse von Belang, die vor allem in dekolonialisierten Staaten vonstatten gingen. Die intellektuellen Eliten der kolonisierten Länder waren einerseits inspiriert von den westlichen Ideen der Nation und der Bürgerrechte, die sie von den Kolonialmächten übernahmen. Andererseits versuchten sie sich gerade von diesen zu distanzieren, indem sie die nationale Kultur partikular, d.h. auf die jeweiligen lokalen Traditionen beruhend, konstruiert haben. Somit konnten sie eine »eigene«, sich vom Kolonialismus lossagende nationale Geschichte und Kultur behaupten und aufbauen. In gewissen Aspekten ähnelt der Nationenbildungsprozess in der Türkei dem der befreiten Kolonien. Obwohl die Türkei nicht die Kolonie einer westlichen Macht war, gab es bei den osmanischen Eliten jedoch seit der Endphase des Osmanischen Reiches ein Gefühl der Unterlegenheit dem Westen gegenüber.
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allem der Kurden, seit den 1980er Jahren zu einer Transformation19 des türkischen Nation- und Staatsbürgerschaftsverständnisses führen. Diese Transformation meint – wie bereits erwähnt – die Veränderung eines auf einem ethno-kulturellen Verständnis von Nation und Staatsbürgerschaft beruhenden staatsideologischen und gesellschaftlichen Konzepts hin zu einem offeneren, pluralistischeren Konzept, das kulturelle Diversität bis zu einem bestimmten Grad inkludiert und anerkennt. Dies ist das hier vorliegende Argument. Des Weiteren besagt es, dass es insofern tendenziell auch eine »Annäherung« an ein pluralistischeres Modell von Gesellschaft im westlichen Sinne gibt. Es lassen sich – wie bereits erwähnt – dennoch einige Unterschiede des türkischen Falles zu westlichen (d.h. zu west- und mitteleuropäischen sowie zu nordamerikanischen) Erfahrungen im Umgang mit nationalen Minderheiten herausarbeiten: Bislang wurde v.a. die kurdische Frage in der Türkei als sicherheitspolitische Frage behandelt, die als Gefahr für die Integrität des Staates Türkei gesehen wurde. Die kurdische Frage wurde – trotz einiger Ansätze, der kurdischen Bevölkerung kulturelle Rechte zu gewähren – nicht primär auf der Basis von Minderheitenrechten behandelt. Dahinter stand die Idee, dass es in der Türkei keine Minderheiten gibt. Damit in Verbindung steht auch eine dem türkischen Konzept und gesellschaftlichen sowie politischen Diskurs über das Verständnis der türkischen Nation eigene Rhetorik, wonach alle »Staatsbürger/innen« in der Türkei Türken und somit gleich(-berechtigt) seien. »Türkisch-Sein« wird auf dieser Basis als politische und nicht-ethnische Kategorie verstanden.20 Daraus werden jedoch keine
19 Der Begriff der Transformation wird hier nicht im Sinne der Transformationsforschung benutzt, die sich vornehmlich mit den Anpassungsprozessen der ehemaligen OstblockStaaten nach dem Kalten Krieg beschäftigt, sondern im Sinne von »Wandel«, was im Rahmen dieser Untersuchung zunächst keine theoretischen Implikationen hat. 20 Exemplarisch sei hier ein Ausschnitt aus der Rede des damaligen Generalstabschefs der türkischen Armee, Yasar Büyükanit, von April 2007 wiedergegeben, in der er den Nationalismus Atatürks als nicht-ethnisch darstellt, hingegen aber die PKK als »rassistische« Organisation bezeichnet: »Solange es in unserem Land noch eine solche im wahrsten Sinn rassistische Terrororganisation wie die PKK gibt … gefährden die Kommentare auf die geringsten Reaktionen der türkischen Gesellschaft zur Verteidigung ihrer nationalen Werte als sei ›der Nationalismus im Aufstieg‹ unsere nationale Sicherheit … Die Besorgnisse darüber, dass der ›Nationalismus sich im Aufstieg‹ befinde, sind das Eingeständnis dafür, dass
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Rechte für partikulare Gruppen abgeleitet, sondern im Gegenteil, die Forderungen von ethno-kulturellen Gruppen nach kultureller Anerkennung werden mit dem Argument abgelehnt, diese würden Separatismus betreiben und die türkische Nation spalten. Es handelt sich um ein »totales«, d.h. holistisches Verständnis von Nation, das die Nation als »eins und unteilbar« denkt. Es unterscheidet sich somit sehr stark von Spanien, Belgien oder der Schweiz, die als multinationale und multikulturelle Gesellschaften auf sprachlich-kulturelle Unterschiede ihrer Bevölkerungen beruhende Nationalstaatsmodelle darstellen. Das türkische NationVerständnis kann indes sehr in die Nähe des französischen Konzepts einer »nation une et indivisible« gerückt werden – jedoch mit beträchtlichen Unterschieden im Verhältnis Staat-Individuum.
4. Z UM F ORSCHUNGSDESIGN
DER
ARBEIT
Die Arbeit ist in erster Linie theoretisch angelegt, d.h. sie bedient sich theoretischer Ansätze der Nationalismus-Forschung21, der Staatsbürgerschaft22 und der Multikulturellen Staatsbürgerschaft23. Sie stützt sich auf eine Literaturanalyse in der Frage, wie die Debatte um die Integration von ethno-kulturellen Gruppen in
Atatürk nicht gekannt und verstanden wird. Unser Nationalismus ist der Atatürksche Nationalismus. Und dieser war nie ein auf ethnische Grundlagen basierender Nationalismus. Unser Nationalismus bedeutet, unsere Menschen, unser Land, unsere Fahne, unseren Staat zu lieben. Es gibt hierin nichts Besorgniserregendes. Ganz im Gegenteil, auf diesen Nationalismus sollte man stolz sein, und jedes Mal glücklich sein, wenn er geäußert wird« (Generalstabschef der türkischen Armee, Yasar Büyükanit. Zitiert nach Özkirimli 2008, 35. Übers. E.G.). 21 Insbesondere Ernest Gellner (1999,1995,1994); Erich. J. Hobwsbawm (1996); Benedict Anderson (1996); Miroslaw Hroch (2000,1995) für die theoretische Auseinandersetzung mit Nationalismus und nationalen Gesellschaften. 22 Für die theoretische Auseinandersetzung mit Staatsbürgerschaft insbesondere: T.H. Marshall (1992); Rogers Brubaker (1994); Jürgen Mackert (2006,1999); Bryan Turner (1992). 23 Für die Debatte um Multikulturelle Staatsbürgerschaft als einem speziellen Problem der Staatsbürgerschaft wird insbesondere auf die Arbeiten von Will Kymlicka (2008,2001, 2000,1999,1996,1995a) Bezug genommen. Zur Frage von Staatsbürgerschaft und kultureller Differenz des Weiteren: Seyla Benhabib (2008c, 2000,1996); Iris Marion Young (2002, 2000).
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der Türkei vor allem seit den 1980er Jahren geführt wird, und beruht somit auf der Analyse und Auswertung einer größeren Zahl türkischsprachiger Literatur zu diesem Feld. Diese Literatur für den türkischen Fall kann in zwei Kategorien aufgeteilt werden: •
•
Literatur, die sich theoretisch mit der Problematik um Nation, Staatsbürgerschaft und deren Verhältnis zu ethno-kulturellen Minderheiten in der Türkei beschäftigt. Literatur, Dokumente und eine kleinere Zahl an Zeitungsartikeln, die sich mit der aktuellen öffentlich-politischen Debatte um die Integration von ethno-kulturellen Gruppen auseinandersetzen.
Auch existiert eine Vielzahl an deutschsprachigen Studien zur hier behandelten Thematik, die im Rahmen dieser Arbeit benutzt werden. Viele einschlägige wissenschaftliche Arbeiten zur betreffenden Debatte in der Türkei sind ebenso in englischer Sprache verfasst. Von ihnen wurde ausgiebig Gebrauch gemacht. Dort, wo es nötig und angebracht erschien, wurde auch französischsprachige Literatur herangezogen, z.B. bei der Frage des Vergleichs des französischen Nationalverständnisses mit dem deutschen aber auch mit dem türkischen. Die Arbeit umfasst einen breiten Zeitraum, von den Anfängen des türkischen Nationalbewusstseins Ende des 19. Jahrhunderts bis in unsere heutigen Tage. Dabei kann im Rahmen des Gesamtaufbaus der Arbeit einerseits zwischen einer theoretisch-begrifflichen Grundlagenarbeit und einer Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Problematik, die vor dem Hintergrund dieser theoretischbegrifflichen Vorarbeit geführt wird, unterschieden werden. In Verbindung damit kann die zeitliche Dimension der Untersuchung grob zweigeteilt werden, und zwar historisch und aktuell: 1. Der historische Zeitabschnitt der Genese des türkischen Nationalbewusstsein und der Errichtung und späteren Konsolidierung des türkischen Nationalstaates bis in die 1980er Jahre hinein. 2. Die Periode der aktuelleren Debatten um ethno-kulturelle Gruppen seit Beginn der 1980er Jahre bis in das heutige aktuelle Geschehen. Für den Einstieg und die Exploration des Untersuchungsfeldes wurde die Durchführung von Experteninterviews mit Expert/innen zu Minderheitenfragen und Staatsbürgerschaft in der Türkei sowie zur Frage der EU-Integration in der EU-Kommission gewählt. Im folgenden Abschnitt werde ich den Zweck und die Stellung der von mir durchgeführten Interviews für die Untersuchung deutlich machen und auf die
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Besonderheiten von Experteninterviews und ihre Funktion im Forschungsprozess eingehen. 4.1 Zum Experteninterview Michael Meuser und Ulrike Nagel unterscheiden zwischen zwei Stellungen des Experteninterviews im Forschungsprozess: eine zentrale und eine Randstellung. Bei der Randstellung des Experteninterviews werden diese z.B. explorativ-felderschließend benutzt, »wo sie zusätzliche Informationen und Augenzeugenberichte liefern und zur Illustrierung und Kommentierung der Aussagen der Forscherin zum Untersuchungsgegenstand dienen« (Meuser und Nagel 2005, 75). Der Status des Experten kann nach Meuser und Nagel je nach Forschungsfrage vom Forscher selbst verliehen werden. Es ist deshalb nicht eindeutig bestimmbar, wer als Experte gilt und wer nicht (Rosenthal 2005, 134). Die »Ernennung« zum Experten hängt vielmehr vom Forschungsgegenstand und dem dafür nötigen Wissen ab, die eine Person zum Experten machen. Nach Bogner und Menz (2004, 13f.) ist das Expertenwissen wegen seiner sozialen Relevanz als Deutungswissen, mit dem die Experten ihr konkretes Handlungsfeld »sinnhaft und handlungsleitend« strukturieren, von Bedeutung. Die leitfadengestützte und offene Form des Interviews ist ein geeignetes Medium, das Wissen der Experten auf eine auf die Forschungsfrage fokussierte Art und Weise abzufragen, und durch entsprechende vorherige Vorbereitung auf das Interview Themen, die von nebensächlichem Wert für die Untersuchung sind, zu vermeiden. Bei der Auswertung von Experteninterviews orientiert man sich anders als bei der einzelfallorientierten Interpretation an thematischen Einheiten, die über das ganze Interview verstreut sein können, jedoch inhaltlich zusammengehören. Hier ist folglich nicht die Sequenzialität von Äußerungen je Interview von Interesse (Meuser und Nagel 2005, 81). Das Expertenwissen der Interviewpartner/innen ist für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit als Kontextwissen bedeutsam. Anders als bei der Einzelfallanalyse geht es bei der Auswertung der Experteninterviews darum, im Vergleich mit anderen Experteninterviews das »Überindividuell-Gemeinsame herauszuarbeiten, Aussagen über Repräsentatives, über gemeinsam geteilte Wissensbestände, Relevanzstrukturen, Wirklichkeitskonstruktionen, Interpretationen und Deutungsmuster zu treffen« (Meuser und Nagel 2005, 80). Bei den für diese Arbeit durchgeführten Interviews handelt es sich zunächst um felderschließende Interviews, die vom Wissen der Experten als ihr Handlungsfeld sinnhaft und handlungsleitend strukturierende Akteure, Gebrauch machen. Hierdurch kann einerseits im Rahmen der Untersuchung an die jeweili-
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gen Debatten, die die Experten thematisieren und transportieren, angeknüpft werden. Andererseits kann das Expertenwissen durch den Forscher selbst als Teil dieser Debatte problematisiert werden. Darüber hinaus können Experteninterviews theoriegenerierend sein (Bogner und Menz 2005). Die Theoriegenerierung anhand des Expertenwissens stellt jedoch nicht das primäre Ziel und den Zweck für diese Untersuchung dar. Die Interviews wurden zu jeweils verschiedenen Themenfeldern der Arbeit durchgeführt und lassen sich nur innerhalb dieser miteinander vergleichen. Sie dienen hier v.a. zur Stützung und Illustration der verschiedenen Standpunkte und Problemfelder einer komplexen theoretischen, wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Debatte. Gleichzeitig wird versucht, ausführlicher auf die von den Expert/innen thematisierten Felder einzugehen und ihre Aussagen kritisch in Beziehung zum eigenen Untersuchungsgegenstand zu setzen. 4.2 Eigene Experteninterviews Bei den eigenen Interviews handelt es sich um leitfadengestützte und themenzentrierte Experteninterviews, die in erster Linie eine felderschließende Funktion haben. Drei von ihnen werden im Rahmen dieser Arbeit zitiert und dienen der Illustration der hier untersuchten Problemfelder. Die Interviews teilen sich auf in drei Felder: 1. die Situation von ethno-kulturellen Gruppen in der Türkei, 2. die dortige gesellschaftspolitische und wissenschaftliche Auseinandersetzung um Nation und Staatsbürgerschaft und 3. die EU-Türkei-Integrationsdebatte. Drei Interviews im ersten Feld wurden mit Experten und Akteuren zur Situation von ethno-kulturellen Minderheiten geführt. Für das zweite Feld wurden Experteninterviews zur wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Debatte um die Institution der Staatsbürgerschaft in der Türkei mit Sozialwissenschaftlern von türkischen Universitäten durchgeführt. Und zum dritten Feld wurden Vertreter der Europäischen Kommission zur Frage der EU-Integrationsdebatte interviewt. Die Interviewpartner zum ersten Feld, also zur Situation der Minderheiten, wurden danach ausgesucht, ob sie sich bereits öffentlich (d.h. vor allem über die Medien) zu dieser Frage geäußert hatten. Insofern als sie in ihrer Funktion als »öffentliche Sprecher« die Situation von Minderheiten thematisierten, waren sie gesellschaftliche Akteure und gleichzeitig Experten »ihrer Frage«.24 Ihr Wissen und ihre Erfahrungen als Akteure und Experten im Bereich der Minderheitenfragen konnten Aufschluss über die Problematik der Anerkennung von ethno-
24 Siehe Interview mit dem Intellektuellen Minderheitenangehörigen, Kapitel VII.4.2
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kultureller Differenz geben und gleichzeitig Schlussfolgerungen über die Möglichkeiten und Grenzen der öffentlichen Thematisierbarkeit dieser Fragen zulassen. Eine wichtige Frage in diesen Interviews war, wie die ethno-kulturellen Minderheiten zum herrschenden Konzept des Türkisch-Seins positioniert und in Relation gesetzt werden können. Im Interview zum zweiten Feld ging es mir darum, einen Überblick über die Dimension der politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung um Nation und Staatsbürgerschaft in der Türkei zu erhalten. Neben dem Verständnis der politischen und akademischen Debatte in der Türkei, war ich insbesondere auch an der Frage nach den neueren Einflüssen der EU-Beitrittsverhandlungen auf die Debatten um Nation, Staatsbürgerschaft und Minderheiten interessiert. Im dritten Feld wurde insbesondere der Frage nach den grundsätzlichen Differenzen zwischen den Positionen der EU und denen der Türkei im Verhandlungsprozess nachgegangen. Die Frage der Kompatibilität der politischen Struktur der Türkei und denen der EU war hierbei leitend. Hieraus wollte ich Anhaltspunkte für die in der Debatte um Nation und Staatsbürgerschaft wichtige Frage erhalten, inwiefern die Türkei mit ihrem gegenwärtigen Gesellschaftsmodell »EUkompatibel« ist. In dem oben beschriebenen Sinne können die Interviewpartner insofern als Experten der genannten Fragen gesehen werden als sie »selbst Teil des Handlungsfeldes sind, das den Forschungsgegenstand ausmacht« (Meuser; Nagel 2005, 73). Die Interviews waren einerseits ein Medium, um einen Zugang zum Feld zu bekommen und das Untersuchungsfeld abzustecken, andererseits beinhalten sie Expertenwissen, das ich für die Untersuchung nutzbar machen konnte. Dabei ist im Unterschied zu anderen offenen Interviewformen nicht die Gesamtperson der Gegenstand der Analyse, sondern vielmehr der organisatorische und institutionelle Zusammenhang, in dem die interviewte Person agiert (Meuser und Nagel 2005, 72f.).
5. Z UM B EGRIFF
DER ETHNO - KULTURELLEN
G RUPPE
Der Begriff der ethno-kulturellen Gruppe wird im Kontext der vorliegenden Untersuchung für die Beschreibung von gesellschaftlichen Gruppen benutzt, die eine Anerkennung ihrer kulturellen Besonderheiten im Rahmen von etablierten Natio-
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nalstaaten fordern. Er wird hier in jenem weiteren Sinne gebraucht, wie er in der anglo-amerikanischen Literatur verwendet wird (z.B. Will Kymlicka), um gesellschaftliche Gruppen zu bezeichnen, die nicht nur ethnische in einem engeren Sinne, sondern auch kulturelle Gruppen meinen können. Während der Begriff der ethnischen Gruppe stärker auf den Aspekt der gemeinsamen Herkunft abzielt, ist der Begriff der ethno-kulturellen Gruppe insofern breiter als er im hier benutzten Sinn auch religiöse (z.B. die Aleviten) Gruppen umfasst und mit dem Verweis auf »Kultur« auch sprachliche Gruppen meint. Der Begriff verweist, angelehnt an Max Webers Definition der ethnischen Gruppe, auf die geglaubte gemeinsame Herkunft und die angenommenen kulturellen Gemeinsamkeiten einer Gruppe. Max Weber gehörte zu den ersten Soziologen, die den konstruktivistischen Aspekt von Ethnizität und ethnischen Gruppen betont haben. Dabei betonte Max Weber das Moment eines subjektiven Gemeinschaftsglaubens im Gegensatz zu tatsächlich bestehenden Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern der ethnischen Gruppe. Weber definierte eine ethnische Gruppe folgendermaßen: »Wir wollen solche Menschengruppen, welche aufgrund von Ähnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerung an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an die Abstammungsgemeinschaft hegen, derart, daß dieser für die Propagierung von Gemeinschaft wichtig ist, dann wenn sie nicht Sippen darstellen, ›ethnische Gruppe‹ nennen, ganz einerlei, ob eine Blutsverwandtschaft eindeutig vorliegt oder nicht« (Weber 1972, 237).
Das vorliegende Verständnis ethno-kultureller Gruppen impliziert, dass Gruppen nicht homogen und statisch sind (Apitzsch 2009). Ebenso kann davon ausgegangen werden, dass ethno-kulturelle Gruppen nicht per se als solche existieren, sondern in einem Gruppenbildungsprozess – in Anknüpfung an eine gemeinsame Sprache zum Beispiel – ein ethnisches Bewusstsein erlangen können. Insofern als sich diese Gruppenmitglieder wahrscheinlich nie persönlich begegnen werden, kann die ethnische Gruppe im Sinne Benedict Andersons (1996) als vorgestellte Gemeinschaft gesehen werden, deren Mitglieder ein abstraktes Zugehörigkeitsgefühl zu dieser entwickeln. Im Anschluss an Rogers Brubaker (2007) soll im Folgenden der konstruktivistische Charakter von ethno-kulturellen Gruppen verdeutlicht werden. Der konstruktivistische Charakter von Gruppen ist in den Sozialwissenschaften weitgehend anerkannt. Es wird z.B. kaum noch von der Arbeiterklasse25
25 Rogers Brubaker unterstreicht in seiner Kritik des »Gruppismus« – den er als eine Tendenz in den Sozialwissenschaften versteht, Gruppen als einheitlich und homogen
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gesprochen (Brubaker 2007, 18). Dennoch ist die Frage, was ethno-kulturelle Gruppen von anderen gesellschaftlichen Gruppen, wie z.B. den Arbeiternehmer/innen unterscheidet. Welche Merkmale dieser aus einzelnen Individuen bestehenden Gruppen unterscheiden sie von anderen, möglicherweise kohäsiveren Gruppen? Es ist Rogers Brubaker in seiner Kritik des »Gruppismus« insoweit zuzustimmen als die Rede von beispielsweise »ethnischen Gruppen« suggeriert, es handele sich um feste, einheitliche Gruppen von Menschen, die einen gemeinsamen politischen Willen zum Ausdruck bringen. Mit seiner in diesem Zusammenhang formulierten Kritik am »Gruppismus« knüpft Rogers Brubaker an die Tradition des Konstruktivismus im Sinne Max Webers an. Er kritisiert hierbei vor allem eine in der wissenschaftlichen und öffentlich-politischen Auseinandersetzung mit Ethnizität und ethnischen Gruppen überwiegenden Herangehensweise, ethnische Gruppen als kohärente und homogene Entitäten zu analysieren (siehe Brubaker 2007, 16-45). Brubaker schlägt das Überdenken des Begriffs »Ethnizität« vor, welcher die Existenz homogener und separater Gruppen suggeriere. Deshalb gehe es darum, etwa in der Auseinandersetzung mit so genannten »ethnischen Konflikten«, die das Bild von zwei einander in separater und homogener Weise gegenüberstehenden Gruppen nahe legen, das begriffliche Werkzeug zu überprüfen. Brubaker führt dazu weiter aus: »Ethnizität, Rasse und Nation sollten nicht als Wesen, Dinge, Gebilde, Organismen oder Kollektivsubjekte konzeptualisiert werden – wie es uns die Vorstellung von separaten, konkreten, fassbaren, abgegrenzten und beständigen ›Gruppen nahe legt –, sondern unter dem Aspekt des Relationalen, Prozessualen, Dynamischen, Wechselvollen und der Disaggregation« (Brubaker 2007, 21f.).
Brubaker folgert daraus, dass als »grundlegende analytische Kategorie nicht die ›Gruppe‹ als Entität« gelten soll, »sondern das Zusammengehörigkeitsgefühl (groupness) als sich auf seinen Kontext beziehenden variablen Begriff« (Brubaker 2007, 22).26 Die Konzentration auf das Zusammengehörigkeitsgefühl einer
zu denken –, dass diese Neigung besonders und in auffälliger Weise bei Untersuchungen über soziale Klassen in Frage gestellt werde, jedoch weniger für andere Gruppen, so beispielsweise für ethnische Gruppen (Brubaker 2007, 18). 26 Obwohl der Vorschlag Brubakers für mehr begriffliche Klarheit und Präzision auf die tatsächlichen Probleme in der Beschreibung von ethno-kulturellen Bewegungen hinweist – und damit einen wahren und konstruktiven Kern hat ¬, bleibt sein eigenes Unterfangen jedoch auch im Dilemma verhaftet, bei der Beschreibung des Phänomens
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Gruppe und nicht auf die Gruppe als solche, würde erlauben – so Brubaker – das kollektive »Zusammengehörigkeitsgefühl als Ereignis« zu analysieren und damit »als variabel und zufällig statt als fest und gegeben […]« zu betrachten. »[…] Phasen außerordentlichen Zusammenhalts und Momente intensiv empfundener kollektiver Solidarität« könnten somit in Betracht gezogen und erklärt werden, »ohne implizit ein hohes Maß an Zusammengehörigkeitsgefühl als konstant, dauerhaft oder definitorisch präsent anzunehmen« (Brubaker 2007, 22f.). Obwohl Brubaker damit die »Realität der Ethnizität« oder der »Rasse« und »Nationalität« nicht abstreitet, glaubt er, dass die »übergroße Macht ethnischer und nationaler Identifikation in bestimmten Umfeldern […] nicht an die Existenz ethnischer Gruppen oder Nationen als wirklich vorhandener Gruppen oder Entitäten gebunden« ist (Brubaker 2007, 22). Wenn man die Gruppenidentität als Variable betrachten würde, so Brubaker, könnte man sich »der Dynamik der Gruppenbildung als sozialem, kulturellem und politischem Projekt zuwenden, das darauf abzielt, Kategorien in Gruppen zu verwandeln und das Niveau des Zusammengehörigkeitsgefühls zu heben« (Brubaker 2007, 26, Hervorhebung im Original). Dennoch ist die individuelle Identifikation mit ethnischen Gruppen als ein sozialer Fakt anzusehen, auch wenn diese Entitäten im Sinne Benedikt Andersons (1996) als vorgestellte Gemeinschaft bewertet werden können. Folglich kann man von einer gesellschaftlichen »Konstruktion kollektiver Identitäten« ausgehen, die jedoch die Realität dieser Konstruktion, d.h. die Realität des Glaubens an die Existenz von kollektiven Identitäten, an sich nicht bestreiten kann (Saurwein 1999). In diesem Rahmen der gesellschaftlichen Konstruktion kann das individuelle »Zugehörigkeitsgefühl« zur Gruppe – um den Begriff Brubakers aufzugreifen – variieren. Ebenso können »periphere« Subgruppen oder Teile derselben ihre Mitgliedschaft in der ethnischen Gruppe verweigern, wie dies z.B. bei Teilen der zazasprachigen Bevölkerung in der Türkei – in Abgrenzung zu den Kurden – der Fall ist. Im Gegensatz zu staatlich verfassten Nationen können sich ethno-kulturelle Gruppen zumeist auch nicht auf Institutionen stützen, die ihre Sprache und Geschichte unter einen offiziellen Schutz stellen, und mit deren Hilfe sie sich leichter mit ihrer Kultur identifizieren können. Obwohl es einen gemeinsam geteilten Glauben an die ethnische Zugehörigkeit gibt, können Individuen dennoch nicht als essentiell »ethnische Individuen« gedacht werden. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass Individuen
der Ethnizität dennoch fast durchgehend auf den Begriff der Gruppe zurückgreifen zu müssen (siehe Brubaker 2007). Denn es bieten sich kaum alternative und analytische Konzepte und Begriffe an, um das Phänomen anders zu beschreiben.
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sich in einem biographischen und gesellschaftlichen Prozess selbst ethnisch definieren und einer ethnischen Gruppe zuordnen können.27 Dabei kann sich ein Individuum aufgrund »objektiver« (gemeinsame Sprache oder z.B. gemeinsam erlebte Ausgrenzung) und subjektiver Merkmale (der individuelle Glauben an die Gemeinsamkeiten einer Gruppe) als zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe zugehörig positionieren. Insofern müssen die Bedingungen der gesellschaftlichen Selbst- und Fremdzuschreibungsprozesse im Prozess der ethnischen Gruppenbildung mitberücksichtigt und in die Analyse einbezogen werden. Festzuhalten ist, dass der Begriff der ethno-kulturellen Gruppe im Rahmen der vorliegenden Arbeit eine Gruppe meint, deren »Mitglieder«28 sich mehr oder weniger mit den von einzelnen Gruppenmitgliedern für ihr Kollektiv vorgetragenen Forderungen nach Anerkennung und kulturellen Rechten identifizieren und hierüber ein gemeinsames Gruppenbewusstsein herstellen. Dabei kann jedoch nicht von einer homogen agierenden Gruppe ausgegangen werden. Vielmehr können diese Forderungen mehr oder weniger mit den individuellen Bedürfnissen und Forderungen einzelner Mitglieder der ethnischen Gruppe koinzidieren und müssen nicht unbedingt die Forderungen aller Mitglieder repräsentieren. Denn auch für die türkische Diskussion ist von multiplen Zugehörigkeiten auszugehen. Insofern ist die ethno-kulturelle Gruppe heterogen und muss auch als solche in die Analyse einbezogen werden. 5.1 Zur Bedeutung ethnischer Vergemeinschaftung und ihrer Rolle in komplexen Gesellschaften Die Frage danach, ob kulturelle Unterschiede oder Ethnizität einen Wert an sich darstellen (siehe z.B. Heinemann 2001), wird kritisch gesehen.29
27 Auch können sich eine solche individuelle Positionierung und die ethnische Selbstdefinition aufgrund biographischer Erfahrungen und einer biographischen Arbeit verändern (hierzu Apitzsch 2009; Rosenthal 1999). 28 Von »Mitgliedschaft« in einer ethnischen Gruppe kann im Gegensatz zu der über die Staatsbürgerschaft vermittelte Mitgliedschaft in einem Nationalstaat (Mitgliedschaft in einer »Nation«) nicht ohne Schwierigkeiten gesprochen werden, da die Mitgliedschaft in einer ethnischen Gruppe nicht formell ist sowie von Faktoren wie dem Grad der Organisation und des Gruppenbewusstseins abhängt, und zudem dem Einfluss von Selbst- und Fremdzuschreibungsprozessen unterliegt. 29 Axel Honneth sieht die Anerkennung einer minoritären Kultur um ihrer selbst willen skeptisch, indem er anführt: »Mit der Forderung, eine minoritäre Gemeinschaftskultur um ihrer selbst willen wertzuschätzen, wäre der normative Horizont sowohl des
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Svenja Falk z.B. weist auf die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung und den Funktionen von Ethnizität darauf hin, dass die Ethnizitätsforschung sich vor allem damit auseinandersetzt, ob Ethnizität als »eine Eigenschaft eines Individuums oder einer Gruppe oder als ein Netzwerk sozialer Beziehungen zu verstehen« sei (Falk 1998, 28; Dittrich und Lentz 1994; Kößler und Schiel 1994). In diesem Kontext wird auch die Frage relevant, ob das Auftreten von Ethnizität oder ethnischer Vergemeinschaftung »Modernisierungsprozessen inhärent […] oder ihre Aktualisierung eine Möglichkeit individueller oder kollektiver Verarbeitung von Krisensituationen« ist (Falk 1998, 28). Unabhängig von der Frage nach den Funktionen von Ethnizität und ethnischer Vergemeinschaftung kann aus einer normativen demokratietheoretischen Perspektive die gesellschaftliche Inklusion und Anerkennung von ethnokulturellen Gruppen, die Forderungen nach Anerkennung ihrer Kultur stellen, als Ausdruck und Bestandteil demokratischer und pluralistischer Gesellschaften gesehen werden. Das Recht auf individuelle kulturelle Differenz ist in pluralistischen Gesellschaften durch die universellen staatsbürgerlichen Rechte auf Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit usw. abgedeckt. Das Phänomen der ethnischen Vergemeinschaftung als Mobilisierungsfaktor für Gruppen entsteht trotz dieser »liberalen Differenzblindheit« in modernen Gesellschaften dann verstärkt, wenn sich bestimmte Gruppen aufgrund ihrer Sprache oder Religion diskriminiert fühlen (Heinemann 2001, 122). Die Mobilisierung ethno-kultureller Gruppen als »Reaktion« auf Diskriminierung und Nichtanerkennung, aus der auch die Forderungen nach positiven Rechten abgeleitet werden können, kann mit folgenden Worten von Axel Honneth beschrieben werden: »Mit dem Begriff der ›Identitätspolitik‹ wird heute die Tendenz einer Vielzahl von benachteiligten Gruppen beschrieben, sich nicht nur für die Beseitigung von Diskriminie-
Gleichheitsgrundsatzes als auch des Leistungsprinzips definitiv überschritten; denn es ginge ja nicht mehr bloß darum, entweder die Chancengleichheit aller Subjekte bei der Verwirklichung ihrer Lebensziele möglichst wertneutral sicherzustellen oder die individuellen Beiträge möglichst fair als ›Leistungen‹ wertzuschätzen, sondern um das weit darüber hinausschießende Ziel, die kulturellen Praktiken einer Minderheit gesellschaftlich als etwas an sich Wertvolles, als ein soziales Gut zu achten« (Axel Honneth in: Fraser und Honneth 2003, 198). Vielmehr müsste die Gruppe zeigen können, dass »ihre eigenen Praktiken und Lebensformen […] für die Reproduktion der Gesellschaft einen wesentlichen Beitrag darstellt und in dem Sinn eine unverzichtbare ›Leistung‹ enthält« (Axel Honneth in: Fraser und Honneth 2003, 198).
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rungen bei der Ausübung allgemeiner Rechte einzusetzen, sondern auch gruppenspezifische Formen der Bevorzugung, Anerkennung oder Partizipation einzuklagen; erst mit dieser Wendung hin zu Forderungen nach der öffentlichen Anerkennung von kollektiven Identitäten ist es zu einer ›Kulturalisierung‹ sozialer Konflikte in dem Sinn gekommen, daß nun die Zugehörigkeit zu einer bestimmten, minoritären ›Kultur‹ zur moralischen Mobilisierung politischer Widerstandsbewegungen genutzt werden kann« (Axel Honneth, in: Fraser und Honneth 2003, 191).
Folglich kann Ethnizität besonders in einem Kontext gesellschaftlich erlebter Unterdrückung der eigenen Gruppe zu einem Mobilisierungsfaktor werden. Insofern ist für die Konstituierung und Mobilisierung ethnischer Gruppen auch der unmittelbare Kontakt mit anderen ethnischen Gruppen für das »ethnische Bewusstsein« von Bedeutung (Eriksen 1993, 11f.). Intellektuelle Eliten dieser Gruppe nehmen die Tatsache der Unterdrückung oder Nichtanerkennung auf und »unterbreiten« ihrer Gruppe ein »Identitätsangebot«30. Dieses Identitätsangebot ist jedoch nicht willkürlich, sondern bezieht sich auf unter bestimmten Bedingungen aktivierbare kulturelle Gruppenmerkmale, wie z.B. eine eigene Sprache, die sich von der Mehrheitssprache unterscheidet oder auf den Umstand, dass diese Gruppe bei der Mehrheit eine bestimmte Reputation genießt. Jedoch wird im Prozess der ethnischen Gruppenbildung eine Geschichte dieser Gruppe konstruiert, die eine gemeinsame Herkunft, eine gemeinsame Sprache, Kultur und möglicherweise auch Religion behauptet. Die Konstruktion ethnischer Gruppen weist hier Parallelen zur Herstellung von Nationen auf, jedoch findet sie innerhalb dieser statt, und damit unterhalb von Nationalstaatsbildungen (Apitzsch 1999a, 140). Insbesondere stellt sich aufgrund fehlender nationalstaatlicher Grenzen das Problem, dass die Grenzen ethnischer Gruppen schwer zu bestimmen sind (siehe Eriksen 1993, 11). Besonders aus systemtheoretischer Sicht wird aber die Funktion von ethnischer Vergemeinschaftung in Frage gestellt, da in einer funktional differenzierten Gesellschaft ihre Bedeutung als schwindend angesehen wird. Hier lässt sich jedoch anführen, dass die gesellschaftliche Partizipation sich nicht nur auf der Ebene
30 Eckhard J. Dittrich und Frank-Olaf Radtke (1990) sprechen in diesem Zusammenhang von einem »ethnischen Deutungsangebot«, »das vor allem von sich ethnisch definierenden Eliten strategisch zur Mobilisierung benutzt werden kann«. Andererseits habe die ethnische Identifikation die Funktion, das Individuum zu entlasten und ihm eine subjektive Orientierung zu bieten. Die Mobilisierungswirkung ethnischer Deutungsangebote besteht folglich darin, dass sie eine Anhängerschaft finden (Dittrich und Radtke 1990, 26).
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zweckrational bestimmter ökonomischer Arbeitsteilung bewegt, sondern die Frage nach kultureller Anerkennung und Teilhabe für bestimmte Bevölkerungsgruppen wichtig wird (hierzu siehe die Debatte zwischen Nancy Fraser und Axel Honneth 2003). Dies gilt auch für moderne, industrialisierte Gesellschaften.
6. E THNO - KULTURELLE D IVERSITÄT
IN DER
T ÜRKEI
Nach neueren Untersuchungen und Schätzungen gibt es in der Türkei über vierzig verschiedene ethno-kulturelle Gruppen (Andrews 1995; Zentrum für Türkeistudien 1998; Oran 2004a). Auch wenn im Rahmen dieser Untersuchung von diesen als »ethno-kulturelle Gruppen« gesprochen wird, verfügt nicht jede dieser über vierzig Gruppen über ein ethnisches Gruppenbewusstsein. Im Kontext der »Staatsbürgerschaftsdebatte« sind insbesondere zwei Gruppen von Bedeutung: 1. Die Kurden: Sie stellen eine mehrheitlich muslimische Bevölkerungsgruppe dar, die historisch betrachtet über eine eigene Sprache und eigene traditionelle Gesellschaftsstrukturen verfügt. Da sie offiziell nicht als Minderheit anerkannt sind, es aber bedeutende kurdische Forderungen nach Anerkennung gibt, stellen die Kurden eine wichtige Gruppe dar, die das offizielle Nation- und Staatsbürgerschaftsverständnis in der Türkei in Frage stellt. 2. Die Armenier: Auch wenn diese Gruppe zahlenmäßig klein ist, ist ihre öffentliche Bedeutung besonders mit den Diskussionen um die so genannte »armenische Frage«, in der es um die Auseinandersetzung geht, ob es sich 1915 um einen Völkermord an den osmanischen Armeniern handelte oder nicht, gewachsen.31 Die Armenier und die armenische Frage sind im Kontext der Debatten um Staatsbürgerschaft und Nation insofern von Bedeutung als sie als nicht-muslimische Gruppe erstens die Frage aufwerfen lassen, ob sie als Teil der türkischen Nation gedacht werden (können) oder nicht. Diese Frage betrifft ihre heutige Stellung als Minder-
31 Siehe z.B. folgende Zeitungsartikel in der deutschsprachigen Presse: Streitfall Völkermord, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.10.2006, S. 4; Wenig Erinnerung, keine Trauer, von Günter Seufert, in: Frankfurter Rundschau vom 28.06.2007, S. 17; oder das Dossier der Zeit: »Wer am Leben blieb, wurde nackt gelassen«. Dort heißt es: »Bis heute leugnet die Türkei den Genozid an den Armeniern, bei dem vor 90 Jahren mehr als eine Million Menschen getötet wurden. Auch Deutschland spricht lieber nicht von Völkermord.« Von Christian Schmidt-Häuer, in: Die Zeit vom 23.03.2005, S. 15-18
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heit in der Türkei. Eine zweite wichtige Frage, die durch die Debatten um die so genannte armenische Frage aufgeworfen wird, ist mit dem Themenfeld der Aufarbeitung der türkisch-osmanischen Geschichte verbunden: Hier sind einerseits die Verbindungslinien zwischen den »Ereignissen« von 1915, die als Deportation und gezielte Tötung von etwa einer Millionen Armeniern beschrieben werden, und dem historischen Prozess der türkischen Nationenbildung von Bedeutung. Andererseits lässt sich über die Situation der Gruppe der Armenier und die so genannte armenische Frage analysieren, wie sich der Umgang mit und die »Aufarbeitung« der Geschichte auf die aktuelle Entwicklung des türkischen Nationen- und Staatsbürgerschaftsverständnis auswirken. 6.1 Kurden Im Folgenden möchte ich die Gruppe der Kurden in der Türkei genauer beleuchten, um deutlich zu machen, in welchem Sinn der Begriff der ethno-kulturellen Gruppe auf sie bezogen werden kann. Die Kurden stellen als eine sprachlich und religiös recht heterogene32 Gruppe die größte Minderheit in der Türkei dar. Wenn man die Kurden als auf vier Staaten verteilt lebende Gruppe betrachtet, dann können sie nach Thomas Hylland Eriksen zusammen mit den Palästinensern oder Tamilen als »Proto-Nation« bezeichnet werden. Diese Bezeichnung wird für »ethno-nationale Bewegungen« verwendet, die sich durch das Vorhandensein politischer Eliten auszeichnen, und die für eine staatliche Unabhängigkeit oder mehr kulturelle Rechte innerhalb eines Nationalstaates kämpfen (Eriksen 1993, 14). Obwohl die Kurden als Gruppe ein zusammenhängendes Gebiet (Kurdistan33) im Länderviereck Türkei, Iran, Irak und Syrien bewohnen, besteht die primäre Schwierigkeit für die Behauptung einer kurdischen Einheit in der Tatsache, dass dieses Gebiet in verschieden historischen Phasen immer wieder zwi-
32 Die innere Heterogenität der Kurden ist einerseits Produkt einer historischen Ausbildung von religiöser, dialektaler, sprachlicher und regionaler Diversität, andererseits sieht z.B. van Bruinessen (1997) die Abgrenzung mancher als »kurdisch« betrachteter Gruppen vom Kurdisch-Sein als Reaktion gegen einen hegemonialen kurdischen Nationalismus in der Türkei an, dessen Legitimität aufgrund einer religiösen (Sunnitismus) und sprachlichen (Kurmanci als der größere kurdische Dialekt) Dominanz von Teilen der alevitischen Kurden und Zazasprechenden abgelehnt wird. Siehe hierzu auch Svenja Falk (1998, 125f.). 33 Zur geographischen und politischen Bedeutung dieses Begriffs siehe MacDowall (2000) und van Bruinessen (2003).
I. ZUM FORSCHUNGSRAHMEN DER ARBEIT | 51
schen den umliegenden Mächten aufgeteilt wurde.34 Somit leben die Kurden verteilt auf diese vier Staaten und bilden hier numerisch betrachtet jeweils Minderheiten. Der Rechtsstatus der Kurden in den jeweiligen Staaten ist unterschiedlich. Während sich im Irak35 seit dem Sturz des Baath-Regimes unter Saddam Hussein 2003 eine kurdische Regionalregierung herauskristallisiert hat, ist der Status der Kurden in den anderen drei Staaten schwieriger zu bestimmen (zur Situation der Kurden in den einzelnen Staaten siehe MacDowall 2000). Geht man von der Annahme aus, dass sich Sprache und Gruppenidentität erst in Verbindung mit dem Vorhandensein von Institution oder Organisation – im Gellnerschen Sinne mit der Koinzidenz von Staat und Kultur – entwickeln, so wird sichtbar, dass eine Abgrenzung kurdischer »Identität« von der türkischen, persischen oder arabischen besonders schwierig ist. Folglich besteht die Hauptproblematik in der Bestimmung von »Kurdisch-Sein«, über die Tatsache der Teilung der Kurden zwischen verschiedenen Staaten hinaus, im Fehlen eines kurdischen Staates als kulturellem »Abgrenzungs- und Konsolidierungsfaktor«. Denn schließlich sind eine Vereinheitlichung und die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache an die Existenz eines Staates gebunden.36 Ich konzentriere mich in dieser Arbeit ohnehin auf den Status der Kurden in der Türkei, jedoch ist die Tatsache, dass das von Kurden bewohnte Gebiet durch die Schaffung neuer Staaten nach dem 1. Weltkrieg auf diese verteilt wurde, ein wichtiger Hinweis auf die unterschiedliche Entwicklung der Kurden in den jeweiligen
34 Obwohl die türkischen Kurden in ihrer Geschichte keinen eigenen Staat besaßen, entstanden im frühen Mittelalter (10.-12. Jh.) kurdische Fürstentümer, die später im Osmanischen Reich eine relative Autonomie besaßen. Anschließend war Kurdistan eine gleichnamige osmanische Provinz, die bis zur Endphase des Osmanischen Reiches fortbestand. Zudem existierte im Iran kurzweilig die von der Sowjetunion unterstützte kurdische Republik Mahabad (1946-1947) in der heutigen iranischen Provinz Kordestan. Zu einer »gesamtkurdischen« Geschichte siehe van Bruinessen (2003); MacDowall (2000). 35 1970 haben die Kurden im Irak gegen das Baath-Regime einen autonomen Status erkämpft, der in den folgenden Jahrzehnten immer wieder durch das Baath-Regime in Frage gestellt wurde und zu militärischen Auseinandersetzungen führte. Aufgrund dieses de facto-Autonomiestatus‹ konnte sich die kurdische Sprache und Kultur hier stärker als in den Nachbarländern entwickeln. 36 Es kann in diesem Zusammenhang auf die teilweise generalisierbaren Prozesse des Nationbuilding in Europa hingewiesen werden, die vor allem in der Diffusion einer Hochsprache durch den Staat bestehen. Im Frankreich von 1789 z.B. sprach nur die Hälfte der Bevölkerung Französisch, während nur 12-13 % es korrekt sprachen (Hobsbawm 1996, 75).
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Ländern. Gewissermaßen ist dadurch eine »pankurdische« Lösung, die in der Schaffung eines einheitlichen kurdischen Staates liegen würde, einerseits aufgrund dieser unterschiedlichen Integrationslagen und internen Heterogenität der Kurden bzw. der kurdischen politischen Eliten selbst und andererseits aufgrund der Interessen der betreffenden Staaten praktisch nicht umsetzbar (hierzu Bruinessen 1997, 195). Die Zahl der kurdischen Bevölkerung in der Türkei wird auf ca. 15 Millionen geschätzt (Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, 31). Neben der Mehrheit der sunnitischen Kurden gibt es alevitische und yezidische. Zudem werden je nach politischem Standpunkt die Zazas entweder als Teil der kurdischen Gruppe oder als eigenständige ethno-kulturelle oder zumindest linguistische Gruppe gesehen. Zaza ist in erster Linie die Bezeichnung für die Sprache dieser – in sich dialektisch und religiös – auch sehr heterogenen Gruppe, die wie das Kurdische dem nordwestlichen Zweig der iranischen Sprachen zuzurechnen ist. Die Kurden bilden insofern eine wichtige ethno-kulturelle Gruppe in der Türkei als sie sich als numerisch große Minderheit einerseits den langjährigen Assimilationsversuchen widersetzt haben. Andererseits erheben kurdische politische und intellektuelle Eliten nach wie vor Forderungen nach kultureller Anerkennung und Rechten, die mit individuellen Forderungen seitens der kurdischen Bevölkerung koinzidieren. Zudem gab es seit Gründung der türkischen Republik immer wieder kurdische Aufstände, die mehr Autonomie von der Zentralregierung zum Ziel hatten. Zuletzt versuchte die PKK (Partiya Karkeren Kurdistan – Arbeiterpartei Kurdistans) seit Beginn der 1980er Jahre eine kurdische Unabhängigkeitsbewegung anzuführen, die jedoch 1999 mit der Festnahme des Chefs der PKK, Abdullah Öcalan, ihr vorläufiges Ende nahm. 6.2 Armenier Die Armenier bewohnten bis zu ihrer systematischen Vertreibung und Ermordung im Jahre 1915 hauptsächlich den heutigen Osten und Nordosten der Türkei. Dies war ihr historisches Land, das sie als erstes christliches Volk mit Staatskirche bereits seit vorchristlicher Zeit bewohnten. Sie lebten aber auch in vielen anderen Teilen der heutigen Türkei, viele von ihnen auch in Istanbul. Die Massaker von 1915, die bis dahin nicht die einzigen an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches waren, sind von den meisten Forscher/innen als Völkermord anerkannt worden (vgl. Kieser, Hans-Lukas; Schaller, Dominik J. 2002, Schaller Dominik J. 2004).37 Auch die UN haben 1948 in einer Resolution die
37 Während in dieser Frage, schematisch gesprochen, zwei miteinander konkurrierende Historiographien – eine offizielle türkische, die die Ereignisse von 1915 verharmlost
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massenhafte Vertreibung und Tötung der armenischen Bevölkerung als Genozid anerkannt. Schätzungen zufolge sind damals bis zu 1,5 Millionen Armenier getötet worden (Hoffmann, 1993). Die Zahl der armenischen Bevölkerung in der Türkei wird somit am Beginn der Republik auf noch etwa 300.000 geschätzt. Diese Zahl reduzierte sich auf aktuell 55.000 – 60.000 (Oran 2004a, 50), da viele nichtmuslimische Gruppen aufgrund von gezielten Angriffen und Druck das Land verlassen haben. Als Beispiel für diesen staatlichen und gesellschaftlichen Druck gegen nichtmuslimische Gruppen sind hier die Angriffe gegen die christliche (griechische) Bewohnerschaft im Jahre 1955 zu nennen. Ebenso gab es in den 1940er Jahren in der Türkei eine Vermögenssteuer, von der nur nicht-muslimische Gruppen betroffen waren, und die zu einem Ende ihrer finanziellen und gesellschaftlichen Existenz führte. Es ist anzunehmen, dass unter diesen schwierigen Existenzbedingungen nicht-türkische und nicht-muslimische Gruppen – auch die jüdischen Bewohner der Türkei waren hiervon betroffen – das Land nach und nach verlassen haben. Heute lebt eine beträchtliche armenische Gemeinde in Frankreich (Ritter 2001) und vor allem auch in den USA. Die armenische Gruppe in der Türkei, die nun zwar eine sehr kleine Minderheit darstellt, ist im Zuge von öffentlichen Diskussionen über die türkische Vergangenheit und die Frage, ob es sich 1915 um einen Völkermord handelte oder nicht, wieder ins Bewusstsein gelangt. Wie bereits dargelegt, geht es dabei nicht nur um die gegenwärtigen Existenzbedingungen der Armenier38 in der Türkei sondern um die Auseinandersetzungen der türkischen Politik und Öffentlichkeit mit der eigenen Geschichte. Diese Ausein-
und sogar leugnet und eine armenische, die diese Ereignisse unbedingt als Völkermord anerkannt wissen möchte – entstanden sind (vgl. Suny, Ronald Grigor 2002), setzten sich westliche Historiker für die Anerkennung der Vertreibung und Ermordung als Völkermord ein (vgl. Schaller, Dominik J. 2004). 38 Zu den historischen und gegenwärtigen Lebensbedingungen der armenischen Bevölkerung in der Türkei siehe Özdogan, Günay Göksu; Üstel, Füsun; Karakasli, Karin und Kentel, Ferhat (2009). Die Autor/innen untersuchen insbesondere die Fragen von »Sozialisationsprozessen, gesellschaftlichen Integrationsformen, Dynamiken von Situationen der Exklusion und der Akzeptanz in Hinblick auf politische Beteiligung, und in Verbindung damit die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Artikulationsräume der armenischen Bürger/innen« (S. 8, Übers. E.G.). Diese Frage ist insofern von Bedeutung als beim Beispiel der armenischen Bevölkerung einerseits die Mitgliedschaft in einer kulturell-religiösen Gemeinschaft von Relevanz ist, andererseits jedoch auch die gesamtgesellschaftliche Mitgliedschaft als Staatsbürger/innen der Türkei.
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andersetzung bleibt im Gegenzug auch nicht nur historisch, sondern betrifft den aktuellen Umgang mit ethno-kulturellen Minderheiten. Es ist davon auszugehen, dass die Thematisierung der armenischen Frage einen heiklen Gegenstand (siehe Akcam 1995) darstellt, der in der Türkei mit einem Tabu39 belegt war und ist. Taner Akcam spricht in diesem Zusammenhang jedoch von einer Lockerung des armenischen Tabus, die zu beobachten sei (Akcam 2002b). Auch in dieser Frage scheint die EU-Integrationsperspektive der Türkei jedoch neuen Spielraum der Thematisierbarkeit geschaffen zu haben.40
39 Nach Ansicht Taner Akcams, der zu den wichtigsten türkischen Forschern zur armenischen Frage zählt, ist diese Frage deshalb ein Tabu, weil sie aufs Engste mit der Konstruktion der »türkischen nationalen Identität« verbunden ist. Folglich würde eine Auseinandersetzung mit diesem Ereignis in der Geschichte die Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Konstruktion der nationalen Identität mit sich bringen. Akcam weiter: »Nahezu in allen Arbeiten wird entweder so getan, als gäbe es in der Geschichte diese Seite (die Massaker an den Armeniern, Anm.E.G.) nicht oder es wird lediglich mit ein paar Worten von einer Evakuation gesprochen« (Akcam 1995, 31; Übers. E.G.). Fatma Müge Göcek (2006) spricht in diesem Zusammenhang von der Hegemonie des türkischen Nationalismus und des Jahres 1915 (der als Beginn der Massaker an den Armeniern gilt) in der türkischen Historiographie. 40 Ein Indiz hierfür ist z.B. eine in Istanbul abgehaltene Konferenz, die im Mai 2005 zunächst durch die Intervention des türkischen Justizministers verhindert wurde und im September 2005 doch stattfinden konnte. Die Konferenz – die erste dieser Art in der Türkei – setzte sich kritisch mit der türkisch-osmanischen Vergangenheit und den Massakern an der armenischen Bevölkerung auseinander.
II. Theoretische Grundlagen von Nation
Im folgenden Kapitel geht es darum, das dieser Untersuchung zugrunde liegende Verständnis von nationalen Gesellschaften darzustellen und es für das im Kapitel III zu analysierende türkische Nationenbildungsprojekt aufzubereiten. Hierzu wird insbesondere die idealtypische Konstruktion von ethnisch und politisch definierter Nation herangezogen. Die Unterscheidung zwischen ethnischem und politischem Nationenbegriff blickt auf eine lange Geschichte zurück, die selbst als ein Nebenprodukt der Nationenbildungsprozesse der europäischen Staaten gesehen werden kann, hier insbesondere von Deutschland und Frankreich. Hierbei diente sie der Nationalismusforschung als wichtige Folie für die Unterscheidung zwischen verschiedenen Typen des Nationalismus und des Nationenbegriffs (Brubaker 1994 und 2007; Gellner 1999 und 1995; Alter 1985; Kohn 1950). Nach dieser historisch-begrifflichen Auseinandersetzung wird im Abschnitt 3 dieses Kapitels auf die Diskussionen über die gegenwärtige Bedeutung und Funktion des Nationalstaates eingegangen.
1. Z UR H ERAUSBILDUNG VON NATIONALEN G ESELLSCHAFTEN Die Herausbildung von Nationalstaaten in der Folge des Zerfalls von Monarchien im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts markiert den Beginn der Moderne insofern als es zu einer Verschiebung der Loyalität des Einzelnen von einem absolut herrschenden Monarchen auf einen abstrakten, d.h. nicht personifizierten Staat kommt. Ebenso geht die Souveränität von diesem Herrscher über auf ein Volk oder eine Nation. Deshalb kann die Zeit seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Europa grob als die Phase der Entwicklung und Herausbildung von Nationalstaaten gesehen werden, die die Epoche von monarchisch organisierten Staaten und Herrschaftsgebieten ablöst (Hobsbawm 1996). Die Entwicklung von
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Nationalstaaten ist in Europa nicht überall gleichmäßig verlaufen, da manche Staaten, wie Frankreich oder Großbritannien recht früh zu einer Konsolidierung ihres Herrschaftsgebietes gelangt sind, andere wiederum – hier ist an das Beispiel des Deutschen Reiches seit 1871 zu denken – konnten diverse Territorien erst später zu einem Nationalstaat vereinen. Ernest Gellner, dessen Theorie zur Herausbildung von nationalen Gesellschaften in der Literatur zum Nationalismus eine herausragende Rolle spielt, weil sie einen umfassenden, distanzierten und entmystifizierenden Blick auf dieses Phänomen bietet1, hat die Entwicklung von Nationalstaaten in Europa schematisch in vier große, von Norden nach Süden verlaufende Zeitzonen eingeteilt. Sie beginnt mit einer westlichen Zone, zu der Frankreich und Großbritannien gehören. In dieser Zone ist eine recht frühe Konsolidierung der Herrschaftsgebiete zu konstatieren und es gibt ein relativ zeitgleiches Auftreten und Verschmelzen eines Staats und einer nationalen Kultur.2 Staat meint hier im umfassenden Weberschen Sinn eine Organisation, die innerhalb einer Gesellschaft das Gewaltmonopol besitzt und mit dessen Hilfe Herrschaft über die betreffende Gesellschaft ausübt. Auch Gellner versteht hierbei den Staat im weitesten Sinn als Organisation, die als Zentralgewalt über ein bestimmtes Gebiet herrscht und darüber die Kontrolle ausübt (Gellner 1995 und 1999). Durch den Staat werden im Zuge der Nationalstaatsbildung die heterogenen und partikularen Kulturen des beherrschten Gebietes homogenisiert, da die Administration des Herrschaftsgebietes vor allem durch eine einheitliche Sprache ermöglicht wird. Im Sinne Gellners ist hierfür eine »Hochkultur«, die sich gegenüber verschiedenen regionalen Kulturen durchsetzt, Voraussetzung. Hier ist das Beispiel des französischen Staates, der schon zu Zeiten Henri IV. (15531610) im 16. Jh. administrativ vereinheitlicht wird, exemplarisch. Diese Vereinheitlichung verstärkt sich nach der Französischen Revolution weiter. Von nationaler Kultur kann zumindest dann gesprochen werden, wenn die Hochkultur das
1
Rogers Brubaker konstatiert: »Gellner approached the study of nationalism from Olympian distance, situating the emergence and vicissitudes of nationalism in worldhistorical perspective« (Brubaker 1998, 272). Siehe zu Gellners Nationalismus-Ansatz auch: The State of the Nation. Ernest Gellner and the Theory of Nationalism. Hg.: Hall, John A. (1998). Cambridge University Press. Cambridge.
2
Gellner benutzt hier die Metapher einer Ehe zwischen (nationaler) Kultur und (nationalem) Staat, wobei es zwischen diesen – wie zwischen Braut (nationale Kultur) und Bräutigam (Staat) – zu einer Vermählung, d.h. einer Verschmelzung kommen muss, damit von der Existenz eines Nationalstaats gesprochen werden kann (Gellner 1999, 89).
II. THEORETISCHE GRUNDLAGEN
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Herrschaftsgebiet penetriert hat und hier kleinere Kulturen verdrängt, um sich immer weiter durchzusetzen.3 Für den modernen Staat wurde im Zuge der Nationalstaatsbildung neben der Vereinheitlichung der Sprache ebenso die Vereinheitlichung und Standardisierung von Verwaltungsregeln wichtig. Dies entsprach einem Prozess der Rationalisierung von staatlicher Herrschaft (Hobsbawm 1996). Bei dem häufig zitierten Beispiel der diesbezüglichen Entwicklung in Frankreich, ist bezeichnend, dass sich vom so genannten Pariser Becken aus die Macht des französischen Zentralstaates über das heutige Frankreich ausdehnte. Emmanuel Todd schreibt, um dies zu verdeutlichen: »Der französische Staat, erst monarchisch, dann jakobinisch, dessen Bürokratie und vereinheitlichende Regeln nach und nach ganz Frankreich erfaßt haben, entstand aus der Expansion einer aggressiven Macht, deren ursprünglicher Sitz das dichtbevölkerte Pariser Becken war« (Todd 1998, 287). Wichtig bei dieser Entwicklung, die – mit einigen Ausnahmen – in anderen Regionen Europas ähnlich verlief, ist, dass sich eine einheitliche Sprache durchsetzte und mit der Zeit regionale Sprachen verdrängt wurden. In Deutschland z.B. gestaltete sich diese kulturelle Homogenisierungsarbeit des Staates wesentlich schwieriger, und im Gegensatz zu Frankreich setzte sich eine föderale Staatsstruktur durch. Die zweite Zone, von der Gellner spricht, wird von den mitteleuropäischen Staaten, wie Deutschland und Italien gebildet. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die Existenz einer nationalen Kultur dem Vorhandensein eines Staates vorausgeht. Gellner argumentiert hier, dass in den größeren europäischen Nationalstaaten, wie Deutschland und Italien zwar eine relativ homogene nationale Kultur existierte, dass es jedoch keinen Staat als Träger dieser nationalen Kultur gab. Er beruft sich hierbei auf das Vorhandensein einer nationalen Literatur, wie sie in dem einen Fall von Goethe und im anderen von Dante verkörpert wurde. Sowohl in Italien als auch in Deutschland suchte – in den Begriffen Gellners –
3
Am Beispiel der Schweiz kann einer solchen monokulturellen Auffassung von nationaler Kultur widersprochen werden, da in der Schweiz vier verschiedene Volksgruppen und unterschiedliche nationale Kulturen koexistieren (Heckmann 1992, 217f.). Die Schweiz fällt somit – insofern als hier nicht eine einzige sprachliche Kultur die Basis des Nationalstaates bildet – aus den gängigen Schemata der Definition von Nationen heraus und bildet eine Ausnahme. Das Beispiel Belgiens kann hier auch genannt werden, wobei die politischen und kulturellen Diskrepanzen zwischen dem walonischen und flämischen Teil in den letzten Jahren so stark zugenommen haben, dass in der belgischen Politik und Gesellschaft ernsthaft über die Gründung von zwei Teilstaaten diskutiert wurde und wird.
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diese relativ homogene nationale Kultur nach einem Staat als ihrem Träger. In der dritten Zone schließlich fehlen beide Elemente zunächst ganz. Diese Zone wird von den osteuropäischen Ländern Polen, Russland, Tschechei usw. gebildet (Gellner 1994a). Die Staaten dieser Zone erlangen wesentlich später als die der ersten Zone einen Nationalstaat. Zudem verläuft der Nationenbildungsprozess hier bisweilen schwierig bis gewaltsam, weil nationale Minderheiten schwer in den neuen Nationalstaat zu integrieren sind. Die Zustände in der vierten Zone ähneln weitestgehend denen in der dritten, wobei diese letzte Zone die ehemalige Sowjetunion umfasst und somit einen besonderen Fall darstellt (hierzu siehe Gellner 1999, 90f.; Gellner 1994a, 123f.). Wie Ernest Gellner folglich deutlich herausgestellt hat, geht die Entwicklung von Nationalstaaten einerseits einher mit einer Konsolidierung der Grenzen des Staates und andererseits mit einer Vereinheitlichung der Kultur auf dessen Herrschaftsgebiet (Gellner 1999, 19f.; Gellner 1995, 8f.). Diese beiden Elemente als die konstituierenden Teile eines Nationalstaates sind besonders in Gellners Nationalismustheorie explizit gemacht, jedoch auch in den meisten Definitionen von Nation vorzufinden. So schreibt Friedrich Heckmann, dass in den meisten Konzepten, die in der Literatur vorzufinden sind, der »Zusammenhang von ethnischem Gemeinsamkeitsbewußtsein und staatlicher Organisation […] für ›Nation‹ als konstitutiv« angesehen wird. (Heckmann 1992, 52). Der Grund für den Niedergang von Monarchien und der Entstehung von Nationalstaaten ist mitunter darin zu suchen, dass die Ideen der Aufklärung vor allem den Gedanken der Gleichheit unter den Menschen propagierten. Ein weiterer Grund für die Nationalstaatsbildung ist das sich verstärkende Gemeinsamkeitsbewusstsein unter den Individuen. So konnten sich durch die Errungenschaften des Industriezeitalters, wie dem Buchdruck, der Tageszeitung usw. die Mitglieder einer Gesellschaft im Sinne Benedict Andersons als Gemeinschaft imaginieren. Insofern kann man von der Nation als vorgestellte Gemeinschaft sprechen und nicht als eine tatsächliche, in der die Gruppenmitglieder einander kennen. Benedict Anderson analysiert die Herausbildung von Nationen als eng mit dem Aufkommen des Romans oder der Tageszeitung verknüpft, und geht von der Herstellung von Gemeinsamkeit unter den Gesellschaftsmitgliedern aus, die sich an verschiedenen Orten über die gleichen Ereignisse informieren können (Anderson 1996). Auch hier ist die Tatsache des Teilens einer gemeinsamen Sprache, die das Wissen um Gemeinsamkeit erst ermöglicht, von besonderer Bedeutung. Anderson unterstreicht in seiner Analyse die Vereinheitlichung nationaler Sprachen durch den sich entwickelnden Buchdruck. Ihre Homogenisierung betrachtet er als Folge der kapitalistischen Absatzbestrebungen der Zeitungs- und Buchproduzenten. Dazu führt Anderson Folgendes aus:
II. THEORETISCHE GRUNDLAGEN
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»Von grundlegender Bedeutung ist das Zusammenspiel von Unausweichlichkeit, Technologie und Kapitalismus. Vor dem Zeitalter des Kapitalismus bestand in Europa wie überall eine starke Differenzierung innerhalb der gesprochen Sprachen, das heißt solcher Sprachen, die für ihre Sprecher die einzigen Verständigungsmöglichkeiten ihres Lebens waren (und sind); […] Der Motor der ›Zusammenfassung‹ verwandter Umgangssprachen war der Kapitalismus […]« (Anderson 1996, 50).
Die Französische Revolution von 1789 führte zur Formulierung der Universellen Menschenrechte und zur Aufhebung der Stände. Mit ihr beginnt die politische Moderne, die vor allem dadurch gekennzeichnet ist, dass nicht mehr ein Herrscher als der Souverän gilt, sondern die Souveränität auf das Volk übertragen wird. Artikel 3 der Deklaration der Menschenrechte und des Staatsbürgers vom 26. August 1789 besagt, dass das Prinzip jeglicher Souveränität von der Nation ausgeht. Keine Körperschaft und auch kein Individuum kann demnach eine Autorität ausüben, die nicht explizit aus diesem Prinzip abgeleitet werden kann (Schnapper 2000, 23f.). Der Übergang der königlichen Souveränität auf das Volk ist ein langwieriger Prozess, der zumindest im Falle Frankreichs durch die administrative Homogenisierungsarbeit unter Henri IV. vorbereitet worden ist. Dieser musste die Unabhängigkeit seiner politischen Macht gegen große Feudalherren sowie gegen die Kirche durchsetzen und verteidigen. Dominique Schnapper spricht in diesem Zusammenhang von der Verteidigung der »Unabhängigkeit eines politischen Körpers sogar über seine eigene Person hinaus« (Schnapper 2000, 25; Übers. E.G.). Des Weiteren ist die Herausbildung von Nationalstaaten in der Epoche der Industrialisierung zu Beginn des 19. Jh. laut Ernest Gellner als Begleitumstand der Industriegesellschaft zu sehen. Gellner zufolge gehört dazu »[…] jene Art kultureller Homogenität, wie sie der Nationalismus verlangt […]. Es stimmt nämlich nicht […], daß es der Nationalismus ist, der diese Homogenität erzwingt; vielmehr ist es umgekehrt so, daß eine von objektiven, unausweichlichen Imperativen erzwungene Homogenität unter Umständen auf der Oberfläche die Form des Nationalismus annimmt« (Gellner 1995, 63). Anhand dieser Ausführungen Gellners lässt sich feststellen, dass er zwischen Nationalismus als Ideologie, die auch heute noch nach einer Übereinstimmung von Staat und nationaler Kultur strebt und der historischen Herausbildung von national verfassten Gesellschaften unterscheidet (hierzu auch Schnapper 2002). Als Folge des Überganges von Agrargesellschaften zu Industriegesellschaften kann es durch die sich herausbildende stärkere Vernetzung der Gesellschaftsmitglieder zur Verstärkung von Gemeinsamkeiten und zur Standardisierung der Kultur – insbesondere der Sprache als wichtigstes Kommunikationsmit-
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tel – kommen. Genau deswegen ist die Gesellschaftsform »Nation« nicht »ursprünglich« und »natürlich«, sondern eine Folge der Homogenisierung und Standardisierung von verwandten und ähnlichen Kulturen auf einem geographisch zusammenhängenden Gebiet. In Gellners Worten: »[…] der Nationalismus ist nicht das Erwachen einer uralten, latenten, schlafenden Kraft, wenn er sich auch selbst gerne so darstellt. Er ist in Wirklichkeit die Konsequenz einer neuen Form der sozialen Ordnung, die sich auf zutiefst verinnerlichte, von schulischer Ausbildung abhängige Hochkulturen gründet, von denen jede von ihrem eigenen Staat beschützt wird« (Gellner 1995, 76; Hervorhebung Gellner).
Damit weist Gellner auf die für seine Nationalismus-Theorie wichtige Annahme hin, dass zwar der Nationalismus als Ideologie des Nationalstaats Kulturen homogenisiert, jedoch auch eine sich bereits entwickelnde kulturelle Homogenität in der Zeit vor dem Nationalismus zur Geburt von Nationalstaaten beigetragen hat.4 Karl W. Deutschs folgender kommunikationstheoretischer Ansatz geht in die gleiche Richtung: »Ein Volk […] ist ein ausgedehntes Allzweck-Kommunikationsnetz von Menschen. Es ist eine Ansammlung von Individuen, die schnell und effektiv über Distanzen hinweg und über unterschiedliche Themen und Sachverhalte miteinander kommunizieren können. Dazu müssen sie ergänzende Kommunikationsgewohnheiten haben, gewöhnlich eine Sprache und immer eine Kultur als gemeinsamen Bestand von gemeinsamen Bedeutungen und Erinnerungen, der es wahrscheinlich macht, daß diese Individuen in der Gegenwart und in der nahen Zukunft gemeinsame Präferenzen und Wahrnehmungen miteinander teilen« (Deutsch 1972, 204, siehe auch Deutsch 1969, 19f.).
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Die kulturelle Homogenisierung und die Standardisierung der Sprache ist, wie zuvor schon erwähnt, auch ein wichtiger Aspekt der Nationalismus-Theorie Benedict Andersons. Anderson analysiert die Entstehung von auf der Basis einer nationalen Kultur organisierten Gesellschaften vornehmlich als einen Prozess der kulturellen Homogenisierung, die in erster Linie auf die Entwicklung von gemeinsam geteilten Kommunikationsmitteln zurückzuführen ist. Insofern als sich die Mitglieder einer solchen – z.B. aufgrund des Einflusses des Buchdruckes und der Entstehung gleichzeitiger politischer und sozialer Betroffenheiten kommunikativ vernetzenden – Gesellschaft wahrscheinlich nie persönlich gegenüberstehen werden, ist sie im Sinne Andersons eine »vorgestellte Gemeinschaft« (Anderson 1996).
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Wie weiter oben bereits angemerkt, kommt eine kulturelle Homogenität durch eine stetige administrative Durchdringung eines jeweiligen Herrschaftsgebietes durch die staatlichen Instanzen zustande. So beschreibt E. J. Hobsbawm, wie im Laufe des 19. Jahrhunderts selbst sehr entlegene Landstriche durch den Staat stetig administrativ erschlossen wurden: »Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden diese Eingriffe in ›modernen‹ Staaten so universell und zu etwas so Alltäglichem, daß eine Familie schon an einem äußerst unzulänglichen Ort leben mußte, wenn nicht das eine oder andere ihrer Mitglieder regelmäßig mit dem Nationalstaat und seinen Dienern in Berührung kommen sollte: durch den Briefträger, den Dorfschullehrer; durch die Bediensteten der Eisenbahn, sofern diese nicht privat betrieben wurde; gar nicht zu sprechen von den Kasernen und Garnisonen und den kaum zu überhörenden Militärkapellen« (Hobsbawm 1996, 98).
Diese administrative Erschließung von peripheren – d.h. außerhalb des Machtzentrums liegenden – Räumen sorgte zugleich auch dafür, dass sprichwörtlich aus Bauern Bürger wurden, die nun immer stärker mittels Schulen und Militärdienst Gegenstand des staatlichen Zivilisationsprojektes wurden5 (Eugen Weber 1976; Krishan Kumar 2006, 8). Für die Standardisierung von Kulturen spielt der Übergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft eine wichtige Rolle. Gellner zufolge unter-
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Sehr stark agrarisch geprägt – mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung waren Bauern (Eugen Weber 1976,116) –, wurde die nachrevolutionäre französische Landbevölkerung Eugen Weber zufolge einem »Prozess der Zivilisation« unterzogen. Die kostenlose und obligatorische Schule, jedoch vor allem die Dorfschule, wurde als das Mittel zur »Produktion« von Franzosen und somit von zivilisierten Individuen gesehen (Eugen Weber 1976, 303). Weiterhin schreibt Eugen Weber, in seiner viel zitierten und umfangreichen Studie zum Umgang der Vertreter des Zentralstaates mit der Landbevölkerung in Frankreich: »Between the 1860's and the 1880's we find repeated references in the reports of primary school inspectors to the progress of civilization and the role of the schools in civilizing the populations in whose midst they operated«. Weber vermutet aus heutiger Sicht, dass diese Berichte den vorherrschenden Glauben wiedergaben, »that areas and groups of some importance were uncivilized, that is, unintegrated into, unassimilated to French civilization: poor, backward, ignorant, savage, barbarous, wild, living like beasts with their beasts. They had to be taught manners, morals, literacy, a knowledge of French, and of France, a sense of legal and institutional structure beyond their immediate community« (Eugen Weber 1976, 5).
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scheidet sich die Bedeutung von Kultur in der agrarisch geprägten Gesellschaft von seiner Bedeutung in der Industriegesellschaft folgendermaßen: »Die Kultur ist nicht länger bloßer Schmuck, Bestätigung und Legitimation einer bestimmten Ordnung, die auch durch gröbere und gewalttätigere Zwänge zusammengehalten werden konnte; Kultur ist heute das notwendige gemeinsame Medium, das Lebensblut oder vielleicht besser die minimale gemeinsame Atmosphäre, innerhalb derer allein die Mitglieder der Gemeinschaft atmen und überleben und produzieren können. In einer bestimmten Gesellschaft muß dies eine Atmosphäre sein, in der alle atmen und sprechen und produzieren können: Es muß dieselbe Kultur sein. Und weiterhin muß es heute eine (schriftkundige, ausbildungsabhängige) Hochkultur sein – eine diversifizierte, lokalgebundene, analphabetische kleine Kultur und Tradition reicht für eine Industriegesellschaft nicht mehr aus« (Gellner 1995, 61, Hervorhebungen Gellner).
Wurde die Ausbildung der Individuen in der Agrargesellschaft durch die lokale Gemeinschaft oder im Rahmen der eigenen Familie durchgeführt, so wird sie mit dem Beginn des Industriezeitalters häufig außerhalb dieser Gemeinschaften, durch staatliche Institutionen, wie etwa Schulen, übernommen.6 Diese von Ernest Gellner so genannte Exo-Sozialisation oder Exo-Ausbildung des Individuums (Sozialisation außerhalb des Herkunftsortes) infolge einer stärkeren geografischen Mobilität der Bevölkerung trug ebenso zur kulturellen Vereinheitlichung bei, da vom Land stammende Personen, die in urbanen Zentren nach Arbeit suchten, sich nun an eine städtische Kultur anpassen mussten. Die Erziehung und Ausbildung war in den urbanen Räumen im Vergleich zum Land anonym und nicht mehr lokalgebunden. Die Exo-Sozialisation, »d.h. die Produktion und Reproduktion der Menschen außerhalb der lokalen vertrauten Einheit«, ist Gellner zufolge »der wichtigste Schlüssel zur Beantwortung der Frage, warum heute Staat und Kultur verbunden sein müssen, während in der Vergangenheit ihre Verbindung dünn, zufällig, verschiedenartig, locker und häufig minimal war« (Gellner 1995, 62, Hervorhebung Gellner). Festzuhalten ist, dass national integrierte Gesellschaften im Gegensatz zu multiethnischen Großreichen und zu feudalen und agrarisch geprägten Gesellschaften seit dem Ende des 18. Jh. quasi zu einer Norm geworden sind, die auch
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So schreibt Gellner: »Es empfiehlt sich die Unterscheidung zwischen einer Ausbildung‹ von Person zu Person innerhalb der Gemeinschaft‹ (intra-community training), die wir Akkulturation nennen, und spezialisierter Exo-Ausbildung (analog zur Exogamie), die auf Qualifikationen außerhalb der Gemeinschaft angewiesen ist und als eigentliche Ausbildung bezeichnet wird« (Gellner 1995, 51; Hervorhebungen Gellner).
II. THEORETISCHE GRUNDLAGEN
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zu einem Modell für viele postkoloniale Staaten wurden. Dabei war im Gellnerschen Sinne das Bestreben der politischen Herrscher die Herstellung einer Übereinstimmung zwischen Staat und nationaler Kultur. Während dies in Frankreich durch eine Zentralisierungsarbeit »nach innen« hin geschah und periphere, regionale Kulturen, wie das Okzitanische oder Bretonische inkorporiert wurden, erlangten im 19. Jh. im Zuge der Auflösung von Großreichen nationale Gruppen ihre Unabhängigkeit »nach außen« und bildeten eigene Nationalstaaten. Während es sich im ersten Fall – hier dienen Großbritannien und Frankreich als paradigmatische Beispiele – um eine Konsolidierung der Grenzen und der Herrschaft auf einem bestimmten Gebiet handelte, ging es im zweiten Fall um die Nationalbewegungen »kleiner Nationen«, die sich von Imperien, wie dem Habsburger Reich oder dem Osmanischen Reich, ablösten (siehe Miroslav Hroch 2000 und 2005). Das Prinzip beruhte jedoch in beiden Fällen auf dem Bestreben der nationalen Eliten oder der politischen Macht, eine Übereinstimmung zwischen Staat und nationaler Kultur herzustellen. Wie ist der Prozess der Nationalstaatsbildung im türkischen Fall verlaufen? Dieser Frage wird sich das Kapitel III ausführlich widmen. Zuvor wird auf eine analytische Unterscheidungskategorie der Nationalismusforschung eingegangen, die zur Erklärung verschiedener Typen des Nationalstaates herangezogen wird. Auch sie kann für die türkische Diskussion von Nutzen sein, da im Fall der Türkei genau dieser Gegensatz zu Kontroversen führt.
2. Z UM V ERSTÄNDNIS
VON N ATION IM S INNE DER IDEALTYPISCHEN U NTERSCHEIDUNG VON » ETHNISCHEM « UND » POLITISCHEM « N ATIONENBEGRIFF
Während einem ethnischen Verständnis von Nation eine auf gemeinsame Herkunft und Sprache beruhende Gemeinschaft zugrunde gelegt wird, wird der als politisch gedachten Nation eine auf den freien Willen beruhende Mitgliedschaft in einer solchen Nation zugeschrieben. Diverse andere Begriffe wurden in der Nationalismus-Forschung für die Beschreibung dieser idealtypischen Unterscheidung zwischen »ethnischer« und »politischer« Nation benutzt. So beschreibt z.B. die Unterscheidung zwischen Staatsnation und Kulturnation einen ähnlichen Sachverhalt, indem sie die Kulturnation – sehr im späteren Sinne der Nationalismustheorie Ernest Gellners – als eine vor dem Nationalstaat existierende kulturelle Einheit denkt. Dagegen wird die Staatsnation umgekehrt als eine erst mit der Errichtung eines Nationalstaates zu einer kulturellen Einheit finden-
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de Nation gedacht. Diese Unterscheidung wird auf Friedrich Meineckes 1907 erschienene Schrift »Weltbürgertum und Nationalstaat« zurückgeführt7 (vgl. Meinecke 1962). Als historischer Vorläufer dieser Unterscheidung kann auch der oft zitierte und mittlerweile klassisch gewordene Vortrag Ernest Renans aus dem Jahr 1882 genannt werden. Renans Definition der Nation als eine Willensgemeinschaft, die wie durch ein tägliches Plebiszit erneuert wird, nährte die Vorstellung der französischen Nation als auf den freien Willen der Individuen beruhende politische Nation im Gegensatz zu der ethnischen Nation (vgl. Renan, Ernest 1993, siehe auch Alter 1985, 19f.). Ebenso wird in den Untersuchungen von Hans Kohn die Unterscheidung zwischen subjektivem und objektiven Nation-Verständis – mit vielen Bezügen zum Begriffspaar »ethnisches« und »politisches« Nation-Verständnis – benutzt,
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In Friedrich Meineckes Untersuchung von 1907 »Weltbürgertum und Nationalstaat«, in der er sich mit der Entstehung des deutschen Nationalstaates auseinandersetzt, ist seine Auseinandersetzung mit Ernest Renans politischem Nationenbegriff deutlich zu erkennen. In dieser Studie führt Meinecke bereits Anfang des 20. Jh. eine »Formel« aus, die in der späteren Nationalismus-Forschung bis in die heutigen Tage einerseits als analytische und erklärende Unterscheidung herangezogen, ihre Geltung aber andererseits intensiv diskutiert wurde und wird (siehe z.B. Brubaker 2007). Friedrich Meinecke schrieb: »Man wird, trotz aller sogleich zu machenden Vorbehalte, die Nationen einteilen können in Kulturnationen und Staatsnationen, in solche, die vorzugsweise auf einem irgendwelchen gemeinsam erlebten Kulturbesitz beruhen, und solche, die vorzugsweise auf der vereinigenden Kraft einer gemeinsamen politischen Geschichte und Verfassung beruhen« (Meinecke 1962 [1907], 10). Weiter führte Meinecke zur Relativierung und Differenzierung der von ihm vorgenommenen Unterscheidung aus: »Der Fall, daß eine Kulturnation rein und ausschließlich aus gemeinsamer Kultur, ohne Mitwirkung eines irgendwelchen politischen Faktors entsteht, ist jedenfalls selten. […] Zur Entstehung der italienischen Kulturnation wirkte z.B. die Erinnerung an das römische Reich und wirkte ferner auch die politische Seite des Papsttums und der römischen Kirche mit. Ebenso wird umgekehrt aber kaum eine Staatsnation je entstanden sein ohne Mitwirkung irgendwelcher kultureller Faktoren«. Trotz dieser in beiden Typen der Nation gleichzeitig vorfindbaren Merkmale folgert er aber: »Voreilig aber ist es, wegen dieser Einschränkungen und Vorbehalte die begriffliche Scheidung von Kulturnation und Staatsnation überhaupt für wertlos zu erklären […]« (Meinecke 1962 [1907], 11). In diesen Sätzen thematisiert Meinecke eine wichtige Frage der Nationalismus-Forschung, die etwa hundert Jahre später in Roger Brubakers Untersuchung »Staats-Bürger. Frankreich und Deutschland im historischen Vergleich« (1994), in verblüffend ähnlicher Weise ausgedrückt wurden (siehe hierzu: Brubaker 1994, 24).
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um vergleichbare Sachverhalte zu beschreiben. Er benutzt für die Beschreibung der »gegenwartsbezogenen« westlichen und der »vergangenheitsbezogenen« östlichen Nationalismen auch das Begriffspaar »subjektiv« und »objektiv« verstandener Nationalismus (Kohn 1950, 449). Peter Alter benutzt die auf Friedrich Meinecke zurückgehende Unterscheidung zwischen »Staatsnation« und »Kulturnation« (Alter, 19f.). Die in den Sozialwissenschaften vorgenommene idealtypische Unterscheidung zwischen ethnischem und politischem Nationenbegriff geht vor allem auf den historischen Antagonismus zwischen universalistischem französischen und partikularistischem deutschen Nationenbegriff zurück (hierzu insbesondere Brubaker 1994; Noiriel 2001, 137; Kallscheuer und Leggewie 1994; Weil 2004, 281f.).8 Diese Unterscheidung wird zwar als zu schematisch kritisiert, sie wird jedoch in den meisten Arbeiten über Nationalismus und Nation verwendet. D.h., die Forscher/innen kommen nicht um diese Unterscheidung umhin, wenn sie sich dem Begriff und dem Verständnis der jeweiligen Nation und des Nationalstaates nähern wollen. Dies kann damit begründet werden, dass diese Unterscheidung – um die Worte Brubakers (1994) zu zitieren – »in differenzierter Form« […] »unerlässlich ist«, weil sie Aufschluss über das Verständnis nationaler Zugehörigkeit in verschiedenen Nationalstaaten geben kann (Brubaker 1994,
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Die Unterscheidung zwischen einem partikularistischen, d.h. eher kulturell geprägten und einem universalistischen, d.h. eher politisch geprägten Begriff des Nationalen geht ebenso auf die Differenzierung zwischen Staatsnation und Kulturnation durch Friedrich Meinecke zurück (siehe Friedrich Meinecke 1962 [1907]). Als historischer Vorläufer dieser Unterscheidung kann auch der oft zitierte und klassisch gewordene Vortrag Ernest Renans aus dem Jahr 1882 genannt werden. Renans Definition der Nation als eine Willensgemeinschaft, die durch ein »tägliches Plebiszit« neu entsteht, nährte die Vorstellung der französischen Nation als auf den freien Willen der Individuen beruhende politische Nation im Gegensatz zu der ethnischen Nation (vgl. Renan, Ernest 1993). Siehe auch: Alter, Peter (1985, 19f.). Ebenso wird in den Untersuchungen von Hans Kohn die Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Nation-Verständnis – mit vielen Bezügen zum Begriffspaar »ethnisches« und »politisches« Nation-Verständnis – benutzt, um vergleichbare Sachverhalte zu beschreiben. Hans Kohn unterschied mit diesen Begriffen »gegenwartsbezogene« westliche (subjektiv) und »vergangenheitsbezogene« östliche Nationalismen (objektiv) (Kohn 1950, 449). Peter Alter benutzt ebenso die auf Friedrich Meinecke zurückgehende Unterscheidung zwischen »Staatsnation« und »Kulturnation« (vgl. Alter, 1985, 19f.).
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24)9. Die Frage, die diese Unterscheidung erklären konnte und auch heute noch teilweise erklären kann, ist die Frage nach den Bedingungen der Mitgliedschaft. Wer kann unter welchen Bedingungen Mitglied des Nationalstaats sein oder werden? Auch wenn selbst von Rogers Brubaker (2007) eingestanden wird, dass diese Unterscheidung an Erklärungskraft eingebüßt hat, kann sie als analytischer Begriff für die Erklärung des ein und selben Falles von Nationalismus und Nationalstaat herangezogen werden. So wird diese Unterscheidung auch in Hinblick darauf als unzulänglich gesehen, dass sie nicht eins zu eins auf einen Fall übertragen werden kann. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass ethnische und politische Elemente in dem ein und selben Fall vorzufinden seien (z.B. Silvermann 1994). Ebenso kann somit auch nach den Verbindungen einer jeweils unterschiedlichen Entwicklung der Nationalstaaten – d.h. ob sie stärker ethnisch oder politisch geprägt sind – und dem jeweiligen Staatsbürgerschaftsbegriff gefragt werden (Kadioglu 1999a, 259). Der Gegensatz im Verständnis des Nationalen in Frankreich und Deutschland gilt als wissenschaftlich und politisch (re-)konstruiert (Kallscheuer und Leggewie 1994). Bei dieser Konstruktion spielte vor allem der Disput zwischen Intellektuellen aus den beiden Ländern um die kulturelle Zugehörigkeit ElsassLothringens eine zentrale Rolle. Elsass-Lothringen bildete über Jahrhunderte ein Streitobjekt zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich. Es war im Wechsel jeweils Teil Frankreichs und des Deutschen Reiches.10 Die französischen Intel-
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Brubaker, der diese Unterscheidung später relativiert hat (siehe Brubaker 2007), lehnte in seinem Vergleich des deutschen und französischen Nation-Verständnisses eine schablonenhafte Gegenüberstellung ab, vertrat aber die Ansicht, dass diese Unterscheidung eine erklärende Kraft hat: »In differenzierter Form jedoch ist eine Gegenüberstellung des französischen und des deutschen Nationalverständnisses und der unterschiedlichen Formen des Nationalismus nach wie vor unerläßlich. Ich möchte die analytische und erklärende Kraft dieser Gegenüberstellung zurückgewinnen und sie vor dem Schicksal einer geläufigen, selbstgefälligen, sehr anfechtbaren Formel, zu der sie verkommen war, bewahren, denn das deutlich verschiedene und tief verwurzelte französische und deutsche Nationalitätsverständnis hat sich jeweils als erstaunlich robust erwiesen« (siehe Brubaker 1994, 24). Wie bereits oben erwähnt, zeigt diese Aussage Brubakers interessante Ähnlichkeiten mit Friedrich Meineckes etwa hundert Jahre zuvor gemachten Feststellungen.
10 Nachdem Elsass-Lothringen seit dem frühen Mittelalter Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war, wurde es 1681 von Frankreich besetzt. Erst nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 kam Elsass-Lothringen wieder unter deut-
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lektuellen, darunter als namhafte Vertreter Ernest Renan und Fustel de Coulanges, argumentierten, Elsass-Lothringen sei ein Teil Frankreichs, da die französische Nation auf eine voluntaristische Zugehörigkeit ihrer Mitglieder beruhe und nicht auf eine ethnische und kulturelle. Dagegen argumentierten die deutschen Intellektuellen, Elsass-Lothringen sei ethnisch und kulturell deutsch und könne somit nur ein Teil des Deutschen Reiches sein (vgl. von Thadden 1996, 499). Fustel de Coulanges schrieb beispielsweise 1870 an den deutschen Historiker Theodor Mommsen: »Es ist möglich, daß das Elsaß deutsch ist nach Rasse und Sprache, doch es ist französisch der Nationalität und seinem vaterländischem Gefühl nach« (zitiert nach Brubaker 1994, 36f., hierzu siehe auch Schnapper 2003, 231f.). Auch die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands und der Völkermord an der jüdischen Bevölkerung haben zur Mitte des 20. Jahrhundert einen Begriff von völkischem Deutsch-Sein untermauert und somit zu einem auf »Ethnie« und »Rasse« beruhenden Verständnis von Deutsch-Sein beigetragen. Mit dem genannten deutsch-französischen Antagonismus wird auf bis vor einigen Jahren bestehende tatsächliche Unterschiede im Erwerb der Staatsbürgerschaft hingewiesen (Brubaker 1994). Während das deutsche Einbürgerungsprinzip bis ins Jahr 2000 im Wesentlichen auf dem ius sanguinis beruhte und damit nur zu deutschen Staatsangehörigen machte, wer auch seine deutsche Abstammung belegen konnte (der Fall der Russlanddeutschen wird hierbei gerne zitiert), war das französische Einbürgerungsprinzip vom so genannten ius soli geleitet, wonach in Frankreich geborene Kinder von Einwanderern mit Vollendung des 18. Lebensjahres die französische Staatsbürgerschaft annehmen konnten. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Formen des Erwerbs der Staatsbürgerschaft kann insofern prägnant mit den Worten werden und sein umschrieben werden, wobei sie sich auf Formen der staatsbürgerlichen Inklusion beziehen. Rogers Brubakers Untersuchung über Staatsbürgerschaft in Frankreich und Deutschland argumentiert im Anschluss an diese Dichotomie, dass ein jeweils historisch unterschiedlich gewachsenes Verständnis von Nation in beiden Ländern zu unterschiedlichen Einbürgerungspolitiken geführt hat (Brubaker 1994). Zwar argumentiert Brubaker auch, dass zu jeweiligen Zeitpunkten in Frankreich auch ein ethno-kulturelles und in Deutschland eher ein politischinklusives Verständnis der eigenen Nation an Gewicht gewann. Jedoch glaubt er,
sche Hoheit und blieb es bis 1918. Nach einer kurzen Phase der Unabhängigkeit wurde Elsass-Lothringen wieder von Frankreich besetzt. Nachdem Elsass-Lothringen 1940 von der deutschen Wehrmacht besetzt wurde, ist es seit dem Ende des 2. Weltkriegs schließlich wieder fester Teil Frankreichs geworden.
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dass das ethnische Verständnis in Deutschland und das politische in Frankreich tief verwurzelt sind.11 Bei der Integration von Einwanderern in die französische Gesellschaft war bislang idealtypisch von einem Prozess des Franzose-Werdens auszugehen. So führt Dominique Schnapper für die französische Erfahrung bis in die 1980er Jahre hinein12 aus: »[…] par son principe même de légitimité, l’appartenance à la nation française est ouverte (au moins dans l’idéal) à tous ceux qui sont prêts à adopter ses valeurs. L’identité natio-
11 Wie bereits erwähnt, distanziert sich Brubaker in einer neueren Arbeit jedoch von der in seiner früheren Arbeit (Brubaker 1994) angenommenen Fruchtbarkeit der Dichotomie zwischen ethnischem und staatsbürgerlichem Verständnis von Nation für die Analyse des Nationalismus. Er schlägt vielmehr eine Unterscheidung zwischen staatlich geprägter und gegenstaatlicher Nationalität vor, die er als analytisch produktiver ansieht. Die Relativierung der alten Dichotomie erscheint ihm als notwendig, da das für den Prototyp des staatsbürgerlichen Nation-Verständnisses gehaltene französische Nationenmodell auch stark exklusionistische Züge trägt und so genannte ethnische Nationalismen auch inklusionistische Merkmale haben, weil die Grenzen der ethnisch gedachten Nation auch nicht immer eindeutig sind (hierzu Brubaker 2007, 186-206). »[D]er Begriff der staatlich geprägten Nationalität oder des staatlich geprägten Nationalismus« versetze uns in die Lage, »darüber nachzudenken, auf welche Weise sprachliche, kulturelle und sogar (im engeren Sinne) ethnische Aspekte von Nationalität und Nationalismus durch den Staat gedeutet, vermittelt und geformt werden« (Brubaker 2007, 204). Da der als staatsbürgerlich gedachte Nationalismus, z.B. in Frankreichs Fall, starke kulturelle Inhalte aufweist, schließt sich Brubaker hiermit der liberalen Kritik Will Kymlickas an der vorgeblichen Differenzblindheit des staatsbürgerlichen Nationalismus an. 12 In den 1990er Jahren begann auch in Frankreich in den Sozialwissenschaften eine rege Debatte über das republikanische Integrationsmodell. Dieses Modell wurde nun zunehmend in Frage gestellt und als monokulturell kritisiert (siehe Schnapper 2007, 88f.; Khosrokhavar 1997, Hervieu-Léger 1997). Dominique Schnapper führt aus, dass die Debatten in Frankreich während der 1980er bis 1990er Jahre geprägt waren von einer Opposition zwischen »integrationistischen« Forscher/innen, die sich gerne als »Republikaner« bezeichneten auf der einen und »Multikulturalisten«, die inspiriert von Kommunitaristen davon überzeugt waren, dass es neuer Modelle der Integration bedarf, auf der anderen Seite. Die »republikanischen« Forscher/innen waren hierbei davon überzeugt, dass die Probleme der Integration vielmehr mit sozialen als mit ethnischen Problemen zu tun hatten (siehe Schnapper 2007, 90f.).
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nale n’est pas un fait biologique, mais culturelle: On est Français par la pratique d’une langue, par l’interiorisation d’une culture, par la volonté de participer à la vie économique et politique« (Schnapper 1989, 23).
Dagegen wurde das Deutsch-Sein häufig als Status gedacht, den man mit der Geburt erwirbt (Heckmann 1992, 213). Es gibt jedoch faktisch einschneidende gesellschaftliche und rechtliche Veränderungen, die nunmehr eine rein ethnische Begründung des Deutsch-Seins relativieren. Die Veränderungen sind in erster Linie auf eine Vereinheitlichung der Bestimmungen auf EU-Ebene zurückzuführen. So wurde mit dem Maastricht-Vertrag (Vertrag über die Europäische Union) von 1993 die Unionsbürgerschaft eingeführt, wodurch Bürger/innen der damals 15 Unterzeichnerstaaten, sofern sie sich in einem anderen EU-Land aufhielten, dort das aktive und passive Wahlrecht erhielten. Durch die Reform des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts von 1991 und vor allem 2000 sind die Zahlen der Einbürgerungen stark gestiegen und haben sich Frankreich angenähert. Heike Hagedorn spricht in diesem Zusammenhang von der Konvergenz des deutschen und französischen Staatsbürgerschaftsmodells (Hagedorn 2000 und 2001). Hierdurch, so Hagedorn, wird der als solcher konstruierte deutsch-französische Antagonismus im Nation-Verständnis quasi aufgehoben. Da sich diese Integration zunächst nur auf der formellen Ebene des Erwerbs der Staatsbürgerschaft ausdrückt, kann jedoch davon ausgegangen werden, dass Unterschiede in Hinblick auf die soziale und kulturelle Integration von Einwanderern in beiden Ländern weiter bestehen bleiben. Hagedorn richtet sich gegen eine von Brubaker (1994) konstatierte Grundverschiedenheit der Ausformung des Nation-Verständnisses in beiden Ländern und konstatiert aufgrund empirischer Befunde der Einbürgerungszahlen eine Angleichung zwischen Deutschland und Frankreich (Hagedorn 2000 und 2001). Jedoch gehen auch aus ihrer Untersuchung für die Zeit vor 1994 deutlich höhere Einbürgerungszahlen in Frankreich hervor als in Deutschland.13
13 Während in den Jahren 1973 bis etwa 1990 die Zahl der Einbürgerungen in Frankreich bei ca. 35.000-70.000 pro Jahr lag, belief sich diese Zahl für Deutschland auf ca. 10.000-15.000 Einbürgerungen pro Jahr. Durch die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts im Jahr 1991 holt Deutschland in der Tat auf. Die Zahl der Einbürgerungen steigt im Jahr 1996 auf über 80.000 (Hagedorn 2000, 26).
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2.1 Kritik des deutsch-französischen nationalen Antagonismus Die schematische Gegenüberstellung zwischen deutschem und französischem Nationalverständnis erfährt nicht nur im Prozess einer Konvergenz und Vereinheitlichung nationaler Einbürgerungspolitiken sowie im Zuge von Migrationbewegungen eine zunehmende Revision. Ihre Begründetheit wird auch von verschiedenen Seiten theoretisch und methodologisch in Frage gestellt. So zielt eine ideengeschichtlich argumentierende Kritik an diesem Antagonismus auf dessen konstruktivistischen Charakter ab, indem darauf hingewiesen wird, »daß die jeweilige Wahrnehmung der (eigenen und fremden) Nation selbst ein historisches Konstrukt ist« (Kallscheuer und Leggewie 1994, 113). Eine andere Kritik ist methodischer Art und besagt, die idealtypische Unterscheidung verberge, dass in beiden Formen jeweils »ethnische« als auch »politische« Elemente in bestimmten historischen Perioden zur Geltung kommen können. So argumentiert Maxim Silvermann: »Die Unterscheidung zwischen den zwei Modellen von Nation ist höchst problematisch, und ist (wenn es sich überhaupt um unterschiedliche Modelle handelt) nicht einfach auf den Unterschied zwischen einzelnen Ländern abbildbar (z.B. Frankreich und Deutschland in der Vergangenheit, Frankreich und die USA oder Großbritannien heute), sondern betrifft Differenzen in den Ländern selbst« (Silvermann 1994, 34).
Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive wird argumentiert, dass zu bestimmten historischen Perioden restriktivere oder großzügigere Einbürgerungspolitiken erforderlich wurden, um z.B. demographische Schwankungen auszugleichen. Das ius soli in Frankreich könne demnach retrospektiv als Mittel zur Rekrutierung von Menschen und Soldaten gedeutet werden (Bielefeld 1994, 8). Im Gegensatz zu Brubaker, der verschiedene Konzeptionen von Staatsbürgerschaft in Deutschland und in Frankreich als Ausdruck eines jeweils verschiedenen Nationenverständnisses sieht, geht z.B. Gosewinkel der Frage nach, unter welchen politischen Bedingungen sich die nationalen Unterschiede herausbildeten und sich gegebenenfalls zurückbilden (Gosewinkel 2001, 49). Er analysiert folglich ein jeweils unterschiedlich ausgeprägtes Verständnis von Nation nicht als auf nationale Traditionen und Überzeugungen zurückführbar, sondern als Konsequenz bestimmter politischer Konstellationen und Interessen zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt. Schließlich stellen, wie weiter oben dargelegt, empirische Studien diesen deutsch-französischen Antagonismus gar gänzlich in Frage, da vor dem Hinter-
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grund einer sich angleichenden Einbürgerungspraxis es zu einer Konvergenz dieser beiden Modelle komme (Hagedorn 2000). Festzuhalten ist, dass der Gegensatz aufgrund von Konvergenzen in verschiedenen Bereichen, wie der Einwanderungspolitik oder auch der Frage der EU-Integration weitestgehend an Bedeutung verliert. Er spielt für die historische Analyse des Nationalstaates jedoch weiterhin eine bedeutende Rolle und kann – ohne ihn auf den deutsch-französischen Antagonismus zu reduzieren – für die Analyse verschiedener Nationalismen benutzt werden. Hier kann im Anschluss an Rogers Brubaker (2007) auch die »behutsame Alternative« einer Unterscheidung zwischen Nationen und ethnischen Gruppen mit und ohne Staat für die Analyse von historischen und aktuellen Nationenbildungsprozessen herangezogen werden, um die »ethnischen« und »politischen« Elemente zu definieren. Brubaker kritisiert insbesondere eine Wertung, die in dieser Unterscheidung stecke, und die die »ethnische« Form als »schlecht« und die politische als »gut« darstelle (Brubaker 2007, 186ff.). Jedoch knüpft auch dieser Vorschlag an die idealtypische Unterscheidung zwischen »Staatsnation« auf der einen und »Kulturnation« auf der anderen Seite an. Nach dieser historischen und begrifflichen Auseinandersetzung um verschiedene Typen nationaler Gesellschaften, soll im Folgenden auf den Veränderungsprozess des Nationalstaates eingegangen werden. Nationalstaaten unterliegen heute verschiedenen Einflüssen und können nicht mehr als »entités closes« verstanden werden. Was bedeutet dies für die Debatte um die Zukunft des Nationalstaates im Allgemeinen und die türkische Debatte im Besonderen?
3. Z UR B EDEUTUNG
DES
N ATIONALSTAATES
HEUTE
Der heutige Nationalstaat und die Institution der Staatsbürgerschaft sind Jürgen Mackert zufolge zwei entgegen gesetzten Prozessen ausgesetzt. Einerseits kann von einer Universalisierung der Staatsbürgerschaft gesprochen werden, die in ihrer vermeintlichen Loslösung vom Nationalstaat und ihrer Ausweitung auf supranationale Gebilde wie der EU oder den Diskursen eines Global citizenship (Mackert 2006, 89f.) zum Ausdruck kommt. Andererseits wird von einer Partikularisierung der Staatsbürgerschaft gesprochen, die in der internen Heterogenisierung und Multikulturalisierung von ehemals kulturell relativ homogenen Nationalstaaten gesehen wird (Mackert und Müller 2007, 16f.; hierzu auch Pries 2008). Die meisten Forscher/innen gehen davon aus, dass der Nationalstaat im Zeitalter der Globalisierung an Souveränität und Gestaltungsmacht verliert (Yasemin
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Soysal 199414, Ludger Pries 2008, Seyla Benhabib 2008b, Habermas 1996, 128f. und 1998, 105f.). Hierbei stellen die Transnationalisierungsthese15, wie sie von Ludger Pries (2008) vertreten wird oder das Konzept der Transstaatlichen Räume16 von Thomas Faist (2000), eigene empirische und analytische Ansätze dar, die davon ausgehen, dass nationalstaatliche Grenzen – insbesondere durch die transnationalen Aktivitäten von Migrant/innen – immer durchlässiger und unbedeutender werden. Die Globalisierung, gekennzeichnet von internationaler Migration, Transmigration und Transnationalisierung, einer globalen, sich immer stärker verflechtenden Wirtschaft oder den technologischen Möglichkeiten wie das Internet, ist ein Grund für diesen angenommen Bedeutungsverlust des Natio-
14 Yasemin Soysal argumentiert, dass die Partizipation von »Gastarbeitern« in den Einwanderungsgesellschaften als soziale, politische und ökonomische Akteure, die mit einem breiten Spektrum von Rechten und Privilegien ausgestattet sind, die ursprüngliche Gründungslogik der nationalen Staatsbürgerschaft in Frage stellt (Soysal 1994, 2). Ihre Analyse richtet sich auf die Ausweitung von quasi-staatsbürgerlichen Rechten auf Einwanderer in europäischen Staaten. Dieser Vorgang verändert Soysal zufolge die klassische Konzeption der Staatsbürgerschaft, wonach nur nationale Mitglieder in den Genuss von Bürgerrechten kommen. Ihre Analyse zeigt, dass in vielen europäischen Ländern, diese Rechte mehr und mehr auch von Nicht-Staatsbürgern wahrgenommen werden können. Demzufolge zeigt sie, dass »incorporation into a system of membership rights does not inevitably require incorporation into the national collectivity« (Soysal 1994, 3). 15 Hierbei unterscheidet der Autor die Transnationalisierung von der Globalisierung dadurch, »dass Erstere zwar grenzüberschreitende, aber nicht globale im Sinne von ›überall präsente‹ Phänomene bezeichnet«. Die Transnationalisierung unterscheidet sich Ludger Pries zufolge von der Globalisierung dadurch, dass es sich bei der Intensivierung von zwischenstaatlichen und intergouvernementalen Beziehungen nicht um die Beziehungen zwischen Regierungen und Staaten handelt, »sondern um die alltagsweltliche, organisationsbezogene und um institutionalisierte Verflechtungsbeziehungen zwischen individuellen und kollektiven Akteuren« (Pries 2008, 16). 16 Während sich der Ansatz des Transnationalismus aus Sicht Thomas Faists auch auf nationale Gruppen ohne eigenen Staat bezieht, geht es im Konzept Transstaatlicher Räume »um die Probleme, die Migration für staatliches Handeln, Staatsbürgerschaft und Zivilgesellschaft mit sich bringen kann« (Faist 2000,14). Transstaatliche Räume, wie sie von Faist u.a. am Beispiel der türkisch-deutschen transstaatlichen Beziehungen untersucht werden, bezeichnen – ähnlich zu Ludger Pries‹ Ansatz – »verdichtete ökonomische, politische und kulturelle Beziehungen zwischen Personen und Kollektiven, die Grenzen von souveränen Staaten überschreiten« (Faist 2000,10).
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nalstaates. Ahmet Icduydu und Fuat Keyman drücken den Einfluss der Globalisierung auf die Gestaltungsmacht des Nationalstaates folgendermaßen aus: »Insoweit als die Globalisierung die bislang durch die Moderne privilegierte Dimension des Nationalen erschüttert, dazu führt, dass die Beziehung von Zeit und Raum im Beziehungsgeflecht des Globalen und Lokalen konstruiert wird, und einen günstigen Boden für das Herantragen von Forderungen nach Identität/Differenz in den öffentlichen Bereich bereitstellt, hat sie zu einer Unübersichtlichkeit der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft geführt, ihnen eine multidimensionale Qualität verliehen und in diesem Zusammenhang zu einer ›Legitimitätskrise‹ der Herrschaftslogik- und Philosophie geführt, wonach die Gesellschaft auf Grundlage der Souveränität des Staates und einer einzigen Identität regiert werden kann« (Icduygu und Keyman 2004, 158; Übers. E.G.).
Der andere Grund ist die Herausbildung von supranationalen Gebilden wie der EU, an welches die Mitgliedstaaten vormals nationale Kompetenzen abgeben müssen. Obwohl nach Seyla Benhabib (2008b) damit das Ende des Modells der »unitarischen (Staats-)Bürgerschaft«17 eingeläutet scheint, bedeutet dies ihr zufolge nicht automatisch, dass »sein Einfluss auf unsere politischen Vorstellungen oder seine normative Macht, unsere Institutionen zu bestimmen, obsolet geworden
17 Dazu führt Seyla Benhabib aus: »In der politischen Entwicklung menschlicher Gemeinwesen sind wir an einem Punkt, an dem das unitarische Modell der (Staats-)Bürgerschaft, das den Aufenthalt in einem spezifischen Territorium mit der Unterwerfung unter eine gemeinsame, bürokratische Regierung bündelt, die ein Volk repräsentiert, wahrgenommen als ein mehr oder weniger zusammenhängendes Ganzes, an ein Ende kommt. Heute sind wir mit dem Desaggregieren von Bürgerschaft konfrontiert. Damit sind institutionelle Entwicklungen gemeint, die drei konstitutive Dimensionen von (Staats-)Bürgerschaft voneinander lösen, nämlich die Dimension kollektiver Identität, die der Vorrechte politischer Zugehörigkeit sowie die des Anspruchs auf soziale Rechte und Leistungen. Immer mehr Menschen aus vielen Teilen der Erde, von Nordamerika bis Europa, von Südasien bis Lateinamerika, leben in Gastländern, ohne deren kollektive Identität zu teilen, und genießen dort als Gastarbeiter oder als dauerhaft dort lebende Einwohner bestimmte Rechte und Leistungen. Der Anspruch auf soziale Rechte, nach Thomas H. Marshall die höchste Stufe der Staatsbürgerschaft, wird so von der Dimension geteilter kollektiver Identität und politischer Zugehörigkeit losgelöst« (Benhabib 2008b, 43). Mit diesen Ausführungen schließt sich Benhabib Yasemin Soysals These der Dissoziation von nationaler Staatsbürgerschaft und sozialen Rechten an (Soysal 1994; Soysal 2000).
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wären« (Benhabib 2008b, 45). Benhabib führt das supranationale Gebilde EU und die Entkoppelung des Staatsbürgerstatus‹ von klassischen Staatsbürgerrechten, wie das Wahlrecht von Nicht-Staatsangehörigen auf lokaler Ebene, als Beispiel der Desaggregation von Staatsbürgerschaft an. Durch den Besitz der Unionsbürgerschaft können sich EU-Bürger/innen im EU-Raum prinzipiell frei bewegen, sich niederlassen und in den Genuss von sozialen aber auch begrenzten politischen Rechten kommen (Benhabib 2008b, 45; Mackert 2006, 96; Preuß 1997, 249). Benhabib zufolge wirft die darin sichtbare Verbreitung kosmopolitischer Normen18 die Frage auf, wie mit den Veränderungen des demos umzugehen ist. Dies erfordert nach Benhabib die Bereitschaft, »Formen politischen Handelns und von Subjektivität zu denken, die neue Modalitäten politischer Bürgerschaft antizipieren« (Benhabib 2008b, 45). Trotz dieser konstatierten Dissoziation von Staatsbürgerrechten und nationaler Staatbürgerschaft geht z.B. Jürgen Mackert (1999, 106; 2006, 95) davon aus, dass der Nationalstaat und die Institution der Staatsbürgerschaft unter veränderten Bedingungen – nämlich unter Bedingungen der ökonomischen, gouvernementalen, rechtlichen und kulturellen Globalisierung19 – weiterhin seine Bedeutung beibehal-
18 Sie sieht die Verbreitung und Kodifizierung solcher Normen im Bereich der Menschenrechte primär durch drei internationale Prozesse gegeben: 1. Durch die allgemeine Ächtung und Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschheit, Genozid und Kriegsverbrechen durch internationales Recht, selbst wenn es sich um innerstaatliche Konflikte handelt. 2. Durch das Konzept der Humanitären Intervention – im Jugoslawien-Krieg zum Schutz der bosnischen und kosovarischen Zivilbevölkerung durch die USA und NATO vorangetrieben. So genannte humanitäre Interventionen sind zwar wegen ihrer in manchen Fällen nicht eindeutig bestimmbaren machtpolitischen Interessen umstritten, bedeuten aber laut Seyla Benhabib letztlich, dass die internationale Gemeinschaft intervenieren kann, sollte ein Staat gegen Teile seiner eigenen Bevölkerung vorgehen und deren Menschenrechte missachten. Damit sei die »[s]taaliche Souveränität nicht länger höchster Richter über die Geschicke der Bürger und Bewohner«. 3. Durch Prozesse der transnationalen Migration, mit denen die durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 anerkannten Rechte der Freizügigkeit (das Recht, sein angestammtes Land zu verlassen), des Asyls und auf Staatsangehörigkeit auf den Prüfstand gestellt werden. Trotz des grenzüberschreitenden Charakters dieser Rechte, stellt Benhabib fest, halte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aber an der Logik der Souveränität der Nationalstaaten fest (hierzu Benhabib 2008, 33f.). 19 Bei dieser schematischen Unterteilung des Prozesses der Globalisierung und seines Einflusses auf die Souveränitätsstrukturen der Nationalstaaten folge ich Jürgen Ma-
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ten wird. Entgegen des von ihm vertretenen Transnationalisierungsansatzes ist auch Ludger Pries der Meinung, dass Nationalstaaten und Nationalgesellschaften auch in Zukunft eine wichtige Bezugseinheit »für die Prozesse der Selbst- und Fremdwahrnehmung, für das praktische alltagsweltliche Leben, für Organisationen und für soziale Institutionen« sein werden. Er konstatiert gleichzeitig, dass die Zeiten eines »naiven oder unschuldigen Nationalismus für immer vorbei« seien (Pries 2008, 37). Bezüglich dieser Feststellung ist jedoch kritisch anzumerken, dass zwischen Nationalismus im Sinne einer Ideologie, die die eigene Nation gegenüber anderen bevorzugt und als höherwertig ansieht und der gegenwärtigen Bedeutung des Nationalstaates, verstanden als politische Handlungseinheit – in Abgrenzung zu anderen wirkmächtigen politischen Einheiten im globalen Kontext – unterschieden werden muss. Selbst wenn nationalistische Alleingänge und eine isolationistische und protektionistische nationale Politik in einer zunehmend global zusammenhängen Welt nicht mehr als möglich gelten können, beantwortet dieser Umstand noch nicht die Frage nach der aktuellen und zukünftigen Bedeutung des
ckert (2006). Mackert zufolge wird für den Bereich der Ökonomie davon ausgegangen, dass der Nationalstaat nicht mehr regulierend auf globale Märkte und das weltweit operierende Kapital Einfluss nehmen kann. Hierbei spiele die »Entwicklung neuer Informations-, Kommunikations- und Produktionstechnologien« eine entscheidende Rolle bei der Transzendierung von nationalstaatlichen Grenzen. Im Bereich Governance spielt für den angenommenen Souveränitätsverlust des Nationalstaates die zunehmende Bedeutung internationaler, innerstaatlicher (regionaler) Organisationen sowie personaler (private Akteure) eine Rolle. Der Souveränitätsverlust des Nationalstaates im rechtlichen Bereich wird vor allem in der zunehmenden Durchsetzung internationaler Abkommen, an die sich die einzelnen Staaten halten müssen, gesehen. Schließlich ist im Bereich der kulturellen Globalisierung die Rolle der elektronischen Medien – in der Form von über einen begrenzten nationalstaatlichen Kontext hinausgehenden neuen Kommunikationsmöglichkeiten – für die Herstellung neuer sozialer Beziehungen nicht zu unterschätzen. Zu den kulturellen Einflüssen auf den Nationalstaat kann zudem noch der universalistische Diskurs über Menschenrechte, der partikularistische Auslegungen von Bürgerrechten in Frage stellt, gezählt werden. Wenn man schließlich gegenwärtige Migrationen als einen Ausdruck von Globalisierung betrachtet, kann man die damit einhergehenden Prozesse der kulturellen Heterogenisierung von Einwanderungsgesellschaften – zusammen mit den »internen« Gruppenbildungsprozessen autochthoner Bevölkerungsteile – als zusätzliches Zeichen der Schwächung des als zumeist kulturell homogen gedachten Nationalstaates werten (Mackert 2006, 91).
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Nationalstaates, der nach wie vor als der primäre institutionelle und kulturelle Bezugsrahmen von Individuen gilt. Auch Will Kymlicka glaubt an die Zukunftsfähigkeit des liberalen Nationalstaates (Kymlicka 2008). Bislang können andere Governance-Instanzen noch als zu unausgereift gelten um die Kompetenzen der Nationalstaaten völlig zu übernehmen.20 Zudem bilden primär die Nationalstaaten- und Kulturen weiterhin einen politischen und kulturellen (sprachlichen) Referenzrahmen für die Individuen, und nicht etwa die europäische oder eine kosmopolitische Zugehörigkeit (hierzu Kymlicka 2008). Denn eine Orientierung an supranationalen Gebilden würde voraussetzen, dass das Handeln des Individuums primär z.B. an der Politik der EU ausgerichtet ist. Bislang orientiert sich das Handeln von Individuen jedoch primär an seinem nationalstaatlichen Kontext. Individuen sprechen in der Regel die Sprache ihres Geburts- oder Residenzlandes und unterliegen dessen Gesetzen, auch wenn ein Großteil dieser Gesetze von der EU entwickelt und von den Nationalstaaten umgesetzt wird. Die politische, soziale und kulturelle Zugehörigkeit der EU-Bürger/innen ist auf den Staat bezogen, in dem sie leben. Wenn man hierbei unter »Identität« im soziologischen Sinne die Chance versteht, »daß Akteure ihr Handeln einer räumlich, zeitlich oder sozial strukturierten Gemeinsamkeit zurechnen und insoweit ein ›Wir-Gefühl‹ entwickeln« (Gephart 1999, 145), dann ist von einer europäischen »Identität« als Alternative zur nationalen Identität nur bedingt zu sprechen. Eine solche europäische Identität kann je nach Kontext Bedeutung für die Staatsbürger/innen in Europa gewinnen, jedoch ersetzt sie nicht die »nationale Identität« als Zugehörigkeitskategorie. Ohnehin soll die Unionsbürgerschaft laut Amsterdamer Vertrag (in Kraft seit Mai 1997) und dem Entwurf für eine EU-Verfassung nicht die bisherige nationale Staatsbürgerschaft ersetzen, sondern sie lediglich ergänzen. Damit stellt sie keinen unabhängigen, rechtlich über der nationalen Staatsbürgerschaft stehenden Status dar, sondern wird im Gegenteil nur jenen verliehen, die im Besitz der Staatsbürgerschaft eines EU-Mitgliedstaates sind (Mackert 2006, 98). Anzunehmen ist deshalb, dass eine stärkere Gewichtung der Unionsbürgerschaft gegenüber den nationalen Staatsbürgerschaften sukzessive mit der politischen, kulturellen und sozialen Vertiefung der EU-Integration geschehen wird.21 Hierfür müssten die
20 Für eine Diskussion globaler Governance-Modelle siehe z.B.: Held, D. (1995): Democracy and the Global Order. Stanford University Press, S. 271f. 21 Ulrich K. Preuß spricht in diesem Zusammenhang von zwei möglichen Entwicklungen, die auf unterschiedliche Interpretationen des Begriffs der Staatsbürgerschaft beruhen. Einerseits könne die Unionsbürgerschaft durch eine kontinuierliche gesetzliche Erweiterung so attraktive Züge erhalten, dass es zwischen den europäischen Individu-
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Nationalstaaten weitere Kompetenzen an die EU abgeben, mit der Folge weiteren Souveränitätsverlusts. Jedoch ist eine solche Vertiefung der EU-Integration angesichts der EU-Osterweiterung im Jahr 2004 mit zehn neuen Mitgliedstaaten schwerer zu erreichen als zuvor. Gerade auch weil das Aufweichen nationalstaatlicher Strukturen und die Multikulturalisierung von in erster Linie westlichen Gesellschaften auch die Entwicklung von diversen und differenzierten Formen von Citizenship notwendig macht, kann argumentiert werden, dass die Mehrheit der Bevölkerung eines Staates nach wie vor im klassischen Sinne mit dem Nationalstaat verbunden ist (Mackert 1999, 106).22 D.h., durch die Geburt und die Residenz in einem bestimmten Land und den Besitz der Staatsbürgerschaft dieses Landes. Hinzu kommt, dass die Mehrheit in diesen Staaten sich als »Alteingesessene« begreift und hieraus ein Wissen um Zugehörigkeit und Gemeinschaft – vor allem auch gegenüber »Neuankömmlin-
en und dieser Institution eine immer stärkere Bindung gibt. Schließlich könne diese hypothetische Entwicklung eine »europäische Bürgerschaft« entstehen lassen, die die Entwicklung eines europäischen Bundesstaates möglich werden lässt. Dabei hängen der Begriff und der Diskurs einer europäischen Öffentlichkeit mit der Frage einer »europäischen Bürgerschaft« zusammen, die sich hauptsächlich als solche wahrnimmt. Andererseits ist laut Preuß eine gegenteilige Entwicklung denkbar, die dem Erhalt des mit dem Maastrichter Vertrag (1992) hergestellten Status quo entspricht. Damit würde die Unionsbürgerschaft »als Sammelbegriff für die wenigen Rechte, die das Individuum in den EU-Mitgliedstaaten genießt, in denen es nicht die Nationalstaatsbürgerschaft besitzt«, bleiben. In diesem Fall ist davon auszugehen, dass die »innere Bindung« zwischen den europäischen Individuen und der Gemeinschaft schwach bleibt und eine solche Bindung nicht als Voraussetzung des Erhalts der Unionsbürgerschaft gesehen wird (Preuß 1997, 250). Mit der EU-Osterweiterung 2004 scheinen die Chancen für die oben angeführte erste Option geringer zu sein als für die zweite. Die Schwierigkeiten, eine »europäische Einheit« herzustellen, werden auch in den Ablehnungen des Entwurfs für eine Europäische Verfassung durch Referenden in Frankreich und Irland deutlich. 22 Mackert stimmt mit Hirsts und Thompsons folgender Aussage überein: »Populations remain territorial and subject to the citizenship of a national state. States remain ›sovereign‹, not in the sense that they are all-powerfull or omnicompetent within their territories, but because they police the borders of a territory and, to the degree that they are credibly democratic, they are representative of the citizens within those borders« (zitiert nach Mackert 1999, 106).
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gen« – entwickelt.23 Dual citizenship (Doppelte Staatsbürgerschaft) als eine »Aufteilung« der staatsbürgerlichen Loyalität kommt hier allenfalls für eine zumeist eingewanderte Minderheit in Frage, da die meisten Staaten der Praxis der doppelten Staatsbürgerschaft ablehnend gegenüberstehen. Resümierend kann unterstrichen werden, dass einerseits die Einflüsse von Globalisierung (Migration, Transnationalisierung und die Internationalisierung der Politik zu einer »Weltpolitik«) und Supranationalisierung (supranationale Zusammenschlüsse von vormals souveränen Nationalstaaten beispielsweise im Rahmen der EU) den Gedanken von souverän handelnden und relativ geschlossenen Nationalstaaten stark in Frage stellen. Die geographische Mobilität und die relative Reiseund Niederlassungsfreiheit der EU-Bürger/innen stellt ein Denken in Kategorien des geschlossenen nationalstaatlichen Raumes in Frage (Beck 1998, 115f.). Andererseits ist die zukünftige Bedeutung des Nationalstaates und von national – d.h. durch eine nationale Kultur und Sprache – integrierten historischen Gesellschaften im Rahmen der Europäischen Union als ein möglicherweise föderativer Zusammenschluss in Form eines »Bundesstaats im Werden« weiterhin gegeben. Neben dem von den meisten Mitgliedstaaten geäußerten Wunsch nach Erhalt der nationalen Souveränität und damit der nationalen Kultur, treten »Rückschläge« gegen diesen Föderalisierungsprozess, etwa in Form von globalen Wirtschaftskrisen, die nationalstaatlich orientierte Politiken wieder stärker nachfragen.
23 Die hier unternommene Unterscheidung von »Alteingesessenen« und »Neuankömmlingen« im Rahmen von Einwanderungsgesellschaften kann im Sinne der Studie »Etablierte und Außenseiter« von Norbert Elias und John L. Scotson (1993) als Ausdruck von Machtdifferentialen verstanden werden (hierzu auch Norbert Elias, 1996). Bezüglich der Situation der (westlichen Industriestaaten) in der Mitte der 1980er Jahre konstatiert Elias: »Gegenwärtig treten bürgerliche und Arbeiterschichten zusammen als etablierte WirGruppen der Nationalstaaten einer neuen Außenseiterwelle von Zuwanderern, vor allem von Gastarbeitergruppen entgegen. Wie auf den vorangegangenen Stufen werden auch hier die Außenseiter nicht in die Wir-Identität einbezogen« (Elias 1996, 276). Die von Elias und Scotson in der Mikro-Studie herausgearbeitete Etablierten-AußenseiterFiguration kann den Autoren zufolge durchaus für »die Untersuchung von analogen Beziehungen größeren Maßstabs« benutzt werden. (1993, 10). Siehe hierzu auch Annette Treibel (1993) oder Rainer Bauböck (1993). Letzterer ist kritischer mit dem Anspruch Elias’ und Scotsons, eine Übertragung der in der Studie untersuchten Figuration der Gemeinde »Winston Parva« auf größere Zusammenhänge (z.B. die Einwanderung in Nationalstaaten) sei voraussetzungslos möglich. Vielmehr schlägt Bauböck eine Erweiterung des Elias’schen Modells vor (Bauböck 1993, 150f.).
III. Begriffliche und historische Verortung des türkischen Nation-Verständnisses
Nachdem weiter oben der theoretische Rahmen der Analyse von Nation und Nationalstaaten erarbeitet wurde, widmet sich das folgende Kapitel der Frage, wie die Genese der Idee des türkischen Nationalismus und des türkischen Nationalstaates historisch verlaufen ist. Es ist davon auszugehen, dass das Verständnis des heutigen türkischen Nationalismus und der Debatte um Staatsbürgerschaft ohne den Rückgriff und die Analyse der Entstehungsbedingungen des türkischen Nationalstaates nicht möglich ist. Denn viele der gegenwärtigen Fragen, die mit der Definition von nationaler Zugehörigkeit und der Integration von ethnokulturellen Gruppen zu tun haben, sind eng mit den Konstitutionsbedingungen der türkischen Republik und Nation verflochten.
1. V ERSUCHE
DER E RRICHTUNG EINER OSMANISCHEN S TAATSBÜRGERSCHAFT
Bei der Analyse der Entstehungsbedingungen des türkischen Nationalstaates ist zumindest der Zeitraum von einem viertel Jahrhundert vor Gründung der türkischen Republik zu veranschlagen (Georgeon 2002, 23). D.h., dass die Gründung der Republik Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches im Jahr 1923 das Resultat von vorhergehenden jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um eine mögliche neue Staats- und Gesellschaftsform war. In diesem Zusammenhang geht die Suche nach einem neuen Modell der Integration der diversen ethno-kulturellen Gruppen im Osmanischen Reich auf die letzte Phase des Osmanischen Reiches zurück, in der es erhebliche Gebietsverluste mit der Abspaltung von diversen Völkern gab.
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Als das Osmanische Reich sich nach und nach auflöste, blieb davon zuletzt nur der anatolische Teil übrig. Bildlich gesprochen, kulminierte dieser Dekompositionsprozess 1923 in der Gründung der Türkischen Republik. Als ein multiethnisches Gebilde erkannte das Osmanische Reich so genannte millets, Religionsgemeinschaften, offiziell an. Diese religiösen Gemeinschaften, die gleichzeitig mit sprachlich-kulturellen Gruppen, wie Armeniern, Griechen, Juden und weiteren anderen zusammenfielen, waren im Osmanischen Reich in der Ausübung ihrer Religion und Kultur relativ frei. Sie waren jedoch in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens benachteiligt.1 Mit dem Verlust von osmanischen Territorien außerhalb der heutigen Türkei wurde die Verteidigung des anatolischen »Rumpfes« immer wichtiger. Die Idee der nationalen Gesellschaft, die Ende des 19. Jh. in der Türkei Eingang fand, ist insofern auch als eine »Rettungsideologie« zu sehen, weil über das Medium der nationalen Identität und zunächst auch der muslimischen Religion Massen mobilisiert wurden, um während und nach dem 1. Weltkrieg gegen die Besatzung durch die Alliierten zu kämpfen. Die jungtürkische Bewegung Ittihat ve Terakki2 (Komitee für Einheit und Fortschritt, von 1908-1918 an der Macht) versuchte bis Mitte der 1910er Jahre noch an der Ideologie des Osmanismus festzuhalten, die die Integration der letzten im Osmanischen Reich verbliebenen Volksgruppen anstrebte. Nach dem Balkankrieg von 1914, auf den erhebliche osmanische Gebietsverluste folgten,
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Diese Gruppen standen unter dem Schutz des Osmanischen Staates und durften keinen Militärdienst ausüben. Als Gegenleistung für diesen Schutz und für die Ausnahme vom Militärdienst mussten sie eine spezielle Steuer, cizye genannt, entrichten (Yumul 2005, 103f.). Dennoch mussten Nicht-Muslime gegenüber den Muslimen im alltäglichen Leben viele Nachteile hinnehmen: Nicht-muslimische Männer durften ohne Konversion zum Islam keine muslimische Frau heiraten, die Zeugenaussagen von Nicht-Muslimen hatten nicht den gleichen Rang wie die von Muslimen, sie duften den Kleidungsstil von Muslimen nicht imitieren, keine Waffen tragen, und innerhalb der Stadtgrenzen nicht auf einem Pferd reiten. Zudem musste der Abstand von Häusern der Nicht-Muslime zu denen von Muslimen eine vorgegebene, bestimmte Entfernung betragen und die Höhe von muslimischen Häusern nicht übersteigen (Göcek 2005, 69f.).
2
Das Komitee für Einheit und Fortschritt (Ittihat ve Terakki) geht aus einer Vorläuferorganisation hervor, die bereits 1889 gegründet wurde. Es war für die Revolution von 1908 verantwortlich, wodurch die osmanische Verfassung von 1876 wieder in Kraft gesetzt wurde (siehe Steinbach 2000, 22). Dass diese Bewegung am Anfang keine rein türkisch-nationalistische war, lässt sich allein schon daran erkennen, dass ihre Begründer aus den verschiedenen Volksgruppen des Osmanischen Reiches stammten (siehe Bezwan 2008, 96).
III. V ERORTUNG
DES TÜRKISCHEN
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gab es unter den Anhängern des Ittihat ve Terakki eine stärkere und offenere Hinwendung zum Türkismus (Akcam 2002a, 54). Fatma Müge Göcek (2002) beschreibt darüber hinaus die allmähliche Durchsetzung der türkistischen Idee innerhalb der osmanischen intellektuellen und politischen Elite als Prozess, der vom Aufkommen diverser ethnischer Nationalismen innerhalb des Osmanischen Reiches begleitet und befördert wurde. Zunächst jedoch wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts mit der Ideologie des Osmanismus versucht, der Tatsache der Multiethnizität und Multireligiosität Anatoliens und des Osmanischen Reiches Rechnung zu tragen. Die nicht-muslimischen Gruppen und insbesondere deren Eliten innerhalb des Osmanischen Reiches trugen die Politik des Osmanismus auch mit, da sie eine laizistische Dimension aufwies (Göcek 2002, 70). Mit dieser laizistischen Dimension ist gemeint, dass sich der Osmanismus als Ideologie nicht-muslimischen Gruppen gegenüber als inklusiv und integrierend verstand. Mitte des 19. Jh. formierte sich eine intellektuelle und politische Bewegung der so genannten Neuosmanen in Opposition zur Regierung der höheren Bürokraten, der als »Babiali-Diktatoren« bezeichneten Hohen Pforte (Aguicenoglu 1997, 102). Hüseyin Aguicenoglu beschreibt das Konzept des Osmanismus folgendermaßen: »Die Idee, die dem Osmanismus zugrunde lag, war ganz einfach: Eine Verfassung, welche die Macht des Sultans und der Hohen Pforte einigermaßen beschränken und unter allen Osmanen, unabhängig von ihrem religiösen Bekenntnis, Gleichheit schaffen und garantieren sollte, würde nach Ansicht ihrer Erfinder für die Entstehung eines Zugehörigkeitsgefühls – und somit eines osmanischen ›Verfassungspatriotismus‹ – sorgen« (Aguicenoglu 1997, 108).
Die Osmanische Staatsbürgerschaft sollte daher von ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten abstrahieren und einen Rahmen für alle Volksgruppen des Osmanischen Reiches darstellen. Die durch die Tanzimat-Reformen (18381876)3 und die erste osmanische Verfassung von 1876 eingeführte Staatsbürger-
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Dabei handelte es sich um Reformen unter Sultan Abdülmecit (1839-1881) mit dem Ziel einer Neuordnung der politischen Struktur des Reiches, die auf Konsolidierung der Reichsterritorien und Modernisierung v.a. im Bereich des Militärs und des Bildungswesens ausgerichtet war. Auf die Abschaffung des Janitscharenkorps folgte die Gründung einer modernen Armee. Durch die Einführung von Militärschulen und zivilen Schulen mit säkularem Charakter am Ende des 19. Jahrhunderts, so Mehmet Mihri Özdogan, entstanden zunehmend »nicht mehr reparierbare Risse in der traditionellen Staats- und Gesellschaftsordnung des Osmanischen Reichs: Die neue Herrschaftselite
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schaft begriff die osmanischen Subjekte zum ersten Mal als Individuen und nicht mehr als Subjekte des Sultans. Sie formten demnach auch ein einziges Gemeinwesen. Hierhin hob dieses Verständnis von Staatsbürgerschaft gewissermaßen die Aufteilung der Gesellschaft in millets auf (Icduygu u.a. 1999, 193). Die Reformen, die im Osmanischen Reich seit 1839 im Rahmen der Tanzimat-Ära durchgeführt wurden, zielten auf eine Verbesserung der Administration und der Neustrukturierung des Militärs. Auch einige technologische Neuerungen wurden ins Reich gebracht, wie das Telegramm oder die Eisenbahn. Jedoch stießen die Reformen hinsichtlich der besseren Integration der Nicht-Muslime in der Umsetzung an die Grenzen des starren und auf die Privilegien der Muslime beruhenden Millet-Systems (Göcek 2002, 68). Die Bewegung der Neuosmanen war seit Beginn der 1860er Jahre bestrebt, eine übergreifende nationale Zugehörigkeitskategorie zu definieren, um die Balkanvölker als Teil des bröckelnden Osmanischen Reiches als gleichberechtigte Bürger zu integrieren. Es ging ihnen darüber hinaus auch darum, die verschiedenen ethnischen – insbesondere christlichen – Gruppen Anatoliens mithilfe eines solchen Verständnisses von Zugehörigkeit einzubeziehen. Hüseyin Aguicenoglu schreibt über diese Zeit: »So entkräftete diese Periode einen anderen islamischen Grundsatz, nämlich den der Ungleichheit zwischen Mohammedanern und Nicht-Mohammedanern, und führte das Prinzip der Gleichheit aller Untertanen, unabhängig vom Glauben, in das politische System des Osmanischen Reiches ein. Dies war der erste Schritt zur Schaffung eines einheitlichen, nicht durch die religiöse Barriere geteilten ›osmanischen Volkes‹« (Aguicenoglu 1997, 11).
Weiter führt er aus: »Obwohl die Neuosmanen keine Nationalisten waren, verdienen sie unsere Beachtung, da sie es waren, die durch die Verwendung des Wortes Vatan (»Vaterland«) dem türkischen Nationalismus den Weg ebneten« (Aguicenoglu 1997, 12). Das 1839 erlassene Gesetz Gülhane-Hatt-ı Hümâyun wird im Zusammenhang mit dem Islahat Fermani von 1856 allgemein als eine Maßnahme interpretiert, die auf die gemeinsame Staatsbürgerschaft von Muslimen und NichtMuslimen zielte und sie in den sozialen und religiösen Rechten gleichstellte. Dies markiert den Übergang vom osmanischen Begriff des tebaa (Untertan) zum
(die Militär- und Zivilbürokratie) ging in erster Linie aus den Reihen dieser säkularen Bildungsinstitutionen hervor, was ihren Reformdrang und ihre Orientierung nach Westeuropa verstärkte« (Özdogan 2007, 148).
III. V ERORTUNG
DES TÜRKISCHEN
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Begriff des Staatsbürgers, was das juristische Fundament für die Schaffung einer »Gemeinschaft der Staatsbürger« darstellte (Isin und Isyar 2005, 80). Das Gesetz Tabiiyet-i Osmaniye von 1869 (überarbeitet als die erste geschriebene osmanische Verfassung Kanun-i Esasi 1876) ging hierbei einen Schritt weiter und stellte die Staatsbürger ohne Ansehen der Religion gleich, um dem Prinzip der universellen Gleichheit zu entsprechen. Zudem definierte es die juristischen Grundlagen der osmanischen Staatsbürgerschaft (Isin und Isyar 2005, 81). Dieses Gesetz wird als Beleg dafür gewertet, dass Staatsbürgerschaft nicht nur eine europäische Institution war, sondern auch im Osmanischen Reich etabliert werden sollte (Isin und Isyar 2005). Isin und Isyar kritisieren vor diesem Hintergrund, eine ihrer Meinung nach orientalistische Sichtweise, wonach Staatsbürgerschaft im Prozess der türkischen Nationenbildung aus dem Westen importiert worden sei. Sie verweisen auf die im Osmanischen gebräuchliche Verwendung des Begriffs medeniye, der von dem Arabischen Wort »Stadt« herrührt und hiermit eine Ähnlichkeit zu der westlichen Verwendung im Sinne von citizen, citoyen oder Bürger hat. Jedoch meinte medeniye bestimmte moralische und soziale Verhaltensweisen von Individuen und nicht primär deren städtische Zugehörigkeit (Isin und Isyar 2005, 88).
2. Z UR E NTWICKLUNG DES TÜRKISCHEN N ATIONALBEWUSSTSEINS E NDE DES 19. J AHRHUNDERTS Als die Option des Osmanismus sich als nicht realisierbar erwies, setzte sich innerhalb der Bewegung Ittihat ve Terakki nach und nach die Ideologie des Türkentums durch (Arai 19904). Aufgrund der sich vermehrenden militärischen
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Masami Arai (1990) untersucht in seiner historischen Arbeit die intellektuellen Aktivitäten der Jungtürken. Dabei studiert er vier zentrale Zeitschriften, die von türkischen Nationalisten in der jungtürkischen Ära (teilweise seitens gleichnamiger Vereinigungen) herausgegeben wurden. Zu diesen zählen Türk Dernegi (Türkischer Verein), Genc Kalemler (Junge Stifte), Türk Yurdu (Türkische Heimat) und Islam Mecmuasi (Islamische Zeitschrift). Es handelt sich hierbei um Zeitschriften zu Kultur, Sprache und Geschichte der Türken, wie sie zu der Zeit im weitesten Sinne gesehen wurden. Zudem untersucht Arai den Organisationsprozess von türkischen nationalistischen Studenten in der Schweiz, um darüber neue Anhaltspunkte zum Entstehungsprozess der wichtigsten nationalistischen Vereinigung Türk Ocagi (engl.: Turkish Hearth) zu
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Niederlagen, die das Osmanische Reich erlitt und den »gesellschaftlichen Polarisierungen«, gewann der türkische Nationalismus gegenüber dem Osmanismus zunehmend die Oberhand (Göcek 2002, 63). Dabei ist unter der Ideologie des Türkentums eine stärkere Ausrichtung auf eine religiös und ethnisch homogen verstandene Gemeinschaft der Türken unter Ausschluss anderer religiöser und ethnischer Gruppen zu verstehen. Insofern formierte sich dieser politische Strang unter den osmanischen Intellektuellen in Abgrenzung zu der Ideologie des Osmanismus. Diese Abgrenzung wurde durch geopolitische und territoriale Entwicklungen gefördert. Konnten sich die Mitglieder des Ittihat und Terakki bis zum Balkankrieg 1914 nicht offen als »Türken« bezeichnen, so wurde dies mit dem Ausscheiden von Angehörigen anderer nationaler Gruppen innerhalb dieser Bewegung nach 1914 begünstigt. Dies markiert einen politischen Wendepunkt in der bis dahin auf die Integration von diversen nationalen Gruppen bedachten Führungselite des Ittihat und Terakki. Der türkistische Flügel innerhalb dieser Bewegung gewann von nun an Gewicht. Sodann begannen – geleitet von der Idee, eine verspätete nationale Bewegung zu sein – nach innen gewendet forcierte Politiken der Türkisierung (Akcam 1995, 40f.). Der türkische Nationalismus entwickelte sich als das Produkt einer intellektuellen Elite Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Für seine Genese kann die Typologie des tschechischen Historikers Miroslav Hroch zugrunde gelegt werden (vgl. auch Aguicenoglu 1997, 118f.; Kirisci und Windrow 1997, 10f.). Hroch untersuchte die Entwicklung von Nationalbewegungen so genannter »kleiner Nationen«.5 Diese Nationen waren in den meisten Fällen Völker, die Teil von Imperien waren und keinen eigenen Staat besaßen. Bei der Anwendung des Modells von Hroch auf die Türkei ist deshalb darauf hinzuweisen, dass die Osmanen – obwohl eine türkische Dynastie – sich nicht primär als Türken verstanden, ja sich sogar davon abgrenzten. Der türkische Nationalismus dieser Periode muss deshalb erst recht als ein Phänomen begriffen werden, der sich
erhalten. Obwohl Arai zufolge eine »brillante Idee«, setzt sich der Osmanismus (die Idee einer multikulturellen osmanischen Nation) nicht durch. Der Autor konstatiert in diesem Zusammenhang zudem, dass »the reason for the easy conversion of Ottoman intellectuals to Turkish nationalism has not really been clarified« (Arai 1990, 4). 5
Von »kleinen Nationen« spricht Hroch nicht im quantitativen Sinne, sondern bezeichnet damit Nationen, die sich durch fehlende Eigenstaatlichkeit, durch das Fehlen einer eigenen nationalen herrschenden Klasse sowie durch die Abwesenheit einer eigensprachlichen, in der feudalen Epoche konstituierten Kulturtradition auszeichnen. (Hroch 1995, 197f.)
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gegen das Osmanentum entwickelte, um eine nationale Eigenständigkeit der Türken zu behaupten. Insofern war der türkische Nationalismus innerhalb des Osmanischen Reiches einer von vielen, auch wenn die ethnische Gruppe der Türken als Muslime mit der herrschenden und somit staatstragenden Schicht assoziierbar war. Jedoch war das Osmanische Reich nicht ein Staat der türkischen ethnischen Gruppe, sondern ein multiethnischer Staat. Insofern kann man vom Osmanischen Reich nicht von einem türkischen Staat im nationalen Sinn sprechen6. Hrochs Theorie zufolge mussten folglich auch die Türken als »kleine Nation« innerhalb des multiethnischen Osmanischen Reiches zuerst zu einem eigenen Staat gelangen. Miroslav Hroch unterteilte die Genese des Nationalismus »kleiner Nationen« in drei Stadien. Dabei untersuchte er diverse empirische Fälle von kleinen Nationen in Europa (Hroch 2000 und 2005). Das erste Stadium A entspricht der Entstehung des Interesses eines kleinen intellektuellen Zirkels für Volkssitten, Sprache und Geschichte der eigenen Volksgruppe. Die zweite Phase B fällt zusammen mit einer Ausweitung dieses Interesses auf andere gesellschaftliche Gruppen innerhalb der betreffenden Volksgruppe und kann somit als eine Phase der gesellschaftlichen Organisation gesehen werden. Diese Phase wird auch von einer politischen Agitation eines kleinen Zirkels für die nationale Idee begleitet. Die dritte Phase C ist schließlich die Massenphase, in der größere Bevölkerungsteile beginnen, die nationale Bewegung7 mitzutragen (Hroch 1995, 199f. und 2000, 22f.; Hobsbawm 1996, 23). Kirisci und Windrow sehen im Falle der Entwicklung des türkischen Nationbuilding die Phasen A und B gegeben. Sie argumentieren weiter: »Certainly, both intellectual elites and a professional intelligentsia consisting mainly of military officers and leading bureaucratic officials did play an important role in the re-
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Eine gegenteilige Meinung hierzu vertritt Ayse Kadioglu, wenn sie das Entstehen des türkischen Nationalstaates mit dem deutschen Fall kontrastiert und zum folgenden Schluss kommt: »Whereas in the German case, it is possible to refer to a nation preceding a state, i.e. ›a nation in search of its state‹, in the Turkish scene the historical order of things are reversed. In the case of modern Republican Turkey, one can refer to a state preceding a nation, i.e. ›a state in search of its nation‹« (Kadioglu 2000, 62).
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Unter »nationaler Bewegung« versteht Miroslav Hroch das »zielbewußte Streben nach allen Attributen einer nationalen Existenz«. Diese sind Eigenstaatlichkeit, eine eigene herrschende nationale Klasse, sowie eine eigensprachliche, in der feudalen Epoche konstituierte Kulturtradition (Hroch 1995, 197f.).
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placement of the Ottoman ruling class with a new leadership which would aim to foster the image of a Turkish national identity« (Kirisci und Windrow 1997, 11).
Die Typologie, die Hroch für die Entwicklung von so genannten kleinen Nationen entworfen hat, lässt sich folglich fruchtbar für das Verständnis der Genese des türkischen Nationalismus einsetzen. Wie weiter oben angemerkt, wendet Hüseyin Aguicenoglu in seiner vergleichenden Untersuchung zur Genese der türkischen und kurdischen Nationalismen genau diese Typologie auf die Entstehung des türkischen Nationalismus an. Danach bildet der Zeitraum von 18601908 die kulturell-literarische Phase A des türkischen Nationalismus, die von einem Interesse von Gelehrten – auch europäischen Orientalisten – an der türkischen Kultur und Sprache geprägt ist.8 Die politisch-organisatorische Phase B, in der die Idee des Türkismus aufgebaut wird, setzt Aguicenoglu von 1908-1923 an. Mit der Republikgründung im Jahre 1923 wird der Türkismus zu einer die Massen ergreifenden Idee. Folglich kann die Zeit ab der Republikgründung als Phase C angesehen werden (Aguicenoglu 1997, 116). Von den nationalen Bewegungen »kleiner Nationen« unterscheiden sich Nationen mit »Nabel« im Sinne Gellners – also Nationen, die auf eine früh beginnende und weitgehende Übereinstimmung von Staat und Kultur bauen können9 – darin, dass hier das Bürgertum sich zur Nation erklärt und somit eine Kontinuität des vormals monarchischen Staates herstellt. Die Entwicklung im Frankreich der Revolution von 1789 ist hierfür exemplarisch. Hroch schreibt hierzu, dass in Frankreich trotz »der mehr oder weniger starken Spannung bzw. Abgrenzung gegenüber der alten adligen Herrscherklasse« das siegreiche revolutionäre Bürgertum die Kontinuität des Staates und der Kultur fortsetzte (Hroch 1995, 197). Mit der Französischen Revolution erklärte sich der dritte Stand zur Nation und es begann ein
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Zur Entstehung der Phase A in der Türkei führt Hüseyin Aguicenoglu aus: »Die Forschungen der europäischen Orientalisten und Turkologen über die türkische Geschichte und Sprache zeigten ihre Wirkung auf die türkische Intelligenz in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, wobei es sich am Anfang um ein sehr schwaches und exotisches Interesse handelte. So begannen einige verwestlichte türkische Intellektuelle (insbesondere Literaten), orientiert am Beispiel der westlichen Orientalisten, sich mit der türkischen Sprache und Kultur zu beschäftigen. Die abgewerteten, verachteten und als ›unkultivierte Bauern‹ hingestellten ›Türken‹ wurden so plötzlich entdeckt. Diese Periode, in der die Türken zum ersten Mal im Osmanischen Reich zum Objekt des Interesses wurden, entspricht der Phase A des von Hroch entworfenen Schemas« (Aguicenoglu 1997, 118f.).
9
Gellner 1999, 158.
III. V ERORTUNG
DES TÜRKISCHEN
N ATION -V ERSTÄNDNISSES | 87
Integrationsprozess, dessen Ziel es war, alle (männlichen) Bürger Frankreichs zu gleichberechtigten citoyens oder Franzosen zu machen. Der entscheidende Unterschied zur Entwicklung von »kleinen Nationen« liegt hier darin, dass es bereits eine Eigenstaatlichkeit und eine herrschende bürgerliche Klasse gab. Eine ähnliche Konstellation wie die französische weisen laut Hroch England, die Niederlande, Portugal, Dänemark sowie Schweden auf. In diesen Ländern formierte sich die siegreiche bürgerliche Gesellschaft ebenso als staatlich verfasste Nation (Hroch 1995, 197). Im heutigen türkischen Teil des Osmanischen Reiches dagegen gab es keine eigenständige bürgerliche Schicht, die den Nachfolgerstaat des zerfallenden Reiches hätte übernehmen können. Es gab jedoch staatliche Strukturen, auf die sich die späteren Republikgründer stützen konnten. Diese staatlichen Strukturen gingen auf das Osmanische Reich zurück, in dem viele Militärs immer mehr der Idee einer türkischen Nation nachhingen. Diese mussten allerdings noch eine Nation aufbauen, da von kultureller Einheit nicht gesprochen werden konnte. Insofern ist das türkische Nationenbildungsprojekt auch ein Projekt von »oben«, das zunächst weder von einer bürgerlichen noch von einer breiten Bevölkerungsschicht getragen wurde. Obwohl der Vorgang im Sinne Anthony D. Smiths einer bürokratischen Inkorporation durch eine Elite entspricht (Smith 1995), kann mit Miroslav Hroch davon ausgegangen werden, dass das türkische Nationenbildungsprojekt als Projekt einer minoritären nationalistischen Gruppe innerhalb eines multiethnischen Reiches entstand. Obgleich Hrochs Theorie der »kleinen Nationen« für die Erklärung der verschiedenen Stadien des türkischen Nationalismus dienlich ist, bleibt die Frage danach offen, ob man den Osmanischen Staat als einen Staat der ethnischen türkischen Gruppe ansehen kann. Ohne Zweifel gab es in der Türkei einen Staat vor der türkischen Nationenbildung. Dieser war zwar kein Staat der türkischen ethnischen Gruppe, der Träger der türkischen nationalen Idee war, jedoch war er aus dem Osmanischen Staatsapparat hervorgegangen (Gellner 199710).
10 In Anlehnung an seine Metapher der Vermählung zwischen Braut (Kultur) und Bräutigam (Staat), argumentiert Ernest Gellner: »If you take my parable of the bride and the bridegroom, the Turkish case seems to be the opposite of that of the two great nations of the erstwhile Holy Roman Empire, where the bride was there but the groom was missing, where political organisation was fragmented but cultural homogeneity was considerable, and where the cultural machinery was present. The Turkish Ottoman case seems to be one in which, on the contrary, the groom was present. There was a state elite, but so far as I know, it was not deeply identified with Turkish ethnicity« (Gellner 1997, 242).
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Dieser Argumentation ist insoweit zuzustimmen als die Jungtürken als Generäle und Intellektuelle die Begründer der türkischen Republik waren. Ebenso galt die türkische ethnische Gruppe als Teil des islamischen millet im Osmanischen Reich als die herrschende Nation. Dieser Umstand würde zum Teil für die These sprechen, dass der osmanische Staat, wenn nicht ein Staat einer bestimmten ethnischen Gruppe so doch ein Staat einer religiösen Gruppe war, die später zur staatstragenden Nation in der Türkischen Republik wurde. Analysiert man den Nationenbildungsprozess der modernen Türkei im Kontext der Nationalstaatsbildungen der betreffenden Zeit, so kann man nach Taner Akcam davon ausgehen, dass der türkische Nationalismus ein verspäteter ist, dem es darum ging, den »Abstand« zu bereits existierenden Nationalstaaten zu schließen (Akcam 1995, 36f.). Er ist zwar die Antwort auf den Dekompositionsprozess des Osmanischen Reiches, gleichzeitig aber auch ein Nationalismus einer laut Akcam innerhalb des Osmanischen Reiches »erniedrigten Identität« (Akcam 2002a, 54f.). Akcam führt zur Reputation der türkischen Gruppe innerhalb des Osmanischen Reiches aus: »In der osmanischen Geschichte bedeutete Türke zu sein soviel wie erniedrigt zu werden. Es wurde als Schimpfwort gleichbedeutend im Sinne von roh, unwissend, verständnislos, und dumm benutzt« (Akcam 2002a, 55; Übers. E.G.; siehe auch Akcam 1995, 46f.).11 Folglich war das Ansehen der Türken, die als Muslime Teil der herrschenden Nation (millet-i-hakime) waren, im Vergleich zu anderen im Osmanischen Reich eher negativ. Über die »verspäteten Nationalismen« kann auch folgendes Zitat von Hans Kohn Aufschluss geben und möglicherweise einige Besonderheiten des türkischen Nationenbildungsprozesses erklären:
11 Da die türkisch-osmanischen Eliten von diesem negativen Bild der Türken im Westen wussten, war die Aufgabe, die sich die ersten türkistischen Denker zu eigen machten, in ihren Untersuchungen zu zeigen, dass dieses Bild nicht der Realität entsprach. Dieses Bild des »bösen« Türken im Westen führte Taner Akcam zufolge einerseits dazu, dass die Identifikation vieler osmanischer Intellektueller mit dem Türkisch-Sein zunächst nicht stattfand. Andererseits wurde durch denselben Personenkreis versucht, die als missachtet und als falsch verstanden geltenden Türken mithilfe rassistischer Theorien als überlegene Rasse darzustellen (Akcam 1995, 35f.). Die Elemente dieser Vorstellung von den Türken als Rasse werden im Diskurs Mustafa Kemals in seinen an die »Nation« gerichteten Reden verstärkt wieder aufgenommen (Siehe Kapitel V.4.1).
III. V ERORTUNG
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»Der Nationalismus des Westens war, seinem Ursprung nach, mit den im achtzehnten Jahrhundert allgemein gültigen Anschauungen über die individuelle Freiheit und das rationale Weltbürgertum verbunden; aber der spätere Nationalismus Mittel – und Osteuropas und Asiens neigte leicht zu einer gegenteiligen Entwicklung. Diesem Nationalismus, der von Einflüssen, die ihm von außen her herangetragen wurden, abhängig war, sich aber zugleich zu diesem in Gegensatz stellte, der auch nicht in einer politischen und gesellschaftlichen Realität verwurzelt war, fehlte es sehr an Selbstsicherheit; die Minderwertigkeitskomplexe wurden oft durch Überheblichkeit und starkes Selbstvertrauen aufgewogen, und den Nationalisten in Deutschland, Rußland und Indien erschien ihr eigener Nationalismus als bedeutend tiefgründiger und deshalb auch an Problemen und innewohnenden Möglichkeiten reicher als der Nationalismus des Westens« (Kohn 1950, 449).
Es war das wichtigste Anliegen der osmanisch-türkischen Intellektuellen vor dem Hintergrund des zerfallenden Osmanischen Reiches und der wahrgenommenen Feindschaft der europäischen Mächte, Gemeinsamkeit stiftende Werte in der Bevölkerung zu suchen. Denn laut Akcam führten die andauernden Gebietsverluste bei der osmanisch-türkischen Bevölkerung zu einer »psychotischen Angst«, immer weiter dezimiert und schließlich vernichtet zu werden (Akcam 2002a, 60). Zu den beiden wichtigsten Theoretikern, die sich in der Endphase mit der Frage auseinandersetzten, wie das Reich zu retten sei, gehörten Ziya Gökalp und Yusuf Akcura. In den Schriften Ziya Gökalps (1876-1924), der als der Theoretiker der türkischen Nation gilt, wird deutlich, dass es innerhalb der Bewegung der JungOsmanen verschiedene Optionen gab, nämlich den Osmanismus, den Pantürkismus sowie den türkischen Nationalismus. Yusuf Akcura (1876-1935), neben Ziya Gökalp der wichtigste Vordenker des türkischen Nationalismus, brachte diese drei Arten Politik zu machen in seiner gleichnamigen, berühmten Schrift Üc tarz-i siyaset12 zum Ausdruck. Dabei setzt er sich mit den Vorzügen und der Umsetzbarkeit der verschiedenen Optionen auseinander. Während er den Osmanismus als nützliche Option bewertete, glaubte er, dass er den ethnischen Nationalismus innerhalb des Reiches nicht unterbinden kann. Zudem, so argumentierte Akcura, führe der Osmanismus auf Dauer zur Assimilation der ethnischen Türken. Ebenso sei der Integrationswille der unterschiedlichen religiösen und ethnischen Gruppen in ein Konzept des Osmanismus anzuzweifeln. Ebenso hielt es Akcura mit der zweiten Politikoption, dem Islamismus (Islamcilik). Auch wenn er durch die die Muslime vereinende Institution, dem Kalifat, und der
12 Dieser Artikel erschien erstmals 1904 in der in Kairo erscheinenden Zeitung »Türk« (Vgl. Yildiz 2001, 70).
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gemeinsamen arabischen Sprache als Religions- und Wissenschaftssprache Vorzüge aufweise, sei der Islam als Fundament einer Gemeinschaft nicht geeignet, da er die Aufhebung der Gleichstellung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen voraussetze. Akcura unterstrich hierbei zudem, dass der Islam auch unter den Türken nicht allgemein geteilt wird. Die dritte, von Akcura angeführte und bevorzugte Politikoption war der Türkismus (Türkcülük), der die politische Einheit aller Türken und türkisierten Gemeinschaften vorschlägt (Yildiz 2001, 70f.). Dabei unterstreicht Akcura, dass es sich hierbei in der Geschichte der Türken um eine neue Idee handelt (siehe Georgeon 1999, 141). Bei der Definition des Türkentums benutzt Akcura den Begriff irk (Rasse), was im Türkischen dem Wort Herkunft (köken) nahesteht. Yusuf Akcura begreift Gemeinschaften somit als unabhängig von den politischen Bedingungen als ethnische, auf ein gemeinsames kulturelles und sprachliches Erbe beruhende Gruppen. Er hat ein säkulares Verständnis des Türkentums, insofern er diesen über den Islam stellt (vgl. Yildiz 2001, 70f.). Jedoch berief sich der türkische Nationalismus in seiner Anfangsphase bis zur Staatsgründung auch im Diskurs Mustafa Kemal Atatürks auf die religiöse Einheit der Muslime und konnte damit auch die Kurden für den neuen Staat gewinnen. Was die Gruppe der osmanischen Türken miteinander und auch mit den Kurden verband, war ohnehin ihre Zugehörigkeit zum Islam (Göcek 2002, 65).
3. D IE H ERSTELLUNG G ESELLSCHAFT
EINER TÜRKISCHEN NATIONALEN
Der Prozess des Übergangs von der traditionellen und multiethnischen osmanischen Gesellschaft zu einer nationalen Gesellschaft wird von vielen Autor/innen als ein schmerzhafter Bruch mit der islamisch-osmanischen Vergangenheit beschrieben (Mardin 1997). In der Phase des Überganges zum türkischen Nationalstaat verloren die Beziehungen des Individuums zu seiner traditionellen, religiösen oder ethnischen Gemeinschaft an Bedeutung. Dagegen wurde die direkte Beziehung zum Staat immer wichtiger (Oran 2004a, 106; Mardin 1997; Aktar 1985). Das Medium der universellen Staatsbürgerschaft wurde dazu benutzt, die partikularistischen, auf Mitgliedschaft und Solidarität beruhenden Beziehungen zu einer ethnischen Gruppe, zu einem Stamm oder auch zu religiösen Sekten aufzuheben (Mardin 1997, 358). »Die republikanische Reform in der Türkei unterstrich die Bedeutung des Universalismus in seiner politischen Ausprägung (entsprechend der Verfassung von 1924). Die Bevölke-
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rung von Anatolien, dem Territorium, das den Türken nach dem Zerfall des Reiches verblieb, sollte nicht mehr als Lasen oder Kurden bezeichnet werden, wie das vor 1918 der Fall gewesen war, sondern als türkische Bürger. Die Gründungsväter betrachteten alle türkischen Bürger als integrale Bestandteile der Entfaltung einer allgemeinen, nicht mit Stammesbeziehungen zu versehenden ›Zivilisation‹ (gemeint war die westliche Zivilisation) und der ›Humanität‹ im Sinne Comtes« (Mardin 1997, 370).
In diesem Sinne kann von einer kulturellen Bruchlinie zwischen dem Zentrum und der Peripherie gesprochen werden. Das Zentrum war hierbei die urbane osmanische Hauptstadt Istanbul, während das ländlich geprägte Anatolien mit seinen verschiedenen Stämmen, Religionsgruppen, ethnischen Gruppen oder religiösen Sekten die Peripherie darstellte. Das Projekt der türkischen Nationenbildung geht aufgrund dieser Tendenzen zur Universalisierung der Kultur mit starken Interventionen des Staates zwecks Säkularisierung und Zentralisation einher. Serif Mardin zufolge sind durch die Säkularisierung und Zentralisierung die wichtigsten traditionellen Vermittlungsinstanzen im Osmanischen Reich verloren gegangen. Hierbei war die Rolle des Staates, der für Fragen der Militärorganisation, der Verwaltung und der Steuereintreibung zuständig war, bedeutsam. Mardin zählt zu diesen traditionellen Vermittlungsinstanzen die ulema (der Klerus und die Gelehrten islamischen Rechts). Sie waren in der Position von Richtern, Professoren oder Verwaltungsbeamten für bestimmte Bereiche der Administration, sowie als Gebetsführer oder Theologen tätig. Eine weitere solche traditionelle Vermittlungsinstanz in der osmanischen Gesellschaft waren die Sufi-Orden, die 1925 verboten wurden. Sie gingen im Gegensatz zum Klerus auf die Bedürfnisse einer populären Klientel ein und übernahmen hier Funktionen im Bereich der sozialen Dienstleistungen und der Bildung (Mardin 1997, 363f.). Weitere traditionelle Gruppen, zu denen Einzelne im Osmanischen Reich als Mitglieder angehörten, waren Stämme, Religionsgemeinschaften u.a. (Aktar 1985, 147f.). Mit der Staatsbildung sollte die Loyalität des Einzelnen nunmehr von solchen Gruppen auf den neuen Staat übergehen.
4. Z UR I DEOLOGIE
DES
K EMALISMUS
Wie Naif Bezwan feststellt, ist eine umfassende Analyse des Kemalismus als die bestimmende Staatsdoktrin der Türkei gerade im Zuge der verhandelten EUIntegration der Türkei von großer aktueller Relevanz (Bezwan 2008, 32). Dazu kommt, dass Studien zur gegenwärtigen türkischen Politik sich durch ein Fehlen eines interpretativen Interesses bei der systematischen und kompara-
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tiven Analyse des grundlegenden ideologischen Gehalts des Kemalismus auszeichnen, selbst wenn dieser als eine hervorstechende Modernisierungsideologie in einem muslimischen politischen Kontext gesehen wird (Parla und Davison 2004, 1). Bezwan stellt fest, dass die Türkei unter allen Mitglieds- und Beitrittsländern der Europäischen Union der einzige Staat ist, »der über eine offizielle, d.h. verfassungsrechtlich normierte und unter dem Begriff des ›Kemalismus‹ bzw. des ›Atatürkentums‹ (Atatürkcülük) zusammengefasste spezifische Staatsdoktrin verfügt«.13 Dies leitet den Autor über zu der Frage, wie eine Verfassung zu deuten ist, die die Grundsätze einer nationalistischen Staatsideologie »verabsolutiert« und den normativ-demokratischen Elementen überordnet (Bezwan 2008, 39). Die Frage, die hier aufgeworfen wird, ist, ob eine derart in die Gesellschaftsstrukturen eingeschriebene14 Ideologie einer Beitrittskandidatin mit liberaldemokratischen Prinzipien, die in den EU-Staaten vorherrschen (sollen), zu vereinbaren ist. Die damit zusammenhängenden aktuellen Fragen können folgendermaßen formuliert werden: Ist die Türkei mit einer solchen, ideologisch gefärbten Verfassung EU-kompatibel? Werden sich die Anhänger eines Fortbestands des Kemalismus als die bestimmende Ideologie durchsetzen oder Reformkräfte, die die Überwindung eines erstarrten Kemalismus wünschen? Die Frage, ob ein dogmatischer Kemalismus überwunden werden kann oder ob der Fortbestand des Kemalismus als türkische Singularität oder Sonderweg sich durchsetzt, wird möglicherweise über den Verlauf der weiteren Beitrittsverhandlungen entscheiden (siehe Interview mit dem 1. EU-Experten, Kapitel VIII.3.). Gerade diese Frage wird in der Türkei aktuell heftig diskutiert und es werden auch Forderungen nach einer »farblosen« (türkisch: renksiz, im Sinne von neutral) Verfassung erhoben, die nicht mehr ideologisch geprägt sein soll.
13 »Kemalism is the constitutionally declared, official ideology of Turkey, and legal structures promote and protect Kemalism as the hegemonic ideology« (Parla und Davison 2004, 38). 14 Taha Parla spricht in diesem Zusammenhang von einer hegemonialen Stellung, die die Vertreter und Anhänger des Kemalismus gegenüber anderen, »fremden« Ideologien (Sozialismus, Kapitalismus oder Liberalismus) beanspruchen. Parla weist auf folgenden Satz hin, der in vielen staatlichen bzw. offiziellen Dokumenten und Schulbüchern Ausdruck findet: »Es gibt keinen anderen ismus als den Kemalismus, denn alle anderen ismen sind fremd und schädlich« (Hervorhebungen E.G.). Die vielen verschiedenen Variationen dieses Grundsatzes hätten sich fest im offiziellen Diskurs und der »öffentlichen Philosophie« sowie in der gesellschaftlichen und individuellen Psychologie festgesetzt (Parla 2007,11f.).
III. V ERORTUNG
DES TÜRKISCHEN
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Gestützt auf Ernst Fränkels Untersuchung »Der Doppelstaat« (Ernst Fränkel, [1940] 2001, S. 49), in der Fränkel zwischen Maßnahmenstaat – verstanden als »das Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, daß durch keinerlei Garantien eingeschränkt ist« – und Normenstaat – verstanden als das »Regierungssystem, das mit weitgehenden Herrschaftsbefugnissen zwecks Aufrechterhaltung der Rechtsordnung ausgestattet ist, wie sie in Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten der Exekutive zum Ausdruck kommen« – unterscheidet Bezwan zwischen einer Doppelstruktur des türkischen Staatswesens. Er kommt zu folgender Schlussfolgerung: »Im türkischen Kontext bilden die ›Prinzipien und Reformen Atatürks‹ die Legitimationsgrundlage des türkischen ›Maßnahmenstaates‹, wobei das Militär im Verbund mit dem kemalistischen Block im Staat, in der Gesellschaft und in der Wirtschaft als dessen Vollstrecker fungiert. Der ›Maßnahmenstaat‹ ist die historische Antwort der türkischen Politik auf die Unterdrückung des multinationalen und multireligiösen Charakters der Türkei im Allgemeinen und auf die Bekämpfung der kurdischen Nationalbewegung im Besonderen. Die normativ-demokratischen Elemente des repräsentativen Regierungssystems, die ebenfalls in der Verfassung der Türkischen Republik zum Ausdruck kommen, stecken den Bereich des ›Normenstaates‹ ab, ihr Wirkungskreis ist jedoch unter Ideologievorbehalt, namentlich unter Kemalismusvorbehalt gestellt« (Bezwan 2008, 52f.) .
Damit nimmt der Autor für die Türkei eine Dominanz des Maßnahmenstaates gegenüber einem Normenstaat an. Hier spielt im Kontext des türkischen Staates aktuell die Unterscheidung zwischen dem sichtbaren, d.h. offiziellen Staat und dem »tiefen Staat« (türkisch: derin devlet) eine Rolle. Letzteres Gebilde – bestehend aus einem Netz aus Bürokraten, Militärs und paramilitärischen Strukturen – gilt hierbei als undurchsichtig, unterhalb der sichtbaren Staatsstrukturen agierend und darauf bedacht, diverse »Staatsfeinde« zu eliminieren, wozu insbesondere Minderheitenangehörige oder kritische Intellektuelle zu zählen sind. Wie weiter oben ausgeführt wurde, ist es ein entscheidender Punkt für den EU-Beitritt der Türkei, ob diese mit Demokratie unvereinbaren Strukturen des »tiefen Staates« nachhaltig beseitigt werden können.15 Zumeist beanspruchen die
15 Im Zuge der EU-Annäherung der Türkei wird – augenscheinlich aufgrund der Herstellung von EU-Kompatibilität – gegen die Strukturen des tiefen Staates vorgegangen. Zu nennen sind die seit dem Jahr 2007 erfolgten zahlreichen Festnahmen von Mitgliedern der so genannten Ergenekon-Gruppe, die Aktionen bis hin zur Ermordung von Minderheitenangehörigen und anderen so genannten »Staatsfeinden« durchgeführt hat.
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Mitglieder des »tiefen Staates« nämlich die Verteidigung des »reinen« kemalistischen Erbes gegen vermeintliche Feinde der Einheit der Nation und des Staates. Da der Kemalismus als Ideologie eng mit der vorherrschenden Idee der türkischen Nation verbunden ist (Parla und Davison 2004, 68-80), und dies weit reichende Konsequenzen bis in die heutige Zeit hat, gehe ich im Nachfolgenden auf die wesentlichen Merkmale der kemalistischen Staatsdoktrin ein. Bei den folgenden Ausführungen stütze ich mich insbesondere auf Hamit Bozarslan (2006) sowie auf Taha Parla und Andrew Davison (2004). Im Gegensatz zu Parla und Davison kann Bozarslan zufolge der Kemalismus der frühen Jahre nicht als eine gezielt und kohärent operierende Ideologie gesehen werden. Bozarslan vertritt die These, dass die in der Diskussion über den Kemalismus benutzten Kategorien als post facto elaborierte Kategorien zu sehen sind, die nicht das Selbstverständnis des Kemalismus als Praxis oder Ideologie wiedergeben, die in den frühen Jahren propagiert wurden. Der Kemalismus in diesem Sinne darf nicht abgetrennt von seinem historischen Kontext gesehen werden. In diesem Zusammenhang bedeutet die Re-Kontextualisierung des Kemalismus in seinen historischen Rahmen zugleich auch die »Aufgabe der Interpretation des Kemalismus als einer Reihe von Träumen und erfüllten Projekten seines Begründers« (Bozarslan 2006, 28). Nach Bozarslan ist ebenso wenig von einem im Geist seines Begründers existierenden kohärenten intellektuellen und politischen Rahmens einer kemalistischen Ideologie auszugehen. Vielmehr könne der Kemalismus, ebenso wie andere Ideologien der Zwischenkriegsjahre, wie der Bolschewismus, der Faschismus oder der Nationalsozialismus als ein Produkt seiner Zeit gesehen werden (Bozarslan 2006, 28). Es sei vielmehr davon auszugehen, dass innen- und außenpolitische Zwänge die Entwicklung von pragmatischen Politiken erforderlich gemacht haben. Bozarslan interpretiert diese Politiken als eine Anpassungsleistung an die globalen politischen und sozio-ökonomischen Bedingungen, die in der Region und den Nachbarregionen, wie Europa und den Nahen Osten herrschten (Bozarslan 2006). Der Kemalismus bis zum Tod Atatürks im Jahr 1938 kann nach Bozarslan in drei Phasen aufgeteilt werden: In der 1. Phase von 1919-1922 ist der Befreiungskampf das dominierende Ereignis um den Kemalismus herum. Hier ist im doppelten Kampf gegen die inneren (Armenier, Griechen und andere kleinere christliche Gruppen) und äußeren christlichen »Feinde« die Waffenbrüderschaft zwischen Türken und Kurden bedeutsam. Der Islam bildete insofern ein gemeinschaftsstiftendes Moment, das die Kemalisten zu nutzen suchten. Dabei zog die Berufung auf die gemeinsamen religiösen Werte von Türken und Kurden offenbar auch Konsequenzen nach sich, die nicht im Sinne einer antireligiösen oder säkularen kemalistischen Politik waren. Bozarslan formuliert diese Paradoxie
III. V ERORTUNG
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des kemalistischen »Pragmatismus« mit folgenden Worten: »This alliance and this religious legitimization, however, ultimately linked Kemalism and the nation it ›liberated‹ to ›Islam‹. To some extent, thanks to the war, Kemalism gave Turkey a religious sense, condemning it to become demographically, politically, and culturally ›Muslim‹« (Bozarslan 2006, 30). Diese Waffenbrüderschaft hatte mit der Vertreibung und der Extermination der Armenier bereits ab 1915 die anatolische Bevölkerung religiös weitgehend homogenisiert.16 Festgehalten werden kann, dass die erste Periode des Kemalismus und somit der Befreiungskrieg von 1919-1922 den Prozess der religiösen Homogenisierung Anatoliens fast abgeschlossen hat (Bozarslan 2006, 29). Die 2. Phase des Kemalismus von 1922-1930 kann als seine Konsolidierungsphase gesehen werden, in der er stark genug war, die zwei wichtigsten Bündnisse, die es mit dem Islam und den Kurden eingegangen war, zu brechen. In Folge dessen wurde jetzt die Existenz der Kurden negiert und das Kalifat, als Symbol der Herrschaft des Islam, abgeschafft. Kennzeichnend für diese Phase, die auf das erste Jahrzehnt nach der Republikgründung folgte, ist nach Hamit Bozarslan das Auseinanderklaffen von »Nation«, verstanden als von Mustafa Kemal Atatürk verkörpertes »meta-historisches Gebilde«, und dem »Volk«, verstanden als die reale Bevölkerung der neuen Türkei (Bozarslan 2006, 31). Hiermit nimmt Bozarslan Bezug auf das Projekt der Nationenbildung von oben, das nach unten hin, also in der Bevölkerung noch keine Entsprechung gefunden hatte. Die Idee der türkischen Nation blieb zunächst eine intellektuelle Schöpfung, die eine zivilisierte, westlich orientierte Nation kreieren wollte. Folglich kann in dieser Phase des Kemalismus im Sinne des Drei-Phasen-Modells Hrochs noch nicht von einer Ausweitung der Idee der Nation auf breite Bevölkerungsschichten ausgegangen werden. In der 3. Phase des Kemalismus, die nach Bozarslan von 1930-1938 angesetzt werden kann, kommt es durch die Reformen, die nun Fuß fassen, zu einer stärkeren Verbreitung und Verankerung der neuen Staatsform. Der Kemalismus kann sich von anderen Ideologien und Revolutionen, wie der russischen, abgrenzen und sich als autonom etablieren (Bozarslan 2006, 32f.). Im Zusammenhang mit diesem Gedanken einer Abgrenzung der »kemalistischen Revolution« können viele Reden Mustafa Kemals zwischen 1923 und 1943 als gegen die Idee gerichtet interpretiert werden, die Türkei sei möglicherweise dabei, sich dem marxistisch-leninistischen Lager zuzuordnen (Parla und Davison 2004, 60f.).
16 Auch hierbei ist es strittig, ob es sich um eine »ethnische Säuberung« im modernen Sinne handelte, die darauf abzielte, einen religiös weitgehend homogenen Staat zu erreichen.
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1937 werden die sechs kemalistischen Pfeiler in die neue Verfassung aufgenommen. Auf dem Parteitag der damals allein herrschenden und 1931 von Mustafa Kemal gegründeten Republikanischen Volkspartei (CHP) wurden sie beschlossen und 1937 in die Verfassung aufgenommen, so dass sie einen staatstragenden Charakter erhielten. Die sechs kemalistischen Pfeiler oder Prinzipien waren im einzelnen Republikanismus, Nationalismus, Laizismus, Populismus, Revolutionismus und Etatismus (Buhbe 1996, 47f.; Steinbach 2000, 35f.; Caglar 2003, 176f.). Taha Parla und Andew Davison vertreten die Ansicht, dass die Beschreibung der ideologisch ausgerichteten »Pfeiler« des Kemalismus in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung andere wesentliche Aspekte des Kemalismus, die von zentraler Bedeutung für eine ideologische Analyse sind, verschleiere. Die Pfeiler würden möglicherweise eine Aussage über ein politisches Ziel machen, jedoch z.B. nichts über die tatsächlichen Machtverhältnisse im kemalistischen Staat aussagen, d.h. über die kemalistische Sichtweise der Rolle und der Funktion des Staates gegenüber der Gesellschaft oder darüber, welche Macht- und Autoritätsbeziehungen aus kemalistischer Sicht als nötig angesehen wurden, diese Prinzipien tatsächlich auch umzusetzen (Parla und Davison 2004, 55). Parla und Davison (2004) versuchen zu zeigen, dass der Kemalismus in Gestalt der Person Mustafa Kemals von Anfang an ideologisch war, und im Diskurs Kemals bereits die Leitsätze einer korporatistischen Ideologie auszumachen sind. Der Korporatismus wurde in der Politikwissenschaft hauptsächlich als eine Alternative zu pluralistischen und marxistischen Modellen der Interessenvertretung, des Prozesse der institutionellen Entscheidungsfindung und unterschiedlicher Regimetypen gesehen, und nicht als allgemeinere ideologische Kraft in der modernen Politik. Parla und Davison zufolge können zwei Hauptformen des Korporatismus, der solidarische und faschistische Korporatismus, unterschieden werden (Parla und Davison 2004, 12f.). Beruhend auf der gesellschaftlichen Organisation in Berufsgruppen, lehnt der Korporatismus Kategorien wie »Individuum«, »Klasse« oder »Tradition« als die zentralen analytischen Kategorien im Sinne seiner politischen Vision ab. Während der solidarische Korporatismus Körperschaften als Puffer zwischen dem Individuum und dem Staat sieht, leugnet die faschistische Form jeglichen Unterschied zwischen dem Staat und der Gesellschaft, wobei sie alle(s) an den »metaphysischen korporatistischen Staat« assimiliert (Parla und Davison 2004, 13). Korporatistische Ideen wurden von dem türkischen Ideologen und Vordenker des türkischen Nationalstaates, Ziya Gökalp (1876-1924), über das Konzept des solidarischen Korporatismus aus dem Durkheimschen Positivismus rezipiert und in seinem Hauptwerk Türklügün esaslari (Die Grundlagen des Türkismus, Gökalp 1997 [1923]) in eine allgemei-
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ne Theorie der nationalen türkischen Gesellschaft eingearbeitet. Jedoch wurden die anfänglich stärkeren Elemente des solidarischen Korporatismus durch die Kemalisten in der Zwischenkriegszeit verändert und durch »protofaschistische korporatistische Tendenzen« angereichert (Parla und Davison 2004, 13).17 Wenn Ideologie eine Reihe von Überzeugungen über das soziale Leben im Allgemeinen und die Politik im Besonderen meint, die das politische Denken, Handeln, politische Beziehungen, Institutionen und Politik konstituiert und formt (Parla und Davison 2004, 21f.), dann kann der Kemalismus als die hegemoniale Ideologie der Türkei gelten. Eine hegemoniale Ideologie ist per Definition monopolistisch und exklusiv, wobei sie den öffentlichen Raum dominiert und prima facie die Legitimität alternativer Ideologien verneint (Parla und Davison 2004, 36). Parla und Davison drücken die hegemoniale Stellung des Kemalismus folgendermaßen aus: »In describing Kemalism as Turkey’s hegemonic ideology, we mean to capture the way in which it has become the sole, most determinative, all-encompassing public philosophy embedded and enforced in the governing and socializing institutions of the Turkish Republic since Mustafa Kemal and his faction of the national liberation movement consolidated political power and established the modern Turkish state« (Parla und Davison 2004, 35).
Sie widersprechen damit einer sowohl in westlicher als auch türkischer Literatur häufig anzutreffenden Darstellung des Kemalismus als unideologisch, realistisch und geleitetet von einem pragmatischen Vorgehen (Parla und Davison 2004, 8). »Kemalism is not nonideological, liberal, socialist, and democratic, nor is it philosophically universalist, and its perceived commitment to rationalism and pragmatism needs to be reevaluated. Kemalism is, rather, a specific variant of rightist, corporatist ideology committed to a view of society, reason, and action that bears only slight resemblance to its rationalist and pragmatic reputation. Accounts of Kemalism that rely on the six arrows or on the oversimplified modern, secular, positivist, and pragmatic selfrepresantations of Kemalism fail to capture adequately the explicit and implicit nonsecular and antidemocrat-
17 »In Turkey, corporatism comes via appropriations of solidaristic corporatism in Durkheimian sociological positivism by the Turkish nationalist ideologue Ziya Gökalp. Generally egalitarian, populist, culturally pluralistic, and statist, Gökalp’s corporatism underwent some transformations within the ideological frame of the Kemalists, who maintained the solidaristic core formulated by Gökalp while also tinkering partly, but consciously, with distinctly fascistic corporatist tendencies« (Parla und Davison 2004, 34).
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ic aims, interests, intentions, and presuppositions of the Kemalist corporatist ideological frame and of the politics constituted by it« (Parla und Davison 2004, 9).
An dieser Stelle kann festgestellt werden, dass der bis heute andauernde Personenkult um Mustafa Kemal Atatürk18ein sehr bestimmendes Element des türkischen öffentlichen Lebens – in der Politik, Administration, im Militär, im Erziehungswesen, in den Medien, auf öffentlichen Plätzen usw. – ist. Zur öffentlichen Präsenz der Symbole und Ideologie der Kemalismus, verkörpert durch die Person Atatürks selbst, führen Parla und Davison Folgendes aus: »In Turkey, the hegemony of Kemalism is preserved in variety of legal, constitutional, practical-political, and sociocultural ways, covering nearly the entire gamut of social and political life. Among the most notable cultural forms are the ways in which the personality of Mustafa Kemal Atatürk occupies a preeminent presence in all sites of human social relations in Turkey. Kemalism is sustained by the promotion of Kemal as the ›Eternal Chief‹, ›the Grand Leader‹, and the ›Father of us all‹. His image and his ideas adorn the landscape of social life; multiple portraits and posters of him hang in nearly every public meeting place, from local restaurants, grocery markets, and stationary stores to concert halls and libraries; statues, busts, and memorabilia such as calendars and buttons are everywhere, his epigrams appear on the frontal pieces of school buildings and state offices from postal services to the army barracks throughout the country« (Parla und Davison 2004, 37).
Folglich sind Mustafa Kemal und Symbole des Kemalismus sehr präsent in offizielleren Sphären der politischen Kultur in der Türkei. Atatürk erscheint auf allen türkischen Banknoten, seine Portraits sind in jeder staatlichen Behörde, in den Schulen und Universitäten anzutreffen. Regierungsvertreter sowie Vertreter
18 1934 wurde Mustafa Kemal mit der Einführung des Gesetzes für Familiennamen vom Parlament der Nachname »Atatürk« (Vater der Türken) verliehen. Dieser Nachname war ausschließlich ihm vorenthalten. Da er kinderlos starb, konnte sein Name nicht weiter getragen werden und existiert in der heutigen Türkei nicht mehr (Zürcher 2005, 188; siehe auch Parla und Davison 2004, 37). Wenn man die historische Figur Kemal Atatürk als »charismatischem nationalen Führer« (er wurde und wird auch ulu önder [deutsch: »der große Führer«] genannt) betrachtet, ist diese Namensgebung durch das Parlament als Ausdruck des Glaubens zu sehen, dass Mustafa Kemal der Schöpfer der Nation war. Hierin verkörpert er symbolisch in seiner Person die Einheit der neuen türkischen Nation, und wird somit zu ihrem »großen Führer«.
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von verschiedenen Vereinigungen besuchen regelmäßig Atatürks Mausoleum (Anitkabir), um ihm eine Ehre zu erweisen. An republikanischen Feiertagen besuchen führende Persönlichkeiten aus dem politischen und ökonomischen Leben das Mausoleum, um Atatürk ihre Dankbarkeit zu bekunden. An solchen Tagen verteilen Tageszeitungen große Poster, Reden, Plastikflaggen und Modellbüsten von Mustafa Kemal, und auf dem Bildrand der Fernsehsender erscheint ein Bild Atatürks vor dem Hintergrund einer türkischen Fahne (hierzu siehe Parla und Davison 2004, 38). 4.1 Kemalismus und türkischer Nationalismus: eine enge Verbindung Die Verbindung zwischen dem Kemalismus – seinen Vorläufern, der Bewegung für Einheit und Fortschritt (Ittihat ve Terakki) sowie der Bewegung der Jungtürken – als hegemoniale Ideologie und der Nationalisierung der Gesellschaft (im Sinne eines Nationbuilding-Prozesses) in der Türkei ist sehr eng. Der Kemalismus als Ideologie reformierte die traditionellen Strukturen der osmanischen Gesellschaft, führte in gewisser Weise auch die seit den TanzimatReformen andauernden Bestrebungen zur Modernisierung und »Verwestlichung« der Osmanischen Gesellschaft fort, wobei er ideologisch einen völlig anderen Geist verkörperte als die Tanzimat-Reformen. Die Qualität der Verwestlichung unter dem Kemalismus ist folglich eine völlig andere, insofern als das Resultat – bedingt durch den Zerfall des Osmanischen Reiches und dem Aufkommen nationaler Bewegungen innerhalb desselben – die Herstellung eines neuen Nationalstaates war. In diesem Kontext kann der Kemalismus auch als eine neue integrative Ideologie gedeutet werden, die – in erster Linie gestützt auf die Idee der Nation – die Gesellschaft »zusammenhalten« und ihr eine neue Anbindung, nämlich an die »europäische Zivilisation« ermöglichen sollte. Obwohl von der Idee des Anschlusses an die »europäische Zivilisation« geleitet, war der nationalistische Diskurs Mustafa Kemals auch gegen koloniale und imperiale Konzepte der westlichen Mächte gerichtet. Er betonte deshalb nach innen gerichtet (als »inneres« Nationbuilding) die »hervorragenden Qualitäten« der »türkischen Nation« einerseits, um so eine neue nationale Gemeinschaft zu stiften, die mit Stolz auf die Verdienste in der Vergangenheit erfüllt werden sollte. Andererseits war sein Bestreben, die nationale Einheit, Souveränität und »Größe« der türkischen Nation zu betonen gegen Artikel 2219 der Über-
19 Artikel 22 der Übereinkunft der Liga der Nationen von 1919 sah Folgendes vor: »To those colonies and territories which have ceased to be under the sovereignty of the
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einkunft der Liga der Nationen von 1919 gerichtet. Mustafa Kemals nationalistischer Diskurs war deshalb zum Teil ein Gegendiskurs zu kolonialen oder imperialen Konzepten, die die Türken und andere Bevölkerungsgruppen des Osmanischen Reiches als nicht imstande sahen, sich in der modernen Welt selbst zu regieren. Das Nationbuilding-Projekt des Kemalismus ist in diesem Kontext als integraler Bestandteil des kemalistischen Modernisierungs- und Verwestlichungsprojektes zu sehen. Es ist hiermit auch als Teil der Etablierung einer »rationalen Herrschaft« – im Gegensatz zu der im Osmanischen Reich religiös und imperial begründeten Herrschaft – zu werten. Der Kemalismus und sein Projekt des Nationbuilding haben damit einerseits – zumindest in der Intention – »fortschrittliche« Aspekte, wie die Reformierung der Gesellschaft, eine Zielformulierung in Sinne einer Anbindung an die westliche bzw. europäische Zivilisation, die Etablierung einer neuen politischen Ordnung, die auf »Volkssouveränität« und prinzipiell auf Egalität zwischen den Geschlechtern im Besonderen und den Gesellschaftsmitgliedern im Allgemeinen beruht. Andererseits jedoch sind die reformatorischen Maßnahmen, wie im Falle der neuen Kleiderordnung oder der Einführung des lateinischen Alphabets so einschneidend, dass sie die Verbindungen der osmanischen Schriftgelehrten zur osmanischen Sprache und damit zu den gesamten osmanischen Quellen unterbinden (hierzu Mardin 1997). Ebenso bedeutet die neue, von oben eingeleitete Kleiderreform einen fundamentalen Bruch mit dem traditionellen Kleidungsstil der Bevölkerung, da die Bekleidung sich nunmehr dem westlichen Stil anpassen sollte.20
States which formerly governed them and which are inhabited by peoples not yet able to stand by themselves under the strenuous conditions of the modern world, there could be applied the principle that the well-being and development of such peoples form a sacred trust of civilization and that securities for the performance of this trust should be embodied in the Covenant« (siehe Parla und Davison 2004, 69). 20 Bezeichnenderweise wurden die Begriffe für die neuen westlichen Kleidungsstücke – handelte es sich doch um einen Import aus dem Westen – vornehmlich aus der französischen Sprache entnommen und schriftbildlich sowie phonetisch an das Türkische angepasst. Beispiele aus dem Bereich der Bekleidung sind: manto (franz.: manteau [Mantel]), pantolon (franz.: pantalon [Hose]), esarp (franz.: écharpe [Hals- oder Kopftuch]), pardösü (franz.: pardessus [Überzieher, Mantel]), külot (franz.: culotte [Unterhose]), sütyen (franz.: soutien-gorge [Büstenhalter]) usw. Aus der französischen Sprache stammen ca. 2000 Begriffe, die im Zuge des Verwestlichungsprozesses übernommen wurden und teilweise osmanische Begriffe abgelöst haben. In der heutigen Sprache nach wie vor verbreitet, symbolisiert dieser sprachliche Bruch eine Anbin-
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Die Frage, die die jüngere Forschung über den Kemalismus beschäftigte und beschäftigt, ist, ob das kemalistische Verständnis der türkischen Nation als ein hegemoniales Staats- und Gesellschaftsverständnis gegenüber ethno-kulturellen Gruppen inklusiv ist. Ist es kulturell pluralistisch oder im Gegenteil monokulturell und ethnisch-exklusiv? Taha und Davison sprechen in diesem Zusammenhang von den zwei Gesichtern des Kemalismus, ein inklusives und ein exklusives (Parla und Davison 2004, 68). Während der nationalistische Diskurs Mustafa Kemals auf die diskursive Stiftung von nationaler Einheit und eines Nationalbewusstsein gerichtet war, war er mit dem Problem konfrontiert, dass die Gesellschaft faktisch (noch) sehr heterogen war und eher von religiöser als von nationaler Zugehörigkeit bestimmt wurde. Im Diskurs Kemals wird die Nation als ein metaphysisches Subjekt kontruiert, dessen Willen als homogen, gegeben und als über dem Willen der Individuen stehend dargestellt wird. So sagt Mustafa Kemal 1923 in einer Rede in der Großen Nationalversammlung: »The fate of those who do not conform to the nation’s will and purpose is disappointment and extinction. Gentlemen, let us bow with all due respect and submission before this enormous will« (zitiert nach Parla und Davison 2004, 70). In Hinblick auf die Frage, ob Zugehörigkeit zur türkischen Nation auf ethnischer oder politischer Basis erfolgt, kann von einer Doppeldeutigkeit ausgegangen werden: Einerseits ist Atatürks Diskurs inklusiv, postuliert Mitgliedschaft in der Nation als »partikulare ethnische oder religiöse Identitäten« transzendierend. Andererseits wird die türkische Nation exklusiv als ethnische und rassische Gemeinschaft gegenüber anderen ethno-kulturellen Gruppen konstruiert.21 Beispiele aus Atatürks Reden sollen dies verdeutlichen. Seine ethno-rassische Konzeption der türkischen Nation kommt in folgendem Abschnitt seiner Rede von 1926 vor Sportlern zum Ausdruck: »Gentlemen, there have remained in the Turkish race the ominous, negative, meaningless traces of the past. I have explained the historical reasons for this many times on other occasions. I will not repeat. However, you behold that, at the time when our present gen-
dung an den westlichen Lebensstil und eine Grenzziehung gegenüber der alten islamisch-orientalischen Zugehörigkeit (siehe hierzu Mardin 1997). 21 Die bekannte Bezeichnung für die kurdische Bevölkerung als »Bergtürken« (dagli Türkler) und das Bestreben, in den 1930er Jahren die türkische Herkunft der Kurden zu beweisen, ist Ausdruck dafür, dass die ethno-rassische Konzeption der türkischen Nation gegenüber der politischen die Oberhand gewonnen hatte (hierzu Yildiz 2001).
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eration inherited the grandest Turkish nation that has been in histories the master of the worlds, we had found this grand nation somewhat week, a little sickly, a bit puny. Gentlemen, I want robust, bold children. You are the men who have undertaken the measures and responsibility of raising these« (zitiert nach Parla und Davison 2004, 74f.).
Das auf Exklusion und Verneinung anderer ethno-kultureller Gruppen beruhende kemalistische Verständnis von Nation zeigt sich auch anhand Mustafa Kemals Aussagen bei einer Rede in Adana 1923, wo er sich gegen armenische Gebietsansprüche richtet, die durch das Abkommens von Sèvres (1921), das die Schaffung eines autonomen armenischen Staates vorsah, gedeckt waren: »The Armenians have no right whatever in this beautiful country. Your country is yours, it belongs to the Turks […]. This country was Turkish in history; therefore, it is Turkish and it shall live on as Turkish to eternity […]. Armenians and so forth have no rights whatsoever here. These bountiful lands are deeply and genuinely the homeland of the Turk« (zitiert nach Parla und Davison 2004, 76f.).22
Nach der Vertreibung und Extermination des größten Teils der osmanischen Armenier 1915 war nur noch eine kleine Zahl von Armeniern in der Türkei verblieben. An den obigen Ausführungen Mustafa Kemals kann ersehen werden, dass er – wohlwissend, dass die Armenier eine der ältesten Bevölkerungsgruppen Anatoliens, die auf eine vorchristliche Geschichte zurückblicken kann, darstellen – ihre Inklusion in seinen Diskurs über eine türkische Nation völlig verneint und ihnen ein Existenzrecht innerhalb dieser eindeutig abspricht.23 Im Gegenteil verkehrt er zum Zwecke der diskursiven Konstruktion (Wodak u.a.
22 Siehe auch Parla (2008b, 198). 23 Wenn man davon ausgeht, dass Atatürks lange Rede Nutuk von 1927, gehalten beim zweiten Kongress der Republikanischen Volkspartei (CHP), den Beginn einer offiziellen nationalen Historiographie darstellt, dann wird laut Fatma Müge Göcek verständlicher, warum die neue Historiographie diverse ethno-religiöse Gruppen nicht einschloss. Denn: »It is noteworthy that at the particular historical juncture when Mustafa Kemal took to narrating his version of this new nation’s past, all the minority groups in Turkey, including the Armenians, had already been effectively marginalized. Given these epistemological parameters, it was virtually impossible within the confines of Turkish nationalist historiography predicated on such a historical framework ever to recover and fully recognize the agency of such ethnic and religious groups in Turkey« (Göcek 2006, 89).
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199824) der türkischen Nation die Geschichte, indem er die Türken als die autochthonen Bewohner Anatoliens darstellt.25 Im mehrheitlich von Kurden bewohnten Diyarbakir wiederum basiert sein nationalistischer Diskurs wiederum auf der Idee des Türkentums, jedoch ist er darauf bedacht, die Kurden als Teil der Gemeinschaft der Türken zu konstruieren. Hierfür spielte ohne Zweifel der zu der Zeit relativ schwach ausgeprägte kurdische Nationalismus eine Rolle, den die Kemalisten in den Verhandlungen mit den kurdischen Führern festgestellt haben mögen (Bozarslan 2008, 89f.; Mango 1999). Auch die geopolitische Lage der kurdischen Gebiete (oder Kurdistans), die seit 1514 zwischen dem Persischen und Osmanischen Reich aufgeteilt waren, ist für die historische Entwicklung einer kurdischen staatlichen Struktur nicht förderlich gewesen. Diese geopolitische Lage zwischen zwei Großreichen und die Lage an einem geographischen Kreuzungspunkt, der als »Einfallstor« von verschiedenen Völkern diente, haben die Entstehung zentralisierter Regierungsstrukturen verhindert (Nezan 1996, 12).26 Folglich konnten sich die Kurden nicht auf einen eigenen Staatsapparat oder eine eigene Zentralmacht stützen, die in der Lage gewesen wäre, zum Träger eines umfassenden kurdischen Nationalismus zu werden. Hamit Bozarslan zufolge blieb der kurdische Nationalismus in der Zeit der Jungtürken als »marginaler« Nationalismus von kurdischen Eliten im zweiten Stadium B der Entstehung von »kleinen Nationen« (im Sinne Miroslav
24 Zur Analyse der diskursiven Konstruktion nationaler Identität, die von den Autoren am Beispiel Österreichs untersucht wird, siehe Wodak u.a. 1998. 25 Mithilfe der 1932 gegründeten Gesellschaft für türkische Geschichte sollte in ähnlicher Weise die Präsenz der Türken im Westen Anatoliens noch vor den Griechen bewiesen werden: In einer 1930 gemachten Äußerung sagte Mustafa Kemal dazu: […] the principle of nationality that is modern has spread internationally. We too shall take great care to keep our Turkishness. Turks are noble in Civilisation. We are working to prove scientifically that we are an old nation residing in the environs of Izmir [on the southwestern Agean Coast of Anatolia] before the Greek« (zitiert nach Parla und Davison 2004, 78). 26 Kendal Nezan bringt die »Determiniertheit« der kurdischen Geschichte durch die Geographie Kurdistans mit diesen Worten zum Ausdruck: »This country of high mountains, interspersed with a multitude of valleys, is at the crossroads of the routes linking Asia to Europe and the Russian steppes to the Arab Middle East. These were of course trade routes but also facilitated a series of great invasions which, across the centuries, destroyed the internal social and political processes which would have led to the emergence of a united Kurdish political entity« (Nezan 1996, 12).
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Hrochs) stehen, und konnte die Phase C, in der es zu einer Ausweitung der nationalen Idee von Eliten auf die Massen kommt, nicht erreichen (Bozarslan 2008, 95). Hinzu kam – im Gegensatz zu den Armeniern oder Griechen –, dass seitens der politischen Führer angenommen wurde, Türken und Kurden seien sich kulturell ohnehin sehr ähnlich, was durch die mehrheitlich gemeinsame Religionszugehörigkeit zum sunnitischen Islam begründet schien. Der folgende Abschnitt der 1937 in Diyarbakir gehaltenen Rede steht für einen inklusivistischen Diskurs gegenüber den Kurden, welche Atatürk in der Rede nicht als Kurden adressiert, sondern in ihrer Eigenschaft als »fleißige Landarbeiter« und als Teil der »türkischen Zivilisation« und somit als »Türken«. Abgesehen von einigen Wenigen, die sich nicht als Teil der türkischen Zivilisation fühlten, würde die »wahre Menschheit« ohne zu zögern der türkischen Nation ihre Größe bescheinigen. Unverkennbar ist in diesem Ausschnitt seine Werbung für die Idee, Teil der türkischen Nation zu sein, die Vorbildhaftes in der Geschichte geleistet habe und in Zukunft für die »Zivilisation und die Menschheit der Welt« schaffen werde: »I’ve visited the centers and surroundings of the 11 provinces of the country. I’ve seen the Turks, with all its fathers, mothers, and children, of all these centers and surroundings. I’ve rejoiced a lot. I’ve witnessed foundations of high civilization: a human society that possesses high understandings with minerals, technicians, [and] workers that is Turk from top to bottom. We have traversed such areas of this country [where we have seen] there the women who grabbed the ploughshare much more than the men, and who, with their hoe in one hand, were working to enrich the fecund earth of the Turk[s], who love the land and who are tied to it with the heart. All these people give the surplus of their own lot lovingly, without hesitation, and with great sacrifice to the state treasury so that the Turkish Republic becomes rich, strong, and magnificent. It is not possible for an intelligent person who has travelled, visited, and studied all that we have seen and expressed in this short account not to feel himself within a mighty and noble being that diffuses grandeur to the whole world. Leaving aside unconscious beings who do not feel in the same way, real humanity would unhesitatingly accept that the Turkish Republic and his present day owners, Turks, are an exemplar for the civilization and humanity of the world. More than that, the Turks are a sublime being who are preparing to perform again, but this time in a much more sublime way, the cultural duties […] that they have fulfilled for humanity in the very old periods of history« (zitiert nach Parla und Davison 2004, 75f.).27
Die Ansprache einer – in der Mehrheit kurdischen, aber zumindest nicht-türkischen – Bevölkerung in Diyarbakir als Teil der türkischen Zivilisation und
27 Siehe auch Taha Parla 2008b, 174.
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somit als »Türken«, bedient sich einer »assimilativen« Inkorporationsstrategie gegenüber einer von einer eigenen Nationalbewegung weit entfernten kurdischen Landbevölkerung. Diese wird zu der Zeit Atatürk zufolge als in das Konzept einer (muslimischen) Nation integrierbar eingestuft, zumal eine kurdische Bewegung für einen eigenen Staat relativ schwach ausgeprägt war. Die Darstellung der Türken als eine alteingesessene Bevölkerung Anatoliens in Abgrenzung zu Armeniern oder Griechen dient wiederum als eine exklusivistische Legitimationsstrategie, um auf der Basis des Prinzips der homogenen Nation die beanspruchten Territorien Anatoliens als genuine Territorien der Türken (und nicht Osmanen, die ja nicht als Nation galten und mit deren Vergangenheit gebrochen werden sollte) einzufordern. Hiermit soll einerseits nach außen die Homogenität und – im Gegensatz zum kemalistischen Bruch mit der osmanischen Vergangenheit – mit Rückgriff auf die osmanisch-türkische Herrschaft die lange Tradition der Staatlichkeit der Türken demonstriert werden.28 Andererseits dient – wie bereits oben ausgeführt – die Behauptung, im Besitz einer alten Vergangenheit und einer mächtigen Zivilisation auf anatolischem Boden und darüber hinaus zu sein, nach innen dazu, Elemente der Kreation einer auf den Gedanken des kulturellen Türkentums basierenden Nation zu liefern.29 Ähnlich, jedoch noch drastischer und als ein totalitäres und faschistisches Konzept des Türkentums, drückte es der damalige Parteiideologe der Republikanischen Volkspartei (CHP) und frühere Justizminister Mahmut Esat Bozkurt30 (1892-1943) 1930 aus, als er denjenigen, die nicht »genuin türkisch« sind, den ihnen seiner Meinung nach gebührenden Platz – nämlich als Diener und Sklaven – in der Gesellschaft zuschrieb:
28 In einer 1919 gehaltenen Ansprache in einem Jugendverein in Kirsehir in Zentralanatolien sagt Atatürk, dass Delegationen aus dem Ausland ins Land gekommen seien, um sich über den Zustand der türkischen Nation zu erkundigen. Sie hätten dabei keine »klägliche« Nation vorgefunden, sondern eine, die »seit über sechshundert Jahren ihre Herrschaft unter Beweis gestellt und über andere Völker regiert« habe (in Parla 2008a, 77f.). 29 In vielen seiner Reden spricht Mustafa Kemal die türkische Nation an, und ist bestrebt, sie als eigenständig und abgrenzbar darzustellen. 30 Mahmut Esat Bozkurt war zugleich auch Theoretiker des Kemalismus, indem er dem Kemalismus eine universelle Bedeutung zuschrieb und Atatürk als den größten Revolutionär der Welt bezeichnete. Er führte als erster den Begriff »Kemalismus« im Jahr 1932 ein (siehe Kieser 2006b, 26).
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»Because this party [the RPP31], by the works it accomplished heretofore, restored to the Turkish nation its position that is essentially the master […]. My idea, my opinion is that, harken ye friend and foe […], the master of this country is the Turk. Those who are not genuine Turks can have only one right in the Turkish fatherland, and that is to be a servant […], to be a slave […]. We are in the most free country in the world. They call this Turkey« (zitiert nach Parla und Davison 2004, 77, siehe auch Bozarslan 2004, 36).
Resümierend sei an dieser Stelle festgehalten, dass der Diskurs Mustafa Kemals sich den Kurden gegenüber – als mehrheitlich muslimische Bevölkerung – »inklusivistisch« verhielt, wobei er in seinen Reden auch diese als Teil der neuen türkischen Nation ansprach. Die vor allem in der Zeit des so genannten Befreiungskrieges von 1919-1922 geäußerte »Bruderschaft« zwischen »Türken« und »Kurden« wich in den ersten Jahren der Republik immer mehr einer die Existenz der Kurden verneinenden und sie als Teil der ethnisch und sogar rassisch definierten türkischen Nation begreifenden Rhetorik im Atatürkschen und republikanischen Vokabular. Dagegen wurden die nicht-muslimischen Gruppen im Diskurs Atatürks als »Andere« und somit als nicht der türkischen Nation zugehörig definiert. Dies zeigt auch die Grenzen eines vorgeblich politischen Konzepts einer türkischen »Staatsbürgernation« auf. Denn der zumindest im Diskurs geäußerte Ausschluss von Nicht-Muslimen offenbart eine vielmehr auf die gemeinsame muslimische Religion beruhende Konzeptualisierung der türkischen Nation in ihrem Entstehungsstadium. Zwar wurden die in Anatolien verbliebenen nicht-muslimischen Gruppen, wie die anatolischen Griechen (Rum), die Armenier oder Juden im Rahmen des Friedensvertrags von Lausanne (siehe Kapitel VI.1) als türkische Staatsbürger/innen mit Minderheitenstatus anerkannt. Jedoch wurden sie durch diesen Status auch gleichzeitig als »außerhalb« der türkischen Nation und als dieser nicht zugehörig definiert.
5. P OLITISCHE S CHRITTE ZUR H ERSTELLUNG EINER NATIONALEN K ULTUR Neben dem Bevölkerungsaustausch, der den Zweck einer kulturellen Homogenisierung verfolgte, wurden seitens der türkischen Republikgründer verschiedene Maßnahmen zur Herstellung einer nationalen Kultur eingeleitet. Waren diese Maßnahmen nicht immer eindeutig zielgerichtet formuliert, so standen sie je-
31 Republican Peoples Party: Republikanische Volkspartei (CHP), Anm.E.G.
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doch im Einklang mit dem Projekt der Herstellung einer westlich orientierten nationalen Kultur. In der Folge des 1. Weltkrieges wurde in Lausanne 1923 zwischen der Türkei und Griechenland ein Abkommen über den Bevölkerungsaustausch zwischen beiden Ländern unterzeichnet. Demnach mussten im Jahr 1923 1.190.000 anatolische Griechen die Türkei verlassen. Es durften lediglich die Griechen von Istanbul, Bozcaada und Imroz bleiben, deren Zahl zu der Zeit 110.000 betrug32 (Oran 2004a, 51). Der neue Staat wurde als Republik politisch und administrativ reorganisiert. Das Land wurde in départementähnliche Bezirke eingeteilt. Eine neue Hauptstadt wurde bestimmt, die in Abgrenzung zur Jahrhunderte langen osmanischen Hauptstadt Istanbul mit Ankara Ausdruck eines von einem geographischen Zentrum aus regierenden Staates sein sollte. Europäische Gesetzesbücher wurden zur Grundlage des neuen türkischen Rechts gemacht. Es wurden zudem verschiedene Reformen durchgeführt, wie z.B. die Einführung einer neuen Kleiderordnung, die Einführung des Greogorianischen Kalenders sowie des italienischen Strafgesetzbuches (1926), die Abschaffung der arabischen Schrift und ihre Ersetzung durch das lateinische Alphabet (1928), die Einführung des metrischen Systems (1931) und das Nachnamengesetz sowie die Einführung des Sonntags als gesetzlichem Feiertag anstelle des Freitags (1934 bzw. 1935) (siehe hierzu Zürcher 2005, 186f.; Parla und Davison 2004, 50). Dies waren nicht nur Maßnahmen für eine »Westorientierung« der Türkei, sondern auch zur Vereinfachung der Kommunikation mit den westlichen Staaten. Gleichzeitig hatten diese die Türkei »verwestlichenden« Maßnahmen die Konsequenz, dass symbolisch die Verbindungen mit der Osmanischen Vergangenheit im Besonderen und der islamischen Welt im Allgemeinen abgebrochen wurden.33 1932 wurde die Gesellschaft für Türkische Sprache gegründet, deren Aufgabe es war, eine standardisierte türkische Sprache zu entwickeln (siehe Buhbe 1996, 50). Es gab bis zu dem Zeitpunkt weder eine türkische Hochsprache noch ein lateinisches Alphabet für das Türkische. Türkisch wurde von der einfachen türkischsprachigen Bevölkerung gesprochen. Die Sprache der Intellektuellen und des osmanischen Hofes (d.h. Amtssprache) war das mit arabischer Schrift geschriebene Osmanisch, das eine »gemischte« Sprache aus Türkisch, Arabisch
32 Heute beträgt diese Zahl nur noch weniger als 1500. Nach der Zypernkrise verließen ab 1964 weitere anatolische Griechen die Türkei (Oran 2004a, 51). 33 Zur Entwicklung einer modernen türkischen Sprache, die das Osmanische weitestgehend ersetzen und damit eine neue säkularisierte gesellschaftliche Symbolik schaffen sollte, siehe Özdogan (2007, S. 169-225).
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und Persisch mit einer eigenen Grammatik war. Die Aufgabe des neuen Instituts war die Entwicklung einer standardisierten türkischen Sprache. Da die neue türkische Sprache das Osmanische ablösen sollte, war das Bestreben auch, das osmanische Vokabular (Mardin 1997) aus dem neuen Kommunikationsmedium zu verbannen. Dieser Vorgang kann als Teil des Programms der Verwestlichung und des Bruchs mit der osmanischen Tradition und dem Reich gedeutet werden. Bereits 1924 wurde das Kalifat abgeschafft. Die nationale Erziehung wurde als neue Aufgabe des Staates eingeführt, um aus der heterogenen Bevölkerung Staatsbürger der Republik zu machen. Nach Birol Caymaz hatte die nationale Erziehung vor allem folgendes Ziel: »Eines der Hauptanliegen der Erziehung war es, den zukünftigen Erwachsenen berufliches Wissen und Fertigkeiten zu vermitteln, und sie zu nützlichen und produktiven Wesen innerhalb des ökonomischen Lebens zu machen. Über diese durch den Nationalstaat vermittelte ökonomische Funktion hinaus hatte die nationale Erziehung auch das Ziel, die zukünftigen Staatsbürger zu zivilisieren, sie mit einem nationalen und patriotischen Bewusstsein auszustatten und landesweit eine kulturelle Ähnlichkeit herzustellen« (Caymaz 2007, 12f., Übers. E.G.).
Die neuen Türken sollten im Verständnis der Kemalisten keine »Orientalen« mehr sein, die von einem islamischen und orientalischen Lebensstil geprägt waren, sondern zukünftig einen Teil der europäischen Zivilisation bilden. Die Herstellung einer »westlich« geprägten nationalen Kultur in der Türkei war, wie bereits oben angeführt, ein zweischneidiges Schwert: Einerseits gab es Taner Akcam zufolge ein Gefühl der ständigen Niederlage gegen westliche Mächte (hier insbesondere gegen das Habsburgerreich), die dem Osmanischen Reich trotz dessen faktischer Siege gegenüber aufbegehrenden Völkern in der Peripherie des Osmanischen Reiches die Niederlage diktieren konnten. Dies wurde auch als Niederlage eines islamischen Reiches über die westliche Zivilisation gesehen. Andererseits sahen die Jungtürken in der Gründung eines Nationalstaates nach westlichem Modell die einzige Möglichkeit zur Rettung der letzten verbliebenen Territorien. Akcam sieht in eben diesem Gefühl der »Erniedrigung« einen Grund für die von ihm konstatierte Aggressivität der »türkischen Identität« (Akcam 2002a, 58). Dem Autor zufolge sind in den Beziehungen zum Westen, die von Faszination geprägt waren, deshalb »Neid, und ein verzweifelter Hass« vorherrschend (Akcam 2002a, 58). Die »gefühlten« Niederlagen gegenüber dem Westen fanden insofern nicht nur auf militärischer Ebene statt, sondern betrafen auch den Grad der erreichten »Zivilisation«, die ihren Ausdruck in der politischen und gesellschaftlichen Organisation fand. Ebenso spielte die technische
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Überlegenheit des Westens eine Rolle. Dennoch findet man v.a. in den Schriften Ziya Gökalps die Annahme, der Osten (d.h. die »islamische Welt«) sei dem Westen moralisch überlegen. Es genüge insofern, dass die neue türkische Gesellschaft nur die technologischen Errungenschaften des Westens übernehme.
6. Z UR E INORDNUNG DES TÜRKISCHEN N ATIONENBEGRIFFS IM S INNE DER K ATEGORIEN » ETHNISCHES « UND » POLITISCHES « N ATION -V ERSTÄNDNIS Nachdem – wie weiter oben geschehen – am Beispiel des deutsch-französischen Antagonismus auf die zwei hauptsächlichen idealtypischen Kategorien des Nationalen eingegangen wurde, soll nun näher bestimmt werden, wie der Begriff der Nation in der Türkei mit diesen beiden Kategorien erfasst werden kann. Der deutsch-französische Gegensatz, der in Idealtypen von verschiedenen Begriffen des Nationalen ausgeht, dient bei dieser Diskussion als Folie und kann beim Verständnis des türkischen Nationenbegriffs behilflich sein (vgl. Kadioglu 2005, 110 und 2000, 62). Bei der im Rahmen dieser Untersuchung vorgenommen Anwendung der antagonistischen Begriffspaare ethnisches versus politisches Nation-Verständnis auf den Fall der Türkei wird von dem Grundgedanken ausgegangen, dass der türkische Nationalstaat, als ein sich relativ spät konstituierender Staat sich von bereits existierenden Staatskonzepten und Gesellschaftsmodellen hat beeinflussen lassen. Hier ist einerseits von einem republikanischen Einfluss von Frankreich und einem »völkischen« Einfluss von Deutschland in den Gründungsjahren der türkischen Republik auszugehen. Die Feststellung Kadioglus dazu lautet, dass das türkische Nation-Verständnis34 einerseits in sich die Ideen der Aufklärung, wie individuelle Freiheit, rationalen Kosmopolitismus sowie Universalismus aufgenommen habe, andererseits aber von einer ethnischen türkischen Identität ausging, die es zu konservieren gelte. Jedoch sind die Kategorien ethnisch und politisch auch im Fall der Türkei in unterschiedlichen Perioden unterschiedlich stark ausgeprägt gewesen und sind deshalb nicht als Konstanten zu sehen. So ist dieses Verständnis in der Zeit der Gründung der türkischen Republik – in Teilen des kemalistischen Diskurses, in
34 Sie stützt sich bei der Erläuterung dieser Frage auf Ziya Gökalp, der als der Theoretiker der türkischen Nation gilt. Auf sein Verständnis der Nation werde ich weiter unten ausführlicher eingehen.
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der Konzeptualisierung der Nation durch Ziya Gökalp oder in der Verfassung – zunächst eher politisch und staatsbürgerlich geprägt gewesen. D.h., der Begriff »Türke« wurde zunächst nicht mit Inhalten ethnischer Zugehörigkeit gefüllt. So führte Ziya Gökalp in seinem Hauptwerk »Die Grundlagen des Türkismus« von 1923 aus: »In unserem heutigen gesellschaftlichen Stadium beruht die gesellschaftliche Solidarität auf der kulturellen Einheit. Da das Medium zur Übertragung der Kultur auf die Generationen die Erziehung ist, hat sie nichts mit Blutsverwandtschaft zu tun« (Gökalp 1997 [1923], 15; Übers. E.G.). Dabei definiert er die Nation nicht auf gemeinsame ethnische Herkunft beruhend, sondern auf Sozialisation der Individuen innerhalb der Gesellschaft, die zwar Gemeinsamkeiten haben, jedoch nicht gemeinsamer Herkunft sein müssen: »Die Nation ist eine Gemeinschaft aus Individuen, die in Hinsicht auf Sprache, Religion, Moral, Ästhetik Gemeinsames haben, also die die gleiche Erziehung erhalten haben« (Gökalp 1997 [1923], 18; Übers. E.G.). Die nicht-ethnische Begründung der Nation durch Gökalp kommt auch in folgendem Zitat zum Ausdruck: »In unserem Land gibt es Nationalgenossen, deren Großväter einmal aus Albanien oder Arabien kamen. Wenn wir diese als solche ansehen, die mit der türkischen Erziehung aufgewachsen sind und sich für das türkische Ideal einsetzen, dürfen wir sie nicht von unseren restlichen Nationalgenossen unterscheiden« (Gökalp 1997 [1923], 19; Übers. E.G.). In der Zeit ab den 1930er Jahren erfährt dieser gegenüber ethnischen »NichtTürken« inklusive aber assimilativ orientierte Nationenbegriff jedoch unter anderem auch durch den Einfluss von rassistischen Ideologien, die in Europa stärker wurden, eine ethnische bis rassistische Färbung, die das »Türkentum« exklusiv auf die »ethnischen« Türken begrenzt (Yildiz 2001). Aus dieser doppeldeutigen Konstellation, in die der Begriff der türkischen Nation eingebettet ist, entsteht, was Ayse Kadioglu das »Paradox des türkischen Nationalismus« nennt. Sie resümiert die Einflüsse, denen das türkische Verständnis von Nation unterlag, mit folgendem Satz: »In short, it contained elements of both a cosmopolitan French nationalism and an organic, anti-Western and anti-enlightenment German nationalism« (Kadioglu 1996, 184). Dieses besteht darin, dass das Türkisch-Sein auf der einen Seite als ethnische Zugehörigkeitskategorie verstanden wurde, die nur den ethnisch »reinen« Türken vorenthalten war, auf der anderen Seite als staatsbürgerliche Kategorie nicht-ethnisch und somit inklusiv gegenüber anderen Volksgruppen ist. Folglich enthält das türkische Nationenverständnis die Charakteristiken beider Idealtypen von Nation, da es einerseits staatsbürgerlich und politisch angelegt war, andererseits die neu zu gründende türkische Nation als ethnisch distinkte Gemeinschaft zu konstituieren suchte. Diese paradoxe Konstitution der türkischen Nation
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kommt – wie bereits oben dargelegt – in den Schriften Ziya Gökalps (18761924) zum Ausdruck. Gökalps Unternehmen der Theoretisierung der türkischen Nation verfolgte folglich das Ziel, universalistische mit partikularistischen Werten zusammenzubringen (Gökalp 199735; Gündüz 2005, 75f.; Kadioglu 2005, 110). Die westliche Zivilisation galt für Gökalp und die kemalistische Elite als die erstrebenswerte Lebensform. Dies wurde als ein Mittel gesehen, mit anderen, als potentiell feindlich gesehenen Nationen in Wettbewerb zu treten. Andererseits versuchte Gökalp die lokalen und partikularen Besonderheiten der türkischen Kultur in sein Verständnis von türkischer Nation aufzunehmen. Diese bestanden vor allem in den islamisch geprägten Sitten. In seiner Theoretisierung der türkischen Nation machte Gökalp einen entscheidenden Unterschied zwischen »Kultur« und »Zivilisation«. Kultur meinte hierbei die traditionelle, populäre und lokale Kultur eines Landes. Zivilisation bezeichnete dagegen vielmehr die technischen Errungenschaften, die am besten als in der westlichen Welt verkörpert gesehen wurden. Aus Sicht Gökalps und der Vertreter eines kulturellen Partikularismus der türkischen Nation war es deswegen angebracht, nur die technischen Errungenschaften des Westens anzunehmen. Hamit Bozarslan schreibt in diesem Zusammenhang: «,Civilization‹ was the very condition of remaining oneself, a Turk and Turkish, but at the same time it meant becoming someone else« (Bozarslan 2006, 31). Nach Ayhan Akman war das türkische Nationenbildungsprojekt als »offizielle Ideologie der republikanischen Ära« vielmehr eine grundlegende Bewegung zum kulturellen Wandel als ein Projekt zur Herstellung einer ethnischen Einzigartigkeit (Akman 2002, 82). Vor dem Hintergrund der Spezifizität des kemalistischen Projekts der Nationenbildung ist Akman zufolge deswegen die Dichotomie von ethnisch-zivil bzw. ethnisch-politisch um eine neue Kategorie zu erweitern. Er schlägt dafür den Begriff des modernistischen Nationalismus für das spezifische Nationenbildungsprojekt der Türkei vor. Dieser Begriff lasse sich, so Akman, auf Nationenbildungsprojekte anwenden, bei denen die Gesellschaften »verwestlicht« werden sollen. Der modernistische Nationalismus unterscheide sich nicht vom ethnischen, insofern er auch die Homogenität seiner Mitglieder erreichen wolle. Akman argumentiert aber, dass nicht die Berufung auf eine ethnische Homogenität bei der Konstitution des türkischen Nationalstaates ausschlaggebend war, sondern der Wille, eine modernefähige, den westlichen Werten zuwandte Gesellschaft zu schaffen. Dieser Argumentation kann nur insoweit
35 Ziya Gökalp (1997): Türkcülügün esaslari (Die Grundlagen des Türkismus). Dieses 1923 zum ersten Mal erschienene Werk wurde in osmanischer Sprache geschrieben und später ins heutige Türkisch übertragen.
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gefolgt werden als die neue Staatsführung sich anfangs auch auf ein politisches Konzept von Nation berief. Hier hatte die Nationalstaatsbildung noch das Ziel der Konsolidierung und rationalen Neustrukturierung des neuen Staates. Die neue Rationalität des Staates als Republik wurde als Maßnahme des Anschlusses an die westliche Zivilisation gesehen. Der Inhalt des Begriffs von Nation wurde jedoch bereits durch den vorrepublikanischen Diskurs Mustafa Kemals in ambivalenter Weise gefüllt, der einerseits eine starke rassische und rassistische Färbung aufwies, andererseits aber auf assimilatorische Inklusion vor allem den Kurden gegenüber bemüht war. Die Türkisierungspolitiken ab den 1930er Jahren sind hierfür bezeichnend. Akmans »drittem Weg« zur Beschreibung des türkischen Nation-Verständnisses kann deshalb entgegen gehalten werden, dass es nicht zuletzt vor der Gründung des türkischen Staates eine starke Strömung eines ethnisch verstandenen türkischen Nationalismus gab, der im Verlauf der Republikgeschichte bis heute vorherrschend geblieben ist. Die anfangs dominante Idee einer Modernisierung des Staates und der Gesellschaft bei der westlich orientierten intellektuellen und militärischen Elite am Ende des Osmanischen Reiches wurde zusehends mit einem ethnischen Begriff von Türkentum ausgefüllt. Das türkische Nation-Verständnis wird folglich von vielen Autoren als widersprüchlich angesehen. Es wird argumentiert, dass dieses sich einerseits auf den Glauben an eine ethnische Herkunftsgemeinschaft gründet, andererseits seit der Gründung der Republik aber behauptet wird, Türkisch-Sein sei eine übergreifende Zugehörigkeitsbezeichnung, die potentiell auch andere ethnische Gruppen einschließt (Kadioglu 1996). Taner Akcam drückt die Einflüsse, die bei der Genese des türkischen Nationenbegriffs eine Rolle spielten, so aus: »Um diese Zentralisierung und Homogenisierung zu verwirklichen, hat (die jungtürkische Bewegung, Anm.E.G.) Einheit und Fortschritt den bekannten klassischen Weg vorgezogen. Das Prinzip der egalitären und universalistischen Staatsbürgerschaft mit einer kulturellen Identität zu verschmelzen, die es um die Werte der dominanten Volksgruppe herum, nämlich der Türken, zu schaffen galt […]« (Akcam 1997, 146; Übers. E.G.)36
I. Ferhan Dereboy und Cigdem Dereboy weisen ebenso auf die Doppeldeutigkeit der türkischen nationalen Identität hin, indem sie ausführen: »[…] während die türkische Identität […] einerseits einen Oberbegriff für die nationale Zugehörigkeit darstellt, ist sie gleichzeitig die Subidentität des türkischen Volkes, das an eine Herkunft von den Oghuzen-Türken glaubt« (Dereboy 1997, 422; Übers. E.G.).
36 Hierzu siehe auch Akcam (1996, 35).
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Aus einem solchermaßen doppeldeutigen Verständnis des Nationalen ergeben sich begriffliche Schwierigkeiten, die es fraglich erscheinen lassen, ob die nationale Bezeichnung »Türkisch« auch andere Gruppen umfasst (Kadioglu 1996, 184; 2008). Dies ist eine Frage, der ich mich in den folgenden Kapiteln verstärkt zuwenden werde.
7. S CHLUSSFOLGERUNGEN Mit der vorhergehenden historischen Analyse der Genese des Nationenbegriffs und des Nationalstaates wurde bezweckt, die »Determinanten« der staatsbürgerschaftlichen Inklusion von Minderheiten in der Türkei zu bestimmen. Die bisherige Analyse hat gezeigt, dass sich der Nationenbildungsprozess in der Türkei vielmehr auf das ethnische Element der Türken stützte, selbst wenn es auch im Anfangsstadium der Republik ein territorial und staatsbürgerlich gedachtes Konzept von Nation gab. In Bezug auf die Herstellung einer türkischen Nation wurde in der Realität aber später eine Politik der Türkisierung betrieben, die bei nichttürkischen Gruppen zu der Annahme führen musste, dass ihre spezifische Identität keinen Platz im Rahmen des türkischen Nation-Konzepts hatte. Die Nation wurde holistisch nach dem Grundsatz definiert, dass Türke ist, wer Staatsbürger der Türkei ist. Diese Definition könnte zwar auch als ein staatsbürgerliches Konzept der Mitgliedschaft interpretiert werden, die einer Mitgliedschaft in einer politischen Nation gleichkommt, jedoch zeigte die politische Praxis, dass nichttürkische Gruppen wie die Kurden aber auch die nicht-muslimischen Minderheiten an eine türkische »Kulturnation« assimiliert werden sollten. In einer solchen Situation entzündete und entzündet sich auch heute noch die Frage, wie denn die türkische Nation und die Staatsbürgerschaft verstanden werden solle. Die Idee einer türkischen Nation war folglich bereits vorhanden, die Nation selbst musste aber tatsächlich noch durch die Republikgründer geschaffen werden. Diesen Umstand drückt Ayhan Akman mit folgenden Worten aus: »In der Türkei entstand der Nationalstaat ohne eine Nation.« Um die vorgefertigte Nationalidee der Republikgründer zu verdeutlichen, die die Integration der Partikularismen nicht in Erwägung zogen, führt er weiter aus: »Anstatt im Projekt der Nationenbildung das für die kulturelle Originalität hilfreiche Regionale, Subjektive und Traditionelle zu integrieren und teilhaben zu lassen, wurden diese ausgeschlossen und die Strategie gewählt, zum Zwecke der Erreichung dieses Zieles eine Modernisierung einzuleiten« (Akman 2002, 89; Übersetzung E.G.). Wie bereits weiter oben dargelegt, glaubt Akman, dass die republikanische reformistische Elite in ihrem Bestreben, den Staat zu retten, nicht die Nation in
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einem engen Sinne ethnisch definierte, sondern diese im Rahmen des westlichen kulturellen Modells, in einem modernistischen Sinne entworfen hat (Akman 2002, 89). Diese These bedeutet jedoch, dass dem neu entstandenen türkischen Nationalstaat keine nationale Kultur zugrunde gelegt wurde, und dass die Staatsgründer eine »kulturell neutrale« Modernisierung der Gesellschaft erreichen wollten. Diese These erweist sich jedoch als unhaltbar, wenn – wie in diesem Kapitel geschehen – der nationalistische Diskurs Mustafa Kemals oder die Theorie einer türkischen Nation von Ziya Gökalp einer näheren Betrachtung unterzogen wird. Die Mehrheit der Autor/innen stimmt jedoch mit der Analyse überein, dass es zu Beginn der Republik Ansätze einer »Staatsbürgernation« gab, die von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit abstrahieren sollte. Jedoch konstatieren auch sie eine zunehmende ethnisch-kulturalistische Ausrichtung des türkischen Nationalverständnisses ab den 1930er Jahren. Es kann folglich argumentiert werden, dass das umfassende Konzept von Nation als formelle Ideologie in der Türkei bislang nicht in der Lage war, die ethno-kulturellen Differenzen unter der Zugehörigkeit des »Türkisch-Seins« – verstanden als nationale Zugehörigkeit zum Türkentum – zu integrieren. In der Türkei ging die Idee einer nationalen Gemeinschaft der des Staatsbürgers voraus. Dies sei im Vorblick auf Kapitel V, in dem es um die Analyse der Entwicklung der türkischen Staatsbürgerschaft gehen wird, bereits festgehalten. Dies kann zumindest für das anfängliche Fehlen eines mit Rechten ausgestatten Staatsbürgertypus festgestellt werden. Demnach entstand zunächst die Idee einer türkischen Nation, um anschließend einen »annehmbaren Staatsbürger« (Üstel 2004) zu definieren (hierzu Kapitel V). Hierin gleichen das Konzept und die Institution der Nation seit ihrer Einführung in der Türkei einer leeren Hülle, die mit Inhalt gefüllt werden muss. Zunächst gleicht die Gesellschaft einer subjektlosen Nation, die ihr Subjekt noch erfinden und mit Rechten ausstatten muss. Auch hier kann man davon ausgehen, dass es für eine »erfolgreiche« Nationenbildung zu einer gewissen Koinzidenz von Nation und Staatsbürgerschaft kommen muss. Hier ist das Beispiel der Französischen Revolution und Nationalstaatsbildung bedeutsam, wo die Ideen der Aufklärung, insbesondere der Menschenrechte und der Aufhebung der Stände dazu verhalfen, dass sich mit der Gründung einer Französischen Nation auch der Begriff eines freien Bürgers entwickelte. Man kann hier kritisch anmerken, dass Nation notwendigerweise ein Subjekt haben muss, das durch die Schaffung eines staatsbürgerlichen Mitglieds übersetzt wird. Die Idee eines Staatsbürgers sollte sich denn auch in den Jahren nach der Gründung der Republik entwickeln. Jedoch ist hier die Frage, wie der/die Staatsbürger/in gedacht und im republikanischen Diskurs konzeptualisiert wurde. Wurde
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er als »freies« und mit Rechten ausgestattetes Individuum gedacht, das die Gestaltung der Nation mitbestimmen sollte? Oder diente das Individuum in seiner Eigenschaft als Staatsbürger der Erfüllung von politischen Zielen des neu gegründeten Staates? Das Konzept eines freien Bürgers, das an der Ausformulierung der neuen Nation mitwirken könnte, würde implizieren, das diese Nation keine fest definierten Grenzen hat, sondern relative Offenheit in Hinblick auf ihre kulturelle und politische Ausgestaltung aufweist. Dagegen würde die zweite Annahme von einer vordefinierten Nation ausgehen, die kaum noch Raum für ihre Ausgestaltung durch die sie bildenden Individuen bietet. Schließlich ist auch zu fragen, inwieweit die Staatsbürgerschaft als eine formelle Mitgliedschaft in der Nation bezeichnender Status und zugleich als die Individuen mit Rechten ausstattende Praxis etabliert werden konnte (siehe Kapitel V). Nation, Staat und Staatsbürgerschaft hängen eng miteinander zusammen (Isin und Isyar 2005, 79). Die Staatsbürgerschaft als Status war und ist nach wie vor – trotz der großen Veränderungen, denen sie ausgesetzt ist – an die Mitgliedschaft in einer nationalen Gesellschaft gebunden. Im türkischen Fall stellen das Nationalismus-Paradigma neben dem Kemalismus-Paradigma in einer QuasiEinheit die zentralen Achsen der offiziellen Ideologie der Türkei dar. Tanil Bora drückt dies folgendermaßen aus: »Jedenfalls hat die symbiotische Beziehung zwischen Kemalismus und Nationalismus die Kraft in der Türkei sowohl den offiziellen als auch den ›zivil-alltäglichen‹ Bereich der politischen Ideologie zu markieren – dies im Sinne einer Grenzziehung seines Bereichs als auch einer Kontrolle über ihn, also im Sinne eines ›Aufpassens« (Bora 2002b, 16, Übers. E.G.). Die heutigen Debatten um Nation und Staatsbürgerschaft sind vor dem Hintergrund des historischen Kontextes der türkischen Nationenbildung zu verstehen. Auch ist es notwendig, bei der Analyse der heutigen Situation von Minderheiten in der Türkei, die historische Entwicklung von Minderheitenrechten und die historische Definition von Minderheiten vor Augen zu behalten (Gökcenay 2004). Die Definition von Nation und die von Minderheiten hängen dialektisch zusammen. Die Frage ist hier: wer gehört zur Nation, wie ist die Zugehörigkeit zu ihr geregelt?
IV. Zum Begriff der Staatsbürgerschaft
Nachdem sich die vorherigen Kapitel im Allgemeinen mit dem Begriff der Nation und im Besonderen mit dem türkischen Nationenbegriff auseinandergesetzt haben, geht es im vorliegenden Kapitel zunächst um eine Analyse der Genese der Institution der Staatsbürgerschaft, bevor ich im nächsten Kapitel die Begriffe auf den türkischen Fall anwenden werde. Zudem wird in diesem Kapitel versucht, die Staatsbürgerschaft anhand der Typologie »republikanisches« versus »liberal-individualistisches« Verständnis von Staatsbürgerschaft begrifflich zu bestimmen. Im Rahmen der folgenden Ausführungen werden die Begriffe »Staatsbürgerschaft« und »citizenship« gleichzeitig benutzt. Citizenship meint im modernen Sinne ein weiter gefasstes Verständnis von Zugehörigkeit zu einem Staat, das für die Analyse von staatsbürgerlichen Rechten und Ungleichheiten eher geeignet ist, während Staatsbürgerschaft vielmehr auf die formelle Zugehörigkeit zu einem Staat verweist (Mackert 2006, Conrad und Kocka 2001).
1. Z UM Z USAMMENHANG VON N ATION UND S TAATSBÜRGERSCHAFT Die Staatsbürgerschaft ist das wichtigste Instrument von Nationalstaaten für die politische Inklusion und gesellschaftliche Integration, weil durch sie in der Regel auf dem Territorium eines Staates lebende Individuen und Gruppen diesem zugeordnet werden können. Durch die Staatsbürgerschaft sind in der Regel alle Staatsbürger/innen eines Staates formell gleichgestellt (Brubaker 1994; Mackert 2006). Die klassische Staatsbürgerschaft ist zumeist eine Mitgliedschaft in einem Nationalstaat, und kann somit als ein nationales Modell1 (Mackert und Müller
1
Diese Sichtweise wird oft als »methodologischer Nationalismus« kritisiert, der darin bestehen würde, »that the nation-state is the natural and necessary form of society in
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2007) bezeichnet werden. Sie vereint hierbei die beiden Merkmale der Staatszentriertheit und zumeist auch den Bezug auf eine von den Mitgliedern der Gesellschaft geteilte nationale Identität2 (Mackert und Müller 2007, 10f.). Die Durchsetzung der Staatsbürgerschaft als universalistisches Modell der Zugehörigkeit zu einem (National-)Staat ist somit der historischen Institutionalisierung einer neuen Form von Zugehörigkeit und Solidarität geschuldet, die im Zuge von Nationalstaatsbildungen partikulare regionale oder lokale Zugehörigkeiten zunehmend ersetzte und sie auf die Ebene nationaler Zugehörigkeit hob (Mackert/Müller 2007, 12). Gleichzeitig verhelfen die Institution der Staatsbürgerschaft und die Ausweitung der Rechte zu einem neuen Verständnis des Nationalen. Gruppenrechte ohne Staatsbürgerschaft sind ebenso wenig zu denken wie individuell definierte Staatsbürgerrechte. Sollen im Rahmen eines Nationalstaats mehr kulturelle Rechte an bestimmte Gruppenmitglieder verliehen werden, so kann dies nur über die Institution der gemeinsamen Staatsbürgerschaft geschehen, es sei denn die betroffene Gruppe bildet ihren eigenen Nationalstaat. Selbst die Gewährung eines Minderheitenstatus verliefe über die gemeinsame Staatsbürgerschaft, d.h. für die Minderheit würde keine eigene Staatsbürgerschaft geschaffen werden.
2. Z UR B EDEUTUNG DER I NSTITUTION DER S TAATSBÜRGERSCHAFT Wie weiter oben bereits kurz Erwähnung fand, verweist der Begriff Citizenship stärker auf die Praxis von Bürgerrechten, und damit auf die aktive und partizipative Rolle von Mitgliedern einer Gesellschaft in öffentlichen Angelegenheiten. Dagegen ist der deutsche Begriff Staatsbürgerschaft viel stärker mit dem Aspekt der Mitgliedschaft in einem Staat konnotiert. Damit verweist Staatsbürgerschaft
modernity and that the nation-state becomes the organizing principle around which the whole project of modernity coheres« (Chernilo 2006). 2
Der Begriff der Identität ist als analytischer Begriff wenig geeignet, um Prozesse kollektiver Zugehörigkeit z.B. zu einer Nation zu begreifen. Die Annahme der Existenz einer »nationalen Identität« würde sich demnach auf von Individuen geteilte gemeinsame nationale Werte (wie Geschichte, Sprache, Kultur usw.) stützen, die eine kollektive Identität erzeugen. Da Individuen nicht »identisch« sein können, wird der Identitätsbegriff in diesem Zusammenhang kritisiert. Zu einer Kritik des kollektiven Identitätsbegriffs siehe z.B. Brubaker (2007); Meyran (2009) oder auch Amin Maalouf (2000).
IV. Z UM B EGRIFF
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vielmehr als der Begriff Citizenship auf den passiven Status des mit bestimmten Rechten und Pflichten ausgestatteten Staatsbürgers (Mackert/Müller 2007, 9; Mackert 2006, 11). Als Institution ist die moderne Staatsbürgerschaft nicht vom Nationalstaat zu trennen, da sie sich meistens auf ein territorial begrenztes Gebiet bezieht und hierin eine Funktion der Abgrenzung nach außen hat. Eine Funktion nach innen besteht darin, den Individuen einer Gesellschaft eine formelle rechtliche Gleichheit mit allen anderen zuzuerkennen. Dadurch hat sie einen juristischen Zweck und macht das Individuum zu einem Rechtssubjekt, das durch diesen Titel zivile, politische und soziale Rechte erhält. Die Staatsbürger/innen genießen somit individuelle Rechte und Freiheiten, wie Gewissens- und Meinungsfreiheit, das Wahlrecht, das Recht vor dem Gesetz mit allen anderen gleichbehandelt zu werden u. ä. Durch diesen universalistischen Anspruch werden alle Mitglieder der Gesellschaft formal integriert, jedoch entsteht daraus ein Spannungsverhältnis zwischen formaler Gleichheit und realer Ungleichheit, die die Staatsbürgerschaft nicht völlig beseitigen kann (Mackert/Müller 2007, 12f.). Obwohl die realen Ungleichheiten zwischen Klassen, Geschlechtern oder ethno-kulturellen Gruppen durch diese formale Gleichstellung keineswegs aufgehoben werden, fragen Jürgen Mackert und Hans-Peter Müller, ob nicht »Gruppenrechte per Definition viel stärker exkludierenden Charakter haben als das nationale Modell von Citizenship«. Die formale Gleichheit werde als bedeutungslos erachtet, was zur Folge habe, dass »es in den Kämpfen um Staatsbürgerschaft nicht mehr darum geht, an den gesellschaftlichen Kämpfen teilzunehmen und durch sie eröffnete Möglichkeitshorizonte nutzen zu können, sondern darum, reale Ungleichheiten zu skandalisieren und angebliche Anrechte einzufordern« (2007, 21). Staatsbürgerschaft ist zudem ein Prinzip politischer Legitimität. Es ist die Gesamtheit aller Bürger, die die Quelle legitimer politischer Entscheidungen darstellt. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die soziale und integrative Funktion der Staatsbürgerschaft, da sie formell alle Staatsbürger eines Staates rechtlich zu Gleichen macht, und somit einen universalistischen Anspruch erhebt (Mackert/Müller 2007, 11). Sie ist Dominique Schnapper zufolge die Quelle moderner sozialer Bindungen, da sie alte Bindungen religiöser oder dynastischer Art ersetzt und sie auf eine politische Ebene hebt (Schnapper 2000, 10f.). Die Institution der Staatsbürgerschaft leistet einen hohen Grad an Abstraktion, indem sie idealtypisch die Staatsbürger/innen als gleich in der öffentlichen Sphäre des gesellschaftlichen Lebens und unterschiedlich im Privaten begreift.
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Nach T.H. Marshalls3 klassisch gewordener Arbeit (1992, Jahr der englischen Originalausgabe: 1963) über die Entstehung der verschiedenen Dimensionen von Staatsbürgerschaft verleihen Staatsbürgerrechte »einen Status, mit dem all jene ausgestattet sind, die volle Mitglieder einer Gemeinschaft sind. Alle, die diesen Status innehaben, sind hinsichtlich der Rechte und Pflichten, mit denen der Status verknüpft ist, gleich« (Marshall 1992, 53). Nach Marshalls historischer Analyse verlief die Entwicklung von staatsbürgerlichen Rechten zunächst über bürgerliche zu politischen Rechten. Mit der Entwicklung von wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen des Nationalstaates kamen soziale Rechte hinzu (Marshall 1992). Die bürgerlichen Rechte der Staatsbürgerschaft, die sich nach Marshalls idealtypischer Klassifikation im 18. Jahrhundert herausgebildet haben, sind klassische individuelle Freiheitsrechte, wie die »Freiheit der Person, Redefreiheit, Gedanken- und Glaubensfreiheit, Freiheit des Eigentums, die Freiheit, gültige Verträge abzuschließen, und das Recht auf ein Gerichtsverfahren« (Marshall 1992, 40). Die politischen Rechte, deren Entwicklung Marshall im 19. Jahrhundert verortet, bestehen aus dem Recht der Teilnahme am Gebrauch der politischen Macht. Damit sind im Besonderen das passive und aktive Wahlrecht sowie das Recht auf politische Partizipation gemeint. Schließlich entwickelten sich nach Marshalls Analyse die vorläufig letzten, nämlich die sozialen Rechte des Staatsbürgerschaftsstatus im 20. Jahrhundert. Diese bezeichnen alle wohlfahrtstaatlichen Leistungen des Staates, wie das Recht auf ein Minimum »wirtschaftlicher Wohlfahrt und Sicherheit«, das Recht »an einem vollen Anteil am gesellschaftlichen Erbe« bis hin zum Recht auf ein Leben als ein »zivilisiertes Wesen entsprechend der gesellschaftlich vorherrschenden Standards« (Marshall 1992, 40). Marshall analysiert die moderne Staatsbürgerschaft in dieser Form als eng mit der Herausbildung des Nationalstaates verbundene Institution. Die entsprechende Ausdifferenzierung staatlicher Institutionen führte zu den genannten drei Elementen der Staatsbürgerschaft, die im Vergleich zu früheren Epochen nicht mehr in einem Strang vorkamen, sondern verschiedenen Funktionsbereichen des Staates zugeordnet werden können (Marshall 1992, 40f.). Die Ungleichheit eines Systems sozialer Ungleichheit kann nach Marshall unter der Bedingung akzeptiert werden, dass es eine Gleichheit durch den Staatsbürgerstatus gibt (Marshall 1992, 38). Er stellt die Frage danach, ob faktische soziale Ungleichheiten unter der Bedingung hingenommen werden können, dass es eine formelle Gleichstellung durch die Institution der Staatsbürgerschaft gibt. Nach Marshall haben die sich im 20. Jahrhundert entwickelnden sozialen
3
Das englischsprachige Original seiner Abhandlung »Staatsbürgerrechte und soziale Klassen« (1992) erschien 1963 in seinem Buch »Sociology at the Crossroads«, London.
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Rechte der Staatsbürgerschaft insofern die Funktion, tatsächlich bestehende soziale Ungleichheiten bis zu einem gewissen Grad zu nivellieren. Denn seine Analyse richtet sich ursprünglich auf die Frage sozialer Ungleichheit innerhalb kapitalistischer Gesellschaften. Er geht von gegebenen sozialen Unterschieden zwischen den Individuen aus, die aufgrund der kapitalistischen Produktionsweise entstehen. Sie können Marshall zufolge nur durch ein System formeller Gleichheit hingenommen werden. T. H. Marshalls Arbeiten zur Entwicklung staatsbürgerlicher Rechte sind heute nach wie vor grundlegend für jedwede Auseinandersetzung mit Fragen der Staatsbürgerschaft. Sie sind jedoch auf eine Zeit zugeschnitten, in der der Kapitalismus nicht desorganisiert war und weniger global agierte als heute. In dieser eher auf den früheren nationalstaatlichen Kontext bezogenen Analyse der Staatsbürgerschaft ist eine wichtige Einschränkung der Marshallschen Theorie zu sehen (Turner 2000, 236). Zudem ist sie räumlich auf Großbritannien beschränkt gewesen, und es ist fraglich, ob sie auf andere Länder übertragen werden kann (Turner 2000, 237; Mann 2000, 207f.). Weitere wichtige Kritiken, die z.B. von Anthony Giddens gegen Marshalls Staatsbürgerschaftstheorie vorgebracht wurden, zielen auf dessen vermeintlich »evolutionäre Entwicklungsperspektive, (….) in der citizenship als Effekt einer eindeutigen und notwendigen Entwicklung innerhalb einer Gesellschaft erscheint« (Turner 2000, 233). Bryan Turner bemängelt jedoch zudem zu Recht, dass Marshall es vor allem nicht geschafft habe, seine Staatsbürgerschaftstheorie mit einer Staatstheorie zu verbinden. Denn implizit ist es der Staat, der Staatsbürgerrechte verleiht und sichert (Turner 2000, 234f.). Turner betont, Marshall übersehe die Bedeutung sozialer Kämpfe für die Dynamik von Staatsbürgerrechten. Diese Kämpfe werden häufig auch unter Androhung und Anwendung von Gewalt geführt (Turner 2000, 235). Turner erweitert die Marshallsche Analyse der Staatsbürgerschaft um den Ansatz von Michael Mann (2000)4, der die Staatsbürgerschaft als »Strategie der herrschenden Klasse« begreift. Damit sind die Politiken der monarchistischen herrschenden Klassen und der Ancien Régimes gemeint, die laut Mann einen viel stärkeren Einfluss auf die Institutionalisierung sozialer Konflikte und damit auf die Herausbildung von Staatsbürgerschaft gehabt haben als der Aufstieg des Bürgertums und der Arbeiterschaft (Mann 2000, 207). Auch Manns theoretischer Ansatz kann Bryan Turner zufolge wegen dessen Vorstellung, die Staatsbürgerschaft werde nur von »oben«, also durch den Staat verliehen, kritisiert werden (Turner 2000, 241). Jedoch entwickelt Mann einen komparativanalytischen Rahmen für die Untersuchung der Herausbildung von Staatsbürger-
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Englischsprachiger Originaltext von Michael Mann (1987): Ruling Class Strategies and Citizenship. In: Sociology, Vol. 21, S. 339-354.
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schaft in den entwickelten Industriegesellschaften und geht damit über die auf den Fall Großbritanniens begrenzte Theorie der Staatsbürgerschaft Marshalls hinaus. Er unterscheidet fünf Idealtypen von Staatsbürgerschaftsstrategien, die europäische Staaten in der Zeit absoluter Monarchien und konstitutioneller Regime Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelten, um mit den Forderungen der Bourgeoisie und jenen der Arbeiterklasse umzugehen. Diese sind die liberale, reformistische, autoritär-monarchistische, faschistische und autoritär-sozialistische Strategie (Mann 2000, 207). Die britische Strategie, die Mann als liberal bezeichnet, bildet nur eine dieser Formen (Mann 2000, 209). Heute können im Anschluss an T.H. Marshalls Arbeit als eine weitere Stufe von staatsbürgerlichen Rechten kulturelle Rechte angesehen werden, die insbesondere die Rechte von Minderheiten betreffen. In Verbindung mit nationalkulturell integrierten Gesellschaften ist nämlich die moderne Staatsbürgerschaft auch Medium der sozialen und kulturellen Inklusion bzw. Exklusion. Insofern hat die Auseinandersetzung um Staatsbürgerschaft, die sich lange Zeit in der Tradition Marshalls mit sozialer Ungleichheit beschäftigt hat, vermehrt auch der Frage der kulturellen Ungleichheit zu widmen.
3. R EPUBLIKANISCHE VERSUS LIBERAL - INDIVIDUALISTISCHE S TAATSBÜRGERSCHAFTSKONZEPTE Ayhan Kaya zufolge kann im Kontext der Behandlung von ethno-kulturellen Minderheiten grob zwischen zwei nationalstaatlichen Politiken unterschieden werden: Republikanismus und Multikulturalismus. Während das republikanische Verständnis die Gewährung von Minderheitenrechten als Bedrohung für die Einheit des nationalen Ganzen ansieht, ist die Politik des Multikulturalismus darauf ausgerichtet, ethno-kulturellen Gruppen auch Gruppenrechte zu geben. Das türkische Modell des Umganges mit Minderheiten ähnelt hier laut Kaya sehr dem französischen und ist vom Republikanismus geprägt (Kaya 2005, 46f.). Einige Autoren haben sich mit der historischen Genese dieser verschiedenen Politiken des Nationalstaates und mit deren Staatsbürgerschaftsverständnis auseinandergesetzt und versucht, diese theoretisch zu fassen. So identifiziert Bryan Turner mindestens vier Formen der Staatsbürgerschaft, die mithilfe von zwei grundlegenden Dimensionen untersucht werden können: 1. Die analytische Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Staatsbürgerschaft, d.h., ob Staatsbürgerschaft »von oben« seitens des Staates verliehen oder »von unten« seitens gesellschaftli-
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cher Gruppen erkämpft wird.5 2. Das Verhältnis von öffentlicher und privater Sphäre in der bürgerlichen Gesellschaft (Turner 2000, 251). Mit diesem Modell kann zudem jeweils unterschiedlichen historischen Kontexten und Ereignissen Rechnung getragen und komparativ vorgegangen werden, so wie es Michael Mann vorschlug (Turner 2000, 244). Nach Turners Analyse entspricht eine Erkämpfung der Staatsbürgerschaft bzw. von mehr Staatsbürgerrechten von unten und eine starke Verbindung staatsbürgerlicher Angelegenheiten mit dem öffentlichem Raum einem revolutionären Kontext. Hierfür ist der französische Fall ein typisches Beispiel, da mit der Französischen Revolution der öffentliche Raum »von unten« heraus für die neuen citoyens gestaltet wurde. Alle intermediären Gruppen und Institutionen wurden hier als störend für die neue Beziehung zwischen Staat und Bürgern gesehen, die der Rousseauschen Konzeption zufolge direkt sein sollte (hierzu siehe Schnapper 2004). In der Proklamation der neuen Herrschaft des »citoyen« waren die französischen Revolutionäre von Rousseau beeinflusst, der die Abhängigkeit zwischen den Menschen als Quelle der sozialen Ungleichheit ansah, so dass die intermediären Körperschaften zwischen dem »individu-citoyen« und dem Staat für dessen Freiheit hinderlich erschienen. Folglich mussten sie in den Augen der französischen Revolutionäre vernichtet werden. Ganz im Gegensatz zu Großbritannien sollte der citoyen als direkter Ausdruck der »volonté générale« unabhängig von jeglichen intermediären Bindungen sein und in einem breiten und direkten Verhältnis mit dem Staat stehen (Schnapper 2000, 44). Dies brachte auch einen Angriff der französischen Revolutionäre auf die private Sphäre der neuen Bürger mit sich, so auf die Familie, die Religion und das Private (Turner 2000, 254f.). Im französischen Fall handelt es sich um ein aktives Staatsbürgerschaftsverständnis, wodurch nach dem revolutionären republikanischen Verständnis den Bürgern mehr staatsbürgerliche Verantwortung zukommen sollte, da sie nicht mehr als Untertanen eines Königs galten. Die französische Konzeption der Staatsbürgerschaft war demnach »die Folge eines langen historischen Kampfes, der darauf abzielte, das rechtliche und politische Monopol der höfischen Gesellschaft innerhalb eines rigide in Stände unterteilten Systems zu brechen« (Turner 2000, 253). Dagegen ist das deutsche Modell der Staatsbürgerschaft Turner zufolge eher passiv, da Staatsbürgerrechte nicht von unten erkämpft wurden6, sondern seitens des Deutschen Reichs ihren Bürgern von oben verliehen wurden. Turner zufolge
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Mit dieser Unterscheidung will Bryan Turner T. H. Marshalls Theorie erweitern.
6
Man denke hier an die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848.
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war in Deutschland in der Anfangsperiode der Reiches die private Sphäre des Bürgers, d.h. die Familie, die Religion und die individuelle moralische Entwicklung vorrangig, und sie wurde mit dem »Verständnis des Staates als einziger Quelle öffentlicher Autorität« gekoppelt (Turner 2000, 252). Auch das Beispiel Großbritanniens im 17. Jahrhundert stellt nach Turner ein passives Modell der Staatsbürgerschaft dar, in der Rechte von oben verliehen wurden (Turner 2000, 254). Dennoch ist es Dominique Schnapper zufolge aufgrund der bürgerlichen Revolution von 1688 als aktiv zu klassifizieren, da in der britischen Tradition die intermediären Institutionen und Gruppen in der Erlangung von Rechten gegenüber dem Staat eine wichtige Rolle spielten. Wie bereits angeführt, unterscheidet es sich hierin von dem französischen Verständnis der Staatsbürgerschaft, das durch die Revolution von 1789 als unitarisch und total konzipiert wurde (Schnapper 2000, 39f.). Der amerikanische Liberalismus entspricht einer aktiven Form der Staatsbürgerschaft, bei der Staatsbürgerrechte von unten erkämpft wurden. Jedoch ist hier der öffentliche Raum schwächer ausgeprägt. Zwar betont im Rahmen einer liberal-demokratischen Lösung eine »tatsächliche Demokratie den Aspekt der Partizipation, doch dies wird oft von einer fortbestehenden Betonung von Privatheit und der Unantastbarkeit der individuellen Meinung begleitet« (Turner 2000, 254f.). Adrian Oldfield zufolge ist den britischen und amerikanischen politischen und kulturellen Traditionen das liberal-individualistische Element gemeinsam (Oldfield 1990, 1). Oldfield, der eine Unterscheidung auf der Basis angloamerikanischer philosophischer Traditionen vornimmt, differenziert in Analogie zu den Begriffen »aktiv« und »passiv« zwischen Staatsbürgerschaft als »Praxis« und Staatsbürgerschaft als »Status« (Oldfield 1990). Dabei entspricht Staatsbürgerschaft als Status der liberal-individualistischen Tradition, die dem Individuum eine ontologische, epistemologische und moralische Priorität einräumt. Individuen als Staatsbürger werden in dieser Tradition als souverän angesehen. Die unterstellte Souveränität des Individuums bezieht sich jedoch nicht auf eine tatsächlich gegebene Autonomie in der Lebensführung, sondern auf die Möglichkeit und Fähigkeit dazu (Oldfield 1990, 1). Das liberal-individualistische Konzept definiert Staatsbürgerschaft als einen Status auf der Basis von Rechten und trägt insofern zur Entwicklung einer Sprache der Staatsbürgerschaft in Termini von Bedürfnissen und Ansprüchen bei. Der Status der Staatsbürgerschaft überträgt dem Individuum keine Pflichten über die minimalen staatsbürgerlichen hinaus. Liberaler Individualismus bedeutet insofern zunächst die Existenz von Freiheit und Sicherheit, die dem Individuum eine ungehinderte Lebensführung erlauben. In der liberal-individualistischen Denktradition ist Staatsbürgerschaft folglich ein Status, den man erlangen und dann erhalten muss (Oldfield 1990,
IV. Z UM B EGRIFF
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1f.). Im Sinne John Stuart Mills erhält die liberale Form der Staatsbürgerschaft damit einen »passiven und privaten Charakter, der Einzelne ist nicht verpflichtet, an der aktiven Gestaltung des Gemeinwesens teilzunehmen, er muß lediglich die Rechte Anderer respektieren« (Mackert 1999, 21, Betonung Mackert). Staatsbürgerschaft als Praxis entspricht dagegen ihrer republikanischen Auffassung, die auf den Rousseauschen Gesellschaftsvertrag zurückgeht. Hier wird dem Individuum durch dessen willentliche Abtretung seiner natürlichen Freiheit an den Gemeinwillen (volonté générale) eine aktive Rolle in der Gestaltung des politischen Gemeinwesens zugeschrieben. Staatsbürgerschaft in diesem Sinne entspricht einer Praxis, die in der Erfüllung von staatsbürgerlichen Pflichten dem Gemeinwesen gegenüber besteht (Mackert 1999, 21).
V. Zum Staatsbürgerschaftsbegriff in der Türkei
1. Z UR I NSTITUTIONALISIERUNG DER S TAATSBÜRGERSCHAFT IN DER T ÜRKEI Die Institution der Staatsbürgerschaft wurde mit der Gründung der Türkischen Republik in der Verfassung von 1924 festgeschrieben und stellte die Beziehungen zwischen dem Staat und den Bürgern auf eine neue Basis. War im Osmanischen Reich ein Verhältnis vorherrschend, wonach die auf dem Territorium des Reiches lebenden Menschen Subjekte des allein herrschenden Sultans waren, so galten die Staatsbürger/innen der neuen Republik nunmehr als mit den gleichen Rechten und Pflichten ausgestatte Bürger/innen, die Teil der neuen Nation waren. Im Osmanischen Reich galt Staatsbürgerschaft als ein aus Europa importiertes politisches Konzept, das nach Günter Seufert (2001) jedoch nicht Werkzeug derer wurde, die politische Teilhaberechte forderten, sondern das Instrument der herrschenden Militär- und Bürokratenklasse war. Dies war der Grund dafür, dass in der neuen türkischen Republik »der Staat weniger Adressat von aus der Gesellschaft kommenden Forderungen nach der Gewährung staatsbürgerlicher Rechte, wie in Europa gewesen war, sondern […] Akteur der institutionellen und ideologischen Redefinition seiner Bevölkerung, der er nicht Staatsbürgerschaft gewährte, sondern die er quasi zu Staatsbürgern ernannte« (Seufert 2001, 228). Hierbei ist wichtig, dass auch Frauen das Wahlrecht 1930 erhielten. Die Einführung der Staatsbürgerschaft in der Türkei geschah von »oben« im Zuge des Nationenbildungsprojekts der Kemalisten. Folglich hatten diese die Definitionsmacht über Rechte und Pflichten der neuen Bürger/innen. Der Einführung der Staatsbürgerschaft in der Türkei war jedoch keine gesellschaftliche Revolution von unten vorausgegangen, die mehr Rechte für die Einzelnen forderte.
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Eine weitere wichtige Funktion der Staatsbürgerschaft ist Feyzi Baban zufolge, dass sie als Medium der Integration von verschiedenen partikularen Gruppen in der Türkei gedacht war. So schreibt er: »Universal citizenship in Turkey rests on the exclusion of group identities from the public sphere, privileging national identity as the only legitimate identity. It, therefore, functions as a basis for social integration, or […], fulfills the role of realizing the aims of the modernization process. In this way, citizenship is not just simply a set of legal codes, defining the boundaries of membership in the national community, but also a set of cultural practices, representing modern national identity« (Baban 2005, 58).
Die Entstehungsphase der türkischen Staatsbürgerschaft in der Zeit des Einparteienregimes (1923-1950) ist als die Zeit der Konzeptualisierung der Staatsbürgerschaft und der Kreation des neuen Staatsbürgers (»citizenization«) zu sehen (Icduygu u.a. 1999, 193). Obwohl für diese erste Periode einerseits das Bild eines mit Pflichten beladenen, eher passiven Staatsbürgers vorherrscht, wurde andererseits ein Staatsbürger gebraucht, der mit einer »zeitgenössischen, säkularen, patriotischen und nationalistischen« Identität beim Aufbau der neuen Nation eine aktive Rolle übernehmen sollte. Im Zeitraum von 1950-1980 waren zwei wesentliche Veränderungen von Bedeutung: einerseits wurde nun der Islam als Identität stärker in die Staatsbürgerschaft integriert, andererseits wurde durch die Verfassung von 1961 ein liberaleres Verständnis von Staatsbürgerschaft formuliert. Ab den 1980er Jahren schließlich kam es sowohl auf nationaler als auch globaler Ebene zu einer Infragestellung der republikanischen Staatsbürgerschaft durch neue sozioökonomische Entwicklungen (Urbanisierung, Binnenmigration, Forderungen von neuen ethno-kulturellen Gruppen) (hierzu siehe Icduygu und Keyman 2004, 165f.). Es ist zu unterscheiden zwischen der formell juristischen Definition von Staatsbürgerschaft in der Türkei, die in diesem Sinne zunächst ein Rechtsstatus der Individuen war, und den ideologischen und praktischen Bedeutungsveränderungen, die sie nach der Gründung der türkischen Republik erlebte. In den 1930er Jahren erhielt die türkische Staatsbürgerschaft und das Verständnis von Nation eine starke ethnische bis rassistische Färbung. Dies hing unter anderem mit den sich entwickelnden faschistischen Regimen und rassistischen Ideologien in Europa zusammen. In diesen Jahren entfernte sich das territorial und politisch konzipierte Verständnis von Nation und wurde stärker türkisiert, wobei Türkisch-Sein als eine Kategorie zwischen »Rasse« und »Nation« zu verstehen war (Bozarslan 2006, 34). Es kann hier jedoch angeführt werden, dass eine Ethnisierung oder zumindest kulturelle Definition von türkischer Nation und Staatsbürgerschaft bereits mit dem 1924 erlassenen Verbot der kurdischen Sprache einsetzte. Nachdem in den Jahren
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1919-1923 den Kurden gegenüber aufgrund taktischer Überlegungen1 eine relativ »tolerante« Politik betrieben worden war, wurde deren Existenz in der Folgezeit immer mehr verneint. Nachdem der Unabhängigkeitskampf mit der massiven Beteiligung der Kurden 1922 gewonnen war, erklärte Mustafa Kemal im Parlament: »Der Staat ist ein türkischer Staat« (hierzu Chaliand 1992, 62). In dem 1934 in Kraft getretenen Siedlungsgesetz ist schließlich der deutlichste Ausdruck einer Ethnisierung des türkischen Staatsbürgerschaftsbegriffs zu sehen. Das Gesetz regelte und bezweckte die Verteilung und Ansiedlung von nichttürkischen Bevölkerungsgruppen, so dass diese an die türkische Kultur assimiliert werden konnten. Vielmehr wurden aufgrund dieses Gesetzes Kurden in den Westen Anatoliens zwangsumgesiedelt, um deren Türkisierung zu erreichen. Dies brachte der damalige Innenminister Sükrü Kaya mit folgenden Worten zum Ausdruck: Dank diesem Gesetz werde das Land […] »in ein Land umgewandelt, in dem eine einzige Sprache gesprochen wird, und in dem das Volk die selben Gedanken und Gefühle teilt« (Soyarik-Sentürk 2005, 129, Übers. E.G.). Es ist wichtig festzustellen, dass sich das Verständnis der Staatsbürgerschaft im Zusammenhang mit dem Staatsverständnis verändern kann. Wie bereits erwähnt, ist in diesem Zusammenhang das Verhältnis zwischen Staat und Individuum in der Türkei als zugunsten des Staates verschoben zu sehen. Dieser erlegte dem Individuum Pflichten auf, die es dem Staat gegenüber zu erfüllen hatte. Folglich sahen sich türkische Männer und Frauen in der Verantwortung, dem Staat gegenüber Pflichten zu erfüllen. Der als mit Pflichten beladen konzipierte Staatsbürger kam vor dem mit Rechten ausgestatteten Individuum (Kadioglu 1998, 24; Kadioglu 1999b). Damit geht analog zum französischen Verständnis der Staatsbürgerschaft eine starke Intervention des Staates in den privaten Bereich der neuen Staatsbürger/innen einher. Bei der Durchsetzung bestimmter Maßnahmen, wie der neuen Kleiderordnung, die bestimmte Kleidungsstücke wie den Fes verbat (Steinbach 2000, 31), wurde sehr stark in den privaten Bereich der Bürger/innen eingegriffen. Auch die religiösen Angelegenheiten der neuen Staatsbürger/innen wurden durch die Abschaffung des Kalifats im Jahr 1924 und
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Dies hatte damit zu tun, dass die Kurden seitens des kemalistischen Regimes einerseits als Verbündete gegen armenische Gebietsansprüche auf sechs von Kurden bewohnten vilayets (Regionen) gebraucht wurden. Folglich wollten sie diese Gebiete gegen armenische Ansprüche für sich verteidigen. Andererseits nahmen sie in ihrer Eigenschaft als muslimische »Waffenbrüder« der Türken an deren Seite massiv am Unabhängigkeitskampf (1919-1922) gegen die griechischen und westlichen Besatzer teil. Demnach war das kemalistische Regime in dieser Zeit aus militärischen Gründen auf diese Koalition mit den Kurden angewiesen (hierzu Chaliand 1992, 62).
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der darauf folgenden stetigen »Verwestlichung« und Säkularisierung des öffentlichen Lebens reglementiert. Typologisch im Sinne Turners lässt sich das türkische Modell von Staatsbürgerschaft damit in die Nähe der republikanischen französischen Tradition bringen, die durch ihre staatszentrierte Ausrichtung stark den öffentlichen politischen Raum des Bürgers gestaltet hat (Kaya 2005). Im Unterschied zum liberalen Modell, dass auf der Minimierung staatlicher Intervention in die Ökonomie und Gesellschaft beruht, war das republikanische türkische Modell von der Prämisse geleitet, zugunsten des »öffentlichen Wohls« mithilfe der Verfassung die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft zu regeln (Icduygu und Keyman 2004, 158f.). Der wichtige Unterschied zwischen dem französischen und dem türkischen Verständnis von Staatsbürgerschaft liegt jedoch darin, dass im Gegensatz zu Frankreich in der Türkei Staatsbürgerschaft »von oben« eingeführt und nicht von unten seitens einer bürgerlichen Revolution erkämpft wurde.2 In Anlehnung an das Marshallsche Drei-Phasen Modell der Entwicklung von Staatsbürgerrechten bemerkt Ayse Kadioglu zu deren Genese in der Türkei: »In Turkey, the distinguishing feature of civil and legal, political and social rights is the fact that they were given from above rather than acquired as rights in the aftermath of demands and struggles from below« (Kadioglu 2005, 108). Ähnlich wie in Frankreich hatten die türkischen Republikgründer das Projekt, eine neue Nation zu bilden und die moderne Staatsbürgerschaft als politisches Inklusionsmedium einzuführen. In diesem Zusammenhang besteht die Ähnlichkeit zwischen dem französischen und dem türkischen Modell der Staatsbürgerschaft auch darin, dass beide in ihren Anfängen auf einer territorialen Definition beruhen. Hierin unterscheiden sie sich idealtypisch vom deutschen Verständnis der Staatsbürgerschaft, das auf eine Vorstellung von gemeinsamer ethnischer Herkunft beruht (Brubaker 1994). Im türkischen Fall fehlten die philosophischen und aufklärerischen Vorarbeiten, die in Frankreich zu der Revolution von 1789 führten. Was den türkischen Begriff der Staatsbürgerschaft vom französischen unterscheidet, ist laut Ayse Kadioglu das Fehlen einer aufklärerischen Philosophie in der Türkei. So schreibt sie: »Wenn laut Immanuel Kant die Aufklärung bedeutet, sich von der selbst auferlegten Unmündigkeit zu befreien, so wurde die Staatsbürgerschaft der Republik Türkei genau auf der Annahme einer solchen Unmündigkeit aufgebaut« (Kadioglu 1999b, 64; Übers. E.G.). Die Konsequenz einer solchen Aufoktroy-
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Zu einem Vergleich des französischen und türkischen Nation-Konzepts siehe auch Gündüz, Eran 2005
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ierung von Staatsbürgerschaft war, dass sie zu einer andauernden Asymmetrie des Verhältnisses zwischen Staat und Individuen führte. Nach diesem Verständnis der türkischen Staatseliten waren die neuen Bürger der Republik unfreie, unreife und unmündige Geister, die in den Worten von Ayse Kadioglu das »Kostüm der Staatsbürgerschaft« übergestülpt bekamen (Kadioglu 1999b, 64). Statt dessen wurden Nation und Staatsbürgerschaft nach dem Dekompositionsprozess des Osmanischen Reiches als Rettungs- und Modernisierungsideologie einer »volonté instituante«3 (Aktar 1985, 89) benutzt, um im Sinne des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk den Anschluss an die europäische Zivilisation zu finden. In diesem Sinne kann die Ideologie des Kemalismus auch als eine funktionalistische gesehen werden, deren Mission in der pragmatischen Umgestaltung eines multiethnischen Großreichs in eine nationale Gesellschaft bestand. Auch Taha Parla sieht trotz der dem Kemalismus zugeschriebenen Rolle der Verwestlichung keine Elemente der Aufklärung in der kemalistischen Ideologie: »Die grundlegende Eigenschaft der Aufklärung […] besteht über die Bereitschaft hinaus, sich der Kritik von außen zu stellen und seine Position angesichts von Gegenargumentenund Thesen zu revidieren, darin, dass sie die Regel der ständigen eigenen Infragestellung in sich birgt. Der Kemalismus und die Anhänger Atatürks können weder dem zweiten noch dem ersten dieser Maßstäbe Rechnung tragen. Ganz zu schweigen von der eigenen inneren Infragestellung, sind sie auch der Infragestellung von außen verschlossen« (Parla 2007, 13, Übersetzung E.G.).
In diesem Sinn entspricht die Institution der Staatsbürgerschaft in der Türkei einer autoritär republikanischen Form und wurde von oben seitens einer staatsgründenden Elite eingeführt. Für die modernere Debatte – seit den 1990er Jahren – lässt sich anführen, dass über die Diskussion hinaus, ob Rechte oder Pflichten vorrangig sind, sich in der Türkei die Debatte auch in Richtung einer zunehmenden »Theoretisierung eines »aktiven, partizipativen und Verantwortung tragenden Staatsbürgers« verschiebt (Icduygu und Keyman 2004, 165). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass aufgrund dessen, dass Staatsbürgerschaft in der Türkei von »oben« seitens der Staatsbegründer eingeführt wurde, sie einen stark staatszentrierten Charakter aufweist. Sie war von Anfang an un-
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Damit ist die Macht der türkischen militärischen Eliten gemeint, die den neuen Staat begründet hat.
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trennbar mit dem Prozess des Nationbuilding verbunden und wurde dazu eingesetzt, die verschiedenen Segmente der Gesellschaft zu einer Nation umzugestalten (Kahraman 2005, 78). Staatsbürgerschaft wurde nicht als eine Institution, die die Individuen mit Rechten ausstattet, von »unten« erkämpft, sondern im Prozess des Nationbuilding seitens der Staatseliten der Bevölkerung aufoktroyiert. Manche Autoren wie Aybay distanzieren sich von der These der Aufoktroyierung der Staatsbürgerschaft und glauben, dass das Ziel der Republikgründer darin lag, einen mündigen Bürger zu schaffen. Sie vertreten den Standpunkt, dass die Staatsbürgerschaft sich zeitgleich mit der Gründung der Republik entwickelt habe. In der Einführung der Staatsbürgerschaft sehen sie deshalb einen Fortschritt im Vergleich zum osmanischen Verhältnis zwischen Subjekt und Sultan. Sie vertreten die Meinung, dass die Staatsbürgerschaft eine Gleichheit zwischen den Bürgern geschaffen habe, und dass das Volk nun zum Souverän wurde (hierzu Isin und Isyar 2005, 82f.). Die Freiheit des Individuums im Sinne Mustafa Kemal Atatürks wurde als durch die Nation gegeben betrachtet. In diesem Verständnis wurde der Staatsbürger erst existent durch die als primordial angesehene Existenz der Nation. Der so verstandene republikanische Nationalismus unter Atatürk war von der Annahme geleitet, dass das Mitglied dank der Nation ein Dasein führen konnte (Isin und Isyar 2005, 81f.). Daraus folgte eine Ontologisierung der Nation, sie war wichtiger als das Individuum, das für ihre Existenz arbeiten musste. Dennoch ist in den ersten Jahren der Republik »Nation« noch keine Entität, mit der sich viele identifizieren. Folgt man Hamit Bozarslans Argumentation, dann drückt sich in der mangelnden Identifikation mit Nation die Künstlichkeit des neuen Gebildes aus: In einer Umfrage, die 1927 unter Istanbuler Studenten durchgeführt wurde, bezeichneten nur 5 % der Befragten das »Mutterland« und 10 % die Nation als die heiligsten Werte. Dagegen gaben jeweils 40 % »Ehre« sowie »Religion und den Koran« als ihnen heilige Werte an (siehe Bozarslan 2006, 31). Bozarslan folgert daraus: »The Kemalist regime was thus obliged to introduce a radical distinction between the Nation, which represented the ›Golden Age‹ and the ›Glorious Future‹, and the People, which represented the immediate and corrupted Ottoman ›past‹. While the Nation appeared to be a meta-historical entity, incarnated by Mustafa Kemal himself and, marginally, by the elite surrounding him, the People was conceived of as an ignorant mass that ought to be disciplined by revolutionary reforms, and if necessary, by coercion« (Bozarslan 2006, 31).
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2. Z UR RECHTLICHEN UND VERFASSUNGSRECHTLICHEN D EFINITION DER TÜRKISCHEN S TAATSBÜRGERSCHAFT Obwohl es zwischen einer verfassungsrechtlichen Definition und deren gesellschaftlicher Umsetzung einen großen Unterschied geben kann, wird der Rahmen bestimmter gesellschaftlicher Institutionen, so auch der Staatsbürgerschaft durch die Verfassung festgelegt. Die Verfassung und das Recht eines Staates können insofern die gesellschaftliche Realität stark prägen. Im Falle der Türkei, in der eine Staatselite die Verfassung für das Volk machte, ist dieses Auseinanderklaffen zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit besonders augenfällig. Christian Rumpf stellt für die Türkei die Problematik folgendermaßen fest: Der »[…] als Verfassung bezeichnete Text gerät zu einer Normenutopie, die der Normenwirklichkeit nicht entspricht« (Rumpf 1996, 29). Die Türkei kannte in ihrer bisherigen Geschichte vier verschiedene Verfassungen. Das Ziel der Republikgründer war es, festzuschreiben, wer im Sinne der Verfassung und den Gesetzen als türkischer Staatsbürger gelten sollte (SoyarikSentürk 2005, 125). In einem ersten Versuch für eine Verfassung aus dem Jahr 1921 – nachdem das Osmanische Reich als Verlierer aus dem 1. Weltkrieg hervorgegangen war – ist noch ein territoriales Verständnis von Staatsbürgerschaft vorherrschend. So führt Nalan Soyarik-Sentürk aus: »Accordingly, the `Turkish people` were `the masses who were living within the boundaries of the armistice, regardless of their ethnic origin, that got together on the basis of political unity and independence`« (Soyarik-Sentürk 2005, 126). Wie bereits dargelegt, kann diese Definition damit erklärt werden, dass zu diesem Zeitpunkt vor Gründung der türkischen Republik, noch der Einschluss und die Unterstützung anderer ethnischer Gruppen benötigt wurden. Der Unabhängigkeitskrieg gegen die alliierten Mächte wurde noch geführt und offiziell galt der Vertrag von Sèvres (1920), der einen armenischen und einen kurdischen Staat vorsah. Nach dem Inkrafttreten des Friedensvertrags von Lausanne (1923) und der Ausrufung der türkischen Republik, gab es einen neuen Anlauf für eine Verfassung. In den nun geführten Verhandlungen über die erste türkische Verfassung von 1924, also nach Ausrufung der Republik, wird über den Status von nichttürkischen muslimischen Volksgruppen nicht beraten. In den Beratungen über den die Staatsbürgerschaft regelnden Artikel 88 wird nur gesondert auf den Status von nichtmuslimischen Minderheiten eingegangen. Nach längeren Debatten setzt sich schließlich die Formulierung durch: »Die Einwohner der Türkei werden ohne Unterschied von Religion und Rasse qua Staatsbürgerschaft Türken genannt« (siehe Özbudun 1997, 66f.; Soyarik-Sentürk 2005, 126). In dieser Zeit sagte auch Mustafa Kemal Atatürk, dass das Volk der Türkei, das die Türkische Republik verkündete, »Türkische Nation« zu nennen ist.
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Darin zeigt sich nach Soyarik-Sentürk, dass in der frühen Phase der türkischen Republik ein territoriales Prinzip der Staatsbürgerschaft Geltung hatte, das sich an den französischen Typus der Staatsbürgerschaft anlehnt (Soyarik-Sentürk 2005, 126f.). Dieses staatsbürgerlich-republikanische Konzept von Staatsbürgerschaft zählte zwar die Rechte und Freiheiten der Staatsbürger/innen auf, es fehlten jedoch die Institutionen, die diese hätten garantieren können. Vielmehr kommt bei einer genauen Analyse dieser frühen Phase der Türkischen Republik zum Vorschein, dass die Pflichten der Staatsbürger/innen gegenüber dem Staat betont wurden (Soyarik-Sentürk 2005, 127). Zu diesen Pflichten gehörte insbesondere der Militärdienst für Männer. Das erste Staatsbürgerschaftsgesetz von 1928 bestimmte, dass Kinder einer türkischen Mutter oder eines türkischen Vaters ungeachtet dessen, ob sie in der Türkei geboren werden oder im Ausland, als türkische Staatsbürger gelten. Darin ist einerseits eine Verschiebung hin zum Prinzip des ius sanguinis zu sehen, andererseits zielte das Gesetz vornehmlich darauf ab, den formellen Status der türkischen Staatsbürger/innen zu definieren. Somit waren zunächst alle Bewohner der neuen Republik in einem abstrakten Sinn zu Staatsbürger/innen geworden. Wie Soyarik-Sentürk dazu ausführt, differierte der Grad der Inklusion aufgrund religiöser und ethnischer Unterschiede: »The nation was defined as a political and social group with a unity of language, culture, and ideals. This was an inclusive definition in the first instance. However, the degree of inclusion varied by the religious or ethnic differences in actual practice« (Soyarik-Sentürk 2005, 128). Artikel 54 der als liberal geltenden türkischen Verfassung von 1961 sowie Artikel 66 Abs. 1 der – nach dem Militärputsch von 1980 erlassenen – Verfassung von 1982 besagt, dass Türke ist, wer durch das Band der Staatsangehörigkeit mit dem türkischen Staat verbunden ist. Im Wortlaut heißt es: »Jeder, den mit dem Türkischen Staat das Band der Staatsangehörigkeit verbindet, ist Türke« (zitiert nach Rumpf 1992, 435). Hier handelt es sich um eine territoriale Definition von Zugehörigkeit, die folglich dem ius soli entspricht. In der Verfassung ist nicht die Rede von verschiedenen ethnischen Zugehörigkeiten. So schreibt Christian Rumpf: »Die Notwendigkeit, den ›Türken‹ in einer Verfassungsvorschrift zu definieren, weist von selbst darauf hin, daß wir es mit einer Verfassung zu tun haben, die das Problem Kulturnation/Staatsnation in staatsnationalem Sinne zu lösen hat. Die Verfassung verzichtet hier ausdrücklich und konsequent auf eine nähere Spezifizierung des ›Türken‹ nach ethnischen, rassischen, sprachlichen oder sonstigen Gesichtspunkten und formuliert einen staatsrechtlichen Begriff des ›Türken‹. Geht man davon aus, daß der Verfassungsgeber
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objektiv gewußt hat, daß das türkische Staatsvolk uneinheitlicher ethnischer Herkunft ist, so kann dies nur heißen, daß der verfassungsrechtliche Nation-Begriff an die Staatsangehörigkeit anknüpft. Es kann hieraus kein Zwang der Assimilation oder auch nur der unfreiwilligen Gleichbehandlung aller Türken geschlossen werden, soweit es um kulturelle Identitätsmerkmale geht. Als Türken gleich sind sie als Staatsbürger, nicht aber dort, wo sie faktische Unterschiede aufweisen wie zum Beispiel als Zugehörige verschiedener Volksgruppen« (Rumpf 1992, 435).
3. G IBT
ES MÖGLICHE LIBERALE E LEMENTE IM TÜRKISCHEN S TAATSBÜRGERSCHAFTSVERSTÄNDNIS ?
Gibt es auch potentiell liberale Elemente im türkischen Verständnis von Staatsbürgerschaft? Das offizielle staatliche Verständnis von Staatsbürgerschaft, das sich bis in die heutige Zeit fortsetzt, ist eng verbunden mit dem homogenen und ethnisch gefärbten Konzept von türkischer Nation. Damit reduziert ein holistisches Verständnis von Nation die Mitglieder der Gemeinschaft auf ihre Funktion als »Volksgenossen«, die dem gemeinsamen Ziel, nämlich dem Fortbestand der Nation zu dienen und sie gegen äußere Bedrohungen zu schützen haben. Um das Ziel einer sprachlich und kulturell homogenen Nation zu erreichen, wurden auch andere Gruppen entweder umgesiedelt, vertrieben oder auch wie im Fall von christlichen Gruppen wie der Aramäer und Armenier Opfer von Massakern. In dem Konzept von homogener Nation, das somit etabliert und durch das Bildungssystem, die staatliche Administration, das Militär, dem Justiz- und Regierungssystem durchgesetzt werden sollte, blieb kaum Raum für die Artikulation von partikularen Interessen und ethno-kulturellen Differenzen.4 Hier einen emanzipatorischen Charakter im Sinne eines liberalen Verständnisses von Staatsbürgerschaft auszumachen, das die Infragestellung des homogenen Nation-Verständnisses erlauben würde, ist insofern schwierig. Jedoch hat das Postulat von Egalität, auch wenn es die Egalität zwischen »ethnischen Türken« meinte, aufgrund des formellen demokratischen Systems
4
So konstatiert auch Gülistan Gürbey die Einschränkungen, die ein ethno-nationalistisches Verständnis von Türkisch-Sein für andere ethno-kulturelle Gruppen nach wie vor mit sich bringt: »Any articulation of cultural differences was, and still is, perceived as a threat to the cultural and national unity and rejected vehemently. Based on the Kemalist definition of the Turkish nation and the postulate derived from it that everybody is equal, any expression of an identity other than Turkish has been illegal and persecuted« (Gürbey 2006, 157).
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(mit freien Wahlen seit Einführung des Mehrparteiensystems im Jahr 1945) zu mehr politischer Partizipation geführt und im Sinne des Nationenbildungsprojekts zu stärkerer Kommunikation der Individuen beigetragen, die sich über eine gemeinsame Sprache verständigen konnten. Damit konnte auch die größte Minderheit der Kurden bis zu einem gewissen Grad in die politische Gemeinschaft einbezogen werden.5 Dies drückt sich darin aus, dass Forderungen nach Anerkennung der ethno-kulturellen Gruppen auf der Basis des Status’ als Staatsbürger gemacht werden und insofern zu einer Erweiterung des Staatsbürgerschaftsbegriffs führen. Fuat Keyman spricht in diesem Zusammenhang vom »republikanischen Liberalismus« in der Türkei, der einerseits das Ziel der Modernisierung der Türkei im Sinne der Republikgründer beibehalte und andererseits aber die neuen Forderungen nach Anerkennung von ethno-kulturellen Gruppen einbeziehe (Keyman 2004). Besonders nach dem Militärputsch von 1980 und nach der Wiedereinführung einer zivilen Regierung im Jahr 1983 unter Ministerpräsident Turgut Özal kam es zu einer Liberalisierung des gesellschaftlichen Lebens. Zum Beispiel entstanden private Fernsehsender, nachdem zuvor nur staatliche Sender existiert hatten, die staatlich kontrollierte Inhalte wiedergaben. Dem formell demokratischen System der Türkei können trotz der durch die Militärputsche induzierten Brüche6 bestimmte liberale Elemente zugeschrieben werden. So bewertet Heinz Kramer das politische System der Türkei in Teilen als »liberal«: »Mit Blick auf die demokratischen Institutionen und Verfahren kann die Türkei mit wenigen Ausnahmen als liberale Demokratie bezeichnet werden. Der in der Verfassung verankerte Grundsatz der Volkssouveränität wird im Rahmen eines pluralistischen Mehrpartei-
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Insbesondere die gebildete Schicht der kurdischen Bevölkerung, die an den staatlichen Schulen und Universitäten sozialisiert wurde, gebrauchte das gemeinsame Medium der türkischen Sprache, um über allgemeine gesellschaftspolitische Themen kommunizieren zu können.
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Ernest Gellner vertritt die These, dass in der Türkei paradoxerweise das Militär gerade durch die Militärputsche die Funktion erfüllte, die grundlegende staatliche Ordnung gegen periphere Kräfte zu schützen. »The fact that elective and constitutional government is periodically interrupted – one is inclined to say punctuated – by military coups, can be interpreted, from a liberal viewpoint, in both a favourable and an unfavourable light« (Gellner 1994b, 82). Hierin kam und kommt der türkischen Armee im Sinne der Weberschen Definition des staatlichen Machtmonopols die Rolle der Wächter über die staatliche Ordnung zu.
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ensystems in freien Wahlen zur Nationalversammlung umgesetzt. Die Regierung geht aus der Mitte der Nationalversammlung hervor und bedarf für ihr Handeln deren Zustimmung. Das staatliche Handeln ist prinzipiell an Recht und Gesetz gebunden, über die Einhaltung wacht eine unabhängige Justiz« (Kramer 2004, 33).
Jedoch schränkt Kramer diese potentiell liberalen Eigenschaften des politischen Systems in der Türkei mit Verweis auf das autoritäre kemalistische Erbe, das nach wie vor einen bedeutenden Einfluss auf das politische und gesellschaftliche Leben hat, ein. So konstatiert Kramer weiter: »Das herrschende Verständnis des Kemalismus und seiner Grundsätze ist nach wie vor durch die autoritären Anfänge der Republik unter der Einparteien- und Einpersonenherrschaft der Ära Atatürk geprägt. Dieses Verständnis ist zwar für demokratische Entwicklungen hinsichtlich der institutionellen und verfahrensbezogenen Elemente von liberaler Demokratie offen, zeigt aber kaum Ansatzpunkte für die Verwirklichung der wertbezogenen Aspekte dieses Leitbildes« (Kramer 2004, 41f.).
Obwohl neben der verstärkten Akzeptanz der Artikulation von ethno-kultureller Differenz im öffentlichen Raum auch die Tatsache, dass eine islamisch geprägte – und damit partikulare Ansprüche erhebende – Partei seit 2002 in der Türkei erstmals die Regierungsgeschäfte übernommen hat, als Indikator für eine Liberalisierung des politischen und gesellschaftlichen Lebens interpretiert werden kann7, urteilt Gülistan Gürbey ähnlich wie Heinz Kramer, wenn sie von der Türkei als defekter Demokratie8 mit Ansätzen einer liberalen Gesellschaft spricht:
7
Dieser Transformationsprozess in der Politik und Gesellschaft der Türkei wurde von äußeren und inneren Faktoren eingeleitet. Die Globalisierung und die Aussicht auf einen EU-Beitritt zählt Gülistan Gürbey zu den wichtigsten äußeren Faktoren. Zu den inneren Faktoren zählt sie die sich weiter ausbildende Zivilgesellschaft sowie die verstärkte Präsenz von politischen und sozialen Fragen in den Medien (Gürbey 2006, 156).
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Siehe Gürbey (2005): Die Autorin untersucht die Einflüsse der internen Herrschaftsstruktur des politischen Systems der Türkei auf ihre Außenpolitik in Hinblick auf die These des »Demokratischen Friedens«. Sie ordnet das politische Regime in der Türkei den beiden Subtypen von »defekten Demokratien, nämlich der »Demokratie mit Enklaven« und der »illiberalen Demokratie« zu. Während die Demokratie mit Enklaven sich im staatlichen Herrschaftsanspruch durch »rechtsstaatlich definierte und garantierte Grenzen im Allgemeinen« auszeichnet, ist diese Garantie in bestimmten Bereichen (den funktionalen und territorialen Enklaven) aufgehoben. Dagegen zeichnet sich die illiberale Demokratie durch die zentralen Eigenschaften der Verletzung
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»Against the background of the defects in the political system […], Turkish democracy must still be called a defective democracy. The liberal democracy based on the rule of law which has mainly evolved in affluent OECD countries is the yardstick for this assessment. The reforms under the way are important, though, for democratization and liberalization. But we cannot yet speak of a liberal democracy under the rule of law, especially because of the massive practical obstacles to their implementation. Furthermore, the political and social process of internalizing the spirit of the reforms is still in its infancy and will still require a considerable length of time« (Gürbey 2006, 158f.).
rechtsstaatlicher Prinzipien und der partiellen Einschränkung bürgerlicher Freiheitsund Schutzrechte aus (Gürbey 2005, 34f.). Die Autorin charakterisiert das Herrschaftssystem der Türkei folgendermaßen: »Als besondere Merkmale der internen Herrschaftsordnung sind vor allem festzuhalten: hoher Zentralisierungsgrad des politischen Systems, dominierende Stellung des Staates im Verhältnis zu seiner Gesellschaft mit einem tendenziell unbegrenzten staatlichen Herrschaftsanspruch, kontrollfreie Hegemonie und Dominanz der militärischen Autorität in Politik und Gesellschaft, eingeschränktes Regierungsmonopol der demokratisch legitimierten Repräsentanten, eingeschränkte Gewaltenkontrolle zu Gunsten der Exekutive, dogmatisches Nationen- und Nationalismusverständnis mit der Folge eines Homogenisierungsanspruchs für Politik und Gesellschaft, eingeschränkte bürgerliche und politische Freiheitsrechte, nicht zuletzt auch die zu beobachtende Gewaltanwendung nach innen insbesondere in Form von Militärputsch und massiven Verletzungen von Menschenrechten und Minderheitenrechten (z.B. insbesondere gegenüber den politischen und kulturellen Rechten der Kurden)« (Gürbey 2005, 37f.).
VI. Die Problematik der Anerkennung von ethno-kulturellen Minderheiten in der Türkei
Trotz der ethno-kulturellen Diversität der Türkei, ist die offizielle staatliche Sicht hierauf von der Vorstellung einer homogenen Nation geprägt. Hier ist zwischen einer faktischen Multikulturalität der Türkei, die historisch häufig negiert wurde, und dem normativen Konzept des Multikulturalismus zu trennen, das ein politisches Mittel zur Governance von Diversität ist (Kaya 2005, 52). Kemal Kirisci und M. Gareth Windrow weisen darauf hin, dass die Regierungen in der Türkei angesichts der Forderungen nach Anerkennung der Kurden als Minderheit argumentieren, dass eine solche Anerkennung nicht nötig sei, weil Kurden in der Türkei durch die Institution der Staatsbürgerschaft über die gleichen Rechte verfügen würden, wie alle Staatsbürger der Türkei auch. Das Problem werde vielmehr als ein Terror-Problem der PKK behandelt (Kirisci und Windrow 1997, 2). Ebenso wurde und wird häufig auch von türkischen Offiziellen argumentiert, dass die Minderheitenpolitik der türkischen Regierungen sich auf den Friedensvertrag von Lausanne (1923) stützt. So werden in Folge dieses Abkommens religiös definierte Minderheiten anerkannt, jedoch nicht ethnische oder nationale (Kirisci und Windrow 1997, 45). Während Kurden und Aleviten zumindest auf rein konzeptueller Ebene in die »türkisch-sunnitische« Mehrheit integriert wurden, wurden die nicht-muslimischen Minderheiten als »local foreigners with Turkish citizenship« gesehen, auch wenn gerade diese Gruppen durch den Lausanner Friedensvertrag als Minderheiten anerkannt wurden. Nach Gabriel Goltz wurden diese Gruppen dennoch nicht durch den Terminus »Türkische Gesellschaft« eingeschlossen (Goltz 2006, 175). Die Schwierigkeit der Anerkennung von ethno-kulturellen Minderheiten in der Türkei ergibt sich aus der Paradoxie, dass diese Gruppen einerseits eine gesellschaftliche Anerkennung fordern, andererseits ihre Existenz jedoch seitens
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staatlicher Institutionen und durch verschiedene Gesetze verneint wird. Kirisci und Windrow sehen in einem Urteil des Staatssicherheitsgerichts Ankara vom Februar 1995 jedoch eine Anerkennung der Existenz einer kurdischen Bevölkerungsgruppe in der Türkei durch offizielle staatliche Instanzen. Bei dem Verfahren, das sie zitieren, ging es um zwei Vertreter der Türkischen Menschenrechtsstiftung (Insan haklari Vakfi, IHV), die in einem Buch den Ausdruck »kurdisches Volk« benutzt hatten und deshalb wegen Verbreitung von separatistischer Propaganda angeklagt waren. Jedoch entschied das Gericht, dass dieser Ausdruck nicht den Tatbestand der Verbreitung separatistischer Propaganda erfüllt und somit nicht gegen den damaligen Artikel 8 § 1 des Antiterrorgesetzes verstößt. Dieser Artikel wurde im Oktober 1995 überarbeitet (Kirsisci und Windrow 1997) und es gab seitdem weitere bedeutende Modifikationen der Gesetzeslage. Kirisci und Windrow folgern für das betreffende Urteil aus dem Jahr 1995: »The Turkish authorities were hence prepared to tolerate the expression and the notion of a ›Kurdish people‹. An acknowledgement of the Kurdish ›reality‹ was clearly in evidence« (Kirisci, Windrow 1997, 2). Verschiedene Artikel der Verfassung und anderer Gesetze verbieten noch heute offiziell die Anerkennung von Minderheiten. Im Parteiengesetz sind zahlreiche Verbote zu finden, ebenso im Strafgesetzbuch. Die Einschränkungen, die durch solche Artikel bestehen, sollen den Willen der Gesetzgeber unterstreichen, dass die Nation nicht durch die Behauptung, es gebe ethnische, soziale und andere Gruppen, geteilt werden dürfe. Dabei war die Existenz der Kurden kurz vor Ausrufung der Türkischen Republik nicht angezweifelt worden. Bei den Verhandlungen zum Lausanner Friedensvertrag zwischen den Alliierten Mächten und der Türkei war der damalige Außenminister Ismet Inönü von einer kurdischen Delegation begleitet worden. In den Verhandlungen war die Rede davon, dass »Türken und Kurden wie Gebrüder miteinander leben würden« (Kurban 2003, 190). Ebenso wurde behauptet, der zukünftige Staat werde ein Staat der Kurden und Türken sein. Dilek Kurban drückt diese Argumentation mit folgenden Worten aus: »The Kemalist founders thus argued in the Treaty of Lausanne that there was no need to grant Kurds minority rights because they were not a minority, but rather a founding people standing on equal footing with the Turks« (Kurban 2003, 190). Dennoch wurden die Kurden durch den Friedensvertrag von Lausanne nicht als eigene Gruppe anerkannt, sie erhielten – trotz der anfänglichen Anerkennung ihrer Existenz – nicht den Status einer Minderheit, weil sie zukünftig der türkischen Nation zugerechnet wurden. Als Konsequenz der Darstellung der Kurden als »founding nation« wird bis heute von Seiten türkischer Politiker immer wieder
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darauf hingewiesen, warum es keinen speziellen Status der Kurden geben soll (Kurban 2003, 191; Kaya 2005, 57f.). Infolge dessen wurde das Ergebnis des Lausanner Friedensvertrags in den Folgejahren, trotz der Existenz und Forderungen von kurdischer Seite, als unveränderbarerer Maßstab gesehen, um in der kurdischen Frage keine Politik der Anerkennung zu betreiben. Gleichzeitig werden Rechte, die von Artikel 39 des Lausanner Vertrages festgelegt werden, nicht umgesetzt, obwohl aus diesem das Recht der Kurden und anderer mehrheitlich muslimischer Minderheiten abgeleitet werden kann, die eigene Sprache im öffentlichen Bereich zu gebrauchen. Artikel 39 des Lausanner Friedensvertrages besagt: »No restriction shall be imposed on the free use of any language in the private intercourse, in commerce, religion, in the press, or in the publication of any kind, or at public meetings. Notwithstanding the existence of the official language, adequate facilities shall be given to Turkish nationals of non-Turkish speech for the oral use of language before their own courts« (Friedensvertrag von Lausanne, S. 9; Kirisci und Windrow 1997, 44; Oran 2004a).
Nach Gründung der Türkischen Republik 1923 wurde verstärkt eine Politik der Türkisierung betrieben. Waren in der Zeit vor der Gründung der Republik Vorstellungen des Osmanismus vorherrschend, so wurde nun verstärkt eine Ethnisierung des Begriffs der türkischen Nation betrieben. Unter anderem wurde der Gebrauch des Kurdischen per Dekret vom März 1924 aus den Schulen und Gerichten verbannt, die Wörter »Kurden« und »Kurdistan« und Bezüge zu ihnen wurden aus türkischen Geschichtsbüchern und Veröffentlichungen herausgenommen. Somit gab die Türkei ihre Verpflichtungen, die sie per Friedensvertrag von Lausanne mit Artikel 39 eingegangen war, auf (Kurban 2003, 191). Kurban drückt die Motive für die spätere Leugnung ethno-kultureller Diversität in der Türkei folgendermaßen aus: »The Kemalist founders believed that ›any discussion of minority rights came into fundamental conflict with the country’s territorial integrity and, therefore, posed a serious threat to national unity.‹ Believing that ›sameness‹ would bring ›unity‹, the Kemalist leaders opted for a policy that ›categorized all non-Muslims as ethnic Turks, prohibiting the use of their languages and the enjoyment of their cultures« (Kurban 2003, 192).
Durch die Verfassung von 1982, die nach dem Militärputsch von 1980 etabliert wurde, wurde der Grundsatz der »Unabhängigkeit und der Integrität der türkischen Nation, der Unteilbarkeit des Landes, der Republik und der Demokratie«
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festgeschrieben. Dies machte jede Behauptung und Forderung nach einer anderen ethnischen oder nationalen Identität als der türkischen in den in dieser Weise definierten Grenzen des Nationalstaates undenkbar (Kurban 2003, 194). In den vorangehenden Abschnitten habe ich versucht, die Gründe für die Schwierigkeiten einer Anerkennung von Minderheiten in der Türkischen Republik darzustellen. Als Erklärung für diese Schwierigkeiten führen manche Autoren eine »Angst« vor der Teilung des Staates an. Baskin Oran spricht in diesem Zusammenhang von einem Trauma, das sich durch den Verlust der sich auf drei Kontinente erstreckenden osmanischen Gebiete ergeben habe. Die Angst, dass die 1923 gegründete Republik weiter geteilt werden könne, führe dazu, dass dieses Trauma bis heute weiterlebe. Oran sieht den Grund für die mangelnde Anerkennung und sogar Verleugnung anderer kultureller Identitäten als der türkischen in diesem Trauma. Die Angst vor einer weiteren Zerkleinerung und Teilung des Staates findet Oran zufolge ihren Ausdruck in Artikel 3, Abs. 1 der türkischen Verfassung. Er besagt: »Der Staat Türkei ist ein in seinem Staatsgebiet und Staatsvolk unteilbares Ganzes. Seine Sprache ist Türkisch« (Oran 2004a, 81f.; Türkische Verfassung von 1982, in: Rumpf 1996, 319). Zu diesem Zweck können nach Artikel 13 die Grundrechte beschränkt werden: »Die Grundrechte und- freiheiten können zum Schutz der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk, der nationalen Souveränität, der Republik, der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Sicherheit der Allgemeinheit, des öffentlichen Interesses, des Sittengesetzes und der öffentlichen Gesundheit und aus besonderen Gründen, welche darüber hinaus in den entsprechenden Artikeln der Verfassung vorgesehen sind, in Einklang mit Wort und Geist der Verfassung durch Gesetz beschränkt werden« (Türkische Verfassung von 1982, in: Rumpf 1996, 320). Oran zufolge ist die Betonung der Unteilbarkeit des Staatsgebietes in Artikel 3 der Verfassung das legitime Recht eines jeden Staates, drückt er doch den Willen nach Beständigkeit und Integrität staatlicher Grenzen aus. Er wendet sich jedoch gegen die Betonung der Unteilbarkeit des Staatsvolkes, da diese von einer monolithischen Beschaffenheit der Nation ausgehe und sich damit gegen die Anerkennung ethno-kultureller Gruppen innerhalb des Staatsgebietes stelle. Hiermit werde einer Politik der Assimilation Vorschub geleistet (Oran 2004a, 82). Sobald behauptet werde, dass in der Türkei ethnisch und religiös unterschiedliche Gruppen existieren, würde dies als Angriff auf das »Ganze« (die Unteilbarkeit der türkischen Nation) gesehen, und diejenigen, die dies behaupten, als Separatisten angeklagt (Oran 2004a, 83). Elise Massicard (2006) analysiert beispielsweise die Form, in der sich alevitische Vereine und Parteien für die Anerkennung der alevitischen Identität einsetzen als gerahmt durch deren Be-
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kundungen zur Aufrechterhaltung der Integrität des Staates und der Nation. Massicard zufolge muss jeder politische Akteur, der in irgendeiner Weise Rechte für seine ethno-kulturelle oder religiöse Gruppe fordert, sich demzufolge gleichzeitig für die nationale Einheit aussprechen, um nicht im Verdacht zu stehen, diese zu gefährden. Durch eine solche Rahmung seines Diskurses über kulturelle Rechte setzt sich der loyale Staatsbürger von den »Feinden der Einheit« ab, da letztere ihren Forderungen nach kulturellen Rechten keine Parteinahme für die Einheit des Staates voranstellen. Somit werden diese als »Separatisten« oder als Verräter und innere Feinde stigmatisiert (Massicard 2006, 79). Massicard drückt dies in ihrer Untersuchung zur alevitischen Bewegung in der Türkei wie folgt aus: »In short, they have to refer to […] all those national references considered as sacred, like National Unity, the Turkish Flag, and the figure of Atatürk. Defending the Republic and its founding values against its enemies is thus the main legitimate means to express demands, notably for movements seeking recognition, which are the most exposed to accusation of separatism« (Massicard 2006, 79).
1. W ELCHE G RUPPEN WURDEN IM V ERTRAG VON L AUSANNE ALS M INDERHEITEN ANERKANNT ? Der Friedensvertrag von Lausanne wurde zwischen der Türkei einerseits und den Alliierten Mächten andererseits (Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Griechenland, Rumänien und dem Serbisch-Kroatisch-Slowenischem Staat) am 24. Juli 1923 unterzeichnet (hierzu Kurban 2003, 169f.; Oran 2004a). Mit dem Friedensvertrag von Lausanne wurden nur bestimmte Gruppen als Minderheiten anerkannt, die entsprechende Rechte hatten (siehe Oran 2004a, 47f.). Obwohl im Vertrag von nicht-muslimischen Gruppen in einem allgemeinen Sinn gesprochen wurde, und keine Gruppen explizit benannt wurden, erkennt die Türkei nur bestimmte nicht-muslimische Gruppen als Minderheit an: die Armenier, Griechen1, und die Juden. Durch diese Festschreibung wird im Grunde die osmanische Politik des Millet-Systems fortgesetzt, die auf religiöse Zugehörigkeit beruhte. Nach dem im Lausanner Friedensvertrag zum Ausdruck kommenden Verständnis der türki-
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Dass die Gruppe der christlichen Bulgaren durch den Vertrag von Lausanne als Minderheit anerkannt wurde (Goltz 2006, 229, Fußnote 2), wird in der Literatur meistens unerwähnt gelassen. Z.B. Oran (2004a) lässt diese Gruppe auch unberücksichtigt.
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schen Republikgründer konnten muslimische Gruppen wie Kurden und Lazen oder Tscherkessen analog zur osmanischen Aufteilung in religiöse Millets als »Türken« klassifiziert werden, während die nicht-muslimischen Gruppen analog dazu den Minderheitenstatus erhielten (Göcek 2005, 75). Nach Gabriel Goltz wurden aber im Prozess des türkischen Nationbuilding diese Gruppen wieder zu Fremden gemacht, und durch den Vertrag von Lausanne als »external element(s)« an die türkische Nation gebunden (Goltz 2006, 180). Ihr Status innerhalb des türkischen Nation-Konzepts ist ungeklärt, obwohl ihnen nach dem Lausanner Vertrag neben den Minderheitenrechten auch die grundsätzlichen Staatsbürgerrechte zuerkannt wurden (Yumul 2005, 104). Dass die nichtmuslimischen Gruppen trotz ihres erworbenen Minderheitenstatus und in ihrer Eigenschaft als türkische Staatsbürger als »external elements« gesehen und behandelt wurden, erklärt Baskin Oran damit, dass sie in dem Maße von westlichen Mächten unterstützt wurden als sich das Osmanische Reich im Niedergang befand. Dies stellt nach Oran einen Grund für deren Qualifikation als die »Anderen« dar (Oran 2004a, 48). Im Gegensatz zu anderen Verträgen, die zu dieser Zeit zwischen den Alliierten und besiegten Staaten abgeschlossen wurden, beinhaltete der Friedensvertrag von Lausanne nicht die Standardaussage, es solle »rassischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten« der Status der Minderheit zuerkannt werden. Stattdessen beinhaltete der Vertrag die Formulierung, dass einzig und allein »NichtMuslime« den Status der Minderheit erhalten. Somit wurden ethnische oder sprachliche Minderheiten per Gesetz nicht als solche anerkannt. Hiervon war vor allem die kurdischsprachige Gruppe zu betroffen, die als in ihrer Mehrheit islamisch-sunnitische Gruppe eine eigenständige ethno-kulturelle Gruppe darstellte. Ebenso wurden durch den Friedensvertrag von Lausanne nicht die Aleviten als eigenständige religiöse Gruppe anerkannt, obwohl sie sich von den sunnitischen Muslimen in ihrer religiösen Praxis unterscheiden2. Mit dem Vertrag von Lausanne wurden nicht-muslimischen Gruppen, in der Praxis lediglich den Armeniern, Griechen und Juden nach Dilek Kurban folgende Rechte zuerkannt: das Recht auf gleichen Schutz und Nicht-Diskriminierung, das Recht, eigene private Schulen einzurichten und in der eigenen Sprache zu unterrichten, der an Bedingungen geknüpfte Anspruch vom Staat Geldmittel für die Lehre der eigenen Sprache in den öffentlichen Grundschulen zu erhalten, das Recht familiäre oder private Angelegenheiten im Einklang mit den eigenen Sitten und Gebräuchen
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Ohnehin ist es immer noch eine nicht erschöpfend beantwortete Frage, ob anatolische Aleviten eine »Konfession« des Islam darstellen oder ob die Herkunft des Alevitismus auf die vorislamische Zeit zurückgeht.
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auszulegen, und schließlich das Recht die eigene Religion frei auszuüben (Kurban 2003, 172; Friedensvertrag von Lausanne). Über die Tatsache hinaus, dass durch den Friedensvertrag von Lausanne muslimische ethnische Gruppen nicht als Minderheit anerkannt wurden, wurden bestimmte christliche religiöse Gruppen wie die Assyrer oder Chaldäer oder nicht-muslimische Gemeinschaften wie die Yeziden ebenso wenig als Minderheiten anerkannt3 (Kurban 2003, 174; Oran 2004a, 51). Baskin Oran zufolge besteht kein Zweifel daran, dass Nestorianer, Yeziden, Protestanten u.a. ebenso den Schutz des Friedensvertrages von Lausanne hätten erhalten müssen (Oran 2004a, 51). Ähnlich wird seitens des türkischen Staates im Bezug auf die kurdische Minderheit argumentiert und gehandelt. Das Verfassungsgericht verbietet nach dem Parteiengesetz Parteien, die gegen den Grundsatz der »Unteilbarkeit der Einheit des Staates mit seinem Land und seiner Nation sowie gegen das Verbot Minderheiten herzustellen« verstoßen (Gökcenay 2004, 151). Dies ist für Sule Gökcenay ein Hinweis darauf, wie im nationalen Recht Minderheiten definiert werden. Das Verfassungsgericht folgt hier der Auffassung, dass nur die im Lausanner Vertrag anerkannten nicht-muslimischen Gruppen als Minderheiten anerkannt werden können, und verbietet die Behauptung und die »Herstellung« von anderen Minderheiten (Gökcenay 2004, 152). Diese Auffassung erweist sich insbesondere als sehr problematisch für die kurdische Frage. Denn sie manifestiert den Standpunkt, dass in der Türkei offiziell nur als Minderheit gesehen werden kann, wer seitens des Staates im Rahmen von bilateralen oder internationalen Abkommen als Minderheit anerkannt wurde (Gökcenay 2004, 152; hierzu auch Oran 2004a). Dies ist aus heutiger Sicht eine Hauptkritik, die sich gegen das Minderheiten-Verständnis des Lausanner Friedensvertrags von 1923 richtet, die die Tatsache »soziologischer Minderheiten« verkennt, und damit hinter den internationalen Standards zurückbleibt (Oran 2004a, 143f.). Mit »soziologischer Minderheit« ist gemeint, dass es auf subjektive und askriptive Faktoren beruhende Gruppenzugehörigkeiten geben kann, die nicht auf eine Fremddefinition zurückgehen. Hier ist also die Selbstdefinition von Gruppen von Bedeutung, deren Mitglieder eine gemeinsame Gruppenzugehörigkeit und deren Anerkennung fordern, ungeachtet der Tatsache, ob sie offiziell als Minderheit anerkannt sind oder nicht. Dilek Kurban nennt Beispiele, die zeigen, dass die mit Artikel 40 des Friedensvertrages von Lausanne garantierten Rechte nicht-muslimischer Minderheiten nicht oder nur bedingt umgesetzt werden. So muss der Schulleiter einer
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Die Assyrer sind eine christliche Gruppe, die vorwiegend im Südosten der Türkei in der Region von Mardin lebt.
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nicht-muslimischen Privatschule ein muslimischer Repräsentant des Nationalen Erziehungsministeriums sein (Kurban 2003, 177; Oran 2004a; Goltz 2006, 176). Artikel 39, der laut Kurban von den türkischen Regierungen nicht befolgt und somit »unsichtbar« gemacht wurde, räumte allen Staatsbürgern das Recht ein, nicht-türkische Sprachen in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens zu pflegen (siehe Kurban 2003, 178; Friedensvertrag von Lausanne, S. 9). Mit diesem Artikel intendierten die westlichen Mächte neben den anerkannten nichtmuslimischen Gruppen auch anderen Staatsbürgern der Türkei – und hiermit gezielt den Kurden – das Recht einzuräumen, die eigene Muttersprache im öffentlichen Leben zu sprechen.4 Die Rede von nicht-türkischen Sprachen im Friedensvertrag von Lausanne weist auf das Recht hin, dass auch andere muslimische Gruppen als die türkische ihre Sprachen im öffentlichen Bereich pflegen können sollten. Am Beispiel der kurdischen Sprache, deren öffentlicher Gebrauch bis 1991 einem Verbot unterworfen war, lässt sich zeigen, dass auch dieser Artikel des Vertrages von Lausanne nicht praktiziert wurde (Kurban 2003, 178; Oran 2004a). In der Praxis hat die Türkei, bei internationalen Verträgen und Abkommen, die Minderheitenrechte garantieren sollten, häufig von einem Vorbehalt Gebrauch gemacht, der besagt, der Vertrag oder das Abkommen werde in Einklang mit der türkischen Verfassung und dem Friedensvertrag von Lausanne umgesetzt. Oran zufolge bedeutet dieser Vorbehalt, den die türkischen Regierungen geltend machen, dass die durch die internationalen Abkommen gewährten Rechte nur dann in türkisches Recht umgesetzt werden, wenn diese nicht von der türkischen Verfassung verboten werden oder die Rechtsinhaber nicht über die im Lausanner Friedensvertrag festgehaltenen Gruppen hinausgehen (Oran 2004a, 49). Es sei festgehalten, dass durch den Friedensvertrag von Lausanne aus dem Jahr 1923 die späteren Grenzen der heutigen Türkei festgelegt wurden. Während in Kontinuität mit dem auf religiöse Unterschiede beruhenden Millet-System im Osmanischen Reich nicht-muslimische Gruppen als Minderheiten anerkannt wurden, sind die Kurden als mehrheitlich muslimischer Teil der anatolischen Bevölkerung dem türkischen »Staatsvolk« zugerechnet worden, ohne dass ihnen irgendwie geartete Minderheitenrechte zuerkannt worden wären. Für die heutige Diskussion spielt der Vertrag von Lausanne eine wichtige Rolle, da einerseits argumentiert werden kann, dass darin enthaltene Rechte für muslimische Minderheiten (Kurden, Tscherkessen u.a.) nicht umgesetzt wurden und andererseits
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»The Article, notwithstanding its neutral language which seems to grant partial rights to all citizens who speak a language other than Turkish, was intended to address the needs of the Kurds« (Kurban 2003, 190).
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der auf die Lausanner Bestimmungen zurückgehende türkische Nationen- und Minderheitenbegriff nicht mehr die »soziologischen« Realitäten, nämlich die Existenz von anderen ethno-kulturellen Gruppen als die damals im Lausanner Vertrag anerkannten, widerspiegelt. 1.1 Zum Begriff der Minderheit »Minderheit« wird nicht als eine objektiv gegebene Gruppe angesehen, sondern sie wird häufig im Anschluss an Francesco Capotorti (UN-Sonderberichterstatter in den 1960er Jahren) definiert, der der »Minderheit« neben objektiven Kriterien auch subjektive zugrunde legte. So definierte Capotorti Minderheit wie folgt: »A group inferior to the rest of the population of a State, in a non-dominant position, whose members – being nationals of the State – possess ethnic, religious or linguistic characteristics differing from those of the rest of the population and show, if only implicitly, a sense of solidarity, directed towards preserving their culture, traditions, religion or language« (zitiert nach Kurban 2003, 160).
Die Bedeutung des subjektiven Elements in dieser Definition wird als zentral und unabdingbar angesehen, da eine Gruppenidentität ohne Gruppenbewusstsein nicht als möglich erachtet wird. Es muss einen Willen zum Erhalt der eigenen Merkmale und Traditionen der Gruppe geben. Denn das Gegenteil würde bedeuten, dass die Gruppe sich an die Mehrheitsgesellschaft assimilieren möchte (Kurban 2003, 160). In Übereinstimmung mit Will Kymlicka führt Dilek Kurban aus, dass die Unterscheidung zwischen subjektiv und objektiv eine zentrale Rolle für die Frage spielt, welche Gruppen in multikulturellen Gesellschaften rechtlich anerkannt werden sollen oder nicht. In der Regel wird hierbei zwischen nationalen Minderheiten und kulturellen Minderheiten unterschieden. Während erstere auf eine seit langem ansässige Gruppe zutrifft, die auf einem definierten Territorium lebt, wird die zweite auf eingewanderte Gruppen bezogen (siehe auch Kymlickas Unterscheidung diesbezüglich, Kapitel IX.2). Vor dem Hintergrund eines homogenen Mehrheiten- und Minderheitenbegriffs, ist es – wie Kemal Kirisci und M. Gareth Windrow argumentieren – irreführend, die »Türken« und »Kurden« oder andere Gruppen in der Türkei als monolithische Einheiten zu begreifen (siehe auch Kaya 2002). Sie weisen darauf hin, dass sich Individuen sowohl als Türken als auch als Kurden wahrnehmen können. Zudem verweisen sie auf existierende Unterschiede im Lebensstil zwi-
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schen einer in Istanbul lebenden Person und einem im Süd-Osten der Türkei lebenden kurdischen Arbeiter. Während sie damit auf die existierenden sozialen Unterschiede verweisen, um das »ethnische Moment« zu relativieren, verweisen sie auf mögliche Gegensätze zwischen Zielen von Eliten und der einfachen Bevölkerung: »Often there is little attempt among analysts, including those within Turkey, to differentiate between the aims and objectives of the Turkish and Kurdish elites in Turkey and the views and opinions of the Turkish and Kurdish masses« (Kirisci und Windrow 1997, 3).
1.2 Zur religiösen Gruppe der Aleviten Dilek Kurban klassifiziert neben den Kurden auch die religiöse Gruppe der Aleviten als nationale Minderheit, die mit dem Friedensvertrag von Lausanne nicht als solche anerkannt wurden. Zwar handelt es sich bei den Aleviten um eine religiöse Minderheit, jedoch kann sie entgegen Kurbans Sichtweise nicht als nationale Minderheit klassifiziert werden, da es sich um eine religiöse Minderheit handelt, die ethnisch und sprachlich heterogen ist. Aleviten sind bei den türkischen, kurdischen, arabischen aber auch aserbaidschanischen Bevölkerungsgruppen vertreten. Zudem wird von Seiten der offiziellen Politik und im öffentlichen Diskurs in der Türkei davon ausgegangen, dass der Alevitismus eine Glaubensrichtung des Islam ist, weshalb die Aleviten – der heutigen Argumentation folgend – schon mit dem Friedensvertrag von Lausanne nicht wie die anderen religiösen Minderheiten diesen Status erhalten haben. Von der Nichtanerkennung als religiöse Gruppe geht jedoch auch ein starker Assimilationsdruck5 auf die Aleviten aus, die schon in osmanischer Zeit verfolgt wurden. In den letzten Jahren gibt es auch ein religiös-kulturelles Revival der Aleviten in der Türkei (Massicard 2006). Elise Massicard unterscheidet jedoch die Bewegung der Aleviten, die auch seit den 1980er Jahren stärker geworden ist, von der kurdischen aber auch von Bewegung des politischen Islam, da sie argumentiert, dass
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Dazu schreibt Kurban (2003, 187): »The state involvement in religious affairs not only excludes Alevis from public space in which to practice and teach their religion, but also tries ›to bring the Alevis into the Sunni fold`. By actively fostering the Sunni version of Islam, the State, particularly in the post-1980 military coup period, has strengthened the Directorate of Religious Affairs, built new mosques, and appointed imams ›not only in Sunni towns and villages, but also in Alevi communities. As a result of these official discriminatory policies, the Alevis feel that they cannot manifest their belief openly in the Sunni-dominated society« (Hervorhebungen Kurban).
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die Aleviten nicht die Prinzipien der türkischen Nation direkt herausfordern würden (Massicard 2006, 74). Dies ist mit der zumeist säkularen Orientierung der alevitischen Gruppe zu erklären, die hierin im relativen Einklang mit den republikanischen Prinzipien der Türkei ist, wie dem Laizismus, der für sie als Garant einer säkularen Ordnung und gegen eine islamische Domination gilt. Der alevitischen Gruppe fehlen die Charakteristiken, wie eine eigene Sprache oder auch ein relativ zusammenhängendes Territorium, die eine nationale Minderheit ausmachen. Der Begriff der nationalen Minderheit ist stärker mit kultureller Zugehörigkeit, die sich meistens auf die Sprache gründet, konnotiert als mit religiöser Zugehörigkeit. Dagegen ist die Annahme richtig, dass die Aleviten eine religiöse Gruppe sind, die sich vom sunnitischen Islam unterscheidet und die in der Türkei insofern eine religiöse Minderheit darstellt. Jedoch ist die alevitische Gruppe in sich heterogen und ihre Verbindung mit dem Islam ist umstritten. Kurban zufolge führt der undefinierte Status der alevitischen Gruppe zu einem unsicheren Status dem Staat gegenüber. Sie seien den durch den Lausanner Vertrag anerkannten Gruppen gegenüber benachteiligt. »They are also deprived of the rights, privileges, and services the State provides to the Sunnis on the ground that they are not Muslim enough. In the eyes of the law, the Alevis are a non-existing entity, an absence« (Kurban 2003, 189).
2. D IE S ITUATION DER M INDERHEITEN BIS ANFANG DER 1980 ER J AHRE Die Minderheiten, wie die Griechen und Armenier waren in den 1940er und 1950er Jahren schweren Repressalien ausgesetzt. 1942 wurde eine Vermögenssteuer eingeführt, die v.a. die wohlhabenden christlichen Gruppen treffen sollte. In der Zeit des 2. Weltkrieges profitierte die türkische Handelsbourgeosie, zu der viele Nicht-Muslime zählten, besonders vom Krieg. In diesem Kontext der voranschreitenden »Nationalisierung« der Gesellschaft in der Türkei kann man die Vermögenssteuer als ein Mittel der Bürokratie und der Industriellen sehen, die nicht-muslimische Gruppe der so genannten Handelsbourgeoisie unter Kontrolle zu halten. Die Vermögenssteuer wird von verschiedenen Autoren als eine Maßnahme betrachtet, die die gezielte Schwächung der nicht-muslimischen Minderheiten bezweckte (Bora 2002a, 913). Sie war eine einmalige Steuermaßnahme, die diejenigen treffen sollte, die unter dem Verdacht standen, sie würden einen enormen Gewinn aus dem Krieg schlagen. Die Vermögenssteuer sollte innerhalb von 15 Tagen nach ihrer Festsetzung bezahlt werden. Nichtmuslime mussten im Vergleich zu Muslimen das 10fache und Konvertiten (im 17. Jh. zum Islam
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übergetretene Juden) sollten das Doppelte an Steuern zahlen. Wurde die Steuer nicht gezahlt, so drohten die Pfändung von Vermögen sowie das Arbeitslager (Yumul 2005, 102). In der Zeit des Mehrparteiensystems ab 1945 hat sich »die offizielle nationalistische Ideologie« von seinem totalitären Gehalt entfernt, allerdings dauerte das Spannungsverhältnis zwischen einem staatsbürgerlichen und einem ethnischen Verständnis der offiziellen Interpretation des Nationalismus an. Diesem Spannungsverhältnis fielen Tanil Bora zufolge insbesondere die Minderheitengruppen zum Opfer (Bora 2002a, 913). 1955 kam es in der Westtürkei zu pogromartigen Angriffen gegen die griechische Bevölkerung, da bekannt geworden war, dass das Haus von Mustafa Kemal Atatürk in Thessaloniki angeblich von einem Griechen angegriffen wurde. Daraufhin wurden von aufgebrachten Menschen, beginnend in Istanbul, griechische Kirchen und andere Einrichtungen angegriffen. Viele Griechen und andere Christen, die weitere Angriffe befürchteten, verließen daraufhin die Türkei. Die pogromartigen Übergriffe auf die griechische Minderheit im Jahr 1955 sind rückblickend als eine Inszenierung des türkischen Staates gedeutet worden, die dazu diente, die Minderheiten zum Verlassen der Türkei zu bewegen.
VII. Zur Diskussion um Staatsbürgerschaft in der Türkei im Kontext der Integration von ethno-kulturellen Gruppen seit den 1990er Jahren
In den vorhergehenden Kapiteln wurde der historische und begriffliche Hintergrund der Problematik des Nationalstaates, der Staatsbürgerschaft und der Integration von ethno-kulturellen Gruppen in der Türkei dargestellt und diskutiert. In den folgenden Kapiteln geht es darum, die aktuelleren Debatten, die ab den 1990er Jahren an Intensität gewonnen haben, zu beleuchten. Dabei ist die Frage, wie vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung des türkischen Nationalstaates die Problematik der Anerkennung von ethno-kulturellen Gruppen im politischen und sozialwissenschaftlichen Diskurs debattiert wird. Welche Lösungsansätze werden seitens der Politik und der Sozialwissenschaften diskutiert?
1. Z UR D EBATTE UM M INDERHEITEN UND S TAATSBÜRGERSCHAFT SEIT DEN 1990 ER J AHREN Seit Anfang der 1980er und verstärkt seit den 1990er Jahren gibt es in der Türkei sowohl im politischen als auch im sozialwissenschaftlichen Bereich eine rege Auseinandersetzung um die Frage von Nation, Staatsbürgerschaft und die Situation von ethno-kulturellen Minderheiten (Icduygu u.a. 1999; Kahraman 2005). Fikret Adanir argumentiert z.B., dass die türkische Öffentlichkeit unter anderem auch aufgrund der seit 1984 andauernden Unterdrückung der türkischen Volksgruppe in Bulgarien und der Flucht von Hunderttausenden bulgarischen Türken im Jahre 1989 für die Situation der Minderheiten im eigenen Land sensibilisiert wurde (Adanir 1995, 115). Bulgarische Türken waren einer kulturellen Unterdrückung
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durch das damalige kommunistische Regime ausgesetzt und durften z.B. ihren Kindern keine türkischen Namen geben. Viele bulgarische Türken verließen daraufhin Bulgarien und kamen dem Ruf der türkischen Regierung nach, sich in der Türkei niederzulassen. Die Debatte um Minderheiten kreiste in der Zeit ab den 1990er Jahren jedoch in der Hauptsache um die ungelöste kurdische Frage, die als innernationales Problem der Türkei andere Probleme überlagerte. Hinzu kam die internationale Dimension der kurdischen Frage. Im Zuge des 1. Golfkrieges (1991) suchten mehrere Hunderttausend irakische Kurden vor den Angriffen der irakischen Armee Zuflucht in der Türkei. Dies führte möglicherweise in der öffentlichen türkischen Debatte zu einer Sensibilisierung dem eigenen Kurdenproblem gegenüber. Die kurdische Frage wurde in den folgenden Jahren immer wieder als das politische Hauptproblem der Türkei bezeichnet (Adanir 1995, 113). 1984 hatte die PKK (Partiya Karkeren Kurdistan-Partei der Arbeiter Kurdistans) ihren bewaffneten Kampf um einen kurdischen Staat aufgenommen und dieser hatte Anfang der 1990er Jahre seinen Höhepunkt erreicht.1 Verschiedene Lösungsansätze für die kurdische Frage wurden in den 1990er Jahren diskutiert, so auch eine föderale Lösung. Insbesondere der damalige Staatspräsident Turgut Özal (1989-1993, seit 1983 Ministerpräsident) suchte nach einer politischen Lösung, die sogar eine föderalistische Option nicht ausschloss (Gürbey 1995). Auf Regierungsebene war dies ein weit reichender Vorstoß, der keine Entsprechung seit der Gründung der türkischen Republik hatte. Wie Gürbey feststellt, war die postputschistische Ära von Turgut Özal (1983-1993) generell geprägt »[…] durch eine Politik des Strukturwandels mit ökonomischem und politischem Modernisierungsschub und einer
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Die kurdische Frage in der Türkei kann jedoch nicht isoliert von regionalen Entwicklungen des Nahen Ostens gesehen werden (Kirisci und Windrow 1997, 119). Es würde den Gegenstand der Arbeit bei Weitem überschreiten, hier auf die regionalen politischen Zusammenhänge der kurdischen Frage einzugehen. [Zur »gesamtkurdischen« Frage siehe Chaliand (1992), Kutschera (1997), MacDowall (2000) oder van Bruinessen (2003)]. Wie sie jedoch mit der politischen Entwicklung in anderen Ländern, in denen Kurden eine bedeutende Gruppe darstellen, zusammenhängt, lässt sich an der gegenwärtigen Lage im Irak beobachten. Es wird gemeinhin davon ausgegangen, dass die faktische Autonomie der irakischen Kurden einen Einfluss auf die politischen Forderungen der türkischen Kurden haben könnte. Häufig wird argumentiert, diese könnten ermutigt werden, auch mehr Autonomie zu fordern und eventuell sogar mit den irakischen Kurden zusammenarbeiten, um einen gemeinsamen kurdischen Staat zu gründen. Auch wenn folglich die kurdische Frage betreffend eine unbekannte Größe im Spiel ist, dass nämlich politische Entwicklungen im Irak zu einer unerwarteten Dynamik im Mittleren Osten führen können, fokussiert die Arbeit die innertürkische Debatte.
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Zurückdrängung der traditionell dominierenden staatstragenden Eliten aus Bürokratie und Militär […]« (Gürbey 1995, 9). Jedoch wurde auch in dieser Periode eine allzu liberale Diskussion der Minderheitenfragen durch die offizielle Politik und die Militärs unterbunden, mit dem Argument, damit werde dem Separatismus Vorschub geleistet. Nach der Festnahme des in Syrien residierenden Führers der PKK, Abdullah Öcalan, im Jahre 1999 durch den türkischen Geheimdienst und dessen anschließender Verurteilung zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe, vollzog die PKK ihre größte ideologische Wende. Waren Mitte der 1990er Jahre noch AutonomieRechte für die kurdische Minderheit verlangt worden, so forderte der Führer der PKK zu Beginn des Jahres 2000 aus dem Gefängnis heraus eine »Demokratische Republik«, die auf der Gleichheit der Staatsbürger der Türkei basieren sollte. Hier lehnte er insbesondere mit Verweis auf die geographische Verteilung der kurdischen Gruppe in der Türkei, die in großer Zahl auch in den westlichen Großstädten der Türkei lebt, explizit eine föderale Lösung der kurdischen Frage ab, da diese aufgrund dieser demographischen Verteilung nicht praktikabel sei (Öcalan 2000, 128f.). Zudem argumentierte Öcalan, ein kurdischer Föderalstaat könnte die feudalen Strukturen der kurdischen Gesellschaft stärken (Öcalan 2000). Diese neue Linie der einflussreichsten kurdischen Organisation, die seit den frühen 1980er Jahren einen Prozess des Nationbuilding in Gang gebracht und zu einem neuen Nationalbewusstsein der Kurden in der Türkei beigetragen hatte, entspricht vielmehr einer Strategie, die auf Individualrechte basierende kulturelle Rechte der Staatsbürger/innen verlangt, wodurch die Einheit des Nationalstaates gewährleistet bleiben soll. Auch nähert sich der neue Ansatz der PKK dem Völkerrecht und internationalen Abkommen, die zwar die kulturellen Rechte für Minderheiten durch die Nationalstaaten geschützt wissen möchten, sich jedoch ebenso entschieden für die territoriale Integrität von Staaten aussprechen (Cavusoglu 1999, 85). Diese Praxis hat sich insbesondere nach den Erfahrungen des 2. Weltkrieges auch in der Universellen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen durchgesetzt. Besonders unter Liberalen war die Überzeugung vorherrschend, dass es genüge, die Individualrechte von Bürgern zu schützen, und es folglich keiner besonderen Kollektivrechte bedürfe (Kymlicka 1995a, 2f.).
2. Z UR U NWAHRSCHEINLICHKEIT EINER FÖDERALISTISCHEN L ÖSUNG DER KURDISCHEN F RAGE Die Türkei als zentralistischer Staat war bislang ernsthaft bestrebt, seine territoriale Integrität zu wahren. Die Durchsetzung der staatlichen Institutionen der
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Republik wie Verwaltung, Schulen, Militär etc. ist seit ihrer Gründung weit vorangeschritten und es ist zu einer teilweise weit reichenden kulturellen Assimilation der kurdischen und anderer Gruppen gekommen, so dass einem föderalen Staat die materielle Basis fehlen würde. Die in der Wirtschaft, Verwaltung, im Handel und in der Bildung gebrauchte Sprache ist in den kurdischen Regionen zumeist das Türkische. In einer Anfang der 1990er Jahre von Dogu Ergil im Auftrag der TOBB (Türkische Kammern- und Börsenvereinigung) durchgeführten Untersuchung2 unter der kurdischstämmigen Bevölkerung der Türkei kam zum Vorschein, dass neben dem Kurdischen auch das Türkische Verwendung findet. Danach gaben 15,1 % an, dass sie zuhause Türkisch sprechen. 14,2 % bedienen sich des Kurdischen und des Türkischen gleichzeitig. Immerhin 65,1 % sagten, sie würden zuhause Kurdisch sprechen (TOBB 1995, 12). Dagegen gaben 23,0 % an, dass sie außerhalb des Hauses Türkisch sprechen, 52,5 % Türkisch und Kurdisch. 21,5 % gaben an, dass sie auch außerhalb des Hauses hauptsächlich Kurdisch sprechen. Kurdisch als eine Sprache ohne offiziellen Status wird zumeist nur noch von der ländlichen Bevölkerung gesprochen. Es ist zu vermuten, dass das Türkische aufgrund seines Gebrauchs im ökonomischen Bereich in den urbanen Zentren der kurdischen Regionen noch weiter verbreitet ist. Der Gebrauch der türkischen Amtssprache steigt in dem Maße innerhalb der kurdischen Bevölkerung in dem es eine Alphabetisierung durch die türkische Schule gibt. Die kurdische Sprache konnte trotz ihrer Blütezeit im Mittelalter, in der sie auch literarische Bedeutung erlangte (Nezan 1996), in der späteren Zeit kaum eine institutionelle Bedeutung erlangen. Zudem wurde sie 1924 in der Türkei verboten und konnte sich somit nicht in den staatlichen Institutionen etablieren. Einer Lösung der kurdischen Frage auf der Basis eines türkisch-kurdischen Föderalstaates steht auch entgegen, dass andere ethno-kulturelle Gruppen (laut Andrews 1989 insgesamt 49), sich durch einen türkisch-kurdischen Föderalstaat diskriminiert bzw. nicht ausreichend repräsentiert fühlen könnten. Kurdische Parteien, wie die PSK (Partiya Sosyalist a Kurdistan, Sozialistische Partei Kurdistans) argumentieren in ihren Parteiprogrammen jedoch, dass im Rahmen einer
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Die Untersuchung wurde mithilfe eines standardisierten Fragebogens unter der kurdischstämmigen Bevölkerung der Türkei durchgeführt. Es wurden insgesamt 1267 Personen im Alter von 16-73 Jahren aus drei mehrheitlich von Kurden bewohnten Provinzen (Diyarbakir, Batman und Mardin) und aus drei südtürkischen Provinzen (Adana, Mersin und Antalya) befragt. Letztere sind Städte, in die die kurdische Landbevölkerung durch den Krieg zwischen der PKK und der türkischen Armee verstärkt Anfang der 1990er Jahre geflohen ist.
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föderalstaatlichen Lösung eines Türkisch-Kurdischen Staates von kurdischer Seite aus die Rechte der Minderheiten respektiert würden. Wie auch Dilek Kurban (2003, 220) argumentiert, gibt es insoweit keine realen Gründe für eine Abspaltung der größten Minderheit der Kurden, weil diese Gruppe nicht mehr auf einem zusammenhängenden Gebiet der Türkei lebt. Deshalb würden die Gewährung und der Gebrauch von Sprachenrechten nicht zwangsläufig zu einer Sezession führen. Kurban wendet sich gegen das Argument der Gegner von Minderheitenrechten, die befürchten, dass solche Rechte weitere Forderungen nach sich ziehen könnten.
3. D IE AUSEINANDERSETZUNG DER TÜRKISCHEN S OZIALWISSENSCHAFTEN MIT ETHNO - KULTURELLER D IVERSITÄT Aufgrund dieser Voraussetzungen gibt es seit Mitte der 1990er Jahre und besonders seit Abdullah Öcalans Thesen (siehe Abschnitt 1 dieses Kapitels) sowohl in liberalen politischen Kreisen als auch in der sozialwissenschaftlichen Debatte eine Suche nach einem integrativen Modell von Staatsbürgerschaft, mit dem verschiedene ethnische Gruppen zu repräsentieren und integrieren sind. Wie kulturelle Rechte für diese Gruppen materialisiert werden, d.h. wie sie institutionalisiert werden, ist eine Frage, auf die gesondert eingegangen werden muss. Nach dem Übergang vom 1980 an die Macht gelangten Militärregime zur ersten demokratisch gewählten Regierung unter Turgut Özal im Jahre 1983 kam es auch zu einem (Wieder-)Erstarken der zivilgesellschaftlichen Strukturen. Das türkische Militär hatte aufgrund innenpolitischer Spannungen und Kämpfe zwischen linken und rechten Organisationen zur Wiederherstellung der »Ordnung« geputscht und die zivile Regierung abgesetzt. Politiker kamen unter Arrest und die meisten zivilgesellschaftlichen Organisationen, wie Gewerkschaften, Verbände, Parteien usw. wurden verboten. Die erste zivile Regierung kam 1983 wieder an die Macht. In den öffentlichen Bereich wurden jetzt stärker als zuvor Symbole hineingetragen, die sich vorher nur im privaten Bereich äußern konnten. Während hierin eine sich äußernde Krise der »nationalen Identität« und eine Revitalisierung »einer Sprache der Differenz« gesehen wird, die zu einer relativen Autonomisierung der ökonomischen Aktivitäten, politischen Gruppen, und kulturellen Identitäten geführt und damit zu einem Hervorkommen einer »autonomen gesellschaftlichen Sphäre« beigetragen habe, wird auch konstatiert, dies habe zu essentialistischen »Identitätsforderungen« als vorrangige Referenzpunkte des politischen Diskurses geführt (Keyman 2000, 86).
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Einerseits wird diese nun stärkere Betonung von Differenz mit ökonomischen Veränderungen, nämlich einer stärkeren Exportorientierung und einer liberaleren Haltung gegenüber den Marktkräften innerhalb der türkischen Wirtschaft erklärt. Nach Fuat Keyman hat genau dieser Vorgang – obwohl vom Staat selbst zur Wiederherstellung einer wirtschaftlichen Basis eingeleitet – zu einer nichtintendierten Infragestellung des radikalen Säkularismus des kemalistischen Staates geführt. Andererseits bediente sich das Regime zum Zwecke der »Wiederherstellung« der gesellschaftlichen Einheit gegen die Trennlinien zwischen Linken und Rechten, die die Zeit vor dem Putsch dominierten, auch eines stärker islamisch geprägten Diskurses. Fuat Keyman formuliert dies folgendermaßen: »[…] by incorporating ›Islamic discourse and implicitly taking umma […] as its model of social organization‹, and also by abandoning ›the radical secularism of the early republic‹ to secure its popular support and to open up the domestic market to Islamic capital, the post-1980 military regime weakened the very conditions of existence of Kemalist nationalism and the republican state« (Keyman 2000, 83f.).
Obwohl die Verwendung des islamischen Diskurses seitens des Regimes als temporäre Maßnahme zur Restrukturierung des Politischen und zur Wiederherstellung der Macht des kemalistischen Staates dienen sollte, hat sie zu nicht beabsichtigten Folgen geführt: die temporäre und pragmatische Berufung des Regimes auf einen islamischen Diskurs, mit dem Ziel ideologische Einheit herzustellen, wurde zu einem wichtigen Faktor für das (Wieder-)Auftauchen von islamischen Sekten und islamisch orientierten politischen Parteien. In Keymans Worten führte dies zu folgender paradoxer Situation: »[…] the primary aim of the 1980 coup to depoliticize the society and to restructure political activity contained in itself a fundamental contradiction. Notwithstanding its overtly Kemalist orientation, the coup opened a discursive space for the revitalization of the language of difference; a discursive space which created a possibility for the marginalized and silenced identity to surface and express its resistance to the national secular identity as the privileged modern self« (Keyman 2000, 84).
Die Bekennung zu partikularen Gruppenzugehörigkeiten, die nun stärker in den öffentlichen Bereich getragen wurden, zählen nach Ayse Kadioglu religiöse und ethnische. Kadioglu schreibt dazu:
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»In the Turkish context, the urge to revise and redefine the notion of citizenship has stemmed from a visible accentuation of the expression of women’s as well as Islamic and Kurdish identities during the political climate of the late 1980s and 1990s. The presence of such differences that were earlier part of the private realm began to make their debut in the public realm. The absolute, homogeneous, all-encompassing category of Turkish citizenship was demystified and began to crumble due to the predominance of an ›identity politics‹ in Turkey based on gender-related, religious and ethnic identities« (Kadioglu 2005, 107).
In diesem Kontext wurde die als homogen gedachte türkische Staatsbürgerschaft nun zur Debatte gestellt. Besonders wurde hier argumentiert, dass trotz des Verwestlichungsprozesses der Türkei die Staatsbürgerschaft in sich nicht die »Sprache der individuellen Rechte und Freiheiten beinhalte« (Kahraman 2005, 70). Hasan Bülent Kahraman bringt dies folgendermaßen zur Sprache: »[…] Kemalism has fallen short in its attempt to create a civil notion of citizenship in the Western sense, although Westernization is the basic characteristic of the Kemalist period« (Kahraman 2005, 74). Die Unzulänglichkeit, die in der als universell konzipierten Staatsbürgerschaft gesehen wird, führte zu Kritiken, die aus den Reihen zivilgesellschaftlicher Organisationen, aber auch seitens von Wirtschaftsverbänden geäußert wurden. Obwohl die eigentliche Herausforderung des universellen Konzepts von Staatsbürgerschaft durch Forderungen nach Anerkennung von ethno-kulturellen Gruppen ab den 1980er Jahren erfolgte, sehen manche Autoren als Grund für die Auseinandersetzung über die Institution der Staatsbürgerschaft bereits die Frage der in den frühen 1960er Jahren beginnenden Emigration türkischer Staatsbürger in westliche Industriestaaten an. Icduygu u.a. führen hierzu aus: »The first challenge to the established notion of citizenship in Turkey was a consequence of international migration. Since the early 1960s, millions of Turkish citizens in search of work and a better life, and sometimes of political freedom, have left their home and been admitted as legal residents of Western countries« (Icduygu u.a. 1999, 198). Im Zusammenhang mit dieser Problematik wurde zu Beginn der 1980er Jahre immer häufiger die Frage aufgeworfen, wie der türkische Staat mit der doppelten Staatsbürgerschaft seiner im Ausland lebenden Staatsbürger umzugehen habe3 (Icduygu u.a. 1999).
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Seit der Emigration aus der Türkei in den 1960er Jahren wurde diese Frage staatsbürgerlicher Rechte für die in den europäischen Industriestaaten sesshaft gewordenen Einwanderer aus der Türkei immer dringlicher. Im April 1981 wurde seitens der Republik Türkei die doppelte Staatsangehörigkeit akzeptiert, um die eigenen Staatsbürger nicht an ihre Einwanderungsländer zu »verlieren«. Diese haben in dieser Zeit ver-
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Die verstärkte Präsenz von partikularen Identitäten im öffentlichen Raum war als eine Herausforderung an die als universell konzipierte türkische Staatsbürgerschaft zu sehen (Icduygu u.a. 1999, Baban 2005). Hier kam es seit Beginn der 1980er Jahre insbesondere seitens des politischen Islam und der kurdischen Nationalbewegung zu Forderungen nach Ausweitung der Staatsbürgerschaft. Auch die religiöse Gruppe der Aleviten wird von manchen Autoren zu den Gruppen gezählt, die begannen, neben den beiden anderen um Anerkennung ihrer Identität zu kämpfen (Icduygu u.a. 1999). Diese Gruppen forderten eine Anerkennung ihrer Identität auch im öffentlichen Raum und stellten somit die republikanische nationale Identität in Frage. »It is within this context that the issue of constitutional citizenship began to occupy a place in the various spheres in the Turkish public, government and state« (Icduygu u.a. 1999, 200). Die öffentliche Debatte um Staatsbürgerschaft wurde über die Medien rezipiert und transportiert. Ebenso wurde dem Thema in akademischen Zirkeln ein wachsendes Interesse zuteil (Kadioglu 20054, Icduygu u.a. 1999, 201) und in politischen Zirkeln wurde der Begriff »Konstitutionelle Staatsbürgerschaft« (türkisch: anayasal vatandaslik) diskutiert, der sogar vom damaligen Staatspräsidenten Süleyman Demirel gebraucht wurde (Kadioglu 2005, 107, Kirisci und Windrow 1997, 2). Im gleichen Jahr, 1994, wurde dieser Begriff auch von der damaligen Ministerpräsidentin Tansu Ciller in die Debatte eingeführt. Nach Icduygu u.a. änderte sie die ursprüngliche Formulierung Mustafa Kemal Atatürks »wie glücklich ist der, der sagen kann, ich bin ein Türke« um in »what a happiness to the one who says I am a citizen of Turkey« (Icduygu u.a. 1999, 201). Konstitutionelle Staatsbürgerschaft (»constitutional citizenship«) wurde häufig in Bezug zu einer verfassungsrechtlich garantierten übergreifenden, supranationalen europäischen Staatsbürgerschaft thematisiert, die die Bezeichnung einer gemeinsamen Identität für »the diversity and integrity of the different forms of life coexisting in a multicultural environment« sicherstellen sollte (Icduygu u.a. 1999, 192). So führen Icduygu u.a. aus:
stärkt angefangen, zumeist aus pragmatischen (Aufenthaltserlaubnis) aber auch aus politischen Gründen (z.B. Wahlrecht im Aufenthaltsland), die Staatsbürgerschaft des Residenzlandes anzunehmen (Icduygu u.a. 1999, 198f.). 4
Kadioglu spricht in diesem Zusammenhang von einer wachsenden Zahl an wissenschaftlichen internationalen und nationalen Konferenzen ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, die sich mit dem Thema der Staatsbürgerschaft, nationaler Identität und Multikulturalismus in der Türkei beschäftigten (Kadioglu 2005, 120, Fußnote 1).
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»The original idea of constitutional identity, constitutional citizenship, or constitutional patriotism suggests that democratic citizenship in our modern states does not need to be rooted in the national identity of people. However, it does require that citizens, without divorcing themselves from their diversity of different cultural forms of life, should be socialized into a common political culture« (Icduygu u.a. 1999, 192).
Als normatives, ideologisches Konzept soll die konstitutionelle Staatsbürgerschaft zur Herstellung einer neuen kollektiven Identität und einer gemeinsamen Kultur führen, die die sozio-kulturellen Bedingungen für die Herausbildung eines allgemein geteilten politisch-kulturellen Selbstverständnisses einer Gesellschaft über die unterschiedlichen kulturellen Orientierungen verschiedener ethno-kultureller Identitäten liefert (Icduygu 1999 u.a., 192). Gleichzeitig wird Konstitutionalismus, d.h. der verfassungsmäßige Rahmen einer Gesellschaft, als Möglichkeit gesehen – gerade in Zeiten der Globalisierung – Artikulationsräume für kulturelle (ethnische, religiöse oder sexuelle) Differenz zu bieten, die verhindern sollen, dass »Differenzansprüche zu fundamentalistischen politischen Strategien« werden. Dennoch besteht durch die Anerkennung von Differenzen im öffentlichen Bereich diese Gefahr (Icduygu und Keyman 2004, 161).5 In etwa zeitgleich zu diesen Debatten über die türkische Staatsbürgerschaft wurde, wie Ayse Kadioglu ausführt, von Einzelnen vermehrt die Selbstbezeichnung »Türkiyeli« (Einwohner der Türkei) gebraucht. Damit grenzten sie sich bewusst von der Bezeichnung »Türk« (Türke/Türkin) ab. Nach Kadioglu ist diese Verschiebung als eine Demystifizierung der offiziellen Sicht der Staatsbürgerschaft zu sehen. Diese offizielle Sicht, die durch die nationalistische Staatsdoktrin perpetuiert wurde und in der bisherigen Praxis gegenüber anderen ethnokulturellen Gruppen assimilatorisch war, kommt in der berühmten Aussage Mustafa Kemal Atatürks: »Wie glücklich ist der, der sagen kann, ich bin ein Türke!« (türkisch: »Ne mutlu Türküm diyene!«) zum Ausdruck (Kadioglu 2005, 108). Festzuhalten ist, dass die Debatten um Staatsbürgerschaft und die Inklusion von ethno-kulturellen Gruppen in einer »moderneren« Gestalt ab den 1980er Jahren begannen und in den 1990er Jahren – als die kurdische Frage die politi-
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Icduygu und Keyman fragen sich deshalb: »[…] wenn in einer sich globalisierenden Welt die Ansprüche auf Differenz in den öffentlichen Bereich getragen werden und dies eine unwiderlegbare ontologische Tatsache darstellt, und wenn dieses Hineingetragenwerden immer auch die Gefahr des Anschlusses an Fundamentalismus in sich birgt, auf welcher Grundlage wird dann der ›Subjektstatus‹ dieses Konstitutionalismus-Ansatzes, der das ›Zusammenleben der Differenzen ermöglichen‹ soll, aufgebaut sein?« (Icduygu und Keyman 2004, 162, Übers. E.G.).
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sche Öffentlichkeit besonders beschäftigte – an Dynamik gewannen. Während einer föderalstaatlichen Lösung der kurdischen Frage die materielle Basis – im Sinne einer demographischen Konzentration der kurdischen Bevölkerung auf einem abgrenzbaren Gebiet und des Kurdischen als Amtsprache – zu fehlen scheint, wurde in diesen Debatten stärker auf die Ausweitung und Neudefinition der Staatsbürgerschaft fokussiert.
4. Z UR D EBATTE UM DIE B EGRIFFE »T ÜRK « 6 7 VERSUS »T ÜRKIYE ’ LI « Wie in den vorherigen Kapiteln festgestellt wurde, hat der Begriff »Türke« bzw. die staatsbürgerliche Zugehörigkeit »Türke« im Lauf der Republikgeschichte eine Ethnisierung erfahren, die darin mündete, dass andere Gruppen als die ethnische türkische Gruppe, vor allem aber die christlichen Gruppen im herrschenden politischen Diskurs als »Andere« wahrgenommen wurden. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Bezeichnung »Türk« in der Gründungsphase der Republik in einem politischen und republikanischen Verständnis alle Bewohner der Türkei – ungeachtet ihrer ethnischen Zugehörigkeit – unter der Bedingung als Türken akzeptierte, dass sie als Staatsbürger der Türkei die »türkische Sprache, Kultur und die nationalen Ideale« annahmen. Auch wenn dieser anfängliche Begriff von »Türkisch-Sein« nicht ethnisch ist, so ist er doch insofern sehr kulturell geprägt als er die gemeinsame Zugehörigkeit zur noch zu schaffenden »türkischen Kultur« als Bedingung für das Türkisch-Sein definiert. Dieses kulturelle, aber als politisch angesehene, Verständnis des Türkisch-Seins, das sich mit der offiziellen kemalistischen Version des Nationenbegriffs deckt, bildet einen dominierenden Strang des Verständnisses von Nation in der Türkei. Nach Arus Yumul lassen sich zwei weitere Begriffe von Türkisch-Sein ausmachen, die in der türkischen Republikgeschichte eine bedeutende Stellung innehatten: 1. eine religiös-islamische Sichtweise, die davon ausgeht, dass die muslimische Bevölkerung der Türkei türkisch ist und 2. eine ethnische bzw. rassische Auslegung, die davon ausgeht, dass die Türken Anatoliens mit den turksprachigen Völkern Mittelasiens durch eine ethnische Verwandtschaft verbunden sind. Dieses letztere Verständnis von Türkisch-Sein geht von einer rassischen Gruppe der Türken aus und entspricht dem politischen Ziel der Schaffung eines Turan-Reiches (siehe hierzu Özdogan 2001, Landau 1995). Es ist nach
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Deutsch: Türke, türkisch
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Deutsch: »Einwohner der Türkei"
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Yumul jedoch davon auszugehen, dass diese drei Formen des Verständnisses von Türkisch-Sein innerhalb des offiziellen Verständnisses in unterschiedlichen Maßen und Gewichtungen ihren Platz gefunden haben, und der politische (kulturelle), religiöse und ethnische Begriff ineinander übergegangen sind und zu einem verschwommenen Begriff türkischer Identität geführt haben (Yumul 2005, 104). Baskin Oran (2004a, 87f.) führt Beispiele aus der Geschichte an, die zeigen sollen, dass der Begriff Türke entgegen seines ursprünglichen Gebrauchs bei Mustafa Kemal Atatürk, der anfänglich vom »Volk der Türkei« sprach, häufig in einem ethnischen Sinne gebraucht wurde. Zwar wird in Artikel 66 Abs. 1 der Verfassung von einem »staatsbürgerlichen Band«, das die Bürger mit dem Staat verbindet, gesprochen und somit eine staatsbürgerlich-territoriale Definition eingeführt, dennoch ist der Begriff »Türke« – wie bereits dargelegt – in den 1930er Jahren ethnisiert worden (Yildiz 2001). Beispielsweise enthält das Gesetz zur Zwangsumsiedlung der kurdischen Bevölkerung von 1934 die Ausdrücke »der türkischen Kultur verbunden« (türk kültürüne bagli), »türkische Abstammung« (türk soyu) sowie sechs Mal den Begriff »Rasse« (irk) (Oran 2004a, 88). Die Praxis, die ethnisch verstandene türkische Identität zu überprüfen, wird in einer am 04. Mai 2004 in der »Resmi Gazete« (Amtszeitung) veröffentlichten Richtlinie, die eine alte Richtlinie zum Erwerb der Staatsbürgerschaft ersetzen soll, fortgeführt. Demnach sollen der Staatssicherheitsdienst (MIT), das Emniyet Genel Müdürlügü (Generaldirektorium der Polizei) und die Gouverneure der Provinzen Auskunft über die Abstammung (soy durumu) von Antragstellern einholen (Oran 2004a, 89). Einen weiteren Beleg für die ethnische Auslegung der Bezeichnung »Türke« sieht Oran darin, dass im Bezug auf nicht-muslimische Minderheiten, wie die Armenier oder Griechen nicht von »Türken« gesprochen wird, sondern von »Staatsbürgern« (vatandas). Oran argumentiert, dass Türkisch-Sein folglich auch die Zugehörigkeit zum sunnitischen Islam erfordere (Oran 2004a, 91). In der »Verwaltungsverordnung zum Schutz vor Sabotagen« vom 28. Dezember 1988, die bis 1991 Bestand hatte, werden Bevölkerungskategorien genannt, von denen eine Gefahr ausgehen könne. Hier wird die Formulierung »Einheimische Fremde und fremde Rassen« benutzt und es werden nicht-muslimische Gruppen aufgezählt. Die Bezeichnung »fremde Rassen« zielt nach Oran auf diejenigen ab, die nicht zur türkischen ethnischen Gruppe gezählt werden (Oran 2004a, 90). Beispielsweise wurde in einer Entscheidung eines Istanbuler Verwaltungsgerichts vom 17.4.1996 von einem griechischstämmigen türkischen Staatsbürger als von einem »Staatsbürger der Türkei ausländischer Herkunft« gesprochen.
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Noch im Jahre 2004 sollten laut Gesetz über private Bildungseinrichtungen (Artikel 24/2) zufolge von Ausländern eröffnete Schulen einen türkischen Vizedirektor zur Seite haben. Minderheitenangehörige in der Türkei, die türkische Staatsbürger sind, werden demzufolge nicht als »Türken« gesehen. Denn der Artikel 24/2 definiert die Eigenschaften des türkischen Vizedirektors wie folgt: »türkischer Abstammung und Angehöriger der Republik Türkei« (Oran 2004a, 91). Des Weiteren findet man keine nicht-muslimischen Staatsangehörigen als Beamte bei den Streitkräften, den Sicherheitskräften oder anderen staatlichen Einrichtungen von hoher Bedeutung für die Sicherheit des Staates. Diese von Baskin Oran zitierten Beispiele verdeutlichen, dass entgegen eines inklusivistischen Diskurses über Nation (»jeder Staatsbürger der Türkei hat die gleichen Rechte«), auf das sich politische Vertreter von Zeit zu Zeit berufen, in der administrativen Praxis eine stark exkludierende und diskriminierende Haltung gegenüber den »Anderen« der türkischen Nation vorherrscht. 4.1 Der Bericht der Arbeitsgruppe »Minderheitenrechte und kulturelle Rechte« und die Reaktionen darauf In einem im Oktober 2004 veröffentlichten und dem Ministerialamt unterbreiteten Bericht der Arbeitsgruppe »Minderheitenrechte und kulturelle Rechte« des beratenden Ausschusses für Menschenrechte8, der an das türkische Ministerpräsidialamt angegliedert ist, wird argumentiert, dass die Bezeichnung »Türk« von den Minderheitengruppen in der Türkei als eine exklusiv die türkische Gruppe repräsentierende Bezeichnung angesehen wird. Damit sei dieser Begriff nicht in der Lage, alle ethnischen Gruppen der Türkei zu repräsentieren. Die Mitglieder des Ausschusses9 schlugen deshalb in diesem Bericht vor, eine Änderung der
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Der Ausschuss heißt offiziell auf Türkisch: Basbakanlik Insan Haklari Danisma Kurulu »Azinlik ve Kültürel haklar calisma grubu«. Bei diesem an das Ministerpräsidialamt angegliederten beratenden Ausschuss für Menschenrechte handelt es sich um eine Institution, die zur Erfüllung der politischen Kopenhager Kriterien der EU mit Gesetz vom 12.4.2001 von der damaligen türkischen Regierung eingerichtet wurde (Oran 2004b, 18).
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Von den 78 Mitgliedern des Ausschusses waren 19 Bürokraten als Vertreter von staatlichen Einrichtungen, wie z.B. dem Justizministerium. 53 Vertreter stammten von Nichtregierungsorganisationen (NGO’s), wie z.B. Menschenrechtsvereinen. Unter diesen Nichtregierungsorganisationen befanden sich jedoch auch regierungsnahe NGO-ähnliche Organisationen, die als GONGO’s (Government-oriented Non-governmental Organisation) bekannt sind. Sie vertraten jedoch eine prononciert staatstreue
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türkischen Verfassung vorzunehmen und die Bürger der Türkei nicht mehr als Türken zu bezeichnen, sondern als »Türkiyeli« (sinngemäß: Einwohner der Türkei). In dem Bericht wird folgendermaßen argumentiert: »Die Türkei hat, als das Osmanische Reich zerfiel und sie dieses ersetzte, von ihr Subidentitäten10 (verschiedene ethnische, religiöse u.a. Gruppen) als Erbe übernommen. Während die übergeordnete Identität (die dem Bürger vom Staat verliehene Identität) im Imperium ›Osmanisch‹ war, wurde sie in der türkischen Republik als ›Türkisch‹ definiert. Diese übergeordnete Identität ist geneigt, die Bürger rassisch und sogar religiös zu definieren. […] Dieser Zustand hat dazu geführt, dass sich Subidentitäten, die sich nicht zur türkischen Rasse zählen, in problematischer Weise abgewendet haben. Würde diese übergeordnete Identität Türkiyeli (sinngemäß: Einwohner der Türkei, Anmerkung E.G.) lauten, wäre dieser Umstand nicht aufgetreten. Indem sie sich nämlich völlig auf ein Territorialrecht stützen und das Blutrecht ausschließen würde, wäre sie in der Lage gewesen, alle Subidentitäten in gleichberechtigter Weise zu umfassen ohne sie mit ethnischen, religiösen u.a. Merkmalen zu vermengen. In dieser Frage ist die Definition von Staatsbürgerschaft durch die Verfassung von 1982 viel enger gefasst als in der Verfassung Atatürks von 1924. Die Verfassung von 1924 benutzte den Begriff ›Bürger der Türkei‹. Dieser Begriff erinnert an die von uns benutzte territoriale übergeordnete Identität ›Türkiyeli‹. Diese übergeordnete Identität wird in der Lage sein, die früher synonym gebrauchten Begriffe ›Nationalität‹ (die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe) und ›Staatsbürgerschaft‹ (die rechtliche Beziehung des Individuums zum Staat) als voneinander getrennt und unabhängig zu handhaben und alle auf diesem Boden lebenden Subidentitäten ausnahmslos zu umfassen. Es besteht kein Zweifel daran, dass sich die somit aus ›freiwilligen‹ Bürgern ergebende Nation ihren Staat noch viel stärker annehmen wird« (Basbakanlik Insan Haklari Danisma Kurulu 2004, 29; Übers. E.G.).
Die Bezeichnung Türkiyeli wird somit als eine übergeordnete, nichtethnische Bezeichnung für die ethnisch heterogene Gesamtbevölkerung der Türkei vorge-
Position. Schließlich waren die übrigen 6 Mitglieder des Ausschusses Experten, die zu Menschenrechtsfragen arbeiten und aus dem universitären Bereich kommen, so auch Baskin Oran selbst (Oran 2004b, 18). 10 Die Diskussion um »Subidentitäten« (türkisch: alt-kimlik) wird im Verhältnis zu einer übergeordneten Identität (üst kimlik) geführt. Wie aus dem Bericht hervorgeht, geht es hierbei v.a. um die Bestimmung des Verhältnisses von unterschiedlichen ethno-kulturellen Gruppen – »Subidentitäten« – zur nationalen Bezeichnung »Türk« (Türke/Türkin).
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schlagen. Es findet im Bericht, der im Sinne eines Vorschlags an die Regierung gedacht war, auch Berücksichtigung, dass das anfängliche Verständnis von Türkisch-Sein in der durch Mustafa Kemal geprägten Verfassung von 1924 nicht ethnisch war. Darin war die Rede von »Bürgern der Türkei«. Durch diesen Verweis soll auch unterstrichen werden, dass der Vorschlag, die Bezeichnung »Türkiyeli« in die Verfassung zu übernehmen, konform mit der anfänglichen Konzeption Mustafa Kemal Atatürks ist. In der öffentlichen politischen Diskussion hat dieser Vorschlag jedoch zu großen Kontroversen geführt (Oran 2004b). Obwohl es sich beim Ausschuss für Menschenrechte um eine durch die Regierung eingesetzte Einrichtung handelt, hat sich die AKP-Regierung unter Recep Tayyip Erdogan schließlich vom Bericht distanziert und verlautbart, sie habe den Bericht nicht in Auftrag gegeben. Im Anschluss an die öffentliche Bekanntmachung des Berichtes, wurde er von verschiedenen nationalistisch gesinnten Medien und Abgeordneten der Nationalversammlung angegriffen. Baskin Oran, als Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Ankara Mitglied und einer der Hauptakteure des Ausschusses, zählt folgende inhaltliche Kritiken11 am Bericht auf (siehe hierzu Oran 2004a und 2004b, 20f.): Der Bericht wolle den Vertrag von Lausanne (1923) aufheben und den von Sèvres (1920) wiederbeleben. Diese Kritik zielt darauf, die vermeintliche Gefahr einer Teilung der Türkei aufzuzeigen. Denn nach dem Friedensvertrag von Sèvres (1920) sollten Armenier und Kurden jeweils eigene Staaten gründen dürfen. Die Bestimmungen des Vertrags von Sèvres traten jedoch niemals in Kraft, denn die jungtürkische Bewegung führte zwischenzeitlich (1919-1922) einen Unabhängigkeitskampf gegen die Besatzungsmächte. Der Vertrag von Sèvres, der die Kapitulation des Osmanischen Reiches besiegelte, wurde somit durch den für die Türkei günstigeren Friedensvertrag von Lausanne (1923) ersetzt. Der Friedensvertrag von Lausanne, der nach dem Unabhängigkeitskampf zu den heutigen Grenzen der Türkei geführt hat, verlieh nur noch den religiösen Gruppen, wie Juden und Christen den Minderheitenstatus und daraus abgeleitete Rechte. Auf die Bestimmungen dieses Vertrages beruhend werden bis heute die Kurden nicht als eigene Minderheit anerkannt (siehe Kapitel VI.6). Folglich befürchten die Kritiker, dass die Revision des Begriffs »Türk« dazu führen könnte, die im Vertrag von Sèvres vorgesehenen Pläne zur Schaffung eines armenischen und eines kurdischen Staates zu aktualisieren.
11 Im Folgenden wird von »Kritik« am Bericht gesprochen, jedoch waren die Reaktionen seitens der Medien oder politischer Vertreter teilweise äußerst aggressiv und wurden in einem Ton der Bedrohung vorgetragen.
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Der Bericht ziele darauf ab, die unitarische Staatsform der Türkei abzuschaffen, und das Land zu teilen. Neben parlamentarischen Kritikern, die die Einheit des Staates gefährdet sahen, meldete sich auch die Armeeführung zu Wort und teilte mit, sie billige die Diskussion über die unitarische Staatsform der Türkei nicht. In diesem Kontext ist auch die Reaktion des damaligen türkischen Staatspräsidenten Ahmet Necdet Sezer von Bedeutung, da sie die offizielle staatliche Linie wiedergibt: »Die über kulturelle Rechte hinausgehende Hervorhebung der ethnischen, religiösen, konfessionellen Identitäten von zusammenlebenden Gruppen, führt über die Schwächung des Nationalstaates hinaus zur Beschädigung der nationalen Einheit. […] Im unitarischen Staat sind Land, Nation und die Souveränität eins, sie können nicht geteilt werden. Das gründende und eigentliche Element der Türkischen Republik ist eins und ist die türkische Nation« (zitiert nach Oran 2004b, 23, Übers. E. G.)
Diese Definition von Nation und Unitarismus erinnert sehr an das französische Verständnis von Nation, die auch als unteilbar konzipiert wird. Ahmet Necdet Sezer erkennt in seiner Stellungnahme kulturelle Rechte im Sinne einer »individuellen Staatsbürgerschaft« (»citoyenneté individuelle«, Dominique Schnapper 2004, 135) an, unterstellt aber, dass eine darüber hinausgehende »Hervorhebung« von ethnischen Gruppen zur Teilung der unitarischen Nation führen würde. Folglich definiert der Staatspräsident »das eigentliche Element« der Türkischen Republik, nämlich die »türkische Nation« als politische Gemeinschaft, die sich auf eine individuelle Staatsbürgerschaft stützt, sich jedoch durch die Gültigkeit der türkischen »Staatskultur« (da diese durch die Verfassung vorgegeben ist) auszeichnet, in der es individuelle und nicht kollektiv definierte kulturelle Rechte geben kann. Man versuche mit dem Bericht Minderheiten zu schaffen und die Türkei zu teilen. Diese Kritik stützt sich auf die Bestimmungen der türkischen Verfassung, die nur die türkische Nation als Souverän anerkennt. Zahlreiche Bestimmungen im Parteiengesetz oder im Strafgesetzbuch verbieten die Behauptung, es gebe in der Türkei Minderheiten. Davon sind jedoch die durch den Lausanner Friedensvertrag geschützten nicht-muslimischen religiösen Gruppen ausgenommen. Als Beispiel für eine unmittelbare Kritik am Bericht des Ausschusses, die in diese Richtung zielt, zitiert Oran eine Aussage des Kommandeurs des Ersten Heeres der türkischen Armee, Generalleutnant H. Tolon: »Wer soll eine Minder-
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heit in diesem Land sein? Jeder hat soviel Rechte wie ein türkischer Staatsbürger. Niemand hat Rechte, die über die türkische Staatsbürgerschaft hinausgehen« (Oran 2004b, 23; Übers. E.G.). Diese Aussage, die auch von Politikern, Rechtswissenschaftlern, Medien usw. unter Verweis auf die Definition von Staatsbürgerschaft in der türkischen Verfassung gemacht wird, geht von dem Grundsatz aus, dass die türkische Nation eins und unteilbar sei und dass die Behauptung, es gebe Minderheiten diese Einheit in Frage stellt. Dieses Argument, das sich mit der zuvor erwähnten Kritik deckt, ist als besonders problematisch anzusehen, weil es als Begründung für die Ablehnung der Existenz von »soziologischen Minderheiten« (z.B. der kurdischen) – im Gegensatz zu den offiziell als Minderheiten anerkannten Gruppen (bestimmte christliche Gruppen) – dient. Schließlich richtet sich eine Kritik besonders gegen die Bezeichnung »Türkiyeli« (Einwohner der Türkei). Der im Bericht ausdrücklich gemachte Vorschlag, statt der bisher gängigen Bezeichnung »Türken« für das Staatsvolk der Türkei die Bezeichnung »Einwohner der Türkei« (Türkiyeli) in die Verfassung zu übernehmen, wurde Baskin Oran zufolge am Vehementesten angegriffen. Oran argumentiert, dass die Ablehnung des Begriffs deshalb so groß war, weil dadurch alte Gewohnheiten geändert werden müssten, und Neues zunächst abschreckend erscheine. Jedoch nehmen die Kritiken auch wieder die Angst vor einer Teilung des Landes auf, da mit der Einführung des Begriffs Türkiyeli verschiedene Gruppen anerkannt würden. Dies könne die Einheit zerstören. Andere Kritiker wiederum sehen die Dominanz der türkischen Identität in Gefahr. Wiederum andere argumentieren, die Änderung der Bezeichnung für die Bevölkerung der Türkei werde keine Veränderungen mit sich bringen. Ein interessanter Einwand kommt hauptsächlich von kurdischen Nationalisten, die argumentieren, dass die Bezeichnung »Türkiyeli« etymologisch mit »türkisch« zusammenhängt, und dass er somit die Dominanz einer ethnischen Gruppe weiter festschreibt. Stattdessen fordern sie z.B. den Namen »Anatolische Republik«. (Oran 2004b, 24f.) Festzuhalten gilt, dass der Begriff »Türkiyeli« durch den Bericht als eine Alternative zur bislang gängigen Bezeichnung »Türk« gesehen wird, die es ermöglichen soll, die nationale Einheit der Türkei unter Anerkennung der ethno-kulturellen Differenzen zu erhalten. Potentiell integriert bzw. repräsentiert dieser Begriff alle Formen ethno-kultureller Gruppen in der Türkei. Jedoch wird damit noch nicht geklärt, welche Rechte diese erhalten. Bei einer politischen Anerken-
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nung von ethno-kulturellen Gruppen und deren Ausstattung mit Minderheitenrechten besteht möglicherweise die Gefahr der Entstehung von segregierten Gemeinschaften und einer fragmentierten Gesellschaft. Jedoch konnte auch das bislang gültige Verständnis von Türkisch-Sein, das auf Assimilation und Verneinung beruhte, keine demokratische Integration dieser Gruppen leisten. Obwohl der Bericht primär den Charakter einer Kritik des assimilatorischen und exklusiven ethnischen Nation-Verständnisses in der Türkei hat und darauf abzielt, mithilfe einer neuen Bezeichnung für die Staatsbevölkerung zu einer größeren Repräsentanz von ethno-kulturellen Gruppen beizutragen, könnte die Schwäche des Begriffs »Türkiyeli« genau darin liegen, dass er eine konstruierte Bezeichnung darstellt, die in der Praxis wenig handhabbar sein dürfte. Dagegen scheint eine andere Position nämlich in der Bezeichnung »Türk« sehr wohl die Möglichkeit zu sehen, andere Gruppen als die ethnische türkische Gruppe einzubeziehen. So führt Gökcenay aus, dass die kulturellen Rechte aller »Türken, unabhängig ihrer ethnischen Herkunft« unter Garantie genommen werden sollten (Gökcenay 2004, 152, Hervorh. E.G.). Die Stoßrichtung des Berichts und des Vorschlags »Türkiyeli« ist jedoch die Schaffung einer übergeordneten Zugehörigkeitsbezeichnung für alle Staatsbürger/innen der Türkei. Insofern entspricht sie einer Art konstitutioneller Staatsbürgerschaft, die den als ethnisch geltenden Begriff »Türk« als Bezeichnung für die Gesamtbevölkerung der Türkei ersetzen und somit inklusiv gegenüber anderen Gruppen sein soll. 4.2 Die Debatte um die Begriffe »Türk« versus »Türkiyeli« anhand eines Interviews mit einem Intellektuellen Minderheitenangehörigen Im Folgenden möchte ich gestützt auf ein Interview12 mit einem Intellektuellen Minderheitenangehörigen, näher auf die Problematik der Begriffe »Türk« versus »Türkiyeli« eingehen. Der Intellektuelle Minderheitenangehörige ist in seiner gesellschaftlichen Position einerseits »Betroffener« (weil er selbst Teil einer Minderheit ist) und andererseits »Experte« der Minderheitenproblematik in der Türkei. Als gesellschaftlicher Akteur ist seine Argumentation zwar an seine Selbstdefinition als Minderheitenangehöriger gebunden und insofern subjektiv. Sie illustriert jedoch die Leitlinien der Debatte um die Anerkennung von Minderheiten im türkischen Kontext.
12 Das Interview wurde in türkischer Sprache geführt. Es handelt sich bei den Ausschnitten folglich um die deutschen Übersetzungen.
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Der Intellektuelle Minderheitenangehörige sieht die übergeordnete Kategorie »Türkiyeli« als einen Alternativbegriff zur von ihm als ethnisch kritisierten Bezeichnung »Türk« an: »Ich sage, dass ich Einwohner der Türkei bin (im türkischen Original: Türkiyeli, Anm. des Übers.). Wenn sie jedoch verlangen, dass ich sage, ich sei Einwohner der Türkei und sei ein Türke; nein ich fühle mich nicht als Türke. Weil ein Türke in meiner Wahrnehmung wie ich auch einer Subkultur (im Türkischen »alt kültür«, gemeint ist eine ethnische Gruppe als Untergruppe der Gesellschaft, Anm.E.G.) angehört. Eine Subkultur, eine türkische Kultur. Und wenn ich sage, dass ich Türke bin, glaube ich, dass ich meiner eigenen Identität, meiner Minderheitenidentität untreu werde. Ich bin Einwohner der Türkei, ja, das sage ich erhobenen Hauptes. Ich bin Bürger der Republik Türkei. Das sage ich erhobenen Hauptes. Deshalb fühle ich mich sogar geehrt. Aber ich bin auch stolz, Mitglied einer Minderheit zu sein« (Interview mit dem Intellektuellen Minderheitenangehörigen, S. 3f.).
Gleichzeitig sollte dem Intellektuellen Minderheitenangehörigen zufolge die Einheit des türkischen Staates nicht zur Debatte stehen. Die kurdische nationale Bewegung sieht er in diesem Kontext als eine Gefahr für diese Einheit des Staates an. Denn die Forderungen mancher Kurden würden über die Forderung nach kulturellen Rechten hinausgehen, und zielten auf die Gründung eines eigenen kurdischen Staates. Im folgenden Abschnitt thematisiert er zudem die Chancen für eine gesellschaftliche Annahme des Begriffs »Türkiyeli«: »Meiner Meinung nach müsste die Chance groß sein. Wenn die Türkei ein demokratisches Land sein will, diese Dinge verinnerlichen will, müsste das akzeptiert werden. Also die Frage ist die: Es ist nicht ein Problem, das auf eine mehrere Zehntausend Menschen zählende Minderheit bezogen ist. Aber es gibt z.B. Millionen von Kurden, und wenn diese Kurden auch sagen, ich bin Einwohner der Türkei13 und ich bin Kurde, dann muss dem Respekt entgegengebracht werden. Wenn diese Leute es auch ablehnen, sich als Einwohner der Türkei zu sehen, dann müssen wir ihnen gemeinsam entgegentreten. Denn es ist wirklich eine Anstrengung zur Vernichtung unserer Einheit. Das würde ich verstehen. Es würde die unitarische Struktur zerstören. Was soll das aber sein, wenn er akzeptiert, Einwohner der Türkei (im Sinne von Türkiyeli, Anm.E.G.) zu sein? Dann heißt es, dass er die nationale Identität akzeptiert, die übergeordnete Identität akzeptiert. Wenn uns aber die übergeordnete Identität »Türke« aufgezwungen wird, muss ich sagen, dass das ein Fehler ist, auch wenn es
13 »Türkiyeli« im Original, nachfolgende Übersetzungen dieses Begriffs identisch, Anm.E.G.
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so in der Verfassung enthalten ist. Das ist meine Aufgabe. Also nein, auch wenn sie es mir so zur Akzeptanz aufzwingen, heißt es nicht, dass ich das so verinnerliche. Das soll jeder wissen. Es soll jeder wissen, dass ich nicht daran glaube, wenn ich sage, ich bin Türke. Wenn ich sage, ich bin Türke, will ich eigentlich sagen, ich bin Minderheitenangehöriger.« (Interview mit dem Intellektuellen Minderheitenangehörigen, S. 4).
Analog zu Elise Massicards (2006) Feststellung, dass politische Forderungen in der Türkei von der Bekundung zur nationalen Treue gerahmt werden, erhebt der Intellektuelle Minderheitenangehörige seine Forderung nach Anerkennung der ethno-kulturellen Vielfalt gemeinsam mit der Forderung nach Erhalt der »unitarischen Struktur« des Staates. Dass er in diesem Kontext den Erhalt der unitarischen Einheit betont, drückt jedoch scheinbar keine strategische Bekennung zur nationalen Einheit aus, um schließlich über Differenz reden zu dürfen. Vielmehr drückt seine Position offensichtlich eine Kritik des Terminus »Türk« und eine damit verbundene Forderung nach Anerkennung seiner »Minderheitenidentität« aus. Die von ihm gestellten Bedingungen sind folglich die Anerkennung der Differenz von ethno-kulturellen Gruppen, die jedoch nicht die Einheit des Staates zerstören darf. Hierdurch reklamiert er auch eine andere Form der nationalen Identität, die sich von der als ethnisch verstandenen türkischen nationalen Identität abhebt. Die bislang gültige Bezeichnung »Türk«, die benutzt wurde und wird, um die gesamte Bevölkerung der Türkei zu designieren, sollte dem Intellektuellen Minderheitenangehörigen zufolge durch den Begriff »Türkiyeli« ersetzt werden. Der Intellektuelle Minderheitenangehörige argumentiert, dass die Abhängigkeit zwischen politischen Einheiten und Gruppen sich durch die Globalisierung verstärke, und dass dieser Trend in der Türkei sich nicht gegenläufig entwickeln dürfe. Diese Position wird durch seine Aussage bekräftigt, Staatsbürger eines Staates, nämlich der Türkei, zu sein und stolz daraus zu beziehen. Hier wendet er sich gegen die staatliche Forderung nach Assimilation an das »Türkentum«, die die Anerkennung von anderen ethno-kulturellen Gruppen als die türkische ablehnt. Die Implikationen und Bedeutung der gesellschaftspolitischen Debatte über die nationale Bezeichnung aus Sicht der »einfachen« Bürger/innen beurteilt er folgendermaßen: »Vielleicht kommt ihnen mein Verhalten sinnlos vor, vielleicht fragen sie sich, was soll das jetzt. Er ist kein Türke, er könnte auch sagen, er sei Türke, dies und jenes. Kann sein, dass es Leute gibt, die so denken. Aber ich sage ihnen, Gott soll euch davor bewahren. Wie würden die Türken es auffassen, wie sollten sie es auffassen, wenn eines Tages z.B. die Deutschen, die in ihrem Land lebenden türkischen Bürger auffordern würden, jeden Morgen zu sagen, ich bin ein Deutscher, ich bin dies, ich bin jenes? Nehmen wir an, wir
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würden jetzt die in Deutschland lebenden Türken nicht als Türken, sondern als Deutsche wahrnehmen. Oder würde es ihnen besser gefallen, wenn sie sagen, ich bin Einwohner Deutschlands und ich bin Türke? Es ist nötig, solche Vergleiche anzustellen. Folglich sollten die Bürger in der Türkei auch diese Begriffe verstehen. Es gibt Standpunkte wie ›welchen Grund gibt es, das aufzufrischen. Wir leben alle in schöner Harmonie in der Türkischen Republik, wir sind alle Türken. Atatürk hat das Wort Türke in Bedeutung von nationaler Identität benutzt‹. In Ordnung, Atatürk mag es so benutzt haben. Aber ich denke, dass die Bedeutung des Wortes wegen der späteren Türkisierungspolitik in der Türkei gar nicht so harmlos geblieben ist. Also es kamen etliche faschistische Bewegungen auf. Sie haben es auch benutzt, sie benutzen den Begriff Türke auch. Sowohl dieser Begriff als auch jener Begriff, alles vermischt sich. Wie soll ich sie unterscheiden, wie soll ich es auffassen, welcher Türke-Begriff ist nicht rassistisch, welcher Türke-Begriff ist nationalistisch? […] Einwohner der Türkei zu sein, ist, was ich für mich annehme. Ich bin der Mensch dieser Erde, dieses Landes und ich bin Einwohner der Türkei. Das gefällt mir sehr, ich kann das verinnerlichen, das kann ich sagen. Dabei kann ich meinen Bruder, der sagt, ich bin ein türkischer Einwohner der Türkei wirklich problemlos verstehen, und es ist nötig, dass er es sagt. Aber wenn ich sage, ich bin Minderheitenangehöriger der Türkei, sollte er mich auch verstehen. Also, es ist eine sehr klare Sache. Ich denke es ist überhaupt nicht nötig, dass dabei ein Problem entsteht« (Interview mit dem Intellektuellen Minderheitenangehörigen, S. 6).
Der Intellektuelle Minderheitenangehörige weist auf die begrifflichen und semantischen Widersprüche der nationalen Bezeichnung »Türke« hin, die sich über den Zeitraum des Bestehens der Türkischen Republik erstrecken. Er weist auf die Bedeutungsverschiebung des Begriffs »Türke« hin: von seiner Verwendung durch Mustafa Kemal Atatürk als politische Zugehörigkeitskategorie hin zu seiner späteren Ethnisierung. Der Intellektuelle Minderheitenangehörige benennt zugleich die begriffliche Verwirrung, die durch unterschiedliche Auslegungen der Bezeichnung »Türke« entsteht und schlägt als Ausweg die Übernahme der übergeordneten Kategorie »Türkiyeli« vor. Er vertritt den Standpunkt, dass eine solche Bezeichnung in der Lage ist, die verschiedenen ethno-kulturellen Gruppen in der Türkei zunächst auf einer symbolisch-repräsentativen Ebene anzuerkennen. Das von ihm genannte Beispiel der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland ist kein zufällig gewähltes Beispiel, da es sich bei den türkeistämmigen Einwanderern und ihren Nachfahren um die größte Einwanderergruppe in Deutschland handelt. Der Intellektuelle Minderheitenangehörige möchte hiermit auf die in der Türkei anzutreffenden Argumentationsformen bei der Debatte um die Integration der türkeistämmigen Einwanderer in Deutschland Bezug nehmen, und geht davon aus, dass die türkischen Einwanderer an ihrer Identität als Tür-
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ken festhalten und eine Subsumption unter dem Gesamtbegriff »Deutsch« ablehnen würden. Diese Analogie soll den Blick auf die Situation und die Forderungen der ethno-kulturellen Gruppen nach Anerkennung in der Türkei schärfen. Gleichzeitig spricht er von einer »Doppelmoral« der türkischen Politik, die darin besteht, dass sie alle Einwohner der Türkei gerne als Türken sehen möchte, die Nichtanerkennung der türkischen Bevölkerung in Deutschland jedoch kritisiert. Der Intellektuelle Minderheitenangehörige weist hier auf den Widerspruch hin, dass das »Türkentum« unter Schutz vor verbalen Angriffen gestellt wird, während andere ethnische Identitäten in der Türkei keinen solchen Schutz genießen, sondern im Gegenteil mit Schimpfwörtern wie »Minderheitenbastard« herabgewürdigt werden können. Warum ist es ein »Problem«, zu behaupten, man sei Minderheitenangehöriger und kein Türke? Die Ausführungen des Intellektuellen Minderheitenangehörigen sind dazu folgendermaßen: »Wenn meine Aussage, dass ich Minderheitenangehöriger bin von den Türken als Beleidigung aufgefasst wird, müsste meine Aussage, dass ich kein Minderheitenangehöriger bin, eigentlich als eine Beleidigung der Minderheitenidentität verstanden werden. Also dann kommt Folgendes zustande: In dieser Türkei ist die Beleidigung des Türkentums ein Delikt. Die Beleidigung anderer Identitäten ist kein Delikt. Schließlich sehen wir, was sie bevorzugen. Minister fingen an, in ihren Reden Minderheiten zu beschimpfen. Aber keiner hat ihnen gesagt, sie würden die Minderheiten beleidigen und verachten. Ich beleidige nicht einmal das Türkentum. Also ich sage, dass ich Minderheitenangehöriger bin. Ich verstehe das nicht. Warum wollen Türken es nicht wahrhaben, dass ich Minderheitenangehöriger bin?« (Intellektueller Minderheitenangehöriger, S. 3).
Der Intellektuelle Minderheitenangehörige drückt sein Unverständnis darüber aus, dass er in der Türkei nicht ohne Schwierigkeiten sagen kann, dass er Minderheitenangehöriger ist. Es findet keine Akzeptanz, sondern vielmehr Ablehnung. Es wird als Versuch der Spaltung der türkischen Nation gesehen, wenn jemand eine andere ethno-kulturelle Identität für sich reklamiert und womöglich diese über die als verbindend geltende türkische stellt: »Aber ich wüsste gerne, inwiefern es einem Türken gefallen kann, dass ein Minderheitenangehöriger sagt, ich bin auch ein Türke. Was für einen Gewinn hat er dadurch? Ich habe Schwierigkeiten das zu verstehen. Lasst doch jeden seine ethnische Identität, wie er es verinnerlicht hat, ausdrücken. Was ist daran das Bedrängende? Ich würde jedoch niemals die Identität, Einwohner der Türkei zu sein, die ich als die übergeordnete Identität wahrnehme, verraten. Ja, ich bin Einwohner der Türkei. Aus dieser Warte gehören wir alle zusammen« (Intellektueller Minderheitenangehöriger, S. 4).
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Der Intellektuelle Minderheitenangehörige geht von einer kontextbezogenen und länderspezifischen Definition der nationalen Bezeichnung aus, die den jeweiligen Bedürfnissen und Forderungen der Bevölkerungsgruppen Rechnung tragen sollte. Auf den Einwand, dass der Begriff »Türke« als übergeordnete Kategorie für die Designation der Bevölkerung der Türkei international anerkannt und somit auf dieser Ebene quasi irreversibel ist, betont er die »seelische Verfassung« der Menschen in der Türkei, um die es ihm gehe. Wenn es für die »Franzosen« akzeptabel sei, so bezeichnet zu werden, dann sei dies deren Problem, und spiegle deren Bedürfnisse wider. Mit diesem Beispiel spielt er auf die Vergleiche an, die in der türkischen Debatte mit Frankreich gezogen werden. In diesen Vergleichen wird die Analogie zur Türkei hergestellt und darauf hingewiesen, dass trotz der Multikulturalität Frankreichs, die sich in den verschiedenen regionalen Identitäten (Bretagne, Languedoc, Elsass, Baskenland etc.) widerspiegelt, man die Einwohner Frankreichs »Fransiz« (Franzosen) nennt und nicht »Fransali« (Einwohner Frankreichs) (siehe Oran 2004a und 2004b). Im folgenden Abschnitt geht der Intellektuelle Minderheitenangehörige auf die Tatsache ein, dass »Türk« als Bezeichnung für die Bevölkerung der Türkei international anerkannt ist: »Nun, mag sein, dass er (der Begriff »Türk«, Anm.E.G.) international anerkannt ist. Aber wenn er sich nicht in mir, einem Bürger, der in der Türkei lebt, etabliert hat, ist das ein Problem, das mich betrifft. Kann sein, dass Menschen aus dem Ausland mich als Türken wahrnehmen, aber wichtig ist, wie ich mich wahrnehme. Meiner Meinung nach ist dies das Problem. Stimmt, es ist etabliert. Es werden Beispiele aufgezeigt, wie z.B. ›wir sagen ja auch nicht er ist Einwohner Frankreichs, sondern er ist Franzose‹. […] ich kenne aber die seelische Verfassung der Leute in Frankreich nicht. Ich drücke in der Türkei meine eigene seelische Verfassung aus, ich rede also darüber. Also ich bin Minderheitenangehöriger, und folglich kein Türke. Ich versuche das zu erklären. Ich bin Einwohner der Türkei/hier stimmen wir überein. Aber nein, wenn sie mir aufzwingen, ich sei ein Türke, ich weiß es nicht, sie müssen es wissen. Dann werden sie verlieren. Nein, dann würden sie meiner Meinung nach die Originalität des Türkentums (im Sinne von Türkisch-Sein als ethnische Bezeichnung, Anm. E.G.) vernichten. Das Türkentum hat ja auch einen/die Identität hat eine besondere Eigenschaft und hat auch seinen eigenen Geschmack. Was soll man darunter verstehen, wenn man in den Begriff Türke auch die Minderheitenangehörigen einbezieht. Also ich verstehe es nicht« (Intellektueller Minderheitenangehöriger, S. 6).
In diesen Ausführungen essentialisiert der Intellektuelle Minderheitenangehörige seinerseits die Gruppen »Türken« und »Minderheitenangehörige« als separate,
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klar voneinander trennbare ethnische Kategorien. Er spricht von der Originalität und dem »eigenen Geschmack«, den das Türkisch-Sein besitze. Diese werde zerstört, wenn man die Minderheiten in diese Kategorie mit einbeziehe. Hiermit verdeutlicht er, dass er den Begriff »Türke« als eine Bezeichnung für eine ethnische Gruppe unter anderen ansieht und es nicht als möglich erachtet, dass sie auch andere ethno-kulturelle Gruppen umfassen kann. Dem Intellektuellen Minderheitenangehörigen zufolge hat demnach auch die Minderheitenangehörigkeit seinen eigenen distinkten Wert und seinen eigenen »Geschmack.« Es ist festzuhalten, dass der Intellektuelle Minderheitenangehörige als Teil einer marginalisierten ethno-kulturellen Gruppe in der Türkei auch als deren Wortführer gesehen werden kann, der für die Anerkennung der kulturellen und ethnischen Differenz dieser Gruppe im Rahmen einer geeinten Türkei eintritt. In seiner Rolle als intellektueller Wortführer transportiert und verbalisiert er öffentlich mögliche Forderungen seiner Gruppe nach Anerkennung. Damit geht – wie weiter oben bereits angeführt – auch eine Kritik eines starren und zuweilen repressiven türkischen Nationalismus einher, der keinen Raum für die Inklusion und Repräsentation von sich anders definierenden Gruppen lässt. Der Intellektuelle Minderheitenangehörige befürwortet die Bezeichnung »Türkiyeli« als Möglichkeit einer adäquaten Repräsentation der diversen ethnokulturellen Gruppen, die zudem die Einheit der Türkei gewährleisten könne.
5. S CHLUSSFOLGERUNGEN Die Position von republikanisch argumentierenden Anhängern des offiziellen, d.h. kemalistischen Verständnisses von Nation, ist, dass jeder Staatsbürger in der Türkei ungeachtet seiner ethnischen Herkunft Türke ist. Dieses Argument sieht implizit die Differenzen unter der Bezeichnung türkisch anerkannt, so dass also z.B. auch die Kurden als Türken gelten könnten. Die Gegenposition dazu besagt, dass das Türkisch-Sein eine ethnische Kategorie ist, die andere Gruppen nicht einschließt. Dieses ethnische oder zumindest kulturelle Verständnis von Türkisch-Sein ist ein Punkt, der von Minderheitenangehörigen stark kritisiert wurde und zu einer Kritik der Politik der Assimilation gegenüber Minderheiten führte. In Hinblick auf die im späteren Verlauf dieser Untersuchung noch zu diskutierenden aktuell relevanten Fragen zur Multikulturellen Staatsbürgerschaft ist dieser Umstand von Bedeutung. Denn, anstatt in der türkischen Öffentlichkeit heute über eine Neuverhandlung von neuen nationalstaatlichen Grenzen zu diskutieren, zum
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Beispiel über solche eines kurdischen Staates, wird in der politischen und wissenschaftlichen Debatte zunehmend darüber diskutiert, wie das Konzept der Staatsbürgerschaft dazu nutzbar gemacht werden kann, den Gruppen, die einer Assimilationspolitik unterworfen waren und sind, mehr kulturelle Rechte zu gewähren. Es geht in diesen Debatten also vielmehr um die Ausweitung und Vertiefung der bestehenden Institution der Staatsbürgerschaft als darum, neue »Nationen« zu schaffen. Insofern handelt es sich auch um eine Frage der gesellschaftlichen und nationalen Integration solcher Gruppen durch eine Neudefinition des türkischen Nationalbegriffs. Jedoch könnte man einwenden, dass diese Aussage eine normative ist, die außer Acht lässt, dass es kurdische Organisationen und Parteien gibt (z.B. PSK: Partiya Sosyalist a Kurdistan [Kurdische Sozialistische Partei]), die einen föderalen Staat fordern. Ebenso könnte man gegen die Favorisierung des »integrativen« Diskussionsstrangs einwenden, dass er einen normativen Standpunkt über ein Gesellschaftsmodell enthält, das nicht den tatsächlichen politischen Umständen entspricht, die in der Realität auch zu einer Schaffung eines türkisch-kurdischen Föderalstaates führen könnten.
VIII. Europäisierung und die Frage von Minderheiten in der Türkei
Die Frage der möglichen EU-Integration wirft diverse Fragen bezüglich der Kompatibilität der Türkei auf, jedoch auch bezüglich der möglichen Konsequenzen einer EU-Integration der Türkei für die EU selbst. Andererseits ist der Prozess der »Europäisierung« der Türkei nicht auf die relativ junge Vergangenheit der EU-Integration zu beschränken, sondern hat eine längere Geschichte, deren Beginn auf mehr als 200 Jahre zurückdatiert wird. Spätestens mit der Gründung der republikanischen Türkei im Jahr 1923 und einer Modernisierung, sprich Okzidentalisierung, die dem politischen Willen der Staatsgründer entsprach, zieht sich die Frage des politischen und kulturellen Ortes der Türkei im Verhältnis zum Nahen Osten (»Islamische Welt«) auf der einen und zu Europa auf der anderen Seite wie ein roter Faden durch die gesellschaftlichen Debatten. Wie »europäisch« oder wie »uneuropäisch« die Türkei ist, hängt dann zumeist von der Position des Betrachters ab (siehe hierzu Leggewie 2004). Jedoch spielen bei der Beurteilung der Türkei als »europäisch« bzw. »uneuropäisch« auch politische Präferenzen und ein politischer Wille eine Rolle. Folglich ist eine andere – eher metaphorische – Beschreibung, die für die kulturelle Ortsbestimmung der Türkei benutzt wurde und wird, die einer »Brücke« zwischen Westen (Europa) und Osten (Naher Osten, »Islamische Welt«). Diese Position ist oftmals kritisiert worden, weil sie einerseits die Türkei auf eine schlichte »Brücke« reduziert, die somit keiner der beiden Seiten eindeutig zugeordnet werden kann. Andererseits dient die Zuschreibung einer solchen Brückenfunktion Skeptikern eines Beitritts der Türkei oftmals als Begründung für eine Ablehnung einer Vollmitgliedschaft in der EU und für die Begründung einer »Privilegierten Partnerschaft«, die eben aus dieser Funktion abgeleitet wird. Das Bild einer Brücke und des »Dazwischenseins« – häufig als romantisierend und wenig politisch kritisiert – impliziert des Weiteren, dass die Türkei Elemente sowohl aus der islamisch-osmanischen Vergangenheit als auch aus der aus Europa »importier-
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ten« politischen Struktur in sich vereinigt, und somit beides ist: sowohl Westen als auch Osten. Somit kann die Türkei – umgekehrt formuliert – weder dem einen noch dem anderen Lager zugeordnet werden und würde somit einen Sonderfall1 in der Region des Nahen und Mittleren Ostens darstellen. In diesem Zusammenhang kann die Beleuchtung der innertürkischen Debatte um Nation, Staatsbürgerschaft und ethno-kulturelle Gruppen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu europäischen Debatten aufzeigen. Mit dem Beginn von Beitrittsverhandlungen im Oktober 2005 war die türkische Politik gezwungen, Reformen in verschiedenen Bereichen durchzuführen, die die Türkei beitrittsfähig machen sollten. Diese Reformen betreffen die Wirtschaft im weitesten Sinn, jedoch in erster Linie auch die Frage von Menschenrechten und der Demokratisierung. Die zuletzt genannten Bereiche waren seit dem EU-Assoziierungsabkommen aus dem Jahr 1964 die schwierigsten Punkte in der Auseinandersetzung mit der Türkei. Vor allem im Bereich der Demokratie wird die EU-Kompatibilität der Türkei in Frage gestellt. Anders als Fragen, wie die Kompatibilität des Wirtschaftssystems der Türkei mit jenen der EU-Länder, ist die Kompatibilität ihrer Demokratiestandards eine Frage, die in der Beitrittsdebatte von Gegnern eines türkischen Beitritts häufig als Argument benutzt wird. Ohnehin ist die Türkei seit 1996 Teil der europäischen Zollunion. Schwierigkeiten gibt es folglich im Sinne einer Mitgliedschaft in einer kulturell und politisch gedachten EU. So stellt Deniz Vardar fest: »Turkey’s main problem seems to be the process of democratization in accordance with EU norms, even if the European Commission does recognize the huge efforts undertaken by Turkey« (Vardar 2005, 96). Die politischen Kopenhagener Kriterien von 1993 legen fest, dass jeder Beitrittskandidat bestimmte institutionelle Voraussetzungen erfüllen muss, um beitrittsfähig zu sein. Dazu gehören institutionelle Stabilität als Garantie für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Gewährleistung und Achtung der Menschenrechte sowie die Anerkennung und der Schutz von Minderheiten (Wedel 2006, 201). Im Jahre 1999 erhielt die Türkei nach langem Warten auf dem EU-Gipfel in Helsinki den Kandidatenstatus für den Betritt zur EU. Sie verpflichtete sich hierbei zur Übernahme des Acquis Communautaire, dem gemeinschaftlichen Besitzstand der EU, der die geltenden Verträge und Rechtsakte der Europäischen Union beinhaltet. Ab diesem Zeitpunkt wurden in der Türkei Reformen auf verschiedenen
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Die meisten Staaten in der Region des Nahen und Mittleren Ostens, wie der Iran, Irak oder Syrien haben im Gegensatz zur Türkei keine oder nur phasenweise an europäische Vorbilder angelehnte gesellschaftliche »Umgestaltungsmaßnahmen« ergriffen.
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Ebenen vorgenommen. Nach Sule Gökcenay (2004) trat die türkische Politik spätestens jetzt aus der Phase der klassischen Politik des Nationalstaates heraus, um aufgrund der äußeren Anforderungen wie Globalisierung, den Verlust nationalstaatlicher Souveränität usw. sowie innenpolitischen Fragen, wie das Kurdenproblem oder ökonomische Krisen neue Wege zu gehen. Fast übereinstimmend sehen viele Autor/innen die Veränderungen in der Politik gegenüber den Minderheiten als ein Erfordernis des EU-Integrationsprozesses (Gökcenay 2004). Es wurde seit Verleihung des Kandidatenstatus im Jahre 1999 und insbesondere seit Oktober 2001 ein Reformprozess eingeleitet, der darauf abzielte, die Diskriminierung gegen die verschiedenen ethno-kulturellen Gruppen zu mindern (Oran 2004a, 105). Auch die EU forderte in ihren regelmäßigen Fortschrittsberichten hin zu einer Mitgliedschaft die Gewährung von kulturellen Rechten für Minderheiten, auch wenn sie nicht deren offizielle Anerkennung als Minderheiten zur Bedingung macht (Gökcenay 2004, 152). Obwohl die 2001 begonnen Reformen darauf abzielten, die politischen Kriterien von Kopenhagen zu erfüllen, können sie darin kritisiert werden, dass im Bereich des Schutzes von Minderheiten diese nicht eindeutig als die Rechtsinhaber identifiziert werden (Kurban 2003, 199). Die durchgeführten Reformen fanden nicht in einem nationalen Konsens statt, sondern mussten gegen Widerstände aus den Reihen des Militärs oder der Republikanischen Volkspartei (CHP) durch die AKP-Regierung von Recep Tayyip Erdogan durchgesetzt werden. Obwohl die Zeit seit Verleihung des Kandidatenstatus im Jahr 1999 bis zum Beginn der offiziellen Beitrittsverhandlungen im Oktober 2005 als eine Phase bezeichnet werden kann, in der der öffentliche Diskurs vom Nationalismus geprägt war, ist hier ebenso eine integrative Orientierung der »zentrifugalen Kräfte« wie der ethno-kulturellen Gruppen im Zuge der Reformen zu beobachten (Kaya und Tarhanli 2005, 9). Ayhan Kaya und Turgut Tarhanli begründen dies mit der Hoffnung und Aussicht der ethnokulturellen Gruppen auf eine Verbesserung ihrer Situation durch den EUIntegrationsprozess. Folglich begannen diese sich im Vergleich zu früher stärker als Teil der türkischen Gesellschaft zu sehen. Die betroffenen Gruppen sahen die EU-Perspektive als Möglichkeitsraum für die Artikulation von Forderungen nach mehr kulturellen Rechten an. Deshalb wurde die Entscheidung von Helsinki bei der Gesamtbevölkerung der Türkei und insbesondere bei Minderheiten, wie den Kurden, die eine Chance für die Lösung der kurdischen Frage sahen, euphorisch aufgenommen (Kaya 2005, 56). Gleichzeitig nahm der nationalistische »Reflex« im konservativen und rechtsgerichteten aber auch im vermeintlich linken Spektrum zu, weil diese durch eine eventuelle EU-Mitgliedschaft den Verlust der nationalen Souveränität
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befürchteten und zudem durch mehr Rechte für Minderheiten die Einheit der Türkei gefährdet sahen.
1. EU-I NTEGRATION UND DIE D EBATTE UM S TAATSBÜRGERSCHAFT Im türkischen Kontext wird auch und insbesondere die Frage der Staatsbürgerschaft in den Debatten um eine EU-Mitgliedschaft als Schlüsselfrage gesehen, da sie als Konzept der Integration und der Rechte den Status von Individuen widerspiegelt. Obwohl die Verhandlungskapitel mit der EU die verschiedensten Bereiche umfassen2, gilt der Bereich der Menschen- und Minderheitenrechte als besonders heikles Feld. Dies ist mit der Sensibilität des Themas verbunden, das an den dominierenden Vorstellungen türkischer nationaler Identität rührt. Besonders die Frage der staatsbürgerlichen Rechte, die im Sinne der EU Minderheitenrechte beinhalten sollten, wird als ein Bereich gewertet, in dem sich die erfolgreiche Anwendung und Umsetzung der Kopenhagener Kriterien zeigt (Vardar 2005, 94; Kaya 2005). Wie aus den Regelmäßigen Fortschrittsberichten der EU ersichtlich wird, werden mehr kulturelle Rechte für Minderheiten – in ihrer Eigenschaft als türkische Staatsbürger/innen – angemahnt. Folglich wurde die Frage der Rechte von ethnokulturellen Gruppen in diesem Prozess der EU-Annäherung wieder zu einem wichtigen Tagesordnungspunkt. Gerade im Zuge des Annäherungsprozesses seit der Verleihung des Kandidatenstatus wurden diese Fragen seitens der EU verstärkt thematisiert (Kurban 2003, 151). Der Zusammenhang zwischen dem EUIntegrationsprozess und der stärkeren Thematisierung der Minderheitenfragen ist vor allem deshalb entstanden, weil sich die Türkei in diesem Prozess verpflichtete, den Minderheiten größere Rechte einzuräumen (Kurban 2003, 151). Dieser Prozess wurde begleitet von einer verstärkten Kritik an den kemalistischen, republikanischen und laizistischen Werten, deren Kohäsionskraft angezweifelt wurde. Gerade deswegen wurde mit der EU-Beitrittsperspektive die Diskussion eines neuen Gesellschaftsmodells möglich, das sich nicht mehr auf die alten Werte der kemalistischen Republik stützen soll, sondern eine konstitutionelle Staatsbürgerschaft (Anayasal vatandaslik) beinhaltet (Kaya und Tarhanli 2005, 19). Auch wenn die Reformen als nicht weit genug gehend eingestuft werden, wird von vielen Autoren eine Liberalisierung des politischen und sozialen Kli-
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Siehe: Turkey Progress Report 2009
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mas seit Verleihung des Kandidatenstatus konstatiert, die in sich Chancen einer Verbesserung der Rechtssituation von Minderheiten birgt (Benhabib, in: Neue Zürcher Zeitung [NZZ]3). Zusätzlich ermöglicht das gewachsene Interesse der Öffentlichkeit in den EU-Staaten eine stärkere Thematisierung der Rechte von Minderheiten in der Türkei (Goltz 2006, 175). Die Perspektive der EU-Integration hat in der Türkei zweifelsohne zu einer reformerischen und gesetzgeberischen Dynamik unter der AKP-Regierung seit 2002 geführt. Ayhan Kaya ist der Ansicht, dass der bis dahin auf die »Sicherheit« des Staates basierende Diskurs im Umgang mit Minderheiten sich seit der Beitrittsperspektive verändert hat. Er hat sich laut Kaya seit den Beitrittsverhandlungen hin zu einem Diskurs der »Gerechtigkeit« und »kulturellen Diversität« verschoben (Kaya 2005, 55). Diese These Kayas kann für eine bestimmte Zeitspanne gelten, der politische und gesellschaftliche Diskurs in der Türkei unterliegt jedoch je nach politischen Bedingungen großen Schwankungen. So haben Rückschläge in den Verhandlungen mit der EU zu einem Erlahmen der Reformarbeit der Regierung unter Erdogan geführt. Andererseits haben die nationalistischen Reaktionen bestimmter Gruppierungen und Parteien, die wegen der EU-Mitgliedschaft einen Souveränitätsverlust der Türkei und ihre Spaltung befürchten, zu einer Wiederbelebung des auf nationale Sicherheit beruhenden Diskurses geführt. Zudem sind die dominante Stellung des Militärs und sein Einfluss auf die zivile Politik in der Türkei weiterhin unbestritten. 1.1 Zum Begriff der Unionsbürgerschaft Obwohl das Verständnis von Staatsbürgerschaft in den älteren Mitgliedstaaten der EU jeweils unterschiedlich ist, herrscht jedoch im Rahmen der EU-Institutionen ein politisches und pluralistisches Verständnis von Staatsbürgerschaft vor (Vardar 2005), das nicht an ethnische Zugehörigkeit gebunden wird. Die EU kann als supranationales Gebilde begriffen werden und hat formell die EUBürgerschaft durch den Vertrag von Maastricht4 von 1992 eingeführt, die jedoch
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Seyla Benhabib schreibt hier: »Die Türkei ist ein Land, das sich seiner Multikulturalität allmählich bewusst wird. Die Anzeichen dafür mehren sich, dass es zu einer Republik werden könnte, in der die kulturellen und religiösen Unterschiede hervortreten und – und anerkannt werden« (NZZ vom 26.11.2005).
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Der Vertrag von Maastricht, auch Unionsvertrag genannt, wurde am 07. Februar 1992 unterzeichnet und trat am 01. November 1993 in Kraft. Im Artikel 8 Abs. 1 des Vertrags (konsolidierte Fassung von 1992) wird die Unionsbürgerschaft wie folgt definiert: »Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staats-
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nicht die jeweiligen nationalen Staatsbürgerschaften ersetzen, diese aber ergänzen soll. Die Unionsbürgerschaft wurde eingeführt, um die viel debattierte europäische Identität politisch und juristisch zu konkretisieren. Symbolisch stellte sie die immer engere europäische Integration dar. Sie ist keine unabhängige Staatsbürgerschaft, sondern ist an die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaates gebunden. Jeder Bürger eines Mitgliedstaates ist somit automatisch EU-Bürger. Die Unionsbürgerschaft verleiht ihm Rechte und Pflichten, wie z.B. Petitionsrechte oder das Wahlrecht bei den Kommunalwahlen seines Residenzlandes. Für die Einwanderungsgesellschaften Europas bedeutet dies, dass jede neue Einbürgerung gleichzeitig das Erlangen der Unionsbürgerschaft bedeutet. In diesem Sinne stellt die Unionsbürgerschaft eine zusätzliche Bindung zur europäischen Wertegemeinschaft dar, die »europäische Identität« juristisch festigen soll. Für die Debatte um den Beitritt der Türkei bedeutet dies, dass die türkischen Staatsbürger/innen somit auch die Unionsbürgerschaft erhalten würden. Auf dieser Ebene hat ein möglicher Beitritt der Türkei nicht nur ökonomische Implikationen, sondern würde das türkische Staatsbürgerschaftsverständnis beeinflussen.
2. EU-ANNÄHERUNG VON KULTURELLEN IN DER T ÜRKEI
UND DIE AUSWEITUNG R ECHTEN FÜR M INDERHEITEN
Aufgrund der unzähligen Reformen und Maßnahmen im Bereich der kulturellen Rechte von Minderheiten kann der folgende Überblick keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Die Analyse der de facto existierenden Rechte, auch wenn sie nicht explizit festgeschrieben werden, kann einerseits die Schwierigkeiten und Grenzen der Anerkennung der Rechte von ethno-kulturellen aufzeigen. Andererseits sind – im Vergleich zum Zeitraum bis 2000 – durch den Prozess der EU-Annäherung tatsächlich viele neue »Artikulationsräume« und Rechte insbesondere für die kurdische Gruppe entstanden. Insofern ist es für eine Analyse des Status quo der Minderheitenrechte in der Türkei, angebracht, sich die Situation der Gruppe der Kurden zu vergegenwärtigen. Ebenso ist es von Inter-
angehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt«. Nun ist die Unionsbürgerschaft im Artikel 20 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union wie folgt definiert: »Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht«.
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esse, wie es um die kulturellen Rechte der christlichen Minderheiten in der Türkei steht. Wie in den vorherigen Kapiteln bereits dargestellt wurde, werden durch die türkische Verfassung keine ethnischen Gruppen – außer den durch den Friedensvertrag von Lausanne definierten – anerkannt und somit die Existenz von nationalen Minderheiten per Gesetz verneint. Es wird vielmehr von einer als homogen gedachten türkischen Staatsnation ausgegangen. In einem solchen verfassungsmäßigen Konzept haben ethno-kulturelle Gruppen keinen Platz. Die gesellschaftspolitischen Implikationen eines solchen Verfassungskonzepts wurden weiter oben dargestellt. Auch die Paradoxie, die damit einhergeht, wurde benannt: einerseits kann von der faktischen Existenz von ethno-kulturellen Gruppen und deren Forderungen nach Anerkennung ausgegangen werden, andererseits wurden deren Forderungen nach Anerkennung als Minderheit bislang mit Verweis auf die verfassungsmäßige Gleichheit als Mitglieder der türkischen Staatsnation abgelehnt. Seit dem Jahr 2000 gibt es verschiedene Rechte, die trotz dieser offiziellen »Nichtanerkennungspolitik« seitens der Politik den Minderheiten eingeräumt wurden. Inwiefern die verschiedenen Reformen seit 2001 tatsächlich mit einer Verbesserung der Rechte von Minderheiten einhergehen, ist offen. Obwohl die Reformen als positive Maßnahmen gewertet werden können, kann laut Dilek Kurban dennoch nicht von einem seitens der EU geforderten konstitutionellen Schutz von Minderheiten gesprochen werden. Bei näherem Hinsehen, so Kurban, seien diese noch weit von einem solchen Schutz entfernt (Kurban 2003, 152). Zu den Rechten, die hier für die ethno-kulturellen Gruppen von Belang sind, gehört die Aufhebung des Verbots des öffentlichen Gebrauchs der kurdischen Sprache im Jahr 1991 unter der Regierung von Turgut Özal. Kurdisch durfte nun in den Printmedien oder im Bereich der Musik gebraucht werden. Wie jedoch die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz 1999 berichtete, wurde Material, das mit kurdischer Geschichte, Kultur und ethnischer Identität zu tun hatte, weiterhin Gegenstand von Konfiskationen und Strafverfolgung durch das Antiterror-Gesetz5 (Kurban 2003, 195). Ab 2004 gab es im staatlichen Fernsehsender TRT Sendungen in kurdischer und anderer Minderheitensprachen. Diese Veränderung ging auf das 3. Harmonisierungspaket zurück, das als Antwort auf die kurzfristige Beitrittspriorität »muttersprachliche Sendungen« der EU gelten sollte. Artikel 5 der entsprechenden Verordnung des Hohen Rundfunk- und Fernsehrates (RTÜK) begrenzte jedoch die Sendezeit für muttersprachliche Sendungen 1. auf die staatliche
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Artikel 8 des Antiterror-Gesetzes besagt, dass Propaganda jeglicher Art, die gegen die unteilbare Einheit des Staates Türkische Republik, des Landes und der Nation gerichtet ist, unter Strafe steht (siehe Kurban 2003, 195).
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Rundfunk- und Fernsehanstalt TRT, 2. gab es eine Einschränkung hinsichtlich der Zielgruppe dieser Sendungen, die nur aus Erwachsenen bestehen sollte, 3. wurde die Art der Sendungen auf Nachrichten, Musik und Kultur eingeschränkt und 4. die Sendezeit auf 30 Minuten am Tag für das Fernsehen und 45 Minuten für den Hörfunk begrenzt (Wedel 2006, 219f.; Kurban 2003, 210). Eine Richtlinie zur Implementierung der 2002 durch das Parlament beschlossenen Verbesserungen hinsichtlich des Gebrauchs von Minderheitensprachen im Fernsehen und Rundfunk etablierte eine direkte staatliche Kontrolle über die Sendungen, kontrollierte ihren Inhalt, begrenzte ihre Sendedauer, machte staatliche Genehmigung erforderlich und verbot Sendungen, die gegen die »Prinzipien der nationalen Sicherheit und der Unteilbarkeit der territorialen und nationalen Integrität des Staates gerichtet sind« (Kurban 2003, 210). Seit Beginn des Jahres 2009 gibt es ebenfalls über den staatlichen Sender TRT einen Kanal (TRT 6)6, der durchgehend Programme in kurdischer Sprache ausstrahlt. Dies wurde als eine »kleine Revolution« gewertet, spiegelt sich doch darin eine offizielle (da es sich um die Ausstrahlung kurdischsprachiger Programme durch den staatlichen Sender handelt) Anerkennung der kurdischen Sprache wider. Trotz der Liberalisierung im Bereich des öffentlichen Gebrauchs in den Medien z.B. darf Kurdisch bis heute jedoch nicht in den öffentlichen Schulen unterrichtet werden. Vereine können private Kurse anbieten. In der Praxis werden aber auch diese privaten Initiativen durch zu strenge Auflagen an die Anbieter behindert. Trotz der Reformpakete ab 2001, die zu einer Verbesserung der Situation der Rechte von Minderheiten beitragen sollten, kann festgestellt werden, dass in der Praxis die Ausübung dieser Rechte stark eingeschränkt wird. So hat das Nationale Erziehungsministerium 2002 eine Richtlinie erlassen, die es praktisch unmöglich macht, als Verein Kurdisch zu unterrichten. Die Richtlinie bezieht sich erstens auf ein Gesetz, das von den Sprachlehrern einen Bachelor-
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Die AKP-Regierung kündigte die Pläne für die Einrichtung eines Fernsehsenders bereits im März 2008 an. Es wurde erklärt, dass im Rahmen des staatlichen Senders TRT ein Kanal ausschließlich auf Kurdisch, Arabisch und Persisch senden werde. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan betonte, dass neben ökonomischen Investitionen in die Region auch die Dimension der kulturellen Rechte wichtig sei. Zusätzlich erklärte die Regierung, dass sie bis 2013 die kurdischen Gebiete mit mehreren Milliarden Dollar fördern möchte. Dazu zählen neben Infrastrukturprogrammen auch Programme zur Förderung der kurdischen Sprache in den Medien. Siehe Frankfurter Rundschau vom 13.3.2008, S. 7; Siehe auch Frankfurter Rundschau vom 11.02.2009: Brad Pitt spricht jetzt Kurdisch, von Gerd Höhler, S. 9
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Abschluss für die Sprache fordert, die sie unterrichten wollen. Diese Voraussetzung ist jedoch nicht zu erfüllen, da es keine Fakultäten für Kurdisch in der Türkei gibt, die einen entsprechenden Abschluss vergeben. Zweitens regelt die Richtlinie, dass die Kurdisch-Lehrer türkische Staatbürger sein müssen. Insoweit wird durch die Richtlinie ausgeschlossen, dass die Lehrer ausgebildete ausländische Kurdisch-Lehrer7 sind. Tatsächlich konnte zum August 2003 kein einziger Kurdisch-Kurs beginnen (Kurban 2003, 208). Dilek Kurban (2003) stellt fest, dass zwar seit 2001 im Zuge der EU-Annäherung Reformen durchgeführt wurden, die zu einer Verbesserung der Rechtssituation von Minderheiten führten, glaubt aber, dass diese nicht weit genug gehen, und es keine Rechtssicherheit gibt.8 Die erfolgten Verbesserungen wurden meistens wieder an Bedingungen und Richtlinien geknüpft, die eine QuasiRücknahme oder zumindest Erschwerung der Ausübung der Rechte bedeuteten. Häufig spielen in diesen Richtlinien Maßnahmen eine Rolle, die vom Grundsatz der Gewährleistung der »Unteilbarkeit des Staates und der Nation« geleitet sind. Schließlich ergriff die Regierung 2009 eine Initiative, die in den Medien »Öffnung in der kurdischen Frage« oder »Demokratische Öffnung« genannt wurde. Diese sehen insgesamt mehr Rechte für die Kurden vor. Dazu zählen relativ weitgehende Maßnahmen, wie die Rückbenennung kurdischer Ortschaften (die »Rückgabe« der alten kurdischen Namen) oder die Einrichtung von Lehrstühlen für Kurdisch und Kurdologie an den türkischen Universitäten. Die Situation von religiösen Minderheiten ist von verschiedenen Problemen gekennzeichnet. Zunächst ist auch hier festzustellen, dass nicht jede nichtmuslimische Gruppe als solche über Rechte verfügt, da im Lausanner Friedensvertrag von 1923 nur bestimmte religiöse Gruppen als solche anerkannt wurden. Nach Gabriel Goltz werden diese Gruppen jedoch in einem weit verbreiteten Verständnis als »lokale Fremde« und eine potentielle Gefahr wahrgenommen, die tief im »kollektiven Gedächtnis verwurzelt ist«, und nicht mit ein paar Reformen in den Gesetzen verschwinden wird (Goltz 2006, 181). Besonders für die Situation dieser Gruppe gilt, dass die Reformen, die von der AKP-Regierung im Zuge eines perspektivischen Beitritts zur EU seit 2001 durchgeführt werden, und auf mehr religiöse Freiheit zielen, von der säkular orientierten kemalistischen
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Ausländische Kurdisch-Lehrer können auch Kurden sein, die im Ausland leben und die jeweilige Staatsbürgerschaft ihres Residenzlandes übernommen haben. Auch diese Muttersprachler dürfen nach dieser Richtlinie nicht als Lehrer für Kurdisch tätig werden.
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»While the Government’s efforts towards fulfilling its commitment to join the EU are promising, they fall short of establishing a consistent and predictable legal regime for the protection of minorities in Turkey« (Kurban 2003, 212).
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Elite als Beweis der »hidden agenda to undermine the principle of laicim« der AKP-Regierung interpretiert werden (Goltz 2006, 181). Lediglich wenige der Forderungen dieser Gruppen wurden bei den Reformvorhaben seit 2002 berücksichtigt. Dazu zählen die so genannten GemeindeStiftungen (Cemaat vakiflari), die nun wieder Stiftungsvermögen aneignen und darüber verfügen konnten. Zudem wurde ihnen 2004 ermöglicht, Vermögen auf sich registrieren zu lassen, das de facto ihnen gehört, aber seit einer Entscheidung des Verfassungsgerichts von 1974 unter der Gefahr der Beschlagnahmung stand. Es wurde 2003 darüber hinaus eine Richtlinie verabschiedet, die neue Prinzipien und Verfahren bei der Wahl der Vorstände von Gemeinde-Stiftungen vorsieht. Nicht zuletzt wurde auch eine Veränderung im Baugesetz eingeführt, wonach der Begriff »Moschee« durch den allgemeineren Begriff »Gebetsstätte« ersetzt wurde (Goltz 2006, 176).
3. Z UR F RAGE DER K OMPATIBILITÄT TÜRKISCHER P OLITIK MIT DEN ANFORDERUNGEN EINER EUM ITGLIEDSCHAFT ANHAND VON E XPERTENINTERVIEWS Um mich der grundsätzlichen Frage zu nähern, welche Bereiche im Verhandlungsprozess der EU mit der Türkei problematisch sind, führte ich zwei Experteninterviews mit Verantwortlichen aus der EU-Kommission.9 Grundsätzlich wird die Türkei von beiden Experten als mit der EU »kompatibel« angesehen, jedoch werden in den Interviews auch die spezifischen Schwierigkeiten, die es mit dem Beitrittskandidaten Türkei gibt, hervorgehoben. Es wird auf die weit gediehenen Reformen in der Türkei verwiesen, jedoch benennt der Erste EU-Experte auch die Schwierigkeiten in der Umsetzung und die Bereiche, in denen Reformen notwendig sind: »[…] under the agreed rules a country has to sufficiently fulfil these criteria (gemeint sind die so genannten politischen Kopenhager Kriterien, Anm.E.G.) when negotiations are being opened. But when it joins, these criteria have to be fully complied with. In the case of Turkey we have indicated in the previous regular reports and in the documents adopted during in the course of the year, which are documents related to association councils, to communiqués or documents also adopted in the frames of ministerial meetings/we have indicated the areas where still more progress was to be made. And indeed, although Turkey has made great progress, great reforms, in legislative terms and to some extent into the
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Die Interviews in der EU-Kommission wurden in englischer Sprache geführt.
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implementation it is still the case that considerable more efforts remain to be done at both level. Now when you take each of every subcomponent of the Copenhagen political criteria you can see that – well, legislation is certainly needed in the area of freedom of religion, where very little has been done. Legislation is certainly needed in the area of cultural rights and minority rights« (Erster EU-Experte, S. 1, Betonung durch den Experten)
In diesem Zusammenhang fragt der Erste EU-Experte, ob die Türkei nicht »früher oder später« ihre Verfassung grundsätzlich überarbeiten muss, da sie mit der gegenwärtigen Verfassung Schwierigkeiten hätte, der Europäischen Union beizutreten: »The question will arise, sooner or later, whether Turkey should not embark into a major constitutional exercise as it is clear that Turkey as with a constitution it has right now will be difficult to join the European Union« (Erster EU-Experte, S. 1, Betonung durch den Experten).
Die von der EU verlangte Stärkung der kulturellen Rechte und die spezifische Sensibilität der Anhänger der Idee, dass solche Rechte zu einer Spaltung der Gesellschaft und einer Teilung des Staates führen könnten, beurteilt der Erste EU-Experte folgendermaßen: »[…] we are familiar with this explanation or at least this argument that any progress towards giving more rights to either communities or minorities, be ethnic communities or religious communities in the Turkish context might be considered as a breach to the principle of secularism on the one hand and to the principle of birlik ve beraberlik (Türkisch im Original: Einheit und Zusammenhalt) on the other hand. We are not completely convinced about that. […] when it comes to the religious communities the example of France shows that you can be a secular country but at the same time that religious communities can have basic rights, which is not the case in Turkey. When it comes to the question of giving minority rights to ethnic groups there of course the situation […] is a little bit more tricky, less easy, because there is no real standards in the European Union. I mean when it comes to the extent of the rights which are given to ethnic minorities or groupings. There are conventions but these conventions are not all signed by all member states. But there is a practice, there is a practice. And this is why we have focused in the accession partnership on the question of education, on the question of access to radio-TV broadcasting. But there is more« (Erster EU-Experte, S. 2-3).
Im Vergleich der Türkei mit Frankreich als einem EU-Staat, der ebenso ein starkes zentralistisches Staatsverständnis hat, argumentiert der Erste EU-Experte,
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dass in Frankreich dennoch ein Modell einer modernen, pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft bestehe. Für den Fall der Türkei sieht er die kemalistische Ideologie und das daraus resultierende Nationalismus-Verständnis als Haupthürde vor einer pluralistischen Gesellschaft, während es in Frankreich eine pluralistische Gesellschaft gebe: »There is a basic difference. France is certainly based on the jacobine ideology, but France still lives and has a model of modern, pluralistic and multicultural society, where each and every group is being/I wouldn’t say recognized but has a certain number of rights. In Turkey we can not say that the Turkish state is a multicultural, pluralistic state. Also for the reason that nationalism is one of the core principles of the Turkish state and I would even say of the Kemalist ideology as it stems from the Turkish constitution« (Erster EUExperte, S. 3).
In Hinblick auf die Perspektiven eines Beitritts der Türkei sieht der Erste EUExperte eine Dialektik zwischen den türkischen Gegnern eines Beitritts (die v.a. im Kreis der Anhänger der offiziellen Ideologie zu finden sind) und den europäischen Gegnern eines türkischen Beitritts: »Well what is the matter finally? We have to do with the tensions of a country which has a strong ideology based on two principles: laicism and indivisibility of the territory and which currently tries to see whether it can join with this principles hundred per cent the political criteria of Copenhagen or in contrary whether there should be derogations from the political criteria of Copenhagen, precisely because of the particularity of Turkey. That’s the question for me. And I believe that the people in Turkey say, generals, Büyükanit, Tolon, I don’t know who/they say to you, ›no, Turkey bu kadar. (Türkisch im Original. Sinngemäß: die Türkei kann nur so weit gehen, weiter nicht, Anm.E.G.). You have to accept Turkey so as it is. It can not go beyond this because this would be a threat‹. And finally there are certain people in Europe who say, ›Turkey will understand at a given moment that hundred per cent conformism is too much for it‹. And finally we will have the özel statü (Türkisch im Original: besonderer Status, Anm.E.G.). That is what some people think« (Erster EU-Experte, Betonung Erster EU-Experte, S. 5).
Der Zweite EU-Experte macht in seinen Ausführungen besonders deutlich, dass er die Türkei als Beitrittskandidatin durchaus als beitrittsfähig ansieht. Aus ihnen geht ein Verständnis der EU als Wertegemeinschaft und eben nicht als Kulturgemeinschaft hervor. Dieser politischen Wertegemeinschaft kann ein Land, wie die Türkei, das geographisch gesehen außerhalb Europas liegt, prinzipiell beitre-
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ten. Jedoch spricht der Zweite EU-Experte die problematischen Bereiche in der türkischen Politik an. Mit Hinweis auf die Beitritte Spaniens, Portugals und der Ostblockstaaten, die alle zeitweise von Diktaturen regiert wurden, und wie im Falle Spaniens später sehr moderne Verfassungen entwickelten, geht er von der Möglichkeit einer ähnlichen »Wendung« für die Türkei aus: »[…] countries like Spain, Portugal, Eastern European countries they lived under dictatorships for 50 years or 40 years. And after the return to democracy they made important steps and some countries may be considered even ahead of older member states in some sectors. For example in the case of gender discrimination there are three EU countries of Europe which accepted the wedding of homosexuals: Belgium, Netherlands and Spain. While there are other countries like Portugal and Ireland where the abortion right is not recognized or the divorce is much more complicated than in other countries. So it’s an evolving process, but there are some basic principles, and of course Turkey/has made a lot of changes for the last few years, but, in some cases as I said for Egitim-Sen (Türkische Gewerkschaft für Erziehung und Bildung, Anm.E. G.) or for some of the trials of the prosecutions against for example the major of Diyarbakir, those who claim that there should be some more autonomy or more freedom to teach the local language is, there is still progress to be made. And if there was a trend backwards that would create problems in the negotiations […]« (Zweiter EU-Experte).
Gleichzeitig stellt der Zweite EU-Experte fest, dass im Unterschied zu Spanien, wo nach dem Ende der Franco-Dikatur eine sehr progressive Verfassung verabschiedet wurde, dies in der Türkei nach dem Militärputsch von 1980 nicht geschehen ist: »For example if you look at Spain after the return to Democracy, they adopted one of the most modern constitution with specific references to the right of protection of environment, protection of consumers while that hasn’t been yet the case in Turkey. Of course the Spanish created the Autonomias, the autonomous provinces were progressively they introduced the education in the mother tongue. To a certain extent that has created some new problems, but Spain is even economically […] quite ahead now, progresses quite well and the people is quite happy except a few extremists who are still nostalgic of the past in the Bask area« (Zweiter EU-Experte).
Der Zweite EU-Experte weist auf den unterschiedlichen Umgang mit der Frage der Todesstrafe in verschiedenen EU-Staaten hin, um auf die wandelbaren – und eben nicht für ein und alle Mal festgelegten – Werte innerhalb der EU aufmerk-
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sam zu machen. Somit weist er auch auf den in der Beitrittsdiskussion über die Türkei oft vernachlässigten Aspekt hin, dass die »europäischen Werte« in manchen – auch als Kernländern angesehenen – EU-Staaten nicht selbstverständlich waren: »[…] death penalty was implemented in some member states and Giscard d’Estaing was the last French president to use the Guillotine in the 70s. So death penalty was abolished only in ›81 in France when the Socialists came to power. But than, other countries had been much ahead,/Portugal had abolished death penalty in the middle of the 19th century. Belgium had not implemented death penalty since the middle of the 19th century. But there is an evolution, this evolution is also leading to this/to the abolition of death penalty […]« (Zweiter EU-Experte)
Zugleich spricht der Zweite EU-Experte von der schnellen Anpassungsfähigkeit der neu beigetretenen Ostblockländer, die im Zuge ihres Beitritts zum Europäischen Rat alle Konventionen unterschrieben und ratifiziert hätten. Im Vergleich dazu verweist er auf die Widersprüche des türkischen Falls: »And all the Eastern European countries which had acceded to the Council of Europe in the beginning of the 90s, in 10 years they had signed and ratified all the conventions of the CoE and they had made tremendous progresses […]. But Turkey was left behind, nothing had been done for 40 years maybe, and when the Commission of Verheugen went to visit Ecevit in 2000, Ecevit (der damalige Ministerpräsident von der DSP: Demokratik Sol Parti [Linksdemokratische Partei], Anm.E.G.) said, yes everything was nearly done under Atatürk and the rest we will do it in six month. He didn’t do anything during the rest of his government because he was in coalition with Bahceli’s party (MHP: Milliyetci Hareket Partisi [Partei der Nationalistischen Bewegung, der Vorsitzende ist Bahceli], Anm.E. G.). And the first thing he did for example/– there was a very brilliant lady, Ms. Piskinsüt, the chairperson of the Committee of the Turkish Grand National Assembly on Human Rights. And because she was going to the Karakol (Türkisch im Original, Polizeirevier), the police and the prisons and to check if torture was implemented and she discovered a lot of things. […] the first thing Ecevit did was to get rid of her and to replace her by somebody of Bahceli’s party as the head of that Committee on Human Rights. I think we have to look to the past to see the/some people pretended to be good democrats but they didn’t do anything. And of course the situation has changed also and than we discussed later the Criminal code. It has been adopted by Atatürk inspired from Italian Penal Code. But Italy has completely changed its penal code long ago, even after the fall of the dictatorship, of Mussolini. But it was strange that Turkey was still with the penal code taken from the Italian fascist code. And it’s just now, this government could do the change, but Ecevit
VIII. E UROPÄISIERUNG
UND DIE
FRAGE
VON
M INDERHEITEN
IN DER
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either he didn’t want or he thought that the coalition he was ruling would fall […]. But the coalition was with extremes, and that was preventing the necessary reforms« (Zweiter EUExperte).
Abschließend kann festgehalten werden, dass die EU-Beitrittsperspektive seit 1999 zu wichtigen Reformen und Anpassungsleistungen im Bereich der Minderheitenrechte geführt hat. Jedoch zeigen sich nach wie vor Mängel in ihrer vollständigen Institutionalisierung. Die beiden EU-Experten repräsentieren eine offene Strategie gegenüber der Türkei, die von einer EU als »Wertegemeinschaft« ausgeht. Im folgenden Kapitel möchte ich mich abschließend mit der Frage auseinandersetzen, ob man die in den vorhergehenden Kapiteln dargestellten Debatten um Staatsbürgerschaft in der Türkei als Ausdruck ihrer Ausweitung im Sinne einer »multicultural citizenship« oder – wie zu Beginn der Arbeit formuliert – einer inklusiven Staatsbürgerschaft bewerten kann. Hierbei wird der Ansatz Will Kymlickas eine zentrale Rolle spielen. Deshalb werde ich, bevor ich auf die türkische Situation eingehe, zunächst auf die Hintergründe der Debatten um Multikulturelle Staatsbürgerschaft und insbesondere auf Kymlickas Ansatz eingehen.
IX. Multikulturelle Staatsbürgerschaft und die Minderheitenproblematik in der Türkei: warum Kymlickas Theorie für die Türkei?
1. Z U DEN GESELLSCHAFTSPOLITISCHEN H INTERGRÜNDEN DER D EBATTEN UM DEN N ATIONALSTAAT UND MULTIKULTURELLE S TAATSBÜRGERSCHAFT Insbesondere seit dem Zusammenbruch des Ostblocks gab es wieder vermehrt Nationalitätenkonflikte in multiethnischen Staaten (Miller 19951). Das Ende des so genannten Kalten Krieges durch das Aufbrechen der ideologischen Lager des Kommunismus und Kapitalismus hat zu einer gesellschaftlichen Desaggregation in den postkommunistischen Ländern geführt.2 Das Thema Nationalismus gewann deshalb in den 1990er Jahren an größerer Bedeutung (u.a. Kößler und 1
David Miller vertritt in diesem Zusammenhang die These, dass die Nationalbewegungen in den ehemaligen Ostblock-Staaten aufzeigen, dass es weniger eine Rolle spiele, welchem der beiden Systeme ein Land angehöre. Sondern: »It matters more where the boundaries of the state are drawn, who gets included and who gets excluded, what language is used, what religion endorsed, what culture promoted« (Miller 1995, 1).
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Die Debatte um die viel beachtete, jedoch sehr umstrittene, weil kulturalistische These des amerikanischen Politikwissenschaftlers, Samuel Huntington (1998), die Staaten der Welt würden sich nach dem Ende der beiden Systeme, zu sich feindlich gegenüber stehenden Kulturkreisen zusammenschließen, steht hier exemplarisch für die Schwierigkeiten, die neue weltpolitische Situation wissenschaftlich und politisch zu deuten. Zu Gegenthesen, die Huntingtons allzu grobschlächtige und homogenisierende These von der »Clash of civilizations« zu entkräften versuchen, siehe z.B. Harald Müller (2001) oder Benedikt Giesing (1999).
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Schiel 1994). Die zahlreichen Republiken der Sowjetunion, die nach und nach ihre Unabhängigkeit erlangten und zu souveränen Staaten wurden, verdeutlichen das Ausmaß der neuen Unabhängigkeitsbewegungen, die sich, gestützt auf das Prinzip des Nationalstaates (nationale Kultur und nationaler Staat), neu formiert haben. Die Politik und die sozialwissenschaftlichen Forschung widmeten sich diesen Entwicklungen verstärkt. Mit dem Bedeutungsgewinn des Nationalismus-Paradigmas wuchs auch das Interesse an der sozialwissenschaftlichen Erforschung der Staatsbürgerschaft. Wurde die Staatsbürgerschaft zuvor nur als rechtliches Prinzip der Gleichstellung und der Zugehörigkeit von Individuen zu einem Staatswesen gesehen, so bildete sich mit den zunehmenden »ethnischen Konflikten« auch das Interesse an den soziologischen Aspekten der Staatsbürgerschaft verstärkt aus (Mackert 1999). Im Zuge von zwei Hauptprozessen, nämlich der Pluralisierung durch Einwanderung und der Forderung nach Anerkennung durch autochthone Minderheiten in etablierten Nationalstaaten wurde auch klar, dass »many citizens with their distinct identities today have serious difficulties in becoming a part of the common culture in their nation-states, despite possesing the common rights of citizenship« (Icduygu u.a. 1999, 190). Im Nationalstaat behauptet moderne Staatsbürgerschaft »die Inklusion aller Mitglieder eines solchen Gemeinwesens, während alle historisch früheren Formen partikularistischen Charakter hatten, indem sie Fremde, Sklaven, Frauen, Kinder oder andere Mitglieder der Gemeinschaft vom Status des Staatsbürgers ausschlossen« (Mackert 1999, 12). Wie bereits dargelegt wurde, ist die Genese der Staatsbürgerschaft als Institution eng mit dem Nationalstaat verbunden. Es können nach Jürgen Mackert vier grundlegende Entwicklungen, die zu einer Veränderung und Infragestellung dieses an den Nationalstaat gebundenen Konzepts der Staatsbürgerschaft führten, identifiziert werden (hierzu auch Kapitel II.3): Ökonomische Rezession und fiskalische Krisen innerhalb von Nationalstaaten, die mit dem Prozess der Globalisierung verstärkt werden und die wohlfahrtstaatlichen Institutionen verändern. Diese Entwicklung führte aufgrund von Kürzungen von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen zur Verstärkung sozialer Ungleichheit und »neuer Armut«. Die Herausbildung von supranationalen Staatengebilden, wie der EU, wirft die Frage nach der fortbestehenden Relevanz der Institutionen des Nationalstaates auf.
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Die Umbrüche in Osteuropa, das Ende der Sowjetunion, Kriege und insbesondere ethnische Konflikte sowie die Zerstörung von Lebensgrundlagen, führen zu verstärkter Migration in westliche Staaten. Der Ausschluss von Migranten von Staatsbürgerrechten führt zu einer Veränderung des Selbstverständnisses dieser Gesellschaften. Daraus resultiert eine bis dahin nicht da gewesene formale Ungleichheit zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern. Die gesellschaftliche Pluralisierung und Individualisierung hat die tendenzielle Auflösung gesellschaftlicher Großgruppen und ihrer identitätsspendenden Kraft bewirkt. Dies führt zu einer Reintegration der Individuen in eine Vielzahl kultureller Gruppierungen. Zu verzeichnen ist deswegen auch stärker werdende Forderungen von Individuen und Gruppen nach Anerkennung kultureller Differenz (Mackert 1999, 12f.). Folglich ist auch der ökonomische Aspekt der Transformation des Wohlfahrtstaates für die Veränderungen der Institution der Staatsbürgerschaft von Bedeutung, und wurde Gegenstand politischer Debatten und wissenschaftlicher Auseinandersetzungen (Mackert 1999, 17; Turner 2000, 229f.). In diesem Kontext stellt sich hierbei die Frage, wie unter Bedingungen kultureller und ethnischer Heterogenität, Staatsbürgerschaft weiterhin als Instrument der Regulierung gesellschaftlicher Krisen und zur Herstellung sozialer Ordnung begriffen werden kann (Mackert 1999, 16). Auch die politische Philosophie nahm sich des Themas der Nation und Staatsbürgerschaft nun verstärkt an. War vor 1989 in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um soziale Ungleichheiten die Thematik der Produktion und Verteilung von ökonomischen Gütern vorherrschend, so widmeten sich Liberale und Linke nun vermehrt der Frage des Nationalismus (Moore 2006, 94). Die Diskussionen um die Einwanderungsgesellschaft und die Fragen, die die Einwanderung aufwarf, verstärkten die Auseinandersetzung mit »kultureller Differenz«. Die stärker werdende Pluralisierung der Bevölkerung in den Einwanderungsländern führte in einigen Ländern zu einer Neuverhandlung der Staatsbürgerschaft. Ahmet Icduygu u.a. beschreiben die neue Situation in den westlichen Staaten mit folgenden Worten: »Members of these states have different and competing cultural identities which often undermine the shared identity signified by their citizenship (1999, 190, Hervorhebung im Original). Es wird angenommen, dass der konventionelle Begriff der Staatsbürgerschaft nicht auf diese Formen von gesellschaftlicher Diversität antworten kann. Folglich wird von einer Krise des Nationalstaates ausgegangen, die am besten im Fall der französischen Debatten um das republikanische Integrationsmodell illustriert werden kann. Icduygu u.a. folgern aus dieser globalen Krise des Nationalstaates die Notwendigkeit neuer Konzepte von Staatsbürgerschaft:
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»What is required than is a new form of citizenship, a membership status in a modern democratic state which neither necessitates a homogeneous socio-political community nor subordinates various identity groups, but rather recognizes the diversity of identities, even values them, and incorporates them into the larger community, or common culture« (Icduygu u.a. 1999, 191).
In diesem Kontext wurden diverse Formen der Staatsbürgerschaft diskutiert, die als Erweiterung der konventionellen – als Mitgliedschaft in einer als kulturell homogen konzipierten Nation gedachten – Staatsbürgerschaft gelten können. So werden in den Sozialwissenschaften vor allem die Konzepte des »multicultural citizenship«, »differenciated citizenship«, »constitutional citizenship« und »dual« oder »multiple citizenship« verstärkt diskutiert (Icduygu u.a. 1999, 191). Letztere sind im Zusammenhang mit eingewanderten Minderheiten von Bedeutung. Im Folgenden möchte ich mich der Theorie des multicultural citizenship von einem neueren Vertreter dieser Debatten, Will Kymlicka, widmen und anschließend versuchen, diese auf den türkischen Fall anzuwenden. In diesem Zusammenhang ist im Anschluss an Christian Joppke zu erwähnen, dass »multicultural citizenship« nicht als eine abstrakte Forderung von Aktivisten oder Sozialphilosophen gesehen werden kann, sondern eine Realität in liberalen Gesellschaften ist, die sich in verschiedenen Formen der Anerkennung und von Rechten ausdrückt. Während es jedoch in den verschiedenen Staaten unterschiedliche Problemlagen gibt, und man insofern nicht von einer einheitlichen Politik des »multicultural citizenship« z.B. in den USA, Großbritannien oder Deutschland sprechen kann, kann die Politik der multikulturellen Integration – handelt es sich doch um eine Politik der »nationalen Inkorporation« – auch als Strategie der nationalen Integration gewertet werden (siehe Joppke 1999, 146). Will Kymlicka entwickelt eine Theorie der multikulturellen Staatsbürgerschaft, die einerseits auf eingewanderte Minderheiten, andererseits aber auch auf autochthone Minderheitengruppen innerhalb von Nationalstaaten anwendbar ist. Insofern spielt seine Theorie, deren Anwendung auf nicht-westliche Staaten bereits Gegenstand einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung geworden ist (Kymlicka und Opalski 2003, Kymlicka und He 2005a), für die türkische Debatte eine Rolle. Hier liegt der Fokus – im Unterschied zu vielen westlichen Staaten – weniger auf eingewanderte Gruppen als vielmehr auf autochthone Minderheiten wie die Kurden, Armenier und andere. Die Frage, die in den nächsten Abschnitten untersucht werden soll, ist, ob aufgrund dieser Veränderungen, die die Institution der Staatsbürgerschaft herausfordern, ethno-kulturelle Gruppen in der Türkei über eine multikulturelle Staats-
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bürgerschaft integriert und repräsentiert werden können. Welche politischen Maßnahmen müssen hierfür ergriffen werden? Sollten zum Beispiel Sprachenrechte für Minderheitengruppen eingeführt werden? Bedarf es einer Änderung der türkischen Verfassung in Hinblick auf die Bezeichnung des Staatsvolkes? Um mich im Folgenden diesen Fragen nähern zu können, werde ich mich zunächst mit der Theorie von »Multicultural Citizenship« (v.a. von Will Kymlicka) auseinandersetzen. Was beinhaltet diese? Wie kann sie für die Türkei fruchtbar gemacht werden?
2. W ILL K YMLICKAS T HEORIE DES M ULTICULTURAL C ITIZENSHIP In den Diskussionen um multikulturelle Staatsbürgerschaft und den Politiken des Multikulturalismus setzt sich der kanadische politische Philosoph Will Kymlicka, der eine umfassende liberale Theorie einer multikulturellen Staatsbürgerschaft vorgelegt hat, dezidiert und ausführlich mit den verschiedenen Positionen in dieser Debatte auseinander (insbesondere Kymlicka 2001 und 1995a, Kymlicka 2007). Dabei ist im Sinne Kymlickas unter Multikultureller Staatsbürgerschaft eine Reihe von gruppen-differenzierten Rechten für die Staatbürger/innen eines Landes zu verstehen. Von der kanadischen Erfahrung mit Quebec geprägt (vgl. Kymlicka 1999), geht es Kymlicka mit dieser Theorie insbesondere darum, die Bedingungen der Integration von ethno-kulturellen Minderheiten als besondere Gruppen innerhalb etablierter Nationalstaaten zu bestimmen. Kanada war der erste Staat unter den westlichen industrialisierten Staaten, der 1982 den Multikulturalismus offiziell in seine Verfassung aufgenommen hat und ihm 1988 durch den »Multiculturalism Act« eine legislative Form gab. Bis dahin war vielmehr eine Politik des »Bikulturalismus« vorherrschend, die um Ausgleich zwischen den anglophonen und frankophonen Bevölkerungsteilen bemüht war. Jedoch hatte die Politik des Bikulturalismus noch nicht die Forderungen der indigenen Bevölkerungsteile Kanadas (die so genannten »First Nations«) mitberücksichtigt. Die Politik des Bikulturalismus wurde zunehmend durch Forderungen der indigenen Bevölkerung und der neuen Einwanderer aus nicht-europäischen Ländern in Frage gestellt. Vor dem Hintergrund dieser kanadischen Erfahrung wird Kymlickas Multikulturalismus-Theorie verständlich. Der in Kanada ab Beginn der 1980er Jahre eingeschrittene Weg des Multikulturalismus als Politik des Ausgleichs der verschiedenen Bedürfnisse und Interessen ist aus diesem Blickwinkel als die Suche nach einem modus vivendi für eine neue nationale Einheit zu sehen (hierzu Kivisto und Faist 2007, 35).
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Wichtig ist, dass auch in der liberalen Position, die Kymlicka verteidigt, die Individualrechte als universell, d.h. für jeden Staatsbürger eines Staates in gleichem Maße, gelten. Nach Kymlicka lassen sich Minderheitenechte aus diesen individuellen Staatsbürgerrechten ableiten, und sind insofern auch eine Form von Menschenrechten. Geleitet von liberalen politischen und philosophischen Prämissen hinterfragt er in seinen Arbeiten die Dialektik des Nationalstaates, die darin besteht, dass nationale Minderheiten als gleichberechtigte Staatsbürger/innen in den Nationalstaat integriert wurden, es jedoch häufig zu einer erzwungenen Assimilation an die Mehrheitskultur kam (Kymlicka 2001, 1f.; hierzu auch Hannah Arendts Begriff der »Aporien der Menschenrechte«3). Die Frage, die sich Kymlicka folglich stellt, ist, wie in den modernen Nationalstaaten mehr Liberalität im Umgang mit nationalen und ethno-kulturellen Minderheiten möglich ist. Denn, trotz mancher gültiger Positionen der Nationalstaatsbildung, könne nicht hingenommen werden, dass diese Ziele durch die Assimilation, Exklusion oder Schwächung (disempowering) der Minderheiten erreicht würden (Kymlicka 2001, 2). Folglich fragt er insbesondere nach der Legitimität der gängigen nationalstaatlichen Praxis, die auf einer nationalen Kultur basierend alle Staatsbürger/innen, ungeachtet ihrer ethno-kulturellen Zugehörigkeit, als gleich ansieht.
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Hannah Arendt führt Folgendes zu den von ihr so genannten Aporien der Menschenrechte aus: »Der verborgene Konflikt zwischen Staat und Nation kam bereits bei der Geburt des ersten modernen Nationalstaates ans Licht, als die Französische Revolution die Erklärung der Menschenrechte mit der Deklaration des souveränen Volkswissens, also der spezifisch nationalen Souveränität, verband.« Sie folgert daraus: »Das praktisch-politische Ergebnis dieses Widerspruchs war, daß von nun an die Menschenrechte nur als spezifische, nationale Rechte anerkannt und garantiert wurden und daß der Staat selbst, dessen höchste Funktion es ist, jedem Einwohner seine Menschenrechte, seine Bürgerrechte und seine nationalen Rechte zu garantieren, den Charakter eines rationalen Rechtsstaates verlor und von den romantischen Staatstheorien als Inkarnation der ,Seele der Nation‹ vernebelt und vergöttert werden konnte […]« (Arendt 2000, 489f.). Arendt konkretisiert schließlich die Aporien der Menschenrechte mit folgenden Worten: »Unsere neuesten Erfahrungen […] scheinen gleichsam experimentell zu beweisen,[…] daß es politisch sinnlos ist, seine eigenen Rechte als unveräußerliche Menschenrechte zu reklamieren, da sie konkret niemals etwas anderes sein können als ,die Rechte eines Engländers‹ oder eines Deutschen oder welch anderer Nation immer« (Arendt 2000, 619).
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Zunächst ist in seiner Theorie zu unterscheiden zwischen dem Multikulturalismus von Einwanderungsländern und dem Multikulturalismus, der in den Nationalstaaten durch autochthone Gruppen gegeben ist.4 Daraus folgt eine Unterscheidung zwischen multination states, also Ländern, die alteingesessene ethnokulturelle Minderheiten haben und polyethnic states5, deren Bevölkerung aufgrund von Einwanderung multikulturell ist (Kymlicka 1995a, 17).6 In diesem Zusammenhang unterscheidet Kymlicka nationale Minoritäten (national minorities) als autochthone Bevölkerung eines Staates von eingewanderten Gruppen, die er als ethnische Gruppen (ethnic groups) bezeichnet (Kymlicka 1995a, 10). Was diese beiden Hauptgruppen unterscheidet, ist, dass einge-
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Im Kontext der multikulturellen Staatsbürgerschaft ist die Unterscheidung zwischen folgenden zwei Gruppen von besonderer Bedeutung: Eingewanderte Gruppen, die v.a. nach dem 2. Weltkrieg zu einer Multikulturalisierung von westlichen Industriegesellschaften geführt haben und autochthone Gruppen, die als alteingesessene Gruppen zu Minderheiten in Nationalstaaten geworden sind. Hier ist auf die Unterscheidung Michael Walzers zwischen dem Pluralismus der »Alten Welt« und dem der »Neuen Welt« hinzuweisen. Während der Pluralismus der »Alten Welt« auf die Existenz autochthoner Gruppen innerhalb von Nationalstaaten verweist, meint »Neue Welt« den Pluralismus, der durch Einwanderung entsteht (Kymlicka 1995b, 11). Während erstere sich eher in die vorgefundenen nationalen Kulturen integriert haben, widersetzten sich letztere viel stärker einer Integration oder kulturellen Assimilation (Kymlicka 1999, 30).
5
Den daraus folgenden Begriff von »polyethnic rights«, den er in seiner Arbeit »Multicultural Citizenship« benutzte, verändert Kymlicka später in »accomodation rights«, die Einwanderern Rechte geben, innerhalb des institutionellen Rahmens (geltende Landessprache, Verfassung usw.) liberaler Gesellschaften bestimmte, ihnen eigene kulturelle Praktiken auszuüben (Kymlicka 2001, 51).
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Kymlickas Ausgangspunkt in »Multicultural Citizenship« (1995a) ist die Feststellung, dass in liberalen Staaten historisch gesehen Einwanderer und ansässige nationale Minderheiten unterschiedlich behandelt wurden. Während erste häufig assimiliert wurden, erhielten letztere seinen Beobachtungen zufolge trotz Assimilationsversuchen im 18. und 19. Jahrhundert im Laufe des 20. Jahrhunderts verschiedene Selbstverwaltungsrechte. Kymlicka vertritt den Standpunkt, dass diese Tatsache von liberalen Theoretikern wenig beleuchtet und theoretisiert wurde. Folglich fragt er sich, ob es eine triftige Begründung für diese unterschiedliche Praxis in liberalen Staaten gibt, und wie man eventuell den Spalt zwischen liberaler Theorie und Praxis schließen kann (Kymlicka 2001, 51f.). Den wesentlichen Grund für die unterschiedliche Behandlung dieser Gruppen sieht er in den unterschiedlichen Erwartungshaltungen. Die unterschiedliche Behandlung sei von beiden Gruppen akzeptiert (Kymlicka 2001, 52).
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wanderte Minderheiten in den Einwanderungsländern häufig nicht auf einem zusammenhängenden Territorium leben. Dennoch sieht Kymlicka die theoretische Möglichkeit, dass Immigrantengruppen zu nationalen Minderheiten werden können: »It is possible, in theory, for immigrants to become national minorities, if they settle together and acquire self-governing powers« (Kymlicka 1995a, 15). Eingewanderte Minderheiten bilden – wie Kymlicka am Beispiel der USA zeigt – keine distinkten, institutionell vollständigen7 gesellschaftlichen Kulturen (societal cultures) im Vergleich zur dominierenden Aufnahmegesellschaft (Kymlicka 1995a, 78). Dagegen zeichnen sich nationale Minderheiten dadurch aus, dass sie historisch in einen Nationalstaat inkorporiert wurden, und in den meisten Fällen in der Vergangenheit über Selbstverwaltungsstrukturen verfügt haben. Kymlicka unterscheidet auch zwischen Staaten mit kleineren nationalen Minderheiten und Staaten, die aus mehreren größeren nationalen Gruppen bestehen: »A country which contains more than one nation is therefore, not a nation-state but a multination state, and the smaller cultures form ›national minorities‹« (Kymlicka 1995a, 11). Nation im Sinne Kymlickas meint: »[…] a historical community, more or less institutionally complete, occupying a given terrritory or homeland and, sharing a distinct language and culture […]« (Kymlicka 1995a, 11). Allgemeiner formuliert, handelt es sich bei der theoretischen Auseinandersetzung mit Gruppenrechten und neuen Zugehörigkeitsformen um ein anspruchsvolles Projekt Kymlickas, die liberale Theorie systematisch um Gruppenrechte zu erweitern (Mackert 1999, 29; Gerdes 1996). Dabei ist das entscheidende Merkmal des Liberalismus, dass es den Individuen bestimmte fundamentale Rechte zuerkennt. Kymlicka zufolge gewährt der liberale Nationalismus in diesem Zusammenhang einer jedweden Bevölkerung eine weit reichende Entscheidungsfreiheit bezüglich der Wahl eines Lebensentwurfs und erkennt ihnen das Recht zu, ein Konzept des guten Lebens zu wählen. Ebenso räumt die liberale Weltanschauung dem Individuum das Recht ein, diese Wahl zu überprüfen und sich eventuell für ein neues Lebenskonzept zu entscheiden8 (Kymlicka 1995a, 80; 2001, 39f.).
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Mit institutionell vollständigen gesellschaftlichen Kulturen meint Kymlicka solche, die über volle soziale, ökonomische, politische und Bildungs-Institutionen verfügen. Diese müssen zudem noch sowohl den privaten als auch den öffentlichen Bereich umfassen (Kymlicka 1995a, 78).
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»So we have two preconditions for leading a good life. The first is that we lead our life from the inside, in accordance with our beliefs what gives value to life. Individuals must therefore have the resources and liberties needed to lead their lives in accordance with their beliefs about value, without fear of discrimination or punishment. […]
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Die liberalen Theoretiker sehen Kulturen und Nationen als den grundlegenden Bezugsrahmen für die liberale politische Theorie an. In diesem Zusammenhang scheint es wichtig zu sein, dass Kymlicka das moderne Phänomen der ethnischen Gruppen innerhalb eines Nationalstaates als legitime Entwicklung ansieht, die liberale Theoretiker bislang nicht anerkennen wollten. Ein Grund hierfür war insbesondere die Annahme der liberalen Theoretiker, dass der Nationalstaat mit einer liberalen Tradition »differenzblind« zu sein habe. John Stuart Mill glaubte, dass freie Institutionen in einem multinationalen Staat nicht möglich seien, und verteidigte deshalb den Gedanken, dass […]«it is in general a necessary condition of free institutions that the boundaries of governments should coincide in the main with those of nationalities« (zitiert nach Kymlicka 1995a, 52). In dieser Sichtweise hatten ethno-kulturelle Minderheiten keinen Platz im Nationalstaat. Analog zu dieser von liberalen Theoretikern gemachten These von der Inkompatibilität von Minderheiten mit dem liberalen Geist von Nationalstaaten richteten sich auch marxistische Denker, wie Engels gegen die Existenzberechtigung von nationalen Minderheiten (Apitzsch 1999b, Kymlicka 1995a). Kymlicka wendet sich gerade gegen die Behauptung, dass die liberale Theorie mit Minderheitenrechten inkompatibel sei. Es sei auch falsch, dass die liberale Theorie sich schon in der Vergangenheit gegen besondere Rechte für bestimmte gesellschaftliche Gruppen gestellt habe. Minderheitenrechte waren Kymlicka zufolge vielmehr ein wichtiger Bestandteil der liberalen Theorie und Praxis des 19. Jh. und in der Zeit zwischen den Weltkriegen (Kymlicka 1995a, 49f.). Wie Kymlicka am Beispiel der USA, die häufig als staatsbürgerliche Nation mit liberaler Tradition gesehen wurde, zeigt, kann von einer kulturellen Neutralität der so genannten liberalen staatsbürgerlichen Nationen nicht die Rede sein. Deshalb muss Kymlicka zufolge die liberale Theorie die Forderung nach besonderen Rechten für ethno-kulturelle Gruppen in sich aufnehmen und die universellen Individualrechte um besondere Rechte für ethno-kulturelle Gruppen erweitern. Minderheitenrechte, wie sie von Will Kymlicka und Wayne Norman verstanden werden, haben zwei Merkmale gemeinsam: a) sie gehen über die bekannte Reihe von gemeinsamen bürgerlichen und politischen Rechten der individuellen Staatsbürgerschaft hinaus, die in allen liberalen Demokratien geschützt
The second precondition is that we be free to question those beliefs, to examine them in light of whatever information, examples, and arguments our culture can provide. Individuals must therefore have the conditions necessary to acquire an awareness of different views about the good life, and an ability to examine these views intelligently« (Kymlicka 1995a, 81).
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sind; b) sie werden umgesetzt mit dem Ziel der Anerkennung und »Anpassung« (»accommodation«) der besonderen Identitäten und Bedürfnisse von ethnokulturellen Gruppen (Kymlicka und Norman 2000, 2).9 Das Konzept von multikultureller Staatsbürgerschaft kann als eine Erweiterung der als monokulturell kritisierten Staatsbürgerschaft angesehen werden, und wird von Will Kymlicka auf zeitgenössische multikulturelle Gesellschaften angewendet. Diese sind zumeist liberale Demokratien, wie Kanada, die USA oder Großbritannien. Das Argument ist, dass in liberalen Gesellschaften aufgrund einer impliziten Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Raum ohnehin schon die in der privaten Sphäre artikulierte Differenz ihrer Staatsbürger anerkannt wird. Folglich geht es beim Begriff der multikulturellen Staatsbürgerschaft, wie er von Kymlicka verstanden wird, darum, minoritäre Kulturen (z.B. nationale oder ethnische Gruppen) in ihrer Eigenschaft als solche am politischen Gestaltungsprozess teilhaben zu lassen, und ihnen in diesem Rahmen bestimmte Rechte zuzuerkennen.10 Zentral ist hierbei das Argument, dass Nationalstaaten kulturell nicht neutral sind und sein können. Sie bevorzugen meistens eine Kultur oder Sprache, wie dies am Beispiel der USA und des Englischen als Amts- und Kultursprache deutlich wird (Kymlicka 1999, 21). Hierzu führt Kymlicka folgendermaßen aus: »Some people suggest that a truly liberal conception of national membership should be based solely on accepting political principles of democracy and rights, rather than integra-
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Kymlicka und Norman weisen darauf hin, dass die neue Diskussion um staatsbürgerliche Tugenden und Praktiken veränderten Herausforderungen und Erfordernissen moderner Gesellschaften, wie beispielsweise Einwanderungs- und Integrationsprozessen, entspringt. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Mehrheiten und Minderheiten. Sie verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass Demokratietheoretiker das auf die individuelle Stimmabgabe zentrierte Verständnis öffentlicher Meinungsbildung als unzureichend ansehen. Denn diese könne nur Gewinner repräsentieren und nicht einen Gemeinwillen. Zudem könnten vor allem ethno-kulturelle und andere marginalisierte Gruppen von einer wirklichen Machtausübung innerhalb des Systems ausgeschlossen werden. Stattdessen könnten durch den öffentlichen Diskurs, der einer Stimmabgabe vorausgeht, verschiedene, insbesondere marginalisierte und ethno-kulturelle Gruppen am ehesten einbezogen werden (Kymlicka und Norman 2000, 9).
10 In diesem Zusammenhang spricht Kymlicka von 1. Selbstverwaltungsrechten, 2. Polyethnischen Rechten und 3. Speziellen Repräsentationsrechten für die verschiedenen Minderheitengruppen (Kymlicka 1996).
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tion into a particular culture. This non-cultural conception of national membership is often said to be what distinguishes the ›civic‹ or ›constitutional‹ nationalism of the United States from illiberal ›ethnic‹ nationalism. But […] this is mistaken. Immigrants to the United States must not only pledge allegiance to democratic principles, they must also learn the language and history of their new society"(Kymlicka 1995a, 23f.).
Daraus folgert Kymlicka, dass ein kulturell neutraler Nationalstaat in der Realität eine Illusion ist. Denn sogar ein kulturell »neutral« erscheinender multinationaler Staat (multination state), der allen seinen Staatsbürger/innen unabhängig ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe universelle Individualrechte gewähre, privilegiere häufig eine gesellschaftliche Kultur. Dies sei z.B. der Fall, so Kymlicka, bei Grenzziehungen innerhalb eines Staates, bei der Sprache, die in Schulen, Gerichten und im öffentlichen Dienst benutzt werde, sowie bei gesetzlichen Feiertagen und der Teilung der legislativen Gewalt zwischen Zentral- und Regionalgewalt (Kymlicka 1995a, 51f.). Jedoch unterscheiden sich diese Typen zumindest darin, dass in der staatsbürgerlichen Konzeption des Nationalstaates der Zugang für potentielle Mitglieder relativ offen und nicht an »Rasse« oder Hautfarbe gebunden ist (Kymlicka 1995a, 23). Das Konzept der multikulturellen Staatsbürgerschaft geht hier jedoch weiter als das auf die »individuelle Staatsbürgerschaft« (Schnapper 2004) basierende Verständnis einer »Gemeinschaft der Staatsbürger/innen« (Schnapper 2003), und will die Anerkennung und Repräsentation von ethnischen Gruppen im öffentlichen Bereich. Damit soll eine adäquate Repräsentation von vormals nicht anerkannten Gruppen im liberalen Staat gewährleistet werden. Dies wird aus demokratietheoretischer Sicht als wichtig erachtet. Charles Taylor gibt eine in der Diskussion um die Anerkennung von Gruppen vorgebrachte These wie folgt wieder: »Die These lautet, unsere Identität werde teilweise von der Anerkennung oder nicht NichtAnerkennung, oft auch von der Verkennung durch die anderen geprägt, so dass ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen wirklichen Schaden nehmen, eine wirkliche Deformation erleiden kann, wenn die Umgebung oder die Gesellschaft ein einschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild ihrer selbst zurückspiegelt. Nichtanerkennung oder Verkennung kann Leiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kann aber den anderen in ein falsches deformiertes Dasein einschließen« (Taylor 1997, 13f., Betonung im Original).
Die Frage ist, inwiefern Taylors Ansatz auch für den türkischen Fall Gültigkeit gewinnt.
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2.1 Zur sozialphilosophischen Begründung von Minderheitenrechten bei Kymlicka Die neuen Bewegungen um kulturelle Rechte innerhalb von Nationalstaaten sind nicht als antimodernes Phänomen zu klassifizieren, sondern sie bilden im Gegenteil moderne Erscheinungsformen von Gruppenbindungen. Sie sind in diesem Sinne keine natürliche Begleiterscheinung des »Modernisierungsprojekt(s) der Nationenbildung«, sondern selbst eine Form der Nationenbildung (Kymlicka 1999, 32). Bislang wurde von Modernisierungstheoretikern die Meinung vertreten, die Bindung an kleinere nationale Gruppen in Nationalstaaten werde mit der Zeit zugunsten der ökonomisch und politisch dominierenden Nationalkultur zurückgehen (z.B. Ernest Gellner 1995). Eine solche Rückbindung an die kleinere nationale Kultur sei zudem illiberal, da die individuelle Autonomie, die durch die Zugehörigkeit zur größeren nationalstaatlichen Gruppe gewährleistet wird, zugunsten der neuen Bindung an die kleinere nationale Gruppe aufgegeben werde. Dagegen glaubt Will Kymlicka, dass der moderne Wunsch nach Freiheit und Autonomie »die Verpflichtung des Einzelnen auf die eigene kulturelle Identität nicht im geringsten geschwächt, sondern in vielen Fällen erst recht gestärkt« habe (Kymlicka 1999, 19). Gestützt auf Ronald Dworkin argumentiert Will Kymlicka, dass es eine Notwendigkeit gebe, gesellschaftliche Kulturen zu schützen. Demnach beinhalten gesellschaftliche Kulturen »ein geteiltes Vokabular der Tradition und Konvention, das dem kompletten Spektrum sozialer Praktiken und Institutionen zugrunde« liegt. Um die Bedeutung dieser sozialen Praktiken verstehen zu können, muss es ein Verständnis dieses Vokabulars, »das heißt ein Verständnis der Sprache und Geschichte, die dieses Vokabular begründen«, seitens der Gesellschaftsmitglieder geben (Kymlicka 1999, 34). Nach Kymlicka hat eine Kultur folglich nicht an sich einen Wert, sondern ihr Wert besteht darin, dass Individuen mit Hilfe eines entsprechenden Zugangs zu dieser Kultur über einen Bereich sinnvoller Optionen verfügen (Kymlicka 1999, 34, dazu auch Moore 2006, 97). Auch David Miller (1995, 85-6) argumentiert in einer ähnlichen Weise, wenn er ausführt: »A common culture11 gives its bearers not only a sense of where they belong and provides an historical identity, but also provides them with a background against which more individual choices about how to live can be made«. Will Kymlicka argumentiert, dass Individuen erst durch den Gebrauch der eigenen Kultur autonom werden. Es gibt zwei Hauptargumente für die liberale
11 Gemeint ist nationale Kultur, Anm.E. G.
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Verteidigung von Minderheitenrechten: »[…] that individual freedom is tied in some important way to membership in one’s national group; and that groupspecific rights can promote equality between the minority and majority« (Kymlicka 1995a, 52). Hierbei ist es wichtig festzustellen, dass Kymlicka den Begriff von ethno-kulturellen Gruppen nicht »rassisch« oder essentialistisch versteht. Vielmehr scheint seinem Kulturbegriff ein voluntaristischer Aspekt beizuwohnen. Am Beispiel Kanadas argumentiert er – um sein kulturelles Verständnis von nationalen Gruppen zu verdeutlichen –, dass Immigration hier zu einem »Mix« (z.B. durch bikulturelle Heirat, intermarrige) der nationalen Gruppen Kanadas geführt habe. Man könne nicht von ethnisch und »rassisch« homogenen nationalen Kulturen ausgehen. Insofern könne man davon ausgehen, dass die Zahl der französischsprachigen Kanadier mit »gallischer« (d.h. französischer Herkunft) oder die der indianischen Kandier mit allein indianischer Herkunft kontinuierlich zurückgehe. Kymlicka folgert daraus: »In talking about national minorities, therefore, I am not talking about racial or descent groups, but about cultural groups« (Kymlicka 1995a, 23). Kymlicka erachtet es insoweit als einen wichtigen Test für die liberale Konzeption von Minderheitenrechten, ob sie nationale Zugehörigkeit in Begriffen der Integration in eine Kulturgemeinschaft sieht oder als Frage der ethnischen Herkunft. »National membership should be open in principle to anyone, regardless of race or colour, who is willing to learn the language and the history of the society and participate in its social and political institutions« (Kymlicka 1995a, 23). Zwar betont Kymlicka die Bedeutung der kulturellen Bindung des Individuums an eine Gruppe. In Anlehnung an Avishai Margalit und Joseph Raz, die als Liberale die Bedeutung der kulturellen Bindung hervorheben, argumentiert er aber, dass nicht accomplishment (Erfüllung von Kriterien einer Mitgliedschaft) sondern belonging (Zugehörigkeit) für die Mitgliedschaft zu einer Gruppe wichtig sei. Nach Avishai Margalit und Joseph Raz ist die Zugehörigkeit zu einer durchdringenden – im Sinne einer sich behauptenden – Kultur (pervasive culture) aus zwei Gründen wichtig für die Wohlfahrt des Individuums: Einerseits bietet sie Wahlmöglichkeiten bezüglich sinnvoller Lebensentwürfe, andererseits ist die Zugehörigkeit des Individuums zu einer bestimmten Gruppe wichtig für dessen Selbst-Identifikation und die Art und Weise, wie andere es sehen. Avishai Margalits und Joseph Raz’ Argument ist, dass die Zugehörigkeit (belonging) einen sichereren Status verleiht als die bloße Erfüllung von Zugehörigkeitskriterien (accomplishment). Die Identifikation des Einzelnen mit einer Gruppe sei in diesem Fall weniger labil (Kymlicka 1995b, 7). Kymlicka glaubt, dass eine Theorie der Gerechtigkeit den Wunsch einer Gruppe zum Zugang zur eigenen Kultur in sich aufnehmen müsse. Auch glaubt
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er, dass die meisten Liberalen, den legitimen Wunsch einer Gruppe, in seiner »eigenen Kultur zu bleiben« implizit akzeptiert haben (Kymlicka 1995a, 86). Im Anschluss an John Rawls argumentiert er: »Hence for the purposes of developing a theory of justice, we should assume that ›people are born and are expected to lead a complete life‹ within the same ›society and culture‹« (Kymlicka 1995a, 87). Ebenso glaubt Kymlicka, dass die kulturellen Verbindungen der Individuen normalerweise zu stark sind, um aufgegeben werden zu können. Ein weiterer wichtiger Punkt, der in diesem Zusammenhang im Umgang mit ethno-kultureller Diversität eine Rolle spielt, ist die Frage, inwiefern kulturelle Gruppen oder nationale Kulturen als distinkte Kulturen verteidigt werden sollen. Inwiefern kann man von distinkten, separaten Kulturen sprechen? Kymlicka wendet sich hier gegen Jeremy Waldron, der von einer mélange der Kulturen ausgeht. Nach Waldron sind vielmehr verschiedene kulturelle Traditionen und Quellen für das Individuum wichtig, als nur eine bestimmte und abgegrenzte. Nach Waldron gibt es keine festen Kulturen, da man nicht bestimmen könne, wo sie anfangen und aufhören. Hier gibt Waldron als Beispiel die Bedeutung der Grimmschen Märchen, der römischen Literatur oder auch der Bibel als unterschiedliche kulturelle Ressourcen für die amerikanische Kultur an, um damit zu zeigen, dass Kulturen immer auch von anderen Kulturen gelernt haben, und insofern ihre Grenzen fließend sind. Kymlicka dagegen verweist darauf, dass kulturelle Wahlmöglichkeiten für das Individuum eine Bedeutung haben müssen. Und dies sei nur möglich, wenn sie Teil des geteilten Vokabulars des sozialen Lebens seien, das in den sozialen Praktiken verkörpert sei und auf einer gemeinsamen Sprache beruhe. Letztendlich seien die Märchen der Gebrüder Grimm auch nur dadurch Teil der angelsächsischen Kultur geworden und hätten damit eine weite Verbreitung gefunden, weil sie in eine der amerikanischen Bevölkerung verständliche Sprache übersetzt worden seien (Kymlicka 1995a, 102f.; Kymlicka 1995b, 7f.). Weiterhin gewinnt ein Argument Kymlickas an Bedeutung: die Gesellschaftskulturen werden im Zuge einer Liberalisierung »dünner«, d.h. liberale Gesellschaften werden sich ähnlicher. Dies liege daran, dass liberalisierte Kulturen ihren Mitgliedern erlauben, traditionelle Lebensformen in Frage zu stellen. Je liberaler eine Kultur werde, umso weniger seien die Mitglieder geneigt, die gleichen substantiellen Konzeptionen über das gute Leben zu teilen. Einzelne Mitglieder solcher Gesellschaften seien dann geneigter, mehr und mehr Werte mit Mitgliedern anderer gesellschaftlicher Kulturen zu teilen (Kymlicka 1995a, 87). Hier wird von Kymlicka das Beispiel Québecs angeführt, dessen Bürger in den 1950er Jahren noch sehr stark von einer ländlichen, katholischen, konservativen und patriarchalischen Konzeption des guten Lebens geprägt waren. Mit der
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zunehmenden Liberalisierung und Modernisierung der Gesellschaft Québecs diverzifizierten sich auch die Lebensstile. Kymlicka führt dazu Folgendes aus: »[…] Québécois society now exhibits all the diversity that modern society contains – e. g. atheists and Catholics, gays and heterosexuals, urban yuppies and rural farmers, socialists and conservatives etc.« (Kymlicka 1995a, 87). Heute ein Québéquois zu sein bedeutet im Sinne Kymlickas deshalb, Mitglied einer dünnen oder »ausgedünnten« Kultur zu sein, die in vielen Bereichen anderen liberalen Gesellschaften ähnelt Von verschiedenen Seiten wurde an Kymlickas Ansatz Kritik geübt. Insbesondere richtet sie sich gegen den zu statischen und ethno-kulturelle Gruppen als homogene Einheiten denkenden Gruppenbegriff. Kymlickas Theorie kann insbesondere vorgehalten werden, dass sie nicht auf einen analytischen Gruppenbegriff beruht, sondern auf einen positivistischen, der nicht die eigentlichen ethnokulturellen Gruppenbildungsprozesse zum Gegenstand der Analyse macht, sondern von der a priori Existenz solcher Gruppen ausgeht. Im Zusammenhang mit diesem Aspekt bemängeln einige Autoren, wie Murat Akan (2003), dass Kymlickas Theorie nicht mit empirischen Untersuchungen untermauert ist. Anschließend an diese Kritik versucht Akan am Beispiel der Kopftuchdebatte in der Türkei und in Frankreich zu zeigen, dass im Gegensatz zu Kymlickas Argumentation nicht der »differenzblinde Liberalismus« ein Hindernis für die Artikulation von kultureller Differenz ist, sondern »Staats-Nationalismus« (Akan 2003, 60). Gegen Akans Kritik an Kymlicka lässt sich jedoch einwenden, dass er durch seine Untersuchung über die Behandlung des Kopftuchtragens in zwei Ländern mit starker laizistischer Prägung sich nicht dem »klassischen« Thema der kulturellen Differenz im Ansatz Kymlickas, nämlich den Forderungen von ethnokulturellen Gruppen, annimmt, sondern sich dem Problem des Tragens religiöser Symbole widmet. Folglich hat diese eher mit der Problematik der Trennung von Staat und Religion zu tun als mit der Frage des Umgangs und Rechte von ethnokulturellen Kollektiven, die z.B. Sprachenrechte fordern. Zudem idealisiert Akan den Begriff des »differenzblinden Liberalismus« als kulturell neutral. Dabei stellt Kymlicka – wie bereits erläutert – zu recht fest, dass eine solche behauptete Differenzblindheit auch für die angeblich liberalsten Gesellschaften, wie den USA nicht zutreffen, da hier meistens eine Sprache die Amtsprache darstellt, während andere marginalisiert werden. Im Folgenden möchte ich insbesondere die von Seyla Benhabib aus Sicht der Diskurstheorie und dem normativen Modell von Demokratie (Benhabib 2000 und 2008c) gegen Kymlicka formulierte Kritik darstellen. Dabei sehe ich den Ansatz Seyla Benhabibs in der Diskussion um Gruppenrechte als ein »Korrek-
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tiv« der Theorie Will Kymlickas an, bei der man insbesondere den zu statischen Gruppenbegriff einer kritischen Betrachtung unterziehen kann. Wie später gezeigt wird, spielt in der Diskussion um die Anerkennung und die Rechte von ethno-kulturellen Gruppen im Allgemeinen und der hier untersuchten türkischen Debatte im Besonderen dieses »Korrektiv« einerseits eine wichtige Rolle für die (normative) Debatte über individuelle versus kollektive Gruppenrechte und anderseits für die realitätsnahe Verwendung des Gruppenbegriffs. Hier geht es im Anschluss an die von Rogers Brubaker (2007) formulierte Kritik am »Gruppismus« darum, die internen Differenzen von als homogen gedachten ethnokulturellen Gruppen mit in die Analyse einzubeziehen und zu fragen, welche Konsequenzen dies für ihre gesellschaftliche Integration hat. 2.2 Seyla Benhabibs Kritik an Kymlicka In der Frage, wie Nationen oder nationale Minderheiten zu definieren sind, lässt sich gegen Kymlicka einwenden, dass das, was er Gesellschaftskulturen (»societal groups«) nennt, hinsichtlich Religion oder Dialekt heterogen ist. Seyla Benhabib zum Beispiel wendet gegen Kymlicka ein, man könne nicht von der Existenz solcher Gesellschaftskulturen sprechen. Sie beruft sich auf die Heterogenität von Gruppen und Gesellschaften, die sich aus »mannigfaltigen, geschichtlich überlieferten symbolischen und materiellen Praktiken« zusammensetzen (Benhabib 2000, 47f.). Vielmehr müsse man innerhalb einer Gesellschaft von konkurrierenden Gruppen, Klassen, Geschlechtern usw. ausgehen, deren Geschichte aus Kämpfen um »Macht, Symbolisierung und Bedeutung, um kulturelle und politische Hegemonie« bestehe. Benhabib lehnt die Definition von Gesellschaftskulturen (societal groups) bei Kymlicka als zu »einheitlich, einsträngig und idealistisch« ab, »da sie soziale Struktur mit sozialem Sinn« verwechsele (Benhabib 2000, 48). Darüber hinaus kritisiert Benhabib Kymlickas Vorzug der kulturellen Zugehörigkeit gegenüber anderen Ansprüchen, wie z.B. der Geschlechterzugehörigkeit. Sie plädiert für eine zumindest gleichrangige Stellung anderer Identitätsansprüche und stellt die Bevorzugung und öffentliche Anerkennung institutionalisierter Kulturen gegenüber informellen und amorphen Kulturen in Frage (Benhabib 2000, 49). Benhabib wendet gegen Kymlicka und auch Charles Taylor ein, ihr Kulturbegriff sei essentialistisch. Insbesondere Kymlickas Schlussfolgerung, Kultur im Sinne des politischen Liberalismus stelle einen eigenen Wert dar, weil er das Individuum in die Lage versetze, sinnvolle Wahlmöglichkeiten für die eigene Lebensführung zu erhalten, erlaube es objektiv nicht, Kultur nach ethnischen und nationalen Kulturen, sowie nach Kulturen religiöser Gruppen oder sozialer Bewegungen zu differenzieren (Benhabib 2000, 51). Das
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Projekt Kymlickas, den liberalen Individualismus und dessen Autonomiegedanken mit kulturellen Gruppenrechten zu vereinbaren sei widersprüchlich und deswegen sehr schwierig umzusetzen. Dagegen möchte Benhabib der individuellen Autonomie den Vorzug »gegenüber den Gruppenansprüchen auf kulturelle Reproduktion bestimmter Lebensformen und eines sprachlich überlieferten Erbes« geben (Benhabib 2000, 51f.). Vom Standpunkt einer diskurstheoretischen12 (siehe Benhabib 2000 und 2008c) Perspektive sei die »›Demokratisierung der Sittlichkeit‹ gegenüber der ›Erhaltung tradierter Lebensformen‹ vorrangig«. Aus Sicht eines Vorzugs einer universalistischen Moral gibt es Benhabib zufolge ebenso keine moralische Verpflichtung, kulturelle Identitäten, die mit einer solchen Demokratisierung unvereinbar sind, am Leben zu erhalten (Benhabib 2000, 58). Die zentrale Prämisse der Diskursethik lautet, »dass nur diejenigen Normen und normativen institutionellen Regelungen« Gültigkeit besitzen, denen alle Beteiligten in einer diskursiven Argumentationssituation ohne Zwang zustimmen können.13 Benhabib vertritt in Abgrenzung zu einem Modell des politischen Liberalismus, wie er von John Rawls und Will Kymlicka vertreten wird, das Modell einer deliberativen Demokratie. Im Gegensatz zum politischen Liberalismus, dem eine scharfe Trennung zwischen dem öffentlichen Raum als dem Bereich der »öffentlichen Übereinstimmung« und dem privaten Bereich, in dem Individuen gegensätzliche Normen und kulturelle Praktiken leben können, zugrunde liegt, sind für das Modell der deliberativen Demokratie diese Grenzen als »diskursiv, anfechtbar und politisch neu definierbar« aufzufassen (Benhabib 2000, 60f.). So können bestimmte kulturelle Praktiken von bestimmten kulturellen Gruppen in Einwanderungsländern im Sinne der Diskursethik und des von Benhabib
12 Ihre Diskursethik begründet Seyla Benhabib in ihrer Arbeit »Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne (1995), Frankfurt a.M.. 13 Für Benhabib ist dies die Metanorm der moralischen Autonomie im Rahmen der Diskursethik. Damit diese Metanorm in einem Diskurs eingehalten werden kann, müssen zwei weitere Normen, nämlich »universale Achtung« und »egalitäre Reziprozität« erfüllt werden. Dabei bedeutet »universale Achtung«, dass in einem Diskurs die Standpunkte verschiedener Diskursteilnehmer als der gleichen Beachtung würdig angesehen werden müssen. »Egalitäre Reziprozität« bedeutet hingegen, dass die Diskursteilnehmer sich als »menschliche Wesen behandeln sollten, deren Fähigkeit, den eigenen Standpunkt zu artikulieren«, gefördert werden sollte, indem soziale Verhaltensweisen kultiviert werden sollten, die das diskursive Ideal verwirklichen helfen (Benhabib 2000, 59).
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vertretenen Modells einer deliberativen Demokratie nicht toleriert werden. Der Grund hierfür sei, so Benhabib, dass diese Praktiken, wie z.B. die in bestimmten Gemeinschaften praktizierte körperliche Züchtigung, weltweit hinterfragt, darüber im Sinne der Diskursethik debattiert und ein normativer Konsens gefunden werde und »demgemäß diese Praktiken entschieden zu verurteilen sind« (Benhabib 2000, 63). Auch wenn solche Praktiken im Sinne eines Anti-Relativismus und der Verteidigung eines universellen Egalitarismus durch die Diskursethik abgelehnt werden, beurteilt Benhabib dies in der Frage von Sprachen anders. Benhabib betont, dass Sprachenrechte innerhalb der Diskursethik eine Sonderstellung innehaben: »Die Sprache ist diejenige soziale Universalie, durch die menschliches Handeln allererst möglich wird. Wenn Sprachenrechte nicht anerkannt werden, wird die moralische Autonomie des anderen ebenfalls nicht anerkannt. Wenn wir die Sprache des anderen ablehnen, leugnen wir deren fundamentale menschliche Fähigkeit zu handeln, zu erzählen und Gründe anzuführen« (Benhabib 2000, 64).
In diesem Punkt der Anerkennung von Sprachenrechten mit dem Argument, dass aus diskursethischer Sicht die Sprache zur Autonomie des Individuums beiträgt, ähneln sich die Positionen Benhabibs und Kymlickas. Hierin stimmt sie mit Kymlickas Argumentation der Entwicklung von individueller und moralischer Autonomie durch die Zugehörigkeit und das Leben einer Kultur überein. Für Benhabib stellt die Sprachenvielfalt in liberalen Gesellschaften einen »handhabbaren« Pluralismus kultureller Praktiken dar. Dagegen sind aus ihrer Sicht z.B. religionsgebundene Bildungseinrichtungen für ethnische und kulturelle Minderheiten umstrittener, weil die dort angewandten Erziehungsmethoden »die Normen und Praktiken autonomen Handelns und Denkens untergraben oder fördern können« (Benhabib 2000, 65). Benhabib grenzt sich von Will Kymlicka und Rainer Bauböck«, wie sie es sagt, als »Befürwortern« von gruppenspezifischen Rechten ab. Diese würden eine Verankerung von Sprachenrechten, politischen Teilnahmerechten und möglicherweise sogar territorialen Rechten auf Verfassungsebene verlangen. Sie glaubt dagegen, dass »die Rechte sprachlicher Selbstbestimmung und politischer Partizipation aus den grundlegenden Normen der Diskursethik, nämlich der Respektierung individueller Autonomie und der egalitären Reziprozität, abgeleitet werden können« (Benhabib 2000, 67). Benhabib argumentiert, dass es nicht notwendig sei, diese Rechte als »,gruppenspezifische‹ konstitutionelle oder staatsbürgerliche Rechte« zu formulieren, da sie als zur Teilnahme aller am zivilgesellschaftlichen Diskurs befähigende Voraussetzungen gelten könnten.
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Vielmehr solle man sie als »Sonderrechte und Ansprüche« ansehen, »die kulturellen, sprachlichen, ethnischen oder religiösen Minderheiten zukommen, um sie zur vollen Ausübung ihrer individuellen moralischen Autonomie und der Einlösung ihrer staatsbürgerlichen Rechte zu befähigen« (Benhabib 2000, 67). An diesem Argument Benhabibs wird jedoch nicht deutlich, worin sich die Bezeichnung »Sonderrechte« oder »Ansprüche« von gruppenspezifisch definierten Rechten unterscheidet. Denn »Sonderrechte« würden auch nur dann Sinn ergeben, wenn die Gruppe, die von diesen Rechten Gebrauch machen kann, eindeutig definiert werden kann. Dazu müsste sie als Gruppe oder zumindest ihre Mitglieder als Angehörige dieser Gruppe identifiziert werden können. Festzuhalten ist jedoch, dass Benhabib sich gegen die konstitutionelle Festschreibung von Gruppen ausspricht und die Befähigung zur politischen Partizipation aller Individuen im Sinne der Diskursethik favorisiert. Mit dieser Position lehnt sie die Anerkennung von kulturellen Besonderheiten ethno-kultureller Minderheiten in den heutigen Einwanderungsgesellschaften und nationalen Minderheiten in den klassischen Nationalstaaten nicht ab. Jedoch folgt ihre Argumentation in erster Linie der normativen Position der Chancengleichheit bei der Beteiligung am zivilgesellschaftlichen Diskurs, die zunächst eine staatsbürgerliche und demokratische Gleichheit und Gleichwertigkeit aller Gesellschaftsmitglieder voraussetzt. Zudem ist ihre Position, ethno-kulturelle Gruppen als solche nicht per Verfassung oder in einer sonstigen Weise offiziell anzuerkennen, von dem Argument geleitet, dass somit Gruppengrenzen weniger durchlässig würden, und dass die individuelle Autonomie von Mitgliedern einer Gruppe – im Sinne eines internen Differenzrechts – darunter leiden könnte (vgl. auch Benhabib 1993, 100)14. Denn Autonomie wird bei Benhabib zu allererst als Autonomie des Individuums begriffen und nicht als die Autonomie eines Kollektivs. Deshalb räumt sie der Autonomie des Individuums gegenüber seiner kulturellen Gruppe auch eine herausragende Bedeutung ein, wie im folgenden Zitat deutlich wird: »Wenn unser Ziel die Erhaltung ethnischer, kultureller und linguistischer Vielfalt um ihrer selbst willen ist, riskieren wir eine Unterordnung moralischer Autonomie unter eine Äs-
14 Zu diesem Aspekt führt sie Folgendes aus: »Meine These ist, dass die Probleme oder die Reihe von Fragen, die durch die unklare Terminologie von ›Differenz‹, ›Andersheit‹, ›Heterogenität‹, oder ›le différend‹ angesprochen sind, für das Ethos gegenwärtiger demokratischer Gemeinschaften wesentlich sind, dass die Theoretiker der Differenz jedoch nicht gezeigt haben, wo die Grenze zwischen den Formen der Differenz zu ziehen ist, die Demokratie fördern und den Formen der Differenz, die antidemokratische Bestrebungen widerspiegeln« (Benhabib 1993, 100).
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thetik der Pluralität. […] Wir müssen entscheiden, ob der ästhetische Wert der Pluralität kultureller Lebensformen wie die der Ureinwohner Amerikas, der Roma und Sinti oder Kurden vor der Freiheit, Gerechtigkeit und Würde rangieren soll, die all ihren Angehörigen und so auch den Frauen zusteht. […] Es kann nicht die Aufgabe des liberaldemokratischen Staates sein, die erstarrte Schönheit dieser traditionellen Lebensformen zu erhalten« (Benhabib 2000, 69).
Die Norm der Autonomie im Rahmen der Diskursethik stellt für sie eine Norm dar, »die zur verfassungsrechtlichen Anerkennung universeller Menschenrechte« führt. Mit dieser Norm werde auch »die Asymmetrie zwischen den Rechten der Staatsbürger und denen anderer Mitglieder der Zivilgesellschaft in entscheidenden Hinsichten« untergraben (Benhabib 2000, 70). Benhabib spricht sich folglich für die moralische und individuelle Autonomie im Sinne der Diskursethik und damit gegen die Anerkennung von expliziten Gruppenrechten aus. Obwohl Benhabib in relativer Übereinstimmung mit Kymlicka und sogar – wie sie es nennt – »kommunitaristischen Multikulturalisten« wie Bhikhu Parekh nationale Kultur als das Medium ansieht, in dem individuelle Autonomie, Sinn und ein Zugehörigkeitsgefühl für das Individuum entstehen kann, scheinen Gruppenrechte für vormals benachteiligte ethno-kulturelle Gruppen für sie keine gangbare Lösung darzustellen. Im Sinne Will Kymlickas und auch Charles Taylors ist abschließend davon auszugehen, dass Minderheitenkulturen eine moderne Erscheinung im Nationalstaat sind, die um Anerkennung kämpfen (siehe auch Fraser und Honneth 2003). In diesem Prozess bedienen sie sich moderner politischer Argumente, moderner Massenmedien, wie dem Internet oder dem Sattelitenfernsehen.15 Sie fordern im Sinne einer demokratischen Gleichheit und Repräsentation ihrer kulturellen Identität in den Institutionen der Gesellschaft mehr Rechte und fordern damit die Institution der Staatsbürgerschaft heraus. Diese Veränderung entspricht dem Wunsch vieler Minderheitengruppen nach einer Anpassung und Integration sowie Anerkennung ihrer kulturellen Traditionen und Werte in der »Mehrheitsgesellschaft«. Im Fall der Kurden und Ureinwohner Amerikas, die von Benhabib angeführt werden, geht diesem Wunsch eine lange Periode kultureller Domination und Verkennung seitens der Mehrheitsgesellschaft voraus. In diesem Zusammenhang bedürfen die einzelnen Fälle von Forderungen nach Anerkennung
15 Hier seien die verschieden Fernsehsender genannt, die in den letzten Jahren in der Türkei gegründet wurden, um eine gezielte Gruppe, z.B. die Aleviten anzusprechen. Ebenso gibt es »Exilsender«, die in kurdischer Sprache über Satellit aus Europa in die gesamte Welt senden.
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von ethno-kulturellen Gruppen vielmehr einer empirischen Analyse, die die spezifischen Gründe der jeweiligen Gruppenbildungsprozesse und für die Forderungen von ethno-kulturellen Gruppen zu Tage befördert. Abgesehen davon, dass von Fall zu Fall verhandelt und entschieden werden muss, ob eine minoritäre Kultur im Sinne Kymlickas eine eigene Gesellschaftskultur sein kann und soll, wird von manchen Autoren kritisch angeführt, dass die Anerkennung ethnischer Gruppen im Nationalstaat eine Reproduktion der Logik der Nation unterhalb des Nationalstaates bedeuten würde. Ursula Apitzsch stellt zudem die Frage danach, wer feststellt, dass eine bestimmte Person zu einer definierten Gruppe gehört. Zudem stellt sich die Frage, wer die Grenzen dieser Gruppe definieren soll (Apitzsch 1999b). Im Unterschied zu Seyla Benhabibs Favorisierung der moralischen Autonomie des Subjekts geht es Will Kymlicka gerade um die Annahme, dass es bestimmte schützenswerte Kulturen gibt, die sogar vom Aussterben bedroht sind. Hier hat er die Ureinwohner Nordamerikas im Blick. In diesem Zusammenhang kann man mit Kymlicka gegen Benhabib argumentieren, dass die bestehende Asymmetrie zwischen verschiedenen »Gesellschaftskulturen« oder nationalen Gruppen in liberalen Gesellschaften sich darin ausdrückt, dass – wie bereits erwähnt – seitens des Nationalstaates historisch eine bestimmte sprachliche Kultur bevorzugt wurde. So entstanden neben einer dominierenden nationalen Kultur, die in einem Prozess der Nationenbildung als Standard durchgesetzt wurde, in vielen heutigen Staaten auch nationale Minderheiten. Das Beispiel der Kurden in der Türkei belegt jedoch die Schwierigkeit, solche ethno-kulturelle Minderheiten als homogene Gruppen zu bestimmen, um sie dann mit Kollektivrechten auszustatten. Bei der kurdischen Bevölkerung in der Türkei ist es zwar seit Mitte der 1980er Jahre zu einer ethno-kulturellen Gruppenbildung gekommen16, jedoch sind die Angehörigen oder Anhänger dieser Kultur in sich sehr heterogen. Dies trifft in religiöser und sprachlicher Hinsicht zu (Bruinessen 1997; Kirsici und Windrow 1997, 120f.). Über die Frage der individuellen und kollektiven Selbst- und Fremdzuschreibungsprozesse bei der ethnischen Gruppenbildung hinaus, liegt das Problem, die Zugehörigkeit Einzelner zu Minderheitengruppen zu bestimmen darin, dass diese häufig – wie im Fall der Kurden – im Gegensatz zur nationalen Mehrheit in einem Staat keine oder nur wenige institutionelle Strukturen besitzen. Für eine solche Bestimmbarkeit müsste die Koinzidenz einer Kultur mit einem Staat gegeben sein (Gellner 1995 und 1999).
16 Indizien hierfür sind die Mobilisierung der kurdischen Bevölkerung durch die PKK seit Beginn des bewaffneten Kampfes 1984.
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Im Zusammenhang mit der Problematik des Nation- und Staatsbürgerschaftsverständnisses in der Türkei erlangt die Theorie des Multicultural Citizenship, wie sie von Will Kymlicka diskutiert wird, eine herausragende Bedeutung. Gerade im türkischen Fall – mit der bislang ungelösten kurdischen Frage und den nicht zureichend beantworteten Forderungen von anderen ethno-kulturellen Gruppen nach Anerkennung – ist Kymlickas Infragestellung der vorgeblichen Differenzblindheit des liberalen Nationalstaates von immenser Bedeutung. Auch wenn Will Kymlickas Arbeiten in den türkischen Sozialwissenschaften Verwertung finden17, bleibt ihre Rezeption auf einer allgemeinen Ebene, die sich auf Verweise auf dessen Arbeiten beschränkt. Ein Versuch Kymlickas Begriffe umfassend auf die Debatte um die Integration von ethno-kulturellen Gruppen in der Türkei zu beziehen, bleibt bislang noch zu leisten. Kymlickas Theorie der multikulturellen Staatsbürgerschaft impliziert zwar konkrete Rechte für ethno-kulturelle Minderheiten innerhalb eines Staates. Bezogen auf die türkische Debatte über konstitutionelle Staatsbürgerschaft, in der die Forderung nach konstitutioneller Anerkennung von kultureller Diversität zum Ausdruck kommt, bedeutet sie aber auch nach den liberalen Grundsätzen, die Kymlicka vertritt, eine Stärkung der individuellen Staatsbürgerrechte. Diese wiederum ermöglichen den Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern – ungeachtet ihrer ethno-kulturellen Selbstdefinition – die Ausübung ihrer kulturellen Rechte. Ayhan Kaya zufolge kann von einer multikulturellen Staatsbürgerschaft im Sinne Kymlickas die Rede in multiethnischen Gesellschaften sein, wenn die Individuen als Angehörige von Minderheitengruppen Gebrauch von politischen, sozialen und kulturellen Rechten machen können, die ihnen seitens des Staates als Staatsbürger verliehen werden (Kaya 2005, 42). Angesichts des fortgeschrittenen Nationenbildungsprozesses in der Türkei, der sich am Beispiel der kurdischen Minderheit gut zeigen lässt, scheint der Ansatz Will Kymlickas jedoch auch an Grenzen zu stoßen, die in seiner zu statischen Auffassung von »Gesellschaftskulturen« (societal groups)18 begründet liegen.
17 Siehe die Arbeiten von Fuat Keyman, Ayse Kadioglu, Ayhan Kaya 18 Hier ist die Frage relevant, wie ethnische Gruppen von Nationen unterschieden werden können. David Miller zufolge unterscheiden sich Nationen von anderen Gemeinschaften dadurch, dass letztere zwar eine gemeinsam geteilte »private Kultur« besitzen, jedoch nicht wie Nationen, eine »öffentliche Kultur« entwickeln konnten, aus der aus einem langem öffentlichen Verhandlungsprozess ein kollektiver Sinn für staatsbürgerliche Rechte und Pflichten entsteht (Miller 1995, 172; vgl. auch Young 2002, 96).
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Problematisch ist sein Ansatz zu »Gesellschaftskulturen« deshalb, weil in so genannten multinationalen Gesellschaften zwar für die minoritäre nationale Gruppe die Kriterien der gemeinsamen Geschichte, Sprache und des zusammenhängenden Territoriums erfüllt sein mögen. Jedoch lässt sich in einigen Fällen eine minoritäre nationale Gruppe – so auch im Falle der Kurden in der Türkei – keinen eigenen gesellschaftlichen Institutionen zuordnen. Nach Kymlicka verfügen nationale Minderheiten über die Merkmale von Gesellschaftskulturen, dagegen nicht die Immigrantengruppen (Kymlicka 1995a, 101). Wie ist mit ethno-kulturellen Gruppen im allgemeinen Sinn umzugehen, die – wie ein großer Teil der türkischen Kurden – als weitestgehend assimiliert gelten müssen? Dies ist eine legitime Frage, die sich auch Kymlicka stellt (Kymlicka 1995a, 94). Zwar erkennt er an, dass in der Geschichte diverser Staaten eine Politik der erzwungenen Assimilation von nationalen Gruppen erfolgt ist. Jedoch argumentiert er, dass eine Wiederbelebung solcher Kulturen möglich ist. Was im Sinne der liberalen Theorie von Minderheitenrechten wichtig ist, sollte die Schaffung des Zugangs zu einer gesellschaftlichen Kultur sein, so Kymlicka. Die Potentiale einer solchen Kultur seien wichtiger als der tatsächliche Zustand, in dem sich eine solche Kultur befinde. »In so far as polyethnic rights for immigrants or self-government rights for national minorities help secure access to a societal culture, then they can contribute to individual freedom« (Kymlicka 1995a, 101). 3.1 Zur »Europäität« des türkischen Nationalverständnisses und die Anwendung von Kymlickas Theorie auf die Türkei Es kann davon ausgegangen werden, dass Kymlickas Theorie auch auf die Türkei angewendet werden kann, da die türkische »Problemlage« mit einer Vielzahl von autochthonen Minderheiten, die kulturelle Rechte und Anerkennung fordern, mithilfe der von Kymlicka elaborierten Begriffe und Konzepte analysiert und verstanden werden kann. Hierbei scheint eine zentrale Frage zu sein, ob es sich bei der Türkei um einen als liberal zu bezeichnenden Nationalstaat handelt oder nicht (hierzu Kapitel V.3). Denn offensichtlich bezieht Will Kymlicka seine Theorie aus der Situation von liberalen und multikulturellen Gesellschaften wie z.B. Kanada. Der Theorie Will Kymlickas liegt neben einer deskriptiven Bestandsaufnahme und Analyse von Minderheitenrechten, die sich global seit den 1940er Jahren entwickelt haben (Kymlicka 2007), auch eine normative Aussage zugunsten eines liberalen Nationalstaates oder eines liberalen Multikulturalismus zugrunde. Dieser Aussage zufolge reicht es nicht aus, die Gleichheit aller Staatsbürger/in-
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nen durch einen universalistischen Republikanismus zu garantieren. Es ist vielmehr danach zu fragen, welche »nationale Kultur« diesem »universalistischen Republikanismus« zugrunde liegt. Hier setzt die Kritik Kymlickas am vorgeblich differenzblinden Nationalstaat an. Wie bereits angeführt, geht er von der Annahme aus, dass selbst die als besonders liberal geltenden Nationen, wie die USA, lange Zeit eine nationale Kultur (d.h. die englische Sprache) gegenüber anderen bevorzugt und institutionalisiert haben. Er fragt angesichts dieses Widerspruchs danach, ob die Favorisierung und Durchsetzung einer nationalen Sprache mit dem Postulat der Differenzblindheit zu vereinbaren ist (Kymlicka 1999). Zudem ergibt sich für Kymlicka aus diesem Widerspruch und angesichts von Forderungen nach kulturellen Rechten durch Minderheiten die Frage danach wie »ethno-cultural justice« herzustellen ist. Genau diese Kritik kann bei der Analyse des türkischen Falles von Bedeutung sein, fragt sie doch nach der dem türkischen Nationalstaat zugrunde liegenden »nationalen Kultur« (hierzu die Analyse im Kapitel III). Der liberale Nationalismus (zu verstehen als ein normatives liberales Nationalverständnis) oder der liberale Multikulturalismus, wie sie von Kymlicka verstanden werden, wollen darüber hinaus den gruppenspezifischen Besonderheiten innerhalb von multikulturellen Gesellschaften Rechnung tragen. Der liberale Nationalismus fordert im Gegensatz zum republikanischen keine erzwungene Assimilation an die Mehrheit, auch wenn seine öffentlichen Institutionen eine partikulare nationale Prägung haben, die sich in der Verwendung einer bestimmten Nationalsprache, bestimmter Feiertage oder Symbole äußert. Vielmehr sind laut Kymlicka Individuen, die nicht dieser nationalen Gruppe angehören, im Sinne eines liberalen Nationalismus frei, ihre eigene nationale Identität auszudrücken und hochzuhalten (Kymlicka 2001, 39). Wie bereits im Kapitel III dargelegt, ist der türkische Nationalstaat von seinen Gründern nach europäischen Modellen »konzipiert« worden. Die Türkei weist die formellen Strukturen einer Demokratie auf. Jedoch ist die Rolle des Militärs – anders als in rechtsstaatlichen Demokratien – besonders überhöht und liegt traditionell in der Verteidigung der nationalen Einheit, die als von innen und außen bedroht gilt. Es kann von der Türkei als einem Nationalstaat nach europäischem Muster ausgegangen werden, so dass hier der Minderheiten- und Nationenbegriff zumindest theoretisch an Modelle europäischer Nationalstaaten angelehnt ist. Der »westliche« Minderheitenbegriff nahm in sich spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch neben dem Begriff von religiösen Minderheiten verstärkt den säkularen Begriff von »ethnischen«, »kulturellen« oder »sprachlichen« Minderheiten auf. Hier kann argumentiert werden, dass die offizielle Definition von Minderheiten in der Türkei durch den Lausanner Friedensvertrag von 1923 rein religiös ist, und sich an die osmanische Unterschei-
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dung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen anlehnt. Könnte hieraus nun abgeleitet werden, dass islamische oder osmanische Konzepte, wie etwa das Millet-System für die heutige Türkei wiederbelebt werden sollen? Gerade im Zuge einer möglichen EU-Integration und einem – mit der Republikgründung von 1923 begründeten – starken »säkularen« Nationalismus, der auf Sprache und Kultur beruht, scheint eine solche Rückkehr nicht möglich zu sein. Serif Mardin drückt die Nostalgie nach dem Osmanischen Reich und die »Unmöglichkeit« einer Reanimation der Geschichte mit folgenden Worten aus: »Das heutige Gemenge von Werten in der Türkei (westliche, islamische, konsumorientierte, ökonomische, puritanische Werte) führt dazu, dass sich ein Teil der Bevölkerung nach einer Rückkehr zu einer solchen, nach ihrer Vorstellung nahtlosen islamischen Gesellschaft sehnt – eine Bevölkerung, die geographisch ohnehin bereits durch die Wanderung in die Städte in den letzten 50 Jahren teilweise entwurzelt wurde. Die Betonung liegt hier auf der ›Vorstellung‹, die sich auf einen nostalgischen Wunsch der Wiederkehr von ›realen‹, quasi-strukturellen Aspekten der osmanischen Gesellschaft bezieht, die den Vermittlungsprozess zwischen Staat und Gesellschaft leisteten, aber im Verlauf der Modernisierung verschwanden« (Mardin 1997, 363).
Zwar gibt es in der Türkei vor allem in islamisch orientierten Kreisen eine Anhängerschaft der Idee einer religiös begründeten Gesellschaftsordnung, die sich von der osmanischen Millet-Ordnung inspiriert, jedoch würde sie auf vielfältige Schwierigkeiten stoßen. Das osmanische Millet-System erkannte zwar die auf dem osmanischen Territorium lebenden ethno-religiösen Gruppen an – diese wurden vorrangig nach religiösen Merkmalen differenziert – jedoch galt die islamische Gruppe als die »Millet-i-hakime«, also als die herrschende religiöse Gruppe, die zudem als die Mehrheit galt. Die anderen millets galten demzufolge automatisch als Minderheiten (Oran 2004, 48).19 Insofern war das Millet-System trotz seiner relativen Liberalität kein egalitäres Modell von Multikulturalität, sondern die Koexistenz der Gruppen basierte auf der unangefochtenen Herrschaft des Islam auf dem osmanischen Herrschaftsgebiet. Für die heutige Türkei ist ein solches Gesellschaftsmodell nicht praktizierbar, da sich der Nationalstaat nicht auf Religion beruft, sondern auf Kultur, hier vor allem auf eine gemeinsame Sprache seiner Mitglieder (siehe Ernest Gellner).
19 Das Millet-System wurde von den osmanischen Herrschern bereits im Jahr 1454 nach der Eroberung Istanbuls etabliert und bestand offiziell bis zur Einführung der Tanzimat-Reformen im Jahr 1839 weiter. Tatsächlich ist sein Einfluss bis in die heutigen Tage gegenwärtig (Oran 2004, 48).
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Zudem wäre die Anwendung oder Rehabilitierung eines solchen Modells anachronistisch und rückwärtsgewandt. Es würde auch mit Vorstellungen und Grundsätzen der Laizität20 konfligieren, die eine Trennung von Staat und Religion vorsehen. Eine Trennung von Staat und Religion scheint in der Türkei unabdingbar zu sein, da die Dichotomie von laizistischem Staat und Religion eine der wichtigsten Trennlinien der türkischen Gesellschaft darstellt. Dieses Problem von Laizität versus Religion überschattet sogar als ein zentrales normatives Problem andere Probleme des Modernisierungsprojektes der Türkei (Mardin 1997, 385). Es betrifft die Frage des Gewaltmonopols im Sinne Max Webers. Bei einer stärkeren islamischen Ausrichtung der staatlichen Institutionen der Türkei kann angenommen werden, dass sich die Dominanz- und Herrschaftsstellung des Islam gegenüber anderen ethno-kulturellen und religiösen Gruppen analog zur kemalistischen Hegemonie über dieselben reproduzieren könnte. Von einer stärker islamisch gefärbten Staatsordnung wären die laizistischen, westlichen, alevitischen oder auch anderen nicht-muslimischen Gruppen betroffen. Die Forderungen der ethno-kulturellen Gruppen in der Türkei nach kultureller Anerkennung und Sprachenrechten entsprechen darüber hinaus vielmehr den modernen Forderungen nationaler Minderheiten, wie sie Kymlicka für moderne Nationalstaaten beschreibt. Auch wenn dies auf eine akademische Debatte begrenzt zu sein scheint, wird Kymlicka in den türkischen Debatten über Minderheiten seit einigen Jahren rezipiert. Folglich ist die türkische Debatte von der Internationalisierung der Debatte um Multikulturalismus nicht ausgenommen. Eine Internationalisierung des Konzepts des Multikulturalismus findet Will Kymlicka zufolge auf zwei Ebenen statt: 1. auf der Ebene des öffentlichen Diskurses, der von intellektuellen Eliten eines jeweiligen Landes transferiert wird. 2. auf der Ebene internationaler Organisationen, wie der UNO, der Weltbank oder der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) (Kymlicka 2005, 22). Trotz des Einflusses des westlichen Multikulturalismus-Konzept in asiatischen Staaten21 beispielsweise, hängt seine Fruchtbarkeit und Anwendbarkeit von den historischen, kulturellen, demographischen oder geopolitischen Besonderheiten dieser Staaten ab (siehe He und Kymlicka 2005a). Besonders hervorzuheben ist in
20 Zum besonderen Verständnis von Laizität in der Türkei siehe Parla und Davison (2008). 21 Zu den asiatischen Staaten, die im Rahmen der Arbeit von He und Kymlicka (2005a) eine Rolle spielen, gehören: Japan, Indien, Sri Lanka, Malaysia, Singapur, Pakistan, Bangladesch, Afghanistan, Burma, Thailand, Indonesien, Taiwan, Philippinen, Südkorea, Brunei, Bhutan, Malediven, Nepal, Hong Kong, China, Nord-Korea, Mongolei, Vietnam, Laos und Kambodscha (siehe He und Kymlicka 2005b, 10).
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diesem Zusammenhang die Frage der geopolitischen Instabilität der meisten südund ostasiatischen Staaten. So He und Kymlicka: »Most countries perceive themselves as having neighboring enemies who would like to weaken them, and who might indeed have territorial ambitions« (He und Kymlicka 2005a, 9). Auch wenn die Türkei ebenso von einer solchen geopolitischen Instabilität betroffen ist, und der »nationale Diskurs« bislang auf Sicherheit und Einheit basierte, kann gerade im Zuge des EU-Beitrittsprozesses eine Konsolidierung der nationalstaatlichen Grenzen und der politischen Strukturen erfolgen. Der verstärkte Dialog mit den Nachbarn der Türkei, unter anderem mit Armenien und Griechenland, kann ein Indiz für eine solche Konsolidierungs- und Stabilitätspolitik sein, die ihrerseits die Debatten um die gesellschaftliche Integration – vor allem auch der Minderheiten – zu einem intern lösbaren Problem der Türkei machen könnte.
4. I NDIVIDUAL -
ODER
G RUPPENRECHTE
IN DER
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Neben der Selbstzuschreibung einer Gruppe setzt die offizielle, d.h. staatliche Anerkennung einer Gruppe als solche voraus, dass ihre Grenzen bestimmbar sind, und dass einzelne Personen dieser zugeordnet werden können. Die Schwierigkeiten, die in modernen Gesellschaften damit verbunden sind, solche Gruppen festzulegen, wurden bereits benannt. Unabhängig von allgemeinen theoretischen Überlegungen zur Bestimmung von Gruppen und deren Grenzen ist angesichts von Forderungen nach Anerkennung von Fall zu Fall zu verhandeln, inwiefern die verfassungsmäßige Anerkennung von ethno-kulturellen Gruppen möglich und notwendig ist. Für den türkischen Fall argumentiert z.B. Ayhan Kaya (2005), dass die Anerkennung von ethno-kulturellen Gruppen nicht die tatsächlichen sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede der Bevölkerung vermindern könne.22 Vielmehr würde eine solche von ethno-kulturellen Unterscheidungskriterien geleitete Politik zur Kulturalisierung der gesellschaftlichen Unterschiede führen. Stattdessen plädiert er für die Stärkung der politischen Partizipationsrechte, die die Individuen in die Lage versetzen könnten, aktiver an der Gestaltung der Gesellschaft teilzuhaben (Kaya 2005, 61). Er kritisiert die Politik des Multikulturalismus als folkloristisch, da sie darauf abziele, Minderheitenkulturen eine Plattform zu bieten, auf der sie ihre Identität anhand von »Musik, Festivals, Ausstellungen,
22 Hiermit stimmt er mit Nancy Frasers Argument überein, dass eine Politik der Anerkennung auch die ökonomische Gerechtigkeit mitdenken muss.
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Konferenzen u. ä. ausdrücken« können. Darüber hinaus versuche die »Ideologie des Multikulturalismus« Kaya zufolge Kulturen in Teile zu zerlegen. Sie sehe »Kulturen als an ethnische Gruppen gebunden, in sich stimmig, als einheitliche und strukturelle Entitäten an«. Der Multikulturalismus berge in sich die Gefahr »den Kulturbegriff als das Eigentum einer ethnischen Gruppe zu essentialisieren, Kulturen als unabhängige Einheiten zu verdinglichen und Unterschiede zu stark hervorzuheben« (Kaya 2005, 51). Anders sehen es z.B. Günay Göksu Özdogan u.a. (2009, 464), die gerade in Anbetracht der ethno-kulturellen Diversität der Bevölkerung in der Türkei eine »kulturelle Staatsbürgerschaft« vorschlagen, die über die nationale Staatsbürgerschaft hinausgeht, und kulturelle Differenzen aufnimmt. Die einheitliche Staatsbürgerschaft bedeutet zunächst eine juristische Gleichstellung aller Bürger/innen. Die Gleichberechtigung aller Staatsbürger/innen ungeachtet ihrer ethno-kulturellen Zugehörigkeit führte in der Realität der Nationalstaatsbildung zumeist auch dazu, dass sich Minderheitenkulturen an die Mehrheitskultur assimilierten oder zwangsweise assimiliert wurden (Yumul 2005, 101). Eine solche Politik ist auch im türkischen Fall der Nationalstaatsbildung zu beobachten. Die Frage, die sich hier stellt, ist, wie eine Gleichberechtigung unter Anerkennung von tatsächlich existierenden kulturellen Unterschieden erreicht werden kann. Benhabibs Ansatz der Diskursethik ohne vorherige Festlegung von Gruppen ist ohne Zweifel eine Möglichkeit, Angehörigen verschiedener kultureller Traditionen auf individueller Basis kulturelle Rechte zuzuerkennen. Beachtung verdient jedoch auch Kymlickas Argument der Schutzwürdigkeit von bestimmten ethno-kulturellen Gruppen in Nationalstaaten. Ebenso ist das Argument der Gerechtigkeit für bislang kulturell nicht anerkannte Gruppen von Bedeutung. Die normative Diskussion darüber, ob Gruppenrechte anerkannt werden sollten oder nicht, ist möglicherweise nicht fruchtbar, da von Fall zu Fall entschieden werden sollte, einer bestimmten ethno-kulturellen Gruppe Gruppenrechte zuzuerkennen. Dies setzt voraus, dass sie danach strebt. Es geht, wie seitens des Intellektuellen Minderheitenangehörigen erwähnt (siehe Kapitel VII.4.2), darum, die spezifische gesellschaftliche Konstellation (den jeweiligen »seelischen Zustand«) und die spezifischen Bedürfnisse einer jeweiligen Bevölkerung zu beachten, um adäquate Lösungen für die Anerkennung ethno-kultureller Gruppen zu finden. Dafür müssen jedoch zumindest die kulturellen Rechte dieser Gruppen auf der individuellen Ebene garantiert sein.
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5. I ST DER T ÜRKIYELI ’ LIK -ANSATZ ALS EINE »M ULTICULTURAL C ITIZENSHIP « IM S INNE K YMLICKAS ZU SEHEN ? Die nachfolgenden Überlegungen haben das Ziel, die verschiedenen Positionen in der Debatte um Türkiyeli’lik (Einwohnerschaft der Türkei) darzustellen und zu kommentieren. Zugleich wird gefragt, ob das Konzept »Türkiyeli« eine spezifische türkische Form des »Multicultural citizenship« im Sinne Will Kymlickas darstellt. Wie im Kapitel VII.4 dargestellt, scheint die Kategorie der »Einwohnerschaft der Türkei« (Türkiyeli)23 eine Möglichkeit zu sein, die diversen ethno-kulturellen Gruppen in der Türkei mittels einer nicht ethnisch konnotierten Staatsbürgerschaft zu repräsentieren und zu integrieren, ohne auf regionale und föderalstaatliche Lösungen zurückgreifen zu müssen. Insofern lehnt sich ein solches Konzept an die Begrifflichkeit einer konstitutionellen Staatsbürgerschaft an, wonach auf einen neuen Gesellschaftsvertrag beruhend, der verfassungsrechtliche Rahmen für die Integration und den Schutz verschiedener ethnischer oder religiöser Gruppen geschaffen und deren gesellschaftliche Existenz gewährleistet werden soll. Der Ansatz der konstitutionellen Staatsbürgerschaft wird als normativ notwendige Antwort auf die Forderungen nach Anerkennung durch verschiedene ethno-kulturelle Gruppen in der Türkei gesehen (Icduygu und Keyman 2004, 169f.). Baskin Oran z.B. hält den offiziell geltenden Begriff »Türk« für »separatistisch« (weil er auf Nichtanerkennung basiere) und glaubt, dass die Vehemenz der Ablehnung des Begriffs Türkiyeli an der Tatsache liege, dass es gerade einen Widerstand gegen die Anerkennung von nicht-türkischen Gruppen gebe.24 Der Begriff bezieht sich auf gesellschaftliche Forderungen und nimmt diese auf (Tempo 2006). Es ist auch ein Prinzip, das aktiv von der AKP-Regierung aufgenommen und in die gesellschaftliche Debatte eingeführt wurde, um »Konzessionen« an die Minderheiten, aber besonders an die Kurden zu machen. Ministerpräsident Erdogan sagte: »Wir müssen in der Türkei das Bewusstsein für die
23 Wie im Kapitel VII.4 bereits dargelegt, wurde die Kategorie »Türkiyeli’lik« als Kritik an der als ethnisch verstandenen nationalen Bezeichnung »Türk« in die politische und wissenschaftliche Debatte eingeführt. Sie wurde jedoch inoffiziell seitens einer kurdischen Vereinigung der Devrimci Dogu Kültür Ocaklari (DDKO) bereits 1970 aufgeworfen. Sie sprach jedoch von den Völkern der Türkei und nicht explizit von Türkiyelilik. 24 »70 Milyon da kurucu unsur« (deutsch: »Alle 70 Millionen sind das konstituierende Element«). Interview erstmals erschienen in der Tageszeitung Milliyet am 08.11.2004. In: Oran 2004, S. 193-198.
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Einwohnerschaft der Türkei25 erlangen. Dieses müssen wir außerdem mit dem Bewusstsein, Staatsbürger der Republik Türkei zu sein, anreichern«. Erdogan unterstrich diese Worte mit den folgenden Ausführungen: »Es gibt in der Türkei verschiedene ethnische Elemente. Es gibt Kurden, Lazen, Tscherkessen, Georgier, Albaner, Bosnier, Türken. Diese bilden in unserem Land eine Unterkategorie. Für diese gibt es eine einzige Überkategorie, und diese ist die Staatsbürgerschaft der Republik Türkei« (zitiert nach Tempo 2006, 38). Diese Aussage würde ein Plädoyer für eine Art »konstitutionelle Staatsbürgerschaft« darstellen, die anscheinend in Teilen der türkischen Bevölkerung auf Zustimmung stößt.26 Die Bezeichnung »Türkiyeli« will ein territoriales Prinzip der staatsbürgerlichen Zugehörigkeit einführen, indem sie die Existenz diverser ethno-kultureller Gruppen auf dem türkischen Staatsgebiet anerkennt. Dem Einwand, im Falle einer Anerkennung des Begriffs »Türkiyeli« könnte die Gesellschaft gespalten und ihre Kohäsionskräfte könnten geschwächt werden, begegnet Baskin Oran (2004) mit der These, dass die bisherige Assimilationspolitik eben zu einer sol-
25 »Türkiyeli’lik« im Original, Anm.E.G. 26 Nach einer 2006 durchgeführten Untersuchung über die Ausprägung des Nationalismus in der türkischen Bevölkerung bezeichnen sich 50,4 % der Befragten als »Patrioten« (türkisch: vatansever), gefolgt von 41,9 %, die sich als »Türkiyeli« (Einwohner der Türkei) bezeichnen würden. 36,7 % würden sich als Nationalisten (türkisch: milliyetci) bezeichnen, 20,4 % als »Weltbürger«, 15,6 % als Türkisten (Anhänger einer ethno-rassisch verstandenen Ideologie des Türkentums). 6,8 % bezeichnen sich als ulusalci (Nationalisten im Sinne einer antiwestlichen Haltung, die im rechten und radikallinken Spektrum zu verorten ist). 4,6 % bezeichnen sich als »ülkücü« (als Anhänger der pantürkischen Ideologie), der Rest der Befragten gibt keine Antwort, legt sich nicht fest oder bezeichnet sich als Sonstiges (Tempo 2006, 38; siehe auch Özkirimli 2008, 30f.). Auf eine weitere Frage, welche vorgegebene Kategorie ihrer Meinung nach am besten das Türkisch-Sein widerspiegelt, antworten 70,3 % der Befragten, die Staatsbürgerschaft der Republik Türkei. 46,2 % sind der Ansicht, dass die Tatsache Teil der türkischen Kultur zu sein, am besten das Türkisch-Sein wiedergibt (Tempo 2006, 32). Bei der Gesamtauswertung der Ergebnisse zeigt sich nach Umut Özkirimli, der die Studie wissenschaftlich leitete, dass die Zahl derjenigen, die das Türkisch-Sein territorial-staatsbürgerlich definieren mit 85,7 % etwas niedriger ist als der Prozentsatz derer, die es ethnisch sehen (94,5 %). Die meisten Befragten glauben zudem nicht, dass das Türkisch-Sein mit Areligiosität und dem jüdischen sowie christlichen Glauben vereinbar sei. Daraus ist laut Özkirimli zu schließen, dass in der Bevölkerung insgesamt das ethnische Prinzip stärker wiegt als das politische (Tempo 2006, 22, siehe auch Özkirimli 2008).
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chen Spaltung der Gesellschaft geführt habe. Er ist der Meinung, dass die Kohäsionskräfte durch die Überkategorie »Türkiyeli« gestärkt werden würden. Durch den Begriff »Türkiyeli« werden laut Oran auch eine Aufhebung des Status der »erzwungenen Staatsbürgerschaft« und die Einführung von »freiwilliger Staatsbürgerschaft« erreicht. Oran glaubt, dass damit die Verbundenheit des Einzelnen mit dem »Staat« wachsen und der »Staat« seinerseits mehr Vertrauen in seine Bürger haben werde (Oran 2004, 180). Er wendet sich aber gegen Gruppenrechte, und die Schaffung neuer Minderheiten, was den Separatismus stärken könne. Oran setzt vielmehr auf die Aufhebung von Verboten und die Ermöglichung z.B. von Kurdisch-Unterricht oder den Religionsunterricht für Aleviten an jeder Schule (Oran 2004, 180). Wie bereits angemerkt, wird der Begriff »Türkiyeli« unter anderem auch als »künstlich« kritisiert und seine Praktikabilität wird in Frage gestellt. Theoretisch ist es auch möglich, diverse ethno-kulturelle Gruppen unter Anerkennung ihrer Existenz und ihrer Rechte unter die bislang gängige Bezeichnung »Türk« zu subsumieren oder im Sinne eines »Verfassungspatriotismus« in der Verfassung erst gar keinen ethnischen oder nationalen Bezug zu formulieren.27 Z.B. führen Kritiker aus den Reihen der kemalistisch orientierten politischen Kräfte an, dass der Begriff »Türkiyeli« ein künstlicher Begriff sei, der nichts an der Tatsache ändere, dass es Menschen unterschiedlicher ethno-kultureller Herkunft in der Türkei gebe. So führte der stellvertretende Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP), Mustafa Özyürek 2006 folgende Kritik am Begriff »Türkiyeli« an: »Wir brauchen keine künstlichen Begriffe, wie den Begriff Türkiyeli’lik. Wen Sie auch fragen, er wird Ihnen sagen, »ich bin Türke«. Zu sagen »ich bin Türke« bedeutet nicht, »ich bin von der türkischen Rasse«. Es bedeutet, »ich bin ein Teil der türkischen Nation«. Sie können ein Teil der türkischen Nation sein; sind sie von einer anderen Rasse, Herkunft, dann können Sie stolz darauf sein. Die Begriffe wie unter- und übergeordneter Identität, Türkiyeli’lik wurden lange Zeit diskutiert in der Phase des Zerfalls des Osmanischen Reiches. Mit Atatürk wurde anerkannt, dass die innerhalb des Misak-i-milli lebenden Menschen, die türkische Nation darstellen, ebenso erkannten dies die Menschen an. Sie können stolz auf Ihre Herkunft sein, Ihre Muttersprache lernen, Ihre Kultur verbreiten, Sendungen machen. Dies ist etwas anderes. Aber der Begriff `Türkiyeli’lik` ist sehr künstlich und klingt nach Separation. Es ist vielmehr ein Begriff, der von denjenigen eingeworfen wurde, die Separation und die damit zusammenhängende Politik im Schilde führen« (Tempo 2006, 51, Übers. E. G.).
27 Siehe die später folgende Argumentation von Dilek Kurban.
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Diese Annahme gründet sich auf das ursprünglich staatsbürgerliche Verständnis der türkischen Nation durch Mustafa Kemal Atatürk, die zwar als türkisch bezeichnet werden sollte, jedoch zumindest anfänglich nicht ethnisch zu verstehen war. In dem oben zitierten Verständnis wird »Türk« als »differenzblinde« Zugehörigkeitskategorie gesehen, die alle Staatsbürger/innen ungeachtet ihrer ethnokulturellen Herkunft als Türken sieht. Nach diesem Verständnis sind die Bürger/innen der Türkei in einer als kulturell neutral verstandenen türkischen Staatsbürgernation integriert. Die Befürworter eines solchen Verständnisses von Nation sehen somit die Bezeichnung »Türk« als vereinende Kategorie für die Bürger/innen der Türkei an, und befürchten eine Segregation der Gesellschaft in Gruppen, sollte dieser Begriff durch den Begriff »Türkiyeli« ersetzt werden. Im Anschluss an die Ergebnisse aus den vorhergehenden Kapiteln kann argumentiert werden, dass die historisch und theoretisch inhärente Widersprüchlichkeit, die im Begriff Türk liegt, es nur unter großen Schwierigkeiten erlaubt, diesen auf andere ethno-kulturelle Gruppen zu beziehen. Die oben zitierte Sichtweise, dass »Türk« alle Staatsbürger/innen in der Türkei meine, verkennt die ethno-rassische Auslegung dieser Bezeichnung, die über Jahrzehnte der Republik als Grundlage für eine kulturelle Türkifizierungspolitik gedient hat. Anzunehmen ist zudem, dass das republikanisch-kemalistische Verständnis als Mittel zur Weiterführung einer Zwangsassimilationspolitik dienen kann. Am Beispiel des Intellektuellen Minderheitenangehörigen (siehe Kapitel VII.4.2) lässt sich auch zeigen, dass die individuelle Freiheit, zu behaupten, dass man kein Türke ist, in der Realität dennoch stark eingeschränkt ist. Dies spricht dafür, dass »Türk« als ethnische oder zumindest exklusive Kategorie angesehen werden muss, die in der Praxis nicht offen für andere ethno-kulturelle Gruppen ist. Stattdessen wird z.B. die Politik der als politische Vertretung der PKK geltenden Partei DTP (Demokratik Toplum Partisi, Partei der Demokratischen Gesellschaft), als rassistisch angesehen. So führt der stellvertretende Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP) Mustafa Özyürek weiter aus: »Die DTP ist keine Partei, die für die Türkei arbeitet. Sie ist keine Partei, die für die Lösung der Probleme der in der Türkei lebenden Menschen arbeitet. Sie ist eine Partei, die sich um die Probleme der kurdischstämmigen Bevölkerung sorgt. Es gab von Zeit zu Zeit natürlich auch rassistische politische Parteien unserer türkischstämmigen Bürger, die behaupteten: ›Sie sind von der türkischen Rasse, deshalb haben sie eine gesonderte Stellung‹« (Tempo 2006, 51, Übers. E.G.).
Diese Argumentation des stellvertretenden Vorsitzenden der CHP lehnt sich an das republikanische französische Modell von Nation an. Die Argumentation für
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eine universelle französische Nation kann in etwa wie folgt wiedergegeben werden: »Wenn die Sprache das vereinende Prinzip Frankreichs war, dann nicht um die lokalen Unterschiede und die lokalen Sprachen zum Schweigen zu bringen, sondern im Gegenteil, damit alle, woher sie auch kommen mögen, jenseits der Vielfalt der Sprachen, in die Lage versetzt werden, miteinander zu debattieren. Was hätten sich die in Korsika oder in der Bretagne aufgewachsenen Kinder zu sagen, wenn sie das Französische erst nach ›ihrer‹ Sprache lernen würden?« (Sallanave 2000, 66, Übers. E.G.).
In den oben zitierten Argumentationen haben sowohl die türkische als auch die französische Nation eine universelle, die verschiedenen ethno-kulturellen und regionalen Gruppen vereinende Berufung. Die Behauptung, es gebe andere Völker innerhalb der französischen Nation wurde 1991 vom französischen Verfassungsgericht zurückgewiesen. Das französische Verfassungsgericht hob einen Beschluss des Senats auf, der von einem »korsischen Volk« sprach. Die Begründung des Verfassungsrates (conseil constitutionnel) bestand darin, dass die französische Nation »eins und unteilbar« sei und dass somit keine Völker als Bestandteile der französischen Nation anerkannt werden könnten. Es heißt in der Entscheidung, dass in Betracht gezogen werden müsse, »dass Frankreich, so wie es Artikel 2 der Verfassung von 1958 proklamiert, eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik ist, die die Gleichheit aller ihrer Bürger, ungeachtet ihrer Herkunft, vor dem Gesetz sichert; dass ausgehend davon, die vom Gesetzgeber getroffene Bezeichnung ›korsisches Volk als Bestandteil der französischen Nation‹ der Verfassung widerspricht, welche nur das französische Volk kennt, das sich ohne Unterscheidung der Herkunft, Rasse oder Religion aus französischen Bürgern zusammensetzt […]« (zitiert nach Favoreu und Philip 1991, 759, Übers. E.G.).
Nach Constance Grewe beruht das Prinzip der Unteilbarkeit der Republik Frankreich »ausschließlich auf der individuellen Gleichheit der abstrakten Bürger.« Sie erklärt die Entscheidung des Verfassungsgericht mit folgenden Ausführungen: »Indem es sich zwischen die Bürger und das französische Volk fügt, würde das korsische Volk ein Element der Teilung der Republik darstellen […]« (Grewe 1998, 1352). Dieses Konzept von Nation entspricht der Rousseauschen Konzeption, wonach keine intermediären Körperschaften zwischen der als abstrakt gedachten Nation und dem »individu-citoyen« kommen dürfen (siehe Schnapper 2004). Vor dem Hintergrund der obigen Darstellungen kann argumentiert werden, dass mit einer Beibehaltung der Bezeichnung »Türk« kein Bruch mit der histori-
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schen Semantik des Türkisch-Seins, die ein ethnisches Verständnis in sich birgt, vollzogen werden würde. Die Frage ist jedoch, wie es mit den tatsächlichen Annahme- und Umsetzungschancen der Kategorie »Türkiyeli’lik« steht. Ihr kann vorgehalten werden, dass sie lediglich ein intellektuelles und »künstliches« Konzept ist, das sich in der Realität schwer umsetzen lässt. Möglicherweise sind hier doch handfeste Rechte für Gruppen nötig und nicht eine neuartige Bezeichnung für die Bevölkerung der Türkei. Im Sinne einer konstitutionellen Staatsbürgerschaft, die individuelle kulturelle Rechte impliziert, könnte auf eine Bezeichnung für die Staatsbevölkerung der Türkei auch völlig verzichtet werden. Wie bereits erwähnt, glaubt Baskin Oran, dass die Überkategorie »Türkiyeli’lik« in Verbindung mit der Aufhebung von bestehenden Verboten gegen die Ausübung kultureller Praxen ausreicht, um die Minderheitenprobleme in der Türkei zu »lösen«. Er führt dazu Folgendes aus: »Denn wenn Sie Türkiyeli sagen, gilt niemand als das konstituierende Element (des Staates Türkei, Anm.E. G.). Wenn man die übergeordnete Bezeichnung Türkiyeli annimmt, gibt es keine Minderheiten mehr, niemand wird mehr von oben herab auf den anderen schauen. Dies würde die Kurden sehr beschwichtigen, sie an das Land binden. Der Oberbegriff Türk teilt die Türkei. Denn ein Kurde sagt nicht, ich bin Türke. Er sagt, ich bin ein Kurde der Türkei. Ist es nicht auch so in Zypern? Es gibt die Begriffe Zyperntürke und Türkeitürke. Aber das verstehen einige nicht. Dabei ist der Begriff Türkiyeli der einzige, der Armenier, Griechen, Tscherkessen, Kurden, Türken, Lazen, Albaner, Assyrer, Chaldäer, Sinti und Roma umfassen kann. Die Türken wird das nicht stören. Die Türken sind in der Praxis ohnehin das dominierende Element. Denn die Amtssprache ist Türkisch, die Bezeichnung für das Land ist Türkei und seine Fahne wurde seitens der Kemalisten geschaffen« (Interview mit Oran, in: Oran 2004, 190f., Übers. E. G.).28
Die Kategorie »Türkiyeli’lik« stellt möglicherweise eine spezifische Form des Multicultural citizenship im Sinne des Ansatzes von Will Kymlicka dar. Sie bietet nämlich das Potential, unter Gewährung der fundamentalen staatsbürgerlichen Rechte der Bürger/innen deren ethno-kulturelle Partikularität anzuerkennen. Die Kategorie »Türkiyeli’lik« setzt auch nicht voraus, dass bestimmte Gruppen als Minderheiten anerkannt werden. Gegen den Status der Minderheit wehren sich in der Türkei v.a. Kurden und Aleviten, da sie sich als »konstituierende Elemente« (kurucu unsur) der Nation, und damit als Teil der Mehrheit
28 Interview von Nese Düzel mit Baskin Oran. Erstmals erschienen in der Tageszeitung Radikal vom 25.10.2004 (in: Oran 2004a, 190f.).
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sehen.29 Sie fordern jedoch zugleich Rechte ein, die Minderheiten zukommen würden. Oran vertritt den Standpunkt, dass über die im Lausanner Friedensvertrag hinausgehenden Rechte keine positiven Rechte (also Gruppenrechte) nötig sind. Negative Staatsbürgerrechte, die die Ausübung der Minderheitenkultur ermöglichen, würden hier ausreichen. Dies schließe die Aufhebung der Diskriminierung von Minderheitenangehörigen, deren Gleichbehandlung und die Aufhebung von Verboten ein (Oran 2004, 146). Oran zufolge ist es nötig, alle Gruppen mit kulturellen Rechten auszustatten. Würde nur eine bestimmte Gruppe als Minderheit anerkannt, könnten Tendenzen der Segregation bei dieser Gruppe stark werden und sie könnte seitens der Mehrheit verstärkt als »Andere« wahrgenommen werden. Oran glaubt, dass, wenn diese Rechte allen ethno-kulturellen Gruppen verliehen würden, nicht die »kurdische Identität« in den Vordergrund rücken würde, sondern »die Demokratie« (Oran 2004, 205). In diesem Sinne glaubt er, dass mit der wortgetreuen Umsetzung der Bestimmungen des Lausanner Friedensvertrages aus dem Jahr 1923, die Rechte sowohl für die nichtmuslimischen Gruppen (Armenier, Griechen, Juden) als auch für nichttürkische Muslime (Kurden) vorsahen, und der Übernahme des Überbegriffs »Türkiyeli’lik« keine Minderheiten anerkannt werden müssen. »Weil mit der Aufhebung der Verbote die gesamte Bevölkerung der Türkei die gleichen, umfassenden Rechte erlangen wird« (Oran 2004, 184). Dies würde laut Oran die Bestimmungen des Lausanner Friedensvertrages überflüssig machen, die auf der osmanischen Dichotomie muslimisch-nichtmuslimisch beruhen, und somit auch die Nicht-Muslime zum Bestandteil der »Türkiyeli« machen, ohne ihnen Sonderrechte zu geben. Oran erläutert die Konsequenzen des Konzepts mit folgenden Worten: »Die Republik Türkei wurde auf der Vorherrschaft der Türken und der Muslime gegründet. Jetzt stellt unser Bericht dies auf den Kopf. Er sagt, es gibt weder eine Vorherrschaft der Muslime, noch eine der türkischen ethnischen Identität… Die 70 Millionen Türkiyeli sind als gleichberechtigte Bürger das konstituierende Element dieses Landes« (Interview mit Oran, in: Oran 2004a, 198, Übers. E. G.).
29 Der Grund dafür ist laut Oran die negative Konnotation, die der Begriff der Minderheit möglicherweise bei diesen Gruppen hervorruft. Die nichtmuslimischen Gruppen waren nämlich in ihrem Status als Minderheiten vielfältigen Repressalien ausgesetzt. Hierzu zählen die Vermögenssteuer, die pogromartigen Angriffe auf christliche Bewohner und Einrichtungen von 1955 u.a. (Oran 2004, 179).
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Dieser Ansatz zielt folglich auf eine »postnationale« Gesellschaftsform in der Türkei, die sich darin ausdrücken würde, dass das auf kulturelle Homogenität der Nation basierende Verständnis von Gesellschaft durch ein die Pluralität von Kulturen anerkennendes Konzept ersetzt wird. Ein Vorschlag, der in eine ähnliche Richtung geht, wie der »Türkiyeli’lik«Ansatz von Baskin Oran und der Arbeitsgruppe für »Minderheitenrechte und kulturelle Rechte« des beratenden Ausschusses für Menschenrechte am Ministerpräsidentenamt, wird von der Rechtswissenschaftlerin Dilek Kurban diskutiert. Ohne sich hierbei auf eine Bezeichnung für die Bevölkerung festzulegen, zielt ihre Hauptforderung auf die Reformierung der Verfassung, in der jegliche Bezüge zu einer partikularen Kultur gestrichen werden sollen. Sie begründet dies mit diesen Worten: »A new constitution based on an inclusive and civic notion of citizenship which stands in equal distance from all ethnic, religious and linguistic minorities and which respects and promotes the multicultural heritage of Turkey would be an crucial first step towards turning ›the others‹ into ›us‹. The diverse demands of various groups could be met through the adoption of an inclusive notion of constitutional citizenship free of an ethnic and religious component without creating new minority rights regimes tailored for particular groups« (Kurban 2004a, 368f.).
Kurban spricht sich folglich gegen die Anerkennung von Minderheitengruppen und kollektiven Rechten aus und begründet dies mit den negativen Erfahrungen der nicht-muslimischen Gruppen, die zwar unter dem Minderheitenregime des Friedensvertrages von Lausanne religiöse und kulturelle Eigenständigkeit besaßen, jedoch nicht als volle Staatsbürger/innen gesehen wurden. Stattdessen wurde Kurban zufolge die historische osmanische Aufspaltung der Gesellschaft in Muslime und Nicht-Muslime durch die Anerkennung der nicht-muslimischen Gruppen fortgeführt, und diese somit zu »Anderen« und zur Zielscheibe für juristische und soziale Diskriminierungen gemacht (Kurban 2004a, 368). Die Aufnahme einer Zusicherung der aus dem Lausanner Friedensvertrag hervorgehenden Rechte dieser Gruppen in der neuen Verfassung würde diese nicht nur ausdrücklich bestätigen und somit diese Rechte stärken, sondern hätte auch eine symbolische Bedeutung, indem diese Gruppen mit allen Staatsbürger/innen der gleichen Verfassung unterworfen wären (Kurban 2004a, 369).
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Neben der Ermöglichung von muttersprachlichem Unterricht, z.B. Kurdisch30 an öffentlichen Schulen, plädiert Kurban zum Zweck der Gleichstellung von religiösen Minderheiten, wie v.a. der Aleviten, für den Rückzug des Staates von den religiösen Angelegenheiten. Dies beinhaltet Kurban zufolge konkret die Beendigung des kompulsatorischen Religionsunterrichts in Schulen, die Aufhebung der Verpflichtung die religiöse Zugehörigkeit im Personalausweis mitzuteilen und die Aufhebung des Amts für religiöse Angelegenheiten (Diyanet Isleri Bakanligi) (Kurban 2004a, 369). Besondere Bedeutung widmet Kurban der politischen und gesellschaftlichen Stellung und Sichtweise von Minderheiten, die als negativ eingestuft werden muss. Für einen »Mentalitätswandel« schlägt sie Programme vor, durch die das juristische und administrative Bürokratiepersonal sowie Polizei und Militärangehörige geschult werden sollten, um Minderheiten vor Diskriminierung zu schützen (Kurban 2004a, 370). Kurban (2003) argumentiert, dass die Übertragung von aus der kanadischen Erfahrung abgeleiteten konstitutionellen und politischen Reformen in der Türkei geeignet ist, demokratische und egalitäre Lösungen für die Minderheitenfragen zu finden. Als Beispiel nennt sie die durch die kanadische Verfassung festgeschriebene Verpflichtung zum Erhalt des »multikulturellen Erbes«. Für die Türkei würde dies von judikativer, legislativer und exekutiver Seite eine verstärkte Aufmerksamkeit bei der Interpretation und Durchsetzung der Verfassung bezüglich des Erhalts des kulturellen Erbes aller ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten bedeuten (Kurban 2003, 217). »The effective implementation of a constitutionalized multiculturalism principle would require institutional reforms. Turkey could model some reforms after Canada’s reforms, establishing a Ministry of State on Minorities, allocating public funds for the promotion and preservation of Turkey’s multicultural heritage, revising the national curriculum with a view to familiarizing students with different cultures and values, and opening government-sponsored institutions of linguistic and cultural studies« (Kurban 2003, 217).
Um eine gleichberechtigte Koexistenz von religiösen Gruppen durchzusetzen, ist laut Kurban die Abschaffung des Ministeriums für religiöse Angelegenheiten (Diyanet Isleri Bakanligi) unabdingbar. Dieses bevorzugte bislang die sunnitische
30 »A new constitutional provision acknowledging and endorsing the existence of languages other than Turkish and permitting the teaching of such languages in schools would be a great step towards alleviating some of the harm done in the past to Turkey’s uniquely rich cultural heritage« (Kurban 2004b, 370).
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Mehrheit und diskriminierte die alevitische Minderheit. Um Egalität für die Aleviten herzustellen, schlägt Kurban folgende Maßnahmen vor: Erstens die offizielle Anerkennung der Aleviten als eine religiöse Minderheit und ihre Ausstattung mit dem Recht auf Vereinigungsfreiheit und dem Recht auf freie Religionsausübung. Zweitens die Erfordernis, dass rechtliche, legislative und exekutive Organe diese Rechte respektieren und drittens die Aufnahme eines »meaningful dialogue«, um die historische Diskriminierung, der die Aleviten unterworfen waren, aufzuarbeiten (Kurban 2003, 218). Was die größte ethnische Minderheit der Kurden in der Türkei betrifft, schlägt Kurban vor, eine Politik der Zweisprachigkeit durchzusetzen und Kurdisch in der Primär- und Sekundärstufe zu unterrichten. Eine staatliche Politik des Multikulturalismus, wie sie von Kurban (2003, 214f.) für Kanada beschrieben und teilweise als Modell für die Türkei gesehen wird, muss damit nicht einhergehen. Kurban sieht dennoch die offizielle Politik des Multikulturalismus in Kanada, die auf der offiziellen Anerkennung von Zweisprachigkeit der englisch- und französischsprachigen Kanadier, die verfassungsmäßige Verpflichtung zum Multikulturalismus und die Einrichtung eines dauerhaften Dialogs zwischen Mehrheit und Minderheitengruppen beruht, als positives Modell für die Türkei an. Sie bemerkt jedoch auch, dass beide Länder sich historisch und politisch unterscheiden. Jedoch muss eine verfassungsmäßige Anerkennung von Multikulturalität, wie sie im Begriff »Türkiyeli« ausgedrückt wird, nicht unbedingt die staatliche Anerkennung von ethno-kulturellen Gruppen als solche bedeuten, sondern allen Staatsbürger/innen – ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft – die gleichen Ausgangsbedingungen in der individuellen Ausübung ihrer kulturellen Rechte einräumen. In diesem Sinn kann man der Diskursethik Seyla Benhabibs folgend – und in Abgrenzung zu Will Kymlickas zu statischem Gruppenbegriff – im Ansatz »Türkiyeli« einen Vorrang der individuellen Autonomie (und damit der individuell gesetzten kulturellen Rechte) gegenüber kollektiv festgelegten Minderheitenrechten ausmachen. Inwiefern das Machtgefälle zwischen den gesellschaftlichen Kulturen damit ausgeglichen werden kann, bleibt ungeklärt. Resümierend kann festgehalten werden, dass das dominierende türkische Verständnis von Nation weiterhin viele Fragen aufwirft. Folglich kann gerade deshalb für einen neuen institutionell-begrifflichen Rahmen, d.h. für ein klarer definiertes Nation-Verständnis argumentiert werden. So argumentieren Kurban (2003) und Gökcenay (2004), dass dieser Rahmen in der Türkei fehlt. Kurban glaubt in diesem Zusammenhang an die Notwendigkeit, […] »that the Turkish State needs to rethink its approach towards all its minorities in general, and
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reformulate its stand on the Kurdish question in particular, such it may move from a policy of ethnic nationalism based on denial, exclusion, and forced assimilation towards a concept of civic nationalism based on recognition, inclusion, and integration« (Kurban 2003, 223; Kurban 2004b, 43). Wenn dieser Rahmen gesteckt ist, und in der institutionellen Auseinandersetzung einen Verhandlungsraum bietet, können Forderungen von ethno-kulturellen Gruppen einen angemessenen Artikulationsrahmen finden. Das Fehlen einer angemessenen begrifflichen Grundlage für die Handhabung von Forderungen seitens Minderheiten lässt sich am Beispiel der Kurden als der größten ethnokulturellen Gruppe in der Türkei zeigen: ob es sich bei dieser Gruppe um eine Minderheit handelt oder handeln soll, ist nämlich seit dem Lausanner Friedensvertrag ein Streitpunkt. Von vielen werden sie als das »konstituierende Element« der Republik Türkei gesehen. So sagte z.B. Süleyman Demirel als damaliger Staatspräsident: »Wir sagen dem Westen, dass die31 die Besitzer des gesamten Landes sind. Warum sollen sie durch den Erhalt von Minderheitenrechten zu Staatsbürgern zweiter Klasse degradiert werden?« (zitiert nach Yumul 2005, 106). Die Frage ist hier jedoch, ob die Feststellung, dass die Kurden (neben den Türken als Muslime) das »konstituierende Element« der Republik darstellen, die nicht-muslimischen Gruppen jedoch »nur« Minderheiten sind, zu kulturellen Rechten für die Kurden führt, oder ob sie als eins mit dem »konstituierenden Element« der Türken gesehen und ihnen somit keine spezifischen Rechte zugestanden werden.
31 Gemeint sind die Kurden, Anm.E. G.
Schlussfolgerungen
Die Arbeit hat versucht, die politischen und sozialwissenschaftlichen Debatten um Nation, Staatsbürgerschaft und Multikulturelle Staatsbürgerschaft in der Türkei in einen breiteren theoretischen Rahmen zu verorten, der einerseits durch die globale und internationale Dimension der Diskussionen über die gegenwärtige Relevanz und Bedeutung des Nationalstaates vorgegeben wird, und andererseits durch die Debatten über die innere Kohäsion kulturell partikularer Gesellschaften. Bei der innergesellschaftlichen Dimension spielen neben der stetigen »Multikulturalisierung« von Einwanderungsgesellschaften die Forderungen von autochthonen ethno-kulturellen Gruppen nach kultureller Anerkennung in etablierten Nationalstaaten eine bedeutende Rolle für die »Gouvernementalität« solcher Gesellschaften. Für die globale Ebene ist es die Frage der Souveränitätsund Kompetenzübertragung des Nationalstaates auf supranationale Gebilde, wie der EU. Auf beiden Ebenen zeigt sich eine Krise des klassischen Staatsbürgerschaftsbegriffs, der nicht mehr als an einen geschlossenen nationalen Raum gebunden gedacht werden kann und sich neuen Herausforderungen gegenüber sieht (hierzu insbesondere Kapitel II.3). Die Arbeit hat sich die Frage gestellt, was diese Krise des Staatsbürgerschaftsbegriffs für den türkischen Fall bedeutet. Hier habe ich mich insbesondere dem Aspekt der Integration und der Forderungen von ethno-kulturellen Gruppen gewidmet und gefragt, worin sich der türkische Fall möglicherweise von »westlichen« Gesellschaften unterscheidet. Nach der Analyse des historischen Nationenbildungsprozesses, die im ersten Hauptteil der Arbeit erfolgte, kann festgestellt werden, dass nach einer etwa 90jährigen Geschichte der Türkischen Republik nicht erreicht werden konnte, ein von den Bürger/innen geteiltes gemeinsames staatsbürgerliches Bewusstsein in Hinblick auf die Identifikation des Individuums mit dem nationalen »Identitätsangebot« »Türke/Türkin« zu schaffen. Diese Feststellung wird hier relational
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und relativ zu den historischen »Vergleichsgrößen« der französischen und in einem geringeren Maß deutschen Nationenbildungsprozesse getroffen. Sie besagt, dass das türkische Nationenbildungsprojekt sich in Hinblick auf die Inklusion von ethno-kulturellen Gruppen als weniger erfolgreich erwiesen hat als z.B. die französische Nationenbildung, die den türkischen Republikgründern als Vorbild diente. Wenn wir an die zu Beginn der Untersuchung formulierten Unterschiede des türkischen Falles zu westlichen Beispielen der Nationenbildung zurückkommen, dann ist festzustellen, dass hier insbesondere eine große Gruppe, nämlich die Kurden, sich als größtes Hindernis vor dem Projekt einer »ethnisch« und kulturell homogenen Nation erwiesen haben. Zudem ist das türkische Nationenbildungsprojekt im Vergleich zum französischen oder auch zum deutschen jünger und basiert im Sinne Ernest Gellners nicht auf einer historisch früh einsetzenden Koinzidenz von Staat und Kultur (Gellner 1995 und 1999). Folglich war das türkische Nationenbildungsprojekt ein verspäteter, der, um mit Taner Akcam (2002, 58) zu sprechen, sich beeilte, seine Hegemonie durchzusetzen und damit ein »aggressives« Potential sowohl gegen die inneren als auch die äußeren Feinde in sich barg. Dies drückte sich einerseits in der Politik der Zwangsassimilation der Kurden als mehrheitlich muslimische Bevölkerung und andererseits in der Exklusion von nicht-muslimischen Gruppen als »Andere« aus. Nach dieser historisch-begrifflichen Analyse des türkischen Nationenbildungsprozesses sowie nach der Diskussion der ideologischen und gesellschaftlichen Ausformung des Nationen- und Staatsbürgerschaftsverständnisses seit der Republikgründung komme ich zu dem Schluss, dass es insbesondere seit den 1980er Jahren zu einem Kampf um die Definition der Institution der Staatsbürgerschaft gekommen ist. Dieser drückt sich insbesondere in den Forderungen ethnokultureller Gruppen nach Anerkennung ihrer kulturellen Zugehörigkeit aus. Auch der politische Islam hat in diesem Kontext die kemalistisch definierte Staatsbürgerschaft in Frage gestellt (siehe hierzu Kapitel VII). In dieser historischen Perspektive kann folglich von einer sich seit Beginn der 1980er Jahre abbildenden Infragestellung, Öffnung und Neu-Definition von Nation und Staatsbürgerschaft im türkischen Kontext ausgegangen werden, die sich in den sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzungen ab den 1990er Jahren niederschlagen und durch die EU-Beitrittsperspektive seit dem Jahr 2000 an Tempo gewonnen haben. Die Sozialwissenschaften formulieren für die Integration und die Repräsentation von kultureller Differenz in der Türkei zumindest eine konstitutionelle
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Staatsbürgerschaft, die im Gegensatz zur bisherigen assimilatorischen Praxis die kulturellen Rechte der Staatsbürger/innen anerkennt (siehe Kapitel VII). Einerseits ist die Kritik am ethnischen Verständnis des Türkisch-Seins als Infragestellung eines hinsichtlich der Inklusion ethno-kultureller Differenzen als »ungerecht« bewerteten Verständnisses von Nation und Staatsbürgerschaft zu beurteilen. In diesem Sinn schließt sie an Will Kymlickas Formel der »ethnocultural justice« an, die nach mehr Gerechtigkeit zwischen verschiedenen Gruppen in Nationalstaaten fragt. Andererseits drückt sich darin auch eine Kritik an den kemalistischen Fundamenten der türkischen Republik aus. Diese Debatten können als eine Antwort auf die Krise des »nationalen Integrationsmodells« der türkischen Republik gedeutet werden. Sie markieren – wie in der Kontroverse um den Begriff »Türkiyeli« deutlich wurde – somit auch eine Suche nach einem nicht-ethnisch konnotierten Begriff des Türkisch-Seins, der inklusiv ist, und in dem eine Anerkennung der »Multikulturalität« der Türkei zum Ausdruck kommt. Die Debatten um Minderheitenrechte seit den 2000er Jahren können darüber hinaus als eine Anpassungsleistung an die Beitrittsvoraussetzungen für eine EU-Mitgliedschaft bewertet werden. Bezogen auf die interne Debatte um Nation, Staatsbürgerschaft und Multikulturelle Staatsbürgerschaft ist ein Hauptproblem für den türkischen Fall, ob es sich um ein liberales oder autoritär-republikanisches Modell von Nation und Staatsbürgerschaft handelt. Es wurde festgestellt, dass das türkische Modell liberale Ansätze zeigt, es jedoch Grenzen gibt, die durch die Staatsideologie des Kemalismus vorgegeben werden (hierzu siehe Kapitel III und V). Die Frage ist hier, ob die Debatten, die im Rahmen dieser Arbeit nachgezeichnet und analysiert wurden, Ausdruck einer »Liberalisierung« sind. Diese Frage kann mit Einschränkungen bejaht werden, denkt man an die zunehmende öffentliche »Diskutierbarkeit« der kurdischen aber auch der armenischen Frage, die sich im politischen, wissenschaftlichen und medialen Diskurs widerspiegelt. Die Frage ist, ob diese Liberalisierung zudem durch den EU-Integrationsprozess weiter zunehmen wird. Es kann davon ausgegangen werden, dass die türkischen Debatten um Staatsbürgerschaft, Nation und die Integration von ethno-kulturellen Gruppen »europäisierte« und »globalisierte« Debatten darstellen, die sich einerseits nicht vom europäischen und globalen Diskurs über »Multikulturalismus« (Will Kymlicka 2007) ausnehmen lassen und andererseits durch ihre spezifisch nationale Form, die sich durch eine an der »Peripherie« Europas entstandene, »verspätete« und modernistische Nationalstaatsbildung ausdrückt, Besonderheiten im Umgang mit ethno-kultureller Differenz aufweisen. Diese Spezifizität – dies hat diese Untersuchung zu zeigen versucht – besteht in einem tief verwurzelten ideologischen Nation-Verständnis, das auf der kemalistischen Auffassung von Staat und Ge-
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sellschaft beruht (siehe hierzu Kapitel III.4, Bezwan 2008) und »Anerkennungspolitiken« eine Schranke setzt. Dieses Verständnis, um es zu wiederholen, beruhte bislang auf einem in der Praxis ethnischen und kulturellen Begriff von Türkisch-Sein, der der Artikulation von ethno-kultureller Differenz nicht nur keinen Raum bot, sondern im Gegenteil seit Beginn der Republik zu gewaltsamen Politiken der Assimilation führte. Jedoch zeigt sich in den im Rahmen dieser Untersuchung analysierten Debatten über Staatsbürgerschaft, Nation und die Integration von ethno-kulturellen Gruppen seit den 1980er Jahren, dass diese Schranken durchlässiger geworden sind.1 In dieser Arbeit wurde intendiert, für die Debatten um die Integration von ethnokulturellen Gruppen – obwohl dieser Begriff hier zur Beschreibung von kulturelle Anerkennung fordernden Gruppen benutzt wurde – einen differenzierten Begriff zugrunde zu legen und genauer zu analysieren, wer gemeint ist, wenn z.B. von den Kurden gesprochen wird. Folglich wurde in Abgrenzung zu Will Kymlickas zu statischem Begriff solcher Gruppen die türkische Debatte als empirisches »Experimentier- und Forschungsterrain« betrachtet, auf dem Kymlickas Konzepte und Begriffe zur Anwendung kommen konnten (siehe Kapitel IX). Hier habe ich versucht zu zeigen, dass dieser zu statische Begriff bei der Erfassung der Kurden als eine Gesellschaftskultur (societal group), die im Sinne Kymlickas über gesellschaftliche Institutionen verfügen (siehe Kymlicka 1995a), an Grenzen stößt. Die Kurden in der Türkei können im Sinne Kymlickas nicht als eine Gesellschaftskultur begriffen werden, da sie nicht über die notwendigen gesellschaftlichen Institutionen verfügen, die sich z.B. in einer institutionalisierten Sprache ausdrücken würde. Jedoch ist Will Kymlickas Begriff des multicultural citizenship (insbesondere Kymlicka 1995a) insofern treffend für die Beschreibung der türkischen Debatte als die Auseinandersetzungen und Vorschläge für eine konstitutionelle Staatsbürgerschaft und die Debatte um »Türkiyeli’lik« (Einwohnerschaft der Türkei) Ansätze für eine vom Gedanken der »ethno-kulturellen Gerechtigkeit« geleitete Inklusion von ethno-kultureller Differenz in die Institution der Staatsbürgerschaft2 darstellen.
1
Die anhaltenden Debatten über eine »neutrale«, nicht ideologisch gefärbte Verfassung sind ebenso ein Anzeichen für die größere Durchlässigkeit dieser ideologischen Schranken.
2
Siehe hierzu die Aussagen des türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül im Juli 2009 bezüglich des Vorstoßes der Regierung in der kurdischen Frage. Gül sagt: »Wir werden das Zugehörigkeitsgefühl aller Staatsbürger der Türkei zu ihrem Land stär-
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Es wurde im Rahmen dieser Untersuchung weniger darauf eingegangen, welche konkreten Rechte eine solche multikulturelle Staatsbürgerschaft für Mitglieder von ethno-kulturellen Gruppen mit sich bringt. Dennoch wurde im Kapitel VIII.2 versucht, den »de facto-Bestand« der kulturellen Rechte, wie z.B. die Möglichkeit privater Kurdisch-Kurse, zu formulieren. Diese Rechte oder »Angebote« an kulturelle Minderheiten befinden sich im Zuge des EU-Beitrittsprozesses im Wandel, folglich kommen neue Rechte und Möglichkeiten hinzu. Zu nennen ist beispielsweise der durchgängig in kurdischer Sprache sendende Fernsehsender TRT 6, der seit Januar 2009 in Betrieb ist. Darin kommt auch eine offizielle, d.h. staatliche Anerkennung der kurdischen Sprache zum Ausdruck, die vorhergehende »Anerkennungsmaßnahmen« der kulturellen Rechte von Kurden oder anderer Gruppen bei Weitem übertrifft. Die Arbeit hat bei der begrifflichen und methodischen Herangehensweise an »ethno-kulturelle« Gruppen keinen Ansatz gewählt, der darin bestehen würde, individuelle Ethnisierungsprozesse genauer zu beleuchten und sie in Beziehung zur gesellschaftlichen Formierung von ethnischen Gruppen zu setzen. Dieser Ansatz lässt sich mit der Fragestellung der Arbeit begründen, die vielmehr darin bestand, nach »staatsbürgerlicher Gleichheit« und »ethno-cultural justice« zu fragen als individuelle Ethnisierungsprozesse zu rekonstruieren. Es wurde versucht aus einer theoretischen Perspektive heraus zu argumentieren, dass ethno-kulturelle Gruppen keine homogenen und statischen Einheiten darstellen. Anhand des Fallbeispiels der Kurden in der Türkei sollte dies verdeutlicht werden. Insofern nimmt der hier vertretene Ansatz bei der Analyse von »ethnischen Gruppen« eine perspektivische »Zwischenposition« ein, die nicht auf eine individuell-biographische Analyse von Ethnisierungsprozessen beruht, sich zugleich aber vom zu homogenen und statischen Gruppenbegriff Will Kymlickas distanziert und einen differenzierten Gruppenbegriff vorschlägt, der sowohl von Seyla Benhabib (2000) als auch von Rogers Brubaker (2007) vertreten wird.
ken«. Er spricht davon, dass die Unterschiede als Reichtum gesehen werden sollten. So könnten Menschen sagen, sie seien Türken oder Kurden. Aber jeder sei »Staatsbürger der Türkei« und damit »gleichberechtigte Bürger« der Türkischen Republik. Diese Aussagen lassen sich als ein Plädoyer für eine »konstitutionelle Staatsbürgerschaft« lesen. Siehe: »Aidiyet bagi güclenecek« (Das Band der Zugehörigkeit wird gestärkt), in Tageszeitung Taraf vom 28.07.2009.
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I NTERNETDOKUMENTE Friedensvertrag von Lausanne (Treaty of Lausanne): http://wwi.lib.byu.edu/index.php/Treaty_of_Lausanne (zuletzt eingesehen: 5. Februar 2010) Turkey Progress Report 2009: http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2009/tr_rapport_2009_e n.pdf (zuletzt eingesehen: 5. Februar 2010)
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Z EITUNGSARTIKEL »Aidiyet bagi güclenecek« (Das Band der Zugehörigkeit wird gestärkt). In Tageszeitung Taraf vom 28.07.2009. »Brad Pitt spricht jetzt Kurdisch«. Von Gerd Höhler. In: Frankfurter Rundschau vom 11.02.2009, S. 9 Frankfurter Rundschau vom 13.3.2008, S. 7 »Gericht verbietet Kurdenpartei DTP«. In: Frankfurter Rundschau vom 11.12. 2009 »Parteienfriedhof Türkei«. Von Gerd Höhler. In: Frankfurter Rundschau vom 14.12.2009, S. 10 »Streitfall Völkermord«. In: Süddeutsche Zeitung vom 13.10.2006, S. 4; »Traumatische Anfänge, Mythen und Experimente. Die multikulturelle Türkei im Übergang zur reifen Demokratie«. Von Seyla Benhabib. In: Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 26.11.2005 »Türkiye kendi modelini ariyor« (»Die Türkei sucht ihr eigenes Modell«). In: Tageszeitung Milliyet vom 03. August 2009, S. 17 »Wenig Erinnerung, keine Trauer«. Von Günter Seufert. In: Frankfurter Rundschau vom 28.06.2007, S. 17 »Wer am Leben blieb, wurde nackt gelassen«. Von Christian Schmidt-Häuer. In: Die Zeit vom 23.03.2005, S. 15-18
I NTERVIEWS Intellektueller Minderheitenangehöriger in der Türkei Erster EU-Experte Zweiter EU-Experte
Glossar
Alt-kimlik: »Sub-Identität«, im Sinne einer der übergeordneten nationalen Identität untergeordnete ethnische oder regionale Identität. Anayasal vatandaslik: Konstitutionelle Staatsbürgerschaft Anitkabir: Die Bezeichnung für Mustafa Kemal Atatürks Mausoleum. Atatürkcülük: »Atatürkentum« oder »Atatürkismus«; Ideologie, die sich an den Kemalismus anlehnt, jedoch stärker als dieser an der Person Mustafa Kemal Atatürks festgemacht wird, während der Kemalismus auch eine Theoretisierung der Atatürkschen Reformen außerhalb seiner Person und über diese hinaus bezeichnet. Derin devlet: »Tiefer« Staat. Bezeichnet ein unter der Oberfläche des offiziellen, sichtbaren Staates operierendes Netzwerk aus Politikern, Militärs, Akademikern u.a., die im »nationalen« Interesse politische Gegner und kritische Intellektuelle bekämpfen und unter dem Vorwand die Werte der kemalistischen Republik schützen zu wollen, auch gegen die Reformpolitik der Regierung vorgehen. Diyanet Isleri Bakanligi: Ministerium für religiöse Angelegenheiten Islamci: Islamisch orientiert, den Islam als Grundlage sozialen und politischen Handelns definierend. Islamcilik: »Islamismus«, eine auf den Islam als tragendes Wertesystem beruhende politische Ideologie.
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Ittihat und Terakki: Jungtürkisches Komitee Einheit und Fortschritt, von 19081918 an der Macht. Kurucu unsur: Konstituierendes »Element«, gemeint sind die Bevölkerungsgruppen, die sich als Mitbegründer der Türkischen Republik begreifen und hieraus Rechte einfordern, die ihnen als Teil der Mehrheit zustehen würden. Sie lehnen insofern den Status der Minderheit ab. Medeniye: Im Osmanischen gebräuchlicher Begriff, der vom arabischen Wort für »Stadt« abgeleitet ist und zur Bezeichnung von »Städtern« benutzt wurde. Somit wird er von manchen Autor/innen als Equivalent für die in den europäischen Sprachen benutzten Begriffe »Bürger«, »citoyen« oder »citizen« gesehen. Medeniye wies jedoch stärker als auf die städtische Zugehörigkeit auf bestimmte moralische und soziale Verhaltensweisen von Individuen hin. Millet: Im Osmanischen Reich die Bezeichnung für die religiösen Gemeinschaften, wie die muslimische, christliche oder jüdische. Im heutigen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff »Nation« im modernen Sinn, wobei er sich durch religiöse Anklänge vom modernen Begriff »ulus« (Nation) abhebt. Millet-i-hakime: Bezeichnung für das als herrschende »Nation« geltende islamische millet im Osmanischen Reich. Milliyetci: Nationalist/in Misak-i-milli: Bezeichnung für die neuen Grenzen der Türkei nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches. Rum: Türkische Bezeichnung für die anatolischen Griechen. Tanzimat: Bezeichnung für eine Reformperiode des Osmanischen Reiches (1838-1876), in der u.a. das Verwaltungs- und Erziehungswesen sowie das Militär grundlegend modernisiert wurden. 1876 hatte diese Periode ihr vorläufiges Ende, indem die erste Osmanische Verfassung entstand. Türk: Türke, Türkin Türkcü: Türkistisch im Sinne des Türkismus
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Türkcülük: Türkismus. Nationalistische Ideologie, die die Türken der Türkei und die turksprachigen Bevölkerungen Zentralasiens als Einheit ansieht. Türkiyeli: Einwohner der Türkei Türkiyeli’lik: Einwohnerschaft der Türkei Türklük: Türkentum – Türkisch-Sein Türk-Islam Sentezi: Türkisch-Islamische Synthese. Begriff zur Bezeichnung der seit den 1980er Jahren politisch geförderten Allianz zwischen Islam und türkischer Nationalität bzw. türkischem Nationalismus. Ulema: Bezeichnung für den Klerus und die Gelehrten islamischen Rechts im Osmanischen Reich. Ulus: Nation, ein stärker säkular geprägter Begriff, der in der modernen Türkei entstanden ist und sich von dem im Osmanischen Reich gebrauchten religiös konnotierten arabischen Begriff »Millet« abgrenzt. Ulusalci: Nationalist im Sinne einer antiwestlichen Haltung, die im rechten und radikallinken Spektrum zu verorten ist. Ulusculuk: Nationalismus als moderner türkischer Begriff. Grenzt sich von dem alten, auf das Arabische millet zurückgehende Wort »Milliyetcilik« (Nationalismus) ab. Üst kimlik: Im Sinne von übergeordneter nationaler Identität, die untergeordnete Sub-Identitäten (alt-kimlik) umfassen kann. Vatan: Vaterland Vatansever: Patriot/in Vilayet: Bezeichnung für osmanische Provinzen.
Kultur und soziale Praxis Isolde Charim, Gertraud Auer Borea (Hg.) Lebensmodell Diaspora Über moderne Nomaden März 2012, 280 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1872-3
Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Urbane Jugendbewegungen Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt Dezember 2012, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2130-3
Monica Rüthers Juden und Zigeuner im europäischen Geschichtstheater »Jewish Spaces«/»Gypsy Spaces« – Kazimierz und Saintes-Maries-de-la-Mer in der neuen Folklore Europas August 2012, 252 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2062-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur und soziale Praxis Burkhard Schnepel, Felix Girke, Eva-Maria Knoll (Hg.) Kultur all inclusive Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus Dezember 2012, ca. 310 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2089-4
Stefan Wellgraf Hauptschüler Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung April 2012, 334 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2053-5
Erol Yildiz Die weltoffene Stadt Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht Dezember 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1674-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur und soziale Praxis Anıl Al-Rebholz Das Ringen um die Zivilgesellschaft in der Türkei Intellektuelle Diskurse, oppositionelle Gruppen und Soziale Bewegungen seit 1980 Dezember 2012, ca. 408 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1770-2
Bettina Fredrich verorten – verkörpern – verunsichern Eine Geschlechtergeografie der Schweizer Sicherheitsund Friedenspolitik Juni 2012, 302 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2063-4
Matthias Lahr-Kurten Deutsch sprechen in Frankreich Praktiken der Förderung der deutschen Sprache im französischen Bildungssystem August 2012, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2017-7
Andrea Nachtigall Gendering 9/11 Medien, Macht und Geschlecht im Kontext des »War on Terror«
Johanna Rolshoven, Maria Maierhofer (Hg.) Das Figurativ der Vagabondage Kulturanalysen mobiler Lebensweisen Oktober 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2057-3
Minna-Kristiina Ruokonen-Engler »Unsichtbare« Migration? Transnationale Positionierungen finnischer Migrantinnen. Eine biographieanalytische Studie Juni 2012, 408 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1876-1
Ariane Sadjed »Shopping for Freedom« in der Islamischen Republik Widerstand und Konformismus im Konsumverhalten der iranischen Mittelschicht Juli 2012, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1982-9
Adelheid Schumann (Hg.) Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule Zur Integration internationaler Studierender und Förderung Interkultureller Kompetenz
Juli 2012, 478 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2111-2
Juli 2012, 262 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1925-6
Ewa Palenga-Möllenbeck Pendelmigration aus Oberschlesien Lebensgeschichten in einer transnationalen Region Europas
Irini Siouti Transnationale Biographien Eine biographieanalytische Studie über Transmigrationsprozesse bei der Nachfolgegeneration griechischer Arbeitsmigranten
Dezember 2012, ca. 390 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN 978-3-8376-2133-4
Oktober 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2006-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de