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German Pages 336 Year 2014
Gesine Müller, Natascha Ueckmann (Hg.) Kreolisierung revisited
Postcolonial Studies | Band 12
Gesine Müller, Natascha Ueckmann (Hg.)
Kreolisierung revisited Debatten um ein weltweites Kulturkonzept
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Einleitung: Kreolisierung als weltweites Kulturmodell? | 7
Gesine Müller (Potsdam) und Natascha Ueckmann (Bremen)
VORGESCHICHTE DER KREOLISIERUNG : ZWISCHENRÄUME IM 19. JAHRHUNDERT Vom Instinkt zum Bioprogramm, von der Mischung zum Hybrid: Historische und gegenwärtige Vorstellungen von Kreolisierung als Wandelprozess in der Sprache
Philipp Krämer (Potsdam) | 43 Orientalische Dopplungen in der Karibik: Coolitude als inklusives Kreolitätsmodell und seine dissoziativen Dimensionen
Johanna Abel (Potsdam) | 65 Kreolisierung meets Coolitude? Die literarische habla bozal und habla de chino im Kontext der Debatte um die Kreolisierung des Spanischen in der Karibik
Silke Jansen (Mainz) | 83
KREOLITÄT , KREOLISIERUNG UND HYBRIDISIERUNG Kreolisierung und Hybridisierung
Katrin Mutz (Bremen) | 99 Was auf das Loblied folgte: Der Schritt vom Prolog zur Créolité
Juliane Tauchnitz (Leipzig) | 129 Créolité goes global? Zur Transgression des Créolité-Konzeptes
Bastienne Schulz (Nancy) | 149
KREOLISIERUNG : AUTOUR D ’ÉDOUARD GLISSANT Poesie und Denken: Lyrische Form, kreolisierte Erinnerung und Erkenntnis bei Édouard Glissant
Gisela Febel (Bremen) | 163 »La littérature, c’est remettre au jour les connexions cachées.« Diversität und Komplexität im Romanwerk Édouard Glissants
Helke Kuhn (Stuttgart) | 181 »Inventer l’Haïtien comme prochain«: Der Andere en Relation zwischen Differenz und Nähe
Julia Borst (Hamburg) | 201 Édouard Glissant: La Cohée du Lamentin als Übersetzungsprojekt
Beate Thill (Freiburg i. Brsg.) | 221
KREOLISIERUNG IM KALEIDOSKOP EINES T OUT-MONDE Roma-Literaturen und Kreolisierung
Cécile Kovacshazy (Limoges) | 239 Passengers towards unknown lands
Françoise Vergès (La Réunion/London) | 253
KREOLISIERUNG UND COOLITUDE Coolitude
Marina Carter (Edinburgh) und Khal Torabully (Port Louis/Mauritius) | 279 »Dire la vie de façon kaléidoscopique«: Entretien avec Khal Torabully sur l’écriture d’aphorismes
Miriam Lay Brander (Konstanz) | 297 Coca Cola und Coolitude
Ottmar Ette (Potsdam) | 305
Autorinnen und Autoren | 329
Einleitung Kreolisierung als weltweites Kulturmodell?
G ESINE M ÜLLER UND N ATASCHA U ECKMANN
K REOLISIERUNG P ARADIGMA
ALS KULTURTHEORETISCHES
Kulturtheoretische Versuche ein Zusammenleben in Frieden und Differenz programmatisch zu fassen, spielen vor allem im begonnenen 21. Jahrhundert eine große Rolle.1 Dass aktuelle Debatten zu diesem Thema auch intensiv weltweit von Intellektuellen in postkolonialen insulären oder archipelischen Konstellationen geführt werden, liegt aus verschiedenen Gründen nahe. Besonders die Karibik zeigt sich in den letzten Jahrzehnten als privilegierter Ort für Theorieproduktion: Négritude, Antillanité, Créolité, Créolisation, Relationalité und Tout-Monde – in dieser chronologischen Abfolge wird versucht, das Zusammenleben auf den Inseln dieses Archipels und seiner Diaspora konkret in den Blick zu nehmen bzw. von dort aus universale Kategorien zu entwickeln, wie es vor allem Édouard Glissant für die frankophone Karibik und Antonio Benítez Rojo für die hispanophone Karibik unternommen haben.2 Beiden Intellektuellen
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Zu den besonders großen Herausforderungen nach Grundlagen und Bedingungen des Zusammenlebens im weitweiten Maßstab in der vierten Phase beschleunigter Globalisierung vgl. Ette 2010.
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Insgesamt werden allein in der Karibik fünf verschiedene europäische Sprachen gesprochen (Spanisch, Französisch, Englisch, Holländisch und Portugiesisch), ganz abgesehen davon, dass es noch zahlreiche lokale Sprachen wie Kreol oder Papiamento gibt.
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ist die Vorstellung gemeinsam, dem historisch erlebten Chaos und Leid mittels Kreativität zu begegnen.3 Der Schriftsteller Édouard Glissant (1928-2011) hat den von Anthropologie und Linguistik geprägten Begriff der Kreolisierung maßgeblich rekonzeptualisiert, indem er ihn mit poststrukturalen Theorien verknüpft, um ihn dann in den Bereich des Kulturellen zu übertragen. Er hat nicht nur einen entscheidenden Beitrag zur Etablierung des Begriffs der Kreolisierung geleistet, sondern diesen auch durch ständige Hinterfragungen und Revisionen einer hochdynamischen Begriffsgenese unterworfen (vgl. Glissant 1990, 1996, 1997a, 1997b, 2005a, 2006, 2009). Vergleichbar mit Glissants Ästhetik des Chaos und der Beziehung, sich kondensierend in seinem Begriff der »Chaos-monde« (Glissant 1994 u. 2005b: 55ff.), überträgt der kubanische Wissenschaftler Antonio Benítez Rojo (1931-2005) in La isla que se repite. El Caribe y la perspectiva posmoderna (1989/1992) Erkenntnisse der Chaostheorie und des Poststrukturalismus auf die spezifische Situation der Karibik.4 Benítez Rojo hebt neben der Plantagenwirtschaft als bestimmende ökonomische Größe die für die Karibik charakteristische Polyrhythmik hervor. Er meint damit einen Wissensdiskurs jenseits von Linearität, Kohärenz und Kausalität, der Modernitäts- und Globalisierungsgeschichte postkolonial umzuschreiben vermag. Benítez Rojo verfolgt dieses Ziel vornehmlich über die Wiedereinschreibung marginalisierter Kulturtechniken wie Rhythmus, Gesang und Tanz.5
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Dies ist nicht unbedingt nur ein Charakteristikum karibischer Literatur. Bereits Maurice Blanchot, in dessen Werk Erfahrungen des Verlustes und des Todes im Zusammenhang mit der Shoa, die Frage von Genozid und Gedächtnis eine wesentliche Rolle spielen, spricht von einer Écriture du désastre (1980).
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Der Text wurde 1989 zuerst in Hanover/USA publiziert. Zusammen mit dem Übersetzer James Maraniss erarbeitet Benítez Rojo die englische Ausgabe The Repeating Island. A Postmodern Approach to Sameness and Difference in the Carribbean (1992), die die amerikanisch geprägte Lateinamerikanistik und Karibistik entscheidend beeinflusst. La isla que se repite/Repeating Island ist der zweite Teil einer Trilogie zur Karibik, in der verschiedene narrative Formen aufgeboten werden. Die Trilogie setzte 1979 mit dem Roman El mar de las lentejas ein und wurde mit dem Erzählband A View from the Mangrove/Paso de los vientos (1998/1999) beschlossen. Wie Glissant benutzt Benítez Rojo verschiedene narrative Formen (Erzählung, theoretisches Essay und Roman).
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Für eine ausführliche Analyse von Benítez Rojos Studie vgl. Sieber 2005: 133-137 und Schwieger Hiepko 2009: 127-197. Auf dem Feld der Kulturwissenschaften ist Schwieger Hiepkos Studie Rhythm ›n‹ Creole. Antonio Benítez Rojo und Édouard
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Im Zentrum des vorliegenden Bandes steht die von Glissant vorgeschlagene Denkfigur der Kreolisierung, die auf kulturelle Berührung, Begegnung, Vermischung oder wechselseitige Transformation differenter Kulturen zielt und die eine enge Verbindung zum Konzept der Kreolität und zum Begriff der Hybridität aufweist. Doch was meint Kreolisierung genau? Geben wir Glissant selbst das Wort: »Die Kreolisierung, die in Neo-Amerika stattfindet und die auf die anderen Anteile Amerikas übergreift, wirkt auch überall auf der ganzen Welt. Ich behaupte also, daß die Welt sich kreolisiert. Schlagartig und dabei in vollem Bewusstsein, werden die Kulturen der Welt miteinander in Kontakt gebracht, verändern sich in ihrem Austausch, was häufig zu unabwendbaren Zusammenstößen, erbarmungslosen Kriegen führt, aber es sind auch Vorposten des Bewusstseins und der Hoffnung erkennbar […] Kreolisierung bedeutet, daß die in Kontakt gebrachten kulturellen Elemente unbedingt als ›gleichrangig‹ gelten müssen, sonst kann die Kreolisierung nicht wirklich stattfinden […] Die Kreolisierung verlangt die wechselseitige Wertschätzung der heterogenen Elemente, die zueinander in Beziehung gesetzt werden, das heißt, daß in Austausch und Mischung das Sein weder von innen noch von außen herabgesetzt oder missachtet wird. Warum spreche ich von Kreolisierung und nicht von Vermischung? Weil die Kreolisierung unvorhersehbar ist, während man das Ergebnis einer Mischung absehen könnte.« (Glissant 2005b: 11-14)
Der martinikanische Schriftsteller Patrick Chamoiseau, geistiger ›Ziehsohn‹ Glissants, konkretisiert: »Kreolisierung bezeichnet die massive und sehr schnelle Kontaktaufnahme zwischen Völkern, Sprachen, Kulturen, Rassen, Weltanschauungen und Kosmogonien. Diese Kontaktaufnahme entstand auf Grund von Kräften, die dem Schock und der Deflagration unterliegen. Man muss sich den Afrikaner vorstellen, der beim Verlassen des Laderaums um jeden Preis lernen musste, wiedergeboren zu werden, nicht allein, [...] sondern der in einem überwältigenden Malstrom wiedergeboren werden musste. Diese anfängliche Vielfalt (an Göttern, Sprachen, Bräuchen) wurde plötzlich zerschmettert in einem menschlichen Brei tief unten im Laderaum des Sklavenschiffs. Und dieser Menschenbrei voll verschiedener, oft gegensätzlicher Erinnerungen führte den afrikanischen Aspekt der Kreolisierung auf dem amerikanischen Kontinent ein [...] Diese afrikanische Vielfalt traf
Glissant. Postkoloniale Poetiken der kulturellen Globalisierung (2009) innovativ, da sie aktuelle kulturelle Globalisierungskonzepte aus der Romanistik erschließt. Zu karibischen Relationalitäten vgl. auch Gómez/Müller 2011; Müller 2012; Ueckmann 2013; ferner zu weltweiten Relationalitäten vgl. Ette/Müller 2012.
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auf eine andere Vielfalt: die der amerikanischen Indianer, die auf den Inseln wohnten (Kariben, Arauak, Taínos...) sowie jene der amerikanischen Indianer auf dem Kontinent, die trotz der aktiven Völkermorde, denen sie zum Opfer fielen, eine aktive Rolle im Prozess der Kreolisierung spielten. Schließlich traf die afrikanische Vielfalt auf eine ebenso entscheidende Vielfalt: die der europäischen Kolonisten. Das kolonialistische Europa war noch ein weites Hosianna aus Sprachen, Mundarten, Traditionen, Kulturen, die reich an innerer Vielfalt waren: Der jakobinische Zentralismus der Staaten als Nationen hatte Bretonen, Bewohner der Normandie, des Poitou, Okzitaniens und andere noch nicht geeinigt, wie man das heute gerne sieht [...] Diese aus allen Kontinenten anstürmenden Vielfalten trafen sich nun im geschlossensten Raum, den es gibt: der Sklavenplantage.« 6
(Chamoiseau 2000)
Eine solche Definition von Kreolisierung verweist auf die ontologische Gewalt und die Konflikte, die mit diesem Prozess einhergingen und noch immer einhergehen. Prozesse der Kreolisierung als Über-Lebensstrategie hat es natürlich auch in anderen Weltregionen gegeben, wie die aus Réunion, einem ›Überseedépartement‹ im Indischen Ozean, stammende und mittlerweile in London lehrende Françoise Vergès betont: »Kreolisierung bedeutet einen Prozess des Verlustes, der Übernahme und der Neubildung; unterschiedliche Sprachfragmente werden vereint, um eine gemeinsame Sprache, eine Welt geteilter Rituale und sozialen Austausches zu kreieren. Kreolisierung ist eine Überlebensstrategie: in einer lebensbedrohenden Situation muss man lernen zu übersetzen [...] Ich muss den Dingen Bedeutung geben in einer Welt, in der meine eigene Welt zutiefst erschüttert wurde. Ich habe alles Vertraute verloren, meinen Namen, meine Familie, mein soziales Umfeld; ich bin auf die andere Seite des Ozeans gebracht und in eine Grube der Gewalt geworfen worden [...] Hier bedeutet Kreolisierung nicht einfach Hybridität; es handelt sich um eine Situation extremer Ungleichheiten, erzwungener Lebensbedingungen und Überlebensstrategien. Kreolisierung ereignet sich in einer Zone der Begegnung, in der Menschen in ungleiche Lebenslagen geworfen werden. Es bedeutet Widerstand gegen einen kompletten Verlust von Sprache und Kultur, gegen ein ökonomisches System, in dem man zu einem Objekt oder zu einer frei verfügbaren Person wurde.« (Vergès 2008)
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Valérie Loichot schlägt aus diesem Grund den heuristischen Begriff der »Postplantation Literature« vor. Ihre Untersuchung der Orphan Narratives (2007) von Faulkner, Glissant, Morrison und Saint-John Perse zeigt aktuelle kulturelle Globalisierungsbewegungen auf, die im Atlantischen Dreieck ihren Ausgang genommen haben und ist eine der wenigen übergreifenden Studien, die die Amerikanistik und Romanistik gekonnt verbindet.
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Kreolisierung ist somit Ausdruck einer multiethnischen Gesellschaft kolonialen Ursprungs und formuliert eine prominente, in Deutschland aber bislang kaum wahrgenommene, postkoloniale Kulturkritik der aktuellen Phase beschleunigter Globalisierung. Bei der Beschäftigung mit der Karibik, aber auch mit Archipelen im Indischen Ozean oder in der Pazifik und anderen Weltgegenden wie Brasilien oder die Südstaaten des USA hat man es also nicht nur mit Entdeckern und Entdeckten, sondern mit einer dritten Kategorie zu tun, den Verschleppten und Versklavten. Damit ist ein gewaltiges kollektives Trauma verbunden: »Les Antilles sont le lieu d’une histoire faite de ruptures et dont le commencement est un arrachement brutal, la Traite« (Glissant 1997a: 223). Die Middle Passage markierte für die deportierten Afrikaner und Afrikanerinnen eine radikale Diskontinuität der eigenen Geschichte, einen Bruch zwischen einem Leben ›davor‹ und einem ›danach‹. Der Puerto Ricaner Edgardo Rodríguez Juliá spricht von einem katastrophalen Kulturkontakt in der ›Neuen Welt‹: »Se trata de una colisión, o encuentro catastrófico, de fuertes cosmogonías como la europea, la indoamericana, la africana.« (Ortega/Rodríguez Juliá 1991: 156) Und der Historiker Jürgen Osterhammel charakterisiert die Sklavenhaltergesellschaft als die »spektakulärste Form von Kolonialgesellschaft«, im Sinne von »untypisch, da hier europäische Gewalt nicht über eine indigene Bevölkerung ausgeübt wurde« (Osterhammel 2006: 25), sondern zunächst ent- und dann neu bevölkert wurde. Die einheimische Bevölkerung war bereits im 16. Jahrhundert der Brutalität der Europäer und vor allem den aggressiven Krankheitserregern der Alten Welt weitgehend zum Opfer gefallen, so dass die »Kolonisierten erst von weither herbeigeschafft werden [mussten]« (Osterhammel 2006: 30). Nicht nur ein spezifisches Herrschaftsverhältnis, die Plantagenökonomie, breitete sich in der Karibik und anderen Weltgegenden aus, sondern mit dem afrikanischen Sklaven betrat auch »ein anderer Anderer den kolonialen Schauplatz« (Hofmann 2001: 43), denn er war weder der gute Wilde noch der grausame Kannibale, zwei Figuren des sauvage, die bis dahin das Bild des Kariben maßgeblich prägten. Die Konstruktion des karibisch Anderen erweiterte sich um den esclave nègre (vgl. Hofmann 2001: 47ff.). Der deportierte Afrikaner, der »migrant nu« wie Glissant ihn nennt (1997a: 111), war nicht durch seine Zugehörigkeit zu einer anderen, fremden Kultur gekennzeichnet, sondern wurde ausschließlich als Ware und Arbeitskraft, als ›Nicht-Person‹ wahrgenommen (vgl. Hofmann 2001: 80ff): »Die Figur des ›esclave nègre‹ wird sich in der Folge fest etablieren und in den gelehrten Diskursen der Metropole ihren Platz finden: In verschiedenen Nachschlagewerken des
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ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts werden ›nègre‹ und ›esclave‹ ebenfalls als Synonyme gehandelt.« (Hofmann 2001: 87)
Schwarz-Sein und Sklave-Sein, Hautfarbe und sozialer Status decken sich fortan. Den versklavten Afrikanern wird keine Vergangenheit mehr zugestanden; ihr Sein konstituiert sich gewissermaßen durch die Plantagenökonomie. Kulturelle Verbindungen nach Afrika werden weitestgehend geleugnet; Orlando Patterson betonte schon 1982 den Zusammenhang von Slavery and Social Death. Die im 16. und 17. Jahrhundert kreierten Sklavenhaltergesellschaften zeichneten sich zusammenfassend durch folgende Charakteristika aus: Erstens wurden sie an die koloniale Peripherie verdrängt, zweitens spielte das Kriterium der ›rassischen Zugehörigkeit‹ eine zentrale Rolle und drittens war die Rückkehr der Verschleppten aufgrund der geographischen Entfernung nahezu unmöglich (vgl. Osterhammel 2000: 28). Da Kreolisierung eben als Paradigma im Kontext dieses konkreten historischen Prozesses entstand, schlägt Stuart Hall vor, den Begriff mit Vorsicht zu verwenden: »Creolization is, as it were, forced transculturation under the circumstances peculiar to transportation, slavery, and colonization. [...] the process of ›fusion‹ occurs in circumstances of massive disparities of power and the exercice of a brutal cultural dominance and incorporation between the different cultural elements.« (Hall 2003: 186)7
Kreolisierung nahm also auf dem Sklavenschiff und der Plantage ihren Ausgang und ist demzufolge historisch klar konnotiert. Dieser Prozess ist räumlich und zeitlich gebunden, was seine Anwendung als allgemeinen Begriff für kulturelle Prozesse durchaus erschwert. Doch neben der Problematik nach dem Umgang mit multiplen traumatischen Erfahrungen für das kollektive und kommunikative Gedächtnis auf vier Kontinenten (Afrika, Amerika, Europa und Asien) geht es bei der Kreolisierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts konsequent um die – auch für Europa – drängende Frage, wie kulturelle Differenz zu fassen ist, ohne in Essentialismen oder in bloßen Multikulturalismus, d.h. einem Nebeneinander von Kulturen mit dem Ziel einer Festlegung von kultureller Vielfalt, zurückzufallen. Trotz oder gerade aufgrund der traumatischen Geschichte fungieren die Karibik und andere Archipele weltweit als Mikrokosmen, die qua ihrer Geschichte
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García Canclini (2003) verortet den Begriff ebenfalls im Kontext des Sklavenhandels. Kreolisierung bezieht sich zudem eher auf afrikanische Subjekte der Kolonisierung, vgl. Fludernik/Nandi o.J.: 11.
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Identitätssplitter aus aller Welt in sich tragen und die – entgegen dem Schreckgespenst einer homogenisierten ›Verwestlichung‹ – die Globalisierung vielmehr als eine Form der Komplexitätssteigerung (auch für Europa) entwerfen. Gerade der Vernetzungsraum der Karibik, so postuliert Ottmar Ette, stelle die vielleicht größte Herausforderung für die zukünftige Weltgesellschaft dar: »Nicht die befürchtete Balkanisierung mit dem Alptraum ethnischer Säuberungen, sondern die Karibisierung im Zeichen transkultureller Relationalität hält jenseits aller Illusionen manche Grundelemente für zukünftige Entwicklungen im Weltmaßstab bereit.« (Ette 2001: 22)
Die postkolonialen Inseln und Archipele dienen gegenwärtig als Laboratorien für soziale Praktiken, die nicht selten sogar eine neue Form von Humanität postulieren.8 Daniel Maximin entwirft in seinem Essayband Les Fruits du cyclone. Une géopoétique de la Caraïbe emphatisch das Postulat einer kondensierten »humanité neuve«, neu in dem Sinne, dass sie die Dehumanisierung mitdenke: »Ma Caraïbe est telle: un archipel d’îles-roseaux nées de la résistance aux chaînes, brûlant les racines absentes en un feu sans foyer posé fier sur trois roches pour bricoler une humanité neuve et se forger des cœurs aux quatre sangs dispersés: l’Europe par erreur sans son humanité, l’Afrique en friche d’échardes et de rayons, l’Asie plus tard migrée, l’Amérique par et pour nousmêmes recouvrée: quatre continents pour édifier une île.« (Maximin 2006: 13)
Mögen die Archipele im Atlantik, im Pazifik und im Indischen Ozean ökonomisch als ›unterentwickelt‹ gelten, was den Austausch kultureller Werte und Ideen angeht, sind sie avantgardistisch; hier fungieren sie als innovative globale Wissensproduzenten. In dem programmatischen Manifest Éloge de la Créolité der drei Martinikaner Jean Bernabé, Raphaël Confiant und Patrick Chamoiseau aus dem Jahr 1989, auf das später noch explizit eingegangen wird, lesen wir: »De plus en plus émergera une nouvelle humanité qui aura les caractéristiques de notre humanité créole: toute la complexité de la Créolité […], l’ambiguïté torrentielle d’une identité mosaïque« (Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1989: 53). Die Autoren der Éloge sehen in den postkolonialen Räumen der Karibik »de véritables forgeries d’une humanité nouvelle, celles où langues, races, religions, coutumes, manières d’être de toutes les faces du monde, se trouvèrent
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Achille Mbembe wertet die ›Plantage‹, die ›Fabrik‹ und die ›Kolonie‹ als maßgebliche Laboratorien unserer heutigen Welt (vgl. Mbembe 2008: 8).
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brutalement déterritorialisées, transplantées dans un environnement où elles durent réinventer la vie« (Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1989: 26). Anknüpfend an die Beobachtung, dass wir es bei der Kreolisierung einerseits mit einem gewaltigen Verschleppungstrauma und andererseits mit neuen Humanitätskonzepten zu tun haben, schließen sich mindestens zwei zentrale Fragen an. Erstens: Gibt es eine spezifische transhistorische Gewaltsublimierung in archipelischen Räumen, die globale Anwendung finden kann? Und zweitens: Kann Kreolisierung als Modell einer neuen Kulturbegegnung im globalen Zeitalter dienen? Konkret: Kann die Reichweite außereuropäischer postkolonialer Theorie auch für die Analyse innereuropäischer Migrationsgeschichte herangezogen und fruchtbar gemacht werden? Stets lauert bei einer solchen Anwendung die Gefahr, dass die Wahrnehmung und Wertschätzung des bislang marginalisierten ›Anderen‹ in einem unkritischen Hybriditätsbegriff gipfelt, der bloß einer spätkapitalistischen Verwertungslogik folgt. Kien Nghi Ha (2010) warnt eindringlich davor, Hybridität als rein positives ahistorisches Gebilde mit technologischen Sinnbezügen wahrzunehmen, um es so zu einem Metadiskurs erfolgversprechender Zukunftsmodelle und Technologien zu stilisieren. Das Konzept der Kreolisierung bietet hier einen Ausweg, denn wie deutlich wurde, handelt es sich keineswegs um eine spielerische, positiv umgedeutete Kondition der Postmoderne, sondern muss im Kontext der europäischen Kolonialisierung der Welt und ihrer Expansionslogik gesehen werden.9 Freilich sind nicht nur Reformation, Aufklärung und Französische Revolution konstitutiv für moderne Subjektivität; humanistische Ideen gingen über Jahrhunderte einträchtig mit dem Imperialismus einher (vgl. Said 1993,
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Die Aktualität dieses polyzentristischen Ansatzes zeigt sich auch in der Bildenden Kunst. Im Kontext der Kasseler Documenta fand 2002 ein Symposium zum Thema Créolité and Creolization auf der karibischen Insel St. Lucia statt. St. Lucia wurde als Tagungsort ausgewählt, da sie einerseits Entstehungsort der Éloge de la Créolité ist, andererseits ein exemplarischer Raum, in dem Fragen der Sprache, der Identität, der Kultur und deren Repräsentationen und Konstruktionen in der Kunst direkt erlebt und diskutiert werden, vgl. Enwezor/Basualdo/Bauer 2003. Unter dem Titel The Diaspora Strikes Back: Das transkulturelle Kapital der Migration fand im Haus der Kulturen im Juni 2009 in Berlin eine Sound Lecture statt. »Cultural Remittances« nennt Juan Flores den kulturellen Austausch zwischen Puerto Rico und den USA – analog zu den »Cash Remittances«, den Geldüberweisungen der Auswanderer an die in der Heimat Verbliebenen. Wie die Nuyoricans Musik und Popkultur auf der Karibikinsel und in den USA stark verändert haben, zeigt Flores in seinem Buch The Diaspora Strikes Back. Caribeño Tales of Learning and Turning (2009).
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Osterhammel 2000, Lüsebrink 2006, Sala-Molins 2008, Ziegler 2009).10 Der Band betont genau diese Hybridisierungen und querlaufende Kräfte innerhalb einer idealtypischen Modernevorstellung, ist doch das Phänomen der Kolonialisierung, das Eroberung, Gewalt und Unterwerfung impliziert, mit dem europäischen Projekt der Moderne (vgl. Habermas 2001), das Freiheit, Fortschritt, Emanzipation, Vernunft, Wissen und Erkenntnis meint, aufs Engste verknüpft. Oder wie es Françoise Vergès (2011) formuliert: Es ist an der Zeit aufzuklären, ce que nous enseigne l’esclavage sur notre temps. Jenseits des aktuellen Hypes um Hybridität kann so eine andere Wissensproduktion sichtbar gemacht werden. Folgen wir Édouard Glissant und anderen archipelischen Intellektuellen, zielt dies auf eine maßgebliche Diskursverschiebung, die ausdrücklich einen Dialog auf Augenhöhe anstrebt. Langfristig sollte uns bei diesem Dialog auch der Begriff ›postkolonial‹ als fragwürdiges Label erscheinen. Denn postkoloniale Theorie riskiert nicht selten, außereuropäische Literaturen »as having originated with the arrival of the European, as reflecting only the experience of colonization […] Postcolonial theory is fixated on the past, despite the implications of its temporal construction«, so Richard Serrano in Against the Postcolonial (2005: 1ff.). Für eine echte transkulturelle Wissenschaftsgeschichte fehlt es uns noch an diverser Grundlagenforschung; eine solche Wissenschaft gilt es erst noch zu etablieren. Dabei sollten wir uns stets der Frage stellen: Was macht der Blick, von dem aus wir sprechen, mit dem Gegenstand? * Unser Band will die Anschlussfähigkeit von historischen und aktuellen Kreolisierungsprozessen für internationale und europäische Debatten prüfen. Die aktuelle Diskussion um Kulturmischung gerade aus Sicht der Romanistik um zentrale karibische und andere archipelische oder diasporische Stimmen ist ein weiteres Anliegen des Bandes. Die explizite Theoretisierung von romanistischen Wissensdiskursen im Kontext postkolonialer Studien ist längst überfällig. Noch immer werden vor allem die anglo-amerikanischen Ansätze wie die der »holy
10 So beklagt der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka »das Scheitern des europäischen Humanismus schon Jahrhunderte vor dem Holocaust« und verlangt als Wiedergutmachung und »Beweis für eine innere moralische Reinigung« (Soyinka 2000) der Europäer zumindest die Rückgabe der einst in Afrika erbeuteten Kunstschätze, wenn nicht sogar weitergehende Reparationen.
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trinity« Said, Bhabha und Spivak diskutiert (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005).11 Dabei entwickelten sich Konzepte der Hybridisierung gerade in der Karibik wie auch in Lateinamerika oft bereits weit vor der Entwicklung und dem Re-Import anglo-amerikanischer postkolonialer Positionen (vgl. Sieber 2005, Scheuzger/Fleer 2009, Ueckmann 2009) Eine solch einseitige englischsprachige Theorierezeption verweist auf die geopolitisch asymmetrische Ressourcenverteilung und fordert uns auf, die damit einhergehende Frage der Repräsentation und Interpretation von Welt auch in postkolonialer Theoriebildung zu hinterfragen. In den letzten Jahren meldeten sich weltweit – über Édouard Glissant hinaus – vermehrt Stimmen, die sich mit den aus der Karibik stammenden programmatischen Konzepten auseinandersetzten. Eine herausragende Rolle spielt dabei der aus Mauritius stammende, heute vorwiegend in Frankreich lebende, Khal Torabully. Sein neues Konzept der Coolitude baut auf den Gedanken Glissants auf, kritisiert aber gleichzeitig daran das Fehlen einer indischen Perspektive. Ob nun die Inseln im Indischen Ozean oder jene der Karibik: der Import indischer Kontraktarbeiter, als Alternative zur Sklaverei, schuf ab 1830 eine weltweite indische Diaspora, die ganz eigene Akkulturations- und Transkulturationsmechanismen an den Tag legte, denn diese »Bevölkerung mit alteingesessener Kultur« sind gleichzeitig »Kreolen und Inder« (Glissant 2005b: 41). Neben der (dominant martinikanisch-frankophonen) Kreolisierung sollen in unserem Band aber auch bislang weniger tonangebende Konzepte und Gegenentwürfe sichtbar gemacht werden. Selbst in der karibischen Theorieproduktion fallen eklatante Diskursignorierungen auf, die u.a. im Kontext diskontinuierlicher innerkaribischer Entwicklungen stehen: Kämpften die Versklavten auf Haiti schon 1804 für die Abolition und gründeten die erste ›schwarze‹ Republik der Welt, regiert von ehemaligen Sklaven und den wirtschaftlich erfolgreichen gens de couleur (vgl. Osterhammel 2006: 31),12 so wurde die Sklaverei auf Puerto
11 Reuter/Karentzos (2012) führen darüber hinaus auch in das Werk von Frantz Fanon, Rosi Braidotti, Paul Gilroy, Stuart Hall, Walter Mignolo und bell hooks ein. Verdienstvoll ist bei diesem Band auch die ausdrückliche Wertschätzung (franko)romanistischer Theoriebildung bzw. der Blick auf wichtige philosophische Strömungen aus Frankreich (wie Foucault, Derrida, Lacan, Deleuze/Guattari) als Basis von zahlreichen postkolonialen Theorien. 12 Für Osterhammel ist der Sonderfall Haiti damit zu erklären, »weil hier und nur hier eine Kraft von außen, die Französische Revolution, die weiße Herrenkaste politisch in Loyalisten und Sezessionisten spaltete, weil es hier und nur hier eine wohlhabende und oft auch selbst sklavenbesitzende Zwischenschicht freier Farbiger (gens de couleur) gab, die die Verwirrung der Weißen zu einer eigenen Erhebung nutzte, und
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Rico 1873 und auf Kuba erst 1886 abgeschafft. Den frankophonen Antillen wie Martinique und Guadeloupe hingegen ist ihre Genese von der Sklavenplantage zum pays dominé oder domtomisé gemeinsam (vgl. Chamoiseau 1997). Aufgrund dieses besonderen Status lassen sie sich durchaus als neokoloniale Räume erfassen.13 Gerade die Sonderrolle Haitis als das vermeintlich »Andere der westlichen Moderne« zeigt sich bis in aktuelle Diskurse hinein. So hat der spezifisch haitianische Spiralisme als ästhetisches Konzept längst nicht in gleichem Maße wie Glissants Créolisation Eingang in den akademischen Mainstream14 gefunden und gilt fälschlicherweise als insulärer Diskurs ohne globale Relevanz.15 Stimmen aus Haiti zu Kreolisierungsprozessen innerhalb des karibischen Archipels zu beleuchten und neben Positionen aus Guadeloupe und Martinique zu stellen, ist somit ein weiteres Ziel des Bandes. So wird z.B. Glissants Poétique de la Relation mit der ethischen Idee des Anderen als prochain, wie sie der Haitianer Lyonel Trouillot vorschlägt, ›verlinkt‹.16 Weit weniger prominent als Kreolisierung ist auch die bereits genannte Coolitude. Der Band will somit neue Perspektiven in der Kreolisierungsforschung – durchaus mit Anschlussmöglichkeiten für ein »kosmopolitisches Europa« (Costa 2011) – beleuchten und dabei bislang vernachlässigten Kulturtheorien und Poetiken besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Nicht unerwähnt bleiben darf dabei die Frage, welche Entwicklung Kreolisierung durchlaufen hat. Auf den ersten Blick hat der kulturtheoretisch relevante Begriff der Kreolisierung nichts mit dem der Kreolen zu tun, jener Oberschicht, die zu Kolonialzeiten als Nachfahren der einstigen Kolonisatoren die Führung in
weil hier und nur hier ein internationaler Konflikt um eine Zuckerinsel geführt wurde, bei dem die beteiligten Mächte – Frankreich, Spanien und Großbritannien – Sklavensöldner bewaffneten« (Osterhammel 2000: 51). 13 Die anhaltenden neokolonialen Verhältnisse zeigten sich bspw. während des Generalstreiks auf Guadeloupe und Martinique Ende 2008/Anfang 2009, angeführt von Gewerkschaften, politischen Parteien oder Vereinigungen sowie dem Kollektiv Liyannaj kont pwofitasyon (LKP) – Rassemblement contre les profits abusifs et l’exploitation. In Le Monde diplomatique war zu lesen: »le clan des békés – descendants des anciens planteurs et esclavagistes – imposent leurs marges exorbitantes […] Huit familles békés contrôlent des chaînes de supermarchés et l’import-export.« (Doriac 2009) 14 In der Amerikanistik haben gerade die Studien von Michael Dash (1995 und 1998) zur intensiven Rezeption von Édouard Glissant beigetragen. 15 Bastienne Schulz reißt diese Thematik in diesem Band an, vertiefend vgl. Glover 2004 und 2008, Ueckmann 2012. 16 Vgl. den Beitrag von Julia Borst in diesem Band.
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den Kolonien vor und nach der Unabhängigkeit weiterhin für sich beanspruchte. »Der ›créole‹ oder ›criollo‹ ist in der Regel der in den Kolonien Geborene, und in den Kolonien haben sich auch in einer komplexen, – mit Glissant gesprochenen – ›chaotischen‹ Sprachkontaktsituation die ›Kreolsprachen‹ entwickelt.« (Ludwig/Röseberg 2010: 21) Bei den Kreolen handelt es sich um eine Bevölkerungsgruppe, die sich genuin in einem Zwischenraum befand, auch wenn sich diese Zerrissenheit höchst unterschiedlich artikulierte. Der Feder jener kreolischen Oberschicht entstammten literarische Texte, die davon zeugen, dass die scheinbar etablierten Zuschreibungen von Nation, patrie und Exil mit Beginn der Erreichung kolonialer Unabhängigkeit nicht immer eindeutig funktionierten. Jene schreibende kreolische Oberschicht war in einer Dauersituation des Dazwischen.17 Damit zeichnet sich u.a. eine Brüchigkeit des Nationenbegriffs im Sinne eines klar umrissenen Territoriums ab, die den Boden dafür bereitete, Debatten um Kreolisierung im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert neu zu profilieren. Gerade die Nation fungiert über ihre Institutionen bis heute als eine zentrale Bezugsgröße für kulturelle Homogenität und kollektive Identitätsbildungen (vgl. Ludwig/Röseberg 2010: 17). Der Blick auf das 19. Jahrhundert in unserem Band zeigt, inwiefern eine bisher unterschätzte historisch sozial-politischen Erfahrung und deren literarischer Inszenierung ein fruchtbarer Boden für spätere kulturtheoretische Formationen war. Denn nicht erst im Zeitalter des Postkolonialismus ist die Festlegung auf Nationalitäten, Nationalstaaten und Nationalliteraturen brüchig geworden. Gerade dieser bisher unterbeleuchtete Aspekt von Kreolisierungsversuchen im 19. Jahrhundert verdient in unserem Band eine genauere Betrachtung, liefert er doch wichtige Ansatzpunkte, um heutige Dimensionen des Kreolisierungsbegriffs zu verstehen. Machen wir einen Sprung in die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert.
K REOLITÄT
ALS
A VANTGARDE
»Nous n’avons plus peur […] d’habiter la langue française de manière créole; non pas de la décorer avec des petits mots créoles pour créer une espèce de français folklorique et régionaliste, il ne s’agit pas du tout de cela. Il s’agit de récupérer toute la rhétorique de la langue créole et d’essayer de la greffer à travers un matériau linguistique français.« (Chamoiseau/Confiant 1992: 14)
17 Vertiefend dazu Müller 2010.
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So äußern sich zwei Autoren der Éloge de la Créolité in einem Interview. Ralph Ludwig hat anschaulich herausgearbeitet, dass damit der Akt der Auflehnung gegen die kulturelle Assimilation, der ein wesentliches Stimulans für die literarische Debatte der Antillen darstellt, nicht an die Ebene der Semantik, sondern der Ästhetik gebunden ist (vgl. Ludwig 2008: 146). Auf linguistischer Ebene ist aufschlussreich, dass der Erfolg der beschriebenen literarischen Sprache möglicherweise Konsequenzen für die Orientierung des Standardfranzösischen haben kann. Gerade insofern literarische Texte in kreolisch-oral durchsetztem Französisch über den Weg der großen literarischen Preise – spätestens seit der Verleihung des Prix Goncourt an Patrick Chamoiseau für seinen Roman Texaco (1992) – in einen neu konturierten literarischen Kanon eingehen, der in seiner traditionellen Form immer Grundlage für das gute Schrift-Französisch, den bon usage war, erschüttert die mündlich beeinflusste frankophone Literatur auch die herkömmliche Prestigenorm (vgl. Ludwig 2008: 146). So sagt Chamoiseau in einem Interview: »Nous avons un imaginaire créole qui nous appartient, mais qui a été refoulé, et sans lequel nous ne pouvons pas exister. Ce travail de récupération de la culture créole se fait, entre autres, dans le roman. Cette récupération de la culture créole a nécessairement une coloration historique, et c’est pourquoi beaucoup de nos romans sont aussi des explorations historiques, parce qu’on ne peut pas tenter de réinvestir des temps, des moments culturels de notre vision du monde si on n’inclue pas des thématiques ayant des résonances profondes dans notre fond sensible, dans notre imaginaire.« (Chamoiseau/ Confiant 1992: 14)
In ihrer Lobrede auf die Kreolität präzisieren Chamoiseau und Confiant zusammen mit dem Sprachwissenschaftler Bernabé ihre theoretischen Grundpositionen. Die Créolité fußt auf der Reflexion des historischen Vorgangs, der die Basis der Gesellschaft der Antillen ausmacht: des erzwungenen Kulturkontakts. Hierin haben die Antillen eine Erfahrung vorgelegt, die heute die Welt in wachsendem Maße bestimmt: »Le monde va en état de créolité« (Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1989: 52). Das primäre Ziel der Créolité richtet sich jedoch gerade auf die antillanischen Kreolgesellschaften als solche aus und umfasst die Aufwertung und Bewahrung des mündlichen kollektiven Gedächtnisses.18 Dabei ist von Bedeutung,
18 »Nous faisons corps avec notre monde. Nous voulons, en vraie créolité, y nommer chaque chose et dire qu’elle est belle. Voir la grandeur humaine des djobeurs. Saisir l’épaisseur de la vie du Morne Pichevin. Comprendre les marchés aux légumes.
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dass dieser Akt nicht ausschließlich semantischer Art ist, sondern bis in die Makro- und Mikrostruktur der literarischen Texte hineinreicht; daraus leiten sie eine kreolische Rhetorik ab. Für unsere Betrachtung einer stufenweisen Entwicklung des Kreolisierungsmodells ist von Bedeutung, dass im Vergleich zu früheren Ausdrucksformen wie jene der Négritude das Creolité-Projekt insofern eine radikale Form annimmt, als dass der hybride Charakter kultureller Mischungen eine affirmative Wertung erfährt. Die Éloge setzt ein mit den Worten: »Ni Européens, ni Africains, ni Asiatiques, nous nous proclamons Créoles« (Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1989: 13). Der Weg zu einer reterritorialisierten Vergangenheit durch Anknüpfung an vorkoloniale Strukturen ist in einer kreolisierten Gesellschaft versperrt. Diesen epistemologischen Bruch mit essentialistischem Identitätsdenken markierte bereits Glissants Ansatz der Antillanité, welche er in den 1960er und 1970er Jahren entwickelt hat. Glissant stellte damit der Cesaire’schen Exteriorität eine Interiorisierung der antillanischen Realität gegenüber, welche sich in einer amalgamen, synkretistischen Kultur zeigt. Eine eigene Kultur, die keiner anderen gleicht, gilt es – in Einklang mit der eigenen Geschichte – wachsen zu lassen. Denn weder die Assimilation (an die Kultur der Kolonisierer) noch der Rückzug zu afrikanischen Ausgangskulturen sind realisierbar. 1989 stellten die Verfasser der Éloge dem Begriff der Antillanité den der Créolité zur Seite. Auffällig ist aber in der Lobrede nicht nur die Aufwertung kultureller Hybridität, sondern auch der explizit verneinte Identitätsdiskurs: »Ni Européens, ni Africains, ni Asiatiques«. Ihre Identitätssuche setzt nach außen auf Abgrenzung und nach innen impliziert sie – markiert durch die Verwendung der ersten Person Plural (»nous nous proclamons Créoles«) – eine angestrebte Homogenisierung. Den Autoren der Éloge geht es wie Glissant um eine Interiorisierung der antillanischen Realität, insbesondere aber, in Abgrenzung zu Glissant, um den Zusammenhang von Raum und Sprache (Kreol und orale Traditionen). 19 Die Créolité-Bewegung warf Aimé Césaire vor, die kreolische Identität zugunsten
Élucider le fonctionnement des conteurs. Réadmettre sans jugement nos ›dorlis‹, nos ›zombies‹, nos ›chouval-twa-pat‹, ›soukliyan‹«. (Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1989: 40) 19 Befremdlicherweise ist aber die erste zweisprachige Ausgabe bei Gallimard eine französisch-englische und nicht – was naheliegender wäre – eine französisch-kreole Ausgabe. Gallagher kritisiert zudem die Zielsetzung des Pamphlets: »In suggesting that their vision and writing supersede Glissant’s antillanité in a teleology of Caribbean self-realization, the créoliste pamphleteers can be seen – retrospectively at least – to distort the integrity of Glissant’s thinking« (Gallagher 2007: 224).
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von Négritude und Francité20 vernachlässigt zu haben. Daher definierten sie als Referenzpunkt der Karibik nicht Afrika, sondern das Archipel selbst, genauer die Plantage. Konkret plädierten sie für eine Aufwertung und Wiederentdeckung der kreolischen Rhetorik, denn »l’oralité est notre intelligence, elle est notre lecture de ce monde, le tâtonnement, aveugle encore, de notre complexité […] Notre chronique est dessous les dates, dessous les faits répertoriés: nous sommes Paroles sous l’écriture« (Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1989: 33ff.). Sie erhoben die Oraliture zum Programm, in der kreolische Volkssprache und französische Literatur – Oralität und Schrift – eine Symbiose bilden und auf diese Weise eine Revolution der Literatursprache einleiten sollen.21 Die Bewegung der Créolité mündet in eine wichtige kulturelle Aufwertung des kommunikativen Gedächtnisses und des kreolisch Imaginären als Teil der karibischen Identitätsbildung. Ob Négritude oder Créolité, »[d]ie Wiedervermenschlichung war das Hauptziel dieser Wortmeldung«, so Chamoiseau (2000) resümierend. Die Realisierung von Humanität von der Peripherie her – über die Wiederherstellung von Würde – ist bündelnde Zielsetzung dieser sonst differenten Kulturkonzepte. Als Konsequenz steht nicht die Vorstellung von einer Menschheit (Humanité), sondern von verschiedenen Gruppen von Menschen (des humanités), die sich gegenseitig ihr Recht auf Verschiedenheit zugestehen. Ein solches Weltbild impliziert auch die wichtige Kontextualisierung der Machtstrukturen, basierend auf der historischen Asymmetrie zwischen den Kulturen. Nur so kann möglichen romantisierenden Tendenzen eines fluiden, hybriden Kultur- und Identitätsverständnisses Einhalt geboten werden.
20 Mit Francité bezeichnet man die kulturelle Ausrichtung auf Frankreich, vgl. Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1989: 34. Die Akkulturierung durch französische Sprache und Kultur ist bis heute der einzige Weg zu sozialem Aufstieg in den frankophonen ›Überseedepartements‹. Glissant nennt eine solch unkritische Assimilation an Frankreich auch Schœlcherismus. Trotz der Verdienste von Schœlcher zur Überwindung der Sklaverei kritisiert er: »L’action inlassable et héroïque de Victor Schœlcher [...] a eu pour conséquence qu’il s’est ensouché dans les Antilles francophones la tradition d’un vrai schœlchérisme [...] tradition qui s’est transformée peu à peu en un engagement inconditionnel de fidélité envers la France.« (Glissant 2007: 102) 21 Dieser Bruch mit der Négritude durch die Verwendung einer anderen Literatursprache setzte bei schwarzafrikanischen Autoren bereits in den 1970er Jahren ein, als der Roman Les Soleils des indépendances (1968) von Ahmadou Kourouma von der Elfenbeinküste erschien. Dieser Roman revolutionierte die afrikanische Literatur, indem er das Französische in Strukturen und Intonation der afrikanischen Sprache Malinké auszudrücken versuchte.
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N ACH DER K REOLITÄT : F ÜR EINE T RANSOZEANITÄT ? Wie wird aktuell die Créolité rezipiert? Die Position des argentinischen Kulturtheoretikers Walter Mignolo, der seit Jahrzehnten in den USA lehrt, kann stellvertretend für manche Kritiker stehen, die sich nach einer Phase der ersten Etablierung durchgesetzt hat: »Criollos, caribeanidad y criollidad son todavía categorías que se soplan pero que pertenecen a diferentes niveles. Ser o definirse a uno mismo como criollo significa identificarse con un grupo de gente y diferenciarse de otro. Así, decir que ›ni europeos, ni africanos, nos proclamamos criollos‹ es identificarse en relación con un territorio y con los procesos históricos que crearon ese territorio.« (Mignolo 2003: 197)
Das heißt auch, dass es den Vertretern der Créolité letztlich nicht gelungen ist, ethnische Differenz zu fassen, ohne in neue Essentialismen zurückzufallen. Wobei man hier mit Spivak einwenden könnte, dass die Konstruktion einer ›nativen Identität‹ zunächst notwendig sei, um sich aus der aufoktroyierten Assimilation zu befreien. Die Profilierung einer positiven Ethnizität im Sinne eines »strategischen Essentialismus« (vgl. Steyerl 2008: 13; Castro Varela/Dhawan 2005: 127) sei unerlässlich, um selbstbewusst und subversiv in den herrschenden Diskurs einzugreifen, handelt es sich doch um »prekäre Subjektivitäten« (Costa 2007: 99), die am Rande der epistemischen Gewalt entstanden sind. Was kann dieser Kritik an der Créolité außerdem entgegengehalten werden? Für Mary Gallagher besteht ein zentrales Paradoxon darin, visionäre Forderungen und revisionistische Perspektiven zugleich zu postulieren: »the creoleness [...] is resolutely rooted, unambigously located in a specific, mourned past, and the relation between that past, on the one hand, and the celebration of the present and future of creoleness on the other hand« (Gallagher 2007: 228). Auch Glissant warnt davor, dass die Créolité zu einer Créolitude erstarrt: »la ›créolité‹, dans son principe, régresserait vers des négritudes, des francités, des latinités, toutes généralisantes – plus ou moins innocemment« (Glissant 1990: 103). Das historische Modell einer anti-modernen und anti-kosmopolitanen Kreolität, basierend auf Sklaverei und Kolonialisierung steht innerhalb der Éloge unbestreitbar im Widerspruch zum idealisierten, interaktionalen Zukunftsmodell. Es darf nicht vergessen werden, dass die Plantage einen repressiven, geschlossenen Ort repräsentiert, wo sich kulturelle Praktiken nur in einer codierten Kunst des Umgehens und der Unterwanderung (Strategien des détour in Opposition
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zum Négritude-Paradigma des retour22) herausbilden konnten; die kreolischen Sprachen als diskursive Strategie des zivilen Ungehorsams der Kolonisierten sind dafür beispielhaft. Die unterdrückte Sprache schreibt sich in das Innere des Französischen ein, d.h. sie verschwindet nicht, auch wenn sie nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann. Sie lebt als Palimpsest weiter, der sprachliche Ausdruck wird somit gespalten, verdoppelt. In der Anverwandlung der fremden Sprache liegt Provokation und Kreativität: »Tu veux me réduire au bégaiement, je vais systématiser le bégaiement, nous verrons si tu t’y retrouveras« (Glissant 1997a: 49). Dieses spezifische »territoire de la créolité« repräsentiert also ein Paradox – »lieu clos, parole ouverte« (Glissant 1990: 77). 23 Unbestreitbar ist aber auch, dass sich das Kreol aufgrund einer gewaltsamen Isolation von den Erstsprachen und auch erst im Kontakt mit den békés herausgebildet hat und somit nicht nur subversive Strategie, sondern auch eine Anpassungsleistung an die Plantagengesellschaft darstellt: »tantôt comme une langue de la connivence nègre et du marronnage, tantôt comme une langue de l’aliénation et de la compromission« (Maximin 2006: 30).24 Die Tatsache, dass die kreolische Kultur, Sprache und Oralität eindeutig auf den Sklavenstatus verweist, hat zunächst mit zu ihrer kollektiven Verleugnung geführt. Mit dem Kreol ist zum einen die Entfremdung von afrikanischen Sprachen einhergegangen,25
22 Glissant schreibt: »Le Retour est l’obsession de l’Un: il ne faut pas changer l’être. Revenir, c’est consacrer la permanence, la non-relation. […] la communauté [en Martinique] a tenté d’exorciser le Retour impossible par ce que j’appelle une pratique du Détour« (1997a: 44ff.). 23 Das kreolische Imaginäre wird nicht unbedingt von den Stimmen der radikalen Revolte wachgehalten, sondern von denjenigen, die in scheinbarer Unterordnung das System mitgetragen haben. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zwischen der Bewegung der Créolité und jener der Négritude, denn der conteur oder quimboiseur kann seine Wirkung nur erzielen, wenn er in Kontakt mit der Habitation bleibt. Maximin charakterisiert den conteur antillais als »héritier du griot et du troubadour, mais griot sans généalogie, rhapsode sans épopée, troubadour sans château fort« (Maximin 2006: 18). 24 Glissant spricht vom Kreol als »langue façonnée par l’acte de colonisation, maintenue dans un statut inférieur, contrainte à la stagnation, contaminée par la pratique valorisante de la langue française, et en fin de compte menacée de disparition« (Glissant 1997a: 541). Das Kreol soll zum Ende des 17. Jahrhunderts als Kommunikationsmedium auf den französischen Antillen etabliert gewesen sein (vgl. Ludwig 2008: 88). 25 Maryse Condé verweist hier auf den Zusammenhang von Deportation, sprachlicher Enteignung und dem daraus resultierenden Schweigen: »La descente aux enfers dans les cales des vaisseaux négriers s’accompagnait de l’effacement des langues
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zum anderen mussten die Sklaven eine reduzierte Form der dominierenden europäischen Sprache als Verkehrssprache (lingua franca) konstruieren, die zunächst zur Bildung einer Pidgin-Sprache und in der Folge erst zu einer Kreol-Sprache führte (vgl. Krüger/Hillebrand/Struve: 2006). Um nicht von den Herrschenden verstanden zu werden, waren die Sklaven zusätzlich gezwungen, ihr Wissen durch Übercodierung zu tarnen, was nicht selten in eine Unverständlichkeit umgeschlagen ist. Dies hat auch, so Glissant, zu einer leeren Rede, dem kreolischen Sprachdelirium, geführt (vgl. Glissant 1997a: 624-679). Der problematische Status der Kreolsprache selbst und die rigide Insularität des Créolité-Konzepts – praktisch referiert es nur auf die Karibik und grenzt andere Gebiete wie Louisiana oder Réunion aus – sowie die Ausblendung verwandter Kreolisierungs- und Hybriditätskonzepte zeigen die Grenzen des Konzepts (vgl. Gallagher 2007: 230f.). Dennoch ist die Bewegung der Créolité außergewöhnlich mit Blick auf ihre doppelte und paradoxe Zielsetzung: Einerseits postuliert sie einen spezifischen frankokaribischen Identitätsdiskurs und andererseits bietet sie ein globales Programm zum Kulturkontakt an. Glissants distanziert sich zu Beginn der 1990er Jahre von der in seinen Augen zu stark lokal eingegrenzten Créolité (Relation des Selbst zu einem Gebiet) und plädiert für eine Philosophie der universalen Créolisation (Relation zur Totalität, die nicht über Ausschließungen, sondern über Beziehungen funktioniert). Seiner Auffassung nach umfasst dieses Konzept mehr Möglichkeiten anthropologischer und kultureller Mischungen. Glissant wurde in den letzten zehn Jahren intensiv rezipiert, wobei immer wieder betont wurde, dass er eine Sicht der Welt favorisiere, »die die negativen Globalisierungstendenzen durch ein positiv verstandenes Chaos-Modell ersetzt, welches nicht-hierarchisierte Beziehungen zwischen den Elementen des Diversen stiftet, wobei dieses Netz nicht starr, sondern vielmehr ein beständiger Prozess ist« (Ludwig/Röseberg 2010: 9f.). Kreolisierung beruht für Glissant weniger darauf, kreolisch zu schreiben als »kreolisch zu denken« (Kamecke 2005: 34), sprich französische Texte vernetzen sich mit antillanischen Mythemen und kreolischen Sprachspielen und bewegen sich so zwischen verschiedenen Kulturräumen und Zeiten. So setzten sich seit der Jahrtausendwende neue Positionen durch, unter denen Glissants Introduction à une Poétique du Divers (1996) ein besonders starkes Echo fand. Darin nennt er sein neues alternatives Modell Archipelisierung:
africaines. Puisque le Bambara voisinait avec le Nago, le Wolof avec le Kongo, il ne pouvait en résulter d’abord qu’un douloureux silence.« (Condé 2007: 206) Sie postuliert daher für sich: »J’aime à répéter que je n’écris ni en français ni en créole. Mais en Maryse Condé.« (Ebd.: 205)
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»Ce que je vois aujourd’hui, c’est que les continents ›s’archipélisent‹, du moins du point de vue d’un regard extérieur. Les Amériques s’archipélisent, elles se constituent en régions par-dessus les frontières nationales. Et je crois que c’est un terme qu’il faut rétablir dans sa dignité, le terme de région. L’Europe s’archipélise. Les régions linguistiques, les régions culturelles, par-delà les barrières des nations, sont des îles, mais des îles ouvertes, c’est leur principale condition de survie.« (Glissant 1996: 44)
Die universell umfassendste Denkfigur ist bei Glissant jene des Tout-monde, die »All-Welt«26: »De ce crime fondateur [l’esclavage] est né une créolisation en Amérique, qui a préfiguré la créolisation du monde actuel […] Le Tout-Monde n’a pas de morale. Le Tout-Monde est aussi le Tout-Monde de l’oppression, de l’esclavage et du génocide, des massacres, des purifications ethniques, etc. […]« (Glissant in einer Table-ronde, zit. n. Chevrier 1999: 79)
Mit dem deterritorialisierten Begriff des Tout-monde soll ein kultureller Essentialismus, der eine Afrikanisierung Afrikas, eine Karibisierung bzw. Kreolität der Karibik oder eine Orientalisierung des Orients befördert hatte, zugunsten einer Hybridisierung von Kulturen aufgegeben werden. Glissant steht damit im Kontext einer neuen Schriftstellergeneration, die in besonderer Weise von Migrations-, Reise- und Exilerfahrungen geprägt ist und deren Zugehörigkeiten raum- und generationsübergreifend vielfältig ausfallen.27 Jacques Chevrier hat dafür in Fortführung der Négritude den Neologismus der Migritude geschaffen: »Contrairement à leurs aînés, la nouvelle génération d’écrivains africains est mue moins par la Négritude – le célèbre ›être-dans-le-monde-noir‹ – que par la ›migritude‹. Ce néologisme renvoie à la fois à la thématique de l’immigration, qui se trouve au cœur des récits africains contemporains, mais aussi au statut d’expatriés de la plupart de leurs producteurs [...]« (Chevrier 2004: 96)
An die Stelle von Herkunft und Hautfarbe ist die Dimension der Mobilität getreten. Die mit Migritude verbundenen Raum- und Bewegungsvorstellungen
26 Thill 2005: 73, vgl. auch Glissant 2005b: 65. 27 Der aus Dschibouti kommende Schriftsteller Abdourahman A. Waberi (1998) bezeichnet die frankophon-afrikanischen Schriftsteller, die seit den 1990er Jahren schreiben, in ähnlicher Weise als »Les Enfants de la postcolonie ou une génération transcontinentale«.
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markieren einen deterritorialisierten Identitätsbegriff, erinnernd an Glissants identité-relation. Identitär multiple Autorinnen und Autoren wie die hier vorgestellten sind intellektuelle Weltbürger, die über mehr als ein einziges kulturelles Gedächtnis verfügen, doch die Mehrzahl ihrer Gedächtnisse sind nur noch in Spuren (Mythen, Legenden, Geschichten, Musik, Tanz, Rhythmus, etc.) auffindbar. In Traité du Tout-monde verbindet Glissant das archipelische Denken mit der Metapher der Trace, welche die Diversität zusammenhält. Das Denken der Spur steht dabei dem systemischen Denken gegenüber: »Que la pensée de la trace s’appose, par opposition à la pensée de système, comme une errance qui oriente. Nous connaissons que la trace est ce qui nous met, nous tous, d’où que venus, en Relation.« (Glissant 1997b: 18)
In La Cohée du Lamentin spricht er von einer »pratique de la Trace«, die trotz massiver Gewalterfahrung der Kariben und deportierten Afrikaner bis heute fortdauere: »[...] même là où ils furent exterminés, les Amérindiens ont maintenu secrètement une présence qui s’exercera au niveau de l’inconscient collectif. Même déportés sans aucun recours, sans langages ni dieux ni outils, les Africains ont maintenu une présence de l’ancien pays, qui entrera en composition de valeurs imprévues. De tels procédés relèvent d’une pratique de la Trace comme composante, qu’il faut retrouver en soi, et accorder à des nouveaux usages. Le caractère tremblant, fragile et impérieux de la Trace, explique comment l’inattendu survient dans nos sociétés […] Cet impact sur les identités a été souvent invisible, mais profond et durable.« (Glissant 2005: 84)
Die Trace zeugt von Präsenz, sie ist historisch referenzialisierbar, und insofern sie sich mit neuen Gebräuchen verbindet, lässt sie unvorhergesehene, unerwartete, bislang unsichtbare Werte aufscheinen, die Dauer und Tiefe verleihen. Spuren sind in Glissants Werk Namen, Gegenstände, nicht-verbale Zeichen wie Einritzungen in Bäume der marrons, kreolische Satzfragmente oder auch Symptome wie Wahnsinn oder Sprachamnesie. Insbesondere den Landschaftsräumen kommt bei der Spurensuche immer wieder eine Speicherfunktion zu: Das Land selbst wird zur parole (vgl. Blümig 2006). Glissant mache, so auch Ludwig/Röseberg (2010: 9), die geographisch wie historisch kolonial, dann postkolonial geprägte Ökologie der Karibik zur Grundlage seines Denkens, dehne diese Erfahrungen aber global immer weiter aus. Neben Deportation und Sklaverei können so über die Landschaft, wie auch über Musik, Tanz, Kunst oder Sprache vielfältige alternative Erfahrungsspuren ausgemacht werden. Das Denken der
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Spur dient maßgeblich dazu, sich dem Denken der Apokalypse und dem »ausradierten Gedächtnis« zu widersetzen: »Parce que la mémoire historique fut trop souvent raturée, l’écrivain antillais doit ›fouiller‹ cette mémoire, à partir des traces parfois latentes qu’il a repéré dans le réel.« (Glissant 1997a: 227f.) In einem Interview mit Ralph Ludwig präzisiert Glissant seine Idee der Tout-monde: »Le Tout-monde, c’est le mouvement tourbillonnant par lequel changent perpétuellement – en se mettant en rapport les uns avec les autres – les cultures, les peuples, les individus, les notions, les esthétiques, les sensibilités etc. […] Le Tout-monde, c’est la conception du monde sans axe et sans visée, avec seulement l’idée de la prolifération tourbillonnante, nécessaire et irrépressible, de tous ces contacts, de tous ces changements, de tous ces échanges.« (Zit. n. Ludwig 2008: 121)
Ein konsequentes Denken von Kreolisierung, wie es Glissant selbst immer wieder verteidigt hat, zielt nicht nur auf die Begriffsbildung selbst, sondern greift auf Genrefragen über und dynamisiert bzw. hybridisiert Diskurse und Medien. Tout-monde hat zwar das Potential als theoretische Manifestation zu fungieren, dennoch bedurfte es einer zusätzlichen Ent-Äußerung von Kunst: Glissant initiiert 2004 Jahre ein radikal lebensnahes Projekt, das die Essentialisierungsgefahr der Créolité unterläuft: Les peuples de l’eau. Im Sinne von »Nous avons rendez-vous où les océans se rencontrent…«, ein Satz, der seinem Text Une Nouvelle région du monde (2006) vorangestellt ist, werden hier Kunst und Leben innovativ vereint, so dass dem Projekt ein avantgardistischer Charakter innewohnt. Unter der Schirmherrschaft der UNESCO brach am 27. Juli 2004 das Dreimast-Segelschiff »La Boudeuse« unter dem Kapitän Patrice Franceschi mit 24 Wissenschaftlern an Bord von Bastia (Korsika) zu einer Weltumsegelung auf. Nach 1063 Tagen und 60.000 zurückgelegten Kilometern legte das Schiff am 25. Juni 2007 in Bastia wieder an. Geplant waren zwölf Expeditionen zu acht Völkern, die nur vom Wasser aus erreichbar sind, da sie auf abgeschiedenen Inseln, an Flussufern oder an Küsten leben, also »Völker am Wasser«. Die Expeditionen führten zu den Yuhup/Amazonas; zu den Osterinseln der Rapa Nui; nach Fata Hiva, der abgeschiedensten Marquesasinsel; auf die Insel Raga/Vanuatu in Ozeanien; zu den Bugis der Celebes Inseln (Indonesien); zum Jaranga-Archipel, wo die Badjaos zwischen den Philippinen und Indonesien leben. Zwölf Schriftsteller und Journalisten, ausgewählt von Édouard Glissant, nahmen jeweils an einer der Expeditionen teil: Alain Borer, Gérard Chaliand, Régis Debray, Patrick Chamoiseau, Jean-Claude Guillebaud, J.M.G. Le Clézio, Federica Matta, Edwy Plenel, Antonio Tabucchi und André Velter. Ihre literarischen und essayistischen
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Zeugnisse sind transkulturelle Reiseberichte par excellence. Sie inszenieren ein transozeanisches Kulturmodell, das auch die bisher unterrepräsentierte Pazifikregion miteinschließt. Eine solch transozeanische Dimension postuliert auch der aus Fidschi stammende und 2010 verstorbene Kulturtheoretiker Epeli Hau’ofa: »There is a world of difference between viewing the Pacific as ›islands in a far sea‹ and as ›a sea of islands‹. The first emphasis dry surfaces in a vast ocean far from the centres of power. Focussing in this way stresses the smallness and remoteness of the islands. The second is a more holistic perspective in which things are seen in the totality of their relationships.« (Hau’ofa 2008: 22)
Hau’ofa nimmt die Ideen Glissants auf und plädiert für einen Paradigmenwechsel in der Sichtweise des Pazifiks, in dem er die relationale Dimension eines transozanischen Raumes denkt. Das Element der Relationalität hat existentiellen Charakter für jede Lesart Ozeaniens und wird als Paradigma einer »sea of islands« propagiert, im Gegensatz zu einer Vision von »islands in a far sea«: »[...] Continental men, namely Europeans, on entering the pacific after crossing huge expanses of ocean, introduced the view of ›islands in a far sea‹. From this perspective the islands are tiny, isolated doors in a vast ocean. Later on, continental men – Europeans and Americans – drew imaginary lines across the sea, making the colonial boundaries that confined ocean peoples to tiny spaces for the first time. These boundaries today define the island states and territories of the Pacific.« (Hau’ofa 2008: 22)
In seinem Manifest We are the Ocean (2008) plädiert Hau’ofa dafür, den Ozean als bedeutungsvollen Kulturraum neu einzufordern. Er bezieht sich damit indirekt auf Glissant und das Projekt der Peuples de l’eau. Paul Gilroys Chronotopos des Black Atlantic, welcher die bis heute nachwirkende Veränderung der Zusammensetzung der Weltbevölkerung, die sich aus dem transatlantischen Dreieckshandel und der erzwungenen Massenmigration afrikanischer Menschen herleitet, kann so in Richtung einer transozeanischen Tout-monde weiter gedacht werden. Bereits Gilroys Black Atlantic fungiert als Ort für gespeicherte Deportations- und Migrationsbewegungen, als Bild für Überleben und Tod und als Bild für das Überwinden der Strukturen des Nationalstaates und der Schranken von Ethnizität, als ein imaginierter kultureller Raum des Dazwischen, in dem Afrika als ein Bezugspunkt unter anderen steht für das dynamische und dezentrale Netzwerk ›schwarzer‹ Beziehungen kreuz und quer über den Atlantik. Die Geschichte des Black Atlantic, »der ständig durch die Bewegungen schwarzer
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Menschen durchzogen wird – nicht nur als Waren, sondern auch als Beteiligte an allen möglichen Kämpfen für Emanzipation, Autonomie und Staatsbürgerschaft« (Gilroy 1993: 16), lässt sich als alternativer Geschichtsentwurf und Globalisierungsdiskurs lesen.28 Deshalb schlägt Gilroy vor, die Gegenkultur des Black Atlantic als philosophischen Diskurs aufzufassen, der die Moderne re-interpretiere und ihre Geschichte aus der Perspektive derer erzählt, die in den nationalen Narrativen mit ihren weißen Helden stets abwesend waren (vgl. Costa 2007: 131). Modernität ist demnach nichts Unschuldiges, im Gegenteil: Die überseeische Expansion ist kein Randphänomen der Geschichte Europas, sondern einer ihrer wesensbestimmenden Prozesse. Sklaverei und die Zivilisation des Westens sind für den Historiker Jürgen Osterhammel aufs Engste miteinander verknüpft: »In der atlantischen Welt des 16. bis 19. Jahrhunderts entstand in einem diskontinuierlichen und widersprüchlichen Prozess die westliche Moderne« (Osterhammel 2000: 24).29 Der transatlantische Sklavenhandel und die mit ihm verbundene Kolonialökonomie bildete eine wesentliche Voraussetzung für die Kapitalakkumulation Europas. Die neuzeitlichen Sklavenplantagen waren »Produkte eines gigantischen social engineering«, sie waren das trikontinentale »Ergebnis zielstrebiger Projektemacherei, eines traditionslosen Kombinationsexperiments, bei dem Amerika den Produktionsfaktor Boden, Europa Startkapital und Organisationsmacht und Afrika die Arbeitskräfte bereitstellte« (Osterhammel 2000: 28).30 Der transozeanische Raum, welcher aus einer ›flüssigen‹ und polyzentrischen Perspektive gedacht wird, ist zum epistemologischen Gegenstand des 21. Jahrhunderts geworden. Die Poétique de la Relation und das archipelische Denken ermöglichen neue Verbindungen zwischen ›Ursprungsorten‹ und Diaspora. Wir haben es mit fließenden, sich auflösenden Rändern, undeutlichen Grenzen und beständigen Verflüssigungen zu tun, für die eher das Modell einer diffusen, denn einer klaren Erkenntnis entwickelt werden müsste. Glissant
28 Vertiefend zu New Perspectives on the Black Atlantic vgl. Ledent/Cuder-Domínguez 2012. 29 Auch Béatrice Ziegler verweist darauf, dass Sklaverei ein integraler Bestandteil der Moderne sei. Sie kritisiert Ulrich Becks ›Container‹-Moderne als zu kurschlüssig, da er den ›transnationalen Arbeitsmarkt‹, die Sklaverei, nicht mitbedenke (vgl. Ziegler 2009: 149). Osterhammel beschreibe in der Tradition von David Brion Davis und Orlando Patterson Sklaverei als ein intellektuelles Problem des Westens und räumlich als eine vornationale und translokale »atlantische Sphäre« (vgl. Zeuske 2006: 22). 30 Osterhammel: 2000, 28. Im Gegensatz zur gängigen Historiographie rücken auch die US-amerikanischen Historiker Linebaugh/Rediker (2008) die untergründige Geschichte der atlantischen Kolonisation in den Mittelpunkt ihrer Darstellung.
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spricht diesbezüglich von einer pensée de la trace als einem zerbrechlichen Wissen, einer anderen Form des eher intuitiven, bedrohten, fragilen Denkens. In besonderer Weise verweist Glissant auf den Begriff der Relation als Kondition unserer heutigen Welt. Die Relation verleiht den ehemals kolonisierten Völkern eine Geschichte, indem sie die Völker selbst zu Wurzeln der Relation macht: »Nous sommes les racines de la Relation.« (Glissant 1996: 231) Der Begriff der Relation in einer transozeanischen Dimension ermöglicht die Verknüpfung disparater Versatzstücke und die Herausbildung einer von Widersprüchen geprägten relationalen Identität. Die facettenreichen Beiträge des vorliegenden Bandes wollen den Boden bereiten für die aktuell relevante Frage, inwiefern unterschiedliche Etappen einer Programmatik von Kreolisierung über den Black Atlantic hinaus in transozeanischen Dimensionen hochaktueller Debatten verortbar sind.
Z UM A UFBAU
VON
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REVISITED
Der Band setzt mit einer Vorgeschichte der Kreolisierung ein und nimmt dafür Zwischenräume im 19. Jahrhundert in den Blick. Von da ausgehend sollen Facetten kulturtheoretischer Debatten aufgefächert werden. Philipp Krämer beschäftigt sich in »Vom Instinkt zum Bioprogramm, von der Mischung zum Hybrid: Historische und gegenwärtige Vorstellungen von Kreolisierung als Wandelprozess in der Sprache« mit der Frage, inwiefern Kreolsprachen in einem Prozess kontaktinduzierten Sprachwandels entstehen, der seit dem 19. Jahrhundert wissenschaftlich beschrieben wird. Dabei ist von Bedeutung, dass – auch wenn die Modelle der gegenwärtigen Linguistik zum Teil auf unvereinbaren Theorien beruhen – sich dennoch zentrale Aussagemuster weiterhin nachweisen lassen. So war die grundlegende Fragestellung, wie rasch der Kreolisierungsprozess abläuft und ob ein vorheriges Pidgin-Stadium notwendig ist, bereits früh angelegt, wurde aber erst im 20. Jahrhundert ausführlich diskutiert. Dem gegenüber waren in der Vergangenheit Überlegungen zur Rolle der menschlichen Sprachfähigkeit, des Spracherwerbs und der Kommunikation im Kontext der Sklaverei präsenter und bekommen heute unter universalgrammatischen, soziooder ökolinguistischen und pragmatischen Theorieeinflüssen neue Bedeutung. Das aktuelle Konzept der ›Hybridisierung‹ behandelt das Problem, wie die Durchdringung und Verbindung verschiedener Ausgangssprachen beschrieben werden kann und wandelt dabei Betrachtungen zur ›Vermischung‹ in eine akademische Diskussion. Seit ihren frühen Anfängen beschäftigt sich die kreolische Sprachwissenschaft mit der Frage, wie das Konzept der Kreolisierung
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definitorisch eingrenzbar sein könnte. Im Gegensatz dazu strebt die Literaturund Kulturwissenschaft ein stärker universalisierbares und übertragbares Kreolisierungskonzept an. Johanna Abel unternimmt in »Orientalische Dopplungen in der Karibik. Coolitude als inklusives Kreolitätsmodell und seine dissoziativen Dimensionen« eine aufschlussreiche Lesart von Torabullys Kulturtheorie. Sie stellt das Kreolitätsmodell der Coolitude vor, welches 1999 von Khal Torabully in die Debatten um den Créolité-Begriff eingeführt wurde. Sein innovativer Beitrag zur Neudefinierung kreolischer Prozesse ist die Einführung des sozialen bzw. juristischen Status als entscheidendem Kreolisierungsfaktor jenseits geographischer Herkunft und ethnischer Zugehörigkeiten. Die theoretischen und ästhetischen Grundzüge der Coolitude werden kurz dargestellt und ihre Bestrebungen ein inklusiveres Kreolitätskonzept zu liefern, einer kritischen Revision unterzogen. Durch die Gegenüberstellungen zweier transozeanischer Figuren des 19. Jahrhunderts, dem indischen Coolie, Hauptakteur der Coolitude, und dem chinesischen Culí, werden Dopplungseffekte und Doppelbelichtungen bei der Interpretation eines polymorphen Orients in der Karibik ins Blickfeld genommen. In der kleingliedrigen Betrachtung asiatischer Beteiligung am Prozess der sozio-kulturellen Kapillarisierung karibischer Kreolgesellschaften treten systemimmanente Essentialisierungstendenzen hervor, die sich scheinbar kaum vermeiden lassen. Über eine Binnendifferenzierung orientalistischer Kreolisierungsdiskurse werden dissoziative Dimensionen erkennbar. Diese resultieren aus kolonialen Hierarchisierungen unterschiedlicher Alteritätsregime entlang altweltlicher Zivilisationscluster und sind außerdem einer ungenügenden Berücksichtigung von Polyglossie und Fachspracheninterferenz in der Kreolisierungsforschung geschuldet. Silke Jansen zeigt in »Kreolisierung meets Coolitude? Die literarische habla bozal und habla de chino im Kontext der Debatte um die Kreolisierung des Spanischen in der Karibik« inwiefern die Rolle der Kreolisierung für die Geschichte des Spanischen in der Karibik in der Hispanistik kontrovers diskutiert wird. Da kaum direkte Quellen über den spanisch-afrikanischen und spanischasiatischen Sprachkontakt in der Kolonialzeit erhalten sind, stütze sich, so Jansen, die Debatte u.a. auf literarische Imitationen der Varietäten der afrikanischen Sklaven und chinesischen Kulis, wie sie z.B. im kubanischen Volkstheater des 19. Jahrhunderts vorkommen. Auf dieser Grundlage wird sowohl die These vertreten, dass sich das Spanische auf den Antillen im Kontext der Plantagenwirtschaft und des atlantischen Sklavenhandels kreolisiert habe, als auch die Ansicht, dass es strukturell von anderen Kreolsprachen aus dem karibischen und (durch die Einfuhr chinesischer Kontraktarbeiter) dem asiatischen Raum beeinflusst sei. Der Beitrag wirft am Beispiel der habla bozal und habla de chino die
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Frage auf, inwieweit literarische Texte überhaupt als Quellen für linguistische Untersuchungen herangezogen werden können. Ausgehend vom Begriff der »sozialen Indexikalität« sprachlicher Variation zeigt Jansen, dass die Texte nicht in erster Linie eine soziolinguistische Realität abbilden, sondern gesellschaftlich geteilte Annahmen über die Verteilung sprachlicher Variation in der sozialen Welt widerspiegeln. Eine rein linguistische Untersuchung kann daher zwar Aufschluss über die vorherrschenden Sprachideologien der damaligen Zeit geben, aber nur einen geringen Beitrag zur Klärung der Kreolisierungsproblematik leisten. Insofern leistet der Artikel einen entscheidenden Beitrag an der Schnittstelle zwischen Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft. Nach diesem historischen Parcours zielen die folgenden drei Beiträge auf Abgrenzungsversuche zwischen Kreolität, Kreolisierung und Hybridisierung. Katrin Mutz veranschaulicht in »Kreolisierung und Hybridisierung«, dass während die Kreolsprachen und ihre Strukturen, die Kreolgenese und der Prozess der Kreolisierung spätestens seit den Arbeiten von Hugo Schuchard systematisch (sprachwissenschaftlich) erforscht worden seien, die so genannten hybriden Varietäten und deren Entstehen (Hybridisierung) erst seit den letzten Jahrzehnten zum Forschungsobjekt der Linguistik avancierten. Mutz betont, dass dies nicht zuletzt darin begründet sei, dass Varietäten, wie z.B. das Nouchi der Elfenbeinküste oder das Camfranglais in Kamerun, die als hybride Varietäten gelten, erst in den 1970er Jahren entstanden sind. Vergleicht man Definitionen von sprachlicher Hybridität/Hybridisierung mit denjenigen von Kreolität/Kreolisierung, so stellt man z.T. große Übereinstimmungen bezüglich der jeweiligen Charakterisierungen fest. Der Beitrag ist ein gelungener Versuch, anhand der Gegenüberstellung französischer hybrider Varietäten und französisch-basierter Kreolsprachen, das Phänomen der sprachlichen Hybridität/Hybridisierung von demjenigen der sprachlichen Kreolität/Kreolisierung abzugrenzen. Es werden anhand eines Vergleichs der jeweiligen Entstehungskontexte sowie einiger ausgewählter sprachlicher Strukturen Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten zwischen hybriden (französischen) Varietäten (am Beispiel des Camfranglais und des Nouchi) und (französischbasierten) Kreolsprachen (vor allem aus dem karibischen Raum) herausgearbeitet. Mutz schlägt eine Modellierung vor, die unterschiedliche Sprachmischungsphänomene, abhängig u.a. vom Grad der internen Variation und vom Grad der grammatischen Entferntheit zum Französischen, als ein Kontinuum darstellt und zwischen sichtbarer, lexikalischer und unsichtbarer, grammatischer Hybridität unterscheidet. Juliane Tauchnitz zeigt in »Was auf das Loblied folgte: Der Schritt vom Prolog zur Créolité«, inwiefern die Éloge de la Créolité eine kulturtheoretisch relevante Debatte auslöste. Jean Bernabé, Patrick Chamoiseau und Raphaël
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Confiant hatten nach dem Vorbild Glissants eine Vision vom Sichtbarmachen und Manifestieren der eigenen kulturellen Identität vor Augen. Diese galt es insbesondere im ersten Jahrzehnt nach der Publikation des poetisch-philosophischen Essays in ein veritables Konzept zu überführen. Tauchnitz richtet ihren Fokus auf zwei Bereiche, denen innerhalb der Créolité-Bewegung eine maßgebliche Bedeutung zuerkannt wird: der Reibung von zwei Sprachen – der kreolischen und der französischen – im selben Raum sowie dem Verwinden und Erschreiben der traumatischen Geschichte (H/histoire). Aus kulturtheoretischer Perspektive wird die Arbeit der Gründungsautoren auf diesen Gebieten untersucht mit Blick auf Berührungspunkte, die zeigen, wie sie durch gegenseitiges Aufgreifen von Theoremen die Créolité als solche stabilisieren und vorantreiben. Dabei wird den Aussagen der Autoren zu ihrem Konzept selbst Raum gegeben, gleichzeitig jedoch darauf geachtet, diese Ideen zu kontextualisieren und anhand ihrer eigenen Texte einer Prüfung zu unterziehen, um so fruchtbare Entwicklungen herausstellen zu können, aber gleichzeitig auch Tendenzen offenzulegen, die weniger (eindeutig) der Konsolidierung des Konzeptes dienen. Bastienne Schulz zeigt in »Créolité goes global? Zur Transgression des Créolité-Konzeptes«, inwiefern die Éloge de la Créolité Themen der sprachlichen und kulturellen Kreolisierung zur Definition einer kulturellen Identität der Karibik, einer ›Kreolität‹ bündelt. Ausgehend von der Fülle von Fragen, die dieses Manifest aufwirft, ist es das Anliegen von Schulz, der anhaltenden Kritik an der Éloge nachzuspüren und kritische Stimmen aus Haiti, Martinique und Guadeloupe vorzustellen: Frankétienne, Édouard Glissant und Maryse Condé stehen im Zentrum ihrer Überlegungen. Diese Autor/innen liefern zentrale, theoretische und fiktionale Gegenentwürfe zur Éloge. Ein solcher Gegenentwurf ist beispielsweise der Spiralisme des haitianischen Künstlers und Autors Frankétienne. Auf theoretischer Ebene stellt Glissant der Kreolität den Prozess der Créolisation entgegen, den er als relationale Bewegung und nicht als starre Definition von Identität charakterisiert. Maryse Condé konterkariert mit ihrem fiktionalen Werk die von ihr kritisierte profranzösische Haltung des Éloge mit seinem sprachlichen Zwang. Als Gegenentwurf zu einer männlich dominierten Kreolität subvertiert die guadeloupische Autorin die Binaritäten vom Denken der Geschlechtsidentitäten. Dabei steht ihre Protagonistin Célanire beispielhaft für eine – überdies spezifisch weibliche – Transgression der Werte des Éloge. Zudem überschreitet Condé die Binarität zwischen Zentrum und Peripherie, indem sie den karibischen Raum und damit die Créolité erweitert. Condés entgrenztes Verständnis der Kreolität schreibt sich in die Entwicklung einer neuen Literatur der Welt ein: Créolité goes global.
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Im Anschluss rückt der martinikanische Autor und Kulturtheoretiker Édouard Glissant als zentraler Vordenker der Kreolisierung ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Ziel von Gisela Febels Beitrag »Poesie und Denken – Lyrische Form, kreolisierte Erinnerung und Erkenntnis bei Édouard Glissant« ist es, die Spuren und Formen eines Denkens der Kreolisierung in Glissants lyrischen Texten zu betrachten, in seiner ganz besonderen Form der Poesie, die eher zu seinem Frühwerk gezählt wird, in dem der Begriff der Kreolisierung – augenscheinlich – noch nicht da ist. Ob und inwiefern nicht auch und gerade die Poesie eine Form der kreolisierten Erkenntnis und Erinnerung darstellt, wird hier geprüft. Insbesondere geht es dabei um die Parameter der Poesie als Erinnerung und Reservoir eines kollektiven Gedächtnisses, um die Poesie als Archiv und mythisches Denken, um Lyrik als Ausdruck des leidenden Körpers, um Poesie als Medium der Solidarisierung und der Agenz, Ort der Freiheit und der Aktion, sowie um poetisches Denken in Verbindung mit der utopischen Dimension der Kreolisierung. Der Beitrag von Helke Kuhn »›La littérature, c’est remettre au jour les connexions cachées‹ – Diversität und Komplexität im Romanwerk Édouard Glissants« beschäftigt sich mit einer impliziten, wenn auch zentralen Variante von Kreolisierung. Ausgehend von einer dem Werk Glissants wiederholt zugeschriebenen, teilweise auch als Unlesbarkeit bezeichneten Hermetik, die wie Kuhn erläutert, abgesehen von der Integration der kreolischen Mündlichkeit in die französische Syntax vor allem auf der Umsetzung von rhizomatischen und fraktalen Strukturen resultiert, wird in ihrem Beitrag die Frage nach einer versteckten Ordnung im narrativen Chaos des Romanwerks gestellt. Am Beispiel Glissants erstem Roman La Lézarde (1958) sowie dem in der Kritik zum Spätwerk zählenden Roman Tout-monde (1993) kann die Konstanz dieser beiden voneinander differenziert zu betrachtenden Vernetzungsstrukturen in Glissants Romanwerk nachgewiesen werden. Als poetologische Prinzipien zur Evozierung von Komplexität und Diversität der antillanischen Welt und des Tout-monde bringen sie zugleich das dem Werk Glissants inhärente Oszillieren zwischen Konstruktion und Dekonstruktion eines Denkmodells zur Darstellung. Bisher unbekannte und unbeachtete transversale Relationen können auf diese Weise zu Tage gefördert und somit definierte hierarchische Machtstrukturen unterlaufen werden. Einem von der Kritik zugewiesenem Bruch zwischen Früh- und Spätwerk, der sich durch einen Sinneswandel zur politischen Gleichgültigkeit Glissants auszeichne, wird von Kuhn vor dem Hintergrund der Fusion zwischen Politik, Poetik und Philosophie in Glissants Werk widersprochen. Der Ausgangspunkt von Julia Borsts Artikel »›Inventer l’Haïtien comme prochain‹: Der Andere en Relation zwischen Differenz und Nähe« ist die mittlerweile etablierte kulturtheoretische Haiti-Lesart, dass die westliche Vorstellung
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von Haiti seit jeher mit einer Reihe von Vorurteilen und Stereotypen verknüpft ist, die den Karibikstaat häufig in Kategorien der ›Barbarei‹, Gewalt und malédiction denken lassen und ihn als absolute Alterität der Moderne entwerfen. Borst arbeitet anschaulich heraus, dass eine derartig verkürzende Betrachtungsweise der Komplexität der haitianischen Geschichte und Gegenwart jedoch in keiner Weise Rechnung trage, weshalb haitianische Intellektuelle sie vehement kritisieren und als Symptom der Kolonialität betrachten. Lyonel Trouillot plädiert deshalb für eine differenzierte Wahrnehmung und fordert eine neue Verankerung des Haitianers als prochain im globalen Denken. Er schafft damit einen innovativen Entwurf des ›Anderen‹ zwischen Differenz und Nähe. Dabei wird sich zeigen, dass auch für Haiti Glissant ein zentraler Referenzpunkt bleibt, denn die theoretische Grundlage des Beitrags bildet Glissants Poétique de la Relation, welche ebenfalls danach strebt, die Binarismen westlicher Epistemologien aufzubrechen, um die Differenz des Anderen in Relation zur eigenen Identität zu denken. Trouillots Begrifflichkeit des prochain geht diesen Schritt auch auf sprachlicher Ebene, indem sie nicht mehr die Exklusion durch Differenz (autre) betont, sondern vielmehr Nähe in der Differenz (prochain). Zudem macht der Beitrag deutlich, dass sich letztlich nur eine neue Konzeptualisierung des Anderen als prochain als epistemologischer Schlüssel zur Überwindung der Gewalt in der haitianischen Wirklichkeit erweisen kann. Eine besondere Bereicherung für den Band stellt der Beitrag von Beate Thill dar. In »Édouard Glissant: La Cohée du Lamentin als Übersetzungsprojekt« vermittelt die Übersetzerin des Glissant’schen Werkes einen anschaulichen Einblick in die theoretisch herausfordernde Arbeit der Sprachkunst des martinikanischen Denkers. Diese Möglichkeit eines Erprobens von Kulturpraxis bildet einen gelungenen Schlusspunkt des Kapitels zu Glissant. In dem Kapitel »Kreolisierung im Kaleidoskop eines Tout-monde« wird gezeigt, ob und inwiefern sich Kreolisierung weltweit öffnet und universal verhandelbar ist. Dies kommt anschaulich zum Ausdruck im Beitrag »RomaLiteraturen und Kreolisierung« von Cécile Kovacshazy; bezeichnet doch Édouard Glissant die Roma als eine beispielhafte Verkörperung seiner Idee von Kreolisierung. Hier setzt Kovacshazys Beitrag an: Ausgehend von der Geschichte der ›Zigeuner‹ und anhand zeitgenössischer Roma-Literatur prüft sie eingehend Glissants These. Sie betont, dass es angesichts der Diversität, Dissemination und der großen historischen und kulturellen Unterschiede unmöglich sei, von einem Volk der Roma im Singular zu sprechen. Françoise Vergès nimmt in ihrem stark autobiographisch eingefärbten Essay »Passengers towards unknown lands« mögliche Überlebens- und Widerstandsstrategien angesichts bestehender sozialer Ungleichheit im Kontext einer
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postulierten ›Kreolisierung der Welt‹ kritisch in den Blick. Ihre Frage zielt auf den meist untertheoretisierten Zusammenhang zwischen kultureller Heterogenität und anhaltenden geopolitischen Ausbeutungs- und Unterdrückungsstrukturen in Glissants All-Welt. Am Beispiel des von Vergès initiierten und letztlich gescheiterten Projekts eines postkolonialen Museums auf Réunion, dem Maison des civilisations et de l’unité réunionnaise, stellt sie den Kreolisierungsbegriff in Verbindung mit ihrem eigenen intellektuellen Werdegang grundsätzlich auf den Prüfstand und hinterfragt sein emanzipatorisches Potential in der Praxis. Das abrundende Kapitel widmet sich einer neuen Öffnung des Kreolisierungskonzepts, der Coolitude. Der Beitrag des mauritischen Lyrikers und Kulturtheoretikers Khal Torabully und seiner Kollegin Marina Carter bildet als poetisch-kulturtheoretische Stimme die Grundlage für eine prominente Auseinandersetzung mit Kreolisierung aus Sicht der indischen Diaspora. Sie leistet innovativen Denkansätzen Vorschub, die sich in den letzten zwei Beiträgen dieses Bandes kondensieren. Miriam Lay Brander liefert mit ihrem Interview, das sie im Juni 2011 mit Torabully durchführen konnte, eine aufschlussreiche Ergänzung zu dessen theoretischen Ausführungen. Ausgehend von ihrer Feststellung, dass sich das Schreiben von Aphorismen unter kreolischen Autoren großer Beliebtheit erfreue, zeigt Lay Brander, inwiefern es einen fragmentarischen Zugang zur Realität ermögliche und damit zum Inbegriff von Polylog und Polyphonie werde. Der Aphorismus vermag vielfältige Aspekte in wenige Worte zu fassen, weshalb er sich als Ausdrucksmittel komplexer Identitäten eignet. Durch seine kondensierte Form und Spontaneität entzieht er sich sowohl räumlichen Strukturen wie Zentrum und Peripherie als auch linearen Zeitkonzeptionen. Khal Torabully spricht in diesem Interview über seine noch nicht erschienene Aphorismensammlung Jour sans fin, über Malcolm de Chazal und die aphoristische Tradition in Mauritius sowie über die Bedeutung des aphoristischen Schreibens weltweit. Ottmar Ette zeigt in »Coca Cola und Coolitude«, inwiefern weltweite Archipelkonstellationen die Radikalität des Kreolisierungskonzepts weiterdenken. Dafür beginnt er zunächst mit Ai Weiwei, den er als signifikanten Künstler eines »Aufschreiben des Globalen« betrachtet. Die Konsequenz seines weltweiten Ansatzes findet ihre Fortsetzung in seinen Überlegungen zur magnetischen Insel Rapanui, der ursprüngliche Name der Osterinsel, die von Édouard Glissant in einem fiktionalen Reisebericht beleuchtet wird. Entscheidend spannt Ette dann einen Bogen zu Khal Torabully, dessen Konzept von »Coolies und Korallen«, die die Vorlage liefert für innovative Überlegungen zu Exklusionen und Inklusionen. Er zeigt, inwiefern die Coolitude alles andere als ein Problem der Anderen
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ist: Sie erlaube uns, so Ette, die Literaturen der Welt weit über die Welt der Literatur hinaus anders und neu zu verstehen und begrifflich zu begreifen. Abschließend noch ein Wort des Dankes: Wir danken den Autorinnen und Autoren dieses Bandes für ihre Bereitschaft, Theorien der Kreolisierung für ein breites Publikum aufzubereiten, um so einen Band zusammenzustellen, der sowohl für Einsteiger als auch für arrivierte Wissenschaftler/innen gewinnbringend sein soll. Danken möchten wir auch Axel Skielka für seine wertvolle Durchsicht des englischen Beitrags von Françoise Vergès. Ein besonderer Dank geht schließlich an Marc Dauen für seine hervorragende Arbeit; er sorgte maßgeblich dafür, dass der Weg vom Manuskript zur Druckvorlage so reibungslos verlief.
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E INLEITUNG : K REOLISIERUNG ALS WELTWEITES K ULTURMODELL ?
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Vom Instinkt zum Bioprogramm, von der Mischung zum Hybrid Historische und gegenwärtige Vorstellungen von Kreolisierung als Wandelprozess in der Sprache
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Das Phänomen Kreolisierung auf sprachlicher Ebene zu definieren und anhand klar überprüfbarer Kriterien fassbar zu machen ist eine der zentralen Überlegungen, mit denen sich die kreolische Linguistik seit Jahrzehnten beschäftigt. Ist die Entstehung von Kreolsprachen ein Vorgang, der sich von anderen Arten des Sprachwandels in Kontaktsituationen unterscheidet? Oder lässt sich Kreolisierung mit dem bereits vorhandenen, umfangreichen Werkzeuginventar der Sprachwandeltheorien und der Historischen Linguistik problemlos als ein völlig regelmäßiges Beispiel behandeln wie die Entwicklung sämtlicher anderer Sprachen? Diese Gretchenfrage soll hier bewusst unentschieden blieben, zieht sie doch mitunter tiefe Gräben durch die kreolische Sprachwissenschaft und spaltet sie in Anhänger einer ›Ausnahme-Theorie‹ und einer ›Regelfall-Theorie‹. Stattdessen steht die historische Vorstellung und Veränderung des Konzepts der Kreolisierung im Mittelpunkt der metawissenschaftlichen Betrachtung. Wie versuchte man sich die Entstehung von Kreolsprachen in der Philologie vergangener Jahrhunderte zu erklären, und wie decken oder unterscheiden sich die damaligen Überlegungen mit den heutigen Beschreibungs- und Erklärungsmodellen? Den gegenwärtigen Forschungsarbeiten stehen Texte gegenüber, die im späten 19. Jahrhundert in der ersten Hochphase wissenschaftlichen Interesses für Kreolsprachen entstanden sind und damit als Vorläufer der Kreolistik im akademischen Kontext gelten können. Um den Vergleich der historischen und
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gegenwärtigen Vorstellungen zu erleichtern, sollen die jeweiligen Überlegungen in einzelne Aussagemuster zerlegt und so in eine Parallele gebracht werden.1 Während Kreolisierungsmodelle der Gegenwartslinguistik inzwischen bereits im Detail metawissenschaftlich erfasst worden sind (vgl. Holm 2000: 14ff.; Véronique 1994: 8ff; Chaudenson 1992), sollen nun Motive, mit denen dieser Prozess konzeptualisiert wurde und wird, einander in historischer Perspektive gegenübergestellt werden. So können Kontinuitäten und Innovationen in Beschreibungs- und Erklärungsversuchen für dieses Phänomen sichtbar werden. Kreolisierung ist in diesem Fall im engeren Sinn zu verstehen, also ausschließlich als der Vorgang sprachlicher Entwicklung. Dies schließt selbstverständlich, auch im Sinne der aktuellen Forschung in der Linguistik, die Berücksichtigung soziohistorischer und kultureller Faktoren nicht aus. Wenn geklärt werden soll, was Kreolisierung bedeutet, kommt man nicht umhin, gleichzeitig die Bedeutungsfrage für den Begriff kreolisch mitzudenken. In der Sprachwissenschaft sind daher Konzepte der Kreolisierung stets verbunden mit der Überlegung, was überhaupt kreolische Sprachen sind. Erst das ›Kreolisch-werden‹ einer Sprache definiert diese als Kreolsprache. Selbst Kreolisten, die eine synchron-typologische Definition der Klasse Kreolsprachen als möglich ansehen und dabei in der Regel zur ›Ausnahme-Theorie‹ neigen, führen die Entstehung dieser Gruppe wiederum auf den Prozess der sprachlichen Veränderung zurück, etwa mit Verweis auf den Spracherwerb und dabei wirksame kognitive Faktoren (vgl. McWhorter 2011, 2005; Bakker/Daval-Markussen/Parkvall et al. 2011). In einem Versuch, gegenwärtige und historische Charakterisierungen dieser Veränderungen zusammenzubringen, fasst Peter Stein Kreolisierung folgendermaßen auf: »Créolisation veut donc dire ›transformation‹, ›altération‹ ou même, selon la perspective, ›dégénération‹, ›corruption‹ d’une langue pré-existante par manque de contact avec le modèle, à savoir la langue respective parlée en Europe et considérée comme langage correct selon le bon usage.« (Stein 2002: 896)
Ein solcher vergleichender Ansatz lässt sich vertiefen, wenn man das Konzept Kreolisierung in Aussagemuster zerlegt, die sich in historischen und gegenwärtigen Arbeiten wiederholen oder sich transformiert haben. Drei solcher Muster lassen sich unterscheiden, mit denen sich das Verständnis der Entstehung von Kreolsprachen umreißen lässt: Am Anfang muss die Überlegung stehen,
1
Vgl. einen ähnlichen überblicksartigen Vergleich in Ludwig 2003, der aber hauptsächlich die Theoriebildung im 20. Jahrhundert nachzeichnet.
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Kreolisierung in ihrer zeitlichen Dimension zu erfassen, also als ein Prozess sprachlicher Veränderung mit spezifischen Eigenschaften. Dieser Prozess lässt sich anschließend vor dem Hintergrund der menschlichen Natur (im Sinne einer biowissenschaftlichen Betrachtungsweise) und vor allem seiner Kognition ausdeuten. Als drittes kann man das Verhältnis der Ausgangssprachen noch einmal gesondert in den Blick nehmen und die Frage nach Kreolisierung als ein Vorgang der ›Mischung‹ oder ›Verbindung‹ verschiedener Elemente stellen.
K REOLISIERUNG
ALS
P ROZESS
Wie läuft Kreolisierung in ihrer zeitlichen Dimension ab? Das Motivraster an dieser Stelle umfasst die vier möglichen Kombinationen aus rascher und langsamer Kreolisierung, ohne oder mit vorheriger Entwicklung eines Pidgins. Diese letzte Annahme ist heute weit verbreitet und kann als (noch) herrschende Lehrmeinung angesehen werden: Ein gängiges, etwas vereinfachendes Axiom lautet, eine Kreolsprache sei ein Pidgin, das zur Muttersprache geworden ist (vgl. Bakker 1995: 38; Holm 2000: 7). Als Pidgin bezeichnet man eine Kontaktsprachform, die nur zur Kommunikation mit Sprechern aus nicht übereinstimmenden Sprachgruppen verwendet wird, auf bestimmte Kommunikationssituationen oder -formen beschränkt bleibt und keine nähesprachliche Verwendung erfährt, also beispielsweise im engeren Familienkreis nicht gesprochen wird (vgl. Bakker 1995: 26f.). In der Regel ist bei Pidgins eine vom Einzelsprecher abstrahierend beschreibbare Grammatik vorhanden, die einen hohen Grad der Variabilität aufweist (vgl. Holm 2000: 5). In Arbeiten des 19. Jahrhunderts lässt sich in der Regel keine klar umrissene oder berücksichtigte Zeitdimension zwischen Beginn und Beendigung des Kreolisierungsvorgangs ausmachen. Zwar wird versucht, die Veränderungen zu begründen, zu beschreiben oder häufig genug auch zu verurteilen, doch selten findet sich ein Hinweis darauf, wie lange es gedauert haben könnte, bis eine erkennbar neue Sprachform entstanden war. Bei Charles Baissac etwa muss die Kreolisierung in Mauritius zu einem unbestimmten Zeitpunkt zwischen Beginn der Besiedelung und der Abschaffung der Sklaverei ihr Ende gefunden haben, da er die danach neu hinzukommenden südasiatischen engagés aus seiner Betrachtung des ›eigentlichen‹ Kreolischen ausschließt (vgl. Baissac 1880: 104). Arbeiten, die eine Art ›Pidgin-Stadium‹ ähnlich der heute verbreiteten Annahme als Zwischeninstanz einer kurzen, aber feststellbaren Dauer annehmen, sind im 19. Jahrhundert selten. Relativ früh äußerte jedoch Thomas Russell 1868 einen vagen Gedanken dieser Art über das Kreolische von Jamaika:
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»Although it is evident that this, as every other corrupted form of language, is spoken by no previously well planned system, yet, as in course of time, every corruption resolves itself into certain fixed rules, so shall we find that this has settled into very plain and distinct ones, which are, in not a few instances, in direct opposition to those of the pure parent language.« (Russell 1868: Introduction, o.S.)
Etwas deutlicher formuliert es wenige Jahre danach Auguste de Saint-Quentin: »Sur les débris du mélange germe lentement un idiome nouveau, incomplet, fragile, enfantin, facile à modifier comme tout ce qui est extrêmement jeune, mais vivant, c’est-à-dire possédant une organisation et une individualité propres, au moins élémentaires.« (SaintQuentin 1872: 105)
Dieses neu Aufkeimende, das noch unvollständig und unfertig sein soll, könnte man als ein Pidgin avant la lettre verstehen. Bemerkenswert ist hier aber vor allem die Auffassung, dieser Vorgang spiele sich »lentement« ab. Bis sich das Kreolische verfestigt hat, muss also eine als lang empfundene Zeit vergehen, auch wenn diese Zeitspanne weiterhin nicht messbar gemacht wird. Anders dagegen die heute weit verbreitete Meinung, Kreolisierung verlaufe sehr rasch und insbesondere schneller als regulärer Sprachwandel, nämlich innerhalb weniger Generationen.2 Stimmen, welche die Kreolisierung als graduelles, sich gemächlich entfaltendes Phänomen beschreiben und ihr damit gerade keine absolute Ausnahmestellung in den möglichen Konzepten von Sprachentwicklung zugestehen wollen, sind heute eher in der Minderheit. Während es im 19. Jahrhundert bereits außergewöhnlich war, überhaupt auf die Zeitspanne hinzuweisen, ist heute vor allem deren genaue Dauer umstritten. Lucien Adam gehört zu den Wenigen, die diese Frage offensiv angehen, und er widerspricht vehement der Vorstellung, das Kreolische sei plötzlich und schnell entstanden: »La grammaire dans laquelle M. de Saint-Quentin voit un produit spontané et hâtif, n’est autre que la grammaire naturelle des langues de la Guinée […]« (Adam 1883: 6)3 Nach seiner Auffassung ist mit dem Kreolischen ohnehin nichts
2
Auf dieser Annahme fußt insbesondere Derek Bickertons Untersuchung zur Entste-
3
Er kritisiert hier übrigens nicht die Position von Auguste de Saint-Quentin, der sich
hung des Kreolischen von Hawaii (vgl. Bickerton 1981). schließlich für einen langsamen Vorgang ausspricht, sondern dessen Onkel Alfred de Saint-Quentin. Beide vertreten also gegensätzliche Auffassungen bei der Frage nach der Dauer von Kreolisierung. Adam verwechselt beide, die im selben Band veröffentlichen.
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völlig Neues entstanden, sondern die (nicht weiter spezifizierte) westafrikanische Grammatik bleibt bestehen; von einer raschen Neubildung sprachlicher Strukturen kann für ihn also keine Rede sein. Adam wirft dabei ein bis heute drängendes Problem auf, das die Kreolistik bisher nur unzureichend beantworten kann: Wenn Kreolsprachen als eine eigene Sprachgruppe zu fassen sind, die einen festlegbaren Entstehungszeitpunkt kennen, wie lässt sich dann die weiter klar erkennbare Kontinuität der an der Entstehung beteiligten Sprachen mitdenken? Offenkundig bestanden beide Vorstellungen, rasche und langsame Kreolisierung, bereits früh nebeneinander. Heutige Ansätze einer graduellen, langsamen Kreolisierung ohne vorausgehendes Pidgin-Stadium erscheinen vor dem wissenschaftshistorischen Hintergrund nicht mehr völlig neuartig, sondern wurden nur plausibilisiert und auf eine breitere theoretische Basis gestellt (vgl. Bollée 1977; Véronique 1994: 10; Mufwene 2008: 103). Verbunden mit diesen sich entgegenstehenden Vorstellungen ist die Frage, inwieweit die Entstehung aller Kreolsprachen ähnlich verlaufen sein soll. Vertreter der Annahme rascher Kreolisierung mit Pidgin-Vorstufe nehmen meist ein gemeinsames Erklärungsmodell an, somit soll jede Kreolsprache in vergleichbarer Weise zustande gekommen sein. Wer die Ansicht einer graduellen, langsamen Kreolisierung vertritt, folgt in der Regel eher dem programmatischen Wahlspruch »Every Creole has its own history« (Bollée 2007: 173) und weist entsprechend darauf hin, für jeden Fall gesondert zu prüfen, wie und weshalb eine Kreolsprache im spezifischen Kontext entstanden ist. Im 19. Jahrhundert dagegen betrachteten die meisten Kreolisten nur eine einzige Sprache und äußerten sich dementsprechend nur zum jeweils vorliegenden Fall. Allgemeinere Betrachtungen waren die Ausnahme. Neben Hugo Schuchardt stellt beispielsweise Adolpho Coelho solche Überlegungen an: »A transformação da linguagem em virtude da alteração phonetica é um phenomeno de base physiologica; a formação dos dialectos creolos é no que tem de essencial um phenomeno psychologico. Formam-se elles rapidamente, para acudir á necessidade das relações […]«4
4
»Der Sprachwandel aufgrund phonetischer Veränderung ist ein Phänomen auf physiologischer Grundlage; die Herausbildung der kreolischen Dialekte ist im Wesentlichen ein psychologisches Phänomen. Diese bildeten sich schnell, um der Notwendigkeit der Beziehungen [zwischen den beteiligten Sprechern, P.K.] zu entsprechen […]« (Coelho 1881: 68, Übers. P.K.) Eine noch frühere Einzelsprachen übergreifende Betrachtung verfasst Addison Van Name 1869.
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Coelho verbindet in dieser Passage, wie es auch heute oft geschieht, die rasche Kreolisierung mit der Annahme einer Sonderstellung der Kreolsprachen aufgrund eines speziellen Entstehungsprozesses. Mit Verweis auf Coelho und als Teil einer umfassenden Kritik praktisch aller anderen Kreolisten des 19. Jahrhunderts stellt Dirk Christiaan Hesseling bereits 1905 die Grundfrage nach der Kreolisierung als abstraktes Phänomen: »Men heeft getracht die overeenkomst tussen talen van zo verschillende oorsprong, en op zo verschillende delen van de aarde gesproken, te verklaren door op faktoren te wijzen die zich overal voordoen waar een Kreools idioom ontstaat. De vraag wat dan eigenlik het essentiële is waardoor in soortgelijke omstandigheden overeenkomstige gevolgen zich voordoen, is door de geleerden op verschillende wijzen beantwoord.«5
Im Mittelpunkt des Interesses steht hier die Möglichkeit zur Verallgemeinerung von Erkenntnissen über einzelne Kreolsprachen auf die gesamte Sprachgruppe. Ob bei der Erforschung nur eines Falles oder der Betrachtung der Gesamtheit von Kreolsprachen, die Kreolisierung möchte man als Prozess auf verschiedenen Ebenen erfassen und verstehen können. Auf der obersten Ebene, der Feststellung der Prozessstruktur, kann die Kreolisierung als Ganzes untergliedert werden in einzelne Teilprozesse, so etwa die Veränderung in einzelnen grammatischen Kategorien und deren hierarchischer Zusammenhang. Ausführlicher thematisiert werden derartige Festlegungen insbesondere bei Vorstellungen wie jener der Relexifizierung oder bei strukturalistisch orientierten Untersuchungen. Ansonsten unterscheiden sich die Erklärungsansätze in der Kreolistik vor allem auf der Ebene der Prozessdefinition, also bei der detaillierten Beschreibung der Vorgänge mit verschiedenen Schwerpunkten.6 Die Sprachforschung des 19. Jahrhunderts nahm vor allem die Sprecher als Prozessträger in den Blick, sofern sie nicht ohnehin die Sprache in einem organischen Bild nach August Schleichers Modell selbst als den Prozessträger ansah. Begründungen für sprachliche Vielfalt waren dabei in der Regel deutlich von
5
»Man hat versucht, die Übereinstimmung zwischen Sprachen von so verschiedenem Ursprung, und die in so verschiedenen Teilen der Erde gesprochen werden, zu erklären, indem man auf Faktoren hinwies, die sich überall dort zeigen, wo ein kreolisches Idiom entsteht. Die Frage, was nun eigentlich das Essenzielle ist, wodurch sich unter ähnlichen Umständen übereinstimmende Folgen zeigen, wurde von den Gelehrten auf verschiedene Weisen beantwortet.« (Hesseling 2006: 51, Übers. P.K.)
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Vgl. zur prozesstheoretischen Erfassung des Sprachwandels Zeige 2011: 5ff..
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den rassenlogisch und kollektivistisch geprägten Grundüberzeugungen durchdrungen. Ohne diesen ideologischen Faktor haben die Sprecher auch heute weiterhin insbesondere in soziolinguistischen Kreolisierungstheorien einen wichtigen Stellenwert. Doch auch der Prozessort wird diskutiert, vor allem mit Blick auf die menschliche Kognition, so dass der sprechende Mensch als Träger des Prozesses in den Hintergrund tritt. Daneben gewinnen die ökologischen Bedingungen im Prozessumfeld wie etwa die sozialen, politischen und ökonomischen Umstände in den letzten Jahren an Bedeutung.
K REOLISIERUNG UND DIE MENSCHLICHE N ATUR – I NSTINKT UND S PRACHERWERB Schon früh wurde der Mensch nicht nur als Träger der Kreolisierung ausgemacht, sondern auch der logische Ort des Kreolisierungsprozesses in den Menschen selbst hinein verlegt, nämlich in seine geistige Aktivität. Die Kreolisierung ist strukturell dann ein Teilprozess, der abhängig ist vom übergeordneten Prozess des Spracherwerbs. In der logischen Folge bedeutet dies, dass bei der Weitergabe von Sprache eine Besonderheit dazu führen muss, dass eine Kreolsprache entstehen kann.7 Die Kreolisten des 19. Jahrhunderts argumentieren auf dem wissenschaftlichen Stand ihrer Zeit in der Regel mit einem Instinkt, der rassenlogisch begründet wird und mit einer vermeintlich niedrigeren intellektuellen Fähigkeit der Kreolischsprecher in Verbindung gebracht wird. Es wird behauptet, die ›Schwarzen‹ seien nicht in der Lage, grammatisch komplexe Sprachstrukturen zu verarbeiten und zu reproduzieren und müssten deshalb auf Strategien der ›Vereinfachung‹ zurückgreifen. Alphonse Bos urteilt etwa über das Tempussystem des Kreolischen von Mauritius: »Il faut remarquer en général que l’horizon du nègre est borné, et que ses futurs sont aussi prochains que ses passés sont récents […]« (Bos 1881: 613)8 Die Kreolisierung ist dementsprechend eine unmittelbare und regelhafte Folge natürlicher Veranlagungsunterschiede der ›Menschenrassen‹. Dennoch besteht zur gleichen Zeit die Vorstellung eines allgemeinen menschlichen ›Sprachinstinkts‹ eine Rolle, der eine allen Menschen
7
Vgl. die Beiträge in Véronique 1994 mit einem Überblick über verschiedene Ansätze
8
Er bestätigt hier mit plakativen Worten in einer Rezension die Ansichten in Charles
zum Zusammenhang zwischen Kreolisierung und Spracherwerb. Baissacs Etude sur le patois créole mauricien aus dem Vorjahr, die ebenfalls auf diesem Argument der Intelligenzdifferenz aufbauen.
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inhärente Sprachlichkeit unabhängig von Rassenkategorien anführt. Die Kreolisierung beruht dann auf der Umsetzung dieser Fähigkeit bei der Entstehung von Kreolsprachen wie bei jeder anderen Sprache der Welt. Für Auguste de SaintQuentin ist das Kreolische deshalb nur ein besonders gut geeigneter Gegenstand, mit dem sich allgemeine sprachliche Veranlagungen aller Menschen darstellen lassen: »[…] la pensée humaine est douée d’un admirable instinct pour perfectionner l’instrument de sa manifestation, si rude et si informes qu’en soient les éléments.« (Saint-Quentin 1872: 126f.) Ähnlich bringt Jean Turiault die Entstehung des Kreolischen in Verbindung mit der Sprachlichkeit des Menschen, die ihn als gottgegeben vernunftbegabtes Wesen von den Tieren unterscheidet: »Aussi l’homme seul parle, parce que l’homme seul est un être intelligent et que la parole lui est une lumière indispensable pour communiquer aux autres ses propres pensées […] L’Africain avait donc son langage, sa grammaire à lui, lorsqu’il fut violemment arraché à sa terre natale et transporté tout à coup dans le colonies européennes.« (Turiault 1874: 405f.)
Ob anschließend nicht trotzdem eine Ungleichheit ihre Folgen zeitigt, bleibt in der Schwebe, macht er doch immerhin »beaucoup de peine à saisir et à rendre exactement les mots et les sons« (Turiault 1874: 407) aus. Unabhängig davon, ob man hier die objektiven Schwierigkeiten sehen möchte, die jedem Menschen beim Umgang mit einer zuvor unbekannten Sprache begegnen, oder ob man die Annahme absoluter Unterschiede zwischen Afrikanern und Europäern hineinlesen mag, so bringt Turiault ebenso wie Saint-Quentin und auch Bos die Kreolisierung in Verbindung mit dem Erwerb einer Sprache. Ihre heutige Entsprechung finden universalistische Ansätze in jenen Erklärungsversuchen, die in Kreolsprachen das Resultat einer Umsetzung der Universalgrammatik oder eines »language bioprogram« sehen.9 Dies wird allerdings im Unterschied zu der Annahme aus dem vorvergangenen Jahrhundert nur dann aktiviert, wenn ausreichender sprachlicher Input für reguläre Sprachtransmission fehlt; die Universalität steht daher unter einem starken Vorbehalt besonderer Bedingungen beim kindlichen Spracherwerb, die nicht von genealogischen Veranlagungen abhängen. Die Bedingung schlechthin ist dabei ein kritischer Moment, in dem Sprachweitergabe von den Eltern zum Kind nicht mehr regulär stattfindet, sondern gehemmt oder unterbrochen wird. Grund dafür soll sein, dass die Eltern zur Kommunikation mit ihren Kindern nur ein grammatisch zu stark vereinfachtes oder kommunikativ unzureichendes Pidgin nutzen können, so dass
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Vgl. hier insbesondere den Impuls von Bickerton 1981.
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als Folge die nächste Generation auf der Basis dieses Materials und unter Rückgriff auf inhärente Strukturen wieder eine konsistente und voll systematische Sprache aufbauen muss. Entsprechend nah soll die kreolische Grammatik auch den Grundstrukturen der Universalgrammatik kommen: »Creole languages present the unmarked option in each domain of Universal Grammar.« (Muysken/Veenstra 1995: 123) Die neu zusammengefügten Strukturen werden als einfach und wenig komplex betrachtet, da sie nah an den minimal notwendigen grammatischen Regeln liegen sollen.10 Die Kreolistik des 19. Jahrhunderts verbindet dagegen Kindes- und Erwachsenenalter in einer Form von Merkmalszuschreibung, die zu dieser Zeit schon aus vorherigen Jahrhunderten fest etabliert war. Die Ansicht, ›Schwarze‹ seien in Charakter und Fähigkeiten mit Kindern vergleichbar, findet sich in zahlreichen Beschreibungen von Kreolsprachen wieder und dient häufig als Begründung für die vermeintliche Einfachheit der Grammatik. Armand Corre kommt zum allgemeinen Schluss, »le créole est le parler de grands enfants« (Corre 1890: 252), während Louis Ducrocq sogar seine gesamte Arbeit mit »Idiome enfantin d’une race enfantine – Le créole de l’Ile de France« überschreibt (Ducrocq 1901). Wird zu dieser Zeit das Kreolische mit einer rassengenealogischen ›Kindheit‹ in Verbindung gebracht, so geht die universalgrammatisch ausgerichtete Kreolistik heute hingegen vom tatsächlichen Kindheitsalter als wichtigste Phase in der Kreolisierung aus. Obwohl diese bedeutsame Unterscheidung allzu nahe Analogien auszuschließen scheint, bleibt es vor dem Hintergrund der Disziplingeschichte doch fragwürdig, wenn noch im ausgehenden 20. Jahrhundert der Begründer der Bioprogramm-Hypothese Derek Bickerton unter dem Sammelbegriff »proto-language« einen Vergleich zwischen Beispielen aus Pidginsprachen, Äußerungen von Kindern in der Spracherwerbsphase und Äußerungen von trainierten Affen anstrengt (vgl. Bickerton 1996).11 Das Zusammenspiel von Prozessort und -träger ist in den Texten des 19. Jahrhunderts insgesamt nicht so eindeutig wie in den heutigen universalgrammatischen Arbeiten, denn als zweite Dimension des Prozessorts wurde außerdem die Kommunikation von Mensch zu Mensch ausgemacht. Die geistigen Voraussetzungen, die überhaupt die Verarbeitung der als höher entwickelt betrachteten
10 Ebenfalls mit Rückgriff auf Spracherwerbstheorien, allerdings im ungesteuerten Zweitspracherwerb im Erwachsenenalter, postuliert McWhorter: »The world’s simplest grammars are creole grammars.« (McWhorter 2005: 38; vgl. auch McWhorter 2011) 11 Zu Analogien und Unterschieden in den universalistischen und proto-grammatischen Theorien des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart, vgl. auch Gilbert 1986.
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europäischen Sprachen behindert haben sollen, führten nach gängiger Auffassung auch im Umgang zwischen Sklaven und Herren zu Schwierigkeiten. René de Poyen-Bellisle schreibt mit Blick auf die Veränderungen in der syntaktischen Struktur: »Comme un effort de la part du maître à simplifier et de la part de l’esclave à imiter, si tel est le cas, le premier n’a jamais entrepris de faire comprendre à l’esclave, la valeur du verbe.« (Poyen-Bellisle 1894: 40) Sehr uneinheitlich ist, quer durch die Arbeiten dieser Zeit, die Einschätzung des Anteils der Europäer an der Kreolisierung durch solche Strategien der Vereinfachung. Man liest häufig die Behauptung, die ›Schwarzen‹ seien die alleinigen Urheber des Kreolischen, oft wird aber dennoch die Kommunikation zwischen Sklaven und Herren berücksichtigt. Während die Spezifizierung der Prozessträger als genau einzuschränkende Gruppe zu dieser Zeit also noch uneindeutig ist, festigte sich die Annahme der ›entgegenkommenden Vereinfachung‹ in den 1970er Jahren. Einerseits wurde argumentiert, solche Reduktionen sollten den erwachsenen Sklaven das Verstehen erleichtern, andererseits integrierte die universalistische Theorie ähnliche Vermutungen aber wiederum unter der Prämisse, solche Vereinfachungen spielten sich auch in der Kommunikation von Eltern zu Kindern ab (vgl. Holm 2000: 58f.). Während diese Ansätze, die mit den Begriffen ›foreigner talk‹ oder ›baby talk‹ in Verbindung gebracht werden, mehr oder weniger bewusste Kommunikationsstrategien voraussetzen, fällt ein solches strategisches Element heute bei anderen Kreolisierungstheorien weg, die dennoch die zwischenmenschliche Dimension als Prozessort ansehen. Stattdessen spielen die gesellschaftlichen Umstände eine größere Rolle, so etwa das von außergewöhnlicher Härte und Gewalt geprägte Hierarchieverhältnis zwischen Sklaven und Herrschern. Daneben werden auch soziogeographische, ökonomische oder demographische Informationen herangezogen. Die Unterscheidung zwischen der Frühphase der Kolonialisierung, in der zwischen Sklaven und Siedlern noch ein relativ nahes Kommunikationsverhältnis bestand, und der späteren Massensklaverei in der Plantagenwirtschaft mit einem enormen kommunikativen Abstand wird insbesondere in der Forschung zu den Kreolsprachen des Indischen Ozeans stark berücksichtigt. Unter Verweis auf diese Umstände wird die verbreitete Hypothese abgelehnt, der Entstehung einer Kreolsprache gehe ein Pidgin voraus, ohne jedoch damit die kognitive Dimension des Spracherwerbs gänzlich zu vernachlässigen (vgl. Bollée 1977: 121ff.; Bollée 2007: 141ff.; Chaudenson 1994: 172; Chaudenson 2010). Als weitere Verschiebung in der Prozessanalyse hin zu den umgebenden Bedingungen, die den Sprachwandel beeinflussen, kann man die neueren Arbeiten ansehen, die mit Evolutionsmodellen unter der Berücksichtigung sprachökologischer Faktoren operieren (Mufwene 2001; 2008). Zwar
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nennen und berücksichtigen auch die Texte aus dem 19. Jahrhundert bereits die Sklaverei, meist mit einer scharfen Verurteilung, sie wird aber nicht zu einem grundlegenden Teil der Theorie im Sinne heutiger soziolinguistischer oder sprachökologischer Ansätze.
T EILPROZESSE DER K REOLISIERUNG – M ISCHUNG UND H YBRIDISIERUNG Das Konzept der Kreolisierung lässt und ließ sich nie diskutieren ohne auf der Ebene der Prozessstruktur zu klären, wie europäische und nicht-europäische Sprachen bei der Herausbildung der neuen Sprachstruktur zusammenwirken. Werden in diesem Vorgang also Teilprozesse ausgemacht, dann steht gleichzeitig stets die Frage im Raum, ob der jeweilige Teilprozess mit Sprachmaterial oder -merkmalen aus der einen oder der anderen Sprachgruppe stattfindet. Grundsätzlich unterscheidet die Kreolistik heute in dieser Hinsicht, mit einer von der allgemeinen Linguistik abweichenden Terminologie, unter dem Begriff Substratsprachen die Sprachen der Sklaven von den Superstratsprachen, also den Sprachen der Kolonisatoren.12 Im 19. Jahrhundert steht die Kreolisierung in einer direkten Verbindung mit einem Diskurs der ›Mischung‹ wie er auch in der Biologie und Anthropologie erkennbar wird. Das verbreitete Hauptargument ist, dass es im Kontakt zur Überschreibung von Grenzen komme – sowohl in der menschlichen Natur als auch in der Sprache. Die damalige Philologie geriet auf dieser Grundlage in eine lebhafte Debatte um die Frage, ob es Mischsprachen geben kann. Mehr noch als in der akademischen Nische der Kreolistik wurden solche Fragen in der beginnenden Dialektologie und anderen kontaktlinguistischen Feldern virulent. Insbesondere Hugo Schuchardt als bis heute bedeutendster Vertreter der Kreolistik im 19. Jahrhundert verteidigte die Sprachmischung als grundsätzlich mögliches Konzept, wobei er mit der Zeit dazu tendierte, den europäischen Anteil als einflussreicher zu sehen – ohne dies jedoch, im Unterschied zu den meisten anderen Kreolisten seiner Zeit, mit einem Gedanken grundsätzlicher Überlegenheit zu verbinden (vgl. Baggioni 1984: 118f.). Die Rezension von Charles Baissacs
12 Diese binäre Unterscheidung erfährt inzwischen auch Kritik wegen ihrer Unschärfe in der Unterscheidung der jeweiligen Bedeutung einzelner Sprachen in einem Kontaktkontext mit meist deutlich mehr als nur zwei beteiligten Sprachen (vgl. Bakker 2002: 74; Mufwene 2005: 67).
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Arbeit nutzt Schuchardt als Anlass, ganz deutlich zu sagen: »Es gibt Mischsprachen trotz Max Müller’s entschiedener Verneinung.« (Schuchardt 1881: 581) Bis heute ist die ›Mischung‹ im außerwissenschaftlichen Umgang mit Kreolsprachen anzutreffen. So heißt es beispielsweise in den Länderinformationen des deutschen Auswärtigen Amtes über Haiti: »Die breite Masse der haitianischen Bevölkerung (etwa 85%) spricht jedoch ausschließlich Kreolisch (Mischung aus Französisch und afrikanischen Sprachen).«13 Die unscharfe Kategorie mixed languages wird für Kreolsprachen von der Linguistik gewöhnlich nicht mehr als befriedigend eingeschätzt, weil man über die Mischung hinaus die spezifischen Mechanismen genauer bestimmen möchte. Kritisch zu sehen ist vor allem die Implikation, dass Mischung zufällig ist und nicht mit den Einschränkungen der Kontingenz in Einklang gebracht werden kann, vor allem aber dass Mischung keiner dauerhaften Regelhaftigkeit zu unterliegen scheint, während die kreolische Grammatik selbstverständlich genau dieses Kriterium aller natürlichen Sprachen erfüllt. Spezifischer ist dagegen der Begriff des Hybrids, der im Zusammenhang mit Kreolsprachen ebenfalls bereits im 19. Jahrhundert aufkam. Auguste Vinson wendet den Ausdruck noch ohne nähere Erläuterung an (vgl. Vinson 1882: 93), während Schuchardt von »hybridem Kreolisch« spricht (Schuchardt 1882: 8). So ist seiner Meinung nach das »Negerenglische auf ein Negerportugiesisch gepfropft« (Schuchardt 1882: 15). Er geht offenbar bereits einen Schritt weiter als seine Fachkollegen und beobachtet sogar eine weitergehende Hybridisierung vom Kreolischen aus. Als erster stellt jedoch Lucien Adam den Gedanken des Hybrids gänzlich in den Mittelpunkt seiner Arbeit und arbeitet ihn als theoretisches Konzept voll aus. Sieht Schuchardt das ›Aufpfropfen‹ noch eher unspezifisch, so entwirft Adam nun ein vollständiges Bild, das im 20. Jahrhundert als ›Relexifizierungs-Hypothese‹ wieder auflebte. Kerngedanke ist dabei, dass die grammatische Grundstruktur einer beteiligten Substratsprache beibehalten wird und lediglich der Wortschatz ausgetauscht wird. Das Kreolische von Französisch-Guyana sei deshalb ein »idiome négro-aryen«, jenes von Mauritius ein »idiome maléo-aryen«, und die Untersuchung der Sprachen bezeichnet Adam als »hybridologie linguistique« (Adam 1883). Mit zahlreichen Anleihen insbesondere aus der Botanik, die den Begriff des Hybrids schon lange kennt, kommt er zu dem Schluss: »[…] si les vainqueurs, si les maîtres, ont imposé tout ou partie de leur vocabulaire, les vaincus, les esclaves ont maintenu contre eux
13 http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Laenderinformationen/00SiHi/HaitiSicherheit.html.
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ce qui constituait réellement leur langue: la phonétique et la grammaire.« (Adam 1883: 10) Adams Theorie kann mit dieser Grundthese als die erste ausführliche Substrat- und Relexifizierungstheorie der Kreolistik gelten. In der heutigen Sprachwissenschaft ist das Interesse an solch weitgehenden Erklärungsansätzen zurückgegangen und man versucht eher, in deutlich kleinteiliger zerlegten Unterprozessen zu verstehen, welche einzelnen grammatischen Merkmale substrat- oder superstratbasiert sind. Dennoch liest man auch heute vereinzelt Aussagen wie jene von Claire Lefebvre: »These observations suggest that creole languages are not formed by an arbitrary mixture of the properties of the languages present at the time they are being created. […] while the phonological forms of the lexical entries of a creole come from superstratum expressions, the semantic and syntactic properties of these lexical entries follow the pattern of the substratum languages.« (Lefebvre 2001: 10)14
In der Regel wird die Annahme derart weitgehender Relexifizierung jedoch abgelehnt, insbesondere mit dem Argument, grammatische Strukturen und Lexikon seien nicht so klar voneinander trennbar, dass sie als Gesamtkörper ersetzt werden könnten. Ausgangsgedanke solcher weitgehender Theorien ist bzw. war die Überzeugung und Hoffnung, dass in der ›Mischung‹ die Einzelelemente in ihrer Zugehörigkeit in der Kontaktsituation eindeutig zugeordnet sein können, so dass sich die Mischung gewissermaßen wieder entwirren lässt. Im 19. Jahrhundert ging diese Herangehensweise mit der Annahme einher, auch bei Rassenmischungen stets klar erkennbar die Anteile voneinander scheiden zu können, um so die Trennbarkeit der Sprachen und Rassen als Ganze abzusichern. Auch ohne diese ideologische Grundprägung laufen Hybridisierungstheorien weiterhin Gefahr, in zu deutliche Binaritäten abzugleiten. Die epistemologischen Einschränkungen, die sie mit sich bringen, lassen sich an ihren historischen Vorläufern gut erkennen und für heutige Weiterentwicklungen nutzen. Der Begriff des Hybrids war, womöglich wegen dieser historisch-ideologischen Belastung, lange Zeit nicht mehr sehr gängig in der kreolischen Sprachwissenschaft. Inzwischen wird er eher verwendet, um Kreolisierung auf gesamtkultureller Ebene fassbar zu machen. Die kreolische Linguistik greift das Konzept noch recht zurückhaltend auf und es wird sich zeigen, inwiefern sie daran ein produktives Konzept
14 Sie zitiert in diesem Beitrag auch Adam mit dem Hinweis, dieser habe bereits früh das Konzept der Relexifizierung entwickelt. Vgl. zur Relexifizierung auch Lefebvre 2011.
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anknüpfen kann.15 Im Augenblick scheint Hybridität eher in anderen Zweigen der (Kontakt-)Linguistik genutzt zu werden, etwa in der Migrationslinguistik, häufig im Zusammenhang mit Ansätzen aus der Pragmatik16 und bei Fragen, die stark mit sprachlicher und kultureller Identität verbunden sind. Zur Überwindung einer starren Zweiteilung vielversprechend erscheinen Ansätze, bei denen ein größeres Gewicht auf grammatische Konvergenzen gelegt wird. Im Mittelpunkt stehen dann solche Teilprozesse, welche in nachweislich beteiligten Sprachen ähnliche oder übereinstimmende Merkmale selegieren und so motivieren können, dass genau diese Merkmale in der kreolischen Grammatik erhalten blieben (vgl. Bakker 2002: 78ff.). Anstatt eines reinen Anfügens, wie es der Hybridbegriff nahezulegen scheint, kann man bildlich hier eher von einer Vorstellung der Verschmelzung sprechen. Problematisch bleibt bei solchen Überlegungen, dass eine kreolische Grammatik selbstverständlich nicht vollständig auf Basis von Konvergenzen erklärbar ist und häufig mehr oder weniger willkürlich die am deutlichsten nachweisbaren Teilprozesse herausgegriffen werden. Traf die Willkür früher meist die Auswahl der möglichen beteiligten Substratsprachen ohne Berücksichtigung historischer Daten etwa zur Herkunft von Sklaven, so befürchtet man nun die Rückkehr dieses »Cafeteria Principle« (Kouwenberg 2001: 242) bei der Auswahl möglicher grammatischer Merkmale.17 Ob unter den Schlagworten Konvergenz oder Relexifizierung, ob mit soziolinguistischen oder kognitiven Herangehensweisen, keine Kreolisierungstheorie kann die Frage nach Substrat- und Superstrateinfluss umgehen oder für irrelevant erklären. Mit der stark universalistischen Superstratposition Adolpho Coelhos und der substratorientierten Theorie Adams ist die Bandbreite in der frühen Kreolistik bereits angelegt (vgl. Holm 2000: 28).
K REOLISIERUNG
UND KEIN
E NDE ?
Viele Überlegungen, die in der heutigen Kreolistik umstritten sind, lassen sich in Texten aus dem 19. Jahrhundert bereits finden. Häufig wurden Widersprüchlichkeiten und Spannungen zwischen einzelnen Konzepten noch nicht sichtbar, und
15 Zur Nutzung des Hybridkonzepts in der Kreolistik siehe z.B. Mufwene 2008; Ludwig/Henri/Bruneau-Ludwig 2009. 16 Siehe hier etwa den Gedanken von »Kreolisierung als Handlungsmuster« (Ludwig 2010: 112ff.). 17 Zur Kritik an Konvergenztheorien vgl. auch Bollée 2007: 69ff.
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sie wurden aus übergeordneten diskursiven Grundstrukturen wie dem genealogischen Modell der menschlichen und sprachlichen Entwicklung heraus in den Arbeiten zusammengebracht. Schon die Begrifflichkeiten wie ›Bioprogramm‹ und ›Instinkt‹, ›Ökologie‹, ›Evolution‹ oder ›Rasse‹ zeigen, wie sehr die Kreolistik – ebenso wie wahrscheinlich die gesamte Sprachwissenschaft – vom 19. Jahrhundert bis heute auf die Naturwissenschaften verweist. Analogien und Anleihen insbesondere aus der Biologie sind schon seit langem präsent und produktiv, so dass die Natur des Menschen unzweifelhaft als Angelpunkt der kreolistischen Sprachbetrachtung gelten kann. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass insbesondere die sozio- und ökolinguistisch arbeitenden Kreolisten ihre Beziehung zu den Naturwissenschaften als eine heuristische oder gar rein metaphorische sehen (vgl. Mühlhäusler 2011: 343) und keineswegs die Sprachbetrachtung vollständig biologisieren möchten. Als Minimalkonsens und gleichzeitig wichtigsten Fortschritt der Kreolistik seit dem 19. Jahrhundert ließe sich nennen, dass die Kategorie ›Rasse‹ als Erklärungsfaktor für Kreolisierung weggefallen ist. Das Sprachbild hält sich dabei weiterhin hauptsächlich auf der positivistischen Ebene, so wie es im 19. Jahrhundert in den Vordergrund gerückt ist und heute unter dem Primat empirisch arbeitender Sprachwissenschaft von Typologie bis Psycholinguistik die idealistischen Vorstellungen von Sprache fast gänzlich verdrängt hat. Anstatt zu einer allgemein anerkannten Synthese zu kommen, hat sich die Kreolistik eher ausdifferenziert und miteinander kaum mehr vereinbare Konzepte hervorgebracht, die auf völlig unterschiedlichen Grundgedanken aufbauen. Kaum eine Kreolisierungstheorie in der Linguistik scheint bisher für die gesamte Disziplin konsensfähig zu sein: »It is in fact the case that today’s mainstream creolistics not only fails to come up with a definition, but even explicitly denies the possibility of a definition other than an ostensive one.« (Parkvall 2002: 358) Allenfalls in Lehrbuchdefinitionen des Begriffs Kreolsprache versucht man gelegentlich, möglichst alle Standpunkte zusammenfassend zu vereinen, oft nicht ohne auf die Unsicherheiten oder Gegensätze einzelner Komponenten hinzuweisen. Dies bringt es mit sich, dass die Festlegungen umso sperriger werden. Die starke Zersplitterung in der Forschung mag zu einer verbesserten Anschlussfähigkeit einzelner Zweige der Kreolistik an die jeweiligen Zweige der allgemeinen Sprachwissenschaft führen, schwächt aber die Kohäsion im Fach selbst und damit das erklärte Ziel vieler, die Kreolistik institutionell zu stärken und ihr als Disziplin eine bessere Erkennbarkeit zu geben. Die Frage nach der Anschlussfähigkeit stellt sich nicht nur innerhalb der Linguistik, sondern auch fachübergreifend, sobald der Begriff Kreolisierung eine breitere Bedeutung erhält, der über die Sprache hinausgeht: Was haben Sprach-,
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Literatur- und Kulturwissenschaft einander zu sagen? Während die postkoloniale Kulturtheorie auf der Suche nach möglichen Ausweitungen des Konzepts ›Kreolisierung‹ ist und die Nutzbarmachung des Gedankens für weltweite Phänomene zum Ziel hat, strebt die kreolische Linguistik eher in die entgegengesetzte Richtung. Eine eindeutige und definitorisch handhabbare Eingrenzung des Begriffs ›Kreolsprache‹ wird offenbar in Teilen der kreolischen Sprachwissenschaft als große Notwendigkeit empfunden, so dass auch der Prozess der Kreolisierung in begriffliche Schranken gewiesen werden soll. Auf der Seite der ›AusnahmeTheorie‹ sucht man nach Belegen, die eine Abgrenzung empirisch nachweisbar machen. Auf der Seite der ›Regelfall-Theorie‹ bleibt die Reaktion ambivalent mit dem Argument, man müsse den Begriff ›kreolisch‹ und damit auch das Konzept ›Kreolisierung‹ aus historischen Gründen als unscharf akzeptieren und lediglich die sozialgeschichtlichen Umstände als Definitionskriterium akzeptieren. Als sprachwandlerischen ›Regelfall‹ braucht es zur Erklärung der Entstehung von Kreolsprachen letztendlich aus dieser Perspektive kein eigenständiges Konzept mehr, weil auf der grammatischen Strukturebene Kreolisierung und Sprachwandel in eins zu setzen sind und eine typologische Unterscheidung nicht aufrecht erhalten werden kann. Die Kreolistik würde damit wieder ins Glied der restlichen Linguistik zurückkehren; was sie unter ›Kreolisierung‹ verstand, hätte dementsprechend kaum den avantgardistischen Wert, den das Kreolisierungskonzept der Kulturtheorie als allgemeines Erklärungsmodell beansprucht. Entsprechend klaffen auch die Gewichtungen bei der Betrachtung der Kreolisierung als Prozess zwischen Sprach- und Kulturwissenschaften auseinander. Während die Sprachwissenschaft eher den Prozessverlauf als solchen in den Vordergrund rückt, seine Mechanismen und Unterprozesse verstehen möchte, aber das Ergebnis letztendlich als gegeben ansieht, betrachtet die Kulturtheorie vorwiegend prospektiv ein Prozessziel, also dessen Produktivität. Die Gliederung in Teilprozesse bleibt dabei unscharf, während sie in der Linguistik eher unter einer zu hohen Differenzierung leidet: »Creole formation is such a complex process that the ›subprocess‹ of which it consists must first be identified before the overall ›superprocess‹ can be tackled. My purpose […] is to draw attention to the need for a systematic ›deconstruction‹ of the superprocess rather than to go into the nature of its subprocesses in detail.« (Arends 2002: 57)
Interessanterweise ist diese Unschärfe für die Kulturtheorie gerade eines der auszeichnenden Merkmale der Kreolisierung oder Kreolität, die durch Instabilität, Relationalität, konstanten Wandel und Prozesshaftigkeit geprägt ist: »Creolization is a term with which we attempt to explain the unstable states that a
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Carribean cultural object presents over time.«18 Mit diesem Ansatz geht man davon aus, dass die Kreolisierung vor allem neue Komplexität geschaffen hat, während die Linguistik insbesondere in ihrer historischen Form des 19. Jahrhunderts, aber selbst heute noch in der typologisch-universalgrammatisch argumentierenden Ausrichtung den Abbau von Komplexität als das ›eigentlich Kreolische‹ darstellt. Die Sprachwissenschaft strebt also danach, die Kreolität einer Sprache festlegen und fixieren zu können, ebenso wie das Kreolische als Sprache nach einem Pidgin-Stadium als das Stabile und Gefestigte gilt.19 Zum Teil geht man sogar soweit, auf der Grundlage prototypischer Prozessmodelle Vorhersagen über den erwartbaren Sprachwandel zu treffen; ein in der restlichen Historischen Linguistik eher seltenes Unterfangen.20 In welche Richtung die Disziplinen einander in Zukunft Impulse geben, oder ob sie angesichts der Tendenzen zur Einschränkung in der Linguistik und zur Universalisierung in der Kulturtheorie gar auseinander driften, bleibt abzuwarten. Die Sprachwissenschaft hat beispielsweise mit den weitergehenden Gedanken der Dekreolisierung oder der Semi-Kreolisierung (vgl. Holm 2002) neue Prozesskonzepte hervorgebracht, die in der Literatur- und Kulturwissenschaft noch keinen Widerhall zu finden scheinen. Dies zu beobachten kann möglicherweise Hinweise darauf geben, ob die starken institutionellen und methodischen Trennungen der Fächer sich noch überbrücken lassen. Immerhin kann sich die Kreolistik auf ihr historisches Erbe aus dem 19. Jahrhundert als Philologie mit Text- und Sprachbetrachtung berufen, solange sie die ideologischen Verstrickungen der Zeit für die heutige Arbeit ernst nimmt und ihre Lehren daraus zieht.
18 So Antonio Benítez-Rojos (1998: 55) Vorstellung von Kreolisierung. Wie auch in den weithin bekannten Créolité-Konzepten in der frankophonen Karibik vorgesehen, lässt sich diese Vorstellung von Kreolisierung als permanenter Wandel auf andere Kontaktzonen der Welt ausdehnen. 19 Ob man die Strukturen von Kreolsprachen als stabiles System begreift, hängt selbstverständlich davon ab, ob man die Kreolisierung irgendwann als beendet betrachtet und ob ab diesem Zeitpunkt ›regulärer‹ Sprachwandel einsetzt. Zum raschen weiteren Wandel in Kreolsprachen in der Gegenwart vgl. Ludwig 2010: 103. 20 Vgl. hierzu McWhorter 2005: 5; während beispielsweise Édouard Glissants Konzept der Kreolisierung den entscheidenden Faktor der Unvorhersagbarkeit umfasst, vgl. auch Ludwig 2010: 95.
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Orientalische Dopplungen in der Karibik Coolitude als inklusives Kreolitätsmodell und seine dissoziativen Dimensionen
J OHANNA A BEL
O RIENTALISTISCHE K REOLISIERUNG Der Prozess der kulturellen Durchdringung und des Kulturtransfers in der Karibik, hier im weitesten Sinne unter Kreolisierung verstanden, verbindet sich spätestens in der kolonialimperialistischen Hochphase beschleunigter Globalisierung mit dem Plantagensystem.1 Auch als »kreolische Maschine« bezeichnet
1
Im Bewusstsein der definitorischen Unschärfe des Begriffs der Kreolisierung wird sie hier als der Entwicklungsprozess kreolischer Gesellschaften verstanden, die sich durch Mehrsprachigkeit, kulturelle Grenzauflösungen und ethnische Diversität charakterisieren. Aus der Interpretation dieses Prozesses ergibt sich der Versuch einer Zustandsbeschreibung des sich aus unterschiedlichen Quellen speisenden Amalgams historischer Prozesse und kulturspezifischer Imaginarien, welches gemeinhin als Kreolität bezeichnet wird (vgl. Carter/Torabully 2002: 11). In Anlehnung an die Termini linguistischer Kreolistik handelt es sich um ein Kontinuum unabgeschlossener Vermischungsprozesse, bei der jeder Versuch Stabilitäten zu etablieren zwangsläufig zu Essentialisierungen führt. Die deutschen Begriffe der ›kulturellen Kreolisierung‹ und ›kultureller Kreolität‹ sind Entlehnungen aus der Linguistik und reihen sich bei der Bildung kulturtheoretischer Konzepte innerhalb der Karibistik in entsprechende französisch-, englisch- und spanischsprachige Terminologien ein (vgl. Benítez Rojo 2010: 128; Hannerz 1992). Dabei werden anglophone Bezeichnungen des Prozesses als cultural creolization oder hybridization bzw. des Ergebnisses als creolness oder cultural
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(Benítez Rojo 2010: 33, alle Übers. J.A.), fungierte die Plantage als Motor interkultureller Transferprozesse unter lebensfeindlichen Bedingungen. Die transkoloniale Zuckerproduktion in der Karibik des 19. Jahrhundert setzte weltweite Menschenbewegungen enormen Ausmaßes in Gange, die auf den Plantageninseln einem prekären Kulturkontakt unterworfen waren. In der spezifischen Betrachtungsweise des atlantischen Dreiecks, die sich auf den ungeheuren, traumatisierten Raum der afrikanischen Diaspora konzentrierte, standen die Kreolisierungsprozesse in der Karibik im Fokus bilateraler Bezogenheit zwischen Europa und Afrika. Mit dem Beginn der Abschaffung des Sklavenhandels und den sich über das gesamte 19. Jahrhundert erstreckenden Abolitionsdebatten festigten sich eurokreolische Identitäten, die sich seit der Haitianischen Revolution aus weißen Ängsten vor der heterogenen Moderne der Schwarzen Karibik nährten (vgl. Zeuske 2004). Auch die einsetzenden antikolonialen Unabhängigkeitsbewegungen von den europäischen Mutterländern sind von einer überspannten Verarbeitung transkulturellen Zusammenlebens geprägt, die sich durch hochneurotische Klassifizierungsversuche euroafrikanischer Generationen entlang rassentheoretischer Linien definieren lässt. In der Privilegierung der antagonistischen Kreolisierung Europas und Afrikas in der Karibik blieben bis zum Ende des 20. Jahrhunderts einerseits wichtige Aspekte karibischer Transkulturationen unbeachtet, die erst mit der Dynamisierung der Area Studies und der Etablierung transnationaler Diasporaforschungen wieder ins Blickfeld geraten sind. Die Rolle des Nordatlantiks und die Konzentration auf die westliche Hemisphäre kultureller Zirkulationsprozesse verstellten den Blick auf Bewegungen zwischen Asien und der Karibik. Andererseits wurden in der Binnenökonomie karibischen Kulturaustauschs genuine Einflüsse der Amerikas per se negiert, so dass indigene Kreolisierungsfaktoren ignoriert bzw. in Frage gestellt wurden. Der leyenda negra der absoluten Auslöschung der arawakischen Bevölkerung zu Beginn des 16. Jahrhunderts entsprechend, wurde davon ausgegangen, dass indigene Kulturen für die Kreolisierung der karibischen Inseln eine unterzuordnende Rolle spielten, was sie gerade von Transkulturationsprozessen Zentral- und Südamerikas unterscheide. Die Indio-Frage knüpft die Karibik in eine Ur-Orientalisierung der Antillen ein, welche seit der Gründungsfiktion Kolumbus’ eine Indianisierung der Karibik etabliert hat. Durch diese Indianisierung ist Asien in den Amerikas seit der
hybridity oft synonym zu frankophonen Konzepten der créolisation bzw. créolité und hispanophonen Konzepten der transculturación bzw. transculturalidad verwendet bzw. sprachübergreifend ineinander geblendet (vgl. Benítez Rojo 2010: 129; Sheller 2003: 182-184).
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Ankunft der Europäer gründungsfiktional präsent und erfährt durch die Konquistadoren eine hispanische Prägung, die bereits durch heimische Kolonialisierungserfahrungen des Orients im internen Kontext Europas und durch arabischgotische Transkulturation in Al-Andalus orientalistisch angelegt war. In dieser Hinsicht ist die orientale Kreolisierung der Karibik bereits im ersten Kulturkontakt Europas mit der Neuen Welt eingeschrieben. Diese bereits zweifach orientalisierte Begegnung differenziert sich mit der Ankunft asiatischer Kontraktarbeiter in der Karibik ab Mitte des 19. Jahrhunderts weiter aus. Die so genannten Kulis (Urdu/Hindi: Knecht, Sklave, Tagelöhner) verstärkten die durch den Verbot des Sklavenhandels abgenommene Zahl versklavter AfrikanerInnen und füllten die Nachfragelücke nach subalternen Arbeitskräften im Plantagensystem. Je nach europäischem Kolonialregime trafen nun Inder und Chinesen in der transkolonialen Karibik ein und trugen ihr übriges zur weiteren kapillaren Verästelung orientaler Kreolisierung bei. Nach vier Jahrhunderten europäischer Expansionsbewegungen und interkultureller Transfers in den Amerikas gibt es einen polymorphen Orient in der Karibik, der sich in der eurozentrischen Wahrnehmung seiner Lebenswelten wiederum in einem Pan-Orientalismus niedergeschlagen hat. Dieser polymorphe Orient setzt sich aus diffusen Orientalismusdiskursen zusammen, die den biblisch-abrahamitischen, den arabischen, den jüdischen, den türkischen Orient, die Levante, den chinesischen, den indischen, den afrikanischen, den japanischen und den pazifischen Orient, und viele andere ›Oriente‹ umfassen, ohne bei der Aufzählung jemals weitere ignoriert zu haben, wie bspw. den tatarischen und den ziganistischen Orient. Neben den durch christlichen Missionsauftrag und Zivilisierungsgewalt prädestinierten Anderen Amerikas und Afrikas, galt es nun viele andere Andere taxonomisch zu eruieren und kulturell am Zentrum auszurichten. Die verschiedenen oriental Anderen treffen dabei auf kreolisierte Gesellschaften, die sich zu diesem späten Zeitpunkt europäischer Kolonialisierung und Kreolisierung der Karibik zu Schwarz-Weißen Kontinua stabilisiert hatten und durch neue kulturelle Codierungen wiederum gesellschaftliches Chaos befürchteten. Gleichzeitig gelangten diese erst über neu hinzukommende Kulturelemente zu einem Bewusstsein ihrer bereits kreolischen Identität.
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C OOLITUDE Als Zuspätkommer (late-comers) der Kreolisierung werden asiatische Kulis zum Indiz für eine wie auch immer gelagerte Rassenkonvivenz, da ihnen bei ihrer Ankunft in der Karibik die Xenophobie von weißer und schwarzer Seite entgegenschlug. Das Eintreten des späten neuen Kulturelements ruft seitens der Kreolen interrassiale Solidarität gegen die Neuankömmlinge hervor, die es insofern besonders schwer hatten, als sie in einen Kreolisierungsprozess eintraten, der sich bereits ohne sie stabilisiert hatte. Einerseits gerieten sie in die Maschinerie der Plantagenarbeit, die ihnen Leibeigenschaft auf Zeit unter sklavereiähnlichen Bedingungen abverlangte, andererseits wurden sie von ehemals Versklavten als Handlanger des nun auf Lohnarbeit umgestellten Plantagensystems kolonialer Herrschaft empfunden. In diesem Zusammenhang schlug Khal Torabully in den 1990er Jahren eine offenere Perspektive vor, um die plurikulturellen Konfigurationen und identités composites der Karibik zu verstehen. Mit seinem Konzept der Coolitude postulierte der Lyriker und Literaturtheoretiker aus Mauritius einen inklusiveren Kreolitätsbegriff, indem er archipelische Kreolitätsmodelle frankokaribischer Prägung wie die Négritude, die Creolité, die Antillanité oder die Créolisation aber auch die Créolie, die Indianité und den Indienocéanisme weiterentwickelte (vgl. Carter/Torabully 2002: 5ff., 16, s.a. Übersetzung in diesem Band). Seine Inklusion der ethnischen Komplexität post-abolitionistischer Gesellschaften in der Karibik und im Indischen Ozean ermöglicht es, den Prozess der Kreolisierung weniger essentialistisch zu fassen. Das Konzept der Coolitude geht nicht von geographischer Zugehörigkeit oder ethnischer Herkunft aus, sondern von der ökonomischen und juristischen Situation der Coolies, Kontraktarbeitern, die aus Indien, China, aber auch Europa und Afrika in verschiedene Archipelregionen wie der Karibik, dem Indischen Ozean oder dem Pazifik gelangten. Mit seinem Mosaik-Modell zusammengesetzter Identitäten führt Torabully den sozialen Status als theoretisch entscheidenden Kreolisierungsfaktor ein. Gleichzeitig trug er als Autor und Filmemacher der indischen Diaspora zur Rehabilitierung des Gedächtnisses indischer Coolies bei und verlieh ihrer kollektiven Erinnerung eine eigene poetische Stimme. Durch ein Revoicing der durch die abfällige Bezeichnung ›Kuli‹ negativ konnotierten Erinnerung der Indischen Diaspora des 19. Jahrhunderts erlangte sie epistemologisches Gewicht. In seinen poetischen Gründungstexten Cale d’étoile, Coolitude (1992) und Chairs Corails, Fragments coolies (1999) setzte Torabully erstmals die theoretischen Prämissen der Coolitude um.
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Zu internationaler Rezeption und Reichweite gelangte die Coolitude jedoch erst durch sein zusammen mit der Historikerin Marina Carter verfasstes Hauptwerk Coolitude: An Anthology of the Indian Labour Diaspora (2002). Das Werk ist eine Sammlung in dreifacher Hinsicht. Es vereint einerseits die eigene Dichtung Khal Torabullys zur Indischen Arbeitsmigration weltweit mit einer literaturgeschichtlichen Anthologie andererseits zu Lyrik und Prosa indischer Diaspora-AutorInnen seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem im Indischen Ozean: Mauritius (ab 1843), Fiji, Java, Goa (1860-70) aber auch in den Amerikas (Trinidad, Guayana, Surinam, Guadeloupe und Martinique ab 1846). Drittens stellt es eine Monographie zur Coolitude-Theorie und ihrer Poetologie dar. Formell handelt es sich um eine Mischung aus einer historischen Anthologie im engeren Sinne, einem Arbeitsbuch mit Kurzdefinitionen und einer im Interviewformat verhandelten theoretischen Verortung von Coolitude durch das Autorenteam. Allein durch die hybride Textform bietet Coolitude (2002) akademische Interpretation und künstlerischen Zugang zur Welt der Indischen Diaspora, indem es auch in vormals unveröffentlichten Texten wie Gedichten und Theaterszenen von der »Essenz, oder den Essenzen« (ebd.: 148) der Indischen Kolonialdiaspora erzählt und traditionelle Vorstellungen aus dem British Empire dekonstruiert. Während in der Einleitung die theoretische Genese des Konzepts in eine Reihe von Kreolisierungs- und Relationalitätstheoretikern wie Glissant, Deleuze und Guattari, Confiant, Chamoiseau und Bernabé, Benoist u.v.a. eingeordnet wird, folgt im zweiten Kapitel die Entwicklung eines der Schlüsselthemen der Coolitude, die Coolie-Odyssee, der tabuisierten Ozeanüberquerung vom indischen Subkontinent aus. Kapitel 3 und 4 widmen sich kulturtheoretischen Aspekten der Fremdwahrnehmung, wie der dreifachen Stigmatisierung des Coolies (Thrice Victimized: Casting The Coolie) und der Überlebenserfahrung in der Vertragsarbeit: Surviving Indenture. Drei Alterisierungsdispositive fixieren demnach die Opferrolle des Coolies: erstens als »Mysterium des Orients« (ebd.:187), zweitens als barbarischer Eindringling und drittens als »ambassador of exoticism and sensuality« (ebd.:188). Kapitel 5 ist dem Coolie-Vermächtnis gewidmet und betrachtet die Erinnerungspolitiken der indischen Diaspora im 19. und 20. Jahrhundert. Bevor die Anthologie mit der Schlussfolgerung Revoicing the Coolie und einer Zusammenstellung von Prosa- und Lyriktexten Torabullys selbst endet, bindet sie einen langen Theorieteil ein, der wichtige Theoretical Premises Of Coolitude in Gesprächsform erläutert.
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Im ersten Teil wird die Beziehung zwischen »Césaire, Négritude und Coolitude« ausgeleuchtet (ebd.:143-159). Im zweiten Teil werden »Elements of the Coolie’s Memory« abgesteckt (ebd.:160-165). Im dritten Teil des Interviews der Anthologie kommen »Ästhetik und Literatur« zur Sprache (ebd.:165-189) während im vierten Abschnitt »Tradition, Society and Indianness« behandelt werden (ebd.:190-194). Im fünften konkret poetologischen Teil wird versucht »Some Literary Characteristics of Coolitude« einzugrenzen (ebd.:195-213). Die belgische Theoretikerin Veronique Bragard betonte in ihrer weiterführenden Rezeption des Konzepts als wichtiges poetologisches Charakteristikum, dass Coolitude nicht den Coolie an sich, sondern die alptraumhafte transozeanische Seereise, sowohl als historische Migrationsbewegung als auch als Metonymie kultureller Begegnungen ins Zentrum stelle (vgl. ebd.: 15; Bragard 2008). Der literarische Fokus liegt also immer wieder auf der Schiffsreise als Identität zerstörendem und ständig neu konstruierendem Element. Die Reise wird dabei zur coupure, welche den Verlust der Heimat nicht mehr ins Zentrum der diasporischen Identitäten stellt. Auf einer abstrakteren Ebene knüpft die Reise damit an eine verdrängte Meta-Erinnerung diasporischer Inselidentitäten generell an, die menschliche Brücken schlage bzw. so genannte hommes-ponts hervorbringe (vgl. Turcotte/Brabant 1983: 106), die wiederum die Interpreten der Weltkulturen in den jeweiligen Inselmikrokosmen sein würden (vgl. Carter/Torabully 2002: 216). Der spezielle Beitrag Torabullys zur Figur der transozeanischen Reise bezieht sich nun auf eine Poetik des »Indischen Elements« (ebd.:148). Das Trauma der Ozeanüberquerung nimmt in der indischen Rahmung eine besondere Stellung ein, da es auf der Schlüsselrolle des Kala Pani-Mythos beruht. Das Tabu des Kala Pani, der schwarzen, faulen Wasser, beziehe sich auf die Einebnung der Kastenunterschiede im Schwellenzustand des Schiffes. Dieses Tabu reflektiere sich in den Ängsten, das Mutterland und insbesondere den Ganges seewärts zu verlassen und dabei seine Kaste zu verlieren, das hieße z. B. als Brahmane einen höheren Status im Kastensystem und im Kreislauf der Wiedergeburt des Hinduismus aufzugeben, oder umgekehrt von einem niedereren Status befreit zu werden. Diese psychischen Dimensionen des Ozeantraumas werden sprachlich in der Coolitude aufgefangen und prägen ihre partikulare Ästhetik. Durch die Verwendung poetischer Versatzstücke eines mythischen Indiens tragen Coolitude-Literaturen zur Überwindung des Sprachexils indischer Kontraktarbeiter im Pazifik, im Indischen Ozean und in der Karibik bei. Ein weiterer ästhetischer Umstand, welcher der Fokussierung auf den Ozeantransfer geschuldet ist, ist die Suche nach maritimen Symboliken. Das zentrale Bild der Coolitude ist daher die Korallenmetapher der chairs corails, die für
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hybride Relationalitäten in Inselkulturen steht. Mit dem Korallenfleisch, seiner Hauptmetapher für kreolisierte Identitäten überführt Khal Torabully Aimé Césaires Stein der Négritude (vgl. ebd.: 151f.) in eine offenere, maritime Metapher: »Dans ma mémoire sont des langues aussi Ma coolitude n’est pas une pierre non plus, Elle est corail.« (Torabully 1999: 82) »Non plus l’homme hindou de Calcutta Mais chairs corail des Antilles.« (Ebd.: 108)2
Die Korallenmetapher ist den Mangroven- und Rhizom-Bildern der Créolité nicht unähnlich, aber transozeanisch gefasst. Als Symbol für die Fluidität von Beziehungen und Einflüssen nutzt sie die Eigenheiten der Koralle als Zwitterwesen zwischen Stein und Tier, das nur im Meer v. a. im Tropengürtel vorkommt. In der Koralle überlagern sich totes und lebendiges Gewebe. Sie ist gleichzeitig hart und weich und steht damit einerseits für archipelisches Denken im Sinne Glissants als pensée de l’ambigu und für die Durchlässigkeit unterschiedlicher Strömungen. Die charakteristischen Spiralformen, die circumvolutions der Koralle, schließen an Visualisierungen fraktaler Logiken in Kreolisierungsprozessen an. Nicht nur theoretisch sondern auch ästhetisch steht Coolitude damit in der Nähe von Glissant und den Creolité-Autoren, indem Diaspora-Identitäten nicht als statisch oder fixiert betrachtet werden, sondern als dem kontinuierlichen Spiel von Geschichte, Kultur und Macht unterworfen (vgl. Carter/Torabully 2002: 11). Neben dem »maritimen Geist« (vgl. ebd.: 158) der Coolitude besitzt sie jedoch auch statischere Momente der Visualisierung, die nicht auf dreidimensional, dynamische Modelle zurückgreifen, sondern auf Strukturen der eindimensionalen Zusammengesetztheit, wie zum Beispiel im Falle des Mosaiks, in dem indisch-kreolische Steinchen das Gesamtbild der Kreolisierung ergänzen, aber nicht der Verschmelzungsgedanke im Zentrum steht. Die Komposita des Mosaiks können mitunter auch als einzelne Wurzeln des Rhizoms in die Zweidimensionalität überführt werden (vgl. ebd.: 152). Der Gedanke des Steins,
2
Die in zahlreichen Debatten zur Négritude kontrovers verwendete Steinmetapher findet sich bei Césaire textuell im Cahier d’un retour au pays natal (1939), wo es allerdings ex negativo heißt: »Ma négritude n’est pas une pierre […]« (Césaire 1983 [1939]: 47)
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des Verfestigten, verschwindet jedoch auch in der Korallenmetapher nicht, und verweist immer wieder auf das Césaire’sche Gründungsmoment der Coolitude zurück. So ist die Berufung Torabullys auf die Négritude und auf die Antillanité, verstanden als direktes Erbe der Négritude, für das Verständnis der theoretischen Verortung der Coolitude unverzichtbar. Die tiefe Empathie für Aimé Césaire und ein Gespräch mit dem Begründer der frankokaribischen Négritude-Bewegung 1997 in Fort-de-France (Martinique) zum Erbe der Négritude und deren Weiterführung in Coolitude, gehören zum Gründungsmythos dieses Kreolisierungskonzepts. Die Verbindung beider Theorien läuft über zwei Gedanken: den der Aussöhnung der »descendants of the oppressed« (ebd.: 172), der zur Aufarbeitung der historischen Spannungen zwischen dem Erbe der atlantischen Sklaverei und dem Coolie-Erbe in kreolischen Gesellschaften beitragen möchte, und den Gedanken der konzeptuellen Überwindung bzw. Redefinition. Die theoretischen Grenzen der Négritude, die durch ihre Einforderung und Anerkennung einer Schwarzen Identität der ethnischen Komplexität kreolisierter Gesellschaften nach der Sklaverei nicht gerecht werden könne, werde mit dem Modell der Coolitude überwunden. Carter und Torabully argumentieren an mehreren Stellen, dass Coolitude keine indische Version der Négritude sei. Erstens handele es sich nicht um eine »ethnische/essentialistische Kategorie« (ebd.: 150, 153) und zweitens werde durch ihren Fokus auf die Überfahrt nicht die mythische Herkunft bzw. das Exil thematisiert, sondern Identität in Permeabilität aufgelöst. Négritude und Coolitude teilen den Moment der diskursiven Umwidmung von stigmatisierten kolonialen Alteritäten und lösen sich voneinander, wenn es um die Anerkennung des kulturellen Einflusses geht, den die Kontraktmigration aus Indien auf einige moderne Gesellschaften ausgeübt hat, die sie wie Mauritius, Trinidad, Guyana und Fiji entscheidend geformt und auf andere, wie Guadeloupe, Martinique, Ost- und Südafrika eingewirkt habe.
D ISSOZIATIONEN
UND
D OPPELBELICHTUNGEN
Wie vielen theoretischen Analysekategorien zur Verleihung von Diskursmacht gemein ist, beinhalten sie in ihrem Inklusionsbestreben immanente Exklusionsgesten, die kontrapunktische Spannungen erzeugen. Während Coolitude eine inklusivere Kreolisierungstheorie liefern möchte, grenzt sie auf anderen Ebenen Komplexitätsmomente aus. Als Kreolitätsmodell ist sie durch die Schaffung einer transkulturellen sozialen Schicht transozeanischer Arbeitskräfte weniger essentialistisch als andere Modelle, trägt aber gleichzeitig zu neuen
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Essentialisierungen bei. Dies ist in Bezug auf die Karibik einerseits den orientalen Dopplungen und Doppelbelichtungen geschuldet, die einer indianisierten Kreolität im Wege stehen, und andererseits den dissoziativen Dimensionen, die sich mit kulturellen Hierarchisierungen in imperialen Kolonialgesellschaften verbinden. Eine erste Essentialisierung ist allein auf der sprachlichen Ebene anzusiedeln. Die Fixierung des sozialen Status asiatischer Vertragsarbeiter in postabolitionistischen Kreolgesellschaften auf den Begriff der Coolitude funktioniert nur im französisch-britischen Sprachraum der Karibik. Sie kommt einer Einverleibung hispanistischer Besonderheiten der transkolonialen Karibik gleich, indem sie den Cooliestatus für die indische Migration monopolisiert. Torabully weist selbstverständlich darauf hin, dass man vor der Migration der Coolies aus Indien auch Coolies aus China u. a. asiatischen Gebieten sowie aus Europa und Afrika rekrutierte (vgl. ebd.: 150). Wenn es um die Inklusionsfähigkeit weiterer orientaler Anderer in ein offeneres Konzept kreolischer Karibität geht, lahmt sein poetischer Akt der Stimmverleihung allerdings an der karibischen Sprachverwirrung. Culitud Für die Kreolisierung der hispanophonen Karibik kommt der simultanen chinesischen Arbeitsmigration eine ähnliche Bedeutung zu wie der indischen für die Kolonialgebiete der French, British und Dutch Indies. Durch die sprachliche Bezeichnung als culíes, die sich im spanischen Sprachgebrauch von den indischen coolíes auf anderen Plantageninseln unterscheidet, sind chinesische Kulis auf der Zeichenebene von der Coolitude ausgeschlossen. Damit sieht diese sich der Gefahr ausgesetzt, wiederum andere asiatische bzw. in die Differenzkategorie Orient fallende Migrationsbewegungen auszugrenzen. Zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts soll hier kurz einer augenzwinkernden Prophezeiung nachgegangen werden, die auf der ständigen Überholspur an Kreolisierungswellen das chinesische Element der Karibik im Kommen sah. In diesem Sinne sollte dem Coolie in den Amerikas wohl sein Doppelgänger, der Culí, mit einer eigenen Migrationsgeschichte, der Culitud, gegenübergestellt werden. In seinem posthum veröffentlichten Essay »La cultura cubana hacia el nuevo milenio« meinte Antonio Benítez Rojo zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer imaginären Kristallkugel den nächsten Trend im Kreolisierungsdiskurs zur größten hispanokaribischen Insel vorherzusagen zu können: »Como ya no se trata de amalgamar componentes europeos y africanos, lo cual ya se ha conseguido, se tratará de incorporar a lo cubano un nuevo grupo de elementos. ¿De dónde
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procederán estos elementos? La respuesta se cae de la mata: procederán de la China, y se revivirá la tradición de la cornetica china, el chino de la charada, las maripositas chinas, la pomadita china, las pildoritas chinas, la calabaza china, la mulata china, el cementerio chino y los mambises chinos, el médico chino, el chino Wong, Wilfredo Lam y Chan Li Pó.« (Benítez Rojo 2010: 295f.)
Natürlich nimmt Benítez-Rojo hier keinen direkten Bezug auf indo-karibische Kreolisierungsdiskurse aus der Anglo- und Frankokaribik um einer panasiatischen Strömung karibischer Kreolisierung vorwegzugreifen. Er weist lediglich auf die bisher vernachlässigte Berücksichtigung der Studien Juan Pérez de la Rivas zur chinesischen Vertragsarbeit in Cuba aus den 1960er Jahren hin, die mittlerweile veröffentlicht vorliegen (vgl. Pérez de la Riva 1996, 2001). Darüber hinaus gibt es im kubanischen Kontext einige historiographische Monographien neueren Datums, die sich mit der chinesischen Einwanderung nach Cuba auseinandersetzten und beginnen, kulturtheoretische Fragestellungen in die Auseinandersetzung mit dem Thema einzubeziehen (vgl. Herrera Jerez/Castillo Santana 2003; Castillo Santana 2010). Ein kurzer Abriss zu Eigenheiten der chinesischen Arbeitsmigration zeigt, wie reichhaltig und coolie-untypisch der Entwurf einer Culitud-Theorie aussehen könnte. Ähnlich wie die Coolitude ist die Culitud ungleich der europäischen und binnenantillianischen (aus Haiti, Jamaica, Yucatán u.a.), ganz zu schweigen von der afrikanischen, eine der best-dokumentiertesten Migrationsbewegungen in der Karibik, da sie von Anfang an juristisch legal war und zu Promotionszwecken genau registriert wurde (vgl. Pérez de la Riva 1996: 3). Zwischen 1847 und 1880 kamen ungefähr 150.000 chinesische Kontraktarbeiter vornehmlich aus der südlichen Provinz Guangdong (Kanton) aus China nach Kuba, ohne die chinesischen Einwanderer vor 1847, die filipinos oder die californianos, wie de la Riva die von der US-amerikanischen Westküste eingewanderten Chinesen bezeichnete, mitzurechnen (vgl. ebd.: 4). Es wurden so gut wie keine Frauen als Culíes unter Vertrag genommen, so dass im Zuge der Culitud fast keine Chinesinnen einwanderten. Kurioserweise gab es aber weibliche Transferbewegungen von kleinen chinesischen Mädchen als Teil eines klandestinen Kinderhandels, die in adligen Kreolfamilien als exotische Maskottchen und Kammerzofen aufgezogen wurden, wie beispielsweise für die MontalvoSaccharokraten belegt ist (vgl. ebd.: 24). Auch die Culíes stießen auf schwerwiegende Diskriminierung seitens aller Bevölkerungspole der kubanischen Kreolgesellschaft. Einerseits verstärkten sie weiße kreolische Ängste vor dem Kulturverfall und andererseits kam es zu gewaltsamen Konflikten zwischen den Abakuá, Mitgliedern eines afrokreolischen
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Geheimbundes, und den chinesischen Hafenarbeitern, die sich zur Konkurrenz um die subalterne Dockarbeit gezwungen sahen (vgl. ebd.: 37). Pérez de la Riva markiert in seiner statistischen Abhandlung zur Demographie der chinesischen Culíes verschiedene Kernpunkte, die sich zu kulturellen Konstanten einer Sino-Kreolität im 19. Jahrhundert auf Kuba ausbauen ließen. Einige wiederkehrende Themen, die sich teilweise an die Coolitude anlehnen, sind eine orientalistische Stigmatisierung und das Überlebensmotiv. Die Culitud unterscheidet sich aber auch in einzelnen Motivaspekten von der CoolieErfahrung, zum Beispiel in den Themenkomplexen des Suizids, der Rebellion und der sozialen Mobilität. So wird in der Analyse des Statistikmaterials von Pérez de la Riva eine kafkaeske Bürokratie des Todes beschrieben, nach der die Lebenskraft vieler Culíes nicht ausreichte, um jemals die Vertragsdauer von acht Jahren zu überleben. An die Härte der Überlebensbedingungen knüpften sich kulturelle Widerstandsstrategien, die einer gewaltsamen Recontratación, der obligatorischen Kontraktverlängerung um weitere acht Jahre, die Stirn boten. Früh zeigte sich ein revolutionäres Potential der Culitud, das sich zum Jahrhundertende immer enger mit anti-kolonialen Unabhängigkeitsbewegungen verband. Die hohe Sterblichkeit innerhalb der kubanischen Culitud spricht ihre eigene Sprache und trug mit zur Stereotypisierung des Gegensatzes zwischen afrikanischen und chinesischen Arbeitskräften bei. Im populären Mythos hielt sich als Rechtfertigung der Mortalitätsraten lange das Vorurteil des Opiumkonsums. Eine der Hauptursachen war aber das (kollektive) Erhängen als Sabotageakte gegen die körpereigene Arbeitsleistung. Mit dem spezifischen Suizid der Culitud als Widerstandstechnik sui generis, deren Ausmaße sie von der Coolitude und der afrikanischen Sklavereierfahrung differenzierten, wurden chinesische Culíes erstmals zur ernstzunehmenden Gefahr für die Plantagenwirtschaft und hinterließen einen tiefen Eindruck auf die kreolische Pflanzergesellschaft (vgl. ebd.: 22). Diese Resistenzmechanismen, wie auch die chinesische Marronnage führten zu einem spezifischen Othering der Culíes, das sich durch Schlüsselworte wie ›Verrat‹ und ›Hinterlist‹ von der paternalistischen Alterisierung indischer Coolies und afrikanischer Sklaven unterschied. Seit Beginn der chinesischen Vertragsarbeit auf Kuba hatte es viele cimarrones chinos gegeben, die wie die aus der Sklaverei geflohenen AfrikanerInnen im Untergrund lebten und deren Anteil auf 20% aller Culíes geschätzt wurde (vgl. ebd.: 33). Um die Entlassung weiterer Culíes in den Widerstand zu vermeiden, wurde die Vertragsverlängerung eingeführt. Eine andere Überlebenstechnik war der Scheinwechsel zu anderen Culí-Brigaden. Er diente vielen Culíes durch Bestechung spanischer Kolonialbeamter zum Freikauf.
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Dass eine Vielzahl von Culíes innerhalb weniger Jahre so schnell in unterschiedlichen Berufssektoren außerhalb der Zuckerwirtschaft Fuß fassen konnte, ohne anfangs Spanisch zu sprechen ist für Pérez de la Riva ein Zeichen erstaunlicher sozialer Mobilität. Die typischen chinesischen Wäschereien und kantonesischen Gastronomien des frühen 20. Jahrhunderts gab es allerdings erst weit nach Republikgründung, da das Wäschereimonopol traditionell in den Händen der »morenas libres« lag und der Spracherwerb dies noch nicht erlaubte (ebd.: 51f.). Spätestens mit der aktiven Beteiligung vieler Chinesen als mambises chinos im 1. Unabhängigkeitskrieg (1868-1878) war das Ende der Culitud in Sicht und führte direkt in die Beendigung der chinesischen Kontraktarbeit auf Kuba (vgl. ebd.: 41). Die letzten kubanischen Culíes wurden 1883 aus ihren Verträgen entlassen, dem Jahr, in dem auch die Leibeigenschaft (patronato) abgeschafft wurde (vgl. ebd.: 45). Doppelgänger, Zwillinge, Schatten Nicht nur sind Coolie und Culí Doppelgänger der asiatischen Kreolisierung der Karibik und eines karibischen Orientalismus, sie gehören auch in den Bereich einer orientalen Doppelbelichtung der Antillen. Die massive Einwanderungspolitik der kreolischen Eliten in den 1860ern, die vorsah Kuba durch chinesische Culíes in eine China chiquita zu verwandeln (vgl. ebd.: 28), ist auf der metanarrativen Orientalisierungsebene eine Dopplung zweiten Grades, nämlich die Dopplung der Ur-Dopplung Westindiens, der zufolge Kolumbus annahm, sich Cipango zu nähern bzw. mit Cuba auf eine Halbinsel Cathays, des Alten Chinas gestoßen zu sein. Das gleiche gilt für die Coolitude in den West Indies/Indes occidentales. Ähnlich wie die Doppelbelichtung des Fernen Ostens im konkreten Eintreffen Asiens in der Karibik ab Mitte des 19. Jahrhunderts, wirkt auch die zweimalige Abschaffung der Sklaverei durch die Spanier, einmal der indigenen Sklaverei im 16. Jahrhundert und der afrikanischen Sklaverei im 19. Jahrhundert wie ein Déjà-vu, dessen Doppelbilder auf der Homogenisierung differenter Subalternitäten beruhen. Bei der Betrachtung von Zufällen, Wiederholungen und Analogien in der Verflechtungsgeschichte kultureller Codes in der karibischen Kontaktzone häufen sich Entsprechungen, die sich auf der untersten Ebene abstrakter Potenzialität in Doppelgängern, (bösen) Zwillingen und Schatten vorstellen lassen. Man kann die Fraktalität der Repeating Islands auf der Ebene der Chaostheorie veranschaulichen (vgl. Benítez Rojo 1996), aber auch auf der figurativen Ebene einfacher Duplikationen betrachten. Schon allein die Erörterung eines Kapillar-
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bereichs karibischer Kreolisierung, der Coolitude, bringt Dopplungen in dreifacher Hinsicht mit sich. Die erste ist die Dopplung Asiens, wie wir sie am Beispiel der Coolitude/Culitud gesehen haben. Die zweite ist die Dopplung Indiens, die sich in der Nomenklatur Ost- und Westindiens institutionalisiert hat und seit Kolumbus in der Bezeichnung der indianisierten Ureinwohner als Indios nie korrigiert worden ist (vgl. Miller 2008: 91). Sie wirft einen amerindischen Schatten auf die indische Diaspora in der Karibik und konfrontiert die jeweiligen orientalen Anderen (Indigene/Inder) mit einem indianischen Spiegelbild. In dritter Hinsicht gibt es eine Dopplung zwischen Asien und Afrika, die sich in einer auf die Sklaverei bezogenen unguten Zwillingsschaft und in einem dualen Orientalismus-Diskurs ausdrückt. Die zweifache Dopplung von indischen und chinesischen Kulis und von Indern und (West-)Indios kommt gut in einer Reihung an dislocated orients in einer anderen Textstelle Benítez Rojos zum Ausdruck: »Además, hay que tener presente que en la segunda mitad del siglo XIX desembarcaron en la isla 150.000 campesinos del sur de China y que también hubo introducciones de mayas de Yucatán y de indios orientales. Al conjunto de ellos se debe la rica medicina vegetal que existe hoy como alternativa a la farmacopea científica.« (Benítez Rojo 2010: 39)
Während im Spanischen klare semantische Kulturdifferenzierungen durch hindú und indio bzw. indígena auch auf der Signifikantenebene möglich sind, tritt besonders in englischer Sprache die dissoziative Dimension der Indien-Dopplung in der Karibik zu Tage. Als Indians sind nicht nur Indigene und Inder Doppelgänger im Namen, sondern auch nord-amerikanische Native Americans. Wenn das Konzept der Coolitude den ästhetischen Parameter der Indianness für sich reklamiert, sollte es amerikanische Indigenität mitreflektieren, um nicht wiederum eine essentialisierende Tendenz zu fördern, bei der das indigene Element aus Sprache und Geschichte der Kreolisierung herausfallen würde.3 Auch auf ästhetischer Ebene wäre die Des-Orientierung angesichts anderer orientalisierter Platzhalter und Doubles ein vielversprechendes Projekt der Literarisierung kreolischer Identitäten, das außerdem auf eine lange literarische Geschichte des Doppelgängermotivs zurückblicken könnte.
3
Vgl. Torabully: »Césaire and I discussed the misunderstanding attached to geographical terms. I spoke of les Indes, not the mythical Indies of Columbus, but the generic name of plural India […]« (Carter/Torabully 2002: 145)
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Angesichts der »multiplicidad de los discursos exotizantes« (Nagy-Zekmi 2008: 18) in der Karibik bemerkt Mimi Sheller in »Orienting the Caribbean. When East is West«, der westliche Karibik-Diskurs in euro-amerikanischen Reisenarrativen und visuellen Repräsentationen produziere eine »dual ›Orientalisation‹ and ›Africanisation‹ of ›West Indian‹ places and peoples« (Sheller 2003: 107). In ihrer Analyse orientalistischer und afrikanistischer (Kolonial-)Diskurse, die sich in der epistemologischen Karibik-Orientierung des Westens am Osten überlagern und eine »doubly powerful trope to orient the Caribbean« bildeten (ebd.: 139), unterscheidet sie eine »hybride Levantinisierung« (ebd.: 123), deren »Levantine imagery« von Arabien über den maurischen Einfluss bis nach Spanien und Teile des Mittelmeeres reichten (ebd.: 124), von einem »Far Eastern Orientalism« (ebd.: 126), der durch die indische und chinesische Diaspora im 19. Jahrhundert konkretisiert wurde. Sheller zieht im »peculiarly disorienting vortex of Caribbean Orientalism« (ebd.) klare Differenzlinien zwischen orientalistischen und afrikanistischen Tropen, weil sie auf die jeweilige Relativität der Rassialisierung des ›Orientalen‹ oder ›Asiatischen‹ zum ›Weißen‹ und ›Schwarzen‹ aufmerksam machen will, welche die weltweiten »communities of exploited labour« im Interesse kolonialer Hegemonien gespalten habe (ebd.: 125). Im Sinne Nagy-Zekmis könnte man diese duale Lagerung karibistischer Diskurse auch als potenzierten Orientalismus lesen, der den afrikanistischen ›Barbarei‹-Diskurs als Teil eines weitergefassten Said’schen Orientalismus begreift, den alle exotisierenden Kolonialtätsdiskurse auf die so genannte ›Dritte Welt‹ 4 projizierten (vgl. Nagy-Zekmi 2008: 14f). Diese Sichtweise würde wiederum die Schachtelung orientaler Dopplungen illustrieren, die bei der Öffnung der Brennweite ein Palimpsest karibischer Oriente freigibt. Cartoonhaft gefasst würde die Doppelgängergalerie im mythischen Indien und China der Alten Welt beginnen, sich im indigenen Westindien durch das maurische Europa vermittelt erstmals neuweltlich doppeln, sich in der afrikanischen Diaspora der Schwarzen Karibik erneut potenzieren, sich daraufhin im Coolie und im Culí zweifach duplizieren und in einen pluriorientalistischen Kreolitätsdiskurs münden, in dem sich der opiumrauchende Fakir auf dem fliegenden Teppich nicht mehr vom tabakrauchenden Brujo unterscheiden lässt.
4
Dies wird auch editorisch durch die Einbeziehung des Artikels von Jorge Chen Sham: »Las limitaciones del exotismo: el bondadoso negro en Calypso de Tatiana Lobo« (Nagy-Zekmi 2008: 111-122) mit einer thematisch afrikanistisch angelegten Diskursanalyse untermauert.
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Die afrikanistische Differenzierung drängt sich jedoch allein durch die auch der Coolitude innewohnenden dissoziativen Spannungen auf, welche die Dopplung Afrikas und Asiens problematisch machen. Für eine diskursive Positionierung innerhalb der Postkolonialen Studien zu karibischen Orientalismen wäre eine Gleichsetzung der Maafa mit der Erfahrung asiatischer Vertragsarbeiter, obwohl beide transozeanische Gemeinschaften ausgebeuteter Arbeitskräfte in traumatisierten Bewegungsnetzen bilden, besorgniserregend. Argumente, Kreolisierungstheorien durch die Fokussierung auf die traumatische Ozeanüberquerung zu ent-essentialisieren, müssten genauer überprüft werden, um nicht Gefahr zu laufen, die Bedeutung der Middle Passage in Theorien des Black Atlantic unterzubewerten, die dem Kala Pani-Tabu entsprechende afrikanische Mythen der kulturellen Auslöschung im Meer in den atlantischen Transfer und seine Diaspora-Literaturen ebenso integriert haben könnten.5 Am deutlichsten kommt die dissoziierende Dimension des Inklusionsanspruchs oriental(istisch)er Kreolisierungsmodelle in ontologischen Binnenhierarchien europäischer Kolonialdiskurse zum Vorschein. Während Vorschläge wie die Coolitude in Bezug auf afrokreolische Identitätsdiskurse einen rekonziliatorischen Grundtenor einer Globalisierungsgeschichte von unten vertreten, ignorieren sie epistemologische Klassifizierungen die in der Zeit des europäischen Kolonialimperialismus die nicht-westliche Welt entlang zivilisatorischer Linien in unterschiedliche Differenzbereiche einteilten, die auch als regimes of difference oder »agonistische Felder der Alterität« bezeichnet worden sind (Sheller 2003: 109). Hierzu weist Sara Mills speziell für den britischen Kolonialdiskurs auf einen fundamentalen Unterschied in der Repräsentation seiner kolonialen Anderen hin, welcher orientale Andere klar von afrikanischen Anderen unterschied. Während Indien und China in »Old World-Narratives« als »ancient civilisations which degenerated« kategorisiert wurden, galt Afrika als »simply barbaric« (Mills 1991: 197). Die Kulturverfallsthese alter Zivilisationen im Gegensatz zu als kulturlos konstruierten Arealen, lässt sich auch auf koloniale Narrative Altamerikas übertragen, so dass indigene Andere sich in einigen Fällen ebenfalls als zivilisationsnäher klassifizieren ließen als afrikanische. Koloniale Hierarchisierungen kultureller Differenz boten deshalb binnendiskriminatorische Diskurse, die einige koloniale Andere näher ans Zentrum rückten als andere. Diese ontologische Differenz drückte sich im 19. Jahrhundert nicht nur in der durch die eurokreolische Plantagen-Administration begünstigten
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Carter/Torabully verweisen zwar auf die Middle Passage (vgl. Carter/Torabully 2002: 38) gehen aber nicht auf mythische Dimensionen der Ozeanüberquerung der afrikanischen Diaspora ein.
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Separation zwischen chinesischen und afrikanischen Arbeitskräften in der Zuckerindustrie aus. Auch die indigenistischen Strategien im Zuge der Nationenbildung der Dominikanischen Republik im Kontext hispanokaribischer Kolonialemanzipation zogen einen zivilisatorischen Vorteil aus der Berufung auf ein amerindisches Vermächtnis und der Abgrenzung vom afrikanischen Erbe und dem Nachbarstaat Haiti (vgl. Gewecke 1988: 135; Sheller 2003: 138). Essentialisierende und homogenisierende Vergleiche zwischen indischen und afrikanischen KreolInnen gehörten zur Selbstaffirmation europäischer Kolonialprojekte und verstärkten Distinktionsmerkmale zwischen beiden Gesellschaftsbereichen. Sie waren in Kulturdiskursen karibischer US-Politik des 20. Jahrhunderts präsent (vgl. Sheller 2003: 139) und perpetuieren sich als Teil kolonialer Deutungshoheiten in den globalisierten Massenmedien auch noch bis ins 21. Jahrhundert hinein, wie beispielsweise in audiovisuellen Produktionen populärer Kulturindustrien wie dem kommerziellen Hindi-Film (vgl. Nair 1991; Johar 2011).6 Für die Kreolisierungsprozesse der Karibik sind kulturalistische Gefälle zwischen der afrikanischen, indischen, der chinesischen und anderer asiatischer bzw. orientaler Diaspora-Gemeinschaften bisher weitgehend unerforscht geblieben (vgl. Sheller 2003: 125). Gleichwohl gibt es für das British Empire einzelne Ansätze wie May Josephs Nomadic Identities (1999), die eine »hybrid AfroIndo-Arab culture« postulieren, welche zur Emergenz antikolonialer Bewegungen und Formen subalterner Handlungsfähigkeit in der Karibik und im Indischen Ozean beigetragen hätte (vgl. Sheller 2003: 126).
L ITERATUR Benítez Rojo, Antonio (2010): Archivo de los pueblos del mar, San Juan, Puerto Rico: Ediciones Callejón. — (1996): The repeating island. The Caribbean and the postmodern perspective, Durham: Duke University Press. Bragard, Véronique (2008): Transoceanic Dialogues: Coolitude in Caribbean and Indian Ocean Literatures, Brüssel: Peter Lang.
6
Vgl. die umstrittene Georgia-Szene in My Name is Khan (2010). Nair setzte in Mississippi Masala (1991) Konflikte zwischen indischen Einwanderern und US-Nachfahren der afrikanischen Diaspora im Bundesstaat Mississippi in Szene, die auf Distinktionsbestrebungen der indischen Diaspora beruhen und von rassistischer Diskriminierung ›nach unten‹ geprägt seien.
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Kreolisierung meets Coolitude? Die literarische habla bozal und habla de chino im Kontext der Debatte um die Kreolisierung des Spanischen in der Karibik
S ILKE J ANSEN
»Que cosita tan lindo! ¡Ah!.... Que cosa tan güeno so eso!.... Yo tiene la pecho premío pur nelle…. yo tá namoráa…. yo va vé si nelle quié só mugé mía pur langresia… yo só congo y trabajaore…. yo pué casá cunelle.« (Francisco Fernández 1868: 9f.)
Auch ohne die Selbstidentifikation als negro congo hätte ein zeitgenössischer Zuschauer José, den Protagonisten aus Francisco Fernández’ Stück Los negros catedráticos, wohl anhand seiner Sprache sofort als einen in Afrika geborenen Sklaven identifiziert. Der negro congo (auch: negro bozal) und der chinesische Kontraktarbeiter waren dabei nur zwei von zahlreichen ethnischen Figuren, die das kubanische Volkstheater des 19. Jahrhunderts bevölkerten und durch ihr deformiertes Spanisch charakterisiert wurden. Unter einer sprachwissenschaftlichen Perspektive sind solche Bühnenvarietäten v.a. deswegen interessant, weil sie ein Schlaglicht auf ein zentrales Kapitel der spanischen Sprachgeschichte in der Karibik zu werfen scheinen, das bisher noch weitgehend im Dunkeln liegt: die Frage nach dem Kontakt zwischen dem Spanischen und den Ausgangssprachen der verschiedenen ethnischen Gruppen im Kuba des 19. Jahrhunderts, und das Problem einer möglichen Kreolisierung des Spanischen im Kontext der Plantagenwirtschaft. Anliegen des vorliegenden Beitrags ist es, die Legitimität von linguistischen Analysen zu hinterfragen, die auf der Grundlage literarischer Darstellungen der habla de negro und habla de chino den historischen
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Sprachkontakt im karibischen Raum rekonstruieren wollen. Besonderes Augenmerk soll dabei auf das Spannungsverhältnis zwischen Mimesis und Stilisierung bei der literarischen Darstellung soziolektaler Variation gelegt werden.
L ITERARISCHE D ARSTELLUNGEN
DER
HABLA DE NEGRO UND HABLA DE CHINO Die Darstellung von Schwarzafrikanern in der europäischen Literatur geht auf die Anfänge der iberisch-afrikanischen Kulturkontakte zurück: Erste Belege der habla de negro finden sich bereits Mitte des 15. Jahrhunderts in der portugiesischen Lyrik, wobei als frühester Text ein Gedicht von Fernam de Silveira gilt (vermutlich 1455; vgl. Lipski 2005: 52). Anfang des 16. Jahrhunderts bringt Gil Vicente den afrikanischen Sklaven als komische Figur auf die Bühne und trägt durch sein zweisprachiges Werk dazu bei, dass sich die habla de negro auch im spanischsprachigen Theater etabliert. Ihren vorläufigen Höhepunkt feiert die Darstellung afrikanischer und anderer exotischer Charaktere im Theater des Siglo de Oro, wo namhafte Autoren wie Sánchez de Badajoz, Lope de Rueda, Simón de Aguado, Lope de Vega und Calderón de la Barca die Figur des negro zu einem Topos ausgestalten, dessen groteske Komik sich in weiten Teilen aus seiner deformierten Sprache speist. Aus Hispanoamerika sind Imitationen der Sprechweise von Afrikanern seit dem 16. Jahrhundert bekannt, wo sie v.a. in volkstümlichen literarischen Formen erscheinen. Das bei weitem umfangreichste Korpus zur habla bozal in Amerika entsteht jedoch im 19. Jahrhundert in Kuba, als nach dem Zusammenbruch der französischen Kolonie Saint Domingue massenhaft afrikanische Sklaven importiert werden. Neben der Lyrik ist dabei v.a. das komisch-kostumbristische Volkstheater (teatro bufo) ein bevorzugter Ort für die Inszenierung afrikanischer Charaktere: der ungelenke negro congo und sein nicht weniger groteskes Pendant, der negro catedrático, dürfen in fast keinem Stück fehlen, wobei beide Typen nicht nur durch ihre Plumpheit bzw. die misslungene Zurschaustellung von Kultiviertheit, sondern auch über ihre eigentümliche Sprache der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Neben dem volkstümlichen Theater finden sich Imitationen der Varietäten der afrikanischen Sklaven auch in der kostrumbristischen Prosa, in Liedern sowie in religiösen Texten. Im Gegensatz zum Afrikaner gehört der Chinese nicht zum klassischen Figurenrepertoire des spanischsprachigen Theaters, sondern betritt erst Mitte des 19. Jahrhunderts in Kuba die Bühne. Da der Import von afrikanischen Sklaven den kubanischen Eliten aufgrund der Ereignisse in Haiti und anderen Sklaven-
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aufständen zunehmend unheimlich wurde, holte man ab 1844 Tausende von Asiaten als Kontraktarbeiter (sogenannte culíes) auf die Insel, so dass die Figur des Chinesen im sozialen Panorama der späten Kolonialgesellschaft eigene Konturen gewinnen konnte. Ähnlich wie dem negro bozal und anderen ethnischen Figuren wird auch dem chino im teatro bufo ein deformiertes Spanisch in den Mund gelegt und zur sozialen Charakterisierung sowie als Mittel der Komik eingesetzt. Daneben finden sich sporadische Darstellungen der habla de chino auch in kostumbristischen Werken und der oralen Volksliteratur jener Zeit. Allerdings bleibt der chinesische Kontraktarbeiter im Vergleich zum afrikanischen Sklaven eine Randfigur, so dass das Korpus der habla de chino in seinem Umfang weit hinter dem bozal-Korpus zurückbleibt.
S PRACHWISSENSCHAFTLICHE P ERSPEKTIVEN
AUF DIE
HABLA DE NEGRO UND HABLA DE CHINO Für die hispanistische Sprachwissenschaft sind die literarischen Darstellungen der habla de negro und habla de chino insofern wertvoll, als die afrikanischen Sklaven und die chinesischen Kontraktarbeiter keinerlei direkte sprachliche Zeugnisse hinterlassen haben und die Bühnenvarietäten damit die einzig verfügbaren Quellen für die Untersuchung des afrikanisch-spanischen und chinesischspanischen Sprachkontaktes in Kuba im 19. Jahrhundert darstellen. Insbesondere der Kontakt mit den afrikanischen Sprachen besitzt für die Geschichte des Spanischen in der Karibik einige Relevanz, denn die Frage, weshalb sich das Spanische im Gegensatz zum Französischen und Englischen auf den Antillen nicht kreolisiert hat, gehört zu den bisher ungelösten Problemen der Kreolistik. Man könnte daher annehmen, dass es sich bei der habla bozal um ein altes Plantagenkreol handeln, das nach der Abschaffung der Sklaverei allmählich im Spanischen aufgegangen ist: »¿Será el bozal un habla criolla […]? […] en los primeros siglos de importación de negros esclavos en Cuba (XVI-XVII) se daban las condiciones para que existiese un habla criolla, pues las diversas lenguas africanas habladas por los núcleos de esclavos no fueron sustituidas inmediatamente por el español, por lo que debió existir un período intermedio de ›criollización‹ de la ›lingua franca‹, el español, seguido de otro ›descriollización‹, dentro del marco de la población de procedencia africana.« (Valdés Bernal 1978: 86f.)
Die Hypothese, nach der sich das Spanische unter den afrikanischen Sklaven in der Karibik kreolisiert hat, wird von einigen Spezialisten auf dem Gebiet des
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Sprachkontaktes in Hispanoamerika vertreten, darunter z.B. de Granda, Perl, Otheguy, Megenney und Schwegler (vgl. auch den Überblick in Jansen 2006: 116ff.). Vorsichtigere Stimmen sprechen dagegen nicht von einem kreolisierten, sondern von einem restrukturierten, semikreolischen bzw. »kreoloiden« Spanisch (vgl. auch Lipski 1999: 215). Als »kreoloide« Merkmale gelten dabei in den meisten Studien die Verwendung invarianter Verbformen in Kombination mit präverbalen TMA-Markern und obligatorischen Subjektpersonalpronomina (tu ta queré, yo ta cuchá, yo va vé), die doppelte Verneinung (yo no so pobre, no) sowie die Aufgabe der morphologischen Genus- und Numerusunterscheidung (z.B. elle/nelle als invariantes Pronomen für das maskuline und feminine Genus, vgl. Lipski 2005: 292ff.). Lipski, der die in jüngerer Zeit umfangreichste Monographie zu afroiberischen Kontaktvarietäten vorgelegt hat, bejaht den »kreoloiden« Charakter der habla de negro, wertet diesen jedoch nicht als Indiz für eine frühere Kreolisierung des Spanischen, sondern führt die fraglichen Merkmale auf Diffusionsprozesse von verschiedenen Kreolsprachen im karibischen Raum ins Spanische zurück (»creole-to-creole contact«, vgl. insbesondere Lipski 2005: 301ff.). Im Gegensatz zur habla de negro ist die habla de chino bisher nur sporadisch untersucht worden – wahrscheinlich nicht nur deswegen, weil die Beeinflussung des karibischen Spanisch durch das Chinesische ein im Vergleich zum jahrhundertelangen afro-iberischen Sprachkontakt eher marginales Phänomen darstellt, sondern auch, weil das literarische Korpus zur Sprache der culíes deutlich kleiner ausfällt und zudem schwerer zugänglich ist als die bozal-Texte.1 Die Arbeiten zu den Varietäten der chinesischen Kontraktarbeiter im Kuba des 19. Jahrhunderts lassen sich an einer Hand abzählen und beschränken sich weitgehend darauf, die Glaubwürdigkeit der literarischen Darstellungen zu überprüfen, indem die Bühnenvarietäten mit aktuellen Sprachdaten zu spanischen Lernervarietäten von Personen mit chinesischer Muttersprache kontrastiert werden (vgl. v.a. Figueroa Arencibia 2007; Lipski 1999: 220f., Valdés Bernal 2000). Wenn mögliche Einflüsse des Chinesischen auf das kubanische Spanisch überhaupt diskutiert werden, dann v.a. im Bezug auf die Lexik und das Stereotyp des Chinesen in der kubanisch-spanischen Phraseologie (vgl. Valdés Bernal 2000: 66ff.; Varela 1980: 31ff.). Nur ein einziger Beitrag (Walicek 2007) setzt sich mit den soziokulturellen Rahmenbedingungen des Sprachkontaktes auseinander. Allein Lipski sieht in der Sprache der culíes einen Faktor, der das Spanische in Kuba nachhaltig geprägt haben könnte, wenn auch indirekt über den Umweg
1
So liegt keines der Stücke des teatro bufo, in denen laut Valdés Bernal (2000: 62f.) Chinesen auftreten, in einer modernen Edition vor.
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der habla bozal. Ausgehend von den literarischen Belegen attestiert er der habla de chino ebenfalls einen »kreoloiden« Charakter, der sich z.T. aus den typologischen Merkmalen des Kantonesischen erklären lasse (darunter v.a. das Fehlen morphologischer Markierungen für Person, Numerus und Genus, vgl. Lipski 1998: 123; 1999: 220f.). Die Ausbildung dieser Merkmale sei zudem durch den direkten Kontakt mit einer ibero-asiatischen Kreolsprache, dem portugiesisch basierten Macao-Kreol, begünstigt worden. Da die portugiesische Kolonie Macao eine zentrale Rolle für den Transport der Chinesen spielte, sei anzunehmen, dass mit den Kontraktarbeitern auch das Macao-Kreol nach Kuba gelangte, wo es durch den engen Kontakt zwischen den culíes und den afrikanischen Sklaven auf den Zuckerrohrplantagen auch in die habla bozal einfließen konnte: »[…] if it can be demonstrated that Chinese workers in Cuba brought with them, at least some fragments of Macao creole Portuguese, and added it to the linguistic mix in which bozal Spanish was formed in the Caribbean, this provides yet another route of entry of certain creoloid constructions in attestations of Afro-Cuban Spanish.« (Lipski 2005a: 109; vgl. Lipski 1998: 120ff; 1999: 222)
Ein Indiz dafür sei neben den oben genannten »kreoloiden« Merkmalen die übereinstimmende Verwendung von ta + VINF als Marker für den kontinuativen Aspekt im Macao-Kreol, in der habla de chino und der habla bozal (vgl. Lipski 1998: 123ff.; 1999. 225). Die habla de chino gebe der Linguistik daher ebenso wie die habla de negro Anlass, Diffusionsprozesse als Ursache struktureller Konvergenzen zwischen Kreolsprachen und »kreoloiden« Varietäten stärker in den Blick zu nehmen (vgl. auch Lipski 2005a: 301ff.). Die spärliche Dokumentationslage über den spanisch-chinesischen Sprachkontakt erschwert eine kritische Auseinandersetzung mit Lipskis Thesen. Allerdings sprechen die wenigen Quellen, in denen die Lebens- und Arbeitsbedingungen der culíes aus erster Hand dokumentiert sind, eher gegen einen Einfluss des Macao-Kreol auf die habla bozal: In seiner Analyse des 1874 Cuba Commission Report kommt Walicek zu dem Schluss, dass sich die über Macao ausgeschifften culíes nur kurze Zeit in der portugiesischen Kolonie aufhielten, kaum Kontakt zu Sprechern des Kreols hatten und dieses wohl nur in vereinzelten Fällen erwarben (vgl. Walicek 2007: 307f.). Auch auf den kubanischen Plantagen blieben die Chinesen weitgehend unter sich und interagierten kaum mit den afrikanischen Sklaven, so dass nicht von einer nennenswerten gegenseitigen Beeinflussung der habla bozal und der habla de chino ausgegangen werden könne:
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»[…] sinocentrism among migrants, their physical separation from blacks, and the association of bozales with slavery (and white skin color with freedom), make it unlikely that the Chinese had the type of linguistic interactions with newly arrived Africans that would lead them to ›target‹ or be directly influenced by habla bozal.« (Walicek 2007: 317)
Die Unvereinbarkeit der Thesen von Lipski und Walicek lädt dazu ein, das Problem einmal von einer anderen Seite anzugehen. Unabhängig davon, wie sie sich zur Frage der Kreolisierung und des »creole-to-creole contact« positionieren, ist den Arbeiten zu den Varietäten der Afrikaner und Chinesen gemein, dass sie die literarischen Texte weitgehend als linguistische Primärquellen lesen und dabei die Rolle der literarischen Überformung und der sprachideologischen Bewertung von ethnischen Varietäten (wenn überhaupt) nur am Rande problematisieren.2 Wir wollen daher im Folgenden die Frage diskutieren, ob und unter welchen Voraussetzungen literarische Texte überhaupt als Quellen für die Rekonstruktion der Sprachkontakte im karibischen Raum geeignet sind. Dafür ziehen wir zwei Begrifflichkeiten aus der Soziolinguistik heran, die es unserer Ansicht nach erlauben, das Verhältnis von Authentizität und literarischer Überformung theoriegeleitet zu reflektieren und terminologisch zu fassen: den Begriff des primären und sekundären Ethnolektes und den Begriff der sozialen Indexikalität sprachlicher Variation.
S OZIOLINGUISTISCHE V ARIATION S TILISIERUNG
UND MEDIALE
Der Begriff des Ethnolekts Historische Einzelsprachen variieren entlang vielfältiger Dimensionen – im Raum ebenso wie in der Zeit oder zwischen verschiedenen sozialen Gruppen. In mehrsprachigen Gesellschaften kann sich soziale Variation u.a. in der Existenz ethnisch markierter Varietäten, so genannter Ethnolekte, niederschlagen, deren strukturelle Eigenschaften meist auf Sprachkontakt zurückgehen. Ein aktuelles Beispiel für eine Ethnolekt ist der so genannte Türkenslang (auch: Kiezdeutsch oder Kanak-Sprak), der von Einwanderern der zweiten und dritten Generation in
2
Die einzige Ausnahme bildet Perl (1989: 19), der in seiner Untersuchung der habla bozal literarische Texte explizit als linguistische Quellen zurückweist und ausschließlich mit Belegen in Form von oraler Literatur arbeitet, vornehmlich aus dem Werk von Lydia Cabrera.
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deutschen Großstädten gesprochen wird und u.a. Transfererscheinungen aus dem Türkischen zeigt (vgl. z.B. Auer 2004). Bezogen auf den kubanischen Kontext des 19. Jahrhunderts können wir auch die Sprache der Afrikaner und der Chinesen als Ethnolekte bezeichnen, da es sich ja um Varietäten handelt, deren Verwendung mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe korreliert. Ähnlich wie die historischen Ethnolekte im kolonialen Kuba ist auch das moderne Kiezdeutsch Gegenstand medialer Stilisierung geworden, u.a. in der so genannten Ethnocomedy, wo Komiker wie Kanar Yanar ihren Figuren eine deformierte Sprache in den Mund legen, die – so geht es aus einer Reihe von Studien aus der Germanistik hervor (vgl. Auer 2004, Androutsopoulos 2010) – zwar in hohem Maße Anleihen an den authentischen Ethnolekt macht, diesen aber keineswegs mimetisch abbildet. Vielmehr greifen die Medienmacher einige wenige Merkmale heraus, die als besonders charakteristisch für die Sprache der Einwanderer wahrgenommen werden (darunter v.a. die Koronalisierung des ichLautes; ich isch). Gleichzeitig enthalten die medialen Darstellungen auch Elemente aus dem standardfernen Deutschen, die nicht auf den Ethnolekt beschränkt sind, ebenso wie frei erfundene Merkmale. Der mediale Ethnolekt ist also gleichzeitig enger und weiter als der ursprüngliche – ein Phänomen, das Androutsopoulos (vgl. 2010: 198f.) als doppelte Verzerrung (double distortion) bezeichnet. Unter einer strukturellen Perspektive handelt es sich also beim authentischen Türkenslang und seiner Darstellung in der Literatur um zwei ähnliche, aber keineswegs identische Varietäten des Deutschen, was Auer (vgl. 2004: 214ff.) dazu veranlasst, terminologisch zwischen dem so genannten primären Ethnolekt (d.h., den authentischen deutschen Migrantensoziolekten bzw. den Varietäten der Afrikaner und Chinesen im Kuba des 19. Jahrhunderts) und dem so genannten sekundären Ethnolekt (d.h., ihrer Stilisierung in den Medien, z.B. im Fernsehen oder Theater) zu unterscheiden. Soziale Indexikalität sprachlicher Variation Um die Veränderungen beim Übergang vom primären zum sekundären Ethnolekt zu erfassen, ist der Begriff der Indexikalität aus der linguistischen Anthropologie hilfreich. Er beschreibt das Phänomen, dass sprachliche Formen systematisch auf soziale Gruppen verweisen – einerseits unmittelbar in der sozialen Welt, andererseits aber auch insofern, als Korrelationen zwischen sprachlicher Variation und sozialen Gruppen in einer Sprachgemeinschaft wahrgenommen und diskursiv verhandelt werden:
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»[…] first-order-indexicality entails the association by social actors of a linguistic form or variety […] with some meaningful social group […], second [or higher]-order-indexicality is a meta-pragmatic concept, describing the noticing, discussion, and rationalization of first-order indexicality.« (Milroy 2004: 167)
Beim Übergang von der primären zur sekundären Ebene wird soziolinguistische Variation in ein sprachideologisches Konstrukt überführt, und es entstehen gesellschaftlich geteilte Annahmen darüber, wie sprachliche Formen mit sozialen Gruppen korrelieren. Diese können sich in metasprachlichen Diskursen niederschlagen, wie sie z.B. aktuell in verschiedenen deutschen Leitmedien über das Kiezdeutsch geführt werden, aber auch im konkreten Handeln, z.B. in der Verwendung eines Ausländerregisters in der Interaktion mit Gesprächspartnern fremdländischer Herkunft oder eben in Form von literarischen oder anderen medialen Imitationen, wie sie im kubanischen teatro bufo und in der kostumbristischen Literatur vorliegen. Wir möchten daher anregen, diese Texte nicht in erster Linie als linguistische Primärquellen zu lesen, sondern als metasprachliche Texte, in denen sich Sprachideologien über die Sprechweise ethnischer Gruppen kristallisieren. Die Verwendung sekundärer Ethnolekte in Textsorten, die von einem breiten Publikum konsumiert werden, trägt dabei ihrerseits zur Verbreitung und Festigung der Sprachideologien bei, so dass das teatro bufo als ein Ort erscheint, wo sich Sprachideologien nicht nur manifestieren, sondern gleichzeitig verhandelt und weitergetragen werden. Problematisch für die Verwendung dieser Texte in der Erforschung historischer Sprachkontakte ist dabei, dass Linguisten wie Lipski vornehmlich an sprachlichen Formen mit Indexikalität ersten Grades interessiert sind, denn sie haben ja zum Ziel, die authentischen Soziolekte der Afrikaner und Chinesen zu rekonstruieren und deren kontaktlinguistischen Status zu bestimmen. Dazu greifen sie allerdings auf Quellen zurück, deren Sprachformen stark mit sekundärer Indexikalität aufgeladen sind, so dass man ihnen – überspitzt formuliert – zum Vorwurf machen könnte, anstelle der historischen Ethnolekte lediglich die Sprachideologien der damaligen Zeit zu beschreiben. Dieser Gedanke soll im Folgenden anhand der strukturellen Charakteristika der habla bozal und der habla de chino illustriert und im Bezug auf die mögliche Kreolisierung des Spanischen auf den Antillen diskutiert werden.
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S TRUKTURELLE A NALYSE Dazu ist zunächst einmal eine Bestandsaufnahme der Merkmale notwendig, die im teatro bufo sekundäre Indexikalität im Bezug auf die Zugehörigkeit zur Gruppe der bozal-Sklaven und Chinesen tragen. Die verschiedenen literarischen Texte zeichnen dabei kein einheitliches Bild der Ethnolekte, sondern enthalten typische Merkmale in jeweils individuellen Kombinationen und sind daher strukturell im Sinne einer Familienähnlichkeit miteinander verbunden. Die Merkmale, die über die einzelnen Texte hinweg am stabilsten sind, weisen dabei den höchsten Grad an sekundärer Indexikalität auf und können als Leitmerkmale bezeichnet werden. Sie sollen im Folgenden vorgestellt und im Hinblick auf die Frage der Kreolisierung diskutiert werden. Lautliche Merkmale Zu den typischen Merkmalen der habla bozal im Kuba des 19. Jahrhunderts zählen der Ausfall von silbenschließendem /-s/ (do peso, entonce), der Ausfall von auslautendem /-r/ (casá, ganá, señó), die Neutralisierung von /r/ und /l/ (sensibremente, langresia ›la iglesia‹), der Ausfall von intervokalischem /d/ (premío, namoraa, puée), der Erhalt der anlautenden Aspiration (jasé) sowie die Verwendung von pränasalisierten Konsonanten (langresia) (vgl. auch Lipski 2005: 242f.; López Morales 1971; unsere Beispiele stammen aus Los negros catedráticos). Bis auf die pränasalisierten Konsonanten, die wahrscheinlich aus dem BantuSubstrat stammen und schon im Siglo de Oro zum sprachlichen Stereotyp des Afrikaners gehörten (vgl. Jansen 2012), sind alle diese Phänomene auch im standardfernen kubanischen Spanisch verbreitet (vgl. López Morales 1971). Unrealistische Übergeneralisierungen wie der Ausfall von /r/ in intervokalischer Position (quiée) oder die Setzung einer Aspiration in Wörtern ohne etymologisches lateinisches /f/ (jabre los ojos, joye ›oye‹) zeigen, dass hier keine mimetische Darstellung vorliegt, sondern Stereotypen inszeniert werden, wobei aus der Übertreibung natürlich ein komischer Effekt resultiert. Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass die Merkmale insgesamt nicht systematisch erscheinen, sondern sich in vielen Fällen auf einige wenige, dafür aber besonders rekurrente Elemente mit stark emblematischem Charakter beschränken. Beispielsweise erscheint pränasalisiertes /g/ ausschließlich in dem Lexem langresia, welches dafür aber mehrmals im Text verwendet wird und in ähnlicher Form auch in anderen bozal-Texten als Signalwort erscheint (vgl. z.B. engresia in Los novios
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catedráticos (1868) von Benítez del Cristo, oder ingresia in verschiedenen Texten von Creto Gangá). Herausragendes Merkmal der chinos ist dagegen die Neutralisierung der Liquidenopposition zugunsten von /l/, wie in folgender Passage aus El doctor machete (1888) von Ignacio Saragacha: »Mucha glasia, señó moreno. ¿Y dónde está lo vatelinaio? Usté pelone: yo so chino trabajaó en la zona de la cañelía del agua, aquí en Vidao. Lotro día yo cargá un pelazo cañelía y me sentía con doló en la coluna beleblá como si me hubiela paltío pol la mitá. […] Yo siño viní […] Pero yo nunca milá esa opelación. Yo no ta malo. Yo vine pa hablá con Micaela pero yo no quielo quedá aquí po que esto homble me va matá. En fin, Cupilo ploteje chino enamorao […] Yo dalía mucho peso pa ta en Cantón. Conque esa boba y nosotlo va pala calcel.« (Zit. n. Valdés Bernal 2000: 62f.)
Die Sprachideologie, nach der Asiaten kein /r/ artikulieren können und es daher durch [l] ersetzen, ist in Kuba (ebenso wie in Europa) weit verbreitet. Sie darf in keiner literarischen Darstellung des chino fehlen und stellt in der oralen Literatur oft sogar die einzige Abweichung von der spanischen Norm dar,3 so dass es sich offensichtlich um das Merkmal mit höchster sekundärer Indexikalität handelt. Da zumindest die kantonesische Varietät keine Opposition zwischen /r/ und /l/ kennt und die Neutralisierung auch in modernen spanischen Lernervarietäten von Personen mit chinesischer Ausgangssprache vorkommt (vgl. Figueroa Arencibia 2007: 191ff.), geht dieses Leitmerkmal wahrscheinlich auf die Verhältnisse im primären Ethnolekt zurück. Allerdings wird es in der Literatur oft nicht systematisch durchgehalten (vgl. das erhaltene [r] in moreno, trabajó, pero im obigen Beispiel). Rätselhaft bleibt überdies die Realisierung von span. /d/ als [l] (vgl. z.B. pelazo ›pedazo‹), die für spanische Lernervarietäten von Chinesen nicht typisch zu sein scheint (vgl. Figueroa Arencibia 2007: 193) und möglicherweise auf Interferenzen mit der Bühnenvarietät der Afrikaner zurückgeht, in der /d/ > [r] verbreitet ist.4 Auch in der habla de chino wird offensichtlich keine mimetische Abbildung des primären Ethnolektes der Chinesen angestrebt, sondern es werden einige wenige Merkmale mit hoher sekundärer Indexikalität aufgeladen und exzessiv, aber nicht immer systematisch als Leitmerkmale verwendet.
3
Vgl. z.B. das Lied Chinito, no te la lleves: »Yo soy chino lico / y quielo casalme / con la cubana mas linda / de la tiela.« (Varela 1980: 21)
4
Lipski (1998: 111; 1999: 219) postuliert hier eine Entwicklung /d/ > *[r] > [l], die allerdings insofern nicht plausibel ist, als das Chinesische ja gar kein /r/ kennt.
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Überschneidungen mit der habla de negro, darunter der Ausfall von /-s/, /-r/ und /-d-/ (vgl. mucha glasia, milá, enamorao etc.), sind auch im standardfernen kubanischen Spanisch verbreitet und scheinen im Sinne der sekundären Indexikalität v.a. dazu zu dienen, den chinesischen Kontraktarbeiter als folkloristische Figur in Szene zu setzen. Es scheint uns hier nicht notwendig, diese Phänomene auf die Silbenstruktur des Chinesischen zurückzuführen, wie es in der Literatur bisweilen versucht wird (vgl. Lipski 1998: 112f.; 1999: 219-29; Figueroa Arencibia 2007: 194). Allgemeine Merkmale der Morphosyntax Im Bezug auf die Problematik der kreoloiden Merkmale ist v.a. die Morphosyntax der ethnischen Bühnenvarietäten von Interesse. Hier zeigen die habla bozal und die habla de chino zahlreiche Übereinstimmungen in ihren Abweichungen von der spanischen Norm: Tabelle 1: Morphosyntaktische Besonderheiten der Bühnenvarietäten Merkmal5
habla bozal
habla de chino
qué cosita tan lindo, la pecho, mucho leña
la sillón, mucho casa glande, otlo gente
yo quiée, yo va, yo toma, esto que te disí yo
yo nunca milá, yo no ta malo, chino son pobre
Elision von Artikeln
yo va viní con caravela, tu va tá como reina,
to gente, yo tlae to pa mujé mía
Elision von Präpositionen
maetra la cuela, la farola la Morro
pelazo cañelía, como mi tiela
fehlende Genuskonkordanz fehlende Verbalflexion
Ähnliche Normabweichungen sind auch aus L2-Varietäten bekannt. Allerdings werden hier offensichtlich nicht einfach Varietäten von Nichtmuttersprachlern abgebildet, denn unter einer kontaktlinguistischen Perspektive ist die Darstellung
5
Wir beschränken uns hier auf die Merkmale, die Lipski (1998: 123; 2005: 300) als »kreoloid« bezeichnet. Die Beispiele für die habla bozal stammen auch hier aus Los negros catedráticos, die Beispiele für die habla de chino aus Valdés Bernal 2000 und Lipski 1998.
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alles andere als konsistent: So verwendet José, der negro congo aus Los negros catedráticos, im Präsens zwar überwiegend unveränderliche Verbformen der 3SG oder Infinitive, beherrscht gleichzeitig jedoch sowohl den subjuntivo (que me lo prueba Juan, pa que se jaga) als auch die unregelmäßigen Formen des indefinido (se cayó la vaya). Ähnliches gilt für die oben zitierte Passage in der habla de chino aus El doctor machete, wo Formen wie sentía, vine, dalía ›daría‹ neben nosotlo va, yo cargá u.ä. gebraucht werden. Auch hier werden also einige wenige Eigenheiten des primären Ethnolektes zu Leitmerkmalen stilisiert, die dann emblematisch den fremdländischen Hintergrund der Figuren markieren. Ein Vergleich mit dem so genannten foreigner talk, einem vereinfachten Register für die Kommunikation mit Nichtmuttersprachlern, das in weiten Teilen von populären Annahmen über die Sprechweise ausländischer Personen geprägt ist, illustriert den sprachideologischen Hintergrund dieser Auswahl. Die stereotype Vorstellung, nach der sich nichtmuttersprachliche Varietäten durch die Abwesenheit der Flexionsmorphologie (und z.T. anderer grammatischer Marker) auszeichnen, existiert in zahlreichen europäischen Sprachen (vgl. z.B. Müller 2000: 226), wobei die frühesten Belege dieser Sprachideologie sogar bis ins Mittelalter zurückreichen (vgl. Lipski 2005b). Für das koloniale Kuba liegt mit der Explicación de la doctrina cristiana acomodada a la capacidad de los negros bozales sogar ein Dokument vor, in dem laienlinguistische Vorstellungen über die Sprechweise der afrikanischen Sklaven explizit thematisiert werden: »Para que entiendan es menester […] cuanto se pudiere acomodarse á hablarles [a los bozales] en aquel lenguage de que usan ellos sin casos, sin tiempos, sin conjunciones, sin concordancias, sin órden á lo que se reduce todo lo que se hallará en este cuadernito.« (Duque de Estrada 1818: 24)
Ein Jahrhundert später charakterisiert der kubanische Lexikologe Esteban Pichardo die Sprache der bozales in ähnlicher Weise als »Castellano desfigurado, chapurrado, sin concordancia, número, declinación ni conjugación« (Pichardo 1875: x). Diese metasprachlichen Aussagen mögen durchaus einen wahren Kern besitzen, denn die Verwendung invarianter Verbformen und syntagmatische Konkordanzverstöße sind aus der Lernersprachenforschung hinreichend bekannt und scheinen sogar weitgehend unabhängig von den typologischen Eigenschaften der Ausgangssprache aufzutreten (vgl. z.B. die wegweisende Untersuchung von Klein/Perdue 1997 zu frühen Lernervarietäten). Es ist daher denkbar, dass sie auch die Sprache bozales und der chinesischen Kontraktarbeiter auszeichneten, denn diese gelangten ja erst als Erwachsene auf die Antillen und erwarben dort das Spanische als Zweitsprache. Die weite
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Verbreitung dieser Merkmale in L2-Varietäten und ihre zentrale Rolle in gängigen Sprachideologien verbietet es jedoch, von ihrer Existenz auf eine frühe Kreolisierung des Spanischen oder seine Beeinflussung durch das Macao-Kreol zu schließen, zumal sich die Konvergenzen zwischen der habla bozal und der habla de chino weitgehend auf die Abwesenheit bestimmter grammatischer Marker beschränken. Die Konstruktion ta + V INF Die einzige Ausnahme bildet laut Lipski die Konstruktion ta + VINF, »the most creoloid of all bozal features and the one that links some Afro-Cuban texts to a wider Afro-Iberian creole lineage« (Lipski 2005: 151). Allerdings ist die Aphärese der Anlautsilbe bei den Formen von estar in standardfernen Varietäten des kubanischen Spanisch weit verbreitet (vgl. Ortiz López 1998: 83ff., besonders 84), und die Verwendung von ta für unterschiedliche Personen des Paradigmas reiht sich in die zahlreichen Fälle von Übergeneralisierung der Form der 3SG in den Texten ein. Sollte ta + VINF in den primären Ethnolekt existiert haben, so könnte dies auch auf die allgemeine Tendenz zur Verwendung invarianter Verbformen zurückgehen, möglicherweis in Analogie zu der Periphrase va (a) + VINF, die in den bozal-Texten ausgesprochen häufig vorkommt. Vor diesem Hintergrund mag ta + VINF in den primären Ethnolekten existiert haben, allerdings wäre hier ein polygenetischer Ursprung denkbar. Unabhängig von ihrer Herkunft scheint die Konstruktion ta + VINF Bestandteil einer möglicherweise schon recht alten Sprachideologie über die spanischen Varietäten der afrikanischen Sklaven zu sein, denn laut Ortiz López (1998: 87f.) zeichnet sie auch die spanischen Varietäten aus, die von Adepten afrokubanischer Kulte verwendet werden, wenn die bozales der Kolonialzeit bei der rituellen Ekstase von ihnen Besitz ergreifen.
F AZIT Das Theater ist ein Ort, an dem gesellschaftlich geteilte Annahmen über die Beziehungen zwischen sozialer Organisation und sprachlicher Variation verhandelt werden, u.a. dann, wenn Autoren ethnische Varietäten imitieren, um ihre Figuren zu charakterisieren. Die sekundären Ethnolekte im kubanischen teatro bufo dürfen daher nicht als authentische Abbildungen historischer Soziolekte gelesen werden: mediale Stilisierungen ethnischer Varietäten sind einer doppelten Verzerrung (double distortion) unterworfen, die dazu führt, dass die zu ihrer Gestaltung eingesetzten sprachlichen Leitmerkmale einerseits nur eine Auswahl
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der Eigenschaften des primären Ethnolektes darstellen, andererseits aber auch über diesen hinausweisen, indem z.B. Anleihen bei unterschiedlichen Sprachideologien gemacht werden. Im Gegensatz zur Dekreolisierung, bei der Sprecher durch strukturelle Mimikry die gefühlte Fremdartigkeit ihrer Varietät zu verringern suchen (vgl. Stewart 1989), verwenden die Autoren im kubanischen Volkstheater für die Gestaltung exotischer Figuren bewusst Merkmale, die im Sprachbewusstsein des Publikums sprachliches Unvermögen und die Zugehörigkeit zur Gruppe der Anderen indizieren. Die Ähnlichkeiten der sprachideologischen Inszenierungen mit Kreolsprachen erklären sich durch den gemeinsamen Ursprung von Kreolsprachen und Ideologien über Lernervarietäten im Sprachkontakt und können nicht als Beweis für eine frühere Kreolisierung oder eine Beeinflussung der Ethnolekte durch Kreolsprachen herangezogen werden, zumal wenn soziokulturelle Faktoren gegen Varietätenkontakt sprechen (vgl. Walicek 2007). Die literarischen Darstellungen der habla bozal und habla de chino sind damit in erster Linie metasprachliche Texte, in denen die Sprachideologien der damaligen Zeit in Szene gesetzt werden. Auch diese sind ein lohnender Forschungsgegenstand für die Sprachwissenschaft – die Frage der Kreolisierung bleibt davon allerdings unberührt.
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Kreolisierung und Hybridisierung K ATRIN M UTZ
»Es gibt keine völlig ungemischte Sprache« (Hugo Schuchardt)
1. E INLEITUNG Während die Kreolsprachen und ihre Strukturen, die Kreolgenese und der Prozess der Kreolisierung spätestens seit den Arbeiten von Hugo Schuchard systematisch (sprachwissenschaftlich) erforscht werden, sind die so genannten hybriden Varietäten und deren Entstehen (Hybridisierung) erst seit den letzten Jahrzehnten Forschungsobjekt der Linguistik. Dies ist natürlich nicht zuletzt darin begründet, dass Varietäten, wie z.B. das Nouchi der Elfenbeinküste oder das Camfranglais in Kamerun, die als hybride Varietäten (bzw. hybride Sprachen) gelten, erst in den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Vergleicht man Definitionen von sprachlicher Hybridität/Hybridisierung mit denjenigen von Kreolität/Kreolisierung, so stellt man z.T. große Übereinstimmungen bezüglich der jeweiligen Charakterisierungen fest (vgl. Abschnitt 2). Mit diesem Artikel wird der Versuch unternommen, anhand der Gegenüberstellung französischer hybrider Varietäten und französisch-basierter Kreolsprachen, das Phänomen der sprachlichen Hybridität/Hybridisierung von demjenigen der sprachlichen Kreolität/Kreolisierung abzugrenzen. Es werden anhand eines Vergleichs der jeweiligen Genese(kontexte) (vgl. Abschnitt 3) sowie einiger ausgewählter sprachlicher Strukturen (vgl. Abschnitt 4) Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten zwischen hybriden (französischen) Varietäten (am Beispiel des Camfranglais und des Nouchi) und (französischbasierten) Kreolsprachen (vor allem aus dem karibischen Raum) herausgearbeitet. In Abschnitt 5 wird, in Anlehnung an Gugenberger (2010), eine Modellierung vorgeschlagen, die
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unterschiedliche Sprachmischungsphänomene, abhängig u.a. vom Grad der internen Variation und vom Grad der grammatischen Entferntheit zum Französischen, als ein Kontinuum darstellt und zwischen sichtbarer, lexikalischer und unsichtbarer, grammatischer Hybridität unterscheidet. Um die Kreolisierung und das Produkt der Kreolisierung, die Kreolsprachen, in ihrer Eigentümlichkeit und Spezifizität besser erfassen zu können, ist es wichtig, sie von verwandten und ähnlichen Geneseprozessen und deren Produkten abzugrenzen, daher in diesem Beitrag die Gegenüberstellung mit den hybriden Varietäten und deren Schöpfungsprozess, von denen Chaudenson (2002: 27) sagt, dass »elles ne sont pas sans homologies, sociolinguistiques et linguistiques, avec la créolisation.«
2. K REOLISIERUNG UND H YBRIDISIERUNG IN DER F ORSCHUNG Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive versteht man unter Kreolisierung die Entstehung und den Herausbildungsprozess von Kreolsprachen. Bei der Herausbildung der Kreolsprachen handelt es sich um einen komplexen Prozess, der in unzähligen Arbeiten der Kreolistik vor dem Hintergrund unterschiedlicher Theorien (vgl. Abschnitt 3) beschrieben und erforscht worden ist. Während der Terminus der Kreolisierung ein fest in der Forschung etablierter, wenngleich gerade in den letzten Jahren hinsichtlich seines Referenzrahmens vieldiskutierter Begriff ist, ist der Begriff der sprachlichen Hybridisierung bzw. Hybridität weniger gefestigt und weist eine größere Bandbreite von unterschiedlichen Definitionen aus. Hybridisierung meint zunächst natürlich, parallel zu dem Kreolisierungsbegriff, den Entstehungsprozess von hybriden Varietäten/Sprachen. Der ursprünglich aus einem naturwissenschaftlichen Kontext stammende Begriff der Hybridität (bzw. der Hybridisierung) wird in den letzten Jahren auch in geisteswissenschaftlichen Domänen verwandt, so z.B. in soziokulturellen Diskursen; er meint grundsätzlich die gemischte Wesensart einer Entität z, die aus der Vermischung von mindestens zwei zuvor getrennten Systemen x und y entstanden ist, wobei z Eigenschaften von x und Eigenschaften von y trägt sowie Eigenschaften besitzt, die weder x noch y aufweisen. Varietäten wie das Nouchi (Elfenbeinküste) oder das Camfranglais (Kamerun) gelten als hybrid, da ihr Lexikon anteilig aus Lexemen der in der jeweiligen multilingualen Gesellschaft vorkommenden Kontaktsprachen zusammengesetzt ist sowie Neubildungen aufweist, die in keiner der Kontaktsprachen zu finden sind (vgl. Abschnitt 4.1.);
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das Camfranglais-Lexikon beispielsweise (wie der morphologisch hybride durch Wortkreuzung entstandene Name der Varietät selbst anzeigt) setzt sich aus Anteilen kamerunesischer Sprachen, dem (Pidgin-)Englischen und dem Französischen zusammen. Die grammatischen Strukturen der hybriden Varietäten (vgl. Abschnitt 4.2.) gehen primär auf nur eine der Kontaktsprachen zurück (in dem Falle der hier betrachteten Varietäten, auf das Französische), jedoch treten auch in dieser Domäne Einflüsse der anderen beteiligten Kontaktsprachen zu Tage, wenn auch – im Verhältnis zu den Kreolsprachen – in geringerem Maße. In Analogie zu biologischen Hybriditätserscheinungen unterscheidet Whinnom (1971) eine primäre sprachliche Hybridisierung, worunter er die Ausdifferenzierung einer Sprache in mehrere neue Sprachen versteht (z.B. die Ausdifferenzierung des Lateinischen in mehrere romanische Sprachen): »I would suggest that the bulk of linguistic phenomena of hybridization [...] should be regarded as cases of primary hybridization, on the same level as ordinary dialectal fragmentation [...]« (Whinnom 1971: 110). Als sekundäre Hybridisierung definiert er »all language-switching constitutes secondary hybridization [...] and that [...] this is also the phenomenon associated with ›bilinugalism‹ and the geographical superimposition of languages [...]« (ebd.). Er führt schließlich noch den Begriff der tertiären Hybridisierung ein, der keine Parallele in der Biologie findet, und der den Prozess der Entstehung von Pidgins und (indirekt) von Kreolsprachen bezeichnet: »[...] the puzzle of the pidgins may be solved if we accept that they are tertiary languages, linked to the primary languages by secondary languages [...]. A creole, despite its mixed inheritance [...] must be regarded as a primary language: the hybrid has become a newspecies.« (Whinnom 1971: 110)
Auch Bailey/Maroldt (1977: 21) verstehen Kreolisierung als das (indirekte) Ergebnis eines Hybridisierungsprozesses: »By creolisation, the authors wish to indicate gradient mixture of two or more languages; in a narrow sense, a creole is the result of mixing which is substantial enough to result in a new system, a system that is separate from its antecedent parent systems.«
Es wird hier zwar nicht der Terminus ›hybridization‹ verwandt, sondern es ist von »mixing« die Rede, die vorliegende Definition von Kreolisierung ähnelt allerdings sehr stark der Definition von Hybridisierung bei Gugenberger:
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»Im Konzept der sprachlichen Hybridität, wie ich es auffasse, kann also das gesamte Spektrum an Sprachgrenzen überschreitenden Phänomenen integriert werden [...] Der Hybridisierungsgrad steigt, umso mehr sich die Sprechweise dem Mittelpunkt des Kontinuums annähert. Im Zentrum liegen Modi, in denen die Grenzen zwischen den Sprachen aufgehoben sind und keine der beteiligten Sprachen mehr als Basissprache identifizierbar ist.« (Gugenberger 2010: 68f., Herv. K.M.)
Gugenberger bezieht die Kreolisierung und das Produkt der Kreolisierung, die Kreolsprachen, explizit in ihr weites Hybriditätsverständnis mit ein (vgl. ebd.), wenngleich sie die Pidginisierung und Kreolisierung (in Anlehnung an Whinnom 1971) als einen spezifischen Fall von Hybridisierung ansieht: »Fused lects, mixed languages und auch Kreolsprachen sind das Ergebnis fortgeschrittener Hybridisierungsprozesse, wobei die genaue Relation zwischen ihnen nicht endgültig geklärt ist [...] Im Hinblick auf die Relation zwischen den Begriffen Hybridisierung und Kreolisierung soll hier betont werden, dass sie m. E. nicht gleichzusetzen sind, vielmehr sind Pidginisierung und Kreolisierung als spezifische Arten von sprachlicher Hybridisierung zu sehen«. (Gugenberger 2009:267)
Dem weiten, Kreolisierung einschließenden, Hybriditätskonzept steht ein engeres Hybriditätsverständnis von Erfurt (2005) gegenüber, der die Hybridisierung als ein rezentes, neueren gesellschaftlichen Prozessen geschuldetes Phänomen betrachtet und diejenigen Varietäten/Sprachen als hybrid bezeichnet, die in einer relativ frühen Phase des Postkolonialismus in Großstädten ehemaliger Kolonien vor allem bei sozial und wirtschaftlich benachteiligten Jugendlichen entstanden sind, in Gesellschaften die durch starke Mehrsprachigkeit sowie Kulturen- und Ethnienkomplexität geprägt sind: »Unter sprachlicher Hybridität verstehe ich Kommunikationsformen und sprachliche Muster, die sich vor allem in den Netzwerken des mehrsprachigen urbanen Milieus postkolonialer und/oder demokratischer, in kultureller Hinsicht vergleichsweise offener und stark medial geprägter Gesellschaften mit Zugang zu Bildung und hoher sozialer Mobilität herausbilden«. (Erfurt 2005: 28)
Dieser kurze Blick auf die Forschungslage zeigt, dass die Termini Hybridisierung/Hybridität und Kreolisierung definitorisch in der Forschungsliteratur nicht unbedingt klar voneinander abgegrenzt werden und teilweise auf ein sehr ähnliches Feld zu referieren scheinen.
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Gugenberger, Whinnom oder auch Valdman (1977) verstehen unter Hybridisierung und Hybridität ein die Kreolisierung inkludierendes generelles Phänomen. Erfurt oder Hinnekamp/Meng (2005) dagegen verwenden den Hybriditätsund Hybridisierungsbegriff differenzierter nur in Bezug auf bestimmte, neuere aus einem Sprachkontakt hervorgegangenen Varietäten in ganz spezifischen Kontexten und grenzen ihn von dem Kreolisierungskonzept ab. Wenn im Folgenden von hybriden Varietäten gesprochen wird, beziehe ich mich auf den engeren Hybriditätsbegriff von Erfurt. Sind die soziohistorischen, soziolinguistischen und sprachlichen Merkmale von sog. hybriden Varietäten und ihre Entstehungszusammenhänge hinreichend verschiedenen von denjenigen der Kreolsprachen, so dass eine rigide terminologische Abgrenzung angemessen ist, oder sind die linguistischen Fakten so gelagert, dass einem die Kreolisierung inkludierenden Hybriditätskonzept der Vorzug zu geben ist. Dieses soll im Folgenden geklärt werden.
3. D ER G ENESEPROZESS
IM
V ERGLEICH
3.1 Kreolgenese Da dieser Artikel einen grundsätzlichen Vergleich zwischen Kreolisierung und Hybridisierung und deren Resultate anstrebt, wird hier nicht auf die Genese spezifischer französisch-basierter Kreolsprachen, wie etwa dem Louisiana-Kreol, eingegangen, sondern es werden Merkmale aufgeführt, die mehr oder minder für alle (französisch-basierten) Kreolsprachen zu gelten scheinen. Die außersprachlichen Bedingungen der Kreolgenese sind weitestgehend unumstritten: Kreolsprachen sind in extremen Sprachkontaktsituationen vor allem in den ehemaligen europäischen Kolonien entstanden. Als die entscheidenden Faktoren für die Kreolgenese sind primär folgende Charakteristika anzusehen: der multilinguale und multiethnische Kontext, die spezifischen in den Kolonien herrschenden demographischen Verhältnisse, das Dominanzverhältnis zwischen europäischen Kolonialherren und (zumeist) afrikanisch sprechenden Sklaven und schließlich die Unerreichbarkeit der ursprünglichen Herkunftsländer (räumlicher und kultureller Bruch) für die in den Kolonien lebenden und arbeitenden Menschen. (vgl. Chaudenson 2002). Die Sprachkontaktsituation in den ehemaligen europäischen Kolonien war dadurch charakterisiert, dass einer Vielzahl von (zumindest im amerikanisch-karibischen Raum) verschiedene afrikanische Sprachen sprechenden Sklaven und Plantagenarbeitern eine numerische Minderheit von eine oder mehrere europäischen Sprachen und Varietäten
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sprechenden Kolonialherren gegenüberstand. Neben dem zahlenmäßigen Ungleichgewicht herrschte auch ein soziales Gefälle zwischen den die Macht ausübenden Europäern und den unterdrückten (zumeist) afrikanischen Sklaven und, im Falle des Indischen Ozeans, späteren indischen Arbeitern, den so genanten Coolies. In meinen folgenden Ausführungen beziehe ich mich nur auf diesen Prototyp des Kreolgenesekontextes. Zu der Frage, wie der Kreolisierungsprozess, d.h. das Entstehen der neuen Sprache durch den Sprachkontakt zwischen den verschiedenen in den Kolonien gesprochenen Sprachen, abgelaufen ist, liegen in der Literatur unterschiedliche Theorien vor, die in den letzten Jahrzehnten kontrovers diskutiert worden sind. An dieser Stelle soll nicht die Genesedebatte en detail aufgerollt werden, es seien an dieser Stelle nur in äußerst knapper Form die wichtigsten und in der Literatur am stärksten diskutierten Genesetheorien genannt: Nach Bickerton (1981) sind die Kreolsprachen im Zuge eines L1-Spracherwerbsprozesses von Kindern ›entwickelt‹ worden, wobei aufgrund des defizitären zielsprachlichen Inputs (der i.d.R. pidginhafte Züge trägt) die angeborenen und universalen sprachlichen Strukturen in Erscheinung treten (das biopro1 gram). Die so genannte Substrattheorie nach Lefebvre2 besagt, in groben Zügen, dass die Kreolsprachen durch Relexifizierung afrikanischer Sprachen entstanden seien, so sei beispielsweise das haitianische Kreol nichts anderes als die afrikanische Sprache Fongbe im lexikalischen Gewand des Französischen. Sylvain (1936: 178), als weitere Vertreterin des Substrat-Ansatzes, spricht von dem »[lexique] français coulé dans le moule de la syntaxe africaine«. In der Evolutionstheorie nach Chaudenson (2001) – auch Superstrat-Theorie genannt – gelten die (französischbasierten) Kreolsprachen als infolge von (unvollständigen) Aneignungsprozessen (adaptation) der approximativen Varietäten der Zielsprache (in unserem Falle des Französischen) durch Kinder und Erwachsene restrukturierte ›Fortsetzer‹ der europäischen Sprache, d.h. nicht als Mischsprachen. »The theory that views linguistic creolization as simply a ›mix‹ of coexistent linguistic systems is not consistent with the most common linguistic reality. The constant outcome of the contact of two languages in the same community is much more the dominant of one
1
Vgl. dazu auch den Beitrag von Philip Krämer in diesem Band.
2
Andere Substrattheorien sprechen, in abgemilderter Form, von der zentralen Rolle sprachlicher Transfers. Ein ähnliches Konzept steht hinter dem Prozess der »grammatical replication« von Heine/Kuteva 2005.
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by the other than a harmonious mix. This is even more so in the colonial societies where creoles developed.« (Chaudenson 2001: 305)
Außer diesen ›extremen‹ Theorien finden sich auch Ansätze, die eine Konvergenz unterschiedlicher Faktoren und Prozesse als ursächlich für die Kreolisierung ansehen (vgl. Kouwenberg 2001, Lang 2002). Das Verständnis von Kreolisierung in der Vielzahl von Arbeiten, die die Kreolisierung multikausal bzw. durch konvergierende und sich verstärkende Strukturen erklären, lässt sich vereinfacht folgendermaßen zusammenfassen: Die Kreolsprachen seien dadurch charakterisiert, dass sie neben einem europäischem Lexikon eine Grammatik aufweisen, die einen Kompromiss darstellt zwischen den Grammatiken des westafrikanischen Substrats und denjenigen des europäischen lexifiers sowie Strukturen, die auf das Wirken (sprachlicher, kognitiver) Universalien zurückzuführen sind. Entscheidende und das Ergebnis der jeweiligen Genese beeinflussende Faktoren seien neben den Sprachstrukturen der in Kontakt befindlichen Sprachen u.a. die jeweils herrschenden demographischen Strukturen, das jeweilige soziale Gefüge sowie die soziale Interaktion zwischen den jeweiligen Sprachgruppen. Lediglich bei dem Substrat-Ansatz, der vor allem für das haitianische Kreol vertreten wird, erscheint die Kreolsprache gleichsam als eine Art Mischsprache und kann man von einem hybriden Charakter der betroffenen Kreolsprache reden: während das Lexikon auf der jeweiligen europäischen Sprache basiert (Studien an verschiedenen Kreolsprachen haben gezeigt, dass mehr als 90% des Wortschatzes dieser Kreolsprachen französischen Ursprungs ist), gilt die Grammatik, in dieser Theorie, als afrikanischen Typs. Die Kreolsprachen sind ›aus der Not heraus‹ entstanden aufgrund des überlebensnotwendigen Bedürfnisses, kommunizieren zu müssen. Bei vielen Kreolsprachen, nicht aber wohl bei den französisch-basierten Kreolsprachen (zumindest nicht bei den im Indischen Ozean entstandenen) wird davon ausgegangen, dass sie aus spezifischen Verkehrssprachen, den Pidgins, hervorgegangen sind (vgl. Romaine 1988: 117, McWhorter/Parkvall 2002), die nur in sehr beschränkten Situationen zwischen Menschen unterschiedlicher Sprachen zur Kommunikation dienen. Wenn man die verschiedenen Genesetheorien vor dem Hintergrund der hier interessierenden Frage nach der Beteiligung der Kontaktsprachen am Gesamtergebnis, der Kreolsprache, zusammenfasst, kann man sagen, dass sie sich zum einen vor allem darin unterscheiden, ob eine Kontinuität mit einer oder mehreren der Kontaktsprachen gesehen wird, oder ob ein Bruch relativ zu den Kontaktsprachen angenommen wird. Zum anderen unterscheiden sich die verschiedenen
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Theorien darin, welche der Kontaktsprachen als in den Kreolsprachen grammatisch fortgesetzt gilt bzw. als wie groß der anteilige Beitrag der jeweiligen Kontaktsprache am Produkt des Kreolisierungsprozesses, der jeweiligen Kreolsprache, postuliert wird. 3.2 Die Genese hybrider Varietäten Der Entstehungskontext der sog. hybriden Varietäten des Typs Camfranglais ist, wie im Falle der Kreolsprachen, vor allem lokalisiert in Gebieten, die zum ehemaligen Kolonialreich der europäischen Großmächte gehört haben. Jedoch sind diese hybriden Varietäten nicht zur Zeit des Bestehens der jeweiligen Kolonie/des jeweiligen Protektorats entstanden, sondern nach Erlangen der Unabhängigkeit in der postkolonialen Phase. Herausgebildet haben sie sich vor allem in mehrsprachigen und multiethnischen Gesellschaften, in großstädtischen Zentren (Yaoundé, Kamerun oder Abidjan, Elfenbeinküste), in denen im Zuge von Landflucht und gesellschaftlichen Umwälzungen eine Vielzahl von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft und mit vielen verschiedenen Muttersprachen zusammenkamen und zusammenlebten. Seit den 1970er Jahren hat sich vornehmlich zunächst im kleinkriminellen Milieu bei sozial benachteiligten Jugendlichen eine Art Argot entwickelt, welcher zunächst vor allem kryptische Funktion hatte und sich im Zuge weiterer gesellschaftlicher Entwicklungen zu einem identitätsstiftenden ingroup-talk herausbildete: »The losers of the urban competition began to mark their identity by the creation of specific discursive modes drawn from the common local resources (whose dominant part was from then on constituted by FPA [français populaire d’Abidjan]). This dynamics led to the constitution of Nouchi, promoting identitary code-switching in the domains relevant to argot [...]« (Ploog 2008: 153)
Heutzutage kommt dem Nouchi der vielsprachigen Elfenbeinküste (ca. 60 Sprachen) oder dem Camfranglais des extrem vielsprachigen Kameruns (mehr als 200 Sprachen) mittlerweile auch die Funktion eines interethnischen Kommunikationsmittels zu, das nicht mehr nur von Jugendlichen verwendet wird (vgl. Kouadio 2006: 188f., Ntsobé/Biloa/Echu 2008: 48f., Kießling 2004). Als ein wesentlicher Unterschied zur Kreolisierung (vgl. Chaudenson 2002: 28), die in der Regel als ein nicht-willentlicher gelenkter Genese-Vorgang (im Zuge eines Spracherwerbsprozesses bei Kindern bzw. Erwachsenen) angesehen wird, kann zunächst gelten, dass die hybriden Varietäten des Typs Nouchi, eine bewusste und willentliche, kreative Bildung sind (vergleichbar z.B. der langue
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des cités in Frankreich): Sie wurden von mehrsprachigen Jugendlichen geschaffen, die bereits über eine durch die Omnipräsenz des Französischen in der Gesellschaft vermittelte mehr oder weniger gute Kompetenz der europäischen Sprache verfügten und die die ihnen zur Verfügung stehenden mehrsprachigen Ressourcen innovativ ausschöpften und nutzten: »[...] le camfranglais n’est pas le résultat d’interférences linguistiques [...] Il est né de la volonté des initiés de créer un code qui serait incompréhensible aux non-initiés. Ainsi il est loin d’être un mélange linguistique qui serait le fait d’interférences.« (Ntsobé/Biloa/Echu 2008: 21f.) In jüngeren Arbeiten zur Kreolisierung (z.B. Siegel 2007) wird allerdings nicht ausgeschlossen, dass auch im Zuge der Kreolisierung bewusste Sprachschaffungsstrategien am Werke waren, man also nicht über einen invisible hand process sprechen kann: »Thus a deliberate decision [...] may be responsible for ›imperfect‹ second language acquisition. [...] Transfer of L1 features is one way of indexing identity and differentiating speakers from the L2 group [...] the agreed upon paradigm of second language learning used in creole studies needs to be re-evaluated so that learners are recognized as active participants in the creation of creole languages and new social identities.« (Siegel 2007: 194f.)
Bei dieser Einschätzung des Kreolisierungsprozesses als einem bewussten Selektions- und Strukturierungsvorgang, der die identitätsstiftende und abgrenzende Funktion der neu entstehenden (Kreol-)Sprache in den Vordergrund rückt, unterscheidet sich Kreolisierung nur graduell von dem bewussten Hybridisierungsvorgang der Varietäten des Typs Nouchi. Nach jahrhundertelanger Eigen- und Fremdstigmatisierung der Kreolsprachen und kreolsprachlichen Identität (vgl. Stein 1984: 111, Ennis/Pfänder 2010) ist in den letzten Jahren (zumindest von Seiten der Kreolsprecher) eine Umkehr hin zu einem Akzeptieren, Manifestieren und Fördern der Kreolsprachen (z.B. durch Standardisierung, regem Literaturschaffen u.ä.) und der kultursprachlichen Identität festzustellen. Nicht zuletzt durch die Arbeiten und das Wirken von Édouard Glissant, der das Konzept der Créolisation entscheidend geprägt und befördert hat. Dieser neue Sachverhalt im Kontext der Kreolsprachen stellt eine weitere Parallele zu den hybriden Varietäten dar: das Sich-Identifizieren-Können mit dem eigenen heterogenen, mehrsprachigen und multiethnischen Selbst war ja eine der Antriebsfedern für das Schaffen der hybriden Varietäten gewesen. Die Sprecher
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der hybriden Varietäten sind stolz auf ihre ›Sprache‹, die die heterogene Identität der Sprecher ikonisch widerspiegelt: »Les parlers mixtes non connotés régionalement ou ethniquement mais spécifiques de la réalité nationale semblent plus à même de satisfaire ce désir identitaire, comme le dit un élève de première ivoirien: ›le nouchi est né pour nous unir, c’est-à-dire pour qu’on ait une langue comme code et non le français qu’on nous a imposé‹.« (Kube 2004: 149) »Similairement, les jeunes et adultes enquêtés par E. Ngo-Ngok-Graux (2006: 223), se disent ›fiers de cette invention purement camerounaise‹ et affirment que ›le camfranglais est une sorte de syncrétisme national qui s’accompagne de l’intention de donner une marque locale à tout ce qui vient de l’extérieur‹.« (Quéffelec 2007:208)
Dennoch ist es (noch?) nicht so, dass das Camfranglais oder das Nouchi (im Gegensatz zu den Kreolsprachen) als Muttersprachen erworben werden, was m.E. als ein Argument dafür angeführt werden könnte, diese nicht als Sprachen, sondern (noch) als Varietäten zu bezeichnen (vgl. de Féral 2004: 593). Ein in unserem Zusammenhang interessantes Sprachkontaktphänomen lässt sich u.a. auf La Réunion feststellen: Bedingt durch den gesellschaftlichen Wandel und die damit verbundene Durchlässigkeit der Gesellschaft sind einst diglossische Strukturen in den letzten Jahren aufgebrochen worden und haben dazu geführt, dass neue kontaktsprachliche Varietäten entstanden sind (vgl. Ludwig 2010), die sich ebenfalls als hybrid bezeichnen lassen, da sie sowohl Merkmale der Kreolsprache als auch des Französischen tragen. Es ist unklar, ob diese Varietäten kreolsprachlich oder Französisch sind; es ist wohl von einem Varietätenkontinuum auszugehen (vgl. Lebon-Eyquem 2010, Souprayen-Cavery 2008). Folgendes Beispiel von Souparyen-Cavery (2008: 142) illustriert den Hybriditätscharakter: (1) nana boukou dmoun la été oblijé kit zot maison (extrait du journal télévisé créole du 2 janvier 2003) (hybride Varietät) vs. nana in bopé domoun té oblizé kit zot kaz (Réunion-Kreol) vs. il y a beaucoup de gens qui ont été obligé de quitter leurs maisons (Französisch)
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4. A USGEWÄHLTE IM V ERGLEICH
SPRACHLICHE
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S TRUKTUREN
Zur Illustration der sprachlichen Charakterisierung seien zunächst zwei längere Sprachbeispiele angeführt, auf die im Verlauf verwiesen wird: (2) Camfranglais (Mbah Onana 1997: 33f. [zitiert in Ntsobé/Biloa/Echu 2008: 157]): »Un day je pout mes frengs avec mes tchakass. Après m’étant déjà wash, je bring ma mbindi nguenguerou et elle comot avec moi. Nous sommes go à la bougi au ndjifouri et on shequait. On drink on a tyop mal mauvais à chier. On a drink le banga après. Quand on bakait la mbérale nous hall et nous a pout au ngata. Quand la mater a hia comme ça elle venue tcham et je suis commot à la house avec ma mbinaoch. Le blo était chap et j’ai dit à ma mater que je n’aime pas les things comme ça. Nous sommes back à la piole. « »Un jour, je m’habille, me chausse après avoir pris un bain. Je prends ma copine, l’albinos et je sors avec elle. Nous sommes allés au bal où nous avons dansé, dansé... Nous avons bu et mangé exagérément et on a fumé du chanvre indien. Au retour, la police nous a attrapés et jeté [sic!] dans la cellule. Quand ma mère a appris cela, elle est venue se battre et je suis rentré à la maison avec ma copine. La lutte a été rude et j’ai dit à ma mère que ce n’était pas convenable. Nous sommes rentrés à la maison. « (3) Créole louisiannais (Neumann 1985: 374): »Me sa m’ap di twa se te diferõ dõ mwa e twa kom no travaje. No de travaje dõ klo, me se te pa kom twa. To travaje pu netwaje la mezõ fom-la pu i peje twa. Mõ mo eme fe sa. Mom fe sa, mom travaje. Me kõ mo grõ-popa muri li kite la te r pu te se piti. Sa-fe no te gp travaje tu le zak la- ter-je, e no te stil gp travaje dir parske no te pa i arj. Se te diferõ, to kõprõ?« »Mais ce que je veux dire, c’est qu’il y avait une différence entre ma situation et la tienne. Nous avons travaillé toutes les deux aux champs, mais ce n’était pas la même chose. Lorsque tu faisais le ménage, la femme te payait. Moi je ne l’ai jamais fait. Maman a fait cela, maman a travaillé. Mais quand mon grand-père est mort, il a laissé sa terre à ses enfants. Alors nous devions travailler tous les acres de terre et nous devions toujours travailler dur, parce que nous n’avions rien. C’était différent, tu comprends?«
4.1. Lexikon und Wortbildung Vergleicht man das Camfranglais mit dem Créole louisiannais , so stellt man zunächst fest, dass sich das Lexikon des Camfranglais – im Gegensatz zu demjenigen des Créole louisiannais – aus unterschiedlichen Quellen zusammensetzt: Wörter/Wortbestandteile aus dem Französischen (z.B. sämtliche grammatische
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Funktionswörter), dem (Pidgin-)Englisch (z.B. day, pout, wash, drink) sowie aus verschiedenen kamerunesischen Sprachen (z.B. mbérale, mbindi, mbinaoch, ngata) konstituieren den Wortschatz des Camfranglais. Aufgrund dieses mischsprachlichen Charakters wird es als hybrid bezeichnet und hat heute, neben anderen Bezeichnungen (wie z.B. francamglais), den am weitesten verbreiteten Namen Camfranglais bekommen hat (die den hybriden Charakter der Varietät auf morphologischem Wege ikonisch widerspiegelt). Durch ein entsprechend zusammengesetztes Lexikon ist auch das Nouchi charakterisiert: »On le sait, le nouchi est un parler métissé ; son vocabulaire est caractérisé par des mots de diverses origines. On y compte des emprunts aux langues européennes (l’anglais et l’espagnol en particulier), des emprunts aux langues ivoiriennes (le dioula, le baoulé et le bété, etc.) et des mots créés par un processus onomatopéique et idéophonique […] Les mots d’origine française, qui occupent la plus importante proportion, peuvent être estimés à 35%.« (Ahua 2008: 135f.)
Der Wortschatz von Kreolsprachen wie das Haitianische oder das LouisianaKreol (vgl. Bsp. 2) dagegen besteht zu weit mehr als 90% aus Elementen französischer Herkunft (vgl. Stein 1984: 33f.), weswegen sie auch als französischbasierte Kreolsprachen bezeichnet werden. Nicht nur die autosemantischen Lexeme, sondern – wie in den hybriden Varietäten auch – sämtliche grammatischen Funktionswörter sind französischen Ursprungs. In dem obigen Beispiel (2) sind mit wenigen Ausnahmen (z.B. mom, still) nur Wörter zu finden, die sich auf das Französische zurückführen lassen. Kreolsprachen wie das Louisiana-Kreol, die in Gesellschaften gesprochen werden, in denen neben dem Französischen auch das Englische dominiert, sind allerdings dadurch geprägt, dass (neben dem Französischen) zunehmend massiv englische Wörter (und Strukturen) in die Kreolsprachen Eingang finden (vgl. Mutz 2004), wodurch teilweise neue hybride Strukturen entstehen: »Étant donnée l’omniprésence de l’anglo-américain depuis le début de ce siècle, le créole et le cajun semblent avoir largement perdu leur faculté de création autonome de nouveaux mots. Selon nos observations, l’enrichissement lexical se fait aujourd’hui presque totalement par l’intégration plus ou moins forte des anglicismes.« (Neumann-Holzschuh 1998: 54)
Generell sind die (französisch-basierten) Kreolsprachen dadurch charakterisiert, dass morphologische Verfahren zur Bereicherung des Lexikons eher begrenzt
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genutzt werden (vgl. Mutz 2007). Zwar verfügt eine jede Kreolsprache potentiell über Wortbildungsverfahren und besitzt ein Inventar an Wortbildungsaffixen (sowohl Präfixe als auch Suffixe), allerdings dienen nur relativ wenige dieser Affixe produktiv zur Bildung neuer Lexeme. Das Verfahren der Komposition ist in den Kreolsprachen zwar produktiver, aber das erste Mittel der Wahl, um das Lexikon zu erweitern, besteht in den Kreolsprachen darin, vor allem aus dem Französischen zu entlehnen. Es gibt somit zwar mehr ›Morphologie‹ in den Kreolsprachen als lange Zeit in der Literatur vertreten wurde, und im Zuge der Standardisierung von Kreolsprachen sind zunehmend Bemühungen festzustellen wie durch die Gruppe GEREC (Groupe des Études et de Recherche en Espace Créolophone), diese potentiellen morphologischen Ressourcen der jeweiligen Kreolsprache zu nutzen, um den Entlehnungen (vor allem dem Französischen, aber auch dem Englischen) und damit der Tendenz der Dekreolisierung entgegenzuwirken, dennoch kann festgehalten werden: »La morphologie dérivationnelle [...] est très réduite en créole [...] La dérivation, qui est un procédé français pour faire des mots nouveaux, n’est pas un procédé universel, en tout cas n’est pas créole, les créoles étant des langues où la dérivation est à peu près inexistante.« (Hazaël-Massieux 2002: 73)
Das Kompositionsverfahren gilt als das produktivste morphologische Wortbildungsverfahren der (französisch-basierten) Kreolsprachen (vgl. Valdman 1978: 154; Mutz 2007: 549-552). Neben derivationalen und kompositorischen Wortbildungsverfahren findet sich in einigen Kreolsprachen auch der zumeist auf Substrateinfluss zurückgeführte morphologische Bildungstyp der Reduplikation (vgl. McWhorter/Parkvall 2002: 203), der zwar relativ untypisch für die Morphologie des hexagonalen Französisch ist, jedoch auch dort nicht gänzlich unbekannt ist (vgl. z.B. Bildungen wie faire dodo, nounours aus kindersprachlichen Varietäten oder leurleur, zonzon aus der Langue des cité). Zudem finden sich in den französisch-basierten Kreolsprachen der Karibik Wortschöpfungen auf lautmalerischer Grundlage (wohl durch den Einfluss des westafrikanischen ›Substrats‹, vgl. ebd.: 204). Die hier betrachteten hybriden Varietäten des Französischen sind im Unterschied zu den (französisch-basierten) Kreolsprachen durch eine extrem hohe Kreativität im Wortbildungsbereich charakterisiert (vgl. Ntsobé/Biloa/Echu 2008: 95-102). Derivation, Komposition aber auch Reduplikation sind äußerst produktive morphologische Verfahren zur Bereicherung des Lexikons. Anders als die Kreolsprachen sind die hybriden Varietäten auch dadurch charakterisiert, dass sehr häufig der Lautkörper der Wörter (mittels Apokope oder Aphärese)
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reduziert wird (vgl. Ahua 2008) bzw. Silbenvertauschungsverfahren à la Verlan stattfinden (Ntsobé/Biloa/Echu 2008: 72f.). Beides sind Verfahren, die zur Deformierung und Kryptisierung dienen und auch in jugendsprachlichen Varietäten französischer Großstädte in großer Kreativität und hoher Frequenz angewandt werden. Aus Kreolsprachen sind derartige lautliche Kürzungs- und Verfremdungsverfahren nicht bekannt. Ein weiteres, typisches Wortschöpfungsverfahren der hybriden Varietäten basiert, wie in den Kreolsprachen auch, auf Lautmalerei und ist damit ideophonischen Charakters. Viele umfangreiche Arbeiten zu Lexikon und Wortbildungsverfahren in den hybriden Varietäten liegen noch nicht vor, jedoch zeugen die Einträge in den, bislang nur online verfügbaren ›Wörterbüchern‹ des Camfranglais und des Nouchi (siehe Internetadressen in den Quellenangaben) von der Vielfalt des Inventars an verschiedenen Wortbildungsverfahren und der Schöpferkraft der Camfranglais- bzw. Nouchisprechenden. Dass das Lexikon der hybriden Varietäten durch den Zugriff auf unterschiedliche Sprachen, also auch durch ›Entlehnungen‹, erweitert wird bzw. sich erst über Entlehnungen konstituiert und damit hybriden Charakters ist, wurde bereits gesagt. Die Hybridität zeigt sich aber nicht nur im obig beschriebenen Lexeminventar, sondern auch – ein in den genuinen Kreolsprachen unbekanntes Phänomen – in den morphologischen ›Mischbildungen‹, bei denen Morpheme verschiedener Sprachen zusammengefügt werden (derivational oder kompositorisch). Lafage (1998: 142) spricht von einer »néologie par hybridation«, vgl. die folgenden Beispiele in (7) und (8): (7) NCH3 (Lafage 1998): fauya ›Mauschelei‹ (< Frz. faux ›falsch‹ + Douala -ya (Nominalisierungselement)) bras mogo ›Freund‹ (< Frz. bras ›Arm‹ + Douala mogo ›Mann, Mensch‹) (8) CFA (Échu 2008): whitiser ›Mit einem europäischen Akzent sprechen‹ (< Engl. white ›weiss‹ + is(er) (Verbalisierungssuffix)) eateur ›starker Esser‹ (< Engl. eat ›essen‹ + Frz. -eur (Nominalisierungssuffix zur Bildung von Nomina Agentis)) jongman ›Säufer‹ (< Basaa jong ›Getränk; trinken‹ + Engl. man ›Mann, Mensch‹)
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CFA = Camfranglais, NCH = Nouchi, CLOU = créole Louisianais, CGUAD = créole guadéloupéen, CHAI = créole haiïtien, CSEY = créole seychellois, CMAU = créole mauricien
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Schließlich kann man sowohl in den (französisch-basierten) Kreolsprachen als auch in den hier betrachteten hybriden Varietäten vor allem auf Metaphern und Metonymien beruhende semantische Verschiebungen und semantischen Wandel relativ zur Ursprungsbedeutung des betreffenden französischen Lexems feststellen. Während dies in den hybriden Varietäten i.d.R. auf einer willentlichen Verfremdungsstrategie beruht (Échu 2008: 88f.), sind die Verschiebungen in den Kreolsprachen als das Ergebnis von ›natürlichen‹ Konzeptualisierungs-, Aneignungs- und Versprachlichungsmechanismen im Zuge des Kreolisierungsprozesses anzusehen (vgl. Mutz 2007: 550-553): (9) NCH (Kube 2002): tais-toi ›Geldschein von 10.000 CFA‹, togo ›Geldschein von 100 CFA‹ (10) CFA (Échu 2008): negocier ›bestechen‹ (11) CLOU (Valdman et al. 1998; Neumann-Holzschuh 1998): soulye ›Hufeisen‹, glasyè ›Kühlschrank‹, makak ›Clown‹, lapandil ›Uhr, Wecker‹, bwa ›kleiner Ast‹ (12) CGUAD (Ludwig et al. 2001): chèl ›Tankstelle‹, jalou ›1.eifersüchtig 2. sehr verliebt‹, dra ›Leinwand‹, zorèy-bwa ›Pilz‹
4.2 Grammatische Strukturen Hinsichtlich des Lexikons besteht, wie in 4.1. beschrieben, ein offenkundiger Unterschied zwischen den hier betrachteten Sprachen/Varietäten: So ist bei den hybriden Varietäten, im Gegensatz zu den Kreolsprachen, ein ›Mischcharakter‹ sowohl hinsichtlich des Inventars als auch hinsichtlich der Verfahren und Ergebnisse von Wortbildungsverfahren festzustellen. Während man im Falle des Lexikons die Hybridität sehen kann, ist dies bei den grammatischen Strukturen nicht der Fall. Welchen Anteil die Kontaktsprachen an der Ausbildung der grammatischen Strukturen der Kreolsprachen hatten, kann allenfalls nur durch einen konsequenten Vergleich der historischen (!) Grammatiken der Kontaktsprachen mit der historischen (!) Grammatik der Kreolsprachen festgestellt werden. Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass zumindest für die afrikanischen Kontaktsprachen sowie für die Kreolsprachen in aller Regel keine solchen historischen Grammatiken existieren, so dass sich der Vergleich der Strukturen in aller Regel auf die modernen Sprachen beschränkt (vgl.
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Parkvall 2000). Es ist bei dieser Art des Vorgehens aber unerlässlich darauf zu verweisen, dass seit der Zeit der Kreolisierung eben einige Jahrhunderte vergangen sind, so dass in dieser Zeit weiterer natürlicher Sprachwandel sowie weiterer Sprachkontakt stattgefunden hat (bei allen beteiligten Sprachen). Bei der Untersuchung der Grammatik der relativ jungen hybriden Varietäten ergibt sich dieses Problem selbstverständlich nicht. Während der Lexembestand und weite Teile des Lautsystems in den französisch-basierten Kreolsprachen auf das Französische zurückgehen, lassen sich in der morphosyntaktischen Domäne weitaus weniger Parallelen zum Französischen ausmachen. In so genannten substratorientierten Ansätzen werden die grammatischen Strukturen der Kreolsprachen auf das (zumeist afrikanische) Substrat zurückgeführt (vgl. Abschnitt 3.1.), in anderen Ansätzen gilt das morphosyntaktische System als genuin kreolsprachlich und damit innovativ: »Während Lautstruktur und Wortschatz der FKS sich ohne Schwierigkeiten auf das Franz. als Ausgangssprache zurückführen lassen, kennt ihre Morphologie und Syntax erhebliche Abweichungen und Unterschiede, so daß hier die Grundlage für ihre Eigenständigkeit gegenüber der Ausgangssprache zu suchen ist«. (Stein 1984: 54)
Zahlreiche Studien belegen plausibel (z.B. McWhorter/Parkvall 2002), dass viele kreolsprachliche grammatische Strukturen, entgegen dem Superstrat-Ansatz von Chaudenson, nicht durch eine Restrukturierung des Französischen sondern durch einen Transfer (bzw. grammatical replication, Relexifizierung) aus den afrikanischen Kontaktsprachen zu erklären sind. Andere grammatische Strukturen der Kreolsprachen wiederum haben eindeutig französische ›Vorbilder‹, wieder andere sind am besten durch Konvergenz erklärbar. Aufgrund dieser vielsprachlichen Quellorte der kreolsprachlichen Grammatik, die in vielen kreolistischen Arbeiten herausgestellt wurden, muss die Grammatik als hybrid gelten, wenngleich diese Hybridität, im Unterschied zur lexikalischen Hybridität der so genannten hybriden Varietäten, eine unsichtbare ist. Es soll nun nicht der Versuch unternommen werden, die Herkunft einzelner grammatischer Strukturen in den Kreolsprachen (oder den hybriden Varietäten) zu belegen, hier sei auf die umfangreiche Literatur in diesem Bereich verwiesen (z.B. Chaudenson 2002, Parkvall 2002, Lefebvre 2006). Im Folgenden soll lediglich punktuell gezeigt werden, dass die morphosyntaktischen bzw. grammatischen Strukturen der Kreolsprachen, deren sprachliche Herkunft/Zugehörigkeit in der Forschung kontrovers diskutiert wird , von denen der hybriden Varietäten, die i.d.R. klar als französischen Typs beschrieben werden, teilweise nur graduell verschieden sind. Es gibt einige morphosyntaktische Merkmale, die typisch
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kreolsprachlich sind und nicht in den hybriden Varietäten vorkommen (z.B. präprädikative Negation, TMA Markierung, vgl. 4.2.1.), andere in denen sich die Kreolsprachen und hybriden Varietäten sehr ähnlich sind (z.B. die Funktionalität von mem, vgl. 4.2.3) bzw. sich nur graduell voneinander unterscheiden (z.B. Polykategorialität der Wörter, vgl. 4.2.2.) und wiederum andere, die die Kreolsprachen nicht besitzen, wohl aber die hybriden Varietäten (z.B. Flexionsmorphologie, vgl. 4.2.1.). Als eine dritte Vergleichsgröße der folgenden Kurzdarstellung soll das nichtregionale, distanzsprachliche Französische (als exogene und an den Schulen in Kamerun und der Elfenbeinküste unterrichtete Norm) herangezogen werden, um die betrachteten Strukturen bzgl. der Nähe bzw. Distanz zum französischsprachigen Typus einzuordnen.4 Was die hybriden Varietäten angeht, so ist deren grammatisches bzw. morphosyntaktisches System im Unterschied zu den lexikalischen Strukturen noch relativ wenig erforscht (vgl. Knutsen/Ploog 2005: 470). In der Literatur finden sich unterschiedliche Einschätzungen bezüglich der Erklärung der Grammatik der hybriden Varietäten. Es wird zwar zum einen hervorgehoben, dass die morphosyntaktischen Strukturen in weiten Teilen mit denjenigen des (gesprochenen) Französischen identisch sind (vgl. Akissi Boutin 2008: 66; »La syntaxe sur laquelle se greffe le camfranglais est celle du français oral communément utilisé au Cameroun, qui n’est pas très éloigné du français oral de France«, Féral 2004: 588). Andererseits werden aber gerade diese Strukturen teilweise auch durch den maßgeblichen Einfluss der afrikanischen Sprachen erklärt: »Concernant sa syntaxe [i.e. des Nouchi] , on pourrait à l’analyse signaler que, tout en se fondant sur le substrat linguistique des langues ivoiriennes, ce qui est certainement le cas
4
Leider kann an dieser Stelle nicht detaillierter auf die lautlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der (französisch-basierten) Kreolsprachen und der hier interessierenden hybriden Varietäten eingegangen werden. Während sich das Lautinventar in den Kreolsprachen in weiten Teilen auf das Französische zurückführen lässt, trifft dies für die hybriden Varietäten natürlich nur auf die Lexeme und Wortelemente zu, die französischen Ursprungs sind. Entlehnungen aus dem Englischen oder afrikanischen Sprachen enthalten z.T. dem Französischen unbekannte Laute. Vor allem aber hinsichtlich der prosodischen Domäne, ein in der Forschung sowohl bezüglich der hybriden Varietäten als auch der Kreolsprachen bislang eher vernachlässigter Bereich, scheinen z.T. erhebliche systemische Unterschiede zum Französischen vorzuliegen (vgl. Ahua 2007: 194f.).
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du français local ivoirien (cf. Kouadio: 1999), elle est sur bien des points comparable à celle du français parlé.« (Ahua 2008: 148)
Zum Teil werden die morphosyntaktische Merkmale auch auf den Einfluss aller sich im Sprachkontakt befindlichen und Eingang in das Lexikon findenden Sprachen zurückgeführt (Ntosbé/Biloa/Echu 2008: 23: »Une phrase camfranglaise peut être bâtie à partir de la structure de l’anglais, du français ou du pidginenglish camerounais. Les éléments tirés des différentes langues substrats sont alors insérés pour remplir les constituants dans cette structure.«). 4.2.1 Flexionsmorphologie Während eine, wenn auch nur relativ schwach ausgeprägte, Derivationsmorphologie in den (französisch-basierten) Kreolsprachen festzustellen ist, so ist eine Flexionsmorphologie so gut wie inexistent (vgl. McWhorter/Parkvall 2002: 207). Die kreolsprachlichen Wörter sind zum größten Teil morphologisch invariabel und werden nicht im herkömmlichen Sinne mittels Flexionsaffixen flektiert. Zur Illustration sei auf die Invariabilität von travaje im obigen Beispiel (3) des Louisiana-Kreols verwiesen (im Kontext mit den dem Prädikat [hier travaje] vorangestellten Personalpronomen der 1. Pers. Pl. [no ›nous‹], der 2. Pers. Sg. [to ›tu‹] sowie der 3. Pers. Sig. [mom ›maman‹]). Die Angabe von Tempus, Modus und Aspekt erfolgt in den Kreolsprachen mittels dem morphologisch invariablen Prädikat vorausgehender invariabler Marker, d.h. nicht auf flexivischem Wege, vgl. die folgenden Beispiele in (13): (13) CLOU (Neumann 1985: 201, 203): Mo t’ole to vj ordi. ›Je voulais que tu viennes aujourd’hui‹ De k to te kupe twa move, se t’ape sje. ›Dès que tu t’étais coupé profondément, cela saignait abondamment‹
Diese TMA-Markierung mittels präprädikativ gesetzter Partikel wird in der Forschung in den meisten Ansätzen auf analoge Strukturen des afrikanischen Substrats zurückgeführt (vgl. McWhorter/Parkvall 2002: 204). In den hybriden Varietäten ist hinsichtlich der Flexion eine große Variationsbandbreite festzustellen: teilweise werden die Wörter, auch wenn es sich z.B. um englische Lexeme handelt, flektiert wie im Französischen: (14) CFA (Ntsobé/Biloa/Echu 2008: 142, 145, 147; Mbah Onana 1997: 33f [zitiert in Ntsobé/Biloa/Echu 2008: 157]):
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Eatons ensemble. ›Mangeons ensemble‹ Ton pater t’a déja send les dos que tu me speakyais là? ›Ton père, t’a-t-il déjà envoyé la somme d’argent dont tu m’avais parlé?‹ C’est fini, ne les fallayons plus! ›C’est fini, ne les cherchons plus! ‹ Quand on bakait la mbérale nous hall et nous a pout au ngata. ›Au retour, la police nous a attrapés et jeté [sic!] dans la cellule‹
Z.T. bleiben sie aber auch morphologisch invariabel; dies vor allem im Kontext mit nicht-französischen Wörtern: (15) CFA (Ntsobé/Biloa/Echu 2008: 148, 149; Mbah Onana 1997: 33f. [zitiert in Ntosbé/ Biloa/Echu 2008: 157]): Le mola là est gnia te falla ›Le monsieur-là est venu te chercher‹ Je t’avais tell que from qu’il me falla je le run ›Je t’avais dit que depuis qu’il est à ma recherche, je l’évite‹ Nous sommes back à la piole. ›Nous sommes rentrés à la maison‹ (16) NCH (Lafage 1998: 142): Djo la i gbokro hier la merco, dja y a rien dedans ›Ce type hier a forcé la serrure de la mercédès bien qu’il ny ait rien dedans‹
Eine Markierung von Tempus, Modus und Aspekt durch dem Verb vorausgehende invariable Partikel ist allerdings nicht festzustellen. Hier besteht also ein wesentlicher struktureller Unterschied zwischen den Kreolsprachen und den hybriden Varietäten. Die Tendenz der morphologischen Invariabilität ist (in beiden Fällen) wohl nicht auf afrikanischen Einfluss zurückzuführen; es handelt sich aller Wahrscheinlichkeit nach eher um eine auf Ökonomisierungsprinzipien basierende Simplifizierungsstrategie, die in den Kreolsprachen ›grammatikalisiert‹ ist und die auch in den substandardlichen Varietäten des hexagonalen Französisch (z.B. den Langue des cités) begegnet, und die bereits von Frei (1929) für das so genannte français avancé festgestellt worden ist.5
5
McWhorter/Parkvall (2002: 187ff.) legen plausibel dar, dass die invariablen Formen in den Kreolsprachen in den meisten Fällen auf den Infinitiv zurückgehen (was, nach Ihrer Analyse für die Genese der Kreolsprachen aus einem Pidgin heraus spricht), wogegen die invariable Form in den frz. Varietäten i.d.R. die so genannte forme zéro ist, d.h. der unflektierte Verbstamm ist.
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4.2.2 Polyfunktionalität und Polykategorialität der (grammatischen) Wörter Ein Charakteristikum vieler kreolsprachlicher Wörter ist, dass sie polykategorialen Status haben, d.h. zum Teil schwerlich einer festen lexikalischen Kategorie zuordenbar sind (vgl. Stein 1984, Mutz 2007: 544, McWhorter/Parkvall 2002: 194f.). Die polykategoriale Natur kreolsprachlicher Wörter ist m.E. eine Erklärung für die relative Unproduktivität von Derivationsverfahren, einem Verfahren, dessen Funktionalität u.a. darin liegt, einen Wortartwechsel herbeizuführen.6 Auch das Camfranglais kennt polykategoriale Lexeme und polyfunktionale Verwendungen. Tendenziell haben im Camfranglais aber nur die afrikanischen Wörter einen derart polykategorialen Status und werden entsprechend polyfunktional eingesetzt: (17) CAF (Ntsobé/Biloa/Echu 2008: 90): Zao peut niama un big plat de jazz. ›Zao peut manger un grand plat de haricot‹ J’ai eat la niama ›J’ai mangé la nourriture‹
Hinsichtlich der Polyfunktionalität von grammatischen Funktionswörtern liefern die Personalpronomen ein gutes Beispiel. Sie ist in den Kreolsprachen um einiges stärker ausgeprägt als in den hybriden Varietäten. Während wir in den Kreolsprachen Isomorphie hinsichtlich Subjektfunktion, Objektfunktion (dir. und indir.) sowie Possessivbedeutung der Pronomen feststellen (vgl. Stein 1984: 65), (18) CHAI (Stein 1984: 66): mw te kõn yo epi kamwad yo ›je les connaissais et leurs amis‹ (19) CLOU (Stein 1984: 82): li sa pa di ary ›il ne dira rien‹ – mo pa wa li ›je ne l’ai pas vu‹
sind die Personalpronomen des Camfranglais lediglich bzgl. der Funktion von direktem vs. indirektem Objekt indifferent markiert, bzw. die festzustellende Variation der Form weist auf die systemische Irrelevanz der Unterscheidung direktes Objekt vs. indirektes Objekt hin:
6
Wobei aus morphologischer Perspektive die Polykategorialität auch als ein Konversionsprozess interpretiert werden könnte.
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(20) CAF (Ntsobé/Biloa/Echu 2008: 115f.): Guip-là au moins fap cents avant de voir ce qu’elle va do ›Donne-lui au moins cinq cent francs et attends de voir sa réaction‹ Donne-le les gomma là. ›Donne-lui la pièce de cinquante francs restante‹ Tu lui as see où? ›Où l’as-tu vu? ‹ Partage-les le reste de kollo qui djam! ›Partage-leur le billet de mille francs restant! ‹
4.2.3 Diskursmarker mem Wenden wir uns nun noch einer Partikel mit funktionspragmatischem, diskursoganisierendem Wert zu, die in den hier betrachteten Kreolsprachen und hybriden Varietäten ähnlich wirkt und sich hinsichtlich des Gebrauches, der Funktionalität und des Skopus von der betreffenden Partikel des Französischen unterscheidet: dem Marker mem. Von mem in den französisch-basierten Kreolsprachen sagt Stein (1984: 46), dass sie »[...] eines der häufigsten Wörter in den FKS« ist und dass mem »eine Erweiterung seiner Bedeutung mit der Folge einer wesentlich häufigeren Verwendung erfahren [hat]. Es dient [u.a.] zur Verstärkung, Bekräftigung, Hervorhebung usw. einzelner Satzteile oder auch ganzer Sätze.« Die Beispiele in (21)-(23) illustrieren diesen Gebrauch in verschiedenen französischbasierten Kreolsprachen: (21) CLOU (Neumman 1985: 341): Se bõ mem! ›C’est très bon‹; Se sa mem mo t’ap gade pou ›C’est exactement ce que je cherchais‹ (22) CMAU (Stein 1984:46): li i oule marye ek en boug mizer mem ›elle voulait épouser un homme vraiment pauvre‹ (23) CSEY (Bollée 1977:142): Napa person [...] zot pa war narjê mem. ›Il n’y avait personne, ils ne voyaient absolument rien‹
Das folgende längere Beispiel verdeutlicht die analoge diskurspragmatische Funktionalität von mem im Nouchi: (24) NOU (Kube 2005: 113f.): B:
Tout à l’heure on aura cours avec les professeurs ? d’histoire-géo.
A:
Ah, mon cher...
B:
Lui-là, il na qu’à faire molo-molo.
A:
Il est trop choyé même.
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B:
Ses cours façon-façon vraiment ça nous soutra pas, le môgô vient krô en classe, et pi il dit il vient faire cours
A:
Fait pas i va nous distraire même, c’est blo même cette histoire-là et puis s’il veut
B:
Tu gbahé?
A:
Ouais, on va gbahé.
B:
Actuellement même, ja’i la kraya même j’ai envie de badou.
même, aujourd’hui là même, mois je vais secher, je vais gbahé le cours même.
Wie Klaeger (2010) am Beispiel des in Burkina Faso gesprochenen Französischen argumentativ darlegt, ist das Funktionieren dieser Partikel auf den Einfluss afrikanischer Sprachen zurückzuführen und als ein panafrikanisches Phänomen zu werten. Insofern haben wir es auch hier mit afrikanischer Funktionalität im französischen Gewand zu tun, was ein weiteres Beispiel für den Hybriditätscharakter der hier betrachteten Sprachen bzw. Varietäten darstellt.
5. M ODELLIERUNG Hinsichtlich der sprachlichen Merkmale der Kreolsprachen als Produkte der Kreolisierung bzw. der hybriden Varietäten als Produkte der Hybridisierung, lassen sich zum einen eindeutige Parallelen und Gemeinsamkeiten feststellen, zum anderen aber auch mehr oder weniger starke, graduelle Unterschiede – dies relativ zu den Strukturen des Französischen. Betrachtet man die rein sprachlichen Fakten, die hier nur ansatzweise vergleichend dargestellt werden konnten, lässt sich zwischen den hybriden Varietäten des Camfranglais-Typs und den französisch-basierten Kreolsprachen, in Anlehnung an Gugenberger (2010), ein Kontinuum der Hybridität postulieren, das sich mit den Parametern der relativen Ähnlichkeit zum Französischen oder des unterschiedlichen Variations- bzw. Stabilitätsgrades korrelieren lässt: Figur 1: Kontinuum sprachlicher Hybridität: Sichtbare
Unsichtbare
linguistische
linguistische
Hybridität
Hybridität
Kontaktwörter
Kontaktdiskurse
Kontaktvarietäten
Entlehnungen
Code-Switching
Hybride Varietäten
Kontaktsprachen Pidgins
Kreolsprachen
Variation
Stabilität
francité
non-francité
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Im Falle der Kreolsprachen wissen wir aufgrund des historischen Genesekontextes, dass sie in einem ganz bestimmten soziohistorischen Kontext durch den Kontakt verschiedener Sprachen entstanden sind und diese verschiedenen Sprachen zu unterschiedlichen Anteilen in das Produkt der Kreolisierung eingeflossen sind (je nach Genesetheorie werden die jeweiligen Anteile unterschiedlich gewichtet, vgl. Abschnitt 3.1). Die jeweils unterschiedlichen Anteile der am Sprachkontakt beteiligten Sprachen der Kreolsprache, d.h. der hybride Charakter der Kreolsprache offenbart sich allerdings nicht sichtbar – ein Umstand der Raum für mannigfaltige Interpretationen, Analysen und Theorien gibt –, sondern die Hybridität bleibt verdeckt, gleichsam unsichtbar. Erst linguistische komparative und sprachhistorische Forschungsarbeit vermag den Hybriditätscharakter bis zu einem gewissen Grad aufzudecken. Die Zone der unsichtbaren Hybridität geht einher bzw. korreliert mit der Tatsache, dass einige Merkmale der Kreolsprachen (und ihrer eventuellen ›Vorläufer‹, der Pidgins) strukturell so verschieden vom Französischen und auch von den hybriden französischen Varietäten sind, dass man diesbezüglich von einem Bruch zwischen Kreolsprachen einerseits und frz. (hybriden) Varietäten andererseits sprechen müsste, in Figur 1 symbolisiert durch den Vertikalstrich. Eine ›Verrechnung‹ dieser spezifisch kreolischen Merkmalen mit den anderen den hybriden Varietäten bzw. gar dem Französischen ähnlichen Merkmalen erlaubt dennoch die Verortung sowohl der Kreolsprachen als auch der hybriden Varietäten auf einem Kontinuum. Betrachtet man allerdings nicht primär die grammatischen sondern die lexikalischen Strukturen ist ein Bruch bzgl. der hier betrachteten hybriden Varietäten relativ zum Französischen (und den frz.-basierten Kreolsprachen) festzustellen: Die Hybridität manifestiert sich sichtbar in dem von Sprechern beabsichtigt und kreativ hybrid gestalteten Lexikon. Ungebrochene Kontinuität liegt bzgl. des Lexikons zwischen dem Französischen und den Kreolsprachen vor sowie zwischen der Grammatik des Französischen und derjenigen der hybriden Varietäten (mit den in diesem Beitrag angesprochenen Abstrichen), vgl. die stark schematisierte Darstellung in Figur 2:
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Figur 2: Kontinuität und Bruch Französische
Kreolsprachliche
Grammatik
Grammatik
Französische
Grammatik der
Grammatik
frz. Varietäten
Französisches
Kreolsprachliches
Lexikon
Lexikon
Französisches
Lexikon der frz.
Lexikon
Varietäten
6. S YNTHESE Da der Terminus der Kreolisierung in der Forschungsliteratur bisweilen relativ unspezifisch auf verschiedene Phänomene der Sprach- oder Varietätengenese angewandt wird, er aber zugleich ideologisch relativ stark aufgeladen ist, demgegenüber der Begriff der Hybridisierung zum Teil spezifisch auf die Genese bestimmter neuer Sprachen/Varietäten im 20. Jahrhundert, z.T. unspezifisch auf generelle Sprachmischungsprozesse bezogen wird und dadurch die Begriffe der Kreolisierung und der Hybridisierung und deren Referenzrahmen oftmals nicht (mehr) eindeutig voneinander abgegrenzt sind, schien es ratsam, die Genese(kontexte) sowie wenigstens exemplarisch ein paar sprachliche Merkmale von (französischbasierten) Kreolsprachen und hybriden (frz.) Varietäten miteinander zu vergleichen und deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Was den Geneseprozess der Kreolsprachen einerseits und der hier betrachteten hybriden Varietäten andererseits angeht, so ist festzuhalten, dass sie stark voneinander differieren: Bei der Herausbildung der Kreolsprachen, die im Zuge eines invisible hand-Prozesses unter erschwerten äußeren Bedingungen entstanden sind, haben wir es mit einem komplexen unter Zuhilfenahme verschiedener Strategien (u.a. dem Transfer grammatischer Prinzipien aus den sog. Substratsprachen) erfolgten Sprachaneignungsprozess zu tun. Im Falle der Entstehung der hybriden Varietäten liegt eine schöpferische Varietätenbildung von Seiten jugendlicher Sprecher vor. Diese Varietät ist vor allem durch ein hybrides Lexikon charakterisiert, das die jugendlichen Sprachschöpfer vornehmlich aus identitätsstiftenden und identitätswiderspiegelnden Motiven heraus und zum Zwecke der Abgrenzung von der französischen Leitvarietät durch deren lexikalische Dekonstruktion willentlich gebildet haben, indem sie die lexikalischen Ressourcen der verschiedenen am Sprachkontakt beteiligten Sprachen kreativ nutz(t)en.
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Die exemplarische Gegenüberstellung der sprachlichen Strukturen ergab, dass in sprachlicher Hinsicht sowohl Kontinuitäten als auch Brüche der betrachteten Sprachen/Varietäten relativ zueinander und auch relativ zum Französischen festzustellen sind. Es wurde zwischen einer sichtbaren Hybridität (im Falle der so genannten hybriden Varietäten) und einer unsichtbaren Hybridität (im Falle der Kreolsprachen) unterschieden. Während sich bei den Kreolsprachen die unsichtbare Hybridität auf die grammatische Organisation, d.h. die morphosyntaktischen Strukturen bezieht, ist Hybridität bei den so genannten hybriden Varietäten im Bereich des Lexikons festzustellen. Spiegelbildich dazu ist das lexikalische Inventar (das sich auch auf die Funktionswörter bezieht) in den Kreolsprachen nicht-hybriden Charakters, nämlich fast ausnahmslos französischen Ursprungs (weswegen sie als französisch-basierte Kreolsprachen bezeichnet werden), während es im Falle der so genannten hybriden Varietäten die grammatischen Strukturen sind, die französischen Typs sind. Aus diesem Grund werden die hier betrachteten Varietäten auch als hybride frz. Varietäten bezeichnet. Trotzdem die Hybridität bei den Kreolsprachen bzw. den hybriden Varietäten jeweils in unterschiedlichen sprachlichen Domänen festzustellen ist, konnte auch gezeigt werden, dass sowohl im lexikalischen als auch vor allem im grammatischen Bereich z.T. nur graduelle Unterschiede vorliegen, weswegen die hier betrachteten Sprachen/Varietäten sprachlich auf einem Hybriditätskontinuum verortet wurden. Von den Kreolisierungs- bzw. Hybridisierungsprodukten, nämlich den Sprachen bzw. Varietäten, die sich, wie gezeigt, hinsichtlich einiger sprachlicher Strukturen (graduell) ähneln und als hybride Entitäten unterschiedlichen Typs bezeichnet werden können, sind die jeweiligen Geneseprozesse zu unterscheiden. Diese sind, wie herausgearbeitet wurde, unterschiedlich motiviert, laufen mittels verschiedener Mechanismen und vor allem auch in stark unterschiedlichen soziohistorischen Kontexten ab. Daher sollten diese Prozesse auch unterschiedlich bezeichnet werden.
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Was auf das Loblied folgte Der Schritt vom Prolog zur Créolité J ULIANE T AUCHNITZ
»Notre société a certes subi des mutations, mais dix ans, c’est trop peu à l’échelle des sociétés pour remettre en cause une analyse qui était aussi prospective à travers le concept de diversalité. En fait, nous n’avions fait que l’annoncer dans l’Éloge et je crois qu’il est grand temps de l’approfondir.« (Confiant, in Confiant/Ludwig/Poullet 2002: 154f.)
Als Raphaël Confiant diese Aussage trifft, ist der von ihm und seinen Schriftstellerkollegen Patrick Chamoiseau und Jean Bernabé redigierte Aufsatz Éloge de la Créolité bereits mehr als zehn Jahre alt. Ein Text von drei Autoren der Antilleninsel Martinique, der weltweit Aufmerksamkeit erregte, zunächst aber als Rede, die sie 1988 beim Festival caraïbe de la Seine Saint-Denis auf die Créolité hielten, auf sehr verhaltene und beinahe entmutigende Resonanz stieß (vgl. Taylor 1997). Doch schon vor seiner Publikation bei Gallimard begann das kleine Werk zu kursieren und sollte bald einen grundlegenden Prozess kulturellen Umdenkens im frankokaribischen Raum einleiten, der sich mit dem Aufspüren der eigenen traumatischen Geschichte, Sprache, pluralen Gesellschaft – mit der Suche nach der eigenen Identität beschreiben lässt. Ein gutes Jahrzehnt nach dem Erscheinen dieses Prologs nun betont Confiant in oben genanntem Zitat, dass jener dichte und poetische Aufsatz nur Fragen und Probleme aufwerfen konnte, die als essentiell für die Créolité erkannt wurden, dass es jetzt aber notwendig sei, die skizzierten Ideen des Gründungstextes im Detail auszuarbeiten; d.h. das Éloge konnte nur als Grundstein dienen, aus einer initialen Vision eine fruchtbare Theorie zu entwickeln.
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In diesem Beitrag rückt eben jene angestrebte Umsetzung dieses literaturund kulturtheoretischen Entwurfs, als das man das Éloge bezeichnen kann, in den Blickpunkt. Es wird die Frage gestellt, auf welche Weise die Autoren ihr Konzept zementiert und ihm Stabilität verliehen haben. Methodologisch wird es daher als sinnvoll erachtet, die Arbeiten der drei Autoren nicht isoliert zu betrachten, sondern in Verbindung zu setzen, um so gemeinsame Linien und Schnittpunkte aufzuspüren. Die Analyse richtet sich auf zwei Bereiche, die im Éloge als fundamental für die kreolische Kultur und Identität erachtet werden: der Aspekt der Sprache (aus kulturtheoretischer Perspektive) sowie die Geschichte(n) – H/histoire –1, anhand derer Rückschlüsse zu Kohärenz und Umsetzung des Éloge gezogen werden sollen.
1. Z UR F RAGE
DER
S PRACHE
Es ist wenig verwunderlich, dass sich Jean Bernabé als Linguist insbesondere der Sprachproblematik der französischen Antillen zuwendet. Doch auch Patrick Chamoiseau und vor allem Raphaël Confiant engagieren sich von Anfang an in diesem Bereich. Zunächst stellen alle drei die dringende Notwendigkeit heraus, sich für den Erhalt der Muttersprache einzusetzen.2 Jedoch nicht auf Kosten ihrer zweiten Sprache, Französisch. So fordert Bernabé: »[…] un développement des créoles qui, sans les couper de leur mouvance romane, leur assigne un profil qui ne soit plus tributaire de la ›décolonisation maximale de fait‹.« (Bernabé 2008)
1
Im Französischen lässt sich dieser Terminus graphisch prägnanter darstellen, wenn man von Histoire bzw. histoire spricht und sich mit ersterem Begriff auf die von der einstigen Kolonialmacht Frankreich auferlegte Geschichte/Geschichtsschreibung bezieht, während letzterer die ›darunter verschüttete‹, nicht schriftlich fixierte Vergangenheit meint, die in der kolonialen Geschichte untergegangen ist: »Notre Histoire (ou plus exactement nos histoires) est naufragée dans l’Histoire coloniale.« (Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1993: 36)
2
In einer Vielzahl von Artikeln behandeln die Autoren des Éloge de la Créolité die Gefahr des Verschwindens der kreolischen Sprache (vgl. Chamoiseau 1994, Confiant 2001). Der Aufsatz »Le Capes de créole: stratégies et enjeux« (2002) beispielsweise ist eine gemeinsame Arbeit von Bernabé und Confiant, in der sie die Differenz bezüglich des Status dieser Sprache in Martinique (als Regionalsprache) im Vergleich zu Haïti oder den Seychellen herausstellen, wo das Kreol Nationalsprache ist. Dabei unterbreiten sie mögliche Lösungen, die den Status des Kreol auf den antillischen Inseln festigt.
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Die Verteidigung des Kreolischen wird also nicht mehr auf militante Weise verfochten, der Autor plädiert vielmehr für ein »écosystème«3 (ebd., vgl. auch Chamoiseau 1994: 158), ein Gleichgewicht zwischen den Sprachen des frankoantillischen Raums.4 Diese angestrebte Stabilität wird als Lösung präsentiert, die sich auf die gesamte Kultur transferieren lässt, die, durch Fragmentiertheit und Brüchigkeit gekennzeichnet, lange in Binarismen beschrieben wurde, wie Chamoiseau anmerkt: »Cela reviendra à miser sur la culture française contre la culture créole, sur la langue française contre la langue créole, sur la vieille tradition d’écriture franco-occidentale contre l’oralité créole traditionnelle.« (Chamoiseau 1994: 152)
Chamoiseau zufolge muss zuerst die Kluft, die jene zwei Kulturelemente entzweizubrechen sucht, bloßgelegt werden. Und genau in diesem Punkt sehen die Autoren ihre Verantwortung, wie Chamoiseau weiter formuliert: »[…] il s’agit d’envisager une création artistique capable de mobiliser la totalité qui nous est offerte, tant du point de vue de l’oralité qui de celui de l’écriture. Il s’agit de parvenir à une totalité ouverte de l’expression […]« (Ebd.: 158)
Was hier zutage tritt, ist ein Engagement5, das die gesamte erste Dekade nach Erscheinen des Éloge charakterisiert. Engagement, das hier auf den ersten Blick
3
Der Begriff des écosystème, den Bernabé und Confiant als Beschreibung eines anvisierten Sprachstatus benutzen (vgl. auch Bernabé 1992, Bernabé/Confiant 2002), löst sich bei Chamoiseau (und Glissant) aus dem Bereich der Linguistik und wird zu einem Synonym von sozialem Wandel, stets in Vergleich gesetzt mit Veränderungen der natürlichen Umgebung, die ihre Kultur mitbedingt (siehe dazu z.B. Glissant/Chamoiseau 2009; Chamoiseau/Douaire 2008, Chamoiseau 1994).
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Es handelt sich jedoch nicht um eine ausgewogene Situation; die Sprachproblematik auf den karibischen Inseln kann nicht als bilingue, sondern dem entgegen als diglossique bezeichnet werden, ein Begriff, den Charles A. Ferguson 1959 einführt und der das Verhältnis zweier Sprachen in einem Raum nicht als gleichwertig beschreibt, stattdessen ein hierarchisches Verhältnis aufmacht, bei dem die eine der anderen Sprache untergeordnet ist (vgl. Bollée 2007; Pausch 2006).
5
›Engagement‹ rekurriert hier nicht auf das Konzept Sartres, sondern auf eine Literatur, die nicht nur direkt auf soziokulturelle Veränderungen Einfluss nehmen soll, sondern auch transtextuelle Bezüge zu Werken anderer (und älterer) Schriftsteller schaffen soll (vgl. Chamoiseau/Confiant 1999: 273-276).
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rein linguistischer Natur zu sein schien – die Frage nach dem Sprachstatus und die Bewahrung des Kreolischen angesichts der Dominanz des Französischen –, das jedoch untrennbar mit der Arbeit eines Schriftstellers verbunden wird. Die Autoren unterstreichen so Komplexität und Verwobenheit ihrer selbstdefinierten Aufgabenfelder. An jene Forderung nach dem Aufdecken ihrer culture-en-rupture knüpfen sie darüber hinaus an eine Problematik an, die sich vorformuliert bereits im Éloge findet: die Zerrissenheit des Menschen, der zwischen zwei Sprachen pendelt, was einhergeht mit der Wahl der Sprache, in welcher sich der Schriftsteller ausdrückt. Im Éloge hatten Bernabé, Chamoiseau und Confiant bereits die Ambiguität signalisiert, die damit verbunden ist, über zwei Sprachen zu verfügen: »Notre richesse bilingue refusée se maintient en douleur diglossique.« (Bernabé/Chamoiseau/Confiant. 1993: 25) Dieses Problem wird in den Texten, die jenem im Nachhinein zum Manifest erhobenen Essay folgen, immer wieder aufgegriffen. So veröffentlicht Chamoiseau 1997 das philosophische Werk Écrire en pays dominé, in dem er der Geschichte, der gesellschaftlichen und literarischen Entwicklung Martiniques nachspürt und gleichzeitig seinen eigenen Weg als Schriftsteller aufdeckt – all dies unter dem Blickwinkel der omnipräsenten Dominanz Frankreichs. Indem er sich den von Frankétienne geprägten Begriff der schizophrénie littéraire aneignet – d.h. des Oszillierens eines Schriftstellers zwischen dem Kreolischen und dem Französischen6 –, zeigt er deutlich, dass beide Sprachen stets eine un(auf)lösbare Spannung in sich tragen, hervorgerufen durch die vielfach belegte Kolonisierung und deren Konsequenzen. Im Gegensatz aber zu dieser häufig als Pein aufgefassten Situation, priesen die drei Autoren bereits im Éloge den Reichtum dieses Plurilinguismus; damit wandelten sie das koloniale Joch (vgl. Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1993: 26) in eine Quelle spannungsreicher Kreativität. Jene Ambivalenz zwischen einerseits dem Trauma, der Muttersprache zugunsten eines auferlegten Idioms beraubt worden zu sein, und andererseits dem Vorteil, über verschiedene Mittel der Entäußerung zu verfügen, zieht sich wiederum durch den gesamten Text des Écrire en pays dominé: Denn hier reibt sich die Bemerkung, »[m]a prime
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»Ceux qui avaient choisi la langue dominée – la langue créole – y appliquaient un cahier des charges inspiré par la langue dominante. Il fallait l’égaler, occuper ses espaces, remouler ses empreintes, manier ce qu’elle maniait […] D’autres […] entraient en schizophrénie littéraire, selon le mot de Frankétienne. Ils produisaient une œuvre en langue dominante, une autre en langue dominée.« (Chamoiseau 1997: 66f.)
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douleur fut dans ce drame des langues: entre langue créole et langue française« (Chamoiseau 1997: 274) mit einem Satz, in dem sich Chamoiseau auf zwei Romane von großem Einfluss bezieht (Malemort, auf Französisch verfasst von Édouard Glissant, sowie der kreolische Roman Dézafi von Frankétienne): »J’y avais découvert cette circulation intense entre la langue créole et la langue française, et la liberté créatrice dans une langue dominée.« (Ebd.: 100) Dieselbe Zerrissenheit, die sich aus dem Problem der translatio ergibt, findet sich bei Raphaël Confiant wieder. Der Autor gebraucht hierfür den von Pierre Davy übernommenen Terminus des mal diglossique: »Le mal diglossique antillais, pour résumer, consiste donc à n’être bien dans aucune langue. Ce mal ne concerne pas seulement le créole, il a à voir aussi avec le français et l’usage qu’en fait le Martinquais.« (vgl. Confiant 2007a) Erstaunlicherweise kehrt Confiant diesen Satz aber um in seinem polemischen Text über den Vater der Négritude – Aimé Césaire. Une traversée paradoxale du siècle. Während er in oben genanntem Zitat ein Unwohlsein bzw. ein Sich-Fremd-Fühlen in nur einer der beiden Sprachen betont, akzentuiert er dem gegenüber in folgender Bemerkung die positive Seite jener Situation, die sich als ein entre-deux-langues (vgl. Djebar 1999) präsentiert: »[…] nous considérons que le français est devenu tout autant notre langue que celle des Hexagonaux. Nous considérons que nous possédons deux langues […]« (Confiant 1996: 122) Es ist anzumerken, dass die Thematik der Sprache(n) nicht einfach in den Arbeiten dieser Autoren vorgestellt wird, damit zeigt sich, dass die Sprache hier zwei verschiedene Funktionen besitzt: zunächst, so wie sie bei Chamoiseau und Confiant beschrieben ist, übernimmt sie die Funktion eines Widerspiegelns (fonction spéculaire), d.h. sie reflektiert soziokulturelle Prozesse des Bruchs, sie ist der Aspekt, der historische Entwicklungen der Gesellschaft beleuchtet. Hinzu kommt eine zweite Ebene, wie sie bei Louisy beschrieben wird: »The centrality of language as a factor in identity formation is therefore the strongest argument for the support of indigenous languages of the Caribbean, a support that goes beyond simply allowing it to find its own level in an international environment which clearly favors those languages recognized as world language.« (Louisy 2003: 110, Herv. J.T.)
Diese Aussage zeigt, dass die Sprache über die erste Funktion hinausgeht und aktives Instrument wird, also nicht mehr nur eine Art Spiegel ist, sondern selbst Einfluss nimmt auf die Evolution der Gemeinschaft. Beide Funktionen, bezogen auf die antillische Gesellschaft, spielen in unserem Kontext eine essentielle Rolle, da dies rückwirkt auf die diffizile Position
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des Schriftstellers, der sich zwischen jenen Sprachen verortet.7 Die Verfasser des Éloge haben dies zu einem Sujet ihrer Reflexionen gemacht. Abgesehen von den ersten Romanen, die Confiant auf Kreol geschrieben hatte, und auch die kleinen Versuche Chamoiseaus in dieser Sprache außer Acht lassend,8 haben sie sich stets für (ein) Französisch entschieden: »[Raphaël Confiant et Patrick Chamoiseau] voulaient défendre la langue et la culture créoles menacées par la langue et la culture françaises. Mais le paradoxe est que l’histoire de ces langues et de ces cultures est étroitement liée. Par ailleurs, les deux écrivains étaient aussi de langue et de culture française.« (Perret 2001: 9)
Diese Wahl der Sprache wird von politischen und ökonomischen Implikationen mitbestimmt (vgl. DeSouza 1995: 173). So schreibt Chamoiseau: »Si j’avais écrit en créole, je serais demeuré plus invisible que les crabes-mantous lors des grands secs de février.« (Chamoiseau 1997: 74) Rafaël Lucas wiederum erklärt, dass »[…] le problème incontournable de la ›visibilité‹ se pose donc de manière implacable, au beau milieu du paysage éditorial réel du pays créole rêvé. Il reste une solution toutefois: écrire dans une langue intermédiaire, un interlecte, un français créolisé. Mais écrire en français intermédiaire ne serait-ce pas aussi un compromis, ou pire, une compromission?« (Lucas 2006)
Diese Schlussfolgerung kann zwar als folgerichtig gelesen werden; gleichwohl reduziert sie die Wahl der parole des Éloge auf den marktwirtschaftlichen Aspekt. Zudem reagieren die Autoren selbst auf diese Problematik. So äußert Confiant in dem Artikel »Questions pratiques d’écriture créole«, dass diese Entscheidung nichts mit einem Kompromiss zu tun habe: »[…] la question de la langue n’est pas, et ne saurait être distincte de celle de la sémiotique. Exemple concret: la langue créole, essentiellement rurale et orale, ne possède pas de niveau descriptif. […] Ainsi donc, si j’écris en créole, je me trouve dramatiquement confronté à cette absence de vocabulaire descriptif […]
7
Siehe dazu auch Chancé 2000, vor allem das Kapitel »Les affres de l’écrit«.
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»[…] j’utilisais la langue dominée pour des bandes dessinées, des histoires racontées en contrebande.« (Chamoiseau 1997: 67)
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[…] Passé au français, quelque dix années plus tard, j’ai eu la surprise de me retrouver confronté à un problème similaire, quoique dans des termes complètement différents. […] Aucune de ces deux langues ne parvient à satisfaire son désir [de l’écrivain antillais] de dire le réel antillais. […] Bien entendu, la langue dans laquelle doit s’exprimer ce récit ressassé ne peut être le français standard ou hexagonal. Il ne peut être qu’un français habité par les mots et surtout l’imaginaire créoles.« (Confiant 1994: 172-179)
Chancé geht von eben jener Position aus, als sie das Innovative in der Sprache Chamoiseaus und Confiants betont: »L’auteur crée une expression qui n’est pas dans le créole, donc il peut se passer du créole, il passe directement au français dans lequel il peut innover, bien que le fondement de son invention linguistique soit une expression créole. Ainsi, la langue créole est à la fois absente et nécessaire, en creux.« (Chancé 2000: 128)
Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass die Debatte der Sprachwahl nicht bloß theoretisch geführt wird, sondern sich auch auf die fiktionalen Texte der Autoren erstreckt. So hat die Mehrzahl der narrativen Werke Chamoiseaus dieses Thema zum Objekt – sowohl auf der histoire- als auch auf der discours-Ebene, wo sich das Kreolische als Spur in den französischen Text einschreibt (z.B. Texaco, L’esclave vieil homme et le molosse, Solibo Magnifique) und teilweise das geschriebene Wort durch die mündliche Sprache des conteur créole überdeckt (v.a. Chronique des sept misères). Neben dieser Diskussion über Sprache und Sprachwahl – die fortdauert und fortdauern muss, da sie der Theorie der Créolité inhärent ist als permanente (In-) Fragestellung (vgl. Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1993: 27) –, darf bezüglich der Sprachproblematik auch der zuerst genannte Aspekt der Verteidigung des Kreolischen nicht verdrängt werden. Dieser hat im Gegensatz zur expliziten Thematisierung der Sprachwahl allerdings eine Veränderung erfahren. Die Dringlichkeit, das Kreolische zu stärken (ebd.: 43 ff.), scheint für die Autoren im Verlauf der letzten 20 Jahre zunehmend an Bedeutung verloren zu haben. Dieser Punkt wird hier noch einmal aufgegriffen, weil er sich direkt auf die Schreibweise des Schriftstellers auswirkt. Denn die Position des Kreolischen in der antillischen Gesellschaft wird nicht als zweitrangig erachtet. Doch die Literatur
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ist nicht mehr der Ort, an dem das Bewusstsein für die Problematik geschärft werden muss. Chamoiseau resümiert dazu: »Ce que nous avons aussi réussi, d’une certaine manière: nous avons libérés les gens de l’emprise de la langue française; alors que les gens écrivaient le français, […] comme une manière, comme un objet qu’il ne fallait absolument pas bousculer. Et la langue créole, bien sûr, était mise de côté. Aujourd’hui dans le rapport à la langue française, les gens sont plus libres. Ce qu’on appelle les créolismes, qui étaient une horreur, ça commence même dans les journaux comme France-Antilles: on met le créole, on mélange le créole et le français, les gens vont utiliser leurs deux langues beaucoup plus facilement. Avant, c’était la langue créole à côté, vraiment, [les deux langues] étaient séparées. Mais maintenant, il y a un petit naturel puisque les deux langues sont dans nos têtes.« (Interview Chamoiseau/Tauchnitz, Fort-deFrance, Martinique, 28.2.2008)
Im Anschluss geht Chamoiseau auf seine veränderte écriture ein: »Le langage que je pratiquais en termes de langage créolisé ou créolisant, est peut-être moins visible aujourd’hui dans mes romans. On me dit ›Vous ne l’écrivez plus autant que dans Chronique des sept misères‹ – moi, je dis que c’est déjà fait, la porte est ouverte […] Mais la langue créole est intégrée, digérée dans mon langage.« (Ebd.)
Nichtsdestotrotz unterstreicht er die Bedrohung des Kreolischen, die nicht unterschätzt werden darf: »La situation de la langue créole, elle-même, elle est encore très, très difficile. Il y a tout un travail encore à poursuivre.« (Ebd.) Bei Confiant, selbst wenn es aus einer gänzlich anderen Perspektive geschieht, erkennt man ein ähnliches Verständnis: »La nécessité de transformer le créole en une langue écrite, et non de la sauvegarde tout simplement de la langue orale, donc la nécessité de créer une littérature créole écrite, je crois que c’est quelque chose d’acquis aujourd’hui, dans la mesure où, de plus en plus, des gens publient des ouvrages en créole. Avant l’Éloge, il y avait un ou deux ouvrages en créole par an, aujourd’hui, il y en a facilement quatre, cinq ou six ouvrages par an. Ça vient du fait que nous avons quand même revalorisé beaucoup l’image du créole.« (Interview Confiant/Tauchnitz, Schœlcher, Martinique, 4.3.2008)
Chamoiseau und Confiant lassen erkennen, dass die Beschäftigung mit der kreolischen und der französischen Sprache nicht nur eine theoretische Stabilisierung erfahren hat, sondern dass während der konzeptuellen Entwicklung der
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vergangenen 20 Jahre die Diskussion zu einem – wenn auch vorläufigen – Ende gekommen ist, was sich in der Bewusstwerdung der Leserschaft für diese Thematik manifestiert.
2. Z UR F RAGE
DER
G ESCHICHTE ( N )
Kommen wir nun zum nächsten für die Créolité konstitutiven Bereich: der Frage nach der Geschichte, der, wie im Folgenden gezeigt werden soll, weit enger mit ersterem verknüpft ist, als es zunächst den Anschein hat. Im Éloge de la Créolité hatten Bernabé, Chamoiseau und Confiant die Differenz zwischen Geschichte (Histoire) und Geschichten (histoires) signalisiert – zwischen jener durch den einstigen Kolonisator auferlegten und jener/jenen, die sich außerhalb, neben und unter der ersten ereignet hat/haben. Es geht ihnen um eine Geschichte im Plural, gelebt vom »petit peuple« (Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1993: 51), die niemals schriftlich fixiert wurde. In diesem zweiten Kernbereich der Créolité-Theorie tut sich zunächst ein wesentlicher Unterschied zur Sprachproblematik auf: während die Ideen zu letzterem im Éloge lediglich angerissen und in der Folge ausgearbeitet und vertieft wurden und somit eher fragmenthaft in Richtung einer Vision weisen, können die Bemerkungen zur H/histoire im Éloge verstanden werden als – oder übersetzt werden in – unmittelbare Instruktionen. Erneut soll Écrire en pays dominé von Chamoiseau beispielhaft als Erläuterung einer solchen Umsetzung dienen. Zunächst ist dieses Werk nicht die bloße Niederschrift der Vergangenheit – und kann es nicht sein, da das Erschreiben einer Geschichte der Antillen im Sinne einer Chronik nicht nur unmöglich ist, sondern auch nicht angestrebt wird von den Autoren der Créolité. Bereits in seiner Struktur (Chamoiseau greift für die Überschriften der einzelnen Teile Begriffe von Saint-John Perse auf) erlaubt der Text Rückschlüsse auf das Anliegen des Autors: Das Buch beginnt mit einer Anagogie, deren Untertitel den Gebrauch dieses Terminus beleuchtet: où l’enfant qui lisait va devoir tout relire (Chamoiseau 1997: 17). Es handelt sich um das erneute Prüfen und Reinterpretieren historischer Ereignisse, die diese Kultur geformt haben – in eben jener Weise, wie es der Éloge proklamiert hatte; mit diesem Titel wird die (theoretische) Freilegung der (in der Praxis niemals erreichbaren) tiefsten Bedeutung eingefordert und damit auf die letzte der vier allegorischen Lesarten der Bibel referiert (vgl. z.B. Eco 1977: 32ff.). Vom ersten Augenblick an also bricht Chamoiseau mit der Idee einer neutralen Geschichte und erklärt stattdessen, dass er
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eine Interpretation anbietet und damit selbst aktiv werden muss, um den zu behandelnden Ereignissen Sinn zu verleihen. Der zweite Abschnitt des Werkes – Anabase – wird eingeleitet durch eine mit »Rêver-pays« überschriebene Textpassage, die mit noch stärkerem Nachdruck einen Hinweis auf die höchst subjektive Perspektive des Autors gibt. Es handelt sich nicht darum, Geschichte schlechthin zu verstehen, sondern in die Vergangenheit einzubrechen, um zwei verschiedene Dinge zu erreichen: erstens die unter der Histoire verborgenen Geschichten des Archipels auszugraben und zweitens, in sich selbst einzutauchen: »Comprendre cette terre dans laquelle j’étais né devint mon exigence. J’étais en elle et elle était en moi. […] Je voulus oublier ce que je savais d’elle, retrouver comme dessous une ruine sa chair véritable dont mes propres chairs avaient fait leur tissu. Autour de moi, la colonisation avait mené discours. Elle avait nommé. Elle avait désigné. Elle avait expliqué. Elle avait installé une Histoire qui niait nos trajectoires. Elle s’était écrite sur nos silences démantelés. M’immerger dans ces silences gisant sous la proclamation. En minutie, vivre les paroles tombées sans voix sous l’écriture. […] Descendre en moi-même.« (Chamoiseau 1997: 105f., Herv. J.T.)
In der Analyse, die Perret von diesem Textabschnitt vornimmt, geht sie in erster Linie auf diese »silences« ein: »C’est tenter d’aller au-delà de la question de la Parole, pour dire autre chose de l’histoire créole. Explorer le silence dans cette histoire, sous deux aspects: silence de ceux qu’on a fait taire […]; mais silence aussi parce que tout n’est pas fait de parole […]« (Perret 2001: 263)
In der Tat verdeutlicht Chamoiseau hier genau diese Ambiguität; er schreibt, was nicht geschrieben ist, er füllt auf subjektive, nicht universelle Art Leerstellen auf, doch benennt er auch, wenn dieses In-die-Schrift-Setzen nicht möglich ist, die »silences« als solche und macht sie damit sichtbar. Chamoiseau zeigt so, dass sein Schreiben geträumte, emotional geladene Geschichte ist – ein »rêve [qui] passe par la chair et permet cette expédition vers l’intérieur (pour moi: ce voyage intérieur) que Perse avait élue dans le mot Anabase« (Chamoiseau 1997: 107f.). Das ist der Grund, weshalb er anschließend die Komponenten, die seine Kultur ausmachen, als einen Teil seiner selbst beschreibt: »Moi-Colons«, »MoiAmérindiens«, »Moi-Africains«, »Moi-Indiens, Moi-Chinois, Moi-SyroLybanais« – allesamt in den Plural gesetzt, um darauf hinzuweisen, dass jedes
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dieser Elemente per se bereits eine heterogene Zusammensetzung ist. Dieses zweite Kapitel endet schließlich mit dem Teil »Moi-créole«, diesmal durch einen Singular markiert, der ein komplexes Ganzes (ein tout – und nicht eine totalité, um die Terminologie Glissants aufzugreifen) umfasst, das aus diversen Einzelteilen, einem »magma anthropologique« (ebd.: 110) besteht. Vergangenheit wird hier nicht abstrakt gedacht, sondern als gelebte Geschichte, die ihren Einfluss auf die Gegenwart nimmt und damit den Weg für Kommendes bereitet, was wiederum an jenen oben zitierten Traum anknüpft, der nicht nur oniristische Reflexion der Geschichte ist, sondern gleichzeitig eine Zukunftsvision formuliert: »L’Autre me change et je le change. Son contact m’anime et je l’anime. Et ces déboîtements nous offrent des angles de survie, et nous descellent et nous amplifient. Chaque Autre devient une composante de moi tout en restant distinct. Je deviens ce que je suis dans mon appui ouvert sur l’Autre. Et cette relation à l’Autre m’ouvre en cascades d’infinies relations à tous les Autres, une multiplication qui fonde l’unité et la force de chaque individu: Créolisation! Créolité! Dans la Créolité martiniquaise chaque Moi contient une part ouverte des Autres, et au bordage de chaque Moi se maintient frissonnante la part impénétrable des Autres. J’avais quitté là, dans un acmé des rêves, l’identité ancienne.« (Chamoiseau 1997: 223)
Der letzte Teil von Écrire en pays dominé ist schließlich eine Anabiose, eine Rückführung ins Leben, was noch einmal die Aktivität unterstreicht. Dabei wird evident, welche Rolle Chamoiseau der Schrift zuerkennt: »L’Écrire peut ainsi désagréger une domination, aiguillonner de l’énergie courante dans un sursaut. Cela fondait un jeu d’alliance entre mon Écrire et ma résistance.« (Ebd.: 300) Und weiter: »L’Écrire pouvait manier ici une mise-en-alerte: ce paradoxe des diversités accessibles aux vouloirs et leur homogénéisation possible […] Conserver la saveur du Divers demande lumière tissée dans l’ombre, partage et distance, de la mise-à-portée et du maintien inexplorable.« (Ebd.: 317)
Obwohl Écrire en pays dominé sich auch mit anderen entscheidenden Aspekten, die die kreolische Kultur ausmachen, befasst, kann der Text als ein historiographischer erfasst werden – in jenem neuen Sinne, der die Créolité innerhalb der nach wie vor aktuellen Diskussion zum Konzept von Geschichte situiert, wie sie
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insbesondere ab Hayden White (z.B. Metahistory und vor allem Tropics of Discourse) verstanden wurde und wird.9 Im Rahmen dieser Relektüre der Geschichte ist auffällig, dass auch die Geschichte – wie zuvor bereits sichtbar bei der Frage nach der Sprache und damit finden die beiden vorgestellten Bereiche hier zusammen – nicht losgelöst vom Akt des Schreibens betrachtet werden kann. Ein solches ›Geschichtswerk‹ zu verfassen bedeutet in diesem Kontext, Einfluss auszuüben, Geschichte (hier in der Überlappung von Vergangenheit und Narration) zu erzählen und damit zu entwerfen. Deshalb ist es umso auffälliger, dass Chamoiseau, während er in Écrire en pays dominé die Literatur als Werkzeug im Prozess der Identitätskonstruktion herausstellt (vgl. Milne 2006),10 im Jahr 2007 sein Schaffen in beinahe umgekehrter Weise, abseits von dieser Rolle, versteht: »[…] comme la littérature ne fait pas d’histoire, ne fait pas de thérapie, ne fait… la littérature fait de la littérature. Mais c’est vrai que, comme on est en train d’explorer des situations existentielles humaines, on touche à toutes les sciences humaines et on mobilise toutes les sciences humaines. Un roman se situe toujours dans une trajectoire.« (Chamoiseau 2007)
Tatsächlich lässt sich hier eine Abschwächung des in Écrire en pays dominé geforderten Engagements bemerken. Chamoiseau räumt ein, dass die im Éloge geäußerten Absichten keine unabänderlichen Dogmen stellen, sondern als initiale Tendenzen der Créolité-Bewegung gedacht werden müssen. Selbst wenn also das über die Literatur zu sensibilisierende Bewusstsein für die eigene Geschichte im Éloge noch als direkte Anweisung zu verstehen war, schließt das nicht eine graduelle Korrektur dieser Direktiven aus. So ändert bzw. relativiert Chamoiseau seinen Standpunkt darüber, was Literatur zu leisten hat. Außerdem belegt das Zitat, dass die Entstehung eines Textes stets in einen spezifischen historischen Kontext eingebettet ist und auch so gelesen werden muss. In diesem Punkt treffen sich die Meinungen von Chamoiseau und Confiant, der 2008 dazu meint:
9
Ich beziehe mich hier vor allem auf die Weise, Historiographie als Bruch mit dem traditionellen Geschichtsdiskurs zu verstehen und bei der die Trennung zwischen Geschichte und Narration/Fiktion aufgelöst wird (vgl. dazu auch de Toro 2006).
10 Milne bilanziert, dass »[…] pour Chamoiseau, ›l’Ecrire‹ a une fonction non seulement esthétique mais politique. Axe essentiel de la construction d’une identité […], la littérature sera l’arme privilégiée du guerrier de l’imaginaire« (Milne 2006: 181).
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»Comme tout concept, [la Créolité] est ancré[e] dans une historicité […] Les concepts sont créés à des moments précis, ils répondent à des besoins historiques précis. Lorsque le temps passe, la situation change et il est évident qu’il faut renouveler le concept.« (Interview Confiant/Tauchnitz, Schœlcher, Martinique, 4.3.2008)
Dieser Logik folgend und im Bewusstsein, dass die Aussage eines Autors über sein eigenes Werk nicht gleichzusetzen ist mit dem Werk selbst, erkennt man bei Chamoiseau also keine Abkehr vom (›ursprünglichen‹) Konzept der Créolité, sondern eine kontinuierliche Arbeit, die zu einer partiellen Revision der Anfangsideen führt. Des Weiteren wird deutlich, dass der Geschichtsaspekt auch 2007 und damit 15 Jahre nach Erscheinen von Écrire en pays dominé – und nicht nur bei Chamoiseau – noch bedeutsam ist, wenn er auch von einer explizit formulierten Aufgabe zu einer implizit berücksichtigten Komponente übergegangen ist, was sich in den Romanen Un dimanche au cachot (2007) und vor allem Les neuf consciences du Malfini (2009) niederschlägt. Natürlich ist es hier nicht ausreichend, auf einen Text zu fokussieren und diesen nach dem Verhältnis zur Geschichte zu befragen, da es sich bei der Créolité um das Konzept einer Gruppe von Autoren und Philosophen handelt. Auch bei den anderen Mitgliedern der Bewegung spielt der Geschichtsaspekt eine Rolle. So führt Jean Bernabé an der Schwelle zum neuen Jahrtausend einen essentiellen Terminus ein, um sich dem Komplex von Geschichte und Memoria zu nähern: partage des ancêtres. Bernabés vorgeschlagener Begriff zielt auf dieselbe Perspektive wie Chamoiseau, d.h. darunter wird eine Komposition verschiedener Fragmente subsumiert, jenseits jeglicher auferlegter Linearität und unter Einstreuung eines subjektiven Anteils: »[…] nous n’avons pas seulement un devoir de mémoire mais aussi un devoir d’oubli. Mais le devoir d’oubli ne sera possible que lorsque nous aurons accompli celui de mémoire et ce, à travers une exaltation des lieux et des opportunités les plus adéquates. Le partage des ancêtres, telle est la vraie exigence moderne. […] nous sommes en mesure d’accéder à une vision plus dialectique des choses, vision au terme de laquelle il nous importe de reconnaître et d’assumer aussi ›nos ancêtres les Gaulois‹. À une condition toutefois: que tous les Antillais, Békés compris, puissent aussi proclamer: ›nos ancêtres les Bambaras, les Malinké, les Dogons, les Tamouls et j’en passe…‹. Le partage est et ne peut être que reconnaissance de l’autre et fruit d’un libre dialogue des cultures. Mais comment faire dialoguer toutes les cultures? C’est là une question grave et difficile. Qui ne se résout pas par des envolées lyriques et des phrases creuses. Il y faut plus qu’un atelier, un véritable chantier, mieux encore : une forgerie. C’est une exigence
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absolue que de développer nos capacités imaginaires et symboliques, instruments irremplaçables de la culture, notre seule patrie.« (Bernabé 2009, Herv. J.T.)
Hier tritt nicht nur die entscheidende Rolle der Literatur im Geschichtsfindungsprozess hervor, zudem begegnet der Begriff des partage des ancêtres Chamoiseaus Erläuterungen zum Moi-créole: Es sind beides Termini, die eine Identität beschreiben, die sich aus multiplen Elementen gründet, von denen eben auch jene europäische Seite nicht ausgeschlossen werden kann, die von Césaire einst so rigoros negiert wurde. Wesentlich ist dabei, dass ebenfalls Bernabé diese Debatte auf sein Romanwerk ausweitet: » – […] Ce qu’il faut bien admettre, c’est que la colonisation nous a tous forcés à partager nos ancêtres! […] – Oui messieurs, ne vous en déplaise, la créolité, je le redis, c’est le partage des ancêtres!« (Bernabé 2004: 204)
In diesem Begriff des partage des ancêtres wird sichtbar, wie weit das Denken der Éloge-Autoren trotz wesentlicher (terminologischer) Unterschiede miteinander verwoben ist. So übernimmt Raphaël Confiant den Terminus in verschiedenen Artikeln (z.B. »Créolité et francophonie«, o.J. oder Confiant 2007b): »[…] la Créolité a conduit à ce que l’on pourrait appeler ›le partage des ancêtres‹ […] En fait, ce partage a toujours existé, mais en secret […] Ce qui a donc changé, c’est que ce partage se fait ouvertement, sans crainte d’être stigmatisé ou rejeté par les membres de son groupe ethnique. C’est cette évolution inexorable vers la déracialisation des rapports sociaux que s’efforce de prendre en charge, non sans difficultés tant les pesanteurs historiques sont fortes, le discours de la Créolité.« (Confiant 2007b)
Confiant bedient sich des Begriffes von Bernabé, um seine eigenen Ideen weiterzuführen: in dem konkreten Zitat verwendet er ihn, um die Veränderungen aufzudecken, die jener partage im Laufe der Zeit erfahren hat und setzt ihn damit in einen soziopolitischen Kontext. Das Beispiel um diesen Begriff demonstriert die netzartigen Verflechtungen, die der Créolité-Diskurs hervorbringt: derselbe Terminus, dasselbe Sujet, wird von verschiedenen Autoren aufgegriffen, nicht nur, um ein spezifisches Phänomen zu beschreiben oder ein- und denselben Aspekt zu bestätigen, sondern
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Begriffe werden entliehen und gedehnt, um die Diskussion voranzutreiben oder in einen anderen Kontext zu überführen. Diese äußerst fruchtbaren Verwebungen dürfen jedoch nicht überdecken, dass es gerade im Bereich der Geschichte(n) verschiedene Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Texte teilweise ein bereits erarbeitetes Repertoire wiederholen und sich so in ihrer Aussagekraft selbst reduzieren. Besonders evident lässt sich dieses Vorgehen am Terminus des mythe fondateur nachvollziehen, den Chamoiseau in der durch Glissant vorgegebenen Weise verwendet.11 Als sich Chamoiseau nämlich mit der Rolle des conteur und besonders seiner Funktion in der kreolischen Gemeinschaft beschäftigt, grenzt er diese vom mythe fondateur ab: »[Le conteur] n’était pas recueilleur d’une mémoire millénaire qui fonde un Territoire. Sa parole n’émergeait pas des lignes d’une Genèse ou d’un mythe fondateur, ni d’une Histoire ramifiée dans des chants littéraires, elle n’avait que le trouble du bateau négrier, l’éblouissement sanglant des désastres coloniaux, l’emmêlée des histoires venues de tous les Territoires.« (Chamoiseau 1997: 193; Herv. J.T.)
Eben diesen Gedanken nimmt Chamoiseau in dem Artikel »Dans la Pierremonde« wieder auf, wo er erneut jenen Mythos dem conte créole gegenüberstellt, um die Differenz zwischen beiden Modellen zu unterstreichen: »[Dans les terres de créolisation] va se produire une cacophonie de multiples narrations qui vont se combattre et s’entrechoquer. Il y aura des Genèses, des mythes fondateurs, des histoires. Ceux des Africains, des Amérindiens, ceux des colons vainqueurs, ceux des
11 Glissant gebraucht den Begriff, um sich auf das Verstehen okzidentaler Kulturen zu beziehen, atavistische Kulturen mit einer »identité-racine« (vgl. Glissant 1990: 157f.), deren Ursprung in einem solchen Gründungsmythos (vgl. ebd.) liegt. In Introduction à une poétique du divers erklärt Glissant die Konsequenzen, die ein solcher Mythos im Verlauf der Geschichte hervorruft: »Le rôle principal des mythes fondateurs est de consacrer la présence d’une communauté sur un territoire […] Par extension de légitimité […] il arrive que, passant du mythe à la conscience historique, la communauté considère alors qu’il lui est donné par droit d’accroître les limites de ce territoire. C’est là un des fondements de l’expansion coloniale qui est apparu comme étroitement lié à l’idée d’universel, c’est-à-dire avant tout à la légitimisation généralisée d’un absolu qui était d’abord fondé sur un particulier élu, dans un particulier élu. L’Histoire est donc réellement fille du mythe fondateur.« (Glissant 1996: 62)
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migrants qui viendront par la suite. Trop de Genèses égale pas de Genèse. Recevoir tous les mythes fondateurs, revient à ne pas en avoir. […] en terres créoles, tous les mythes fondateurs et toutes les Genèses seront happés par une narration puissante, mobile très fluide qui sera le conte créole.« (Chamoiseau 2000: 11)
Und auch in einem dritten Text, »La mise en relation«, findet sich dieselbe argumentative Struktur: »Une communauté d’hommes s’arrête sur une portion de sol […], elle va se créer une explication de la création de l’univers: une Genèse. Et, de cette Genèse, la communauté va extraire un récit, une narration d’elle-même qui se constituera en mythe fondateur. De ce mythe fondateur va s’articuler une autre narration évènementielle […], l’Histoire de ce peuple. Ce fil […] va légitimer la possession du sol par cette communauté. Cette forte légitimation va créer des Territoires. Peu de cultures échapperont à ce mécanisme d’exclusion de l’Autre. C’est grâce aux certitudes inscrites dans leurs Territoires que les peuples d’Occident vont justifier leur expansion hégémonique: le colonialisme, l’impérialisme et les dominations actuelles.« (Chamoiseau o.J., Herv. J.T.)
Eine derart häufige Wiederholung führt unweigerlich zur Frage nach ihrer Intention. Dabei gilt es, verschiedene Möglichkeiten zu berücksichtigen: handelt es sich beispielsweise um ein Wiederschreiben nach Art Antonio Benítez-Rojos in La isla que se repite? Auf den ersten Blick scheint das weit hergeholt, zumal der kubanische Autor anmerkt, dass die Wiederholung auch immer die Differenz trägt, gemäß der Logik von Différence et Répétition von Gilles Deleuze (1968). Nichtsdestoweniger fragt er: »[…] ¿qué es lo que se repite? Tropismos, series de tropismos, de movimientos en una dirección aproximada, digamos la imprevista relación entre un gesto danzario y la voluta barroca de una verja colonial« (Benítez-Rojo 1989: v). Diese Frage kann sicherlich hilfreich sein, wenn man die Wiederholung, wie sie sich bei Chamoiseau präsentiert, erfassen möchte und die mehrfach als Charakteristikum erwähnt wird. So wird sie bei René Ménil als »inventaires répétés« (Ménil 1999: 252) beschrieben und Mireille Rosello spricht von einer »répétition dérangeante« als anwendbarer Taktik in Chamoiseaus Schriften (Rosello 1992: 34). Die Frage nach der repetitiven Funktion zu stellen, verhindert eine zu hastig geäußerte Kritik an der Argumentation in Chamoiseaus Texten, die zugleich als Vorgehensweise des Sichtbarmachens identitärer und kultureller Phänomene verstanden werden muss.
D ER S CHRITT VOM P ROLOG ZUR C RÉOLITÉ
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All die aufgezeigten (mehr oder weniger fruchtbaren) Strategien auf dem Gebiet der Sprache als auch der Geschichte legen dar, wie diese Autoren, jeder auf seine Weise, das erarbeitet haben, was sie 1989 unter dem Namen Créolité entwarfen. Ihr theoretisches und fiktionales Werk vor allem im ersten Jahrzehnt nach dem Éloge ist geprägt durch die Einflüsse, die die Autoren aufeinander ausübten, was dazu führte, dass sie nicht nur ihre anfänglichen Postulate ausbauen konnten, wie es Confiant im eingangs genannten Zitat forderte, sondern sie zeigten gleichermaßen, dass ihre Arbeit in dem Bestreben besteht, tiefer in ihre zunächst skizzenhaften Ideen einzutauchen, immer wieder ihre Visionen neu und von wechselnden Positionen des rhizomatischen Geflechts zu denken, was manches Mal dazu führte und führt, vorherige Richtungen korrigieren zu müssen.
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Créolité goes global? Zur Transgression des Créolité-Konzeptes B ASTIENNE S CHULZ
»Pour Aimé Césaire, pour Édouard Glissant, ba Frankétyèn« (Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1993); ihnen ist der martinikanische Éloge de la Créolité gewidmet. Allerdings reihen sich gerade diese Autoren in den Kanon der kritischen Stimmen ein, da das Manifest mit seiner Definition einer kreolischen Identität (Créolité) etliche Kontroversen provoziert. Die martinikanischen Schriftsteller und Wissenschaftler Jean Bernabé, Patrick Chamoiseau und Raphaël Confiant bündeln in ihrem Manifest 1989 die sprachliche und kulturelle Kreolisierung zu einer ›neuen‹ kulturellen Identität der Karibik, einer ›Kreolität‹ (vgl. Corzani 1998: 151, Ludwig 2008: 144). In meinem Beitrag sollen der anhaltenden Kritik an dieser Theorie nachgespürt und kritische Stimmen von Frankétienne, Édouard Glissant und Maryse Condé vorgestellt werden. Sie liefern zentrale, theoretische und fiktionale, Gegenentwürfe zum Éloge. Dabei steht Condés Protagonistin Célanire beispielhaft für eine – überdies spezifisch weibliche – Transgression der Werte des Éloge.
1. G RUNDSÄTZE
DES
É LOGE
DE LA
C REOLITE
Das Manifest der Créolité des martinikanischen Trios Bernabé, Chamoiseau und Confiant bildet 1989 die theoretische Grundlage für die Formulierung einer neuen Haltung und Ästhetik einer karibischen Identität, die sich gegen den Eurozentrismus wendet. Das Kreolische wird als neuer ontologischer Bezugspunkt definiert. Die Créolité-Bewegung wird als Ästhetik verstanden, die nicht nur Literatur betrifft, sondern auch politische und gesellschaftliche Bereiche berührt. Dabei rekurrieren die Autoren auf zahlreiche Vordenker des postkolonialen
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Identitätsdiskurses wie Victor Segalen, Aimé Césaire und Édouard Glissant, allerdings mit anderen Perspektiven: Im Gegensatz zu Autoren der NégritudeBewegung sehen Bernabé, Chamoiseau und Confiant neben der französischen Sprache die kreolische als Bestandteil der antillanischen Identität. Auf diese Weise integrieren sie die linguistische und kulturelle Situation der Französischen Antillen (vgl. Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1993: 17ff., Picanço 2000: 73-96).1 In Erweiterung des identitären Konzeptes einer Antillanité von Édouard Glissant beansprucht der Éloge, sich keinesfalls ausschließlich auf die Antillen zu konzentrieren und formuliert eine geopolitische Solidarität innerhalb der Karibik. In anthropologischer Solidarität sehen sich die ›Kreolisten‹ mit denjenigen Gesellschaften, die vergleichbare historische Erfahrungen im Kolonisierungskontext gemacht haben. Mit dem Bekenntnis zu einer rhizomartigen Identität im Verständnis von Édouard Glissants identité-relation (Glissant 1990: 157) beabsichtigt das Créolité-Manifest, einer Gesellschaft Rechnung zu tragen, die sich von den Antagonismen wie Zentrum und Peripherie ab- und einer polykulturellen Matrix zuwendet.2 Dieses Denken des Diversen und Multiplen steht dem Denken des Einen, Universellen und ›Puren‹ gegenüber, um schließlich eine »Antillanité, ferment d’une civilisation antillaise« (Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1993: 51) zu betonen (vgl. Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1993: 50ff., Gyssels 2010: 243, Ludwig 2008: 148, Van Kempen 2006: 42f.). Wie wird diese Créolité narrativiert? Wie zeigen sich die Prämissen des Éloge in fiktionalen Texten? Der Text soll den Éloge-Autoren zufolge die karibische Realität und die ›wahre‹ kollektive Geschichte darstellen, um so einem kulturellen Gedächtnis und damit einer kulturellen Identität Raum zu geben. Folglich zeugt er von einem mündlichen Duktus, der kennzeichnend für die Kreolsprachen und -kulturen ist. Dabei soll vor allem jenen Helden eine Stimme geliehen werden, die von der kolonialen Chronik unberücksichtigt geblieben sind: »[…] une des missions de cette écriture est de donner à voir les héros insignifiants, les héros anonymes, les oubliés de la Chronique coloniale […] et qui ne correspondent en rien à l’imagerie du héros occidentalo-français« (Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1993: 40). Damit soll die koloniale Chronik um eine Perspektive ergänzt werden, die sich vom europäischen Blickwinkel unterscheidet und ihn zugleich subvertieren. Zur Subversion von kanonischen Diskursen wird im Manifest eine Artikulationsform »[…] à contre-courant des usures,
1
Vertiefend vgl. Toumson 2004: 68, Reutner 2005: 21f., Ludwig 2008: 148f. und
2
Mittels dieser Rhizom-Metapher spürt Glissant der kulturellen antillanischen Identität
Hoffmann 2003: 3f. und ihren Verbindungen nach (Glissant 1990: 23 und Schwieger Hiepko 2003: 243).
C RÉOLITÉ GOES GLOBAL ?
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des lieux communs« (Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1993: 42f.) gefordert. Einer solchen, als authentisch verstandenen écriture kommt Patrick Chamoiseau nach, der neben der Überwindung der Négritude Glissants Einfluss nachzeichnet. Chamoiseau betont in seinen Erzählungen die Bedeutung des gesprochenen Wortes, »ce vertige créole du Divers« (Chamoiseau, 1997: 215), indem er neben der diglossischen Verwendung von Sprache eigene Sprachkreationen schafft. Dieser Vorgang kann als Deterritorialisierung des Französischen bezeichnet werden, die in einem nächsten Schritt die Sprache reterritorialisiert. Gleichwohl ist der Éloge-Autor kein Pionier auf diesem Gebiet. Derartige Reterritorialisierungsprozesse entwickeln sich in Haiti seit dem 19. Jahrhundert, so dass an dieser Stelle einmal mehr deutlich wird, weshalb dem Manifest vorgehalten wird, unzureichend an die gesamtkaribische Realität anzuknüpfen (vgl. Anderson 1995: 47-63, Bernabé/Chamoiseau/Confiant 1993: 41f., Chamoiseau 1997: 299, Chamoiseau in Canals 2008: 19, N’Zengou-Tayo 1996, Pépin/Confiant 1998: 98).3
2. G RENZEN
UND
K RITIK
Die als zunächst ästhetische Konzeption gedachte und als ausschließlich martinikanisch rezipierte Créolité entwickelt sich verschiedenen Kritikern zufolge zur Ideologie, zu einer »militant formulierten« (Ludwig 2010: 109) und totalitären Bewegung (vgl. Corzani 1998: 152ff.). Kathleen Balutansky, Robert Fournier und Mary Gallagher weisen einstimmig darauf hin, dass sich der Éloge auf ein geographisch-territoriales Konzept beschränke. Er beziehe sich theoretisch auf einen dezidiert kreolischen Raum, der sich indes in der Praxis nicht mit anderen kreolophonen Denkern vernetze. Trotz der theoretischen Einbeziehung von Louisiana und dem Indischen Ozean im Éloge finde realiter kein Austausch statt (vgl. Balutansky 1995: 104, Fournier 1995: 150f., Gallagher 2010: 99). Einen weiteren Widerspruch der Créolité-Theorie sehen Kathleen Gyssels,
3
Die Begriffe der De- und Reterritorialisierung stammen von Deleuze und Guattari. Sie beschreiben die Enteignung von Identitätsmerkmalen sowie ihre Wiederaneignung (vgl. Deleuze/Guattari 1980: 214ff., 369f., Bertrand 2005: 175f.). Gauvin bezeichnet den Übergang vom Mündlichen zum Schriftlichen als Deterritorialisierung (Gauvin 2010: 24). Nach Deleuze und Guattari wird eine Sprache mittels Dialektalisierung reterritorialisiert (Deleuze/Guattari 1976: 34f). Diese Reterritorialisierung kann auf das Karibik-Französische und das Kreolische übertragen werden (Hazaël-Massieux 1989: 287f.).
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Ralph Ludwig und Dorothee Röseberg in der Verortung in Martinique mit seiner Vergangenheit und der Abbildung einer vermeintlich globalen Gegenwart und Zukunft (vgl. Gyssels 2010: 240f., Ludwig/Röseberg 2010: 27). Gallagher spricht von einer Rückwärtsgewandtheit, die eine derartige Perspektive einnehme (vgl. Gallagher 2007: 222f.). Diese Widersprüchlichkeit im Éloge führt zu einer Binarität zwischen ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹. Dies versteht Ottmar Ette als Abgrenzung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, die kaum auf eine offene, der Welt zugewandten Identität rekurrieren könne (vgl. Ette 2001: 468ff., ders. 2002: 287). Die Annäherung an die antillanische Literatur über ein derart normatives Modell wie die Créolité schreibt sich auch Corzani zufolge in den Diskurs einer Dichotomie vom Einen und Anderen ein, in der das Andere sich stets auf der ontologischen Suche befinden muss, während das vom Einen nicht erwartet wird (vgl. Corzani 1998: 152ff.). Dieser Kritik schließt sich Maryse Condé insofern an, als sie in den Forderungen des Éloge einen sprachlichen Zwang sieht, der Autoren in der freien Verwendung von Sprache und Themen einschränke. Insgesamt vertritt Condé daher den Standpunkt, dass die CréolitéBewegung trotz ihren Forderungen zu einer normativen Ideologie und zum Diktat von poetischen Konventionen führe, die kontinentalfranzösische Rezeption bedienend (vgl. Condé 1998: 102ff.). Viele Werke, die sich der Ästhetik der Créolité verschreiben, verlieren durch den franko-französischen Vermarktungscharakter folglich zunehmend ihre ursprünglich intendierte Subversivität. Ihre wie oben erwähnt rückwärtsgewandte Schreibweise speist sich aus einer exotisch rezipierten Pittoreske und folkloristischem Kolorit, womit die Werke wie in einem nostalgischen Mythos verharrten, anstatt aktuellere Dynamiken der karibischen Realität abzubilden (vgl. Corzani 1998: 154, Gallagher 2010: 93, Porra 2007: 74ff.). Der Kritik an einer allzu ideologisierenden und universalisierenden Créolité schließen sich insbesondere haitianische Stimmen an, die der Créolité zuweilen auch gänzlich ablehnend gegenübertreten.4 Diese Haltung äußert sich in der mangelnden Rezeption des Éloge in Haiti, was Robert Fournier zufolge weniger in einem Desinteresse am antillanischen Nachbarn begründet sei. Vielmehr liege es in einem unausgesprochenen Unbehagen, insbesondere nachdem die Strömungen von Négritude und Indigénisme und auch die kreolische Sprache in den 1950er Jahren als Ideologien und zu Propagandazwecken der totalitären Regierung von Duvalier instrumentalisiert worden sind. Nach den Jahren der Unterdrückung und Isolation bliebe haitianischen Denkern ein derartiger Identitätsdiskurs suspekt, könne er doch Inklusion bedeuten. Nicht zuletzt erklärt
4
Zu Autoren, die ihre Distanz zur Créolité wahren, vgl. Corzani 1998: 169f.
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sich die haitianische Position aus der unterschiedlichen politischen, sozialen und kulturellen Entwicklung Haitis: Prozesse und Fragestellungen, die auf Martinique ab den 1930er Jahren intellektuell diskutiert werden, entwickelten sich in Haiti bereits mit der Unabhängigkeit 1804 (vgl. Desroches 2000: 215f., Fournier 1995: 150f.).
3. G EGENENTWÜRFE Als haitianischer Gegenentwurf zu einem normativen Manifest wie dem Éloge de la Créolité kann die ›Kunstform‹ des Spiralisme verstanden werden. Ursprünglich in Reaktion auf die Duvalier-Diktatur von Frankétienne, Jean-Claude Fignolé und René Philoctète in den 19060ern initiiert, bricht der Spiralisme mit literarischen Konventionen und ist von den drei ›Gründungsautoren‹ bewusst nicht als Manifest konstruiert. Ebenso wenig liegt ihm ein umfassender theoretischer Apparat zugrunde. Mit seiner lebendigen, chaotisch musikalischen, abund ausschweifenden Form wird der Spiralisme zur Ästhetik einer komplexen Kreolisierung (vgl. Bernard 2007: 71f., 204f., Lucas 2005: 160). Konkret: »Dans le domaine de la création littéraire et artistique, la spirale apparaît comme l’esthétique du chaos, du métissage, de la complexité et de la diversité dans l’unité« (Frankétienne in Dorismond/Calixte 2008). Die haitianische Literatur bietet zudem vor dem Hintergrund der stetig wachsenden Diaspora eine Lösung des aufgezeigten Dilemmas der Binarität zwischen dem Einen und dem Anderen, das sich auch in einer Kontroverse um die Literatursprache zwischen Kreolisch oder Französisch äußert: Mit der Emergenz der Exilliteratur verändert diese sich und vermischt sich mit der Sprache des Exillandes. Das ist bei Edwidge Danticat der Fall, die ihren ersten Roman Le cri de l’oiseau rouge (1994) in den USA auf Englisch schrieb. Damit wird die Binarität zwischen Französisch und Kreolisch innerhalb der haitianischen Literatur abgeschafft (vgl. Dalembert/Trouillot 2010: 58f.). Kritik und Gegendiskurse zum Éloge entstehen nicht nur aus einer Außenperspektive heraus, sondern mit Édouard Glissant und Maryse Condé auch in Martinique und Guadeloupe. Glissant führt als einer der vehementesten Kritiker des Éloge der Créolité den offeneren Begriff der Créolisation (Glissant 1995: 125) ein, der generalisierende Konzepte ablehne. Die Créolisation versteht Glissant im Gegensatz zu einer Créolité als relationale Bewegung und nicht als starre Definition von Identität, als »mouvement perpétuel d’interpénétrabilité culturelle et linguistique qui fait qu’on ne débouche pas sur une définition de l’être« (Glissant in Gauvin 1992/93: 21). Diese starre Haltung wirft er allerdings den
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Éloge-Autoren in ihrer somit regressiven Bewegung vor. Glissants Modell der Créolisation hingegen beschreibt eine von Globalisierungsprozessen determinierte und vernetzte Welt. Die Créolisation zielt darauf ab, die Karibik und das Kreolische nicht mehr als isolierte insuläre Phänomene zu betrachten. Vielmehr soll der Ort der Kreolisierung die gesamte Welt sein, der Tout-Monde (vgl. Corzani 1998: 154, 168f., Glissant 1990: 103, 156ff., Glissant 2005: 138, Ludwig 2010: 93ff.). Dieser Argumentationsführung schließt sich später der Créolité-Autor Chamoiseau an: Die Créolité verbindet sich ihm zufolge mit Glissants Antillanité, so dass sich eine Antillanité-Créolité zum Gemeinschaftsprojekt der martinikanischen Literatur entwickelt. Sie werde zum Ort der dialogischen Verbindungen: »Une fois qu’on a compris créolité/créolisation dans la dialogique, on passe à la question relationnelle. [...] Il faut laisser circuler le flux énergétique qui permet de changer en échangeant sans y perdre sa nature« (Chamoiseau in Chinien 2008). Die aus Guadeloupe stammende und in Afrika und in den USA lebende Autorin Maryse Condé, die ihr Werk als global, nomadisch und diasporisch beschreibt, kritisiert, wie bereits erwähnt, die profranzösische Haltung des Éloge und ihren sprachlichen und thematischen Zwang (vgl. Condé 1998: 102f., Gyssels 2003: 305f.). Ihr gemeinsam mit Madeleine Cottenet-Hage herausgegebenes ›Gegenmanifest‹ Penser la créolité (1995) liefert Perspektiven zur Créolité von haitianischen Autoren wie Émile Ollivier und Jean-Claude Charles. Selbst setzt sich Condé für die Ablehnung aller kanonischen Regeln ein. Sie versteht ihren individuellen Stil als unabhängig von literarischen Bewegungen wie der Créolité und betont, gänzlich unabhängig von Partikularismen zu schreiben: »J’aime répéter que je n’écris ni en français ni en créole. Mais en Maryse Condé« (Condé 2007: 205). Condé weist auf den dominanten Zug einer maskulinen Kultur der Créolité hin, der Autorinnen kaum Raum gebe.5 Diesen Diskurs einer nach Arnold »sharply gendered identity« (Arnold 1995: 21) gilt es zu dekonstruieren (vgl. Carruggi 2010: 11f., Condé 1998: 107, Gyssels 2003: 308f.). Condé bricht dieses »master narrative of Creole literature« (Arnold 1995: 27) mit einem von Diktat und doppelter Kolonisierung befreiten Gegendiskurs auf (vgl. Petersen/Rutherford 1986, Ashcroft/Griffiths/Tiffin 2007: 66f.).
5
In der haitianischen Literaturgeschichte sind Schriftstellerinnen ebenfalls marginalisiert, treten aber seit einigen Jahren regelmäßiger auf und nehmen mehr Platz in der haitianischen Literatur ein (vgl. Dalembert/Trouillot 2010: 66f.).
C RÉOLITÉ GOES GLOBAL ?
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Transgression der Créolité-Theorie: weiblicher Diskurs in Condés Célanire cou-coupé (2000)
»Avec Célanire, tout changea.« (Condé 2000:123)
Wie zur Transgression des Créolité-Modells entwirft Condé ihren Roman Célanire cou-coupé (2000), in dem die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit in einer weiblichen Perspektive der Protagonistin Célanire Pinceau dargestellt wird. Die Laienschwester Célanire aus Guadeloupe begibt sich nach ihrer Ausbildung in Frankreich um 1900 in eine französische Mission an der Elfenbeinküste, wo sie verschiedene soziale und kulturelle Einrichtungen zur Überraschung der Bewohner des Ortes Bingerville und der Kolonialverwaltung reformiert. Diese Veränderungen und ihr emanzipiertes Auftreten rufen jedoch Misstrauen hervor. Célanire wird als mysteriös und gefährlich wahrgenommen: »Cette femme cachait quelque chose. On l’a devinait plus dangereuse qu’un serpent mamba« (Condé 2000: 36). Geschuldet ist dieses Mysteriöse zum einen der abergläubischen Gemeinschaft, die Condé mit ironisch gebrochenen Stereotypen darstellt. Zum anderen liegt es in dem von Judith Butler formulierten »angeblichen Mysterium der weiblichen Seite der Dinge« (Butler 2003: 7). Das leitmotivisch wirkende Halstuch, mit dem Célanire eine grauenvolle Verstümmelung am Hals verbirgt, unterstreicht diese geheimnisvolle Seite. Célanires vermeintlich dunkle Aura – die im Kontrast zu ihrer religiösen Ausbildung und ihrem Erscheinungsbild steht – und die unerklärbaren Todesfälle in ihrem Umkreis nähren die Ahnungen in Bingerville, die »femme rebelle« (Viala 2010: 142) könne von bösen Geistern besessen sein. Hin- und hergerissen zwischen der einzigartigen Schönheit Célanires und der Abscheu ihr gegenüber, erliegen ihr über kurz oder lang Männer wie Frauen, Kolonisierte wie Kolonisierende, zumal »[…] ceux-là qui avaient le plus mal parlé d’elle revenaient en vitesse sur leurs critiques et vantaient sa beauté« (Condé 2000: 56f.). Ihr Charme und ihre Willensstärke bringen Célanire ihrem Ziel stetig näher, diejenigen zu finden, die ihr diese Verletzung zugefügt haben. An jenen, die sich ihr widersetzen, rächt sie sich, indem sie sie ins Exil oder Gefängnis treibt. Jene, die für ihre Verletzungen verantwortlich sind, sterben auf unerklärliche Weise. Als ewige, Tod bringende Eva von den europäischen Kolonialherren mit ihrer ambivalenten »beauté du diable« (Viala 2010: 87) und als dämonische Hexe von den kolonisierten ›Knechten‹ wahrgenommen, von beiden Parteien benutzt als »bête[s] de somme
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et chair à plaisir!« (Condé 2000: 41), nimmt sich Célanire Freiheiten und Rechte heraus. Damit transgrediert sie Machtstrukturen des Patriarchats und kehrt die Geschlechterrollen6 um: Während die männlichen Protagonisten größtenteils manipulierbar oder handlungsunfähig sind, ihren Trieben erliegen oder schlicht als unbedeutend wahrgenommen werden, schaffen Frauen Veränderung und Bewegung. Sie scheinen gar die Grenzen zwischen Wahrscheinlichem und Unwahrscheinlichem zu verschieben. Bereits Célanires Leben beginnt mit einer solchen Unwahrscheinlichkeit: Sie wird ihrer Mutter vom eigenen Vater entrissen und als Menschenopfer einem »Magier« verkauft, der ihr den Hals durchtrennt: »Le grand Blanc qui voulait faire son entrée en politique, avait sacrifié l’enfant née au début du mois de septembre 1884. Mais, si cela était vrai, d’une certaine manière cela ne faisait qu’épaissir le mystère Célanire, bien vivante celle-là, malgré son cou rafistolé« (Condé 2000: 196).
An den Pranger stellt Célanire nicht nur das imperiale Patriarchat, sondern auch das patriarchale System der kolonisierten Gesellschaften: »Les Africains asservissaient et mutilaient les femmes. Les Français ne leur apprenaient qu’à tenir une aiguille et manier une paire de ciseaux« (ebd.: 68). Célanire kritisiert und steht gleichermaßen für die kollektive weibliche Erfahrung von Unterdrückung und Unrecht. Condé erschafft sie als Emblem für die doppelte Kolonisierung und für den weiblichen Kampf um Emanzipation. Die Transgression von Grenzen – seien es sprachliche, räumliche, kulturelle oder Gendergrenzen – erfolgt dabei mit ironischem Unterton: Der übereifrige Einsatz für die im Éloge proklamierten Werte der Créolité ihrer Protagonistin Célanire, der »éloge de la culture traditionelle« (Condé 2001: 202), zeigt diesen ironischen Bruch an (vgl. Makward 2010: 40). Als Gegenentwurf zur »male-identified« (Lionnet 2002: 70) Kreolität subvertiert Condé die Binaritäten vom Denken der Geschlechtsidentität, vom Einen und Anderen. Die Binarität zwischen Zentrum und Peripherie hebt Condé auf, indem sie den karibischen Raum und damit eine bloß inklusive Créolité erweitert und Célanire von Guadeloupe nach Afrika und zurück reisen lässt, in die Gegenrichtung der traite négrière. Darüber hinaus integriert sie die die Karibik bestimmenden Identitäten, die mit Indien und Asien über die üblicherweise dargestellte Dreiecksbeziehung zwischen Europa, Afrika und Amerika
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Zur Geschlechtsidentität, -hierarchie und normen (gender hierarchy, gendered norms) vgl. Butler 2003: 8f., 38f.
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hinausgehen – angefangen bei ihrer Protagonistin, die eine »[…] métisse d’on ne sait combien de races« (Condé 2000: 14) ist. Auf diese Weise trägt Condé zugleich der Coolitude Rechnung und bildet eine komplexe polykulturelle, heterogene Gesellschaft der Karibik ab (vgl. Corzani 1998:145). Condé schafft in Célanire cou-coupé einen weiblichen Raum für den Diskurs von Geschichte und Gedächtnis. Sie artikuliert so den Synkretismus und das Kreolisierte der karibischen Identität. Zugleich dekonstruiert Condé die patriarchalen Muster der Créolité und die zweifache, imperiale und innerpatriarchale, Kolonisierung der Frau, womit sie die bislang üblichen Strukturen der karibischen Literaturgeschichte durchbricht (vgl. Lionnet 2002: 81). Schließlich leiht sie den von den kolonialen Chroniken nahezu vergessenen Heldinnen ihre Stimme. Der allgemeinen Kritik an der Créolité mag entgegengehalten werden, dass die Créolité-Autoren wesentlich zur Wahrnehmung der antillanischen Literatur und ihrer Institutionalisierung im Wissenschaftskontext beigetragen haben. Die philosophischen und literarischen Ansätze der jüngeren Autorengeneration der Karibik sind bis heute verwoben mit denen von Négritude, Antillanité und Créolité. Der Éloge hat als Grundlage daher noch Gültigkeit. Allerdings sehen sich Autorinnen wie Edwige Danticat und Yannick Lahens aus Haiti oder Maryse Condé und Gisèle Pineau aus Guadeloupe außerhalb starrer Modelle und haben sich von ihren Vorgängern emanzipiert, womit sie einer neuen, transarealen Realität des karibischen Raumes Rechnung tragen. Die gegenwärtige Dynamik der karibischen Diaspora, deren Ansätze Condé in Célanire cou-coupé bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts sichtbar werden lässt, lassen sich nur schwer in das regressive Créolité-Konzept einbinden. Unberücksichtigt bleibt im Éloge, dass sprachliche und territoriale Grenzen im Zuge der Globalisierung an Bedeutung verlieren und das Modell der Transnationalität wichtiger wird. Die Karibik wird zur deterritorialisierten Diaspora wie sie Paul Gilroy in seinem The Black Atlantic: modernity and double consciousness (1993) formuliert.7 Die daraus resultierenden kollektiven Identitäten versteht Cohen als ein »fluid, vibrant and frequently changing set of cultural interactions« (Cohen 1997: 123). An solch diasporische Vorgänge ist die Metapher der Irrfahrt (errance) geknüpft, die auch Célanire in ihrem physischen und psychischen Exil durchlebt. Der haitianokanadische Schriftsteller Joël Des Rosiers sieht in dieser Entwurzelung die Möglichkeit zur Hybridisierung und Öffnung (vgl. Des Rosiers 1996: 165f.). Für ihn sind Ent- und Verwurzelung verbunden, was Glissants Standpunkt einer Karibik als »terre d’enracinement et d’errance« (Glissant 1990: 229) entspricht. Dieses
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Mit seinem herausfordernden Definitionsversuch trete Gilroy aus der zu afrozentristischen Sicht der nordamerikanischen Intellektuellen heraus (vgl. Cohen 1997: 130).
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von Jean-Claude Charles auch als enracinerrance (Charles 2001: 37f.) bezeichnete Phänomen trägt der globalisierten und sich stetig globalisierenden Welt Rechnung, die den Antagonismus zwischen centre und péripherie, der von der Créolité aufrechterhalten wird, auflöst, zumindest in der Literatur, die sich über nationale Grenzen erhebt. Vermittels dieser Bewegung entstehen neue kulturelle Paradigmen: »[…] le brouillage des identités décentrées et multiples, postmodernes et vengeresses, est accentué par la migration […] La multiplicité des cultures entraîne celle des récits« (Des Rosiers 1996: XIII). Diese Aussage deckt sich mit der Forderung nach einer offeneren Kreolität, die kulturelle und sprachliche Einflüsse des Exils oder der errance verarbeitet (vgl. Condé 1995: 309f.). Diese »[...] new and multiple versions of créolité« (Condé 1998: 109) schreiben sich in die Entwicklung einer literarischen Globalisierung, einer neuen littérature-monde ein.
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Poesie und Denken Lyrische Form, kreolisierte Erinnerung und Erkenntnis bei Édouard Glissant
G ISELA F EBEL
Édouard Glissant ist einer der Vordenker des Konzeptes der Kreolisierung; keiner hat es so eindrücklich geprägt und immer wieder reformuliert und weiter gedacht wie er. In seinen letzten Lebensjahren hat er für seine Dissemination auf der literarischen und mehr noch auf der politischen Bühne gesorgt, indem er die Mittel der offenen Briefe – z.B. an Obama kurz nach seiner Wahl zum USamerikanischen Präsidenten (vgl. Glissant 2007 u. 2011) –, der vielfältigen Interviews, der elektronischen Medien ausgiebig genutzt hat und auch eine gewisse Institutionalisierung durch die Begegnungsstätte der Maison du Tout-monde in Paris geschaffen hat. Kreolisierung wird daher heute allgemein als ein Konzept der kulturellen Berührung, Begegnung, Vermischung oder wechselseitigen Transformation differenter Kulturen verstanden, das eine enge Nähe zum eher identitären Konzept der Kreolität (vgl. Bernabé/Confiant/Chamoiseau 1993) einerseits und zum dekonstruktivistischen Begriff der Hybridität nach Homi Bhabha (vgl. Struve 2012) andererseits aufweist. Dies ist zweifellos richtig und hat einige Auswirkungen für die Wahrnehmung der antillanischen und allgemeiner postkolonialer Theorieproduktion und Denkstile, die durch die Ausweitung des Kreolisierungs-Begriffs auf die globale Ebene und dessen anschauliche Erläuterungspotenz dem Denken und der Literatur ehemaliger kolonialer Räume einigen Respekt eingebracht haben. Anders gesagt: Das Konzept der Kreolisierung nach Glissant wird mittlerweile allgemein anerkannt, weil es sich als Begriff im Diskurs hat durchsetzen können. Dieser Satz ist so lange eine Tautologie, als wir nicht in postkolonialer Manier nachfragen, um welchen Diskurs es sich denn handelt. Der heute maßgebliche Diskurs der theoretischen Erkenntnis
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oder der (kultur-)philosophischen Konzeptualisierung folgt nämlich nach wie vor einem westlichen logozentrischen Erkenntnisschema, das von einer definitorischen Form der Konzeptbildung und der scharfen Abgrenzung von anderen Begriffen geprägt ist. Dieser Regel folgt Glissant durchaus, etwa in seiner bekannten Definition der Kreolisierung als Prozess und bei der Abgrenzung etwa gegen die Métissage. Seine kausale Bestimmung lautet: Die neue Zeitlichkeit, die der Dynamik der technologischen Moderne, aber auch der heutigen Partizipation aller Kulturen an der weltweiten Medien- und Informationsgesellschaft entspringt, erzeugt eine grundsätzliche Unvorhersehbarkeit transkultureller Ereignisse. Diese Unvorhersehbarkeit unterscheidet die Kreolisierung, die eine permanente transkulturelle Herausforderung darstellt, von der Métissage, die für Glissant ein planbarer Prozess der »Züchtung« ist: »Le métissage, ce serait le déterminisme, et la créolisation c’est par rapport au métissage, le producteur d’imprévisible. La créolisation c’est l’imprévisible« (Glissant 1996b: 89). In Traité du Tout-monde definiert Glissant auf der Basis des eher relativistischen Konzepts der »cultures composites« (Glissant 1997: 195), die in einem ständigen Prozess der Kreolisierung befindlich sind, diesen so: »La créolisation est la mise en contact de plusieurs cultures ou au moins de plusieurs éléments de cultures distinctes, dans un endroit du monde, avec pour résultante une donnée nouvelle, totalement imprévisible par rapport à la somme ou à la simple synthèse de ces éléments.« (Ebd.: 37)
Ein konsequentes Denken von Kreolisierung, wie es Glissant immer wieder verteidigt hat, zeitigt jedoch, wie ich meine, durchaus auch auf die Formen der Diskurse und die Verwendung der literarischen Genres und Medien einige Auswirkungen. Kreolisierung affiziert nicht nur die Vorstellungen von Kulturen, sondern auch die Form der Vorstellungen und das Denkens selbst. Dies zeigt sich noch recht augenfällig in der veränderten Form der Narrative, wie sie in den Romanzyklen Glissants als wuchernde Gebilde barocken Ausmaßes erprobt werden (vgl. Ueckmann 2013); es zeigt sich auch in der Bevorzugung essayistischer Redeformen, wie im Discours antillais (Glissant 1981), die sich nicht an der klassischen clarté, sondern eher an Vorbildern wie Montaignes unendlichen Zusätzen zu den Essais, Machiavellis listenreicher Indirektheit, Faulkners modernen Antichronologien und Umkehrungen (vgl. Glissant 1996a) oder Nietzsches aphoristischen Sprüngen orientieren. Mein Ziel hier ist es jedoch, die Spuren und Formen eines Denkens der Kreolisierung bei Édouard Glissant in den lyrischen Texten zu betrachten, in seiner ganz besonderen Form der poetischen Prosa und der Poesie, die eher zu seinem Frühwerk gezählt wird, in dem
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der Begriff der Kreolisierung – augenscheinlich – noch nicht da ist. Ob und inwiefern nicht auch und gerade die Poesie bereits – und womöglich in radikalerer Weise – eine Form der kreolisierten Erkenntnis und Erinnerung darstellt, soll hier geprüft werden. Im Rahmen dieses Beitrags werde ich mich dabei auf den frühen Text Soleil de la Conscience von 1956 beschränken und nur gelegentlich weitere lyrische Texte aus verschiedenen Gedichtzyklen und Prosagedichten der späteren Jahre, wie sie 1994 in den Poèmes complets erschienen sind, beiziehen. In seiner Introduction à une poétique du divers von 1996 unterstreicht Glissant die neue zeitliche Dimension der Kreolisierung aufgrund der Kulturkontakte, die heute eine Beschleunigung bis hin zur Unmittelbarkeit der Berührung des Anderen erfahren haben: »Les plages temporelles (contemporaines) ne sont plus immenses, ils sont immédiates […] Les influences ou les retentissements des cultures les unes sur les autres sont immédiatement ressentis en tant que tels.« (Glissant 1996b: 83) Die an den Chaos-Theorien der Mathematik und den Beschleunigungs-Thesen von Paul Virillo (vgl. 1990 u. 1995) orientierte Idee der Unvorhersagbarkeit des nächsten Zustands eines Systems, in diesem Fall das der Kulturen, die in Kontakt stehen oder ereignishaft aufeinander treffen, gilt heute – so Glissant – auf globaler Ebene. Er schlägt dafür den Begriff des chaos-monde vor, der nicht als apokalyptische Vision verstanden werden darf, sondern vielmehr die transkulturelle Dynamik der unvorhersehbaren Vervielfältigung des Diversen auf globaler Ebene meint. Chaos bezeichnet im Französischen nicht lediglich Unordnung und eine explosive unüberschaubare Mischung, sondern auch die kreative »Ursuppe«, eine Gemengelage, aus der Neues entsteht, eine Welt geboren wird. Es ist durchaus ein Begriff, der die prozessuale Universalität der Tout-monde – dieses Konzept wird Glissant später favorisieren – bereits in sich trägt, jedoch die poetische Ambivalenz von Ordnung und Unordnung, Klarheit und Opazität noch stärker ins sich bewahrt. Bereits in Soleil de la Conscience (Glissant 1956) findet sich diese Idee des Chaos als Medium und Kontext der Kreolisierung: »[…] prose, chaos, mesure, connaissance et poésie étant signes de mon expérience, vue d’en dedans. Dehors, c’est la vérité française s’opposant à la mienne; par cette alliance relevée d’un contraire à son autre, dont on sait que toute vérité est la consumation dialectique« (Glissant 1956: 21).
Dieser erste Band poetischer Prosa, der später auch als Poétique I untertitelt wird, besteht aus einer Reihe von kurzen Texten, die – etwas autobiographisch gefärbt – die Pendelbewegung und Reisen eines beobachtenden, selbstreflexiven und lyrischen Ichs zwischen Martinique und Paris, zwischen der Peripherie und
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dem Zentrum, zwischen Herkunftserfahrung und intellektueller französischer Denkweise darstellen. In dieser Opposition und dynamischen Kontrastierung, man könnte auch sagen in dieser poetischen Übersetzung von Kreolisierung, bewegt sich auch die Selbstfindung des Ichs (und des Lesers). In der Innensicht bewahrt das martinikanische Ich im Zentrum seiner Erfahrung die (chaotische aber produktive) Mischung von Prosa und Poesie, Wissen und Rhythmus (»mesure«), während es in der Außenwelt auf die Forderungen der französischen »Wahrheit« mit ihren Argumentationsformen der raison und der clarté und der Verleugnung der kolonialen Erfahrung trifft. In einer ironisch anmutenden Wendung formuliert das Ich provozierend, dass sich die differenten Erfahrungen und Denkweisen dialektisch aufheben in der »consumation dialectique«. Doch die Dialektik hebt die Erfahrung der Herkunft aus dem Chaos und dem Schmerz nicht auf, zumindest auf der poetischen Ebene nicht, denn Glissant schreibt in derselben Passage: »Naître au monde est d’une épuisante splendeur. Et pour qui veut garder témoignage de cette naissance, il est un temps d’ouverture chaotique, de pressentiment anarchique de l’histoire, de mâchage furieux des mots, de saisie vertigineuse des clartés qui, cependant on naît à soi, vous balancent au bel avant du monde.« (Ebd.)
Das chaotische und anarchische Moment, aber auch die Gegenaneignung des französischen Klarheitsdenkens im Zuge der Bildung werden gerade für die Selbstfindung im Zeichen der Kreolisierung wortgewaltig eingefordert; beide gehören zu einer emanzipatorischen Bewusstwerdung der eigenen Identität im postkolonialen Kontext, in dem das frühere subalterne Ich zur Sprache kommt (vgl. Spivak 1988). Diese Sprache ist zunächst eine eruptive und poetische, ein »mâchage furieux des mots« (Glissant 1956: 21). Sie ist poïetisch, gestaltend, im antiken Sinne. Sie ist Ausdruck des Leidens der Vergangenheit, Schrei und chaotische Energie, ihr Bild ist der Vulkan, ihr schwarzer Tintenniederschlag sind Schichten von Lava: »Chaos premier. Ce qu’on vit est dérisoire tant que la pensée ne l’a point corrigé. L’homme crie son volcan, il entasse laves sur laves.« (Ebd.: 43) Zeugenschaft und Erkenntnis über das von der westlichen gängigen Geschichtsschreibung verschwiegene Wissen und die schmerzhaften Erfahrungen der Sklaverei und des Kolonialismus sind die Funktionen dieser Sprache in lyrischen oder hymnischen Tönen, die oft fragmentarisch oder gebrochen wirken, aber keinesfalls einer westlichen Ästhetik des Fragments aus der Epoche der Romantik oder des L’art pour l’art folgen. Es geht Glissant in dieser Poesie nicht um Befindlichkeiten, sondern immer um ein Erkenntnisziel, um den
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Ausgleich eines Mangels, der durch das Schweigen über die kolonialen Verbrechen und das Fehlen einer Sprache für die Traumatisierung entstanden ist: »Eclats du vent: chacun rêve, enfant, du Seul Poème, […] c’est assurer un manque éternel, celui de la connaissance. […] le poète […] désespère, il a une fois pour toutes désespéré de savoir. On dit qu’il lève les voix de l’impossible; […] l’art n’est pas […] la fin de la poésie: la réussite artistique n’étant que signe de ce que l’on a approché encore et encore […] Il resterait à montrer comme l’approche de la connaissance est précisément accomplissement artistique, et vice versa. / Passant outre, on peut déjà proposer que le poème épars, qui d’avantage qu’on brouillon est presque la ligne de flottaison entre deux poèmes achevés, peut être aussi essentiel sinon durable. Du moins pourrait-on arguer, de son témoignage, […] que son imperfection même signale.« (Ebd.: 41f., Herv. G.F.)
Das Unvollkommene und Unperfekte (im Blick der westlichen ratio und ordo) eben ist es, das die (noch) nicht ausgesprochene Seite der Geschichte und des Menschlichen zur Sprache bringt. Dazu bedarf es, so Glissant, einer primären Erfahrung. Beim nackten Menschen, dem Homo sacer (vgl. Agamben 1995), den ursprünglichsten Bedürfnissen und Erfahrungen des Überlebens, beginnt der neue Erkenntnisweg. Er führt vom historischen Ereignis der Versklavung zum Ausdruck des Schreckens in einer expressiven Form, hier der Poesie oder der lyrischen Prosa, später auch in andere Modi der Literatur.1 »Je reviens du pays de la mort […] Là, toute vérité se condamne à reprendre au niveau du sol, alimentaire, sa question […] De l’Évènement à l’Expression, pourtant, quelle est la marge […]? Le premier te précipite dans ce champ sans limite où le cri est un recul, et un recel. Il te faut boire toutes les larmes de la terre. L’autre te reprend du plus bas, et c’est le voyage de la parole qui reforme.« (Ebd.: 34, Herv. G.F.)
Diese Urszene des menschlichen Wesens ist zugleich der ambivalente Zustand des Chaos, der »chaos-monde«. Der Mensch ist in diese Situation geworfen (man kann an Heidegger erinnert sein) bzw. seine Lebensgeschichte setzt ihn einer gemeinschaftlichen oder historischen Erfahrung aus: »Mais pourquoi, et quand, l’être serait-il tout chaos? C’est quand, par exemple, s’éprouvant comme lancé dans une aventure très collective, dans le commencement de
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Glissant kündigt diesen Gattungswechsel in Soleil de la Conscience an: »J’ai dit le chaos de l’écriture dans l’élan du poème. Je le dirai maintenant dans le brouillon des proses« (1956: 60).
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quelque périple nouveau, ébloui il s’ébat, tenté par mille directions successivement, avant de trouver son ordre.« (Ebd.: 20)
Das Ausgesetztsein in der Welt erhält jedoch eine andere, grausamere Qualität, es wird gleichsam potenziert, wenn zum existentiellen Geworfensein die konkrete Deportation hinzukommt. Hier wird natürlich kaum verklausuliert auf die Geschichte der Sklaverei und die antillanische Erfahrung (aber nicht nur dort) angespielt, denn »s’il advient de surcroît que cet être soit déporté, physiquement déporté de son centre d’aventure, le déséquilibre s’accentue, mais dans le même temps accélère la reprise de soi« (ebd.). Das Leiden des versklavten Menschen darzustellen, ist und bleibt ein Stimulus auch für die spätere rationale Konstruktion der postkolonialen Kritik. Hier jedoch schlägt Glissant eher einen hymnischen Ton an: »Ô pierre vibrée! Homme saccagé-vif, labour Orage maculé ô Pour toi je suis sang, merveilleux calice!« (Ebd.: 45)
Der Dichter bzw. der Nachkomme der Sklaven, der nach dem Wort greift, ist ein »monstre«, eine Schreckensgestalt, ein Gespenst der Wiederkehr von Schuld aus dem Dunkel des Dschungels, aber auch ein Zeigender, ein Aufklärer, wie der Anklang von monstre und monstration erkennen lässt: »Or je suis dans l’Histoire ce monstre jusqu’à la moindre moelle de sureau. Séculairement installé, mais fort comme l’ignorance. […] Nègres non pas tués incinérés décapités mais lynchés. Je circule dans les houilles. […] La forêt subitement hurle à la vie.« (Ebd.: 44)
Der Schluss der oben zitierten Passage (»le déséquilibre s’accentue, mais dans le même temps accélère la reprise de soi«) zeigt aber auch die Absicht Glissants, die produktive Dialektik der Beschäftigung mit der kolonialen Erfahrung zu zeigen, die ihn in vielen Texten immer wieder beschäftigt, besonders wohl im Discours antillais 25 Jahre später. Durch die Verdoppelung der Aussetzung des Menschen scheint ihm die Wiedergewinnung seiner Souveränität besonders dringlich und sein Impetus, eine neue Identität zu formen, ist besonders groß. Dadurch können die Antillen, wie Glissant später auch im Discours schreibt, zum Laboratorium für eine neue Gemeinschaft und eine neue Auffassung vom Menschsein, für einen neuen Humanismus werden.
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In Soleil de la Conscience entwirft der Dichter die Metapher von der antillanischen Insellandschaft als Menschheitslabor: »Or aux Antilles […] on peut dire qu’un peuple positivement se construit. Né d’un bouillon de cultures, dans ce laboratoire dont chaque table est une île, voici une synthèse de races, de mœurs, de savoirs, mais qui tend vers une unité propre.« (Ebd.: 20f.)
Der Dichter und Reisende zwischen Martinique und Paris beobachtet sich selbst, er ist »ethnologue de moi-même« (ebd.: 20) in dieser Spannungssituation des wiederholten kulturellen Kontakts und seine poetische Strategie besteht darin, immer wieder die Gegensätze und Ambivalenzen aufzuzeigen und dann zu verschmelzen. Man könnte dies auch als eine poetische Kreolisierung verstehen. Eine der rekurrenten Oppositionsmetaphern besteht etwa in der Geschlossenheit von Paris gegenüber der Offenheit der Inseln. Im umgekehrten Blick des antillanischen Ethnologen werden dabei in ironischer Manier die Rituale des hyperintellektuellen Paris mit seinen eigenen Initiationsritualen sichtbar gemacht: »Paris referme très vite sur l’arrivant, et pour un assez long sursis, les vastes ouvertures que chacun avait en lui et de loin préparées, déplacées. Cette ville se refuse autant qu’on la dénie […] Il y a par ici l’insolite d’une franc-maçonnerie, une nécessité de rite à chaque instant déconcertante, d’initiation, lesquels dans l’air même sollicitent l’attention et irritent […] Le voilà, l’exotisme à rebours.« (Ebd.: 15)
In dieser Umkehrung des Blicks liegt eine zumindest momentane »Provinzialisierung Europas« (vgl. Chakrabaty 2000), die so en passant überraschend gelingt. Wie ein überlegener Flaneur oder ein Tourist spaziert das poetische Ich im Garten der europäischen Bildung herum, aber die Dezentrierung des Blicks, die Kritik der Metropole aus der Peripherie, führt es rasch weiter zur Idee einer globalen Transkulturalität, in der sich alle Kulturen begegnen und berühren: »Je promène mon regard […] sur ce paysage de la connaissance française. Non comme le voyageur qui n’attend de l’apparence des monuments que la quittance de son départ; mais comme tel qui apprivoiserait le doute de savoir. Je devine peut-être qu’il n’y aura plus de culture sans toutes les cultures, plus de civilisation qui puisse être métropole des autres, plus de poète pour ignorer le mouvement de l’Histoire.« (Glissant 1956: 13f., Herv. G.F.)
Der poetische Reisende von Soleil de la Conscience als alter ego des antillanischen Intellektuellen erkennt seine eigene Ambivalenz zwischen Fremdheit und Filiation (gegenüber der europäischen Kultur), denn »ici […] s’impose à mes
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yeux le regard du fils et la vision de l’Etranger« (ebd.: 14). Die Metapher von Sohn und Fremden, auch eine Hommage an den Zeitgenossen Albert Camus sicherlich, ist rekurrent. So ist der Dichter ein »passeur d’écumes […] sachant ainsi […] qu’il lui est donné à la fois […] d’être le même et d’être l’autre, le fils ensemble et l’étranger« (ebd.: 77). Die Beziehung zwischen Europa und den ehemaligen Kolonien hat die Form einer Spiegelung, Grundfigur der Selbstvergewisserung und Selbstbehauptung von Hegel bis Sartre. Jedoch spiegelt sich nicht mehr das hegemoniale alte Europa im Brennspiegel der imperialen Erfolge, sondern der neue Mensch der Antillen erscheint im stumpf gewordenen Spiegel. Dort erkennt er sein eigenes Bild, aber auch das der anderen von ihm und er selbst blickt auch auf die anderen – eine Kette von produzierten Identitäten: »Sans même savoir que l’expérience était du miroir de ce vieux continent, sur son tain de glaces et de solitude, où mon image m’apparaît: telle que je la ressens, mais telle aussi que l’éprouvent ceux-là qu’enfin je regarde à mon tour.« (Ebd.: 61)
Die Kreolisierung wird in Soleil de la Conscience poetisch endgültig vollzogen und der universelle Anspruch des Konzepts vorweg genommen in der Metapher der Verbindung zweier Léviathane. Der neue Mensch verbindet damit auch die Ufer der neuen und der alten Welt, die Erinnerung an das Meer als Bild der Versklavung und das Meer der Bildung in Paris, die Herkunftsorte der Deportation und die Kolonie »sur un seul rivage«: »Car nous sommes, tous, réunis sur un seul rivage. L’Atlantique qu’il nous faut traverser maintenant, c’est la chaotique ténèbre que font nos lumières mêmes. Et voici que je gèle entre ces deux océans; le vrai et immortel abîme de mer, d’une part, qui m’exile de moi (de ma réalité, de mes racines dans le sol plantées comme autant de fourches de vérité); puis l’autre, La Vague énorme d’autre part qui roule ici, parisienne. Savoir que ces deux Léviathans se fondent en un, que ce qui dénature l’être est en même temps ce qui l’oppose à la lumière…« (Ebd.: 72)
Die Frage der Zugehörigkeit bleibt ambivalent für das Ich: »En vérité, la réponse est ici double: car, où que j’aille, je me sentirai solidaire de cette ›parcelle de terre‹ (non par quelque régionalisme sentimental, mais parce que pour moi cette terre a lentement pris figure de symbole – d’une liberté à gagner, d’une éminence à sauvegarder […]); et d’autre part il m’est indéniable que toute une part de moi […] est ici à Paris où j’ai su tant d’autres visages de la connaissance.« (Ebd.: 64f.)
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Dennoch zeichnet sich eine Strategie der Wiederaneignung des eigenen Landes, der Emanzipation von fremden Einflüssen ab, die sich etwa in der häufigen Benutzung des Possessivpronomens »mon« oder »ma« ausdrückt, wie im folgenden Ausschnitt: »J’aime ces champs, leur ordre, leur patience; cependant je n’en participe pas. N’ayant jamais disposé de ma terre, je n’ai point cet atavisme d’épargne du sol, d’organisation. Mon paysage est encore emportement; la symétrie du planté gêne. Mon temps n’est pas une succession d’espérances saisonnières, il est encore de jaillissements et de trouées d’arbres. Quand je posséderai vraiment ma terre, je l’organiserai selon mon ordre de clartés, selon mon temps appris. Cela veut dire que la quête du vent libre (l’apprentissage de la terre) est chaos et démesure, paysage forcené, forêt sans clairière aménagée; mais que c’est la Mesure (labours, semailles, récoltes) qui est liberté. Toute civilisation qui pourrit perd d’abord le sens de la Mesure, soit qu’elle la soumette à un dérèglement non fondé, soit au contraire qu’elle l’empaille et la statufie.« (Ebd.: 25, Herv. G.F.)
Das regierende Oppositionspaar ist hier das von Plantage, Ordnung, Symmetrie, zyklischer Wiederkehr im Rhythmus der Jahreszeiten etc. gegenüber Naturkraft, Aufbruch und sprudelnder Energie. Metaphern von Chaos und Wind kündigen eine neue, naturgerechtere Ordnung an, auch ganz konkret eine bessere Landwirtschaft, die sich dem Rhythmus des Klimas frei anpasst. Dieser organische Rhythmus, die »Mesure« mit der Achtung gebietenden Majuskel des Sakralen ist der alten Welt offenbar, so Glissant, verloren gegangen, sie ist statuarisch (in ihrem kolonialen Gebaren) und nicht mehr anpassungsfähig. In der poetischen Gestaltung der Texte findet man jedoch auch schon das Konzept des Détour und des Retour, des notwendigen Umwegs über die Metropole oder die Sprache und das Wissen des Kolonisators oder noch allgemeiner über die Distanz nehmende Reise, Konzepte, die Glissant später ausführen wird, besonders in der Poétique de la Relation.2 In der folgenden Passage sind Distanz und Retour durch das Verhältnis zum Zuhause, zu »ma maison«, angezeigt: erst nach der Entfernung über den Atlantik hinweg kann eine (reale oder imaginäre) Rückkehr zum vulkanischen Ort Martinique stattfinden. »J’écris hors de ma maison, vacance terrible […] J’écris loin de ma maison, pour y rentrer sauf, gagner la chair concrète, la distance […] / Maintenant je retraverse l’Atlantique. Soit
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Zur Reihe der Poétique gehören die fünf Bände: 1956: Soleil de la conscience; 1969: L’Intention poétique; 1990: Poétique de la Relation; 1997: Traité du Tout-monde und 2005: La Cohée du Lamentin.
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qu’en effet ce paquebot au nom de terre qui semble vierge, le Colombie, m’emporte; soit que, ne bougeant pas de la pierre grise, je retrouve une voix et commence le dialogue à travers Paris […] / J’écris enfin près de la Mer, dans ma Maison brûlante, sur le sable volcanique.« (Ebd.: 52, Herv. G.F.)
Der Impuls für eine solche Reise ist nicht exotischer Art, auch nicht als eine umgekehrte Neugierde der Peripherie auf Europa, sondern eine wesentliche Notwendigkeit der Selbstbehauptung und der Entdeckung neuer Dimensionen. Im Prinzip gilt dies auch für die okzidentalen Kulturen, die Kreolisierung als »confrontation des sensibilités« erlaubt, so Glissant im Anschluss an Segalen (vgl. Febel 2006 u. 2009), neue Erkenntnisse über seine eigene Zukunft zu gewinnen: »L’exotisme est bien mort, à partir du moment où la géographie cesse d’être absolue (c’est-à-dire ici, limitée à elle-même) pour commencer d’être solidaire de son histoire qui est celle de l’homme. / La confrontation des paysages confirme celle des cultures, des sensibilités: non pas comme exaltation d’un Inconnu, mais comme manière enfin de se débarrasser de son écorce pour connaître sa projection dans une autre lumière, l’ombre de ce que l’on sera. Le voyage n’est plus prémédité, il est nécessaire« (Glissant 1956: 83).
Dies ist im Übrigen, wie Glissant schon 1956 erkennt, auch eine Notwendigkeit der Zeit, in der neue Informationen durch Technik, Politik und Medien sich zu den exotischen Bildern fügen und diese konterkarieren: »L’immense broiement des découvertes, des analyses (allant du rêve exotique au travail de l’ethnographe en passant par le livre d’aventure) a déplacé les mobiles de la sensibilité. Nous ne pouvons plus rêver des villes secrètes de l’Amérique du Sud, sans évoquer la condition actuelle des peones.« (Ebd.: 83)
Hier zeigt sich das Vertrauen in eine utopische Dimension der Sprache bei Glissant, nicht nur in der Poesie, das sich bei ihm besonders ausgeprägt findet, das jedoch gerade im französischsprachigen literarischen Feld viele mit ihm teilen. Die Literatur und ihre innere Polyphonie, die »poésie éparse«, tritt an die Stelle der verlorenen »großen Erzählung«, übernimmt aber deren orientierende Kraft. Auf die Frage, ob er glaube, dass die Literatur die Haltung des Menschen zur Welt verändern könne, antwortet Édouard Glissant viele Jahre später noch in einem Interview:
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»Oui, je le pense. La littérature conçue comme le Récit qui est le témoin de l’Histoire, et comme le privilège insu de ceux qui »faisaient« l’Histoire, cette littérature est stérile. Mais la passion et la poétique de la totalité-monde peuvent indiquer le rapport neuf au Lieu et débusquer, changer, les anciens réflexes.« (Glissant 1996b: 100f.)3
So scheint Poesie immer einen besonderen, einen abweichenden Bezug zur Sprache, einen écart poétique, wie Roman Jakobson formuliert hat, herzustellen und sich damit in einer Zeit der medialen Demokratisierung und Profanierung und der postkolonialen Détours besonders zur Distanznahme zu eignen. Sie markiert mit ihrer Verpflichtung zur Wahrheit des Sprechens einen Ort, der der globalen Anpassung Widerstand leistet, wie Jacques Roubaud in seinem Manifest Poésie Mémoire Lecture von 1998 kommentiert: »Vous pouvez dire tout ce que vous voulez de féministe, de multiculturel, d’anti-raciste, d’anti-bombes anti-personnel, vous pouvez tchernobyler à qui mieux mieux, bêler sur la paix et votre grand-mère, pourvu que vous ne puissiez pas être soupçonné de pratiquer des ›jeux formels‹ ou de parler ›difficile‹, ce qui serait ›élitiste‹, non ›démocratique‹ et vraisemblablement une atteinte aux droits de l’homme…« (Roubaud 1998: 20f.)
Die Poesie erscheint in ihrem anthropologischen Bezug auf das Heilige, auf Eros, Tod, Geburt und Stille als eine geeignete ästhetische Form des Umgangs mit dem horror vacui des geschichtslosen Menschen (vgl. Febel 2003a). Der Dichter gewinnt seine kritische und identitätsstiftende Rolle gerade in der globalisierten Welt zurück; seine Macht reicht, wie Glissant und viele andere hoffen, hinter die kommunikative und mediale Sprache zurück, er wird »poète sourcier«, wie Michel Camus formuliert (Camus 2000: 91), jener Sachwalter einer Menschlichkeit, die nach – wenn auch nur fragmentarischer, ambivalenter oder momentaner – Sinnerfahrung in der Verbindung der Differenzen strebt. Vorhaben des Gedichts ist, die »Welt der Dissoziation« aufzuheben und die »Wirklichkeit zu interiorisieren« (ebd.: 180ff.). Lyrik will und kann eine Beziehung zur Welterfahrung herstellen, dieses Moment verleiht ihr eine gewisse philosophische Würde (vgl. Pinson 2000; Janicaud 2000) und gibt ihr – zumindest teilweise – einen Ort jenseits der kulturellen Differenzen, wie sie ja auch jenseits (oder diesseits) der sprachlichen Differenzierungen operiert. Sie ist dadurch zugleich unübersetzbar und »transnational« oder »transculturel« (vgl. Camus 2000: 90f.; Febel 2003b).
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Vgl. auch das Konzept der écritures transculturelles bei Febel/Struve/Ueckmann 2007.
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Michel Camus sieht im Dichter den zeitgemäßen Erben des Kosmopoliten der Aufklärung, seine Verbindung zur Welt ist die Poetik der Relation: »le poète [...] est aujourd’hui citoyen du monde. Il est transnational au sens où il se sent relativement lié à plusieurs niveaux de réalité à la fois, mais absolument relié à ce qui les traverse et les dépasse. [...] Être transculturel, c’est, pour l’essentiel, ne pas se laisser aliéner par des formes et des croyances, par des systèmes de pensée et des enseignements formels.« (Camus 2000: 90)
Eine solche Poesie, wie sie viele französischsprachige Dichter der Gegenwart entwerfen und praktizieren, setzt den partikulären nationalen, ökonomischen oder privaten Ideologien und ihren entfremdeten Wirklichkeiten wie der neoliberalen Globalisierungsideologie einen Widerstand entgegen, der sie an einem anthropologischen Maß misst und zuweilen neu ausrichtet. In der frankophonen Welt haben diese Dichter daher oft auch in der Öffentlichkeit einen besonderen Stellenwert. Der Dichtung wächst in der rationalisierten Oberflächlichkeit der globalen Welt eine neue Aufgabe zu. Alain Jouffroy fordert mit seinem Konzept der »poésie vécue«, die der geschriebenen Poesie voraus geht (vgl. Jouffroy 1995: 16), neue Orte für die Intensität und den Kontakt mit dem Realen zu schaffen, Fluchtorte und Orte des Überlebens: »La poésie est, pour chacun, le premier mais aussi le dernier recours contre l’invivable.« (Ebd.: 17) Bei Glissant heißt es ähnlich; auch hier geht es um eine Poesie des Überlebens (vgl. Ette 2004) und der Lebenskunst, die sich in der Suche nach einem Gleichgewicht zwischen organischer Kraft aus dem Chaos, Zeugenschaft und Überlebenswissen bzw. Selbstbehauptung äußert: »Et voici le cours de mon propos: trouver la juste mesure de mon chaos primordial […] Oui, je l’engage ici, la poésie: qu’elle m’accorde la signification de mon langage, pour témoigner de la signification de mon histoire […] C’est pourquoi je cherche encore […] la diction claire de ce rythme, un savoir-vivre.« (Glissant 1956: 48, Herv. G.F.)
Die Dichtung im Okzident ist jedoch ebenso wie die Gesellschaft nicht in der Lage, diese neue Funktion in radikaler Weise zu übernehmen, so der leicht resignative Befund von Jouffroy; er zeichnet folgende Situation: »Le temps des nouveaux poètes est arrivé. Mais ils semblent paralysés dans un ghetto qu’ils hésitent à déserter [...] La poésie étant devenue, en Occident, le contenu latent d’un rêve collectif refoulé.« (Jouffroy 1995: 20f., Herv. G.F.) Glissant benutzt in Soleil de la Conscience das Konzept des »alten Europa«, um auf die Dekadenz und Verknöcherung des Westens kritisch hinzuweisen.
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Insbesondere fehlt den europäischen Dichter nach seiner Auffassung ein Sinn für das Wesen der Gemeinschaft bzw. er hat ihn verloren, während die ehemaligen Sklaven und deren Nachkommen ihn durchaus besitzen: »Aujourd’hui, le caractère général de l’art occidental, ce qu’il partage entre les artistes, est l’absence de communauté […] Ce que les colons et autres possesseurs dépossédés d’esclaves ont habitué à nommer en surface l’exubérance et l’enfantillage des nègres est en profondeur cette possibilité du sens collectif, qui polarise les individus vers des formes claires et le plus accessibles (rire, chants, danses) de participation. Est-ce à dire que voilà une qualité racialement innée? Certainement non. Je dis seulement que cette capacité s’est émoussée dans le vieil occident; qu’il faut un renouvellement historique total pour lui redonner chance.« (Glissant 1956: 75f., Herv. G.F.)
Es ist festzustellen, dass der resignative Befund der Entmächtigung der Lyrik vor allem für die westlichen Kulturen (»en Occident« betont Jouffroy, s.o.) zu gelten scheint. Dies sieht auch Glissant so, wenn er in der frankophonen Poesie eine Herausforderung zum selbstkritischen Überdenken an die alte Welt und ihrem Universalitätsanspruch sieht: »Déjà, l’assaut que subissent la langue et la culture françaises de la part de ceux qu’elles ont conquis de par le monde, les oblige à se réfléchir en tant que facteur universel, un des lieux commun de l’homme qui s’exaspère vers vérité.« (Glissant 1956: 76) Im afrikanischen, maghrebinischen und karibischen Raum etwa spielt die Poesie eine wesentlich bedeutendere Rolle als heute in Europa. Sie verbindet die permanente Begegnung mit der Fremdheit der Sprache (eine essentielle Bestimmung des poetischen Schreibens und zugleich eine existentielle Erfahrung mit der Sprache der ehemaligen Kolonisatoren und der in ihr überlieferten Gewalt) mit der Suche nach der Formulierung von – wenn auch oft prekärer – Identität. Diese Dichtung entwirft hybride Identitäten, die ebenso für die Existenz der Menschen im Okzident Gültigkeit erhalten können. Die weltweite, chaotische und unplanbare Vernetzung von Sprachen und Identitätsmodellen, die Glissant Tout-monde nennt, ist, wie Jouffroy feststellt, die innovative Basis des Sprechens der heutigen Poesie, »le formidable intertissage humain des langues de tous les temps« (Jouffroy 1995: 19).4 Oft ist es die poetische Prosa, die in besonderem Maße die utopische Funktion der Literatur wieder einholt, sich auf moderne Weise verbindet mit dem alten hölderlinischen Motiv der Heimatlosigkeit des Dichters und dem noch älteren
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Jouffroy verweist selbst neben Édouard Glissant auch auf Derek Walcott und andere karibische Autoren, aber auch auf Dichter aus anderen postkolonialen Regionen.
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der Vertreibung des Poeten aus der Agora und so einen gewissen Modellcharakter für zukünftige Dichtung gewinnt – mit den Worten von Alain Jouffroy: »Seule la formulation d’une utopie peut trancher avec l’universelle inertie bavarde. L’utopie qui m’anime consiste à restituer une part plus grande de la réalité du monde, des univers visibles et invisibles, qui le composent [...]. Mais on ne restituera cette part plus grande qu’en abolissant en nous la revendication d’une seule tradition et d’une seule culture.« (Ebd.: 47)
Die Vielfalt der Kulturen und deren Verbindung und Vermischung, die Kreolisierung, bildet für Glissant seit Soleil de la Conscience den utopischen Horizont seiner Dichtung wie seiner Reflexion. Dazu gehört auch die Entwicklung einer neuen Form der Geschichtsschreibung für die undokumentierbare Geschichte der kolonialen Erfahrung. Glissant nennt diese später die »vision prophétique du passé« (Glissant 1996a: 115)5. In Soleil de la Conscience drückt er diese Hoffnung auf eine mehrstimmige Geschichtsschreibung so aus: »Nous voici donc quelques-uns très neufs dans la toute-puissance de l’Histoire. Et l’Histoire […] a emprisonné l’homme qui la fait […] Il a eu ceux qui chargèrent l’Histoire de clarté. Il a eu ceux qui en explorèrent la beauté. Viendra le temps où la connaissance en sera accomplie, assez du moins pour allouer de nouvelles formes à la sensibilité: par nommer enfin les possibilités d’expression éparses dans ce Domaine du Passé et de l’Avenir, ouvert désormais sur le Présent.« (Glissant 1956: 32)
Die starke utopische Dimension im Glissant’schen Denken der Kreolisierung, ebenso wie die Bedeutsamkeit einer ethischen Verantwortung für das Bewusstsein der Differenz und der ambivalenten Angewiesenheit auf den Anderen zeichnen sich schon in den frühen poetischen Texten deutlich ab. Die späteren Essais und Interviews werden die poetischen Konzepte weiter ausarbeiten und logisch kohärenter formulieren – als Annäherung an den okzidentalen Diskurs –, die Aufgabe von der bewussten Kritik bis in die Mäander des Unbewussten und des Imaginaire hinein verlängern, aber im Grunde keine radikal andere Weltsicht produzieren, mit Ausnahme vielleicht der Entwicklung und Konzentrierung auf das zweifellos sehr bedeutende und eher versöhnliche Konzept der Tout-monde (vgl. Ludwig/Röseberg 2010). Die Gegenwart gibt ja eben dieses vor, so Glissant: »C’est l’enjeu de notre temps. Est-ce qu’on peut changer l’imaginaire, c’est-à-dire non seulement la conscience mais aussi l’inconscient et l’imaginaire
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Vgl. ferner Ueckmann 2010.
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des peuples de manière à freiner définitivement ces pulsions de retour aux anciennes exclusions.« (Glissant 1998) Der poetische Bezug zur Gegenwart ist ein radikaler und für eine engagierte Literatur, wie sie die postkoloniale oft darstellt, ein besonderes Mittel des Ausdrucks; Glissant hat ihn daher trotz aller späterer Zugeständnisse an diskursive Einschreibungsmöglichkeiten in die Weltliteratur nicht aufgegeben und betont, dass die Relation zur Kreolisierung und deren Unvorhersehbarkeit nicht anders sein könnte als poetisch, kreativ, gestaltend und offen: »Connaître l’imprédictible, c’est s’accorder à son présent, au présent que l’on vit, d’une autre manière, non plus, non pas empirique ni systématique, mais poétique […] Je crois que la poésie, en tout cas l’exercice de l’imaginaire, la vision prophétique à la fois du passé et des espaces lointains, est de partout la seule manière que nous ayons de nous inscrire dans l’imprédictibilité de la relation mondiale.« (Glissant 1996b: 89f.)
In der 2010 kurz vor seinem Tod erschienenen Anthologie de la Poésie du Toutmonde betont Glissant noch einmal die enge strukturelle Nähe von Tout-monde und Gedicht; beide entspringen dem Werden und der flüchtigen Gegenwart und Zukunft, dem, was die phänomenologische Philosophie das »Ankommen« (»avenir/à venir«) in der Welt der Immanenz nennt (vgl. Nancy 1994). »Le Tout-monde est total dans la mesure où nous le rêvons tous ainsi, et sa différence d’avec la totalité reste que son tout est un devenir. La totalité du Tout-monde est ainsi la quantité réalisée de toutes les différences du monde, sans que la plus incertaine d’entre elles puisse en être distraite […] Le poème lui aussi est toujours à venir. C’est pourquoi nous vivons quelques visions prophétiques du passé, au même temps que nous consentons aux imprévus d’ici-là et de maintenant« (Glissant 2010: 19).
L ITERATUR Agamben, Giorgio (1995): Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Turin: Giulio Einaudi. [Dt. Übersetzung: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002] Bernabé, Jean/Confiant, Raphaël/Chamoiseau, Patrick (1993): Eloge de la créolité, Paris: Gallimard. Bouchard, Thierry/Rigollet, Marie-Pierre/Seron, Jean-François (Hg.) (2000): Poésie d’aujourd’hui. Edition et lecture publique. Deuxième rencontre de Chédigny, Tours: Farrago.
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Camus, Michel (2000): »Paradigme de la transpoésie«, in: Bouchard/ Rigollet/Seron (Hg.), Poésie d’aujourd’hui, S. 87-93. Chakrabarty, Dipesh (2000): Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton: Princeton University Press. [Dt. Übersetzung 2011: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M.: Campus, 2011] Ette, Ottmar (2004): ÜberLebensWissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin: Kadmos. Febel, Gisela (2003a): »Einleitung«, in: Dies./Hans Grote (Hg.), L’état actuel de la poésie, S. 7-19. — (2003b): »Eros und Tod in der französischsprachigen Gegenwartslyrik. Eine Poetik der Intensität«, in: Dies./Hans Grote (Hg.), L’état actuel de la poésie, S. 133-147. — (2006): »Das Diverse und das Unberechenbare. Über die Thesen Édouard Glissants zu transkulturellen Prozessen und die Rolle der Literatur«, in: Heinz Antor (Hg.), Inter- und transkulturelle Studien: theoretische Grundlagen und interdisziplinäre Praxis, Heidelberg: Winter, S. 63-80. — (2010): »Von Victor Segalen zu Édouard Glissant. Überlegungen zu einer Poetik des Diversen«, in: Ludwig/Röseberg (Hg.), Tout-Monde, S. 49-66. Febel, Gisela/Grote, Hans (Hg.) (2003): L’état actuel de la poésie. Perspektiven der frankophonen Gegenwartslyrik, Frankfurt a.M.: Peter Lang. Febel, Gisela/Struve, Karen/Ueckmann, Natascha (Hg.) (2007): Écritures transculturelles. Kulturelle Differenz und Geschlechterdifferenz im französischsprachigen Gegenwartsroman, Tübingen: Narr [darin bes. dies.: »Écritures transculturelles – Écritures de troubles. Einleitende Überlegungen«, S. 5-43]. Glissant, Édouard (1956): Soleil de la Conscience. Poétique I, Paris: Seuil. — (1969): L’Intention poétique. Poétique I, Paris: Gallimard. — (1981): Le discours antillais, Paris: Gallimard. — (1990): Poétique de la Relation. Poétique III, Paris: Gallimard. — (1994): Poèmes complets. (Le Sang rivé; Un Champ d’îles; La Terre inquiète; Les Indes; Le Sel noir; Boises; Pays rêvé, pays réel; Fastes; Les Grands chaos), Paris: Gallimard. — (1996a): Faulkner, Mississippi, Paris: Stock. — (1996b): Introduction à une Poétique du divers, Paris: Gallimard. — (1997): Traité du Tout-monde. Poétique IV, Paris: Gallimard. — (1998): »L’Europe et les Antilles: Une interview d’Édouard Glissant« [Interview mit Andrea Schwieger Hiepko], in: Mots Pluriels. Online unter: http://www.arts.uwa.edu.au/MotsPluriels/MP898ash.html (Letzter Zugriff am 15.10.2012).
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»La littérature, c’est remettre au jour les connexions cachées« Diversität und Komplexität im Romanwerk Édouard Glissants
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»Et j’en fus à me demander si dans ce maelström il n’existait pas quelque règle, une manière de loi qui eût imposé une ordonnance cachée ou tout au moins à découvrir […]« (Glissant 1987: 22)
Wie hier für den Protagonisten Mathieu in Édouard Glissants Roman Mahagony, bildet die Frage nach einer versteckten Ordnung innerhalb des narrativen Chaos des Romanwerks den Rahmen des vorliegenden Beitrags. Da Glissants Werk als Musterbeispiel einer »friktionalen Schreibform« (Ette 2002: 273) zu betrachten ist, bei der Theorie und Philosophie ein inhärenter und konstitutiver Bestandteil der narrativen und poetischen Texte sowie umgekehrt darstellt, erscheint eine kausale Ableitung des einen aus dem anderen obsolet.1 Dennoch ist ein Missverhältnis zwischen der viel zitierten und aus postkolonialen Debatten nicht mehr wegzudenkenden Theorie der Essays (z.B. in Le Discours antillais, Introduction à une poétique du divers, Poétique de la relation)
1
Es ist allerdings die Tendenz zu beobachten, dass die in den Essays formulierte Theorie den narrativen Texten zeitlich nachfolgt: In Le Quatrième siècle (1964) scheint das später im Discours antillais (1981) vorgestellte Geschichtskonzept im Vorfeld narrativ ›erprobt‹ worden zu sein. In ähnlicher Weise folgt später der Traité du Tout-monde (1997) dem Roman Tout-monde (1993). So gesehen fungiert der Roman als ein der Theorie der Essays vorausgehendes Experimentierfeld.
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und der noch immer relativ wenig beachteten écriture und Komposition des Romanwerks zu verzeichnen. In Bezug auf die Romane La Case du Commandeur und Malemort fragt Frederick Case: »How many university degrees must one have before being capable of deciphering Glissant’s last two novels ?« (Case 1985: 79) Die dem Werk Glissants zugewiesene Hermetik resultiert abgesehen von der Integration der kreolischen Mündlichkeit in die französische Syntax vor allem auf der narrativen Umsetzung von rhizomatischen und fraktalen Strukturen. Seit La Lézarde (1958) wird mit diesen Verfahren Komplexität und Diversität der karibischen Inselwelt, sowie später seit Mahagony (1987) des »Tout-Monde« evoziert. Darüber hinaus verfolgt Glissant damit ein als Konstante seines Werkes zu betrachtendes Anliegen, nämlich, bisher versteckte und unbeachtete transversale Verbindungslinien zu Tage zu fördern: »La littérature, c’est remettre au jour les connexions cachées.« (Glissant/Isidori 2008) In ähnlicher Weise wie sich das durch die Romane ziehende Ringen der Protagonisten um ein ›Verstehen‹ ihrer »non-histoire « (Glissant 1981: 133) letztendlich als ein Verfolgen und Aufdecken miteinander vernetzter Spuren herausstellt, bedeutet die Opazität und Dichte der Glissant’schen Narration für den Leser, dass er den Text nie in seiner Gesamtheit zu erfassen vermag. Der Akt des Lesens gerät zur Irrfahrt (»errance«) in dem Sinne, dass der Leser als »errant, […] cherche à connaître la totalité du monde et sait déjà qu’il ne l’accomplira jamais – et qu’en cela réside la beauté menacée du monde« (Glissant 1990: 33). Literaturrezeption und -produktion gestalten sich als ein Suchen und Finden transversaler Verbindungen innerhalb des Textes bzw. Œuvres. Bevor anhand von La Lézarde (1958) und Tout-monde (1993) Mikrostrukturen des rhizomatischen und fraktalen Werkes skizziert werden, um daraus konstante Bauprinzipien der Gesamtstruktur zu identifizieren, soll zunächst Glissants kreative Aneignung der Rhizom-Theorie sowie der Chaos-Theorie beleuchtet werden.
D AS R HIZOM
ALS GEISTIGER
K ORREKTOR
Bereits 1981 in seinem ersten Essay Le Discours antillais verweist Glissant explizit auf die Figur des Rhizoms bei Deleuze/Guattari und es wird dabei deutlich, dass er die Philosophie dieser befreundeten Denker gemäß ihrer eigenen Aufforderung als »boîte à outils« (Deleuze 2002: 290) benutzt, d.h. er verändert und kritisiert sie, was zu gewissen Verschiebungen führt. Mit Deleuze’ und Guattaris Worten könnte man sagen, er ›macht Rhizom‹: Er spinnt das Netz weiter und
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weitet es zunächst auf seinen Raum der Antillen, aber auch auf sein Denken des »tout-monde« aus. Bereits mit der ersten Einführung des Rhizom-Begriffs zur Entfaltung seiner Poetik der Relation formuliert Glissant zugleich auch sein Misstrauen gegenüber Deleuze/Guattari: »la rapide incursion des deux auteurs dans la Relation (le relais, le relatif, le relaté) ignore beaucoup les situations autres. Il y a là aussi un a-priori abstrayant dont nous nous méfions.« (Glissant 1981: 196) Die Ausführungen Deleuze’/Guattaris stehen also im Fokus der Kritik Glissants, da sie außereuropäische Aspekte nicht in ihre Betrachtung einbeziehen. Zudem kritisiert Glissant den von Deleuze/Guattari hergestellten Bezug zwischen Rhizom und Nomadentum: »Le rhizome n’est pas nomade, il s’enracine, même dans l’air (c’est parfois une épiphyte); mais de n’être pas une souche le prédispose à ›accepter‹ l’inconcevable de l’autre: le bourgeon nouveau toujours possible, qui est à côté.« (Glissant 1981:197) In La Poétique de la relation setzt Glissant seine Kritik an der Nomadologie von Deleuze/Guattari fort. So stellt er deren Auffassung des Nomadismus als »libérateur supposé de l’être« (Glissant 1990: 23) und als »jouissance de liberté« (Glissant 1990: 24) in Frage, da der permanente Ortswechsel der Nomaden in der Realität aus einer »obéissance à des contingences contraignantes« (Glissant 1990: 24) erfolge. Einerseits ist also von einer eindeutigen Diskrepanz zwischen Glissants und Deleuze’/Guattaris Positionen zum Rhizom und zum Nomadismus auszugehen, andererseits wird Glissant trotz der von ihm formulierten Kritik nicht zu Unrecht als »the most thoroughly Deleuzien writer in the francophone world« (Hallward 2001: 67) bezeichnet. Befragt nach dem Einfluss der Kreolisierungstheorien in der Karibik, äußert sich Glissant 1999 optimistisch, da nun auch die größeren Inseln wie Jamaika, Kuba und Trinidad die Bedeutung des Rhizoms begriffen hätten: »Il commence à se faire l’idée que ce n’est pas la puissance qui va sauver ce monde mais le Rhizome, le Rhizome archipélique et la Caraïbe devient un lieu d’éclosion de cultures fantastiques sur ce plan-là.« (Glissant/Libong/Mongo-Mboussa 1999).
Solche euphorischen Äußerungen, der rhizomatische Roman Tout-monde, das Zitieren der Deleuze’schen Formel »La santé comme littérature, comme écriture, consiste à inventer un peuple qui manque« (Glissant 2005: 135 ) in La cohée du Lamentin, sowie die Wahl dieses Zitats als Motto seines Romans Sartorius. Le roman des Batoutos bekunden Glissants beständige Auseinandersetzung mit den Denkern der Mille Plateaux. Vor diesem Hintergrund scheint die anfängliche Kritik an der Konzeption des Rhizoms bei Glissant verschwunden zu sein, was
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in der Forschung als widersprüchlich oder als Bruch mit seinem Frühwerk beurteilt wird: »[…] sa référence à la pensée guattaro-deleuzienne coïncide avec le moment où il commence à quitter sa théorie de l’antillanité au profit de celle de la Relation et du Toutmonde, qui sont des concepts moins référentiels, donc moins contraignants, quant à la problématique de ces ›situations autres‹.« (Stevens 2008: 218)
Wie zuvor erwähnt, hat Glissant aber bereits in seinem Frühwerk2 seit dem Discours antillais die Philosophie Deleuze’/Guattaris als »boîte à outils« (Deleuze 2002: 290) benutzt und modifiziert, um sie auf seine Theorie der Relation und seinen Raum der Antillen auszuweiten. Da Glissants erster Roman La Lézarde (1958) unter Berücksichtigung der »situations autres«, wie später aufzuzeigen sein wird, rhizomähnliche Strukturen aufweist, Deleuze und Guattaris Rhizome allerdings erst 1976 erschien, ist davon auszugehen, dass er in der RhizomTheorie der beiden französischen Denker etwas wiedergefunden hat, das er in ähnlicher Weise ausgehend von seiner Heimatinsel Martinique und der archipelischen Relationalität bereits selber entwickelt hatte. Peter Hallward meint, in Glissants Werk eine »Kompatibilität« mit Deleuze auszumachen, die zugleich mit einer »Inkompatibilität« zu Fanon und Sartre einhergehe.3 Obgleich von mancher Kritik in einer »tradition-post-sartrienne« (Moudileno 1997: 113) situiert, distanziert Glissant sich allerdings von Anfang an entschieden von einem Engagement à la Sartre, da er jegliche Vereinnahmung der Literatur durch universalisierende oder ideologische Positionen ablehnt.4 Vielmehr ist für Glissant »toute haute écriture [est] engagée« (Glissant/Isidori 2008), jedoch dürfe Literatur nicht auf ein politisches Engagement reduziert werden. Einem Sinneswandel von einem écrivain engagé zu einem zum »go with the flow« (Hallward 2000:
2
Sämtliche Texte bis zur Veröffentlichung seines Romans Tout-monde (1993) werden in vorliegendem Beitrag als Frühwerk bezeichnet, wobei diese Unterscheidung keinen Bruch bezeichnen soll, sondern lediglich die geografische Ausweitung von Martinique zum »tout-monde« kennzeichnet.
3
»Glissants work becomes compatible with Deleuze’s at the same time and for the same reason that it becomes incompatible with Fanon or Sartre’s.« (Hallward 2001: 69)
4
Glissant äußert sich gegenüber dem von Sartre verfassten Vorwort »Orphée noir« zu Léopold-Sédar Senghors Anthologie de la nouvelle poésie nègre et malgache de langue française kritisch, da Sartre Senghors Werk nach Glissants Auffassung für seine Ideologie vereinnahme. Vgl. Glissant/Isidori 2008.
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xvii.) bereiten Autor, kann angesichts der zahlreichen bei Galaade in den letzten Jahren veröffentlichten kleineren politischen Texte5 nicht zugestimmt werden. Celia Britton widerlegt den von Chris Bongie und Peter Hallward in Bezug zu Glissants politischem Engagement beobachteten aber in unterschiedlicher Weise bewerteten Bruch zwischen Früh- und Spätwerk und führt deren Kritik auf die angestiegene Rezeption des Spätwerks in den USA zurück.6 Vielmehr als ein vermeintlicher Bruch zwischen Frühwerk und der Öffnung zum »tout-monde« seit Mahagony wird in vorliegendem Aufsatz die kreative narrative Umsetzung der Rhizom-Theorie als konstantes ästhetisches und metapoetologisches Kompositionsprinzip betrachtet, das der Befreiung von definierten (sprach-)politischen Machtstrukturen dient. Die Gefahr einer universalisierenden Ideologie- und Modellbildung durch das Rhizom problematisiert Glissant selber in seiner Poétique de la relation: »[…] l’intérêt du concept rhizome paraît venir de son anticonformisme, mais qu’on ne saurait en inférer une fonction de subversion, une capacité de la pensée rhizomatique à bouleverser l’ordre du monde, car on en reviendrait alors à la prétention d’idéologie que cette pensée est supposée contester.« (Glissant 1990: 24)
Dieser Problematik sind sich auch Deleuze und Guattari bewusst. Zwar ist das Rhizom als eindeutiger Gegenentwurf zu der bis in die griechische Antike zurückreichenden Metapher des Baums des Wissens zu interpretieren. Auch stellt es die auf der Baummetapher als epistemologisches Ordnungsprinzip basierende Hierarchie des Wissens und der Wissenschaften in Klassifikationen, klassischen Enzyklopädien und Bibliotheken in Frage. Dennoch sind die von Deleuze/Guattari provokativ erscheinenden Ausführungen zur abendländischen Denktradition differenzierter zu betrachten, ziehen sie doch zunächst selbst den
5
Vgl. Glissant/Chamoiseau 2005, 2007, 2009a, 2009b; Glissant 2010.
6
»This, together with the devaluing of ideological positions that its ethical relativism requires, might seem to suggest that in the Tout-monde political commitment and action have become irrelevant, that in turning from Martinique to the world as a whole Glissant has also turned his back on politics. In the final section of this article I will argue that this is not in fact the case. But because this phase of his work coincides with his becoming much better known, particularly in the United States, I want to approach the issue via the reception of Glissant in the world outside Martinique by discussing two North American critiques [Peter Hallward and Chris Bongie] that compare the early and late stages of Glissant’s work and evaluate them differently.« (Britton 2009: 2f.).
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Dualismus zwischen dem Hierarchischen und dem diesem gegenüber favorisierten Rhizomatischen heran. In ähnlicher Weise wird ein weiterer Dualismus hervorgebracht, in den im Übrigen auch Glissant ›verfällt‹:7 Dem europäischen und dem amerikanischen Buch werden unterschiedliche Vorstellungen zugeschrieben sowie Amerika in Osten und Westen unterteilt wird: »[…] c’est à l’Est que se font la recherche arborescente et le retour au vieux monde. Mais l’ouest rhizomatique, avec ses Indiens sans ascendance, sa limite toujours fuyante, ses frontières mouvantes et déplacées. Toute une ›carte‹ américaine à l’ouest, où même les arbres font rhizome.« (Deleuze/Guattari 1980: 29)
Diese binäre Aufteilung der Geografie wird jedoch von den Autoren selbst als Sackgasse entlarvt: Ein Dualismus, der nur entworfen wird, um ihn zugleich wieder aufzulösen. Dieses Verfahren von Konstruktion und Dekonstruktion eines Denkmodells ist ebenfalls der Glissant’schen »Intention poétique« eingeschrieben. Da es, so Deleuze/Guattari genauso baumartige Verknotungen in Rhizomen wie auch rhizomatische Triebe in Wurzeln gäbe, sei es umso wichtiger, dass der Baum und das Rhizom einander nicht wie zwei Modelle gegenüber gestellt werden. Vielmehr als um eine Auf- oder Abwertung einer bestimmten Kategorie des Geistes geht es den Autoren um ein unaufhörlich entstehendes und einstürzendes Modell sowie um den Prozess, der unaufhörlich fortgesetzt, unterbrochen und wieder aufgenommen wird. Dabei fungieren Figuren wie das Rhizom als »correcteurs cérébraux qui défont les dualismes«. Die Dualismen selbst werden als »ennemi tout à fait nécessaire« und als Mobiliar, das es immer wieder zu verschieben gilt, beschrieben. (Deleuze/Guattari 1980: 30f.): »Nous ne nous servons d’un dualisme de modèle que pour atteindre à un processus qui récuserait tout modèle.« (Deleuze/Guattari 1980: 30f.) Dichotomien und Dualismen werden bei Deleuze und Guattari, so wie bei Glissant konstruiert, um sie anschließend auflösen zu können. Obgleich von der Kritik als solches oft missverstanden, geht es bei allen drei Denkern nicht um ein
7
Bezug nehmend auf Ernst Robert Curtius Ausführungen zur ›Wiese und Quelle‹ als Topos der europäischen Literatur in La Littérature européenne et le Moyen Âge latin, stellt er der europäischen die amerikanische Literatur gegenüber: »La topique n’y serait pas de la source et du pré, mais plutôt du vent qui pousse et qui fait de l’ombre comme un grand arbre […] Et la parole de mon paysage est d’abord forêt, qui sans arrêt foisonne. Je ne pratique pas l’économie du pré, je ne partage pas la tranquillité de la source.« (Glissant 1981: 254)
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Propagieren des einzigen ›reinen‹ Denkmodells des Rhizoms. Davon auszugehen, dass unser gesamtes Denken tatsächlich ›nur‹ rhizomatisch oder ›nur‹ dichotomisch angelegt sein könnte, wäre daher als irreführende Simplifizierung zu betrachten. Deleuze’/Guattaris Rhizom-Verwendung, wie in ähnlicher Weise auch bei Glissant nachzuweisen sein wird, ist eher als dynamische, offensive Denkbewegung gegenüber einer Dominanz des Baummodells und nicht als reine Negierung und Diskreditierung desselben zu lesen. In diesem Sinne möchte Glissant die karibische Inselwelt auch nicht als modèle für den »tout-monde« fixieren, sondern verwendet stattdessen den dynamischeren Begriff des échosmonde.8 In Bezug auf die Analyse der narrativen Texte Glissants scheinen daher nicht nur rhizomatische Strukturen relevant zu sein, sondern vielmehr die Erforschung der sich wechselseitig bedingenden Beziehungen zwischen rhizom- und baumartigen Strukturen. Es geht also vielmehr um die Dynamik von Dekonstruktion und Konstruktion eines Denkmodells. So liegt dieser Untersuchung die Hypothese zugrunde, dass sich das Glissant’sche Romanwerk in einem Oszillieren wechselseitiger Abhängigkeiten zwischen Rhizom- und Baum-Struktur bzw. zwischen poetologischer Rhizom- und Baummetaphorik konstituiert. Ein weiterer Mitspieler in dieser Dynamik sich abwechselnder poetologischer und philosophischer (Denk-)Strukturen ist das der Chaosforschung entlehnte, auf dynamischen Regularitäten basierende, selbstähnliche Fraktal.
D AS E XPERIMENTIEREN
MIT DEM
C HAOS
»J’expérimente la circularité des lieux, des êtres et des situations. Un roman, dans une certaine mesure relève des sciences physiques, et plus particulièrement des théories du chaos. Les physiciens du chaos affirment qu’on ne peut continuer à mettre le monde en équations rassurantes et linéaires. Il faut reconnaître la globalité circulaire du monde, se mettre délibérément dedans et voir comment ça marche. Le romancier ou le savant ne doivent pas avoir la tentation d’être les démiurges qui, par avance, définissent le monde. J’écris pour inventer des situations et non pour trouver des clés universelles. Un romancier ne doit jamais chercher à maîtriser le chaos. Le chaos, on s’émeut, on le craint, mais on ne le contrôle jamais […] Mais au moins mettons-nous d’accord pour renoncer au fantasme du tout-contrôle.« (Glissant/Anquetil 1993: 122)
8
In seinen »Notes en lieux communs« in La Poétique de la relation führt Glissant »modèles « und »échos-monde« als begriffliches Oppositionspaar auf (Glissant 1990: 236).
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In der zitierten Passage äußert sich Glissant über sein narratives Experimentieren mit dem Chaos in seinem Roman Tout-monde. Dabei unterscheidet er bei der Auseinandersetzung mit dem Chaos zwischen einer »science conquête« (Glissant 1990: 151) der Naturwissenschaftler und einer von ihm selbst verfolgten »science enquête« (ebd.), wobei eine wechselseitige Befruchtung und Bestärkung beider Disziplinen angestrebt werde (vgl. ebd.). Während erstere Wissenschaft von dem Wunsch, ein Stück des Chaos fassen und kontrollieren zu können, angetrieben zu sein scheine, führe die zweite Richtung mithilfe einer Art der »méditation expérimentale« (ebd.) zu dem Unfassbaren des Chaos.9 Die Erkenntnisse der mathematischen Chaostheorie und deren Ästhetik aufgreifend, heißt es im ersten Kapitel »Banians« von Tout-monde: »La terre est un Chaos, le Chaos n’a ni haut ni bas, et le Chaos est beau.« (Glissant 1993: 61) Entgegen einer apokalyptischen Vision beschreibt Glissant seine Ästhetik der »chaos-monde« wie folgt: »Le chaos n’est pas ›chaotique‹. Mais son ordre caché ne suppose pas des hiérarchies, des précellences – des langues élues ni des peuples-princes.« (Glissant 1990: 108) Das Prinzip des Mandelbrot’schen Fraktals spiegelt Glissants Ästhetik des Chaos, »dont le moindre détail est aussi complexe que l’ensemble« (Glissant 1990: 45). Auf geopolitischer Ebene korreliert diese Formel mit Glissants Aussage, dass »ce qui se passe dans un petit pays est aussi important que ce qui arrive dans un empire« (Glissant/Anquetil 1993). Glissants Beobachtung, dass »les physiciens du chaos affirment qu’on ne peut continuer de mettre le monde en équations rassurantes et linéaires« (Glissant/Anquetil 1993), führt ihn zu einer Vorstellung von einer Welt, deren Ereignisse und Prozesse nicht mehr vorhersehbar und somit nicht mehr mit einer »pensée de système« zu fassen sind. Nach eigenen Aussagen hat Glissant seine »poétique du chaos« anhand des populärwissenschaftlichen Sachbuchs Des rythmes au chaos (1994) von Pierre Bergé, Yves Pomeau und Monique Dubois-Gance entworfen. Glissant erwähnt das von den Autoren dieses Buches ausgedrückte Bedauern des inflationären Gebrauchs des wissenschaftlichen Chaosbegriffs. Um der Kritik der Unwissenschaftlichkeit im Vorfeld selbst entgegenzuwirken, beschreibt er seinen ebenfalls bewusst
9
Vgl.: »[…] c’est une méditation expérimentale (un suivi) des processus de relation, à l’oeuvre dans le réel, entre les éléments (premiers ou non) qui en trament les combinations. Science d’enquête. Cette ›orientation‹ mène donc au suivi des dynamiques, du relationnel, du chaotique – de ce qui, étant fluide et variant, est aussi bien incertain (c’est-à-dire insaisissable), mais à tout coup fondamental et, s’il se trouve, plein d’invariances.« (Glissant 1990: 151)
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unwissenschaftlichen Umgang mit dem Chaosbegriff mit seiner Praxis der Paraphilosophie: »D’ailleurs les auteurs de ce livre regrettent à un endroit de leur texte qu’on parle du chaos au sens scientifique du terme à propos de n’importe quoi et qu’on fasse de la paraphilosophie autour. C’est un travers dans lequel je tombe volontiers. Et à un autre endroit du livre heureusement, ils signalent que les théories du chaos sont des théories de philosophie de la science et que ce sont des théories qui sont assez ambiguës; nous verrons la valeur de cette ambiguïté. Je me sens tout à fait autorisé – depuis mon premier ouvrage de prose, Soleil de la conscience, jusqu’à Poétique de la Relation, j’ai posé, pour moi et en ce qui me concerne, la problématique du chaos-monde – à paraphilosopher autour de la science du chaos.« (Glissant 1996: 82)
Diese Praxis des, wie es an anderer Stelle heißt, »rêver, construire, élaborer, conceptualiser, […] poétiser« über die »poétiques du chaos« (Glissant 1996: 81) wird als ein dem Systemdenken entgegengesetztes Verfahren und als eine der »poétique de la Relation« inhärente Komponente aufgefasst (vgl. Glissant 1990: 109). Die Glissant’sche Rhizomatik erfährt durch die Kombination mit der Vernetzungsform der fraktalen Strukturen eine weitere Verdichtung. Obgleich das sich unendlich fortsetzende Rhizom wie das komplexe, dynamische, skaleninvariante Fraktal10 unendlich, d.h. ohne Anfang und Ende hierarchielos organisiert ist, beide Strukturen als Denkbilder in dieser Hinsicht also als Varianten zu betrachten sind, dürfen die Divergenzen nicht ignoriert werden. Ideenhistorisch lässt sich zwar ein gemeinsamer Entstehungszusammenhang zwischen Rhizom und Fraktal über Deleuze’ Auseinandersetzung mit der barocken Falte und der Monadologie (1714) Leibniz’ (vgl. Deleuze 1988) und seiner Rezeption der von Ilya Prigogine und Isabelle Stengers verfassten Theorien zum Chaos (vgl. Prigogine/Stengers 1986, 1988) sowie der ihnen vorausgegangenen, durch
10 Vgl. Mandelbrot 1987: 30: »[…] die meisten Fraktale […] sind invariant gegenüber bestimmten Maßstabstransformationen. Sie werden skaleninvariant genannt. Ein Fraktal, das invariant ist gegenüber der üblichen geometrischen Ähnlichkeit, heißt selbstähnlich. In dem zusammengesetzten Begriff skaleninvariantes Fraktal dient das Adjektiv dazu, das Substantiv abzuschwächen. Während das Grundwort Fraktal auf Unordnung hinweist und Fälle widerspenstiger Irregularitäten enthält, deutet das Adjektiv skaleninvariant auf eine gewisse Ordnung hin. Wenn wir andererseits skaleninvariant als den primären Begriff auffassen, der auf eine strenge Ordnung hinweist, dann bedeutet Fraktal, dass Geraden und Ebenen auszuschließen sind.«
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René Thom inspirierten Katastrophentheorien (vgl. Thom 1972) herstellen. Im Gegensatz jedoch zu skaleninvarianten bzw. selbstähnlichen Fraktalen und ihren mathematischen Gesetzen ist dem anarchischen Rhizom keine versteckte ›Ordnung‹ inhärent, womit es als ›chaotischer‹ zu beschreiben ist als selbstähnliche Strukturen im fraktalen Chaos. Daher soll im Folgenden das poetologische Prinzip eines Oszillierens und Korrelierens zwischen rhizomatischen Strukturen und einer ihnen gegenübergestellten ›Ordnung‹ des Chaos’ untersucht werden.
R HIZOMATISCHE UND FRAKTALE K OMPOSITION IN L A L ÉZARDE UND T OUT - MONDE Die Spuren der zurückgelegten Wege der aus verschiedenen Himmelsrichtungen kommenden Protagonisten in La Lézarde bilden ein die Insel Martinique überspannendes Netz: »Leurs pas tissent la toile dont la terre se vêtira: mais nul ne le sait.« (Glissant 1997: 108) Die zurückgelegten »Quatre mouvements. Quatrechemins« (ebd., 136) dienen den Protagonisten als »Bestandsaufnahme und geographische Auslotung des Raumes« (Blümig 2006: 134). Das geheimnisvolle, über das reine Begehren hinausgehende Band zwischen Mycéa und Mathieu wird vom Erzähler mit dem Bild einer Wurzel assoziiert. Ihre Verbindung gleicht der zweier Bäume, deren Wurzeln sich unter der Erde miteinander vereinigt haben. Aus diesem Wurzelballen ›sprießen‹ eine aus uralten Zeiten stammende Geste sowie der Schrei der Wurzel selbst (vgl. Glissant 1997: 149). Die sich in poetisch verdichteter Form unter der Erde zu einem Wurzelballen umschlingenden Baumwurzeln symbolisieren das Prinzip des verzweigten Wachstums der Baumwurzeln selbst. Baum- und Rhizommetaphorik stehen sich nicht konträr gegenüber, sondern Mycéa und Mathieu scheinen gemeinsam die »poussées rhizomatiques dans les racines« (Deleuze/Guattari 1980: 30) zu repräsentieren. Zumindest erscheint die Metaphorik der Baumwurzel hier nicht als »souche qui prend tout sur elle et tue alentour« (Glissant 1997: 23), sondern als Pflanze der Relation. Der »cri même de la racine« (ebd., 149) ist bereits während der Négritude-Bewegung ausgestoßen worden.11 So gleicht die Verschleppung der afrikanischen Bevölkerung in die amerikanischen und karibischen Kolonien dem Wurzelausreißen einer Alraunenwurzel, die der Legende nach einen tödlichen Schrei ausstößt, wenn sie aus der Erde gezogen wird. Der Schrei des Zorns
11 »La négritude se définit […] message d’une race. […elle] devient cri de libération d’une race dominée par d’autres races […]« (Melone 1962: 19)
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und der Empörung wächst aus der Wurzel des den Schwarzen angetanen Leids und formiert sich in Mycéa und Mathieu zu einem Wurzelballen, der sich wie ein Rhizom aus einer Vielheit von Stimmen zur parole ausbreiten wird. Vielmehr als ein linearer Flusslauf ähnelt die die Romankomposition konstituierende Lézarde mit ihren zahlreichen Verzweigungen, Umwegen, mäandrischen Schleifen und Strudel einer fraktalen Struktur eines Flussnetzes.12 Auch der metaphorische Ort der Quelle des Flusses ist vom Prinzip der unendlichen Selbstähnlichkeit eines Fraktals inspiriert: Das Quellhaus, in dem die Lézarde entspringt, wird als Insel beschrieben, in deren Mitte sich das Meer befindet: »Et la maison est comme une île, avec sa mer en son mitan, l’eau glacée qui combat victorieusement la chaleur du jour, avant qu’elle aille loin d’ici se soumettre au soleil souverain.« (Glissant 1997: 94) Das Meer, dessen Grund von einem Netz über Bord geworfener Sklaven, den »emboulettés« (Glissant 1993: 165), überzogen ist, liegt als Symbol der grausamen Vergangenheit im Herzen der Insel. Im Sinne der Homophonie von »mer« und »mère« fungiert das Meer zugleich auch als Geburtsort der Bevölkerung Martiniques. Somit wird der Ursprung der Sklavengesellschaft aus der gewaltsamen Deportation über den Ozean mit der Quelle des Flusses poetisch verknüpft. Die für die Antillen untypische Steinarchitektur des Quellhauses ist, so wie Blümig ausführt, möglicherweise von der ›Maison des esclaves‹ auf der senegalesischen Insel Gorée inspiriert (vgl. Blümig 2006: 140). Dieses Haus, das heute als Museum besichtigt werden kann, stellte über Jahrhunderte einen der wichtigsten Sklavenumschlagsplätze Nordafrikas dar. Inmitten dieses Steinhauses befindet sich ein Kerker, der mit Meerwasser geflutet werden konnte. Mit dieser auffallenden Übereinstimmung zwischen dem Sklavenhaus in Gorée und dem Quellhaus der Lézarde auf Martinique nimmt Glissant eine räumliche Vernetzung zwischen Afrika und Martinique vor, die zugleich die »existentielle[n] Unbehaustheit der Sklaven« (Blümig 2006: 140) zur Darstellung bringt. Es kann also hier in gewisser Weise von einer »selbstähnlichen Insel-Haus-Struktur« (Ette 2005: 144) gesprochen werden, die Ette am Beispiel Maryse Condés Traversée de la Mangrove herausgestellt hat. In verkleinerter Form verweist das Quellhaus auf die raum-zeitliche
12 Das hydrografische Netz von Martinique mit seinen ca. 43 Bächen und 161 Flüssen ist sehr dicht und verzweigt. Man geht von ungefähr 70 Hauptwasserläufen aus, die sich hauptsächlich aus 7 Wasserbecken speisen. Die Lézarde ist mit 116 km der längste Fluss, der durch die gesamte Insel verläuft. Sie weist Charakteristika sowohl der Flüsse des Nordens vom Typus »rivière de montagne« als auch der des Südens vom Typus »rivière de plaine et de mangrove« auf. Vgl. http://www.martinique.developpementdurable.gouv.fr/les-cours-d-eau-et-plans-d-eau-a50.html.
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Verschachtelung des Glissant’schen Werkes. Eine vergleichbare selbstähnliche Struktur findet sich im Roman poetologisch als mise en abyme-Struktur dort realisiert, wo die Art und Weise des Schreibens eines Romans im Text thematisiert wird. Der Ich-Erzähler, der nach und nach von einer Randfigur zu einer Führungsfigur innerhalb der Gruppe avanciert, wird von Mathieu beauftragt, nach Frankreich zu gehen, um dort ein Buch zu schreiben, das explizit wie der Fluss Lézarde komponiert sein soll (vgl. Glissant 1997: 226). Der Ich-Erzähler ist durch den gemeinsamen Ort, die Insel Martinique, mit den Protagonisten, die er selber kennt und deren Geschichte er retrospektiv konstruiert, verbunden. In poetischer Verdichtung und Vernetzung erscheint dieser gemeinsame Ort als »urne de tout ce bruit« (ebd., 205), als Behälter des Schreis und der Stimmen. In der Metaphorik der durch einen Vulkan aus dem Meer emporsteigenden Erde wird der aus den Tiefen der traumatischen Vergangenheit ertönende Schrei wiederum als Insel beschrieben: »Un cri d’abord noué, obscur, et qui bientôt s’éclaire et sème« (ebd., 206). Der Schrei, der sich aussät wie ein Rhizom und sich in einer Vielzahl von Stimmen zu einer »parole« formiert und ausbreitet, wird vom Erzähler vernommen, da er als Wurzelgeflecht in ihm selbst eingepflanzt ist und treibt (vgl. ebd.). Die Geschichten der jugendlichen Freunde breiten sich wie ein ›Blattwerk‹ oder wie das Geäst eines Banyanbaums auf der Welt aus:»[…] tout cela paraîtra sur la grève du vaste monde, comme un feuillage qui sur sa sève tire doucement; comme un banyan qui entoure la mer selon le vœu multiple de ses branches.« (Glissant 1997: 206) Obgleich bei Erscheinen des Romans La Lézarde weder Deleuze’/Guattaris Rhizomtext veröffentlicht war noch der Glissant’sche Neologismus des »toutmonde« Erwähnung fand, zeichnet sich hier bereits in der Metaphorik des Banyanbaums die Relationalität der Insel zur Welt ab. Wie das sich durch zahlreiche Bifurkationen auszeichnende, fraktale Flussnetz weist auch der Banyanbaum keine exakte Übereinstimmung mit dem später von Glissant in seiner Poétique de la Relation beschriebenen Rhizom auf. Der Banyanbaum wächst in der Realität auf einem Wirtsbaum, der zunächst keinen Schaden nimmt, da der Banyan kein Schmarotzer ist. Er sendet Luftwurzeln aus, die sich mit der Zeit zu einem dichten Netz entwickeln. Haben die Wurzeln jedoch den Boden erreicht, kommt es zu einem Wachstumsschub, da die Pflanze nun nicht mehr ausschließlich auf die Nährstoffe des Wirtsbaums angewiesen ist. Der Wirtsbaum wird letztendlich mit zunehmendem Wachstum erdrückt und stirbt schließlich ab. Der Banyan lässt die ihn umgebenden anderen Gewächse nicht unbeschadet. Wie beim Modell des binären Stammbaums ist eben auch beim Rhizom nur von einer Konstruktion, einer Denkfigur auszugehen, die in ihrer Simplifizierung als
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Modell, dem konkreten und komplexeren Charakter der Pflanzen nicht entspricht. Mit dem narrativen Durchdeklinieren einer Vielzahl rhizomähnlicher und zugleich divergierender fraktaler Phänomene aus der Natur in seinem Romanwerk stellt Glissant jedoch jegliche Modellhaftigkeit einer Denkfigur in Frage. Wie einleitend ausgeführt, sprechen Deleuze/Guattari von einer Sackgasse, in die sie geraten seien, und weisen darauf hin, dass auch Rhizome despotisch und hierarchisch sein können: »S’il s’agit de montrer que les rhizomes ont aussi leur propre despotisme, leur propre hiérarchie, plus durs encore, très bien, car il n’y a pas de dualisme, pas de dualisme ontologique ici et là, pas de dualisme axiologique du bon et du mauvais, pas de mélange ou de synthèse américaine.« (Deleuze/Guattari 1980: 30f.)
Das in den Essays und mündlichen Äußerungen Glissants teilweise sehr idealisierte ›Denkmodell‹ des Rhizoms wird durch die Diversität der konkreten Erscheinungen der Romane, Mangrove, Banyanbaum, ›Figuier-maudit‹,13 Fluss, Strudel, Windrose und Malstrom, dekonstruiert. Folglich erscheint das Rhizom in Tout-monde nur als eine unter vielen raum- sowie textkonstituierenden Metaphern der Relationalität. Wie aufgezeigt werden konnte, wird die Relationalität der Insel zur Welt nicht erst in Tout-monde zum zentralen Thema. Auch eine die Relationalität implizierende, kritische Reflexion der Kategorien Zentrum und Peripherie kommt bereits in Glissants erstem Roman zum Ausdruck, als Mathieu dem Jüngsten der Gruppe Anweisungen für das von diesem zu schreibende Buch gibt: »Dis-leur que nous aimons le monde entier. Que nous aimons ce qu’ils ont de meilleur, de vrai. Que nous connaissons leurs grandes œuvres, que nous les apprenons. Mais qu’ils ont un bien mauvais visage par ici. Dis que nous disions: là-bas le centre, pour dire la France. Mais que nous voulons d’abord être en paix avec nous-mêmes. Que notre Centre il est en nous, et que c’est là que nous l’avons cherché.« (Glissant 1997: 229)
In Tout-monde (1993) erscheint dann die als Rhizom zu beschreibende Polyphonie der erzählten Reisegeschichten als Gegenentwurf zum traditionellen ethnozentrischen Reisebericht. Einer Bewegungsrichtung vom Zentrum zur Peripherie wird bei Glissant eine zirkuläre Struktur entgegengesetzt. So beginnt
13 Der ›figuier-maudit‹ ist eine dem ›banian‹ ähnliche, auf den Antillen beheimatete Baumart.
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und endet der Roman auf der Insel Martinique. Die Einheit einer Erzählinstanz wird durch die Vielzahl der erzählenden Protagonisten und der »romanciers«, »poètes«, »conteurs«, »chroniquers«, »déparleurs« gesprengt.14 Dabei ist eine Metamorphose vom Poeten und Sprachmaterialisten zum »déparleur« zu beobachten, sobald der Poet sein Sprachmaterial mit den unzähligen mündlich übertragenen (Leidens-) Geschichten des »tout-monde« vernetzt.15 Daher ist das Sprechen des »déparleur« als ein grenzenloses, maßloses, überbordendes, barockes und rhizomatisches zu beschreiben, als »démesure de la démesure« (Glissant 1996: 94). Bei diesem Unmaß geht es Glissant weniger um eine bloße, Anarchie evozierende Dekonstruktion, sondern um eine auf Oralität basierende Literatur, die dem überheblichen Anspruch auf Tiefe (»profondeur«) und Universalität als Korrektiv entgegentritt.16 Die Struktur einer solchen Literatur kommt in der Metaphorik des Wirbelwinds (»tourbillon«) zur Darstellung. Der Wirbel im Wirbel wird als intellektuelles Artefakt sprachphilosophisch umgesetzt, indem poetisches Sprechen (»déparler«) unendlich ›zerklüftet‹ erscheint. Entsprechend gilt für den Leser: »Il faut accepter de plonger dans ce grand tourbillon ou mourir noyé« (Joubert 1993: 5). Die in extrem verdichteter Form (»condensée à l’extrême« (Glissant 1993: 401)) erzählten Geschichten, die bereits ein anderer erzählt hat und die davor wiederum ein anderer erzählte etc., bilden eine unendliche mise en abymeStruktur, die aufgrund von Spiegelungen, Wiederholungen und Verdopplungen in Korrespondenz zu fraktalen Strukturen tritt. In diesem Kontext ist die Übereinstimmung der Übersetzung der mise en abyme als ›In-Abgrund-Setzen‹ mit dem griechischen Ursprung des Begriffs Chaos als das »Klaffende, weit
14 Glissant begründet diese narrative Polyphonie wie folgt: »Je crois que le problème est que celui qui parle est multiple. Il n’y a pas quelqu’un qui parle, il n’y a pas l’auteur qui parle, il n’y a pas ›ça‹ qui parle […]« (Glissant 1996: 131). 15 Obwohl keine genaue Begriffsunterscheidung zwischen »poète« und »déparleur« vorliegt, scheint die Bezeichnung des Poeten nicht auszureichen und muss erweitert werden: »L’amateur de contes, driveur d’espaces, qui n’estime la parole qu’à ce moment où elle chante et poursuit, peut-être se devrait-on de lui trouver un autre nom que celui de poète: peut-être chercheur, fouailleur, déparleur, tout ce qui ramène au bruissement dévergondé du conte. Déparleur, oui, cela convient tout à fait. « (Glissant 1993: 330) 16 »[…] une démesure de la démesure qui me paraît être la vocation de la littérature aujourd’hui. Démesure non pas parce que c’est anarchique mais parce qu’il n’y a plus la prétention à la profondeur, la prétention à l’universel, il n’y a plus que la prétention à la diversité. Démesure de la démesure.« (Glissant 1996: 94)
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Offenstehende, Leere des Weltraums« (Cramer 1993: 158) für die Werkkomposition von entscheidender Bedeutung. Der Zusammenhang zwischen der fraktalen Struktur und der literarischen Reduplikation des Werkes innerhalb seiner selbst17 beruht jedoch nicht auf einer Wiederkehr desselben, sondern auf der des Analogen und Ähnlichen. Aus den durch die topologischen, temporalen sowie sprachlichen fraktalen Strukturen ausgelösten selbstähnlichen Wiederholungen entstehen Abweichungen und Differenzen, die wiederum rhizomatisch vernetzt werden, sodass die Diversität und die zahlreichen transversalen Relationen des Tout-monde in ihrer unendlich fortschreitenden Komplexität zur Darstellung gebracht wird. Die Ebenen der narrativen Fraktale (z.B. die verschiedenen Erzählebenen in einer mise en abyme-Struktur) korrelieren mit dem wuchernden und vernetzenden Rhizom. Ein kulinarisches Beispiel, bei dem die Produktivität und Kreativität der Kombination von fraktalen und rhizomatischen Kräften besonders veranschaulicht wird, liefert uns Glissant anhand der indischen Küche am Ende des Kapitels »Air-Plane«. Dem Leser wird zunächst detailliert beschrieben, mit welchen Zutaten das Masala zuzubereiten ist, um es, poetologisch gesprochen, als Invariante des Chaos der indischen Küche zu erläutern, die ihrerseits als ein Rhizom des Essens zu betrachten ist: »Voici donc le masala, prêt à servir, et voyez la trame à mailles, le continu sans Ici ni Là-bas, sans périphérie ni Centre, le massala est essentiel, mais en même temps il disparaît dans les combinaisons, il donne tout en base, mais les résultats sont tant différents, du moins pour l’averti. Vous jurez que c’est partout pareil pour tous les mangers du monde? Vous êtes allé déguster, vous avez parcouru les marmites et les faitouts? Alors vous comprendrez l’invariant, que le manger est un rhizome, et quand vous avez surpris l’élément premier, vous ne le lâchez plus. Vous combinez le masala avec des légumes ou de la viande et vous obtenez le colombo, et la viande mélangée encore à du cumin, de l’ail et de l’huile, donne le talchou. Si vous ajoutez au masala des pois cassés cuits de la veille, des pois verts, des pommes de terre coupées en petits morceaux, vous obtenez le samosa. Vous n’avez plus qu’à confectionner une pâte pour réaliser des galettes frites dans l’huile. Le dol, c’est des lentilles et du giromon mélangés de masala. Le lason, c’est les mêmes lentilles, mais passées à la moulinette, et très épicées, mélangées de masala encore. En
17 Bei der Selbstähnlichkeit der Fraktale handelt es sich um ein Phänomen, »das wir im Bereich etwa der Anthropologie mit dem modèle réduit im Sinne von Claude LéviStrauss oder im Bereich der Literaturwissenschaft mit der begrifflich auf André Gide zurückgehenden mise en abyme in Verbindung bringen dürfen.« (Ette 2005: 126)
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somme le masala, c’est l’invariant de ce Chaos de cuisine, que les Antillais hindous nous ont appris à intégrer dans notre maelström […]« (Glissant 1993: 563f., Herv. H.K.)
Die Bezeichnung der kulturellen Invariante bei Glissant ist aus dieser Perspektive als literarisch-philosophisches Äquivalent für das zu betrachten, was mit dem Begriff der Skaleninvarianz bzw. der Selbstähnlichkeit in der fraktalen Geometrie beschrieben wird. Anhand der Essens-Metapher kommen die theoretischphilosophischen Reflexionen über die Relation sowie die kulturelle Kreolisierung zur Darstellung. Abstrakte Theorie wird in direkte Nähe zu etwas Alltäglichem gebracht und fusioniert so zu einer »grammar of gastropoetics«.18 Obwohl also die Komposition des Romans zunächst völlig rhizomatisch und aleatorisch erscheint, die Kapitel jenseits einer zeitlichen Linearität im Heute, im 19. Jahrhundert und in den Jahren von 1945 bis 1990 anzusiedeln sind und den Leser an verschiedene Orte, von Martinique nach Italien, von Nîmes nach Rumänien, von Laos nach Afrika, führen, liegt dennoch ein nicht nur assoziatives, sondern sehr wohl durchdachtes Kompositionsprinzip vor, das die Diversifizierung des Tout-monde zur Darstellung bringt: Die Simulation nicht zielgerichteter »errances« der Protagonisten weisen in poetologischer Hinsicht sehr wohl ein Ziel auf: Der Martinikaner Mathieu reist auf das äolische Archipel, Harry aus Martinique nach Korsika. Die Insel Korsika sowie das italienische Archipel sind gegenüber der Insel Martinique als invariant zu betrachten. Der als ›Urmythos‹ fungierende Bruderverrat, der im gesamten Romanwerk wiederholt in Fragmenten und Spuren ›aufblitzt‹, erfährt in La Lézarde ein ihm ›selbstähnliches‹ Echo im Kampf Thaëls gegen Garin. Dieser Kampf setzt sich in Tout-monde als Invariante im Kampf Thaëls gegen die Welt im Algerien- sowie Indochinakrieg fort. Durch die erzähltechnische Verschachtelung zweier Zeitebenen kommen bei der Reise Thaëls von Martinique nach Le Havre auf dem Überseeschiff »Colombie« (Glissant 1993:145) die Grausamkeiten der Sklavendeportation als Invariante der Ozeanüberquerung zur Darstellung.
18 Roy 2002: 471–502; vgl. ebenfalls zu diesem Thema Loichot 2007: 124–137.
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S CHLUSSBETRACHTUNG So wie an vielen Beispielen nachzuweisen ist,19 unterliegen die zunächst rhizomatisch erscheinenden, assoziativ frei miteinander verketteten Zeitebenen der »histoires« und Erzählfragmente, Orte und Protagonisten selbst untereinander einer selbstähnlichen fraktalen ›Ordnung‹. Der Bewegungsmodus der Erzähler sowie der Leser durch dieses rhizomatische und fraktale (Text-)Chaos ist die »errance«. Somit ist die philosophische Denkfigur »tout-monde« sowie der gleichnamige Roman als eine unendliche Diversifizierung zu beschreiben, die aus der literarischen Komposition von Rhizom, Fraktal und Irrfahrt (»errance«) entsteht. Ausgehend von Deleuzes Répétiton et Différence (2000) werden diese Denkbewegungen ihrerseits immer wieder mit ähnlichen Denkbildern wie der »mangrove«, dem Archipel, dem »figuier-maudit«, dem »tourbillion« (Wirbelwind) oder der »roches/grottes« variiert, kombiniert und als solche multipliziert. Glissant setzt auf diese Weise die dynamische Dialektik von Repetition und Abweichung in Gang, um der unendlichen Diversität und Komplexität des »toutmonde« Raum zu geben. Der Rezipient muss aus einer Diversität von möglichen Fluchtlinien auswählen, um ein eigenes hermeneutisches Netz zu weben. Entscheidend für die Rezeption des Glissant’schen »tout-monde« ist dabei, zwei entgegengesetzte Beobachtungen der Chaosforschung zu verfolgen: Aus der Nähe betrachtet, erscheinen die unendlichen Röschen eines Romanesco-Blumenkohls rhizomatisch strukturiert, während sich bei der Betrachtung der Gesamtheit des Kohlkopfes eine fraktale Ordnung dynamischer Regularitäten erschließt. Bei der ersten Lektüre, bei der eine textnahe, Satz für Satz folgende Perspektive eingenommen wird, erscheint die Struktur des Textes zunächst ebenfalls völlig ungeordnet und ›chaotisch‹. Dennoch lassen sich auch in Tout-monde klar geordnete Strukturen identifizieren, sobald nämlich nach hermeneutischem Prinzip das Detail, die Mikrostrukturen der »histoires« und heterogenen Fragmente mit anderen »histoires«, dem gesamten Buchprojekt Tout-monde bzw. mit dem gesamten Œuvre in Beziehung gesetzt werden. Deutlicher als die Essays können die Romane Glissants die ›unexakten‹ Begriffe wie »écho-monde« oder »tout-monde« als prozessorientierte Denkbewegungen und als »Durchgangstelle, dessen was im Werden« (Deleuze/Guattari 1992: 35) ist, zur Darstellung bringen. Nach dem poetologischen Prinzip »La Relation relie (relaie), relate« (Glissant 1990: 187) impliziert der Akt des
19 Vgl. dazu meine noch unveröffentlichte Dissertation »Rhizome, Verzweigungen, Fraktale: Vernetztes Schreiben und Komponieren im Werk Édouard Glissants« .
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Erzählens ein rhizomatisches In-Beziehung-Setzen. In Kombination mit dem narrativen Verfahren der mise en abyme werden immer wieder neue raumzeitliche Vernetzungen zu Tage gefördert. Die so entstandene Akkumulation bisher versteckter und unbeachteter Verbindungslinien und Fluchtlinien sprengt fixierte Denkstrukturen und hegemoniale Machtdiskurse. Obgleich für Glissant in den letzten Jahren nicht mehr die noch in La Lézarde thematisierte Autonomie Martiniques zur Debatte steht,20 bleibt Glissant ausgehend von seinem hier skizzierten Literaturverständnis seinem politischen Engagement treu, sofern Politik auch in Form einer Poetik als wirksam anerkannt wird. Für ihn als Schriftsteller und Poeten bedeutet dies: »La seule politique possible est une poétique: celle de l’imaginaire.« (Glissant/Anquetil 1993)
L ITERATUR Blümig, Gabriele (2006): Retour au paysage natal. Zur Natur im postkolonialen Roman der frankophonen Antillen. Online unter: http://opus.bibliothek.uniwuerzburg.de/volltexte/2006/1741/pdf/Dissertation_Bluemig_Gabriele.pdf (Letzter Zugriff am 23.07.2012). Chamoiseau, Patrick/Delver, Gérard/Glissant, Édouard/Juminer, Bertène (2000): »Manifeste pour refonder les DOM«, in: Le Monde, vom 21.01.2000, S.1617. Chancé, Dominique (2002): Édouard Glissant. Un »traité du déparler«, Paris: Karthala. Cramer, Friedrich (1993): Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel Verlag. Deleuze, Gilles (1988): Le Pli - Leibniz et le baroque, Paris: Minuit. — (posthum 2002): L’Île déserte et autres textes. Textes et entretiens 1953-1974, Paris: Minuit. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1980): Capitalisme et Schizophrénie. Mille Plateaux, Paris: Minuit. — (1992). Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin: Merve.
20 Allerdings zeigt sich Glissants fortwährende Kritik an den Folgen der Departementalisierung der frankophonen Karibik in seinen zahlreichen öffentlichen Stellungnahmen, wie z.B. das »Manifeste pour refonder les Dom«, das er unterschrieben hat (Le Monde, 21.01.2000). Zur »Persistence of the Political« bei Glissant vgl. auch Forsdick 2010.
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»Inventer l’Haïtien comme prochain« Der Andere en Relation zwischen Differenz und Nähe J ULIA B ORST
»Rares, les États ayant cultivé le long de leur histoire une telle somme de déshonneurs.« (L. Trouillot 2011: 12) Mit diesen ironischen Worten fasst der haitianische Autor Lyonel Trouillot jene lange Tradition von Vorurteilen und Stereotypen über Haiti zusammen, die bis heute keinen Abbruch fand, wird das Land doch im westlichen Diskurs häufig als ›barbarischer‹ Gegenpol der Moderne wahrgenommen, als zu einer endlosen Geschichte von Chaos und Gewalt verurteilt. Haitianische Intellektuelle wie Lyonel Trouillot weisen dieses Bild von Haiti vehement zurück und üben eine harsche Kritik an einer derartigen verkürzenden Betrachtung, welche der Komplexität der haitianischen Geschichte und Gegenwart in keiner Weise Rechnung trägt. Ein solcher Diskurs des Westens ist vielmehr zu betrachten als Symptom der Kolonialität im Sinne fortdauernder und beständig neu emergierender geopolitischer Machtstrukturen, die auch im ›post‹kolonialen Kontext fortbestehen und sich u.a. in der Konstruktion einer strikten Opposition zwischen (westlicher) Identität und (subalterner) Alterität niederschlagen (vgl. etwa Ashcroft/Griffiths/Tiffin 2007: 155). Lyonel Trouillot fordert deshalb ein Aufbrechen derartiger Binarismen, indem er auf eine Verankerung des Haitianers als prochain in der globalen Wahrnehmung dringt (vgl. L. Trouillot 2011: 14). Vor dem Hintergrund einer dekolonialen Kritik am Diskurs der westlichen Moderne (u.a. Walter Mignolo, Aníbal Quijano) soll im vorliegenden Beitrag Lyonel Trouillots Idee des prochain als innovativer Entwurf des Anderen fruchtbar gemacht werden, der nicht mehr in der Dichotomie Identität/Alterität zu denken ist, sondern innerhalb eines Netzes der identité-relation in (ethischer) Beziehung zum Selbst (vgl. auch Glissant 1990: 158, 169). Vernetzt werden soll Lyonel Trouillots Konzeptualisierung mit
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Édouard Glissants Poétique de la Relation, die in ihrem rhizomatischen Denken und in ihrer Überwindung der Binarismen westlicher Epistemologien die theoretische Grundlage bildet, um die Differenz des Anderen in der Relation zur eigenen Identität zu denken. Glissants Reflexionen präsentieren überdies einen Ansatz, der vor der Komplexität der Welt nicht zurückschreckt, die häufig von einem verkürzenden Denken in totalisierenden Oppositionen überlagert wird, und der sich nicht scheut, an die Stelle einer ganzheitlichen Lösung und dem beständigen Streben nach einer holistischen Analyse des Anderen das Prinzip der Opazität zu setzen, welches immer nur eine Annäherung an ein Phänomen erlaubt, niemals jedoch eine endgültige Klärung.1 Insbesondere für den haitianischen Kontext erweist sich ein solches Zulassen von Komplexität als bedeutungsvoll, hat doch der Okzident insbesondere in der Post-Duvalier-Ära häufig keinen Rat angesichts der angespannten Lage in dem Karibikstaat gewusst. Gerade bezüglich der zeitgenössischen Gewaltproblematik betonen kritische Studien der jüngeren Geschichte Haitis jedoch, dass diese keinesfalls auf eine besondere Gewaltaffinität oder Gewaltkultur zurückgeführt werden darf, sondern in einem komplexen Netz historischer Kontinuitäten und geopolitischer Strukturen zu verorten ist.2
W ESTLICHER D ISKURS
UND
K OLONIALITÄT
Beverly Bell konstatiert, dass im westlichen Denken häufig eine verzerrte Wahrnehmung von Haiti als hoffnungsloser Fall vorliegt: »The nation is often characterized, overtly or through interference, as a troubled, Godforsaken place, where troubling, Godforsaken things happen.« (Bell 2001: 9) Jene Voreingenommenheit nahm ihren Ursprung bereits in der Kolonialzeit und der vermeintlichen ›Undenkbarkeit‹ der haitianischen Revolution, die sich Michel-Rolph Trouillot zufolge den Denkkategorien der westlichen Moderne versperrte (vgl. M.-R. Trouillot 2002a: 84f.). Eine von Stereotypen geprägte Sichtweise der haitianischen Geschichte hat in Teilen bis in die heutige Zeit Bestand und manifestiert sich etwa in der Reputation des Landes als ›Ort der Gewalt‹ und der Wahrnehmung seiner Geschichte
1
Vgl. auch Benítez-Rojo (1998: 17), der in seiner neuen Lesart der Karibik vor der Folie einer positiven Auffassung von Chaos (vgl. auch Glissant 1990: 108) nicht Ergebnissen, sondern Prozessen, Dynamiken und Rhythmen nachspürt.
2
Vgl. etwa Dupuy 2007; Fatton 2007; Gilles 2008; Hurbon 2001.
D ER A NDERE EN R ELATION ZWISCHEN D IFFERENZ UND N ÄHE
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als »never-ending story of carnage and brutality« (Glover 2010: 15).3 Deutlich wurde eine solche Sichtweise nicht zuletzt infolge des Erdbebens 2010, als sich in einer »plethora of ill-informed speculation« (Dubois 2012: 3) die Topoi des »cliché d’une Haïti maudite« (Lahens 2010) und des »unending tragic destiny« (Munro 2010b: 1) in die Tradition der stereotypen und vorurteilsbelasteten Diskurse über Haiti einreihten:4 »The news that emerged in the first few days after the earthquake salivated over ›looters‹ and ›criminals‹ set loose on a post-apocalyptic wasteland. This is the same story that has always been told about Haiti, […] since the slaves had the temerity to not want to be slaves anymore.« (Wagner 2010: 18)5
Durch die Degradierung Haitis zu einer »longue nuit de barbarie« (Hurbon 1988: 6; vgl. auch Farmer 2003: 197) wird das Land geradezu zu einem ›barbarischen Gegenpol‹ der westlichen Moderne stilisiert, die sich des Selbstbilds der eigenen Gewaltfreiheit zu versichern sucht, indem sie Gewalt nicht nur räumlich entfernt, sondern zugleich als zeitlich regressiv und barbarisch verortet (vgl.
3
Zu den Vorurteilen und Stereotypen, die Haiti entgegengebracht werden vgl. insbesondere die Studien von Farmer 2003 und Lawless 1992.
4
Auch wenn im vorliegenden Beitrag jener stereotype Diskurs über Haiti zunächst dem globalen Norden zugeschrieben wird, um zu markieren, dass es sich hier um einen Diskurs handelt, dem geopolitische Machtstrukturen zugrunde liegen und der sich aus kolonialen Denkmustern heraus entwickelt hat, darf nicht vergessen werden, dass das Gewaltproblem auch in Haiti selbst aufgegriffen und diskutiert wird, vgl. auch weiter unten und Lucrèrce 2011: 112f. So spricht etwa Laënnec Hurbon von einem »fantasme de la violence« (2002: 116) in der haitianischen Gesellschaft, das zu einem beständigen Kreislauf der Gewalt und Gegengewalt geführt habe. Ähnlich düster fällt die Bestandsaufnahme des Autors René Depestre aus, der Haiti als »pays profondément zombifié« (2000) bezeichnet, das immer noch auf eine Regierung wartet, die es von seinem »calvaire« (2004) befreit (vgl. 2000). Nicht zuletzt zeugen auch viele zeitgenössische haitianische Romane davon (vgl. z.B. L. Trouillot 1998; Lahens 2008), dass Gewalt ein Thema ist, das die öffentliche Diskussion in Haiti beherrscht, wenn auch das Phänomen dort jenseits der vorgefertigten Stereotype gedacht wird und die Darstellung deshalb weitaus komplexer ausfällt.
5
Vgl. u.a. auch die Kritik in Etoke (2011: 88) sowie in zahlreichen Beiträgen in Munro, 2010a. Die verzerrte Darstellung Haitis in der Folge des Erdbebens wurde von haitianischen Intellektuellen und Schriftstellern massiv kritisiert, vgl. u.a. Métellus 2010; Lahens 2010; Rousseau/Laferrière 2010; Savigneau/Théodat 2010; L. Trouillot 2010.
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Reemtsma 2009: 265f; M.-R. Trouillot 2002b: 850). Jan Philipp Reemtsma stellt dementsprechend fest: »Der moderne Feind ist der Feind der Moderne: der Barbar. Jemanden zum Barbaren zu erklären bedeutet, ihn einer Zone zuzuordnen, in der Gewalt – noch – erlaubt und oft geboten ist.« (Reemtsma 2009: 293) Ein Entwurf von Haiti als eine Alterität der Moderne und damit Ort der Gewalt und der ›Barbarei‹ ist Bestandteil jener Strukturen, die Aníbal Quijano unter dem Konzept der Kolonialität der Macht zusammenfasst und als »the most general form of domination in the world today« (Quijano 2007b: 170) bezeichnet. Während ›Kolonialismus‹ lediglich auf die tatsächliche territoriale und wirtschaftliche Dominanz der Kolonien referiert, ist unter Kolonialität zusätzlich eine »epistemological expropriation« (Castro-Gómez 2008: 268) über die Produktion von Wissen, Bilder und Symbolsysteme im Sinne eines andauernden Prozesses und damit eine »den politischen Kolonialismus überdauernde und wirtschaftliche, soziale, kulturelle und ideologische Aspekte umfassende Machtbeziehung« (Boatc 2006: 298) zu verstehen, die in der Gegenwart fortwirkt und sich immer wieder neu generiert. Quijano zufolge äußert sich ihre Wirkung nicht nur dahingehend, dass sie die kulturelle Produktion in den dominierten Kulturen beschränkt, sondern zugleich als soziale und kulturelle Kontrolle fungiert (vgl. Quijano 2007b: 169). Als solche wurde der westlichen Vorstellung von Haiti als ›unzivilisierte Alterität‹ universelle Gültigkeit zugewiesen.6 Quijano identifiziert insbesondere das Fortwirken des Rassismus als geopolitische Kategorie der sozialen Hierarchisierung und des Machterhalts in einer postkolonialen Welt als eines der offensichtlichsten und weitverbreitetsten Symptome der Kolonialität der Macht (vgl. Quijano 2007a: 111f.). Zugleich entlarvt er die Kategorie der ›Rasse‹ als »construction idéologique nue« (Quijano 2007a: 113), da sie auf einer künstlich konstruierten biologischen Hierarchisierung auf Grundlage der Hautfarbe basiert, die in der binären Unterscheidung civilisé vs. primitif auf eine neue epistemologische Ebene gehoben wurde (vgl. Quijano 2007a: 114, 116). Am Ursprung dieser Hierarchisierung sieht Quijano den Descartes’schen Dualismus von Geist und Körper, der den letzteren als Objekt strikt getrennt von der raison des Subjekts und damit als zur Domäne der Natur gehörig inferior denkt (vgl. Quijano 2007a: 117; Descartes 2009). Folgt man dieser Argumentation, so Quijano, gerät man in Gefahr eine
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Gerade ein solches Denken in Oppositionen, so Dubois, leistet nun aber den Bestrebungen des Westens Vorschub, Haiti nach seinen eigenen Vorstellungen formen zu wollen – eine Intention, die er vehement kritisiert (vgl. Dubois 2012: 368; ebenso Robert/Seitenfus 2010) –, da erst im Aufbrechen dieser Binarismen die Akzeptanz der Diversität des Anderen liegen kann (vgl. weiter unten).
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Hierarchisierung der ›Rassen‹ vorzunehmen, wobei jene als überlegen gilt, die sich weitestmöglich von der Natur entfernt hat. Deshalb müsse eine Überwindung dieses Dualismus Voraussetzung sein für eine Beendigung rassistischdiskriminierender Denkmuster einer Geopolitik der Kolonialität. Solange dies nicht geschehen ist, stellt sich jedoch eine Konstruktion des (post)kolonialen Anderen als »[p]ure otherness« (Britton 1999: 17) ein, welche die rhizomatische zwischenmenschliche Verbindung im Sinne der Relation, die gerade die Beziehung zum Anderen betont, verleugnet (vgl. Glissant 1990: 23).7 André Lucrèce bestätigt in seiner Relektüre von Frantz Fanon die Bedeutung diskriminierender Wissensproduktionen für den westlichen Diskurs über Haiti, der auch in der Karibik selbst über den Mechanismus der Entfremdung der eigenen Selbstwahrnehmung Wirkung zeitigte: »Relire Fanon aujourd’hui, c’est comprendre pourquoi des Antillais clament haut et fort que les malheurs historiques et naturels qui touchent Haïti sont les conséquences d’une malédiction qui fait de ce pays une nation maudite, reprenant quasiment les mêmes mots et les mêmes expressions qu’employaient les évangélisateurs à propos de tous pays habités par des nègres.« (Lucrèce 2011: 112f.)
Walter Mignolo bezeichnet eine derartige Produktion von Wissen, die universelle Geltung für sich beansprucht, als global design, dem die Intention zugrunde liegt, den eigenen Ort der Artikulation zu verschleiern und so die eigene local history zum »unique and universal point of enunciation and production of knowledge« (Castro-Gómez 2008: 279) zu erheben und gleichzeitig Wissen, das an anderen Orten produziert wird, als irrelevant und vorwissenschaftlich abzuwerten und somit nicht-eurozentrische Denkmodelle durch die Hegemonie der Wissensformen der westlichen Moderne ins Abseits zu drängen (vgl. Castro-Gómez 2008: 279; Mignolo 2000).8 Santiago Castro-Gómez spricht angesichts dieser Geopolitik des Wissens gar von einer »epistemological violence exercised […]
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Grada Kilomba spricht deshalb von einem Trauma des Black subject, welches sich in diesem Status der »absolute Otherness« (Kilomba 2008: 20) in Bezug auf das white subject begründet.
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Um diesen epistemologischen Eurozentrismus zu überwinden, muss es vielmehr zu einer Aufwertung der lokalen Geschichten sowie grundlegender Erfahrungen der Dekolonialität (z.B. der Haitianischen Revolution) kommen, womit die angebliche Überlegenheit der europäischen Zivilisation und ihre Gültigkeit für die gesamte Welt in Frage gestellt werden (vgl. Escobar 2007: 185). Vgl. auch Michel-Rolph Trouillots Kritik (2002b: 847) der Generalisierung nordatlantischer Erfahrungen.
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over other forms of production of knowledge, images, symbols, and forms of signifying« (Castro-Gómez 2008: 281). Um die Reduzierung Haitis auf einen Ort der Gewalt aufzubrechen, ist nun eine Infragestellung der dominanten Wissensproduktionen vonnöten. Auch Glissant greift eine Universalisierung westlicher Denkkategorien als Grundlage eines Exotismus an und fordert einer Überwindung des Denkens in absoluten Dualismen:9 »Si la nation en Occident est d’abord un ›contraire‹, l’identité pour les peuples colonisés sera en premier lieu un ›opposé à‹, c’est-à-dire au principe une limitation« (Glissant 1990: 29; vgl. auch Britton 1999: 17). Erst eine solche Hinwendung zu einem Denken der Spur (pensée de la trace) als »non-système de pensée intuitif, fragile, ambigu, qui conviendra le mieux à l’extraordinaire complexité et à l’extraordinaire dimension de multiplicité du monde« (Glissant 1996: 25), könne Prieto zufolge Exzeptionalismus-Diskursen, die absolute Differenz postulieren, ein Ende bereiten, »recogniz[ing] and honor[ing] those things that make a culture unique, while also acknowledging that none of them are signs of some kind of absolute difference, but rather local manifestations of more general principles« (Prieto 2010: 114). Die Persistenz des westlichen Diskurses, der Haiti immer noch in Kategorien der Undenkbarkeit und der malédiction reflektiert, verkennt dagegen diese Komplexität und Vielschichtigkeit der heutigen Situation des Landes und versperrt sich damit geradezu dem Glauben an einen Ausweg aus der Gewalt. Denn in Analogie zum Ereignis der Haitianischen Revolution an der Wende zum 19. Jahrhundert, die undenkbar war, weil sie »die Begriffe untergräbt, in denen die Fragen formuliert wurden« (M.-R. Trouillot 2002a: 94), sprengt auch der Glaube an einen Ausweg den Topos der malédiction. In der Konsequenz kritisiert der haitianische Anthropologe Michel-Rolph Trouillot die Rede von Haiti als »deviance« (M.-R. Trouillot 1990: 5), die sich herkömmlichen Analysekategorien entzieht, vehement: »When we are being told over and over again that Haiti is unique, bizarre, unnatural, odd, queer, freakish, or grotesque, we are also being told, in varying degrees, that it is unnatural, erratic, and therefore unexplainable.« (M.-R. Trouillot 1990: 6) Diese Annahme, dass Haiti sich der Analyse und der Vergleichbarkeit entziehe, sei allerdings eine Fiktion, von der sich die Öffentlichkeit und auch die Forschung verabschieden müsse (vgl. M.-R. Trouillot 1990: 11). Ein solcher Diskurs über Haitis »apartness« (ebd.: 8) und eine Stigmatisierung des Landes als Ort der Gewalt ist vielmehr ein Zeichen des Fortwirkens der Kolonialität, die dazu einlädt, das an
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Glissant spricht diesbezüglich auch von kontinentalem bzw. System-Denken (vgl. Glissant 1991: 275; 1996: 85).
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der Schwelle zum 19. Jahrhundert ›undenkbare‹ Haiti weiterzudenken als Land, das Gewalt und Chaos anheimgefallen ist, und damit durch die Fortführung epistemologischer Kontrolle und Dominanz nicht nur die Überlebensfähigkeit Haitis ohne Hilfe (des Westens) in Frage zu stellen, sondern zugleich die haitianische Kultur und ihre local histories weiter zu verschleiern. So beanstandet Paul Farmer etwa: »All of this together – distortions, half-truths, myths [about Haiti and Haitians, J.B.], old and new – leaves even people of good will and discernment puzzled as to what is really happening in Haiti.« (Farmer 2003: 41) Der Autor Lyonel Trouillot beklagt mithin zu Recht die Taubheit des Westens gegenüber den haitianischen Stimmen, welche bestehende Vorurteile und Klischees infrage stellen: »L’acte de parole haïtien, c’est un monologue, ou plutôt une adresse dont le destinataire reste sourd […] L’État haïtien naît sans voisins égaux, et les États occidentaux ne le reconnaissent pas comme leur égal. Réalité innommable, impensable, condamnée dès lors à une parole inaudible.« (L. Trouillot 2011: 12)
Er leitet daraus eine »solitude« (L. Trouillot 2011: 13)10 Haitis ab, habe doch seit jeher der prochain als Zuhörer gefehlt, zumal der Westen und Haiti gewissermaßen ›aneinander vorbeireden‹: »quand l’Occident parle d’Haïti, il parle à ses oreilles, et se dit ce qu’il peut, veut entendre. Indépendamment du turbulent soliloque haïtien« (L. Trouillot 2011: 12f). Der Diskurs des Westens wird dabei längst nicht nur von außen an Haiti herangetragen, sondern reproduziert sich auch innerhalb der haitianischen Gesellschaft in der gewachsenen Opposition zwischen Elite und Mehrheit der Bevölkerung (vgl. auch M.-R. Trouillot 1990: 7). Denn jene Elite – »habit[ant] le bord de mer, les yeux tournés vers l’ailleurs« (L. Trouillot 2011: 13) – scheint weiterhin die ›weiße Maske‹ im Sinne Fanons zu tragen und strebt mithin nach einer ›Identifikation‹ mit dem (›Überlegenheitsdiskurs‹ des) Okzident, der als systemisches Denken die Exklusion des Anderen als »a primitive and degraded subject of imperialist discourse« (Ashcroft/Grifiths/Tiffin 2007: 156) und damit eine Hierarchisierung der haitianischen Gesellschaft impliziert (vgl. Glissant 1990: 26f.).
10 Vgl. hierzu auch die Nobelpreisrede von Gabriel García Márquez (1982).
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D EN A NDEREN
EN
R ELATION
DENKEN
Wenn haitianische Intellektuelle den Diskurs des Okzidents als universalisierend und totalisierend angreifen,11 fordern sie jenes Recht auf Differenz ein, welches Glissant in der Poétique de la Relation postuliert (vgl. Glissant 1990: 203). Der westliche Diskurs schränkt dieses jedoch mit seinem Anspruch auf Transparenz ein, da er sich in seinem Streben nach Systematisierung ein Denken des Anderen in universalistischen Kategorien anmaße, ohne dessen Anderssein als solches zu akzeptieren. Damit geht, laut Glissant, zugleich ein Recht auf Opazität einher, welches einfordert, den Anderen in seiner Differenz – »resist[ing] one’s attempts to assimilate or objectify it« (Britton 1999: 18) – zu respektieren. Auch wenn der Andere sich mir durch seine Opazität zunächst entzieht (vgl. Britton 1999: 18f), ist diese nicht gleichzusetzen mit einer »autarcie impénétrable« (Glissant 1990: 204) und daraus resultierender Exklusion, sondern vielmehr mit der Erkenntnis, »that there are no truths that apply universally or permanently« (Britton 1999: 19; vgl. auch Glissant 1990: 206). Deshalb fordert auch Mignolo, die Grenzen der vermeintlichen Totalität westlicher Epistemologie kritisch zu diskutieren (vgl. Mignolo 2008: 252), mit dem Ziel absolute Wahrheiten als Illusion zu demaskieren, »en me faisant sensible aux limites de toute méthode« (Glissant 1990: 206). Der Dualismus des »[p]ensée de soi et pensée de l’autre« (Glissant 1990: 204) sei hinfällig, sodass ein Streben nach einem vollständigen Verstehen des Anderen abgelehnt werden müsse, zumal es mit einem aggressiven Akt und einer Reduktion des Anderen auf den Status eines »object of knowledge« (Britton 1999: 19) gleichzusetzen sei: »Il y a dans ce verbe comprendre le mouvement des mains qui prennent l’entour et le ramènent à soi. Geste d’enfermement sinon d’appropriation« (Glissant 1990: 206).12 Auch Mignolo betont die Notwendigkeit der Überwindung dieser Opposition zwischen (westlichem) Subjekt und (subalternem) Objekt:
11 Neben Michel-Rolph Trouillot und Lyonel Trouillot vgl. außerdem die Kritik in Zimra/Lahens 1993: 90; É. Trouillot 2007: 155f.; Hurbon 1988. 12 In diesem Kontext ist auch Lyonel Trouillots Kritik an zahlreichen Studien zur haitianischen Literatur zu lesen, denen er eine ›ethnologisierende‹ Lesart vorwirft, welche die Texte auf Themen und Strukturprinzipien verkürze, nach denen die Kritiker gezielt suchten und die ›postkolonialen‹ Literaturen häufig aufgezwungen würden (vgl. L. Trouillot 2003).
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»The goal is to erase the distinction between the knower and the known, between a ›hybrid‹ object (the borderland as the known) and a ›pure‹ disciplinary or interdisciplinary subject (the knower), uncontaminated by the border matter he or she describes.« (Mignolo 2000: 18)
Er führt einen weiteren Aspekt in die Überlegungen ein, indem er diesen Binarismus nicht nur als eine westliche Wissensproduktion entlarvt, deren vermeintliche universelle Gültigkeit lediglich den Machtmechanismus verdeckt, der ihr zugrunde liegt, sondern gleichermaßen daran erinnert, dass es nicht nur gilt, die westlichen Epistemologien infrage zu stellen, sondern dies zugleich von alternativen Orten der Artikulation aus zu tun, »[in order, J.B.] to produce knowledge from such in-between spaces« (Mignolo 2000: 18). An die Stelle des westlichen Denkens in binären Polaritäten muss Glissant zufolge ein Denken der Vielheit treten, »[où, J.B.] [d]es opacités peuvent coexister, confluer« (Glissant 1990: 204).13 Das Postulat des Rechts auf Opazität ist deshalb zugleich als Überwindung einer ›barbarischen Alterität‹ im Sinne dualer okzidentaler Denkkategorien zu verstehen, die sich der eigenen ›Zivilisiertheit‹ zu versichern suchten (vgl. Glissant 1996: 72; 1990: 204), indem sie ›Archaisches‹ und ›Rückständiges‹ anderswo verorteten (vgl. z.B. Boatc 2006: 299). Es repräsentiert die Voraussetzung zur Verwirklichung der Relation, »selon laquelle toute identité s’étend dans un rapport à l’Autre« (Glissant 1990: 23). Diese ist als nicht-hierarchisches, rhizomatisches Konzept den Universalisierungs- und Abgrenzungstendenzen des westlichen Diskurses entgegenstellt und ersetzt das Konzept des als absolut rezipierten subalternen Anderen durch eine Vision des Anderen en Relation, welche dessen vermeintliche Subalternität epistemologisch hinter sich lässt. Wenn Glissant am Ende des Discours antillais sagt, dass die Opazität letzten Endes nichts anderes als die Freiheit der Völker präsentiert (vgl. Glissant 1981: 467), wird die ethische Dimension des Konzepts offensichtlich: »La pensée de l’Autre, c’est la générosité morale qui m’inclinerait à accepter le principe d’altérité, à concevoir que le monde n’est pas fait d’un bloc et qu’il n’est pas qu’une vérité, la mienne.« (Glissant 1990: 169) Sich dem Anderen gegenüber solidarisch zu fühlen, impliziert dementsprechend nicht, ihn verstehen zu müssen, sondern fordert vielmehr eine Anerkennung seiner Differenz in ihrer Opazität und als Konsequenz auch die Würdigung seiner Epistemologie als der westli-
13 Vgl.: »La transparence n’apparaît plus comme le fond du miroir où l’humanité occidentale réflétait le monde à son image; au fond du miroir il y a maintenant de l’opacité.« (Glissant 1990: 125)
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chen gleichwertig (vgl. Glissant 1990: 207), denn: »Le consentement général aux opacités particulières est le plus simple équivalent de la non-barbarie.« (Glissant 1990: 208f.)
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COMME PROCHAIN «
Der Glissant’sche Ansatz, der Komplexität und Relation in den Vordergrund stellt, findet ein Echo in den theoretischen Überlegungen des haitianischen Schriftstellers Lyonel Trouillot, der die Außenwahrnehmung Haitis und die Rolle der Gewalt in der Gesellschaft seines Landes in zahlreichen Zusammenhängen reflektiert hat. So greift er die Reduzierung des Anderen auf vorgefertigte Stereotypen im Kontext der Festschreibung Haitis auf das Spezifikum der Gewalt auf: »I reflect violence in my work because one writes with one’s gaze. But it would be a mistake for a New York or a Parisian reader to view this violence as a sort of new exoticism. Violence is one aspect of the reality of my country – a country where one lives, one makes love, one drinks, one sings. I say this both to you as the reader and to me as the writer, so that I will not replace cocoa trees with cadavers.« (Djebar/Trouillot: 37, Herv. J.B.)
Er unterstreicht mit diesen Worten die Gefahr, den haitianischen Anderen als eine exotische Alterität weiterzudenken und lediglich traditionelle Kategorien des karibischen Paradieses (vgl. Caroit 2007: 2) mit neuen Konzeptualisierungen der Gewalt zu überschreiben. Aufgabe der Schriftsteller sei es hingegen, Haiti in seiner Komplexität zu erzählen »pour éviter les réductions, les clichés… C’est ce que j’appelle ›parler du pays‹« (Flamerion/L. Trouillot 2010). Es gilt die multiplen Aspekte der haitianischen Realität zu zeigen und das zu fiktionalisieren, was die Haitianer tagtäglich erleben. Dies impliziert sicherlich auch die Repräsentation von Gewalt, bedeutet aber gleichwohl keine unzulässige Reduzierung auf dieses Element. Mit der Folge »one lives, one makes love, one drinks, one sings« (Djebar/Trouillot: 37) bricht er zugleich die Abstraktheit der vermeintlich eindeutigen Kategorie des Gewalttäters oder respektive -opfers auf und stellt den Anderen als Subjekt wieder in den Vordergrund. Lyonel Trouillot entlarvt in seiner Kritik die Einseitigkeit eines westlichen Diskurses, der Haiti auf Gewalt, Chaos und Bedürftigkeit zu reduzieren sucht, zeigt er doch, dass die Realität einer Kultur dementsprechend niemals auf ein Spezifikum herunterzukürzen, sondern immer als komplex und vielschichtig zu denken ist, »récus[ant] l’édit universel, généralisant, qui résumait le monde en une évidence transparente, lui prétendant un sens et une finalité présupposés«
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(Glissant 1990: 33). Die Fokussierung zahlreicher haitianischer Fiktionen auf die Gewaltthematik ist seinem Verständnis gemäß deshalb auch nicht zu verwechseln mit einer Fortführung des westlichen Diskurses von Haiti als Ort der Gewalt. Vielmehr stellt diese als zentraler Faktor der sozialen Wirklichkeit Haitis doch ebenfalls eine Realität dar, vor deren Implikationen niemand die Augen verschließen darf: »There is no ivory tower here. And the problems of the individual and the problems of the group are so entangled that even if one wants to speak of his sexuality the immediate social reality knocks at the bedroom’s door.« (Dorcely/Trouillot 2007: 168) Auch wenn die westlichen Topoi des exceptionalisme und der malédiction Haitis vorgeben, der Komplexität der haitianischen Wirklichkeit Rechnung zu tragen, indem Metaphern gewählt wurden, die nicht gänzlich aufklärbare Rätselhaftigkeit suggerieren, so zeugen sie letztlich doch vom Streben des Westens, nicht greifbare Phänomene in ein Systemdenken zu zwängen, das eindeutige Zuschreibungen vornimmt. Bei genauerem Betrachten haben auch sie sich jener von Glissant kritisierten apodiktischen »exigence de […] transparence« (Glissant 1990: 204) verschrieben, die komplexe Sachverhalte simplifiziert, um zu ›verstehen‹ (comprendre, vgl. weiter oben) und jener ›Verstörung‹ (vgl. Dubois 2012: 11), die die komplexe Geschichte Haitis hervorruft, zu begegnen. Anstatt anzuerkennen, dass kein Entwurf die haitianische Realität vollständig durchdringen kann und keine vorgefertigten Erklärungsmodelle taugen, die Kontinuität von Gewalt in Haiti zu erklären, fällt ein solcher Diskurs auf Kategorien zurück, die in ihrem Nichtverstehen ganzheitliches Verstehen vorgaukeln in Sinne einer »généralisation […] totalitaire« (Glissant 1990: 33), der Glissant jene offene Totalität entgegensetzt (vgl. Glissant 1990: 185), »[dont, J.B.] l’errant […] sait déjà qu’il ne l’accomplira jamais – et qu’en cela réside la beauté menacée du monde« (Glissant 1990: 33). Die bisherige surdité des Westens, der sich dem soliloque haïtien bislang verschlossen hat und es als »echo inaudible« (L. Trouillot 2011: 13) ungehört verklingen lässt, muss, so Trouillot, durchbrochen werden, um diese Komplexität zu kommunizieren und zugleich offen zu legen, dass Haiti nicht als absolute Alterität gedacht werden darf, die den Westen nichts angeht. Ziel ist es, den Haitianer als prochain im Bewusstsein der Welt (wieder?) zu verankern: »L’écrivain haïtien est le seul scripteur d’un pays sans prochain et de voix inaudibles dans leur pays même. Ou devrait l’être. Ou pourrait l’être. Ou le sera quand il ou elle aura assumé, au-delà de la gloriole, cette condition. L’exigence: dans le murmure ou le hurlement, répondre à l’appel de l’inaudible. Inventer l’Haïtien comme prochain. Pour luimême et pour l’autre. Le reste n’est que littérature…« (L. Trouillot 2011: 14, Herv. J.B.)
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Verknüpft man Trouillots Überlegungen mit Glissants Poétique de la Relation, ergibt sich ein innovatives Konzept des Anderen en Relation, der nicht mehr über Binarismen definiert wird, sondern in Relation zum Selbst und damit als prochain.14 Eine derartige Auffassung des (haitianischen) Anderen lässt den klassischen postkolonialen Diskurs hinter sich, indem sie der Komplexität ›postkolonialer‹ Realitäten Rechnung tragen.15 Denn jener kritisierte zwar die westliche Konzeptualisierung des subalternen Anderen vehement, doch blieb es häufig bei dieser Kritik, so dass die Betonung der Kategorien von Kolonialherr und Kolonisierten wie bei Frantz Fanon und Albert Memmi auch davon zeugen, dass der ursprüngliche Binarismus nicht epistemologisch überwunden wurde.16 Glissant geht einen Schritt weiter und verlagert den Anderen aus seiner marginalisierten Position der absoluten Alterität in ein Netzwerk der Relationen. Während die klassischen postkolonialen Diskurse noch suggerieren, dass der Westen den subalternen Anderen nicht verstehen will und kann, verschiebt Glissant den Fokus: Der einzelne muss sich vielmehr damit abfinden, dass er den Anderen en Relation grundsätzlich nicht verstehen muss, um mit ihm eine ethische Beziehung zu knüpfen (vgl. Glissant 1990: 169). Nähe und Relation treten an die Stelle von Abstand und Gegensätzlichkeit; gleichwohl wird die Differenz als Vielfalt trotzdem aufrechterhalten. Unbedingte Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass der Einzelne die Opazität des Anderen respektvoll hinnimmt und von einem Streben nach einem Verständnis des Anderen als Objekt, über das Wissen erlangt werden kann, ablässt. Die vom westlichen Diskurs konstruierte Opposition Subjekt/(subalternes) Objekt muss nach Glissants Verständnis aufgespalten werden, da sich zwischen diesen Polen kein Vakuum befindet, sondern eine unübersichtliche Menge an Varianten und Variationen: der Andere ist immer en Relation. Er öffnet damit »the domain of overlap between […] imperial binary oppositions, the area in which ambivalence, hybridity and complexity continually disrupt the certainties of imperial logic« (Ashcroft/Griffiths/Tiffin 2007: 20) und sprengt die Opposition von Gleichheit und Ungleichheit mit seinem nicht-totalitären Verständnis von
14 Zur Bedeutung des Anderen in Trouillots Denken vgl. auch L. Trouillot 2012: 2. 15 Paget Henry benennt bereits Glissants zentrale Rolle in der karibischen Philosophie als derjenige, der schließlich durch Kreolisierung jenes binäre Denken, welches auch karibische Theoretiker wie Fanon noch in ihrer Kritik des Westens geprägt hat, überwunden hat, »undo[ing] the binary oppositions and negative evaluations that block African and European elements from creatively coming together« (Henry 2000: 88). 16 Vgl. hierzu Fanon 1961; Fanon 1952; Memmi 1957.
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totalité vor der Folie der Relation als »totalité ouverte, en mouvement sur ellemême« (Glissant 1990: 206). Glissant greift in diesem Kontext das Bild des Rhizoms von Deleuze und Guattari auf und erweitert es um eine kulturelle Dimension, um die Mannigfaltigkeit und Beschaffenheit der Relation zu beschreiben (vgl. Glissant 1990: 23). Die Metapher des Rhizoms betont die Pluralität seiner Struktur, die aus Linien und nicht aus binären Beziehungen und Mengen von Punkten besteht (vgl. Deleuze/Guattari 1980: 31f.). Der Andere ist dementsprechend als Anderer en Relation und damit als prochain in einem rhizomatischen Netzwerk der Relationen zu verorten. Er ist nicht mehr nur Anderer, sondern er ist vielmehr in Relation zum Selbst, er ›wiederholt‹ sich in uns in einem »conjunto discontinuo« (Benítez-Rojo 1998: 16): »[L]’Autre est en nous« (Glissant 1990: 39). Durch die Verwendung der Begrifflichkeit des prochain geht Trouillot diesen Schritt auch auf sprachlicher Ebene, indem er einen Ausdruck wählt, der nicht mehr die Exklusion durch Differenz (autre) betont, sondern vielmehr Ähnlichkeit und Nähe in der Differenz (prochain). Die Bedeutung der ethischen Beziehung zum Anderen im Kontext der Gewalt betont auch Judith Butler, wenn sie kritisiert, dass letztlich der Diskurs der öffentlichen Meinung darüber entscheide, ob ein Leben betrauernswert (grievable) sei oder nicht: »the differential allocation of grievability […] operates to produce and maintain certain exclusionary conceptions of who is normatively human« (Butler 2004: xivf.). Es ist deshalb von essentieller Bedeutung »[t]hose who remain faceless […] and whose grievability is indefinitely postponed« (Butler 2004: xviii) wieder in das allgemeine Bewusstsein zu holen und die Verletzbarkeit des eigenen Lebens in der Verletzbarkeit des Anderen zu erkennen, um Gewalt zu überwinden und jedes Leben wieder wertzuschätzen. Bedeutung erlangt diese Diskussion insbesondere im Kontext der Kolonialität, definiert Nelson Maldonado-Torres doch gerade das Sein des ›Subalternen‹ (damné) als geprägt durch eine killability bzw. rapeability, die dem kolonialen Körper eingeschrieben ist (vgl. Maldonado-Torres 2010: 109) und die seine grievability verdeckt. In diese Richtung geht auch Lyonel Trouillots Kritik an dem den Haitianern infolge des Erdbebens aufoktroyierten Topos der vermeintlich grenzenlosen résilience, der die dahinter verborgene Verletzbarkeit der Haitianer als prochains all zu häufig vergessen lässt (vgl. L. Trouillot 2011: 12f.). Vor dem Hintergrund der Glissant’schen Epistemologie und Lyonel Trouillots Übertragung auf den haitianischen Kontext bietet sich auch eine neue Möglichkeit, sich dem Gewaltphänomen in Haiti zu nähern. Zum einen wird deutlich, dass es mit einfachen Erklärungen nicht getan ist. Es gilt hierbei nicht nur den westlichen Diskurs der malédiction und der ›Barbarei‹ infrage zu stellen, sondern zugleich jene Stimmen wieder hörbar zu machen, die Haitis lokale
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Geschichte erzählen. Die Kontinuität der Gewalt im heutigen haitianischen Alltag darf dementsprechend nicht weiter auf einfache Erklärungsmuster verkürzt, sondern muss im komplexen Zusammenhang der Geschichte gesehen werden. So betont auch Évelyne Trouillot: »[…] Haiti is very complex. […] it’s like we have one country and inside that country we have a lot of realities, so different, so opposite, so contradictory« (Brown/É. Trouillot 2011: 0:11-0:27 Min.). Die Beanstandung Lyonel Trouillots hinsichtlich des diskursiven status quo verweist hierbei unmissverständlich auf Mignolos Feststellung, dass die Kritik westlicher Epistemologien gerade eben aus einer Position der »epistemological subalternity« (Mignolo 2000: 9) erfolgen sollte. Es gilt deshalb nicht einzig und allein, die universelle Gültigkeit bestehender Erklärungsversuche an sich herauszufordern, »help[ing] us to […] escape from the jail of History (with a capital ›H‹) and put together our histories (without this capital ›H‹)« (Glissant 1991: 274), sondern dies gerade von Haiti aus zu tun, indem die inaudibilité des haitianischen Selbstgesprächs überwunden und es weithin hörbar gemacht wird. Zum anderen macht Lyonel Trouillot deutlich, dass die Position des haitianischen ›Barbaren‹ im westlichen Diskurs durch den prochain neu besetzt werden muss. Seine Forderung nach dem Entwurf des Haitianers als prochain, gelesen vor dem Hintergrund der Relation, legt offen, dass der Andere sich als Schlüssel zur Überwindung der Gewalt erweist. Gewalt ist nicht zu bewältigen, indem man unablässig danach trachtet, sich selbst und den Anderen zu verstehen – wohnt doch dem Prozess des Verstehens als »geste […] d’appropriation« (Glissant 1990: 206) selbst wieder ein Akt der epistemischen Gewalt inne –, sondern nur, indem man eine Beziehung zum Anderen aufbaut und der Respekt der Opazität dem Verlangen nach Transparenz weicht. Die Vorstellung des Anderen als Barbaren und »[p]ure otherness« (Britton 1999: 17) muss zugunsten des prochain aufgegeben werden, zu dem ich in Beziehung trete »pour me sentir solidaire de lui, pour bâtir avec lui, pour aimer ce qu’il fait« (Glissant 1990: 207) und der zugleich als Wissen generierendes Subjekt anerkannt wird. Doch wie kann die Verankerung des Haitianers als prochain im Bewusstsein der Welt geschehen? Lyonel Trouillot sieht dieses Potential – ähnlich wie auch schon Glissant (vgl. 1996: 71; 1990: 129) – in der Literatur. Dem/der Schriftsteller(in) obliegt die Aufgabe, den Dialog mit dem Westen wieder aufzunehmen, alternative, lokale Epistemologien anzubieten und mit dem Aufdecken der Relation die »vrai travail de la décolonisation« (Glissant 1990: 29) in Gang zu setzen, ist er/sie doch »le seul scripteur d’un pays sans prochain et de voix inaudibles« (L. Trouillot 2011: 14).
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Édouard Glissant: La cohée du Lamentin als Übersetzungsprojekt B EATE T HILL
E INLEITUNG Glissants 2005 publizierte Poetik V (La cohée du Lamentin, im folgenden La cohée; daraus alle Seitenangaben) ist noch nicht auf Deutsch erschienen. Jedoch wurde bereits vor der Drucklegung in Frankreich intensiv an einer deutschen Ausgabe gearbeitet. Dies geschah wie üblich in enger Abstimmung mit dem Autor persönlich, wofür ich den Text noch im Typoskript mit verschiedenen handschriftlichen Korrekturen und Einschüben bekam. Dieser Beitrag soll den Anfang eines Glissant-Projekts schildern, der typisch war für die Zusammenarbeit zwischen Autor und Übersetzerin. Daneben gibt er einen Einblick in die Schreibweise von Glissant, der bei seinen Poetiken meist eine Vielfalt von Vorträgen und anderen Texten zusammenführte. Fragen, Schwierigkeiten, Lücken der Übersetzung werden vorgestellt und es wird diskutiert, welche Lösungen sich anbieten – es handelt sich um eine Rekonstruktion von Fragmenten, um ein work in a stopped progress. Daher ist der Beitrag auch in Blättern, Textteilen und Listen strukturiert. Einen Schwerpunkt bildet dabei, welche neuen Aspekte zum Thema Kreolisierung in diesen Textauszügen sowie im Gesamttext von La cohée du Lamentin auftauchen, und wie die verwendeten Begriffe und Termini ins Deutsche zu übertragen wären. Zunächst seien noch einige Tendenzen in La cohée du Lamentin aufgezeigt, die diesen Essay von seinen anderen unterscheiden. Schon der enigmatische Titel, auf den noch einzugehen sein wird, führt in den poetisch-literarischen Zusammenhang der Kreolisierung ein, in dem die Ausführungen dieser Poetik stehen.
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Mit der Vision eines unübersehbar großen Vogelschwarms, der am Beginn steht, gelingt es Glissant das Denken in Bildern sinnlich erfahrbar zu machen. Dies scheint er sich mit dieser Poetik vorgenommen zu haben. Auch der Abschnitt Landschaft (20) kann als ein solches Programm gelesen werden. Das gesamte Werk widmet sich der Vertiefung und differenzierenden Verfeinerung der Idee von der Kreolisierung, etwa am Beispiel der karibischen Gemeinsamkeiten. Hervorzuheben ist hier ein schönes und innovatives Kapitel über die Städte des Südens und ihre Favelas. Ein großer Teil der Poetik ist einzelnen Persönlichkeiten der Karibik gewidmet, Dichtern, Schriftstellern, und einigen Bildenden Künstlern. Dazwischen finden wir, wie stets, Gedichte und Reflektionen des Autors, die mehr autobiographisch eingefärbt erscheinen als dies in früheren Essays Glissants der Fall war. Eines der Leitmotive in La cohée du Lamentin ist zum Beispiel »Die erste Reise«, die bereits der Gegenstand einer Erzählung des Bandes Écrire la ›parole de nuit‹ war (vgl. Glissant 1994); Glissant machte diese Reise als Säugling auf dem Rücken seiner Mutter. In den Zitaten aus der Erzählung wird hier der Eindruck der Landschaft gewissermaßen semiotisch erfahrbar. Die Landschaft ist bekanntlich ein konstituierendes literarisches Prinzip in seinem Gesamtwerk, wie auch bei vielen anderen Autoren der Karibik. Der autobiographische Anteil von La cohée du Lamentin zeigt sich m.E. auch darin, dass einzelne Figuren Glissant als Sprachrohr dienen. So treten etwa Glissants Jugendfreunde Apocal und Prisca auf, und auch die Besorgnisse ihrer Mütter über Entwicklungen in der Welt (s.u.) illustrieren Glissants Diskurs der Kreolisierung in unserer Chaos-Welt.
D IE B LÄTTER : K ÜRZUNGEN Zu dem unten angeführten Kürzungsplan Blatt 1 gibt es verschiedene Vorformen, etwa Blatt 2 mit den Notizen einer Besprechung mit Édouard Glissant sowie mit dem Verleger in Paris vom Dezember 2004. Dort sind handschriftlich Schwerpunkte festgehalten, die bei der Kürzung berücksichtigt werden sollten: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Kreolisierung, Literatur Conquista-Reconquista Wifredo Lams Werdegang als Beispiel eines lateinamerikanischen Künstlers Poetiken Und 6 Probetexte Gespräch [stark gekürzt]
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Daneben befindet sich mit Bleistift das Manuskript des Kürzungsplans mit den Seitenangaben aus dem Buch; ein früherer Plan weist noch die Seiten des Typoskripts auf. Blatt 2 trägt einen Zusatz »genauso« und als einzige Legende steht da: P = Poesie. Der Vergleich zwischen Blatt 1 und meinen Notizen (Blatt 2) zeigt, dass die Künstlerporträts wegfallen sollten, auch das von Wifredo Lam. Ein wichtiger Gesichtspunkt der Auswahl war ›Was interessiert das deutsche Publikum?‹ – der Verlag hielt die vorgestellten Künstler für zu wenig bekannt. Ähnlich waren wir schon bei der Kürzung der deutschen Ausgabe von Le discours antillais (Zersplitterte Welten) vorgegangen. Auch dort hatte ich das französische Original nach gewissen Vorgaben durchgearbeitet, und danach Abschnitt für Abschnitt mit dem Autor abgesprochen. Das Schnittmuster befindet sich noch in meinem Bücherschrank.
D IE T EXTTEILE : V ORFORMEN Im Rahmen der Veranstaltung Black Atlantic im Haus der Kulturen 2004 in Berlin hatte ich unter dem Titel Pensée du tremblement | Thinking of tremor eine Reihe von Kurztexten in poetischer Prosa von Glissant übersetzt, die von 1 bis 7 durchnummeriert waren. Sie enthielten handschriftliche Korrekturen und Ergänzungen von Glissant. Sie sollen hier Textteile 1-7 genannt werden. Die Textteile 1 und 2 stehen am Anfang der Poetik La cohée du Lamentin, es folgt ein Einschub mit dem Titel Incipit absolu und eine Passage über die Utopie, dann finden wir Textteil 3 (23-25). Die letzten beiden Teile (6 und 7) der ›Berliner‹ Fassung bilden den Beginn des Kapitels »Empires« in La cohée (133f.). Glissant hielt in Berlin auch einen Vortrag zum Thema Poetik der Beziehungen, bei dem es um Kreolisierung, Archipelisches Denken und die Karibik ging. Auch dieser Text wurde mit kleinen Änderungen und einem kurzen Einschub in den Essayband aufgenommen (74-86). Die Anführungszeichen einzelner Abschnitte von La cohée du Lamentin markieren Selbstzitate des Autors, seien sie aus demselben Buch (wie bei der Wiederholung von Textteil 2, 33) oder aus anderen Werken, auch dies ein Hinweis auf Glissants spezifische Arbeitsweise bei den Poetiken. Dabei ist auffällig, wie wenig sich die Versionen unterscheiden bzw. wie endgültig die Texte vom Autor niedergelegt wurden. Der ins Deutsche übertragene Textkorpus umfasst die mit ›txt‹ gekennzeichneten Stellen auf dem Kürzungsplan, dazu einige, die noch mit einem Fragezeichen versehen sind; einen weiteren Teil habe ich zur Ergänzung für diesen Beitrag übersetzt (39). Aus Platzgründen musste ich mich aber auf wenige Passagen beschränken, die Wesentliches zum Thema Kreolisierung beitragen.
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B LATT 1 Kürzungsplan Comme l’oiseau innumérable Tagebuch? La saison unique? P La Peinture Menchoachi ... Iles et Archipels Contestation, Autobiogr+Perse Villes? Über Poesie Les Excipit 2 Deleuze et Guattari EMPIRE L’Utopie Traduction Empires Beisp. in Literatur? Forts. Empires L’Incommunication? Divagations en ligne Wilfredo Lam? P Iguanes ... Mart Lam? Les Excipit 3 Lam P Qui flambe ici Sylvie, Koba Adami, Tabucchi P Excipit L’Utopie P L’espace/temps
7-20 txt} 21-27 29-34 37 43-64 65-72 73-80 81-89 90-93 97-115 115-124 125 126-127
P Musiques P Congrès des vents
130-137 } -140 141-143 144-146 147-154 txt 157-161 162 163-166 166-167 169,171 173-180 -192 193-194 197-199 200 203-210 txt 211f 213-214 217
Nachwort M2A2
221-227 228-230
Seiten 6 6 1
10 13 10 6 1 13 4 6 1
2
1 4 1 6 2 1 103
Erläuterungen: Die fettgedruckten Abschnitte sind fest einbezogen, die mit ? versehenen optativ, dünn heißt ›gekürzt‹. ›txt‹ heißt, diese Teile wurden schon übersetzt, } steht für eine Klammer auf der angegebenen Seite, bis zu der die Passage gewählt wurde.
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Ü BERSETZUNG
»Was sich zwangsläufig wiederholt und mit dem Dunklen der Welt vermischt, darin Intuitionen weckt, die beben, in Splittern aufbrechen.« (Motto von La cohée du Lamentin)
[S. 11] Textteil 1 Stellen Sie sich vor, ein Flug von Tausenden Vögeln, über einem See in Afrika, in Nord-oder Südamerika. Über dem Tanganjika oder dem Erie oder einem jener Seen des Südlichen Wendekreises, die flach werden und übergehen in Erde. Sehen Sie dieses Schwingen von Vögeln, diese Schwärme. Sie erkennen die Spirale, die sie entrollen und auf der der Wind hinab fließt. Aber Sie könnten sie nicht wirklich zählen während ihres Abhebens, ganz Grat und Abgrund, sie steigen und sinken außer Sicht, fallen und verwurzeln sich, fliegen in einem Schwung wieder auf, das Unvorhersehbare ist eben das, was sie verbindet und das wirbelt, ungeachtet aller Wissenschaft. Ihre Schönheit schlägt in Bann, enteilt. Dann erhebt sich die Nacht und Sie sind verblüfft. Die Flügel Glanz und der Bauch Schatten, Sie haben sie nicht ausbreiten sehen, da am Ufer und da auf der geschwärzten Gischt, das damastene Tuch des tiefen Schweigens, das sie bewirken. [S. 12] Textteil 2 Das Denken des Bebens steigt von überall auf, als Musik und Formen, die die Völker ersinnen. Sanfte, langsame Musik und schwere, rhythmische. Schönheiten, offener Schrei. Das Denken des Bebens bewahrt uns vor dem Systemdenken und den Denksystemen. Es bedeutet nicht Angst oder Unbestimmtheit, es breitet sich endlos aus wie einer dieser unzähligen Vögel, dessen Flügel mit dem schwarzen Salz der Erde besät ist. Es eint uns in der absoluten Verschiedenheit, in einem Wirbel der Begegnungen. Es ist die Utopie, die sich nie festlegt und das Morgen eröffnet wie eine Sonne, eine Frucht, die wir teilen. [S. 13] »Sich teilende Wasser« Ähnlich wie Kalifornien wird auch uns eine finale Zerstörung bescheinigt, vorausgesagt, bestimmt. Bis in vierzig Jahren soll Martinique nach einem Erdbeben ohne Erbarmen verschwunden sein. Wir pflegen das endlos durchzukauen, das heißt, sterben diesen Tod schon im Voraus. Ganz bestimmt, es sind bereits
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40.000 Särge eingelagert, für den Fall dass... Schauerliche Maßnahme. Wer würde eine solche Entscheidung treffen, sie ausführen? Wer denkt sich so etwas aus? Wer könnte neben seinem künftigen, dazu virtuellen, Friedhof weiterleben? Wozu sollen im Übrigen die Särge dienen, wenn das Land verschlungen ist? Sie wären nichts als in den Meerestiefen hin- und hergerollte Schalen, fern jeder menschlichen Erinnerung. Diese Vorhersage habe ich schon in einer unserer Lokalzeitungen gelesen, und bin erschüttert, wie viele sie gleichzeitig mit mir gelesen haben: denn wir erregen damit nicht nur unser offenkundig fehlendes kollektives Bewusstsein, wir tun es auch noch öffentlich und verarbeiten es gemeinsam. Es kommt vor, dass ein Einzelner sich vorstellt, wie die Welt ohne ihn aussähe: aber wie kann ein Volk sein eigenes Fehlen denken? Würden wir wenigstens die Erinnerung an ein Mini-Atlantis hinterlassen, ohne geheimnisvolle Kultur, ein Black Atlantis? – Ich gebe zu, hier grenze ich mich von Paul Gilroys Titel Black Atlantic ab. In der Zwischenzeit gibt es jene Tausende und Abertausende Tote überall auf der Welt, die in regelmäßigen Abständen und nach einer mechanischen Fatalität von Erdbeben und Überschwemmungen weggerafft werden, wir sind es schon gewöhnt. Doch bei unserem eigenen finalen Desaster könnten wir uns nicht mehr heimlich einreden, ›das passiert nur den anderen‹ und dabei an die Malediven und Komoren denken, topfebene Archipele, die daher besonders gefährdet sind. Man versucht die Karte der Karibik nach dieser Umwälzung zu zeichnen – an unserer Stelle nichts als eine blaue Fläche zwischen Dominica und Saint Lucia, die noch lange nachbrodelt von der aufgewühlten Wut der Fluten und Meerestiefen. Apocal hat für unsere derart ausgebreiteten Schwächen nur Verachtung übrig. Er erwidert mir barsch: »Müssen wir uns eben umstellen und Fische werden.« Unausrottbare kreolische Poetik. [S. 16] Die Utopie ist kein Traum. Sie ist das, was uns auf Erden fehlt. Ja, sie ist wirklich was uns fehlt auf der Welt. Viele haben sich mit mir über den Spruch des französischen Philosophen Gilles Deleuze gefreut, die erste Aufgabe der Literatur wie auch der Kunst sei es, ein Volk zu erfinden, das fehlt. Die Utopie ist der Ort dieses Volkes. Wir stellen uns vor, oder versuchen uns vorzustellen, was aus uns würde, wenn wir uns Das nicht mehr ausdenken könnten, auch wenn wir nicht genau sagen können, was das ist. Wir wissen nur, dass wir mit diesem Volk und diesem bevölkerten Land näher an der Welt sind oder wären, und die Welt näher an uns. Doch wenn es nicht so wäre, fehlten wir unsererseits auf der Welt. Ist es jetzt – im Heute – überhaupt möglich, auf der Welt zu fehlen? Diese Frage blickt
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uns an. Wie auch die Überlegung, ob das Denken in Systemen und die Denksysteme – von gestern – eine Utopie hervorbringen, oder wenigstens ihren Ort erbauen konnten? Textteil 3 Wir arbeiten pausenlos, rufen den Lehm mit unseren Händen herbei. Am Morgen werfen wir einen Blick auf das, was um uns zittert, jenes Beben, das sich dem Anderen, allen anbietet. Wir arbeiten, widmen die Hände den Kontinenten, den Archipelen, den Flüssen und Bergen und wir rufen jenes leise Pulsieren, das aus der tiefsten Tiefe kommt. Die Umwälzungen der Erde bringen uns nicht mehr aus dem Lot. Wir ahnen, dass sie der Stoff für unsere wechselseitigen Überschreitungen sind. Dass ihr Chaos die ›Gesamtform‹ unserer Verstrickungen ist. Wie im Flug die Tausenden Vögel unsichtbar abdriften, doch konkret und voll Pracht, über jenem See in China oder Afrika. Und wenn die unerhörte Verschiedenheit der Völker und Kulturen sich zunächst wie ein Leiden präsentiert, ahnen wir, dass es auf uns ankommt und auf alle, ob dieses Leiden uns erstickt oder aber sich im Gegenteil in einem befreiten Aufatmen entfaltet. Es kommt auf uns an, heißt, dass wir unser Imaginäres erweitern können. Auf unseren Seen und Meeren verbreiten die Vögel den Wind, der von überall hereinstürzt. Wir könnten sie nicht zählen, unsere Arbeit besteht darin, dem Wind, der weht, zu folgen. [S. 19] Wir schinden unseren Leib bis zum letzten, bis die Hände schwitzen. Prisca, unser Bruder, nahm das Unentwirrbare hin, er fasste das Chaos ins Auge, da er erkannte, dass unsere Einzigartigkeiten nichts Besonderes sind. Er fürchtete nicht, Umgang mit der unschuldigen Rohheit der Utopien zu pflegen, er hatte genug unter dem Morast überall auf der Welt gelitten, zudem wusste er, dass an den »praktischen Lösungen« einiges illusorisch ist. Mit Apocal teilte er die Überzeugung, dass jede Lösung, und mag sie noch so konkret und radikal erscheinen, zuerst einer Utopie entspringen muss, der einzigen Realität für Veränderung. Ist anzunehmen, dass eine militärische Lösung aus einer Utopie hervorgeht? Heute, am 26. Februar 2004, wundere ich mich über einen amerikanischen Fernsehsender, der seine Zuschauer in New York befragt, als verstehe sich das von selbst: »Glauben Sie, es ist an der Zeit ist, dass amerikanische Truppen den Unruhen in Haiti ein Ende bereiten?«
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[S. 20] Landschaft Ich weiß nicht wann, in welchem jugendlichen Alter ich davon träumte, einen Text zu verfassen, der sich unschuldig, aber in triumphierender Dichte in sich selbst einrollen, und dabei ganz allmählich seinen Sinn hervorbringen sollte. Sein roter Faden war die Wiederholung, jedes Mal mit einer kaum merklichen Abweichung, die ihn vorantrieb. In meinen Schriften habe ich immer diesen Text fortgeschrieben und vermisse noch immer den wirbelnden Sog, der von ihm ausging, der ein Dickicht zu durchstöbern und von Vulkanen herab zu donnern schien. Manchmal gebe ich einen Schatten davon wieder, indem ich ein paar Felsbrocken von Wörtern miteinander verbinde, die ich in die Weite einer Landschaft türme, ja, ein Dickicht, überragt von einem Vulkan. [S. 30] Eine einzige Jahreszeit Stellen Sie sich einmal einen Ort auf der Welt vor, irgendeinen, auch den, zu dem sie jetzt unterwegs sind, oder etwa einen virtuellen Ort, den Sie in sich erschaffen und allmählich verändern. Sie rufen, bis zur Schönheit. Alle Bilder von der Welt überraschen Sie, die stillen genauso wie die aufwühlenden. Aber der Gewalt entkommen Sie nicht mehr. Sie dehnt nicht nur die Bilder aus, oder verkleinert sie nicht nur, sie wiederholt sie zu einer Flut, bis zum Chaos. Die erste und anhaltendste Gewalt, in der alle anderen zusammengefasst und enthalten sind, will, dass der Anspruch, »die Welt zu verstehen« unaufhörlich seine Starre aufzwingt oder aber aufschiebt. Dieser Stern verfolgt auf ewig seine Bahn, unwiederbringlich, in blinde Räume. Ich nehme daher an, dass Deleuze die Sprache meinte, die einzige wahre Ruhe: die letzte Resultante dieser Gegensätze, dieser Widerstreite oder Widersetzlichkeiten, die aufeinanderfolgend unsere Zeit ausmachen, und die sich nur als reines Unter-(einander-ge)-sagtes verwirklichen oder ausdrücken lässt. Müssen wir zustimmen, dass die Sprachen so in einer höheren Komplexität zusammenströmen, und dass alles Handeln, jede Ursache und Wirkung in der Welt, sich dadurch als folgenlos, wenn nicht gar unmöglich herausstellen muss? Gilt das für jedes Handeln in der Welt? Wären wir dazu gezwungen, von Parabel zu Parabel zu springen, als Akteure ohne Worte, oder als Sprecher ohne Ort, während sich um uns »das regellose Meer des Unerwarteten« entfesselt? Ich habe dieses Zitat am Ende meines ersten, 1945 veröffentlichten Gedichts gefunden. Das Chaos, das sich heute wie eine einzige Jahreszeit darstellt, umfängt es uns mit einer beunruhigten, und dabei bewegungslosen Endlichkeit?
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»Handle an deinem Ort, denk mit der Welt«, so haben wir seit Jahren immer wieder geurteilt und gesprochen, zusammen mit allen, die sich weigerten, die Geiseln so vieler Widersprüche zu sein, die im Raum stehen. Handle hier, während du gleichzeitig dort denkst, bedeutet: Handle so, dass dein Handeln zugleich ein Gegen-Handeln ist, dass es sich mit den eigenen Zweifeln anreichert und sich in die Umgebung ausdehnt. Diese Kontraktion ist das Gegenteil der Kontradiktion, sie wirkt in die Weite. Zwei Worte oder Ausdrucksweisen aus dem Kreolischen beleuchten dies daher für uns. Die Sprache sagt Ici-là, um die Mächte des Hier unendlich mit Raum aufzuladen. Häufig wird auch gesagt ici-là-minm – »eben genau hier, nirgendwo sonst«, was jedoch »dort drüben» oder »da oben« heißt (daraus macht das Kreolische daher auch là-minm für »sofort, auf der Stelle«), als ob mit der Bestimmtheit der Gegensatz zwischen dem Hier und seiner engeren oder weiteren Umgebung ausgeschlossen werden sollte. Man kann es Icilà oder Icila oder Isila schreiben. In gleicher Weise vergrößert die kreolische Poetik das Maß oder Geheimnis der Gegenwart des Hier, wenn sie ein Ici-dans oder Icidan erfindet, das die Tiefe der Gegenwart zum Sprechen bringt. Beide Ausdrücke sind sprachliche Mechanismen einer Kontraktion, die ihren Gegenstand nicht verkleinern, sondern ausweiten. Das Kreolische Isila spinnt die Weite, die Deleuze in manchen Fällen Oberfläche (surface) nennt. Das Isidan verstärkt oder deutet vielleicht nur die Tiefe an. Alle Sprachen der Völker arbeiten auf diese einfache, unscheinbare Weise an dem schwierigen und komplexen Bezug zwischen der Erscheinung der Welt und dem Unter-sagten in der Sprache der Gemeinschaft. Das »Gegen-« hat hier nichts Negatives, Aggressives oder Kämpferisches. Es ist das Handeln, das sich zurückzieht, um anschließend in der Ausweitung aufzuflammen, und wir »verstehen« plötzlich, dass die Zeit in der Weite ebenfalls keine Tiefe hat – dort oder da oben – denn sie deutet nur eine Beziehung an. Dass aber dafür die Tiefe sich in dem Raum ausübt, der sich verwirklicht, das heißt, sich »absolut hier« präsentiert. Die Raum-Zeit ist dieses Spiel mit Weite und Tiefe. Möglicherweise ist das Universum in diesem Spiel der Beziehungen zugleich endlich und unendlich, in der Anwendung (der Erscheinung, der »Oberfläche«), die für uns aus ihr resultiert. Wenn wir uns also das Endliche und Unendliche vorstellen, verlegen wir uns wieder auf die glückseligen Wiederholungen: Wir sagen ein erwähltes Wort dreimal, um dem Rhythmus Genüge zu tun.
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[S. 33] »In der Geistesgeschichte der Menschheit ist neu, dass die Welt für uns nicht mehr nur ein Traum ist, eine Ferne, die zu stillen wäre, sie ist kein Projekt mehr, keine Eroberung, die vollendet werden muss, sondern immer und für die Zeit, die es braucht, ein Leiden, das Leiden aller. Unsere Arbeit besteht darin, uns überall einzusetzen, hier-selbst und mittendrin, um dieses Leiden zu sublimieren. Es wird entweder zur Erstickung oder, im Gegenteil, zum befreiten Aufatmen. Es kann in der absoluten Diversität zu einem befreiten Aufatmen werden, das heißt, zu Kunst werden, zu richtigem Unmaß, und Freiheit – zu Worten und danach zu Dingen des Unter-Sagten selbst, über die wir uns mokieren, um uns nicht selbst zuwiderzuhandeln – dies ist, hier-selbst, unsere Arbeit in der All-Welt.« Unser Imaginäres verwandeln heißt, unsere Erstickung in Atem verwandeln, den wir durch Isthmen und große Passagen hindurch blasen. Mit verschiedenem Atem blasen im gleichen Schwung. Diese einzige Jahreszeit, die von überall zu uns herkommt, die alten Jahreszeiten verschwinden oder vielmehr vermehren sich in ihr, Sommerdürren leben im Winter auf, Herbstzeiten blühen in Wüsten mit rotem Wasser. Wissen Sie, ob die Äquatoren nicht heimlich die Pole bereisen? Vorwitzige Kinder haben auch schon Schneeflocken aus alten, feuerbrodelnden Buchten gefischt. Wir sehen selbst, wir müssen sie gemeinsam durchleben. [S. 39] Cohée: findet man nur in dieser Flamen- oder Flamingobucht entlang der Mangroven: die Cohée du Lamentin: Kommt das Wort cohée aus der kreolischen oder aus der französischen Sprache? Vielleicht von accorer – »anschoren«? Ein Schiff anschoren, um es zu reparieren. (Nicht weit entfernt gibt es einen portcohé, einen cohé-Hafen.) Ein cohé oder vielleicht corée, wie Korea? In SaintPierre finden wir den Flurnamen Fonds-cohé, auf Guadeloupe eine Cohée de Basse-Terre. Vielleicht gibt es Namen, die von Nirgendwo abgeleitet sind, oder die sorgsam ihre Quelle verborgen, ihr Geschlecht gewechselt haben, oder in verrufenen Gegenden gewandelt sind, oder sie zeigen sich einfach heiter und lassen sich von Ihnen nicht analysieren, da sie dies nur wenigen erlauben? Excipit: wäre mit Bezug auf »incipit«, oder Anfang, als das Ende, der Schluss oder der bebende Schaum eines Spruchs oder Gedankens zu verstehen, oder aber einer Intuition, die in den Raum geflossen ist. Excipit ist also eine Schlussfolgerung, ein Zitat, ein Kehrreim. Könnten diese beiden Wörter invariabel sein?
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Unnennbar (innombrable): eine so große Menge, dass sie sich nicht zählen lässt. Unzählig (innumérable): hat in der englischen Sprache die gleiche Bedeutung. Hier steht der Ausdruck für etwas, »das seiner Natur nach nicht quantifizierbar ist«, und das also außerhalb jeder möglichen Zählung steht. Sie können nicht entscheiden, ob ein solcher unzähliger Vogel einzigartig oder unendlich ist. Dies Einzigartige, das nicht die Basis des Einen ist, ist genau das, das sich am meisten im Unendlichen verfängt. Textteil 4 Schauen wir uns um. Die Erde bebt überall, die Vulkane ergießen sich, Überschwemmungen verheeren die Länder, Tornados vernichten Kleinstädte, Epidemien grassieren unaufhaltbar, die Hitze brennt, das Wasser wird rar und verschmutzt, Hungersnöte mähen ganze Dörfer erbarmungslos nieder und zumeist ist dies die Folge menschlichen Tuns. Wir müssen das apokalyptische Denken vermeiden. [S. 23] Die Globalität ist jenes ungeahnte Abenteuer, das uns heute allen zu leben gegeben ist, in einer Welt, die sich zum ersten Mal wirklich und auf einen Schlag als eins und vielfach begreift, und unentwirrbar. Jeder ist gezwungen neu zu denken, wie er diese Welt auffasst, wie er in ihr lebt und auf sie reagiert. [S. 25] Textteil 5 Das Denken des Bebens stimmt sich ein auf die Irrfahrt der Welt und auf das, was sich an ihr nicht ausdrücken lässt. Es bedeutet nicht Furcht oder Schwäche, nicht Unentschlossenheit. (»Handle an deinem Ort, denk mit der Welt«), sondern die Gewissheit, dass es möglich ist, sich diesem vielfachen Chaos zu nähern und an diesem Unvorhersehbaren zu wachsen, gegen die in ihrer Intoleranz einzementierten Sicherheiten anzugehen, mit dem »Pulsieren der Welt zu pulsieren«, das endlich zu entdecken ist. Textteil 6 Ich meine damit nicht, dass wir uns alle wie ein Schwarm unzähliger Vögel über einem See in Afrika oder Asien ausbreiten, das Wasser brodelt dort manchmal und gerinnt häufig zu Schlamm, ich meine, wir sind edel, wild und großartig genug, und ebenso elend zuweilen, um unsere Beziehung zum Anderen und zur Welt wie ein riesiges Beben zu begreifen und in diesem stillen Beben über dem
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leichten Wind, der von den Hochplateaus aufsteigt, feiern wir den Elan einer gut abgestimmten Gleichwertigkeit. Textteil 7 Der ganze Schwarm, der ganze Flug, es sind unzählige, auch wenn wir wissen, dass eine einfache Technik ihre genaue Zahl bestimmen könnte. Die sich paarenden Blitze spielen so ein einziges Licht. Denn es ist unser Wunsch, der aus dieser perfekten Wolke etwas Unbegrenztes macht. Es ist unser Imaginäres, das jeden einzelnen, einen schwarzen Ibis aus den Sümpfen oder einen Haubenflamingo, ins Unzählbare wendet. Das Beben lässt den Instinkt für diese Diversität hervortreten, maßvoll oder ohne Maß. [S. 229] Unentwirrbarkeiten [...] Später, am Meer. Die Umgebung, in der wir aufwuchsen, du ahnst kaum die Grenzen dieses Orts mit dem unerfindlichen Namen, dessen Ursprung du nicht kennst, er soll tatsächlich Cohée du Lamentin heißen. Grenzen, da sind keine Grenzen, das Wasser bewegt sich in einer Weite, die sich ins Unendliche dehnen möchte, sinnlos zu fragen, ob dieses Wasser Meer-oder Flusswasser ist, für uns ist diese Schönheit eine Mestizin, etwa irgendwo zwischen der Ölraffinerie und dem Kanal, wo die Fischerboote langsam gleiten, oder vielleicht noch weiter, bis zu den Mangroven, mit den vielen Stellen warmen Wassers, um die herum Kerzen der Opferung oder der Verwünschung schwarz rot violett gebündelt in der Sonne brennen. Am Meer suchen wir den Weg, vom Unbekannten bis zu den vielen Unentwirrbarkeiten. Excipit Kontinentales Denken, das in der Diaspora die absolute Pracht des Einen enthüllt. Archipelisches Denken, in dem sich die unendliche Variation der Vielfalt konzentriert. Aber ihrer beider Verbindung steht noch aus. Das poetische Sprechen drängt untergründig hin zu einer anderen Bestimmung. Nicht um auf das Imaginäre jedes Einzelnen zu wirken, das grenzenlos ist, das man nicht steuern kann, darin liegt übrigens auch seine Freiheit. Es geht darum, alle Vorstellungen auf der Welt zu diesem nie dagewesenen Ort hinzuneigen, der uns noch erschreckt, ein Ort, wo das Sein sich auf den Anderen einlässt, ohne sich im ungeformten Anderen zu verlieren. Das Sein ist nicht der
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ganz-andere Ort noch das Ganz-Andere: es ist zu dunkel und unerwartet, um sich in solche Begrenztheiten überführen zu lassen. [S. 236] Die Mutter von Apocal erzählte ihm eines Tages, dass sie ihn gleichzeitig mit dem Vulkan, dem Berg Pelée, geboren hatte, bei einer der folgenden Eruptionen, die nichts zerstörte und niemand tötete, im Anschluss an jenen großen mörderischen Ausbruch von 1902. »Er gebar sein Feuer, ohne Kummer ohne Trümmer, gleichzeitig mit mir, sozusagen in der gleichen Minute, fürchtet euch nicht vor dem Feuer, fürchtet euch vor der Luft, die brennt mit einem Feuer, das in euch ist und das ihr seid.« Apocal starb in einem Krankenhaus von Toulouse, siebzig Jahre später, nach einer Lungenoperation, gegen die er sich nicht zu wehren wagte. Die Mütter, in der Welt verstreut wie die Städte und Länder, sagen die Zukunft ihrer Kinder voraus, um den gähnenden Moment heraufzubeschwören, wenn sie mit ihnen zusammen in der Maschine der Attentate, der Geiselnahmen, der Schiffsuntergänge mit boat people, der Autobomben, der rücksichtslosen Ballereien zermalmt werden, nicht zu reden von den Fluten, die sie verschlingen, den in Scharen abstürzenden Flugzeugen, den Epidemien, dem Elend der Hungersnöte ohne wahrnehmbare Grenzen, der organisierten Korruption von Seiten der Regierungen und Privatleute, den Kinderbanden, die töten wie sie atmen, auch den Kinderhorden, die man Straße für Straße ermordet, während zur gleichen Zeit unvorstellbare Reichtümer angehäuft werden. Wenn die Mütter dir also erzählen, dass sie inmitten von Naturkatastrophen geboren haben, in Eruptionen, Zyklonen, in Erdbeben und Feuer, inmitten unabsehbarer Feuersbrünste und Überschwemmungen oder ebenso unermesslichen Dürren, dann bedeutet das: Die Mütter verstehen diese Mächte, sie halten sie für wohlwollend, wenn sie sie derart beschwören, denn nachdem sie weitergezogen ist, verleiht die Katastrophe angeblich Macht.
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MIT
F RAGEN
DER
Ü BERSETZUNG
Die Frage nach der Übersetzung ist im Original schon angelegt, da ein ›kreolisierter‹ französischer Text seiner Definition nach opake Elemente, unverständliche Wort-Brocken enthält. Glissant führt einige am Ende des ersten Hauptteils von La cohée du Lamentin auf, beginnend mit dem Wort cohée, das uns bereits im Titel auffiel (s.o.), daneben Erläuterungen zu Excipit, sowie zu der
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Verwendung von innombrable und innumérable (unnennbar und unzählbar) in Textteil 1. Der Ausdruck la cohée ist ins Deutsche nicht übertragbar, darüber kam ich mit dem Autor überein, als wir über Échohée diskutierten, ein Neologismus und ein Echo der Cohée du Lamentin in La terre magnétique (Das magnetische Land), wo es in der deutschen Übersetzung heißt: »Wenn wir die Zeichnungen der alten Völker betrachten, etwa der Menschen, die vom fernsten Ufer, von Japan aufbrachen, es waren einige und sie müssen am Ursprungsland des ersten Königs vorbeigekommen sein, das heißt, des Königs, der diese Insel zuerst besiedelte, ganz gleich, wer zufällig vor ihm hier an Land ging. In diesen Zeichnungen der Alten sehen wir meist Leiber mit aufgezeichneten Routen, Leiber, die Schiffen ähneln, Schiffe sind, die diese Reisenden auf den Universen zu Land oder See, auf die sie trafen, ihren Weg finden ließen, jede Bucht ein Echo der vorigen, und sie bis hierher führten: Échohées.« (Glissant 2010: 14f.)
Zur Bedeutung von cohée hatte mir der Autor im Gespräch erklärt: »[...] eine Bucht und noch eine und noch eine, eine Folge von Buchten.« Als weiteres Leitmotiv klingt die Unendlichkeit an, Glissant bezieht sich hier auf Vorstellungen aus der Chaostheorie (vgl. Glissant 2005a) nach der die Umrisslinie einer Insel unendlich sei, weil im Grunde jede kleine Einbuchtung abgemessen werden müsste. Zur Bedeutung von Lamentin finden wir in der Poetik mehrere Stellen: zum einen eine Beschreibung der Landschaft mit diesem Namen unter dem Titel Unentwirrbarkeiten (230f.) und zum anderen eine Szene aus der Ortschaft Le Lamentin mit ihrer Savane (114), die wir aus anderen Werken Glissants kennen. Schon in der Erzählung »Die erste Reise« fällt dem Kind die Ebene des Lamentin auf, hinter dem »sich das Delta der Lézarde öffnet [...]: Die Mangroven, durchzogen von kleinen Wasserläufen, in die der Fluss sich verengt und schließlich im braunvioletten Meer der Cohée du Lamentin verschwindet.« (90f.) Nachdem wir den Titel weitgehend geklärt haben, möchte ich noch einige Wortfelder anführen, die in diesem, aber auch in anderen Texten Glissants Fragen für die Übersetzung aufwerfen. Crier: Meist übersetze ich dieses Wort mit ›schreien‹, auch wenn es im Zusammenhang des deutschen Textes auffällt, denn Glissant verwendet das Wort auf kreolische Weise, im Sinne von ›aussprechen‹. Auch der französische Leser stolpert bei ›crier‹ (=schreien), wenn es in einem Zusammenhang steht, in dem lautes Sprechen nicht zu erwarten ist. So schwingt in Textteil 3 bei »... nous crions cette palpitation fragile, née du plus fond« die ganze Bedeutung der
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kreolischen Namen und Wörter mit, die nicht ausgesprochen werden dürfen, da der Respekt vor einem Zauber oder der Aberglaube dies verbietet. Eine gute deutsche Lösung wäre an dieser Stelle ›sagen‹. Aber crier steht in La cohée du Lamentin in einem spezifischen Wort- und Beziehungsfeld und damit dieses im Deutschen erhalten bleibt, habe ich probeweise ›rufen‹ eingesetzt, auch wenn ich für die anderen Stellen noch keine endgültigen Lösungen gefunden habe. Etwa wenn im Kapitel »Eine einzige Jahreszeit« steht »Vous criez à beauté« und kurz danach: »elle les répète à profusion et à chaos« (30). Ich fand noch einen weiteren Gebrauch bei Glissant: »Nous la crions jusqu’à beauté.« Re-dite, inter-dit, non-dit: Dieses Wortfeld verlangt bereits die Übersetzung mit ›sagen‹: Das ›Unter-sagte‹, welches in dem Zusammenhang, in dem Glissant es gebraucht, allerdings schillert, weshalb ich versuchsweise noch ›einander‹ eingefügt habe, also das Unter-(einander-ge)-sagte, das ›Un-gesagte‹ für non-dit scheint mir klar, aber wie ist re-dite in der Definition von Excipit zu übertragen? Hier habe ich einmal ›Kehrreim‹ eingesetzt. Noch ein letztes Detail: Glissant spielt mit dem Titel Black Atlantic von Gilroy, er spricht zunächst von Partage des Eaux und dann von Black Atlantis (14); dazu heißt es im Text: »et je reconnais que je démarque là le titre [...] d’un livre de monsieur Paul Gilroy.« ›Démarquer‹ kann mit ›kopieren‹ übersetzt werden, aber aus dem ironischen Ton, aus der Begegnung mit Gilroy in Berlin und aus anderen Auseinandersetzungen mit dessen Denken übersetze ich hier ›ich grenze mich dagegen ab‹, da im Deutschen sonst die Ironie hinter der Kopie nicht verständlich wäre.
D IE L ISTE
MIT
D EFINITIONEN
ZUR
K REOLISIERUNG
Wie ich eingangs schon ausführte, bilden die Gemeinsamkeiten der Völker der Karibik mit ihren kulturellen Äußerungen einen Schwerpunkt dieser Poetik. Man könnte auch sagen, es wird das Ausbreitungsgebiet der ursprünglichen Kreolisierung ausgemessen. Glissant wertet die Akkumulation, das Anhäufen einer Vielzahl von Beobachtungen als ein wichtiges Element der Poesie seiner Region. Dies steht für ihn im Gegensatz zur europäischen Dichtung, mit ihrem Anspruch einer universellen Wahrheit, die gewissermaßen in einem Funken, in einer Einsicht aufleuchtet: »La poésie ne produit pas de l’universel, non, elle enfante des bouleversements qui nous changent.« (108) In diesem Zusammenhang bezeichnet er Mittelamerika als einen cordon vivace (80), also mit einem Ausdruck, der den cordon ombilical, die Nabelschnur aufruft.
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Le peintre créole Das Künstlerporträt des aus Kuba stammenden Wifredo Lam bildet den Kern, um den Glissants Ästhetik der Kreolisierung in diesem Werk kreist. Für eine deutsche Ausgabe wäre es daher dringend nötig, wenigstens dieses Künstlerporträt zu erhalten. Lam, der peintre créole, verbindet in sich alle vier ›Rassen‹: »jaune noir blanc rouge.« (180) Im tableau plein dieses Künstlers ist die ganze Fläche des Bildes ausgefüllt, er verzichtet auf die Perspektive. Stattdessen scheint in seiner Malerei etwas verborgen zu sein, so führt Glissant aus, das visuell nicht darstellbar ist – die Zeit, die Vergänglichkeit. Glissant beschreibt wie das Verborgene auch hinter den Blättern in der Malerei von José Gamara zu lauern scheint (55). Pensée du tremblement | Denken des Bebens Ich hatte mich bereits früher für die Übersetzung ›Beben‹ entschieden, auch weil Robert Musil in Der Mann ohne Eigenschaften diesen Begriff benutzt, um eine ähnliche Erfahrung der Ergriffenheit zu beschreiben. In La cohée du Lamentin erweitert Glissant die Erfahrung des Bebens nun auf ein körperliches Erlebnis der Naturgewalt, etwa bei den Niagarafällen, um sein Denken sinnlich erfahrbar zu machen. Im Deutschen würde sich ›Erschütterung‹ anbieten, doch ich entscheide mich dagegen, weil mir dieser Begriff zu alltäglich erscheint und ihm das Irritierende, das Glissant meint, meiner Ansicht nach fehlt. L´Empire, Tout-Monde, Tout-Empire, Totalité Das Tout der unendlichen Akkumulation finden wir bei der Darstellung der Dichtung von Senghor (vgl. 108), es ist dieses positive »Alles«, das Glissant vorschwebt, wenn er sein zusammengesetztes Nomen Tout-Monde erfindet, oder wenn er von Totalität spricht. In dieser Akkumulation, die die Welt beschreibt, gibt es kein Ende. Dagegen steht die westliche Auffassung von Totalitarismus und Totalität als Machtanspruch. Ganz neu in Glissants Denken taucht hier die Möglichkeit auf, die sich in der Realität durchaus abzeichnet, dass eine Macht entstehen und als einzige die gesamte Welt überziehen könnte. In den USA haben wir schon ein Empire, dessen Dominanz zunimmt. Was wäre mit der Idee des Tout-Monde, der All-Welt, wenn dieses »All-Reich« tatsächlich Wirklichkeit würde? Eine Frage, der Édouard Glissant in seiner Poetik nachgeht (vgl. 162f.). Welche Folgen hätte dies für das Imaginäre und die All-Welt, die er eigentlich als eine solidarische Weltgemeinschaft versteht? Es gäbe kein Außen, es gäbe keine Distanz mehr und damit auch keine mögliche Kritik. Glissants positive Vision einer kulturellen Globalisierung der Welt, die Kreolisierung, scheint von einer verstörenden Realität eingeholt zu werden. Glissant sieht durchaus, dass in der Medienwelt das »All-Reich« bereits besteht,
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oder zumindest seinen Zugriff ausweitet. Doch Glissant zeigt in seiner Poetik, wie die vorgeprägten Fragestellungen des okzidentalen Denkens und der Medienwelt überwunden werden können. Auf welche Weise Poesie, Literatur, Kunst und die Kreolisierung, wenn man sie als einen Schwebezustand hinnimmt, mit ihrer Subversion des Bestehenden Erleichterung und Distanz schaffen können. Die daraus erwachsende Heiterkeit lässt ihn am Schluss des Buches, wo er eigentlich die Anlässe und Vorwände für die Kapitel des Essaybandes belegen möchte, diese Anlässe und andere Erlebnisse ineinander verschachteln und übereinander stülpen zu einem fröhlichen Durcheinander mit den vielen Gedanken und Ereignissen, die in diesem Zeitraum sein Leben bestimmten. Es handelt sich letztlich um die Parodie einer solchen Aufstellung. Diese ironische Haltung sollte in Glissants letztem Werk, La terre magnétique, mit der Parodie eines ethnologischen Reiseberichts eine weitere Steigerung erfahren. Wir lesen die Geschichte einer zeitgenössischen Entdeckung der Osterinsel, die zunächst die abweisende Natur und eine menschliche Einöde überwinden muss. Im Widerspruch zur hergebrachten Feldforschung fährt Édouard Glissant nicht selbst dorthin, sondern wertet die Bilder und Berichte seiner Frau aus, die ihm allerdings auch nur widersprüchliche Notizen, Video- und Tonaufnahmen liefern kann. Den wissenschaftlichen Diskurs verwerfend, verfolgt der Autor altchinesische, japanische Spuren – Traumpfade, die über die Insel verlaufen. Wer wohnt heute dort? Eine dezimierte Bevölkerung, für die umgekehrt die fernen Länder zu einem virtuellen Vorstellungsraum wurden. Die Menschen auf Rapa Nui haben ihre bitteren Erfahrungen mit den Mächten aus der weiteren Nachbarschaft in ein hintergründiges Spiel mit Wahrheiten verwandelt und beziehen daraus ihre ironische Weisheit. Von ihnen erfahren wir eine neue Sicht auf unsere globalisierte Welt – und nicht zufällig sind ihre Aussagen ganz im Stil von Édouard Glissant. Der Bericht schließt mit dem Satz: »Nichts ist wahr. Alles ist lebendig.«
L ITERATUR Glissant, Édouard (1981): Le Discours antillais, Paris: Gallimard. [Dt. Übersetzung: Zersplitterte Welten. Der Diskurs der Antillen, Heidelberg: Wunderhorn 1986] — (1994): »Le premier voyage«, in: Ludwig, Ralph (Hg.), Écrire la ›parole de nuit‹. La nouvelle littérature antillaise, Paris: Gallimard, S. 59-65. — (1996): Introduction à une Poétique du Divers, Paris: Gallimard.
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[Dt. Übersetzung: Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit, Heidelberg: Wunderhorn 2005] — (2005): La cohée du Lamentin, Paris: Gallimard. — (2005a): »Die Chaos-Welt. Für eine Ästhetik der Beziehung«, in: Ders., Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit, Heidelberg: Wunderhorn, S. 55-69. — (2009): La terre magnétique. Paris: Gallimard. [Dt. Übersetzung: Das magnetische Land, Heidelberg: Wunderhorn 2010] Ludwig, Ralph (Hg.) (1994): Écrire la ›parole de nuit‹. La nouvelle littérature antillaise, Paris: Gallimard. *Die deutschen Ausgaben der Werke von Glissant wurden alle übersetzt von Beate Thill.
Roma-Literaturen und Kreolisierung1 C ÉCILE K OVACSHAZY
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UND DIE
R OMA
Die Kreolisierung steht im Kontext von Kolonialisierung, Verschleppung und Versklavung. Als Kreolen werden in der Regel Personen bezeichnet, von denen ein Vorfahre ein Kolonisator, der andere ein Kolonisierter ist, deren familiäre Herkunft sich also einer spezifischen historischen Konstellation unter teils grausamem Vorzeichen verdankt. Im Sinne einer Bedeutungserweiterung wurde der Begriff später auch für die Bezeichnung linguistischer Phänomene verwendet, nämlich dann, wenn – aus den bereits erwähnten historischen Gründen – zwei unterschiedliche Sprachsysteme aufeinander trafen, miteinander verschmolzen und daraus ein autonomes Sprachsystem entstand. Was jedoch haben die Roma in diesem Kontext zu suchen? Es gibt keine Roma auf den Antillen (oder falls ja, dann nur sehr sporadisch), und die Roma sprechen weder kreolisch noch eine kreolisierte Sprache. Es gibt auch kein ›Roma-Land‹, das von herrschsüchtigen Abenteurern erobert worden wäre. Und doch bezeichnet Édouard Glissant die Kultur der Roma als die kreolisierte Kultur par excellence. Aus einer während des Jugoslawienkrieges von der International Romani Union (IRU) anlässlich eines Friedenskongresses publizierten Erklärung zitierend, hebt Glissant diejenigen Termini hervor, die es ihm besonders angetan haben. Und tatsächlich klingen manche Sätze, als ob sie von ihm selbst geschrieben worden wären: »Der Friedenskongress wird den Grundstein für diese plurikulturelle Zivilgesellschaft von morgen legen, nach dem Bild einer toleranten, gemischten Kultur der Roma, die weltoffen und zugleich einzigartig ist. Eine Utopie, zu der die Roma Sie einladen.« (Glissant 2005: 46) Ein
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Ich danke Roswitha Böhm für die Hilfe bei der Übersetzung.
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solches an Glissants Poetik der Vielheit erinnerndes Postulat ist den nationalistischen und interethnischen Konflikten in Jugoslawien diametral entgegengesetzt. Der Toleranz- und Kreolisierungsdiskurs, der in dieser Erklärung der Roma in der Sorge um ein friedliches und respektvolles Zusammenleben stark gemacht wird, zeugt von einer außergewöhnlichen Reife. Es ist unmittelbar nachvollziehbar, dass Glissant für die Aussagen dieser Erklärung empfänglich war. In einer weiteren Textstelle der Erklärung der IRU, die das Interesse von Glissant geweckt hat, heißt es: »Damit dieser Kongress sich nicht auf die Roma oder auf die Jugoslawen beschränkt, ist es notwendig, die Multi-Ethnizität zu unterstreichen und zu zeigen, daß eine künftige Politik möglich ist, zu der die Roman einladen. Wir fordern ein Zusammenleben, das nicht territorial bestimmt, schließlich ist diese Aufteilung des Raums hinfällig in einem Europa, das sich in tiefgreifendem Wandel befindet. Mit seiner Forderung versteht sich der Kongress entschieden politisch, da er die Zivilisation gegen die Barbarei stellt, und diese Zivilisation möchten die Roma der Welt in Erinnerung rufen: Bewegungsfreiheit, Kunst, Leben, Toleranz, Gastlichkeit, freundliche Aufnahme, kulturelle Mischung, eine Kreolisierung, die Besonderheit und Identität nicht verhindert.« (Glissant 2005: 46)
Dieser Text fordert also nicht nur zur Kreolisierung der Kulturen und Menschen auf, sondern postuliert zugleich die Ablehnung einer Wurzel-Identität (identitéracine, nach Deleuze und Guattari) und die Überwindung eines obsoleten territorialen Denkens, die als Auslöser und Folge der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Staaten erkannt (und benannt) werden. Es wird dergestalt verständlich, dass die Roma für Glissant als paradigmatisch für seine Utopie einer All-Welt (Tout-Monde) mit rhizomatischen Identitäten gelten. Im Folgenden soll anhand eines detaillierteren Blicks auf die Geschichte und die Roma-Literaturen2 näher analysiert werden, inwiefern der Begriff der Kreolisierung sich überhaupt auf die Roma anwenden lässt, inwiefern die Kollektivbezeichnung ›die Roma‹ zutrifft und letztlich, inwiefern ein Beitrag über die Roma in diesem Sammelband Sinn macht. Roma und Sklavereigeschichte Einleitend soll daran erinnert werden, dass eine der bedeutendsten Eigenschaften der Historiographie der Roma in ihrem geringen Umfang besteht. Dafür lassen sich mindestens vier Gründe nennen: Erst seit Beginn des 18. Jahrhunderts
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›Rom‹ ist das Singular, ›Roma‹ das Plural, ›Romani‹ das Adjektiv.
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existieren überhaupt erste wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema, die diesen Namen verdienen. Daraus leitet sich wiederum ab, dass lange ein PseudoWissen3 tradiert wurde, das teils groteske Züge annahm, aber dennoch als verbürgt galt und dessen Einfluss auch heute noch spürbar ist. Während des Nationalsozialismus erfuhr dieses groteske Schein-Wissen seine tödliche Zuspitzung. Einige der im ›Dritten Reich‹ verbreiteten Gemeinplätze – wie jene, dass das Stehlen ›den Zigeunern im Blut liege‹ oder dass es ›Teil ihrer Kultur‹ sei – werden selbst heute noch als gültige ›Wahrheiten‹ angesehen, wobei es letztendlich gleichgültig ist, ob die genetische oder die kulturalistische These hier zum Zuge kommt, handelt es sich doch in beiden Fällen um Essentialismen. Doch offensichtlich »rechtfertigt die Leere im sozialen Gedächtnis nicht notwendigerweise historische Recherchen« (Peschanski 2010: 13) und ebenso wenig das Bedürfnis nach eben diesen. Der dritte Grund: Es gibt schlicht zu wenige Forscher/innen, die sich für dieses Gebiet interessieren und deshalb unzählige Themen, die noch ihrer (vertieften) Bearbeitung harren. Eines davon ist der Migrationshintergrund derjenigen, die im Laufe ihrer unzähligen Migrationen zu ›Roma‹ wurden. Der vierte Grund: Es sind fast nie Roma, die dieses Thema bearbeiten – der hier vorliegende Beitrag stellt diesbezüglich keine Ausnahme dar. Aber dieser letzte Grund kann nur Teilgültigkeit beanspruchen, denn es ist nicht automatisch davon auszugehen, dass nur die betroffenen Personen objektiv über sich selbst reden können. Aus epistemologischer Sicht könnte man sogar zum gegenteiligen Schluss gelangen, da das Risiko der Parteilichkeit möglicherweise größer ist. Dennoch wären bei einem Thema, über das so viele falsche und diskriminierende Behauptungen aufgestellt wurden, eine größere Stimmenvielfalt und vor allem unmittelbare Zeugnisse der Betroffenen wünschenswert. Diese unausgeglichene Situation verbessert sich seit einigen Jahren schrittweise, da ein erleichterter Zugang zur Schulbildung den Roma auch das Studium an einer Universität ermöglicht. Im Folgenden möchte ich noch einmal auf den an dritter Stelle genannten Grund zurückkommen. Wahrscheinlich wurden zu Beginn des 11. Jahrhunderts mehrere Tausend Menschen aus dem Nordwesten Indiens ausgesiedelt. Wahrscheinlich erfolgten diese Aussiedlungen über mehrere Jahrzehnte hinweg,
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So etwa bei Voltaire in seinem Essai sur les mœurs et l'esprit des nations, Kapitel CIV »DE CEUX QU’ON APPELAIT BOHEMES OU ÉGYPTIENS«. Nach Voltaire waren die Zigeuner »très-vraisemblablement un reste de ces anciens prêtres et des prêtresses d’Isis, mêlés avec ceux de la déesse de Syrie.« (»sehr wahrscheinlich Überbleibsel jener antiken Priester und Priesterinnen von Isis, die sich mit jenen der Göttin von Syrien vermengt hatten.« [Übers. C.K.])
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und wahrscheinlich handelte es sich um Zwangsumsiedlungen, von denen Personen betroffen waren, die für Kriege nützliche Fähigkeiten beherrschten: den Umgang mit Metall, die Haltung von Tieren oder das Musizieren (vgl. Hancock 1987; Fraser 1993; Clanet dit Lamanit 2009). Die Geschichte dieser Umsiedlungen ist erst unzureichend aufgearbeitet, so dass die hier genannten Aspekte zu einem späteren Zeitpunkt durchaus in Frage gestellt werden können, wenn gründlichere Forschungsarbeiten vorliegen. Aufgrund des aktuellen Forschungsstands lässt sich festhalten, dass diejenigen, die später ›Roma‹ werden sollten, mehrere Jahrhunderte lang unter Fremdherrschaft in Sklaverei lebten, und zwar zunächst im Kaiserreich der Seldschuken, später im Osmanischen Reich. Ein Teil von ihnen wird nach seiner Freilassung entweder nach Nordeuropa auswandern oder nach Südeuropa, und zwar in das Spanien von Isabella I. von Kastilien, die mit der Aufnahme dieser Migranten spezifische Ziele verfolgt, nämlich die Wiederbelebung bestimmter, nach der Verfolgung und Vertreibung der Juden unterbesetzter Berufe (darunter jener des Bäckers). Die große Mehrheit jedoch wird vor Ort bleiben, und zwar für einen langen Zeitraum als Sklaven der Bojaren der Walachei (Muntenien) und der Moldau. Man unterscheidet hier zwischen den iganii de ogor (Feldsklaven) und den iganii de casai (Haussklaven), die wiederum in sclavi domneti (Edelsklaven) und sclavi monastiveti (Kirchensklaven) unterteilt werden.4 Ist auch heutzutage der Inhalt des Code noir, der den alltäglichen Schrecken der Sklaverei in den karibischen Kolonien in Form eines Gesetzesbuchs rechtfertigte, gut bekannt, so weiß man doch sehr viel weniger über all die Kodifikation der Sklaverei der Roma, obwohl man sehr wohl weiß, dass ein Teil von ihnen fünf Jahrhunderte lang in Europa versklavt wurde. Was die Sklaverei der Roma in Muntenien und Moldau betrifft, wo die Sklaverei erst 1856 abgeschafft wurde,5 so präzisiert ein unter der Herrschaft von Rudolf IV. in der Mitte des 14. Jahrhunderts niedergelegter Text, dass sich die Roma im Eigentum von Klostern und Landbesitzern befinden. Ein weiteres historisches Dokument entsteht drei Jahrhunderte später,
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Es handelt sich hier um eine von Ian Hancock übernommene Typologie aus seiner Studie The Pariah Syndrom. An account of Gypsy Slavery and Persecution (1987). Aber es existieren durchaus andere Typologisierungsversuche, zum Beispiel von François Vaux de Foletier (Mille ans d'histoire des Tsiganes, 1970), der in KronenSklaven, Klerus- bzw. Kloster-Sklaven, die Musiker oder Maler sein durften, und Bojaren-Sklaven unterteilt.
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Matéo Maximoffs Roman Le Prix de la liberté (1996), der auch ins Deutsche übersetzt wurde, gibt Einblick in die Bedingungen der Sklaverei zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
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nämlich ein vierzig Punkte umfassender Gesetzestext über die Versklavung der Roma, der unter dem von 1634 bis 1654 herrschenden König Vasile Lupu, einem Woiwoden aus der Moldau, erlassen wurde. Schließlich finden sich in einem walachischen Strafgesetzbuch von 1818 die folgenden Paragraphen: »Artikel 2: Die Zigeuner werden ausschließlich als Sklaven geboren. Artikel 3: Jedes Kind einer Sklavin ist auch ein Sklave. Artikel 5: Jeder Besitzer darf seine Sklaven verkaufen oder weitergeben. Artikel 6: Jeder Zigeuner ohne Besitzer gehört dem Prinzen.« Das etwas später entstandene moldawische Strafgesetzbuch von 1833 enthält darüber hinaus die folgenden Bestimmungen: »Kapitel II §154: Die Eheschließung zwischen freien Menschen und Sklaven ist nicht erlaubt. Kapitel II §162: Die Eheschließung zwischen Sklaven ist nur mit der Zustimmung des Besitzers erlaubt. Kapitel II §174: Der Preis eines Sklaven wird per Gerichtsbeschluss festgelegt, und zwar je nach Alter, Geschicklichkeit und Beruf.« Auf Sklavenmärkten werden die ›Zigeuner‹ nach Kilopreis verkauft und eingekauft. In diesem Zusammenhang ist das Zeugnis von Mihail Koglniceanu (18171891), eines rumänischen Politikers und Anhängers der Abschaffung der Sklaverei, von Bedeutung: »Quand j’étais jeune, je voyais dans les rues de Iassy des êtres humains aux mains et pieds enchaînés, certains même portant des anneaux de fer autour du cou et de la tête. Des peines cruelles de fouet, de privation de nourriture, d’enfumage, de maintien nus dans la neige ou dans la rivière gelée, tels étaient les traitements infligés aux Gitans. La sainteté de leurs mariages et de leurs liens familiaux n’étaient pas respectés. On arrachait la femme à son mari, la fille était séparée de force de sa mère, on arrachait les enfants des bras de leurs parents, on les séparait et on les vendait aux quatre coins de la Roumanie. Ni les hommes, ni les lois n’avaient pitié de ces malheureux êtres humains.«6
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»Als ich jung war, sah ich in den Straßen von Iassy Menschen mit angeketteten Händen und Füßen, manche trugen sogar Eisenringe um den Hals und den Kopf. Grausames Auspeitschen, Nahrungsentzug, Ausräucherung, nackt im Schnee oder im zugefrorenen Fluss zu stehen, solcherart wurden die Roma behandelt. Die Heiligkeit ihrer Ehen und ihrer Familienbindungen wurde nicht respektiert. Die Ehefrau wurde dem Ehemann weggenommen, die Tochter wurde mit Gewalt von der Mutter getrennt, Kinder wurden aus den Armen ihrer Eltern gerissen, man trennte alle voneinander und verkaufte sie in alle Gegenden Rumäniens. Weder die Menschen noch die Gesetze zeigten Mitleid mit diesen unglückseligen Menschen.« (Koglniceanu 1837, Übers. C.K.)
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Derselbe Koglniceanu hebt zudem das folgende Paradoxon hervor: In der Mitte des 18. Jahrhunderts »[les Européens] forment des sociétés philanthropiques pour l’abolition de l’esclavage en Amérique, tandis qu’au sein de leur continent, en Europe, il y a quatre cent mille Cigains qui sont esclaves«7. Noch heute ist über die Geschichte der Sklaverei im Herzen Europas äußerst wenig bekannt. Der Mangel an Kenntnissen über eine von fünf Jahrhunderten überdauernde und erst vor einhundertfünfzig Jahren abgeschaffte historische Tatsache, die innereuropäische Sklaverei, ist so erstaunlich, dass es schon fast suspekt erscheint. Auch die Nachkommen der Sklaven selbst wissen nur selten etwas über diese Geschichte, die zeitlich zu weit entfernt ist für ein mündlich tradiertes Generationengedächtnis. Und doch sind einige wenige Spuren eines kollektiven Gedächtnisses dieses Ereignisses – und seien sie unbewusster Natur – überliefert. So werden in der bojaschen Sprache (einer dem Rumänischen verwandten Sprache, die unter anderem von den Roma aus Nordserbien gesprochen wird) die NichtRoma nicht als gadje bezeichnet, sondern als domnul. Das rumänische Wort domnul bedeutet ›Herr‹ und ist somit ein direktes und leicht zu identifizierendes Erbe der Epoche der Sklaverei durch die walachischen und moldawischen Bojaren.8
D ISKRIMINIERT ,
ABER NICHT KOLONISIERT
Viele Roma haben also eine Vergangenheit als Sklaven, aber Beginn und Ende der Sklaverei variieren um mehrere Jahrhunderte, je nachdem, ob es sich um Roma aus Rumänien, aus Spanien, aus Skandinavien oder anderen Ländern handelt. Manche konnten das Joch der Sklaverei früher abwerfen als andere und in andere europäische Gegenden auswandern. Der Vergleich mit den ehemals Verschleppten und Versklavten der Antillen funktioniert deshalb nur in begrenztem Maße. Dafür gibt es verschiedene Gründe, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Erstens ist das Fehlen der Forderung der Roma nach einem eigenem Stück Land, um daraus eine Nation abzuleiten, paradigmatisch. Die Roma wurden nämlich nie kolonisiert. Sie sind kein Volk, das in seinem eigenen Land
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»engagieren sich die Europäer in philanthropischen Gesellschaften für die Abschaffung der Sklaverei in Amerika, während auf ihrem eigenen Kontinent, in Europa selbst 400.000 Zigeuner in Sklaverei gehalten werden.« (Koglniceanu 1837, Vorwort, Übers. C.K.)
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Diesen Hinweis verdanke ich Stipan Bosnjak, dem Autor der Lettre ouverte d‘un petit-fils rom à sa grand-mère croate (2010).
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erobert wurde und dem man eine fremde Sprache aufgezwungen hätte, aus der schließlich, wie das Kreolische auf den Antillen, eine ›unheimliche‹, obwohl zu eigen gemachte, zu einer ›unheimlichen‹, weil zum Eigenen gehörenden Sprache geworden ist. Ein weiterer bedeutender und dem Fehlen der Forderung nach einem Stück Land vergleichbarer Unterschied besteht in der Tatsache, dass die Roma – anders als im Fall der Insulaner, deren Territorium einfach zu umreißen ist – keinem abgrenzbaren oder gar abgeschlossenen Territorium, sondern den unterschiedlichsten Orten dieser Welt angehören und deshalb keine gemeinsame, homogene Geschichte vorzuweisen haben. Auch wenn die Diskriminierung an all diesen Orten bedauerlicherweise identische Formen annimmt, so handelt es sich doch, und hier ist größtmögliche historische Präzision vonnöten, um je eigene Versionen der Geschichte(n) der Roma. Und es wäre ganz und gar unzulässig, die Roma auf einen kollektiven Singular reduzieren zu wollen.
D AS ›V OLK ‹
DER
R OMA
Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass eine gemeinsame Identität als ›Volk‹ der Roma ab dem Moment zustande kam, als die Migranten, die eine gemeinsame Sprache sprachen und gemeinsame Riten der Reinlichkeit befolgten, sich im Exil befanden und aufgrund ihrer Immobilität oder gar Versklavung als Gruppe künstlich zusammengefasst wurden. Über die Arbeiten von Benedict Anderson (1983) weiß man, dass die Vorstellung von ›Volk‹ von nationalen und nationalistischen Ansprüchen abhängig ist. Und spätestens seit den Forschungen von Shlomo Sand (2008) ist bekannt, dass die Vorstellung von ›Volk‹ eine mythische Konstruktion ist. Es ist daher unzutreffend und geschieht auch nur selten, dass die Roma – außer in der jüngsten Zeit – als ein ›Volk‹ bezeichnet werden. Manchmal wird sogar die Idee vertreten, dass erst das nationalsozialistische Projekt der systematischen Vernichtung die Idee und das Bewusstsein von Zugehörigkeit zu einem ›Volk‹ erzeugt hat. Und in der Tat folgten die ersten nach Westeuropa emigrierenden Roma keiner Aufforderung in Form einer ›Rückkehr ins gelobte Land‹ oder in ihr vermeintliches Herkunftsland, auch wenn sie von sich sagen, dass sie aus Ägypten stammen. Diese ›Ägypter‹ kommen wahrscheinlich tatsächlich aus dem ›kleinen Ägypten‹, das dem aktuellen Peloponnes entspricht (vgl. Fraser 1995: 45).9 Sie besitzen eine gemeinsame Sprache, das Romani, eine
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In Bezug auf die mit dieser Herkunft verbundene Mythographie vgl. Bogdal 2011.
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indoarische Sprache wie Hindi oder Bengali.10 Und – wohl eine linguistische Ausnahme – diese Sprache hat sich auch nach tausend Jahren ohne festes Territorium tradiert. Dies ist ein signifikantes Zeichen dafür, das sprachlichekulturelle Erbe bewahren zu wollen, was all jenen widerspricht, die behaupten, dass die Roma ›Wilde‹ seien, weil sie keine Schriftkultur besitzen und sich nicht um Überlieferungsfragen sorgen, und die mit dieser Aussage nur ihre eigene Weltanschauung widerspiegeln. Die vermeintlich universalistische Sicht einer schriftlichen Konstitution des kollektiven Gedächtnisses hat hier keine Geltung. Auch die Roma bewahren ihre Kultur, ihr Gedächtnis, ihre Vergangenheit, aber nicht in Form einer detailreichen Niederschrift der von ›großen Männern‹ beeinflussten politischen Ereignisgeschichte. Die Roma-Kulturen sind überwiegend mündlich geprägt und die intergenerationelle Tradierung des kollektiven Gedächtnisses funktioniert explizit über drei oder vier Generationen hinweg. Doch tatsächlich erstreckt sich die Tradierung über einen längeren Zeitraum, da das kulturelle Gedächtnis über die Überlieferung von Liedern, Rhythmen, Tänzen, Sitten und vor allem über die Sprache bewahrt wird. Folglich entsteht die Fiktion eines einheitlichen und homogenen ›Volkes‹ der Roma durch uninformierte Nicht-Roma (vgl. Kovacshazy 2011b: 52). Wer sich auch nur entfernt für Roma verschiedener Gegenden oder auch nur einer einzigen Gegend interessiert, wird beeindruckt sein von der Vielfalt ihrer Kulturen (im weiten anthropologischen Sinn des Wortes ›Kultur‹).
S PRACHE Es ist äußerst selten, einem oder einer Roma zu begegnen, der oder die nicht mindestens zweisprachig, wenn nicht gar dreisprachig ist. Meist beherrscht ein-e Roma die Sprache seines bzw. ihres Herkunftslandes und Romanes. Je nach sozialer Zugehörigkeit wird dann auch die Schriftform von Romanes mehr oder weniger gut beherrscht. Romanes ist also eine mindestens zehn Jahrhunderte alte Sprache indischer Abstammung, die seither einem nur geringen Wandel unterworfen war. Es ist eine komplexe Sprache mit einem elaborierten grammatischen System und einem breiten Wortschatz. Neben ihren indoarischen Fundamenten besitzt sie auch persische, griechische und armenische Wurzeln – lauter Spuren
10 Erst ab 1753 hört man auf, das Romani als ›Jargon‹ zu betrachten. Damals entdeckte István Vályi, ein ungarischer Student der Theologie, nahezu zufällig die indische Herkunft dieser Sprache (vgl. Grellmann 1783). Das Romani ist also keine Sprache, die aus dem Sanskrit stammt, wie teils immer noch behauptet wird.
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früherer Migrationen.11 Je nach Land, in dem sie gesprochen wird, variiert der dialektale Gebrauch dieser Sprache. Da Romanes außerhalb eines Territoriums gesprochen wird, in dem es Mehrheitssprache wäre, entwickelt es keine neuen Wörter mit indoarischer Wurzel, sondern reichert sich stattdessen mit Anleihen von Wörtern des Wohnsitzlandes an. So wird etwa in dem in Ungarn beheimateten Lovara-Dialekt der Hausschuh als papucs bezeichnet, was eine umso amüsantere Anleihe aus dem Ungarischen darstellt, als das ungarische Wort selbst aus dem Persischen (ppuš) über das osmanische Türkisch (pâbûc) abgeleitet wurde. Es ist wahrscheinlich überflüssig darauf hinzuweisen, dass diese Sprachanleihen nicht nur in Romanes, sondern in allen lebenden Sprachen stattfinden. Im Deutschen beispielsweise kommen die meisten Neologismen heutzutage aus dem Englischen. Lässt sich also für Romanes von einer Kreolisierung sprechen? Eher nicht, weil die Sprache ihr ursprüngliches, eigenständiges Grammatiksystem bewahrt hat und die Roma nicht zwei Sprachen miteinander verschmelzen, sondern ein klarer Fall von Zweisprachigkeit vorliegt. In diesem Sinne können die Roman als »Co-Bewahrer von mindestens zwei Identitäten und zwei Formen des kulturellen Erbes« (Mile 2005) gelten, sie sind bi-kulturell und somit in gewisser Weise von Coolitude geprägt (vgl. Torabully 1992). Die Sprachanleihen jedoch zirkulieren und man könnte den Versuch unternehmen, die Anleihen von Romani-Wörtern in anderen Sprachen aufzulisten (die in Relation zu anderen Anleihen gering ausfallen). Die ins französische Rotwelsch aufgenommenen Anleihen etwa sind in Bezug auf die Frage, was Nicht-Roma von Roma zu übernehmen gedenken, durchaus aufschlussreich. Man findet chourav, pirav, marav, was in der zitierten Reihenfolge ›stehlen‹, ›trinken‹, ›schlagen‹ bedeutet.
S CHREIBWEISEN
DER
U NTERWERFUNG ?
Lassen sich trotz des bisher Gesagten im Bereich der Literatur gemeinsame Eigenschaften ausmachen, die charakteristisch für die ›Roma-Literatur‹ wären? Mir scheint, dass eine solche Unternehmung auf eine kulturalistische Essentialisierung hinausläuft, die zu homogenisieren versucht, was in der Realität eben gerade als nicht homogen in Erscheinung tritt. Zwei stilistische Spezifika fallen allerdings in den literarischen Werken von Autoren auf, die sich selbst als Rom
11 Dies sei hier noch einmal schriftlich festgehalten: fast alle Roma sind seit Jahrtausenden nicht mehr emigriert. Ebenso wie die Nicht-Roma ihres jeweiligen Landes sind sie also ›Einheimische‹.
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deklarieren. Es ist jedoch an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass diese Rekurrenzen keine ›Roma-Spezifika‹ sind, sondern den Literaturen aller diskriminierten und unterdrückten Gruppen zu eigen sind. Es handelt sich dabei zum einen um das Merkmal der Bachtin’schen Dialogizität, zum anderen um jenes eines didaktischen Anliegens. Zur Illustration des Phänomens der Dialogizität soll im Folgenden ein Gedicht von Sterna Weltz-Zigler analysiert werden, die zu den wenigen Schriftstellern gehört, die auf Manusch schreiben. »La pluie se rince de son eau grasse Le champ du ›gadjo‹ est visqueux Crucifié sur le drap du ciel La charrette étend ses bras ! Au ras des crottes de poules La violette fleurit, comme l’amour du sang haineux du voisin Pas un cri quand il engendre pour faire savoir, homme pareil aux autres Mais non ! un ›gadjo‹ ça reste un ›gadjo‹ La remise pue le moisi, dans les sacs de grains les rats se démènent et j’enverrai ›Peffro‹ le chat (mon chat) GITAN! VOOLEEUR DE POULES ! La pensée en avant comme un balcon de résidence ! Son regard est trop bleu! Crève donc! pensai-je! Tes poules sont trop blanches pour que MA DENT les veuille!« (Weltz-Zigler 1975: 47)
In diesem Gedicht mischen sich drei Stimmen, die schwer zu unterscheiden sind − auch die Typographie bietet hier wenig Hilfestellung. Zu erkennen sind die lyrische Stimme des Dichters sowie die beiden Stimmen des Gitano und des rassistischen Gadjo, auf den wiederum der Gitano-Rassismus reagiert. Zeichnet sich die Dichtung gegenüber narrativen Texten häufig durch eine homogene lyrische Stimme aus, ist Weltz-Ziglers Gedicht durch einen hohen Grad an Polyphonie geprägt, der zur dialogischen und geradezu theatralischen Wirkung des Gedichts beiträgt. Diese rhetorische Strategie erlaubt es, die Stimme des Anderen zu integrieren, in diesem Falle desjenigen, der sich im Zentrum glaubt, bzw. der – so die postkoloniale Terminologie – der Hauptakteur der dominanten Zivilisation ist. Die Polyphonie trägt somit dazu bei, die Opposition zwischen dem
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Dominanten und dem Dominierten, zwischen dem Zentrum und der Peripherie zu unterlaufen – eine Gegenüberstellung, die ja ein binäres, hierarchisches und geschlossenes System darstellt, mag es nun in die eine (die Dominanten dominieren) oder in die andere Richtung funktionieren (im Sinne der Hegelschen Dialektik sind eigentlich die Dominierten die Stärkeren). Die von Roma verfassten literarischen Texte eröffnen hier einen neuen Raum und verleihen neuen Stimmen Ausdruck. Das zweite literarische Merkmal, durch das sich Roma-Texte häufig auszeichnen, das zugleich aber ein Spezifikum aller Bevölkerungsgruppen ist, deren Kulturen weitgehend marginalisiert werden, besteht in einem mehr oder weniger expliziten didaktischen Anliegen. Angesichts des ungeheuren Ausmaßes an Unkenntnis über ihre Kultur – eine Unkenntnis, die verheerende Folgen haben kann – erheben manche Roma-Autoren den Anspruch, die Spezifika ihrer bikulturellen Zugehörigkeit bekannt zu machen. Das sichtbarste Zeichen dieses Vorhabens, das zugleich der Darstellung anthropologischer Wirklichkeiten dient, besteht in der Einführung von Wörtern auf Romanes, deren Übersetzung zumeist in Klammern angegeben wird. Der französische Autor Matéo Maximoff (19171999) verwendet dieses Verfahren systematisch. In all seinen auf Französisch verfassten Romanen, Märchen und Novellen setzt Maximoff romani Wörter ein, die verschiedene Funktionen erfüllen: sie führen Realien, Gefühle und Werte seiner Romani-Kultur ein; sie bürgen für Authentizität bzw. Aufrichtigkeit, erhöhen auf jeden Fall den Grad der Wahrscheinlichkeit; sie bringen eine exotische Note ein – manche der verwendeten Wörter besitzen durchaus ein französisches Äquivalent, andere nicht – was zugleich ein Moment des Einverständnisses zwischen den Romani sprechenden Lesern bewirkt. In der Terminologie des Philosophen Jacques Rancière lässt sich der auf diese Weise hervorgerufene Effekt als »Dissens« beschreiben: »Le dissensus [...] peut se décrire comme un excès, un mécompte par rapport au compte ordonné des corps et des significations. En politique, ce mécompte prend la forme d’introduction de sujets qui n’étaient pas comptés et qui, en se donnant un nom, se font compter comme aptes à compter les choses et les êtres qui font partie de la communauté, à redécouper le donné des situations, à changer les noms qu’on peut leur donner.« (Rancière 2009: 563)
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F AZIT Eines der Werke des bekanntesten Schriftstellers von Martinique, Cahier d’un retour au pays natal, wurde von einem wunderschönen kroatischen Meer inspiriert, das seinen Autor an die Landschaften seiner Kindheit erinnerte: Aimé Césaire schrieb sein Cahier während eines Urlaubs in Dalmatien im Sommer 1935. Dieses Beispiel verdeutlicht auf ebenso amüsante wie überzeugende Weise, inwiefern die kulturellen Kontextualisierungen eines Werkes manches Mal von den Vorurteilen seiner Leser überdeterminiert werden. In diesem Sinne lässt sich auch die Idee der Kreolisierung zu den Roma-Welten (angesichts ihrer heterogenen Vielfalt lassen sich diese nur im Plural bezeichnen) in Bezug setzen, wenn man annimmt, dass es verschiedene Formen der Zirkulation und des Austausches gibt, die ebenso sprachlicher wie kultureller (im engen Sinne des Wortes) Natur sein können. Aber ebenso wenig wie man nur von einer Roma-Kultur sprechen kann, lassen sich die Roma-Kulturen auf Anleihen oder Métissages reduzieren. Noch heute herrscht eine viel zu große Unkenntnis über den Alltag und die Lebensbedingungen der Roma, deren politische und soziale Folgen Tag für Tag spürbar sind. Édouard Glissants Forderung nach einem droit à l’opacité (»Recht auf Intransparenz«) scheint mir in Bezug auf jene Personen, die er als die Verkörperung der Kreolisierung ansah, von besonderer Relevanz zu sein. Glissant schlägt nämlich ein Programm des Zusammenlebens vor, das in diesen Zeiten unerträglicher Intoleranz eine besondere Aktualität hat: »Für mich ist es nicht mehr notwendig, den Anderen zu ›verstehen‹, das heißt, ihn auf das Modell meiner eigenen Transparenz zu reduzieren, um mit diesem Anderen zusammenzuleben oder etwas mit ihm aufzubauen.« (Glissant 2005: 54)
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Passengers towards unknown lands1 F RANÇOISE V ERGÈS
Is the notion of creolization still useful to describe contemporary practices and processes of encounters and exchanges? What does creolization propose as a strategy in the current era of land-grabbing, predatory economy and increasing inequalities? How does Édouard Glisssant’s proposition of »creolizing the world« work with strategies of resistance against conditions of living and working? In this essay, I try to answer these questions by retracing the intellectual itinerary in my own work about the notion of creolization. I draw from texts which have been published and others which, for reasons I explained below, have been erased from public access.2 With this contribution, rather than reviewing the growing literature on creolization, I would like to constitute a critical reading of my own use of the notion. I have argued that the outcome is not predicted in Creolization, that heterogeneity and unpredictability characterize the process of creolization which always occurred under a situation of deep constraints, of deep inequalities, of forced circumstances and of strategies of survival under the yoke of colonialism and racism. It was an unexpected and unpredictable consequence of the slave trade and colonial slavery, then of post-slavery colonialism. It was not a return to roots, a re-creation of a lost world but a new création, I concluded, but a process of loss and borrowing, of constructing new forms, new expressions in a situation of oppression. It was a strategy of survival and resistance.
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Lorraine 1990: XX.
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Published and distributed texts: Vergès 2001a, 2001b, 2001c, 2003a, 2003b, 2005, 2006a, 2006b, 2007; Vergès/Marimoutou 2003/2005. Non-distributed texts: Vergès 2004, 2009.
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A series of events has triggered a revision of the centrality of the notion of creolization in my work. First the defeat of a project I had worked on for six years, the project of a postcolonial museum in Reunion Island, the Maison des civilisations et de l’unité réunionnaise (MCUR), in which the notion of creolization was central. It was not because the project was stopped and all archives erased that I thought that the notion of creolization needed revision, rather it was the necessity to understand why defeat had occurred. How should I understand the defeat of the project? If creolization was a strategy of resistance, why has it not mobilized greater dissent against the French policies of assimilation? Why besides repeated claims on Reunionnese special cultural mixing, new identities that focused on set boundaries had emerged? For instance, why the entry into Hindu temples, which in my childhood had been largely opened, was now forbidden to the »impure«? Why were vernacular Hindu temples destroyed and rebuilt to fit norms imported from India? Did the celebration of Hindu New Year, Chinese New Year, Muslim New Year, challenged French hegemonic cultural hold or was it the signs of a new management of difference in Reunion after the repression of the 1960s-1970s? Though I knew that cultural practices are dynamic, that the media and tourism have played a role in their refashioning, I felt that Reunion vernacular practices feeling endangered needed to withdraw from public space and the gaze of tourists, anthropologists, or journalists to survive. They were endangered by consumerism, tourism, by unemployment and by increasing inequalities. Yet, by going back to private spaces, they left the public space to formalized and institutionalized cultural forms. In 2012, the Reunion Tourist Board still spoke of »a magnificent petite France«3 bringing back colonial vocabulary. Was creolization sufficient enough to counteract new forms of assimilation in which certain non European, non Christian expressions were allowed and even financially and symbolically supported by the State or by local councils as long as they fit into the frame of »French multicultural republicanism,« i.e. respecting the model of the colonial exhibition, a pavilion for this part of the empire, another one for another part…? There were few sociological studies regarding the consequences of many generations going through unemployment, of the rapid mutations that the society had been through, the sugar cane industry now being in the hands of multinationals, accelerated urbanization, consumerism, increasing violence, illiteracy, consumption of alcohol, suicide… Among friends, we endlessly talked of the signs of jealousy and envy that were attacking
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www.reunion.fr/
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social life, of the daily violence against women,4 of the inconsistency of friendship – one day, someone will be your friend, the following day your enemy, and all this should have no consequence whatsoever on the friendship, i.e. you were expected to give your friendship easily. Betrayal did not seem to raise ethical questions. Further, readings on Indian Ocean formations such as Ocean of Letters: Language and Creolization in an Indian Ocean Diaspora (2009) by Pier M. Larson made me reassess my argument. In his book, Larson demonstrated that Creole societies had long remained multilingual, that Creole language did not erase the native languages of the enslaved. Malagasy slaves continued to use their language and some never even talked Creole, Larson illuminated. Hence, he challenged the trivial definition of creolization-as-mixing or créolité-as-hybridity (that had been my own) and insisted on a closer analysis of linguistic and cultural formations. After reading and listening to Larson, I could no longer hold my argument that borrowing and mixing was a strategy of survival or to be said to belong exclusively to creolization. Larson, who speaks and reads Malagasy, brought to the study of indiaoceanic formations a refreshing turn, emancipating studies on Creole societies from an approach that had privileged the role of European languages and culture in their creation. Larson’s work reminds us how much we work from our own biases, that the languages we speak and read narrow our access to archives and people. Concerning defeat and the argument that creolization is a stratgey of resistance, I wondered if creolization practices could contribute to political resistance? Coming upon Eric Hobsbawn’s remark that »nothing sharpens the mind of the historian like defeat« (quoted in Benasayag: 13), I wonder what I had learned, how my mind had been sharpened. Had I not idealized the processes of creolization? Had I paid enough attention to the desire for conformity, for fitting in the norms? Had not the desire to identify strategies of resistance, to construct a narrative of reparation in which the wounded narcissism of the oppressed can find consolation and solace, veiled the attraction to French assimilation, embracing a French discourse about multiculturalism, that had reconfigured the
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Every day, there are reports of violence against women. According to official statistics, 15% of women are victims of violence at home, one out of five is a victim of sexual harassment in the public space and at work. Comparisons are not reliable because the statistics bureau compares Reunion with the »metropole« that is with the whole Hexagon rather than with a French region experiencing similar problems: 60% unemployment among the youth, 37% unemployment among the whole population, 21% illiteracy.
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colonial model of »la plus grande France« by stressing the capacity of French culture to allow for some difference as long as it contributed to the celebration of the French Republic and Nation? Philosopher and psychoanalyst Miguel Benasayag has argued that we tend to underestimate the voluntary attraction to tyranny (ibid: 20). We have, he writes, »great difficulties to find alternative figures to the classical one of the ›Man‹ aspiring to freedom and by breaking his chains will be free.« This is because we confuse »lament with desire for freedom« but lament operates in a »closed circuit,« one »complains, one escalates in the description of horror for suffering« and what you miss is that what mobilizes the oppressed is a desire for the amelioration of their condition rather than freedom (ibid: 22). This remark harks back to a question that had dynamized my thinking, »how to think emancipation without idealization?« Was not creolization a form of idealization when the notion moves from describing a process of mixing, hybridization, inter-culturality, that can be ephemeral, transient to describing a permanent process as in Édouard Glissant’s claim that the whole world is being creolized? It would not be fair to reduce Glissant’s theory on creolization to that claim. Creolization, he stated, applies not only to Creole societies but also to the future of the world in which active and accelerated contacts and exchanges are occurring (cf. Glissant 2012).5 The dimension of unpredictability, of the unexpected, is central and distinguishes creolization from »métissage« where the outcome is predictable. Creolization requires, Glissant argued, that the cultures that are put in relation value each other, that there is no degradation or diminution of the other. Critics have pointed out that the outcome of »métissage« is not always predictable, that it is not clear what creolization brings that other notions do not, such as hybridity, contact, exchange, and that Glissant’s theory dismisses too easily what the capitalist economy which is intimately connected with the conditions that increasing contact produces, such as inequalities, destruction of the environment, predatory practices… With this contribution, I will take the risk of doing my own critical itinerary in a situation fraught with dangers. Yet, could I argue that I am taking a distanced view when I am speaking of so intimate matters—a personal defeat (even if it was also collective), family relations, friends? I am familiar with the academic opinion that »An outward perspective—still awaited—should allow a better analytic distanciation« with the Reunion situation – a position that ensures
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Glissant has extensively written on creolization, see Glissant 1990; 1996; 2007. See also Dash 1995.
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the self-identifying outward academic a privileged place.6 I do not think that there exists currently a position that will guarantee a »better analytic distanciation« in the case of Reunion. I think that there exist competing claims, divergent views and divergent interests.
M OORINGS In 2005, I published with Carpanin Marimoutou a manifesto entitled Amarres. Créolisations India-océanes.7 We wrote in a state of emergency. We had grown up in Reunion Island, both children of anti-colonial communists, raised among books, witnessing the violence and brutality of the French State supported by local thugs and the wealthy class, witnessing the politics of fear and fabrication of consent to dependency on France but witnessing also the richness of vernacular culture. The Reunion Communist Party had in its founding Congress of 1959 affirmed that the island had its own language, history and culture born out of resistance against slavery and colonialism, that the ancestors of Reunion people were Malagasy, African, Indian and Chinese as well as French and they would refuse to set up a hierarchy among them. Social and cultural movements around Reunionnese identity followed up. These demands were associated with the process of decolonization of the minds. In the early 21st century, these demands seemed accepted though through the form of cultural expressions that do not threaten the order of things. As I was regularly returning to the island in the beginning of 2003 after years of living elsewhere, I wondered what happened with the with the vocabularies of assilimation and Reunionese identity Anticolonial discourse had shifted towards »multiculturalism« and Reunion unique form of cultural mixing. Indeed, Reunion Island was uninhabited when the French settled there permanently at the end of the 17th century, making the island along with their colony of Ile de France (Mauritius) a port of call on the way to India, then a colony of slaves. To work on the sugar cane or coffee plantations, the French colonial power brought in larger numbers of slaves from Madagascar and
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This is the argument of Christian Ghasarian who writes that »Undertaken by researchers or students from mainland France or natives of the island, they mostly see the society as an integrated unit or a place of culturally distinct subcultures« (2012). It seems to me that methodology and the confrontation with divergent views is more appropriated to evaluate research than the »origins« of the researcher.
7
Translation as Moorings. India-Oceanic Creolizations. See: Vergès/Marimoutou 2011 and Vergès/Marimoutou 2012. Excerpts are taken from that translation.
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eastern Africa, in lesser numbers from India, Malaysia, or the Comoros Islands, also colons from France, indentured workers from India, China, Mozambique, Madagascar, Vietnam, New Caledonia. In the 19th century, during the mass migrations across the Indian Ocean, migrants arrived on the island from Gujarat, Bengal, South China and settlers continued to arrive from France and Europe. Though the Catholic Church sought to repress other religions, Afro-Malagasy beliefs and practices remained alive, and coexisted with Islam (Sunnis in the 19th century and in the 20th, Shiites and Ismailis) Hinduism and Buddhism. At the end of the 20th century, evangelical churches completed the landscape. In summary, Reunion Island appears as a perfect case study in creolization. It was the anti-colonial Left which had operated the shift to the vocabulary of harmonious mixing. The latter was presented as going against the French discourse of assimilation, celebrating multiple cultural contributions and putting them on equal footing. It also went against local racism that targeted Hinduism, Islam and Afro-Malagasy beliefs and practices. In the 1960s, the State had sought to discipline these practices. Maloya, the music created by slaves and indentured workers, was never performed on the radio or in public space. Rather Séga, a music also performed by slaves but much more integrated into (or favored by) the colonial society, was played for dancing, on the radio and was recorded in studios. To the anti-colonial Left, in the forty years since the first expressions of Reunion culture associated with the process of decolonization appeared in the public space, progress had been made and they even talked of an irreversible turn: Reunion had reached a level of mixing that nothing could undo. The discourse on a unique form of creolization became thus associated with hybridization and creolization. It even affected advertising. As an Internet webpage put it: »Since the development of tourism in the 1970s, the image the island tries to project to the outside world is that of a multicolored society where people with different ethnic backgrounds live together peacefully.« (Ghasarian 2012) The image of a society unique in its making became common place. »Réunion has one of the most ethnically mixed populations on the planet. Most notable of all, however, is the most unusual religious mix, where an individual can be a member of two religions for example Catholic and Tamil or Catholic and Muslim. This spiritual mish-mash is linked closely to the island’s history.« (Goutier 2008) Christophe Tézier, editor-in-chief of one of Réunion’s two leading newspapers, believes that »the mixed race harmony is very real. Mixed race marriages are commonplace. Even if there are very closed Pakistani and Chinese communities and a degree of isolation on the part of certain Arab women and the occasional white family.« (Ibid) To Paul Vergès »Réunion has gone beyond the stage of cultural diversity and is now an intracultural society. The
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whole population is aware that various cultural elements from Africa, Asia and Europe have been integrated.« (Ibid) Tourist sites prefer to describe the island’s scenery: »Reunion is a little known gem. This rocky, French-governed island off the coast of East Africa is easily explored by Les Cars Jaunes, yellow buses that link main settlements. The road into the mountains provides breathtaking scenery.«8 »Reunion Island offers vacation opportunities ranging from relaxing to truly insane. If you’re looking for a place to ›chill out‹, you’ll find it here. But if you’re the kind of vacationer who prefers an adrenaline rush over a sunburn, the possibilities are endless.«9
For Carpanin Marimoutou and myself, cultural, social, political and economic mutations in Reunion Island had triggered questions: what had happened between the 1960s and 1970s, years of local struggle worded in anti-colonial, antiimperialist vocabulary, in an island where the practices and politics of resistance were connected to the larger world, and the 1990s and its vocabulary of métissage, of Reunion as a »model of harmonious multiculturalism for the French Republic«? The publication in 1989 of In Praise of Creoleness by Jean Bernabé, Patrick Chamoiseau and Raphaël Confiant, in 1992 of The Black Atlantic by Paul Gilroy, encouraged us to clarify what we saw as Reunion singularity. Questions raised by these readings added to the questions raised by my regular returns to Reunion Island starting in 2003 as well as the research I had done on diasporic networks in the Indian Ocean and on Chinese restaurants in African port cities, or the work I had done in 2002 as Project Advisor for Platform 3 »Créolité and Creolization« of Documenta XI curated by Okwui Enwezor, Curator of Documenta 11 and which had brought together writers and artists who engaged with the notions of Créolité and Creolization.10 The work of the anthropologist Jean Benoist was central for our reflection (cf. Benoist 1979; 1982; 1983; 1990;
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http://www.tripadvisor.com/Tourism-g293826-Reunion_Island-Vacations.html
9
http://www.reunionisland.net/
10 Project »Mapping a Contact-Zone«, 1999-2001 and »A Corridor of Cities«, 20012004. The proceedings of the Platform were published by Enwezor/Basualdo/Bauer et al. 2003. The platform brought together Derek Walcott, Nobel Price of Literature, Dame Pearlette Louisy, General Governor of Sainte Lucia, Virginia Pérez-Ratton, Ginette Ramassamy, Carpanin Marimoutou, Robert Chaudenson, Jean Bernabé, Annie Paul, Petrine Archer-Straw, Stuart Hall, Gerardo Mosquera and Isaac Julien.
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1992)11 He had combined a sociological and economic approach to his anthropology bringing to the study of processes of creolization in the French Antilles, in Mauritius or in Reunion, a pluri-disciplinary dimension that was often lacking in works about Reunion society. We conferred first regarding our motivation for composing this text: »One might say that everything has already been said on questions of Reunion, métissage, the intercultural, and other cultural cross-overs, and that we could only go over the same ground, but less effectively. There would be nothing to add, or at least very little. Do we have the capacity to renew all this, or should we wait for the ›next generations‹ who would naturally be identified with the ›new‹? The need to write this text emerged as a response to several things: the increasingly significant presence of artists and culture in the Reunion landscape, and the questions arising from that presence; the new interest taken by Paris in these Reunionnese artistic developments; the lack of thinking about them; the superficiality of public debate; the aggressively masculine ethic of the Reunionnese discourses on art, culture, politics, and the social; new questions and new practices arising from the profound changes of the last thirty years; and the need to take part in the postcolonial debate.« (Vergès/Marimoutou 2012: 2)
We were wary of the analysis that constructs two homogenous worlds, metropole (France) vs. the island. We had always witnessed local reactionary conservatism. Of course, the French State had its responsibilities concerning the Reunion situation but what about movements that were not mimicking French reactionary movements but were born of colonial racism, of the need to protect one’s economic and cultural interests? Why was the middle class so silent about dependency, expressing its resentment in ways already analyzed by Frantz Fanon, blaming the people, its couth, its vulgarity and its complacency with welfare. It was true that »welfare colonialism« had been exercising its hold on the population but what about the middle class, constituted in its great majority of civil servants who, thanks to a colonial rule, are being paid up to 50% more than their counterparts in the Hexagon, for the same job, the same responsibilities? Who was more dependent? We suggested a »we« that will »avoid cultures of recrimination, the mythologization of history, self-referenced identity or the fundamentally static notion of identity and choose responsibility, the present, the heterogenous and creolization. This is a ›we‹ which remembers the past but is not
11 See all his bibliography at: http://classiques.uqac.ca/contemporains/benoist_jean/ benoist_jean.html
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enclosed there; it is situated in a genealogy of struggles for justice, equity and democratization.« (Vergès/Marimoutou 2012: 5)
Creolisation was described as »not an accumulation or a sum of differences. It has the dynamism of an unfinished process that is subject to mutations and loss. It borrows mimetically and creatively. It has no problem with putting down roots, because a root is not necessarily stultifying, if it is a mooring that allows us to move on more easily. We do not idealize movement. Mooring is a relation that accepts the link, that has no fear of submitting to meaning, to desire, and is happy to let things go.« (Vergès/Marimoutou 2012: 34)
It referred to »a philosophy of borrowing, forgery, imitation, and a dynamic of patching up, making do, of fixing up, of mending […] This is a dynamic of alterity where we see no alienation or submission, rather a creativity of a world subject to continual conflicting inputs […] All social groups and individuals are constituted by a network of borrowings, debts and recreations.« (Vergès/Marimoutou 2012: 35)
The notion of »moorings« prevented us to idealize the process: »The idea of monoculture no longer makes sense, if indeed it ever did. Creolized people have a long experience of the intercultural, or of the negotiation between marked contrasts and a constant doubt about resolving them into one fixed set of practices. It is a fragile space, always on the edge. One can easily fall on the side of ethnicization or assimilation. Creolization is not the only model of cultural contact, and is not looking to set itself up as such. We do not know what will emerge from current globalization. Creolization is one of the products of different globalizations, and as such it offers a contribution to the debate. For us it represents the moorings which, going out from the island, attaches us to other islands and continents.« (Vergès/Marimoutou 2012: 38)
In Reunion, the manifesto went without any discussion or debate. It was barely read either at the local university or by the population at large.
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M AISON
DES CIVILISATIONS ET DE L ’ UNITÉ RÉUNIONNAISE
In 2003, I started to work on a project launched by the local Regional council, the Maison des civilisations et de l’unité réunionnaise (MCUR). Funded by the Regional council (for 2/3), by the French State and the European Community, it was an ambitious project whose cost was finally estimated at 60 million euros. It was terminated in April 2010 following the victory of its opponents at the Regional Council: the team of twenty young Reunionnese was dispersed, objects, publications and archives disappeared from public access. The arguments against the project concentrated around the cost, the scientific program and the fact that I was the daughter of the president of the Regional Council. It was more justified, the opponents argued, to spend the amount for housing or jobs, the scientific program was pitting »Blacks« against »Whites«, and as the daughter of the president, I embodied a »dynasty« that was threatening democracy, that sought personal enrichment with no concern whatsoever for the people.12 The opposition was fierce. It used tools at its disposal very effectively: creation of associations, intervention in the medias, the law, petitions, relentless personal attacks… Retrospectively, it is clear that our counter offensive was weak, but also that support was not always strong within the majority at the Regional Council. The project was scrutinized like no other project had been, or currently is, and we wanted that scrutiny since we wanted to build a project from below. The MCUR cultural manifestations were largely followed by the population and we had the support of school teachers, cultural associations and artists. We sought to work differently in a society where the workplace is organized along rigid and formal hierarchy and where sexual harassment is rife. We had hired young Reunionnese, some without the »baccalauréat«, it was important to train a local team that would manage the MCUR after its opening. During weekly meetings we evaluated our work. An important part of our activities was working with the public and with schools, listening to their needs, their desires, theirs reactions to our program. We explained the principles of the architecture, Reunion had no oil, thus it was essential to build without relying on AC and artificial light, to use trade winds and the sunlight, to integrate nature in the building since »nature« in Reunion has always played a central role in the imagination and the ways in which human settlement had been thought (high and steep mountains, tropical forests, the ocean, hurricanes, active volcanos…). Yet, nature had also been shaped by slavery and colonialism, forests had been destroyed to make room for sugar cane
12 Anyone interested in the vocabulary of this campaign can look at webpage www.zinfos974.com
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plantations, roads had been constructed to facilitate the transportation of sugar to the docks. More recently, nature had been reconfigured to answer to tourism, new territories had been invented (the »wild south«), a natural reserve was created. Creole houses were renovated celebrating a »Creole way of life,« like in the South of the United States or in the Caribbean where housing for slaves and domestics was hidden. The Left and the Right agreed on this reinvention of tradition. There was a consensus on a vision of Reunion as specific, harmonious or plural insofar as the economic and social order were not challenged. Was it then possible to build a museum informed by Anti-colonial, Cultural, Subaltern, Visual, and Postcolonial Studies in this context? Though it must be noted that once elected, the opponents never used the budget that had been allotted for jobs or housing, the central fact remains that the project died. Working on the scientific and cultural program of the MCUR, Carpanin Marimoutou and myself reflected on the issue of cultural identities. We wrote: »The notions of hybridness, creolization, métissage, trans-cultural and inter-cultural have been advanced to help grasp what is different, to think in terms of the interactive space of encounter. Identity does not rest on an unmoving base, it is a response to situations, moments, in which more than one memory, more than one vocabulary, more than one representation, more than one identification structure confront one another. We have to recognize the complexity and contextualization of forms of representation and identification. These remarks apply to the Réunionese people, produced by French colonization because here there was no first people, no pre-colonial era. French colonization built the territory where the Réunionese population was formed, this uninhabited island in the Indian Ocean. Faced with colonial racism, the dehumanization of slavery, colonial exploitation, the violence of slavery, of engagisme (indentured labor) and colonialism (and mind you: the colonial status lasted until 1946), the Réunionese people created a culture, a language, conceptions of the world, of space and time. Yet this culture was not until recently recognized in its specificity. At the same time we should beware of the pitfalls occurring elsewhere in comparable situations of cultural, linguistic and political ›diglossia‹: freezing tradition and the past as pure, insisting on the difference and overlooking some regressive, sexist sides of customs and traditions.« (Vergès/Marimoutou 2006: 24)
We first wondered what it meant to build a museum on an island without local resources with value on the global market such as oil or diamonds, where inequalities had been increasing. We had noticed the emergence of new cultural identities which were appropriating colonial categories to transform and subvert them. These new identities have been diversifying the nomenclature by reclaiming a singular origin and a special place in the historical narrative of Reunion
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Island and in its contemporary society. To be of Kaf (African), Malbar (Indian), Sinwa (Chinese), Zarab (Musmim) or Pti Blanc’s (European)13 descent has taken a new dimension. This movement occurred on a postcolonial terrain with its racial and class hierarchy. Studies have regularly revealed many disparities between the public and private sectors. While working equates to receiving a salary, it is also about being part of a social network. It is through their jobs that people meet other people, make friends and have the satisfaction of accomplishing their work, and getting a job well done. The rate of unemployment on Reunion Island has put a large part of the population into a precarious social situation. The need to be treated with dignity and respect is a constant demand. At one of the first meetings we held with a group of women classified as ›poor‹ informed us that one of the most painful things they perceived in their lives was the fact of being treated with disregard wherever they went. Being seen as ›poor‹ led them to be badly treated, misinformed and badly received. How had the processes of creolization helped the oppressed? Could vernacular practices resist in a society dependent on the French State? In a society fascinated, like others around the world, by consumerism? In two decades, the old style boutiques had disappeared giving way to commercial malls with huge parking lots. Shopping malls have become places for conducting business, social exchanges and being seen. The roads are lined with large billboards, which extol everything that consumers can possibly wish for, and everything that will make the consumer a fashionable person. Magazines and advertising propose a standardized representation of the things to have. The large majority of Reunionese want to have access to new technologies and consumer goods. Mobile phones have proliferated: the most recent figures put the number of cell phones at 900 000 for a population of 802 000 inhabitants (2009). Service and advertising companies have sprung up. Reunion Island has its own ›people‹, its own Miss pageant, its own festivals… A whole section of culture has been institutionalized. Consumption deeply changed social and cultural practices. Alcoholism, for instance, was transformed, as the researcher Patrick Pongérard has shown, by new consumary practices (cf. Pongérard 2008). At the end of the 1950s, local consumption of alcohol was 8 liters/inhabitant (15 liters at the time in the Hexagon) whereas it was 23 liters/inhabitant in 1970. Why these data and what do they have to do with our discussion? Because I think that it is impossible to discuss cultural identities and practices outside of
13 These Creole terms are reworked. Among the Malbars, some have suggested the term »Indo-French« and some reject the Creole term (Zarab for instance). But, as in any other situation, self naming is contextual and dynamic.
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social patterns. To Pongérard, the consumption of alcohol expresses the continuum of social violence, »History teaches us that the local production of rum rests on the sacrifice of the weakest who are excluded from society by the very system that had exploited them for generations.« Alcohol is the intimate friend of a system that perpetuates the brutal marginalization of the Reunion population. Being shut up and being ostracized adds to the same postcolonial dynamic. Creolization cannot be analyzed without the policies of acculturation, the hegemony of French language, the brain drain (90% of all Reunionnese with a university diploma leave the island), the dependency on French economic policies, the lack of moral and intellectual courage. We wondered: »How can creolization processes be represented, performed, visualized? How can slavery, engagisme and colonialism be shown? How can the physical, human, economic and political constraints that shaped the island of Réunion and its inhabitants be staged? How can a culture arisen from constant contributions of waves of voluntary or forced migrations to a territory where there was no first, pre-colonial culture be visualized? How can the struggle against a colonial system backed by despotism, brutality, force and contempt, be told? That is, what visual forms are there for showing the life and cultural practices of a slave, a maroon, a freedman, a master, an engagé? What visual forms are there for representing the everyday life of a small planter, a worker, a washerwoman, a female civil servant…?« (Vergès/Marimoutou 2006: 34)
I suggested to take as a starting point the idea of a »museum without objects«. Rather than looking for the lost object, trying to fill a gap, we began with the following challenge: »If there are no objects, how do we imagine a museum without objects?« The object could not be central. The European museum has been built around the object, authentic, with a value given by anthropology or history. Non Western countries imposing a new reading on the object so that the latter (African masks, Inuit sculptures, Aborigines’ paintings…) was seen as legitimate as a sculpture or painting by a European artist. Yet, considering our own situation, we thought it better to start with an accepted absence. No vernacular object before 1848 has survived (and we wish to underline: there was no collection of testimonies of slaves after the abolition of slavery. No one (freemen, abolitionists, Writers…) thought of collecting oral testimonies of the freed slaves. The voices of 60 000 women, children and men who won their freedom on December 20th 1848 with the abolition of slavery were never recorded. Their voices survived in oral literature, songs, poetry, and also in police and trails reports, but no direct testimonies remained. Archeological work is in its infancy and so many popular vestiges (cemeteries, calbanons housing slaves and engages, popular
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neighborhoods, boutik sniwa…) have been destroyed or been overbuilt in recent years and it was doubtful we could recover much. Philippe Dubé of the University of Laval, Quebec, in his paper »About cultural transmission compared to experience« at the symposium Mémoires, Museum of Civilization of Quebec (2003), explained: »Today we rush to name everything and that makes us invent neologisms, especially in the vast field of studies on culture. Mediology and museology increasingly appear to be new fields seeking to pierce the ›mystery of culture‹. Now, with their contribution, we tend to believe that regarding cultural transmission, we should focus on the means that allow it. Among these, the museum is identified as one of the vehicles of culture par excellence that works on the long term allowing to link culturally the sequence of generations that time separates. There is a sort of unanimity about this, the museum acts as a powerful and solid vehicle of the cultural legacy […] The museum is viewed here as one of the new kinds of media […] From that point of view, the recent experience of Canadian museums contributes new material with the development of the dialogical dimension of the museum.« (Quoted in Vergès/Marimoutou 2006: 42)
In Réunion we had to take into consideration an economy of catching up and of urgency. This demand to catch up and its vocabulary stemmed from anti-colonial struggles and the discourse of progress. They were based on the acknowledgment of facts: malnutrition, wretched condition of the infrastructures, nonapplication of labor legislation, extremely brutal employers, racist schools and churches… In 1946, Aimé Césaire, Raymond Vergès and Léon de Lepervenche denounced in their declarations what could be summarized as »the state of neglect of the population«14 and the rule of the colonial oligarchy and its henchmen during the debate on the end of the colonial status at the National Assembly. Equality was the key notion in the struggle for social and political emancipation. This notion, arisen from Enlightenment and the French Revolution, assumed a special dimension in the colonies where inequality was an organizational principle based on race. The demand for equality expressed in the colonies was a demand for social equality (application of the social and labor legislation). It was expressed as well as a demand to catch up, and the anti-colonial movement was the first to emphasize its urgency. In the 1960s, under the pressure of unrest, the
14 The declaration of the representatives of the »Old Colonies« (post-slavery colonies) can be found in the Archives of the French National Assembly, debates on the law transforming the colonies of Guadeloupe, Guiana, Martinique and Reunion into French departments. See http://www.assemblee-nationale.fr
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State adopted the expression »catching up«, adapting it in its own way. Since then that notion and its representations have become the framework and central issue of every discussion. This economy of making up for lost time met several demands: of the State, of elected representatives, of the population. In just a few years »providing« became the key issue. The gap between the different worlds in Réunion – haves and have-nots, those who have a permanent job and those who have a temporary one, those who work and those who don’t –, the legacy of a colonial system, a deeply unequal development, all this legitimated this »catching up«. However, the notion has also locked us inside a rhetorics of urgency. Catching-up rhetorics induce to forgetting historical complexities and legacies. Owing to colonial history, that lasted officially up to 1946, owing to a certain amount of denials including during the contemporary period, the issues of remembrance or heritage are essential in Réunion insofar as they question the dominant story, personal or group stories, ideological or fanciful reconstructions, the desire for roots or genealogies…You cannot talk about remembrance and heritage without replacing them within the frame of heritage and debt. Gérard Collomb has pointed out that the museum, »having the responsibility to assemble, show and after all sanctify« a heritage that seeks to be »shared«, tends to marginalize »cultural and linguistic heterogeneousness« that contributes to the multiplication of »identitary constructions, sometimes competing and confronted« (quoted in Vergès/Marimoutou 2006: 51). There are two pitfalls that must be avoided: the illusion of a harmonious life and that of pure, protected origins. Postcolonial critique insists on the transculturation of forms and practices. Far from embracing the approach to multicultural managerialism, it seeks to represent lines of contact, exchange routes and trajectories, creolization, mixtures of memory traces. It insists on the need to visualize new maps of the past and the present where Europe does not speak in the name of others, does not shape their lives and territories, to restore the history of the men and women who have no »archives«. The role of the French republican State has been fundamental in the constitution of the archive in France, it took over that role from the Church and in creating it contributed to found the concept of Nation. The colonial archive played a role in the construction of the national archive, that of representing the greatness of the republic in its self-proclaimed »civilizing mission«. In this it made a discriminatory selection and eliminated the voices and views of the colonized population. The latter, as Michel Foucault pointed out regarding criminals and the insane in France, only appeared in police reports and notarial accounts. They were represented and reinterpreted from a law-and-order point of view. The colonial archive tells about the life of the notables and by its rhetorical devices
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builds stereotypes, the category of the anonymous, the voiceless, the cultureless, the knowledgeless. An entire humanity was banned from the colonial archive. Works and days, joys and griefs, loves and sorrows, festivities and mournings, everything that forms the texture of a life was erased. An enormous job lies ahead. An archeology of the archive, of the colonial discourse and its orders will exhume the murmur of voices, the texture of the lives of the anonymous from the dust of the colonial archive. As Chérif Khaznadar, director of the Maison des Cultures du Monde, commenting Michel Leiris, questions: »How can we grasp what is in motion without risking to fossilize it?« (Quoted in Vergès/Marimoutou 2006: 59) How can we represent and showcase the non-material culture that is so important in Réunion? The material heritage – the island itself, factories, fishing ports, docks, houses, forests, ruins, ravines, stations, sacred places– should be preserved, but the way this preservation is carried out should be discussed. Did we want to just save them from destruction? Turn them into tourist attractions? Give them back a social context? All that at once? We knew how difficult it is to transform a place, a building into a heritage: it can lose its soul, become a consumer item. The creation of the Museum of Robben Island in post-apartheid South Africa raised relevant questions for us: who does Robben Island belong to? To the prisoners? To the Muslim community of Capetown for whom the island was a pilgrimage site? How can its political dimension be preserved? When the number of visitors began to grow and the company in charge of the site wanted to open a shop, »The Original Robben Island Trading Store« with souvenirs and T-shirts, the former prisoners were upset at the idea the island was being turned into a commodity. The shop was rejected but the question remained: how can the site be preserved as a living remembrance place and prevent its history from being erased? Can Robben Island be allowed to become a place where visitors come for a picnic without knowing anything about what it once was, a prison of torture and exile? Even the fact of putting fresh paint on the walls, making the place »bearable« was criticized. Visitors could be induced to believe the place was not so bad after all… In Réunion, the Stella Matutina Museum raises similar questions: nothing has been left of the atmosphere of a sugar mill, the noise, the filth, the hierarchy, the struggles, the social relations, it has all been erased. The visitor learns how sugar was processed, who worked in the factory, but the space has been separated from its social and cultural environment. True, the aim of the project was an industrial museum, but revised notions on the museology and museography of industrial sites developed since then enable to analyze the limits and problems of the sheer technical conception of industry. The train stations of Saint-Denis, of
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Saint-Pierre have also lost every historical and cultural reference, their social history has been evacuated. Most of the sugar factories have been dismantled, the sheds neglected or torn down, the fishing ports abandoned for marinas where there is no social life… Beyond a preservation that has become urgent, the following approach should guide our reflection: context is essential for providing meaning. Sugar cane as an object is meaningless, it is the entire world around it that gives it meaning for the island (the figures: slave, engagé, farm worker, planter, overseer, woman in the fields, servants in the homes of the factory manager or the factory engineer; the sites: Chinese store, temple, church, factory manager’s house, factory…). The boutik sniwa (boutique chinoise = Chinese store) is a remembrance in that it is both a family place and a social place. A reflection on buildings, industrial remnants, sites of popular memory could not avoid a reflection on the habitat and architecture. The vernacular architecture of the past has disappeared; what remains are popular »Creole« style houses built forty, fifty years ago, and houses of wealthy Whites reminiscent of colonial houses all over the world. Bidonvilles (shanty towns) and their organization of the space (private vs. public, spaces for animals, for plants) have been torn down before visual and audio recordings had been done of the lives of their inhabitants (there are few notable exceptions). Popular neighborhoods have been gentrified. The mutations and deep transformations of society, its need for housing and all the facilities that go with it (schools, day care centers, playgrounds, stores, movie theaters…) radically altered the landscape and lifestyles. The clash between these mutations and these needs led to the creation of the »lambrequin Creole house«, a neo-Creole style. This invention of nostalgia produces Disneyland-style or folkloric town centers. The pull between modernization and nostalgia leads to a fictitious model of an illusory »art de vivre«, a desire to embellish the environment and a falling back on conventional forms. As a result, architects and planners either forgot or folklorized vernacular forms they were unable or unwilling to adjust to modern requirements. But they were equally (also at the same time) unable to invent new forms so they chose conventional solutions. Where the Japanese architect Shigeru Ban, pleaded for an architecture with simple materials but perceived differently, the Creole house in itself cannot be an architectural tradition; it cannot be transposed as it is, in the constraints and situations of the modern world. If the change from shantytown to social housing was hardly ever designed in a dialogue with the inhabitants, the time would have come to reflect on the materials and forms of a third-millennium architecture in a densely populated, increasingly fragilized island. The material culture world is caught between revised colonial forms (elite Creole architecture) and metropolitan urban models. The creation of new forms of habitat should be drawn from
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the encounter between vernacular inventions that allow for natural air conditioning and flow, a balanced relation between plants and housing and postmodern proposals. We concluded on the following remarks: 1. 2.
3.
The existence of a feeling of shame, the lack of publicly asserted pride that vernacular knowledge is knowledge. Too often when these knowledges have been collected the sourcepeople were not associated nor their contribution acknowledged. Hence a legitimate sense of not recognizing themselves in the restitution and of having been looted. The textual and visual collecting media (documentary films, DVD) often still lack conceptual tools for replacing this knowledge and their expressions in a comparative and theoretic framework. Most of the time they are merely a description in words or images.
Jean-Aimé Rakotoarisora, Director of the Museum of Antananarivo, indicated in the seminar organized by the ICOM (International Council of Museums) and devoted to the non-material heritage (2004) that the »methodology should essentially be founded on a real dialogue with the concerned communities, the only holders of this wealth« (quoted in Vergès/Marimoutou 2006: 70) He added that if it is a duty to preserve the heritage, we will have to question our right to use it since »the immaterial is one of the last ramparts of our respective communities against all the forms of aggression their leaders exposed them to, sometimes with the passive complicity of the international agencies supposed to help them in their everyday life. Do we have the right to deprive them of this protection?« (Ibid) So it is essential to realize that the collecting process for restitution threatens to transform the meanings of the items and practices often linked to the private, family or mystical space. Starting from an absence led to revisiting the notion of the object and then integrate what exists (the trace of the object, a reconstruction…) within that approach. Thus, the object is treated as a trace whose meaning emerges from a scape. I suggested the notion of a »museum without objects.« Expressions of creolization are living practices that coexist with formations and configurations of other cultural practices. It is not quite enough to say that practices are flexible and fluid, it is important to explore why they are adopted and developed, what meaning their practitioners give them. Then, what to show? And how to show it? Was not a certain chronology necessary? If we started from the time and space
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of the Indian Ocean rather than from French colonization time and space, did not we reconstruct origins? The Indian Ocean is the oldest sea space humans shaped into a space of exchanges: a 5000-years history, when the Atlantic (as a space shaped by humans) is 500 years old and the Pacific 2000 years old. For the Malagasy historian Solofo Randrianja, the Indian Ocean »contains several historical zones, to borrow Fernand Braudel’s expression. At one time or other in the history of the rim, each civilization tried to exert control over the Ocean and the circulation of wares and men, therefore boosting decisive elements for the interpenetration of cultures. This process led to the formation of exchange networks that lasted several centuries. From a historical angle we should speak of globalizations that led to regionalizations.« (Randrianja 2000)
Towards the fourth-six centuries A.D., Prof. Randrianja claims, »the southwest part of the Indian Ocean gradually entered a time world characterized and defined by one or more dominant poles. Control over communication and exchange networks was often a source of contest. Circulation within a world system was built on the basis of processes of polarization and tensions undergoing transformations.« (Ibid) Its expanse, the many seas that form the Indian Ocean as well as their coasts15 make it, more than any other ocean, deserving the name of crossroads of civilizations, materialized by the existence of what Paul Ottino called fringe civilizations 16 that thrived in various islands and archipelagos.
15 In all, 55.526 kms of coasts. 16 Research on Madagascar confirmed the validity of the concept of fringe culture introduced by P. Ottino in the Indian Ocean world. This concept highlights métissages, syncretic processes spawned by movements of people, wares and ideas over the centuries. Far from being a mere blending of cultural elements of various origins, these syncretisms are actually organized – Malagasy examples prove it – in an original process in each society under examination, in keeping with contributions and outside exchanges but also with power struggles within the societies. Concurrently, for the Malagasy area, obviously a number of societies present »a resemblance« and offer the appearance of a certain continuum (Beaujard 2003: 88). The »fringe culture« concept was introduced by the historian A. H. Johns for coastal populations of Java, to explain the syncretic facts that mark a fair amount of Indian Ocean rim cultures, cultures diffused by traders and sailors. Cf. Ottino, 1974a, 1974b.
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The Indian Ocean connects six worlds: Eastern Asia, Southern Asia, the Muslim world, Africa, Europe and the islands. Arabs, Chinese, Malayans and Indians shared the knowledge of the ocean. Marco Polo pointed out that in the fifteenth century Chinese maps were far more accurate than European maps. Exchanges between China, India and Africa preceded the arrival of Islam in the seventh century. In the 10th century the travels of the Chinese fleets to the eastern coasts of Africa constitute a nodal moment: up to thirteen ships each with 1000 men made the trip. These expeditions culminated with those of Zheng He, the great navigator of the Ming dynasty, just before the Forbidden City banned travel.17 The arrival of the Muslims in the Indian Ocean transformed the space. They instituted networks of merchant capitalism. The majority of the population on the Ocean shores converted to Islam, which meant that a large amount of transoceanic trade was controlled by Muslims. Conversion to Islam was more a process than an event, that is, Islam did not seek to forbid vernacular practices. Its arrival led to the creation of the Swahili culture (early eleventh century). A trading capitalism was set up, with bank credit, accounting, organization of supply and demand, trading posts…Cosmopolitan cities arose (cf. Barendse 2002). Traders were protected by the rulers (kings, local potentates…) for whom they were a source of wealth. Kiri N. Chaudhuri, the great Indian Ocean historian, insists on this long history that radically challenges the Eurocentric story of globalization and capitalism: »Capitalism as a commercial activity was widespread in the Indian Ocean« and migratory movements in India and China followed the developments of the economy, he has argued. Of course there existed inequalities and tensions but the point here is to underline the long history (la longue durée) of a cultural space with its ruptures and transformations. Europeans did nothing more than adopt these routes of production, exchange and finance. They did not create them but they introduced commercial monopoly in a world based on free capitalistic exchange, and they accelerated and intensified the slave trade. Randrianja wrote in 2000: »Even today the Indian Ocean continues to contain the most important sea routes connecting the Middle East, Africa, Asia, with Europe and America. In particular a large part of
17 See Pearson 2004. Menzies 2002. The book features a handsome reproduction of the famous Chinese painting showing the giraffe offered by an African king to the Ming Court in the early fifteenth century.
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crude oil and its by-products extracted from the wells in the Persian Gulf and Indonesia transit through it.« (Randrianja 2000)
The historical study of this contact zone reveals the permanency of a regionalization in which geography, history and culture interact to give rise to an awareness and a reality beneficial to diasporas and institutions. These exchanges undergo external and internal evolutions in which we can observe the formation of districts, recomposing new territorial shapes within globalization, as Charles-Albert Michalet remarks (2002). This region also experienced more than one globalization: that of pre-European empires and that of European empires, produced by slave trade and slavery, each with its types of informal economy. Defined from this angle, the Indoceanic space no longer appears to be a homogeneous space, at least its potential homogeneousness disappears in the differences that characterize its components. We argued that in our program the Indian Ocean was a cultural space of encounters and exchanges between areas of civilization. Réunion belonged to that oceanic space with a long history as a cultural space of contacts and conflicts. Its population came from societies which were already mixed, which were not waiting for the »whites« to land on their shores. Showing these networks before the arrival of Europeans and since then would help replace the island in a broader, more complex space. The place of origin was not the place of lost purity. It was a place of culture, with a social, political and economic organization. The individual was a member of a group, whether it be of Picardy peasants, inhabitants of villages of Mozambique, villages of Southern China, Southern India, western Madagascar... Bits of Europe, Asia, Africa that had met and these bits and pieces of culture in contact with one another never remain intact. Nor was the native place the place of an elite: it would be reductive to represent India as the Moghul Court, France as the Court of Versailles…The place of origin was already a place of interculturality, crossed by conflicts and tensions. History was always the history of interculturality, conflicts and exchanges. In the 2007 essay I contributed to the volume edited by Charles Stewart, Creolization. History, Ethnography, Theory, I still argued that creolization was a useful and fertile concept to describe and analyze the society of Reunion Island. As Charles Stewart reminded us in his introduction, »The concept of creolization has a rich and varied history stretching back to the sixteenth century.« (Stewart 2007: 1) In his review of the debates about the notoriously slippery concept of creolization, Stewart concluded that, »Ideas sometimes stick around on account of the problems they create rather than solve« (ibid: 19). Yet, if debates »over
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what exactly constitutes creolization will yet be with us for some time to come« (ibid: 20). At this point, it should be clear that creolization had been central to my work and that the need to reassess that centrality occurred following observing and analyzing new situations. Creolization in French slaves’ colonies had emerged when all groups were in a way or another in a condition of subalterneity. The dominant group was a tiny minority, whose domination was of course supported by the colonial state. The latter distributed almost equally its brutality and racist contempt on these groups. In other words, there was a feeling of shared experience rallying the groups against a racial system. Once, the power released some of its cultural hold and started to accept cultural difference, digested and packaged under ›multiculturalism‹, to fund and support some of these expressions, the experience of colonial domination lessened and left room for competing for scarce funds and social recognition. Political and cultural resistance found again refuge in the margins. Was marginality a condition for the dynamic invention of creolization practices? Then, did they need to be called creolization or did they need to be studied in their context of emergence? Further, though Creole language and expressions are vital for societies like Reunion society, they do not constitute a terrain to challenge power if they are not connected to a political project of social emancipation. Finally, contacts do not necessarily lead to creolization, they can lead to segregation, soft multiculturalism, indifference to the other’s practices and expressions. There exists no spontaneous desire for mixing. Borrowing is not always the expression of loving the other’s cultural forms but can also express a good sense of marketing. If the problems raised by creolization encourages us to explore and research processes of contacts and exchanges, then it is useful. However, I think that greater attention to the economic conditions of living is required. In Creole societies, creolization occurred under conditions of inequalities, violence and brutality, in a hierarchy of culture. The conditions of emergence of Swahili culture born out of the encounter between Bantu and Arabs seemed to have occurred under more different conditions – no wars of conquest, no regime of colonial occupation. Yet, current conditions of renewed predatory forms of economy, of increasing inequalities, land-grabbing, attack on vernacular cultures, on minorities, of increasing power of multinationals and finance, can we still hold that creolization is the future of the world without thinking how to preserve and expand rights, to counter the power of States and finance capital? Frederick Douglass once said that »power concedes nothing without a demand. It never did it never will.« (Douglass 1985: 204) The world is getting more and more fractured and in this world, unpredictability, which Glissant associates with creolization, is »most
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of the time brutal and terrible.« (Roy 2010: 93) Passengers towards unknown lands, we will invent practices and processes of struggle as we move on.
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Coolitude M ARINA C ARTER UND K HAL T ORABULLY
Die erzwungene Diaspora afrikanischer Sklaven hat eine veritable Medienindustrie generiert. Die Bilder des angeketteten Mannes, der misshandelten Frau und des geraubten Kindes haben unsere Aufmerksamkeit Jahrhunderte lang gefesselt. Die Dehumanisierung der Sklaven wirft ihren Schatten über nachfolgende Generationen, über deren Versuche, ihre eigene Geschichte aufzuwerten wie sie sich in der Négritude-Bewegung zeigen. Die Anerkennung schwarzer Identität berücksichtigte jedoch nur unvollständig die ethnische Komplexität von PostAbolitionsgesellschaften, die sich in der Karibik und im Indischen Ozean entwickelten. Créolité, Antillanité und Indianocéanisme gehören zu den ethnisch eher inklusiven Bewegungen, die sich bildeten, um die Négritude weiter zu denken. Der Dissemination indischer (Zwangs-) Arbeiterschaft im Britischen Imperium während des 19. Jahrhunderts fehlt dagegen bis heute ein bestimmendes Element. Um diese Lücke zu füllen, wurde das Konzept der Coolitude entworfen, das die besonderen Merkmale arbeitsvertraglicher Migrationsströme beschreibt und zusammenfasst; ein Phänomen, das moderne Nationen wie Mauritius, Trinidad, Guyana und Fiji entscheidend geprägt und andere beeinflusst hat, wie zum Beispiel Guadeloupe, Martinique, Ost- und Südafrika.
V ON
DER
N ÉGRITUDE
ZUR
C RÉOLITÉ
Die Anfänge der Black Studies schreibt man schwarzen US-Intellektuellen wie W.E.B. Du Bois und Booker T. Washington zu. Aktivisten wie Marcus Garvey nahmen ihre Arbeit auf, und ihr Widerstand gegen Diskriminierung und Ungerechtigkeit gaben dem ›schwarzen Bewusstsein‹ einen neuen Schub. Négritude ist das frankophone Äquivalent, welches 1934 mit dem Erscheinen
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von L’Etudiant Noir durch Aimé Césaire, Léopold Sédar Senghor und Léon Gontran Damas seinen Anfang nahm. Senghor unterstreicht explizit den Einfluss der Harlem Negro Renaissance-Bewegung der 1920er Jahre auf die Négritude: »le mouvement de la Négritude – la découverte des valeurs noires et la prise de conscience pour le Nègre de sa situation – est né aux Etats-Unis d’Amérique.« 1 Négritude wurde im Nachhinein als eine »theory of the distinctiveness of African personality and culture« definiert. Die Bewegung und die sich daraus entwickelnde Arbeit »took as its territory not only Africa but the whole of diasporic African culture.« Dennoch wurde die Bewegung als »both essentialist and nativist« kritisiert, denn Négritude impliziert, dass alle Menschen schwarzer Abstammung unveränderliche, essentielle Charakteristika teilen würden: »What made the Négritude movement distinct was its attempt to extend perceptions of the negro as possessing a distinctive ›personality‹ into all spheres of life, intellectual, emotional and physical.« (Ashcroft/Griffiths/Tiffin 1998: 161-162) Die Bewegung war ein wichtiger Sammelpunkt für alle, die sich als Opfer von Diskriminierung sahen, und die unterstreichen wollten, wie es Aimé Césaire in seinem Cahier d’un retour au pays natal schrieb, dass »aucune race ne possède le monopole de la beauté, de l’intelligence, de la force et il est place pour tous au rendez-vous de la conquête.«2 C.L.R. James kommentierte mit Blick auf Césaire und seine Arbeit, »Négritude is what one race brings to the common rendezvous where all will strive for the new world of the poet’s vision« (James 1980: 401). Unzählige schwarze Autoren in der Diaspora wurden von der Négritude inspiriert. In Mauritius sangen René Noyau und André Legallant zusammen mit Emmanuel Juste und Pierre Renaud »the echoes of black blood from Africa« (zit. n. Prosper 1978: 278). Édouard Maunick, ein in Paris ansässiger Mauritier, der, so Jean Georges Prosper »y trouva le masque de la négritude et l’éspousa«3, wurde von Senghor, der 1976 das Vorwort zu Maunicks Buch Ensoleillé vif
1
»Die Négritude-Bewegung – die Entdeckung schwarzer Werte und die Entwicklung schwarzen Selbstbewusstseins – wurde in den USA geboren.« (Zit. n. Chevrier 2003: 37, diese und alle folgenden Übersetzungen aus dem Französischen von M.P. & N.U.)
2
»keine Rasse besitzt das Monopol der Schönheit, der Intelligenz, der Kraft; für alle ist
3
»dort die Maske der Négritude entdeckte und sich dafür einsetzte.« (Prosper 1978:
Platz beim Stelldichein des Sieges.« (Césaire 1983: 57) 238)
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schrieb, mit folgenden Worten hoch gelobt: »peu de poètes nègres nous présentent une vision aussi neuve et profonde du monde que Maunick.« 4 In Les Manèges de la Mer beschrieb Maunick sich selbst als ein Produkt vieler Rassen, aber als einen »nègre de préférence«: »moi cet enfant de mille races pétri d’Europe et des Indes taillé plus profondément dans le cri du Mozambique reconnaissant les racines je me tais en signe de deuil sur la part non partagée je suis nègre de préférence.« (Zit. n. Prosper 1978: 239)
Der Einfluss der Négritude in der frankophonen Welt lässt sich aus der Tatsache ableiten, dass viele Autoren der Diaspora – nicht unbedingt selbst schwarz – es als ihre Aufgabe sahen, schwarze Musik, Kunst und Sprache zu beschreiben und zu rühmen. So sieht Senghor den mauritischen Autor und Künstler Malcolm de Chazal als afrikanischen Maler, und Chazal selbst hieß afrikanische Kultur in seinem Roman Petrusmok willkommen, mit den Worten: »le langage du Noir est allégorique, délicieusement symbolique, analogique et illuminé.«5 Danse Nègre J’ai préféré à tout système philosophique Ce piétinement sur la plage Cette ombre noire sur ce sable blanc Cette voix rauque dans ce soir doux. Edmée Le Breton, Ressacs, 1947.
4
»Nur wenige schwarze Poeten zeigen uns eine solch neue und umfassende Vision der
5
»Die Sprache der Schwarzen ist allegorisch, geschmackvoll symbolisch, analogisch
Welt wie Maunick.« (Zit. n. Prosper 1978: 240) und erleuchtet.« (Zit. n. ebd.: 277)
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La Vierge Noire Le noir serait-il beau Partout où il se trouve Excepté sur ta peau? Alain Le Breton, Insulaires, 1978. Während Maunicks Poesie »la douloureuse quête identitaire du poète et son aspiration à la liberté«6 hervorruft, hat sein Schreiben die Négritude als Ganzes nicht zu einer minder essentialistischen Haltung gebracht. Es waren Emmanuel Juste – der große Dichter der Métissage in den 1950er Jahren – und Marcel Cabon, die den Mantel der ethnisch inklusiveren Botschaft der Métissage aufnahmen. Genau wie die Black Pride-Bewegung7 wurde die Métissage bzw. eine gemischte Herkunft als Quelle von Stolz wiederentdeckt. Alain Le Breton, ein mauritischer Autor, beschreibt in der Erzählung La Terre et l’amour einen seiner Charaktere als Erbe einer Reihe von Qualitäten, die auf seiner gemischten Abstammung basieren: »Un brin de galanterie française s’alliait chez lui au puissant génie de l’Afrique.«8 Dans la mémoire du monde Le métis a la peau dure. Il n’a ni talons, ni dos. Dans la mémoire du monde Un fruit martèle rouge un panier de soleil. Emmanuel Juste, Mots martéles, 1976.
6
»die schmerzvolle Identitätssuche des Dichters und sein Verlangen nach Freiheit.« (Fanchin 1993: 53)
7
Black Pride bezeichnet summarisch Bewegungen, die das ›Schwarz‹-Sein von einem Stigma zu einer Quelle des Stolzes machen wollten (Anmerkung der Übersetzerinnen).
8
»Ein Tropfen französischer Galanterie verband sich bei ihm mit dem kraftvollen Genie Afrikas.« (Zit. n. Prosper 1978: 275)
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Alain Lorraine war ein weiterer Vertreter der Négritude in Réunion, von wo aus auch Jean Albany in den 1950er Jahren, ursprünglich von der gleichen Insel, aber wohnhaft in Paris, das Konzept einer einzigartigen Inselkultur weiterentwickelte. Er schuf den Begriff Créolie, welcher für ihn Folgendes repräsentiert: »le paysage mental qui le rattache à son île et l’art de vivre qu’il en a hérité.«9 Der Begriff wurde für spätere Dichter zu einem Symbol; einer von ihnen, Gilbert Aubry, veröffentlichte 1978 die Hymne à la Créolie. Für ihn liegt die Créolie »dans la recherche et le respect des racines propres aux divers groupes, c’est l’ensemble qui prend les cultures des quatre horizons pour en faire son trésor et son partage quotidien«10. Schon früher versuchten Marius & Ary Leblond11 »l’intimité des races et des âmes de colons et d’indigènes«12 darzustellen. Sie schrieben interessante Kurzgeschichten mit den gewöhnlichen Archetypen des kolonialen Romans, von denen La Marche sur le feu ein gutes Beispiel für das Thema der Faszination und Abstoßung des Coolies ist. In Mauritius entwickelte sich ebenfalls, von der Négritude ausgehend, durch die Schriften von Jean-Georges Prosper die Vision einer kreolen Gesellschaft, in der Diskriminierung nicht mehr vorhanden wäre. Mit den Worten Anil Dev Chiniahs: »l’apocalypse prospérienne révèlera le martyre nègre, […] le martyre créole […] La prophétie annoncera la fin de la discrimination raciale et l’émergence de l’identité négro-créole, grâce à la dignité reconquise.«13 Prosper, der Lyriker der mauritischen Nationalhymne, kämpfte mit Cabon, Chazal und Hart den intensiven, idealistischen Kampf für ein Treffen der Kulturen und teilte mit ihnen das Bedürfnis über kulturelle und ethnische Grenzen
9
»Die mentale Landschaft, die ihn mit seiner Insel verbindet und die Lebenskunst, die er von ihr geerbt hat.« (Joubert 1993: 51)
10 »In der Suche und in dem Respekt der eigenen Wurzeln unterschiedlicher Gruppen, es ist die Gesamtheit der Kulturen der vier Kontinente, um aus ihnen eine Kostbarkeit und ein tägliches Teilen zu machen.« (Zit. n. ebd.) 11 Hinter diesem Pseudonym verbergen sich zwei Autoren, die beiden Cousins Georges Athénas (1877-1953) und Aimé Marlo (1880-1958). Sie gewannen 1909 mit ihrem Roman En France den Prix Goncourt (Anmerkung der Übersetzerinnen). 12 »Die Intimität der Rassen und Seelen der Siedler und der indigenen Bevölkerung.« (Leblond 1926: 64) 13 »Die Prosper’sche Apokalypse wird das schwarze Martyrium, […] das kreolische Martyrium enthüllen […] Die Prophezeiung kündigt das Ende rassischer Diskriminierung an und dank der wiedererlangten Würde die Entstehung einer negro-kreolen Identität.« (Chiniah 1982: 60)
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hinauszugehen, um eine authentische Mauritische Kultur zu entwickeln, wobei gerade Hart darauf bestand, der französischen literarischen Tradition outreFrance anzugehören. Prospers Dichtung vermischt unterschiedliche Einflüsse auf einer kosmischen Ebene und seine kreolisierte Négritude transportiert ergreifende Andeutungen von einer neuen Mauritischen Identität, die hier am Werk ist: »Carrousel des races et des civilisations maintenant immobilisé. Réar étant descendu de son char spatial, est entré dans le nirvana auréolé d’un matin blanc.«14 Emmanuel Juste und Édouard J. Maunick verkündeten, dabei auf den Reichtum mauritischer kultureller Métissage verweisend, dass die Nachfahren der Immigranten – also alle Mauritier – die Mission hätten, das Konzept des ›Exils‹ im Mutterland zu propagieren: »Nos aïeux venaient tous de quelque part; nous avons pour mission de continuer leur exil dans un lieu devenu pays natal.«15 Dieses Konzept von Exil zeigte sich in der mauritischen Literatur bereits vor der Unabhängigkeit. Autoren wie Cabon und Chasle machten indessen Versuche, indische, afrikanische und andere kulturelle Referenzen zu mischen, um über ›Exil‹ hinauszugehen und ein enracinement (Verwurzelung) auf einer Insel herzustellen, auf der sich nationale Identität gerade entwickelte. Ihre Arbeit reflektiert zweifellos einen weiteren Schritt im Prozess der Reifung, sowohl auf der Ebene der Identitätskonstruktion als auch auf der Ebene der literarischen Entwicklung. Das Exil hat im neuen literarischen Verständnis zu relevanteren Fragen geführt, zum einen wie mit der vorliegenden kulturellen Varietät umzugehen sei, die in politischen oder sozialen Kämpfen verleugnet oder missbraucht wurde, und zum anderen wie in diesem neuen Land der Aneignung eine neue Vision kreiert werden könnte, die mit den modernen Bedürfnissen einer aus dem Kolonialismus auftauchenden Gesellschaft übereinstimmt. Autoren aus den indisch-ozeanischen Gesellschaften, unter der visionären Schirmherrschaft Camille de Rauvilles, gestalteten eine Bewegung, die als Indianocéanisme bekannt wurde und die die Zusammensetzung ihrer pluralen Gesellschaften reflektierte. Die grundlegenden Charakteristika des Indianocéanisme wurden wie folgt definiert:
14 »Das Karussell der Rassen und Zivilisationen ist nun ruhig gestellt. Réar, herabgestiegen von seinem Streitwagen, ist eingetreten in das strahlende Nirwana eines klaren Morgens.« (Prosper 1992: 139) 15 »Unsere Vorfahren kamen alle von irgendwoher; unsere Mission ist es, ihr Exil an einem Platz weiterzuführen, der unser Mutterland geworden ist.« (Maunick 1989: 7)
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• Hinduismus, Interesse an den Mysterien asiatischer Traditionen, Nirwana • Lemuria – der mythische Kontinent wie er von Jules Hermann aus Réunion,
• • • •
Robert Edward Hart und Malcolm de Chazal aus Mauritius visualisiert wurde Natur in den Tropen – flammend und blühend Rousseau’sche Re-Zivilisation Französischsprechende Gemeinschaft Gemeinschaft der Insel (vgl. de Rauville 1970) Enfant de corsaire, enfant d’esclave, descendant d’immigré, venu de trois continents, né sur une île de sang-mêlé et de sang-à-mêler. Raymond Chasle, L’Étoile et la clef, 1975.
Il aimait cette atmosphère du samedi soir, le va-et-vient des chalands, ces odeurs mêlées, – de poisson salé, d’épices, d’arack, (lui qui détestait tous les tord-boyaux), ces humbles commerces qui s’installaient sous le lafouche pour l’après-midi: les marchands de bazar, la vieille Minatchi qui vendait des pistaches grillées (et elle avait la bouche toute rouge de bétel), Soukdéo qui vendait des gâteaux-piments, le barbier... C’était le jour de la paye et Cassim était là, lui aussi, venu chercher l’argent de ses clients… Et ce braillard de Manilal, avec le bâton et le parasol,emblèmes de son rang, et la grosse montre qu’il tirait à chaque instant de dessous sa veste pour bien montrer son importance. Il était le sirdar, celui qui commandait au champ. Sirdar encore par les moustaches et le ventre. Dès qu’il paraissait, chacun en était averti à dix lieux à la ronde. Marcel Cabon, Namasté, 1965. Auf Martinique und Guadeloupe entstand Créolité als Antwort auf die Négritude-Bewegung. Die Bewegung begann 1989 mit der Publikation ihres Manifests Éloge de la Créolité (In Praise of Creoleness, 1993) durch die Martinikaner Patrick Chamoiseau, Raphaël Confiant und Jean Bernabé. Angeregt durch Édouard Glissants Idee einer Antillanité (Carribeanness), aber auch explizit nicht-karibische Inseln wie Réunion im Indischen Ozean einschließend, argumentieren sie, dass Karibische oder Kreole Identität gerade das Vermischen oder die Kreolisierung zahlreicher ethnischer Gruppen der Inseln meint. Sie behaupten, dass der Prozess der Kreolisierung die Karibik in der Weise markiert habe, dass keine einzelne Identität sich als dominant herausstellen konnte, trotz
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Frankreichs Politik der Assimilation. Nach Meinung dieser Schriftsteller muss genau diese instabile Identität kultiviert werden. Die Kreol-Bewegung war hauptsächlich mit der Übermittlung kreolischer Sensibilität durch die Literatur beschäftigt. Einige von Confiants Werken sind in französischem Kreol verfasst, welches selbst als Reflexion multipler kultureller und linguistischer Einflüsse auf den Inseln betrachtet wird, während Französisch aber die Hauptsprache literarischen Ausdrucks dieser Bewegung bleibt. Chamoiseaus Texaco (1992) vermischt Französisch effektiv mit Kreol. Auf thematischer Ebene versuchen die Schriftsteller, besonders Confiant, alle ethnischen Gruppen, die es auf den Kreol-Inseln gibt, zu repräsentieren und die Komplexität der Interaktionen zu beleuchten, die diese kulturelle Diversität mit sich bringt. Maryse Condé, auch eine frankokaribische Schriftstellerin, verblieb der Bewegung gegenüber distanziert, da sie ihr als zu karibikzentriert schien. Tatsächlich ist aber die Vision der Créolité tief im Kulturerbe der frankokreolen Karibik verwurzelt. Confiant zitiert eine Anekdote aus seiner Kindheit, wo ein Lehrer ihn warnte: »Raphaël, le créole est un patois de nègres sauvages et de coulis malpropres«16, um seine Überzeugung zu begründen, seine Muttersprache zu verwenden. Édouard Glissant hat gezeigt, dass die Métissage kultureller Formen zur Genesung solch verdunkelter Geschichten geführt hat. Er hat dargelegt, dass die Bevölkerungen der Neuen Welt durch die Dominanz des ›Anderen‹ nicht fähig waren, von ihrer sozialen und materiellen Umwelt Besitz zu ergreifen (vgl. Glissant 1997: 95-139). Diese kulturelle Domination beinhaltete auch einen versteckten Prozess schleichender Assimilation – einen Drang, den ›Anderen‹ nachzuahmen. Genau aus diesem Grund verweigerten frankokaribische Autoren explizit einen singulären ethnischen Ursprung und bevorzugten den inklusiven ›kreolen‹ Status: »Ni Européen, ni Africain, ni Asiatique, nous nous proclamons Créoles!«17 Die Charte culturelle créole aus dem Jahr 1992 »recognizes the existence of a Creole matrix that transcends the diversity of Creole languages and cultures […] [and] establishes a direct parentage between Creoleness and black identity, more specifically its Francophone version, Négritude« (Hookoomsing 1993: 32). In der Originalsatzung heißt es: »la créolité est le fondement et le prolongement
16 »Raphaël, Kreol ist ein Dialekt wilder Neger und dreckiger Coolies.« (Zit. n. Bayle 1994: 123) 17 »Weder Europäisch, noch Afrikanisch, noch Asiatisch, wir erklären uns zu Kreolen!« (Bernabé u.a. 1989: 13)
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d’une négritude authentiquement humaniste.«18 Indem sie die pluralistische Natur der Creoleness betonten, erkannten diese Autoren, dass nicht Klarheit, sondern Komplexität der Schlüssel ist. So erklärt Françoise Lionnet: »In the effort to recover their unrecorded past, contemporary writers and critics have come to the realization that opacity and obscurity are necessarily the precious ingredients of all authentic communication« (Lionnet 1989: 4). Vinesh Y. Hookoomsing konstatiert, dass »[t]he difficulty of attempting to grasp the concept of Creoleness lies […] in distinguishing between the dynamic process of contact and interaction and the resulting product , that is, Creole identity« (Hookoomsing 1993: 33). Diese kann von Insel zu Insel stark variieren. Auf Mauritius beispielsweise, wo mehr als zwei Drittel der Bevölkerung indischer Herkunft ist, wird die Tatsache des Sprechens von Kreol von einer ethnischen kreolen Identität unterschieden. Die geographische Verstreuung kreolischer Inseln und die sozialen Besonderheiten, die von diesen unterschiedlichen Orten herrühren, schließen kulturelle Ähnlichkeiten, die sie verbinden, nicht aus. Aufgrund ihrer dissonanten Charakteristika spricht der französische Anthropologe Jean Benoist von einem kollektiven Archipel inachevé (1972). Er fügt hinzu: »Si la constellation des îles Créoles était rassemblée dans un même océan, elle s’imposerait par le rayonnement d’une culture et d’une civilisation originale. Mais écartelée entre la Caraïbe, les terres d’Amérique et l’océan Indien, mêlée de façon ambiguë à bien des entrecroisements de civilisations, soumise à de puissantes forces centrifuges, elle évoque plutôt les restes d’un univers éclaté.«19 Creolization »The process of intermixing and cultural change that produces a creole society.«
18 »Kreolität ist das Fundament und die Verlängerung einer authentisch-humanistischen Négritude.« (GEREC 1982: 20) 19 »Wenn die Konstellation der kreolischen Inseln in einem Ozean versammelt wäre, würde sie sich durch ihr Strahlen als originale Kultur und Zivilisation behaupten. Aber aufgeteilt zwischen der Karibik, den Amerikas und dem Indischen Ozean, in vielfältiger Weise durch sich kreuzende Zivilisationen vermischt und starken, zentrifugalen Kräften unterworfen, erscheinen die Inseln eher als die Reste eines zerschlagenen Universums.« (Benoist 1972: 6)
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Diaspora »Diasporas, the voluntary or forcible movement of peoples from their homelands into new regions, is a central historical fact of colonization. […] The practices of slavery and indenture thus resulted in world-wide colonial disaporas […] The descendants of the diasporic movements generated by colonialism have developed their own distinctive cultures, which both preserve and often extend and develop their originary cultures. Creolized versions of their own practices evolved, modifying (and being modified by) indigenous cultures with which they thus came into contact. The development of diasporic cultures necessarily questions essentialist models, interrogating the ideology of a unified, ›natural‹ cultural norm, one that underpins the centre/margin model of colonialist discourse […] The most recent and most socially significant diasporic movements have been those of colonized peoples back to the metropolitan centres. In countries such as Britain and France, the population now has substantial minorities of diasporic ex-colonial peoples. In recent times, the notion of a ›diasporic identity‹ has been adopted by many writers as a positive affirmation of their hybridity.« Ashcroft et. al., Key Concepts in Post-Colonial Studies, London 1998, S. 58 & S. 68-70.
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INDISCHE D IASPORA NEU DEFINIEREN : C OOLITUDE
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Créolité »Eine Interpretation der Kreolisierung, die diverse Quellen vermischt und in ihrer Essenz ein unvollendeter Prozess ist, bei dem menschliche Gruppen ihre Geschichte und Konzepte vermischen.« Coolitude »Es ist unmöglich, die Essenz von Coolitude ohne die Übersee-Reise des Coolies zu verstehen. Diese entscheidende Erfahrung, die Coolie-Odyssee, hat eine unauslöschliche Marke in der imaginären Landschaft der Coolitude hinterlassen«. K. Torabully, »The Coolies’ Odyssey«, The Unesco Courier, Paris, October 1996, S. 13.
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Zusammen mit den Créolité-Autoren definiert Stuart Hall die diasporische Erfahrung als eine, die gekennzeichnet ist »not by essence or purity, but by the recognition of a necessary heterogeneity and diversity; by a conception of ›identity‹ which lives with and through, not despite, difference; by hybridity. Diaspora identities are those which are constantly producing and reproducing themselves anew, through transformation and difference« (Hall 1994: 402). Identität in der Diaspora wird deswegen nicht als statisch betrachtet, sondern als »subject to the continuous ›play‹ of history, culture and power« (Hall 1994: 394). Diese Definition ähnelt jener der Kreolisierung von Édouard Glissant, der dabei auch mit dem Chaos-Begriff operiert.20 Von einer individualistischeren Perspektive gesehen hat auch Parekh den Inder in der Diaspora als eine Person mit multiplen Identitäten definiert: »Different overseas Hindu communities, and within them different social groups, developed along different lines and evolved distinct identities that marked them off both from each other and their counterparts in India. Over time little and large ›Indias‹, each with a distinct history, social structure and mode of self-conception, sprang up all over the world. The diasporic Hindu was no longer a Hindu happening to live abroad, but one deeply transformed by his diasporic experiences. The Hindu diaspora then contains multiple identities, all sharing some common features but relating them differently and additionally having distinct features of their own.« (Parekh 1994: 617)
Die Relevanz der Créolité-Bewegung war, dass jedes ethnische Segment der kreolen Gesellschaft, ob afrikanischen, europäischen, indischen oder chinesischen Ursprungs, als essentiell für die Ausgestaltung einer »commune créolité« angesehen wurde. So stellte auch Burton fest: »L’indianité s’inscrit au centre d’une problématique de la Créolité, tant à cause des modifications qu’elle a dû subir en milieu créole que parce qu’elle a pu propager d’elle-même en ce même milieu.«21 Gleichzeitig hat die Größe der indischen Komponente in den unterschiedlichen Kreol-Gesellschaften in unserem Bereich unvermeidlich ein Maß an
20 Glissants Konzept des Chaos-monde verweist nicht nur auf Künftiges, sondern auch auf die Abgründe der Sklaverei als reale Chaos-Erfahrung. Vgl. vertiefend dazu Glissants Essay »Die Chaos-Welt. Für eine Ästhetik der Beziehung« (Anmerkung der Übersetzerinnen). 21 »Indianité ist im Herzen der Problematik der Créolité verwurzelt, aufgrund der Modifikationen, die es im kreolischen Milieu durchlaufen müsste, und auch aufgrund der Selbstverbreitung in diesem Milieu.« (Burton 1994: 211)
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Wichtigkeit bekommen, das an die Wiederherstellung einer indischen Identität geknüpft ist. Schnepel bezieht sich auf die 45.000 Inder in Guadeloupe und die neuesten Versuche der dortigen indischen Elite, ihre indische Identität oder Indianité wiederzufinden, wenn er fragt, ob die Entwicklung oder der Prozess der Reformulierung eines antillianischen nationalen Bewusstseins parallel zur Rehabilitation der ostindischen Komponente dieser Gesellschaften stattfindet, anstatt diese zu inkludieren (vgl. Schnepel 1993: 233).22 Die Schwierigkeit, die Inder in eine weiter gefasste karibisch-kreole Identität zu integrieren, resultiert zumindest teilweise aus einem historischen Antagonismus zwischen dem Inder, der als abhängiger Immigrant ankam, und dem Ex-Sklaven, den er auf den Zuckerrohrplantagen ersetzte. Der Inder wurde durchgängig als Lakai des Kapitalismus betrachtet, dessen Präsenz erzwungene, ungleiche Arbeitsverhältnisse fortsetzte und die Entwicklung eines unabhängigen Bauernstands verhinderte. Das Langzeit-Stigma, das dem Indo-Caribbean anhaftet, wurde von Jean Benoist gut zusammengefasst: »Longtemps stigmatisée par le fait d’être venue prendre le relais de l’esclavage, et d’avoir été ainsi la complice, involontaire mais complice quand même, de la permanence de la société coloniale après l’abolition de l’esclavage, l’immigration indienne a été à la fois étrangère, méprisée et fondamentalement exclue. Le temps de la Négritude l’a ignorée. L’Indien était le coolie […] socialement inexistant […] fondamentalement à l’écart.«23
Das negative Stereotyp des Inders in der Diaspora wurde teils von seinen populärsten Nachkommen aufrechterhalten. V.S. Naipaul, selbst ein Indo-Caribbean, nutzt die Figur des Ganesh in The Mystic Masseur (1957) um die indische Übersee-Mentalität aufzugreifen. Laut Naipaul ist der Inder in Trinidad »a complete
22 Coolitude kann von einer rein diasporischen Einstellung unterschieden werden, da es auf die Notwendigkeit verweist, das Zentrum abzuschaffen (z.B. das Bild von ›Mutter Indien‹, Indien als eine ultimative Referenz) und stattdessen das Gastland als anderes Zentrum annimmt. In dieser Hinsicht kann Coolitude mit postmodernen Konstruktionen von Identität verglichen werden, die auf Komplexität und nicht auf Monokulturalismus basieren. 23 »Lange Zeit stigmatisiert durch die Tatsache, die Nachfolge der Sklaverei angetreten zu haben, und so, wenn auch unfreiwillig, sich zum Komplizen der Aufrechterhaltung einer kolonialen Gesellschaft nach Abschaffung der Sklaverei gemacht zu haben; die indische Immigration war zugleich fremd, verachtetet und grundsätzlich ausgeschlossen. Die Négritude-Ära ignorierte sie. Der Inder, das war der Coolie […] sozial nicht existent [...] prinzipiell am Rand.« (Benoist 1998: 262)
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colonial, even more philistine than the white« und Ganesh tut seinesgleichen ab als »[a] peasant-minded, money-minded community spiritually static because cut off from its roots, its religion reduced to rites without philosophy, set in a materialist colonial society«. Naipaul sieht den Übersee-Inder als »peripheral« und die Hauptmotive, die sich in seiner Charakterisierung der Indo-Caribbeans identifizieren lassen, können als »destitution and derivativeness« beschrieben werden (zit. nach Singh 1998: 98). Naipaul und Neil Bissoondath, ein indo-karibischer Autor in Kanada lebend, sehen ihre insulären Geburtsorte als fundamental limitierend. Laut Bissoondath ist die karibische Geschichte »just a big black hole« (Bissoondath 1986: 97). Einer seiner Charaktere in A Casual Brutality lästert über »[s]mall places, places of limited scope, of brutal past, hesitant present and uncertain future« (Bissoondath 1988: 142). Die in Bissoondaths Büchern dargestellten Übersee-Inder sind fortwährend isoliert, sie leben in einem selbstauferlegten Exil, weil sie weder ihre Vergangenheit aufgeben noch die Gegenwart akzeptieren (vgl. Baxi 1998: 136). Der soziale Konservatismus und die augenscheinliche kulturelle Leere des diasporischen Inders, die von Naipaul und Bissoondath beklagt und anderen Autoren ebenfalls bedauert wurden, wurde von Salman Rushdie mit dem eher generellen Gefühl des Verlusts und dem Drang nach Beanstandung in Verbindung gebracht, welche unter Exilanten weit verbreitet sind. In Imaginary Homelands sagt er voraus, dass er und andere entwurzelte Migranten konstant nach dem Unwiederbringlichen streben: »we will not be capable of reclaiming precisely the thing that we lost; […] we will, in short, create fictions, not actual cities or villages, but invisible ones, imaginary homelands, Indias of the mind.« (Rushdie 1992: 10)24 Die Werke dieser Autoren, die die Zwangsarbeiter-Diaspora interpretieren, oder die selbst Nachkommen sind von einer dieser vielen »subaltern diasporic movements forced by colonial circumstances«, sind besonders von »cultural anxiety« (Natarajan 1993: xv-xix) und von Formen scheinbarer kultureller Fragmentierung geprägt. Dennoch, in der Praxis, ist der Eklektizismus, oder manche nennen es Chaos, dieses diasporischen Schreibens häufig zentral für die Bedeutung und Symbolik
24 Rushdies Beobachtung ist vergleichbar mit der Coolitude, welche den Nachfahren der indischen Arbeitsmigranten in Übersee als einen charakterisiert, der das Leben in einer neuen Heimat bereits akzeptiert hat und mit der primären Heimat (Indien) in Form einer kreativen Haltung gegenüber der imaginierten oder konstruierten Heimat interagiert.
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des Texts. Jain betont, dass die Dynamik von Sprache wichtig für den diasporischen Autor sei, der »often deliberatly disrupts his narrative to include words and expressions from his native language […] This strategy succeeds in large measure in defining generic boundaries« (Jain 1998: 17f.). Für Bakhtin ist die Sprache des diasporischen Autors selbst eine Form der Auseinandersetzung. Sprache ist doppelt akzentuiert und doppelt stylisiert, denn sie reflektiert die multiplen Identitäten des Autors. Anders formuliert, sie repräsentiert die Essenz und den Ausdruck des Konzepts der Hybridität, das selbst zentral im Diskurs diasporischen Schreibens ist (vgl. Bachtin 1981). Der Autor Khal Torabully hat bei der Formulierung des Konzepts der Coolitude diese sich abzeichnenden Traditionen des diasporischen Schreibens herangezogen. Seine eigene Forschung mit ihrer unverkennbar poetischen Vision geht über die traditionellen Definitionen von Kreolisierung und Indianocéanisme hinaus und beruht, zusammengefasst, auf zwei Säulen: »First, the reconstitution of a memory, which veers between an imagination drawn back to the atavistic homeland – Indianness as a set of inalienable values bequeathed by India since the beginning of time – and the constellation of signs spawned by the uneasy interaction of the exiled Indian’s values with the cultures of the host country. Secondly, the contribution of a poetics based on the Indian element and shaped by the fact that the coolie was chronologically the last arrival to contribute to the making of diversified societies.« (Torabully 1996a: 16)
Die Poetik der Coolitude – wie von Torabully definiert und ausgearbeitet – ist im Wesentlichen in zwei Bänden zusammengefasst: Cale d’étoiles, Coolitude (1992) und Chair corail, fragments Coolies (1999); weiter ausgeführt wurde sie in Palabres à parole (1996), einer Wertschätzung des Reservoirs an Zeichen, die dem Dichter zur Verfügung stehen, intertextuelle Referenzen von Exotismus zitierend, die poetisch neu definiert werden, um die Wichtigkeit von Sprachkonstruktionen und deren Dekonstruktion in der Coolitude zu unterstreichen. In Dialogue de l’eau et du sel (1998) erfindet Torabully eine nachdenkliche Poetik über die Geburt des Meeres und die mythische Erschaffung der Insel neu, während Roulis sur le Malecon, carnet de voyage cubain (1999) ein kraftvolles Zusammentreffen mit der Métissage von Kuba ist, wo ›psychische Métissage‹ auf des Dichters ersehnte Identität hinweist. L’Ombre rouge des gazelles (1998) schließlich ist ein Text über Algerien, verfasst in der großen Tradition arabischer Dichtung. Cale d’étoiles, der Gründungstext der Coolitude, wurde von Jean-Georges Prosper wie folgt beschrieben:
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»[…] une odyssée, une épopée d’envergure vient exorciser la douloureuse mémoire de l’immigration, de l’engagisme, à l’Ile Maurice, de l’Indien coolie! D’où l’écriture hallucinée, désaxée, d’un texte chargé de tragiques références, évocations et réminiscences; avec la prédominance de l’isotopie des tribulations indiennes de la deuxième moitié du XIXième siècle mauricien. Douloureuse mémoire reprise en charge par le poète dans une nouvelle pensée créatrice dénommée Coolitude, sorte de Négritude à l’Indienne.«25
Während Négritude und Coolitude viel gemeinsam haben, entwickelt Cale d’étoiles eine eigene Sprache, die unterschiedliche Visionen der Welt vermischt und sie zu Dichtung werden lässt. Khal Torabully verfällt niemals in eine essentialistische Philosophie. Er schließt indessen mit dem Exil ab und zeigt in Cale d’étoiles klar auf, dass der Schlüsseltext das »Book of the Voyage« sei, indem er der Schiffsreise eine essentielle Funktion in seiner Poetik zuweist. Sie ist zu verstehen als ein Ort der Destruktion und Erschaffung von Identität, die dem enracinement im Gastland vorausgeht und die selbst als dynamischer Ort der Diversität von Wahrnehmungen und Kulturen verstanden wird. Dieser Knotenpunkt wurde von Véronique Bragard, einer belgischen Forscherin, wie folgt erklärt: »Coolitude is not based on Coolie as such but relies on the nightmare transoceanic journey of Coolies, as both a historical migration and a metonymy of cultural encounters. The crossing of the Kala Pani constitutes the first movement of a series of abusive and culturally stifling situations. By making the crossing central, Coolitude avoids any essentialism and connection with an idealized Mother India, which is clearly left behind. It discloses of Coolie’s story which has been shipwrecked (›erased‹) in the ocean of a Western-made historical discourse as well as a world of publication and criticism.« (Zit. n. Carter/Torabully 2002: 15)26
Zweifellos ist die Coolitude das Lied einer vergessenen Reise. Aber es ist weit mehr: Die Odyssee des Coolies ist die ultimative Reise: Die Essenz der Reise
25 »[…] eine Odyssee, ein gewaltiges Epos kommt daher, um die unglückliche Erinnerung der Immigration, der erzwungenen Arbeit, des indischen Coolie in Mauritius auszutreiben. Daher rührt die halluzinierende, verschobene Schreibweise, Texte, die voll von tragischen Referenzen und Erinnerungen sind; mit einer dominanten Isotopie des indischen Leids im späten, mauritischen 19. Jahrhunderts. Schmerzhafte Erinnerung, die der Dichter in eine neue Form kreativen Denkens, genannt Coolitude, überführt, eine Art indische Version der Négritude.« (Prosper 1993: 218) 26 Vgl. hierzu vertiefend Bragard 2008.
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und die Essenz des Menschen. Die Anstrengungen des Coolies, seine Enttäuschungen und Hoffnungen sind das Echo einer universellen menschlichen Erfahrung. Créolité und Indianocéanisme werden, wenn sie mit der Coolitude in Zusammenhang gebracht werden, bereichert und neu definiert. Sie erhalten neue Bedeutungen und Perspektiven in unterschiedlichen Bereichen. Coolitude führt so zu einer erneuerten Einstellung, fähig, diesen Theorien neue Impulse und noch nie dagewesene Konfigurationen zu geben. Übersetzung: Miriam Pahl & Natascha Ueckmann
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»Dire la vie de façon kaléidoscopique« Entretien avec Khal Torabully sur l’écriture d’aphorismes 1
M IRIAM L AY B RANDER
Vous avez écrit une collection d’aphorismes sous le titre Jour sans fin qui n’a pas encore paru. Pour quand la publication estelle prévue? C’est un recueil d’aphorismes que j’écris depuis quelques années déjà, à peu près deux, trois ans. Le propre de l’aphorisme est que c’est une écriture par fulgurance, qui s’autogénère, qui se renouvèle d’une certaine façon dans la durée. L’aphorisme se caractérise par la brièveté et aussi par une vision soudaine. Et j’ai l’impression que cette sève d’inspiration n’est pas tarie. Je ne sais donc pas exactement quand le livre va paraître, peut-être dans un ou deux ans. Je ne suis pas pressé avec la publication parce que, quand on écrit des aphorismes, on n’écrit pas vraiment avec un caractère d’urgence. C’est un lent cheminement. D’ailleurs, on dit souvent qu’on écrit des aphorismes quand on marche, ce qui donne un rythme particulier. C’est peut-être un pas après un autre dans le réel. Et c’est une écriture qui n’est pas semblable à l’écriture, par exemple, d’un poème, qui est beaucoup plus développé et étendu. Encore moins l’écriture d’un roman. Quoique dans les deux types de textes on peut toujours trouver des éléments aphoristiques. Mais cela, c’est un autre débat.
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Je remercie Annelise Burmester de la transcription de l’entretien, qui a eu lieu le 30 juin 2011 à Berlin.
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Pourriez-vous présenter brièvement le livre? L’aphorisme me donne la possibilité d’avoir des portes d’entrée dans plusieurs types de réalités, de choses abstraites ou concrètes: cela peut être la nature humaine, cela peut être la nature, cela peut être des activités économiques, la relation avec la nature ou avec soi-même, cela peut être de l’humour, cela peut être des questionnements, ou des débuts de réponses sur l’amour, la mort, ou toutes les choses qui constituent la vie, la vie elle-même, la vie comme être seul ou la vie avec les autres. L’aphorisme ouvre à peu près toutes les portes. Il peut être de nature réflexive, de nature spontanée ou inspirée. Et j’écris aussi sur les sentiments, ce type d’écriture se prête aussi à cela. Il y a des sortes d’éclats de lucidité qui viennent parfois. Et un aphorisme est aussi un éclat de lucidité d’un langage à un moment précis. Les sujets sont donc très variés. C’est une façon de dire la vie, l’existence de façon kaléidoscopique, avec des fragments. L’aphorisme est tout aussi une façon de condenser des métaphores. C’est un procédé métonymique parce qu’on met fragment sur fragment. En sachant qu’on ne peut pas épuiser le réel. On ne peut faire que des tentatives de capture du réel. Chacun étend son arsenal, cela peut-être une scène à développer, type roman. Ou un développement dans un autre sens comme la poésie. Quand j’écris des textes poétiques, j’écris un poème sur cent pages, cent-dix pages avec tout un jeu de polyphonies, de constructions, d’étagements sémantiques, etc. Et avec l’aphorisme on a la possibilité de toujours renouveler ses sources d’inspiration tout étant dans un caractère un peu spontané. C’est une écriture beaucoup plus libre, mais condensée.
Qu’est-ce qui vous a conduit à écrire des aphorismes? C’est une longue histoire. Comme vous le savez, je suis né à l’île Maurice où la nature est extrêmement généreuse. Vous savez aussi que c’est là-bas que Baudelaire a découvert et expérimenté la synesthésie des sens avec ces chevauchements entre l’ouïe, l’odorat, l’audition, la vision, le sentir, le gustatif. Et je crois que c’est un terreau fertile à la poésie et aussi aux aphorismes. Et quand j’étais gamin, mon père, qui était imprimeur, a imprimé des journaux. Et l’après-midi libre je l’entendais souvent parler d’un monsieur qui s’appelle Malcolm de Chazal. C’était un monsieur assez fascinant, un peu hors normes. Beaucoup de gens, ne le comprenant pas, le prenaient pour un fou, d’autres pour un génie incompris. Et il écrivait des aphorismes. Il en a fait un recueil sous le titre Sensplastique (1945, 1947) et vous voyez bien ce que ce titre implique. C’est édité
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par Gallimard du temps-même de la belle époque des surréalistes français. Et quelque-fois on avait droit à des aphorismes de Malcom dans la presse. Il publiait un journal qui s’appelle Advance, qui était proche du parti travailliste, donc un peu à gauche, à l’île Maurice. Ce monsieur m’a toujours fasciné. Je me suis dit un jour que je ferai quelque chose sur lui ou comme lui. Vous savez, c’est le rêve des enfants qui écrivent. On est toujours fasciné par une figure tutélaire comme cela. Et je suis parti à Lyon en 1976. J’ai écrit un travail de thèse sur T.S.Elliot et ensuite j’ai commencé l’écriture d’un doctorat sur Malcolm de Chazal. Et mon directeur de thèse m’a dit: « Pourquoi est-ce que tu fais deux doctorats? C’est complètement inutile. Ben, il y a Malcom. Fais-en quelque chose d’autre. Fais une publication. » Et à partir de là, il y a la société littéraire de France Télécom qui m’a contacté. Ils faisaient un livre sur toutes les personnes qui ont travaillé à la Poste, qui étaient des créatifs. Malcolm de Chazal était employé dans les télécommunications et on dit qu’il passait son temps à écrire pendant son travail, peut-être des aphorismes. Peut-être c’est une façon de tricher plus rapidement avec son employeur – on écrit des choses brèves. En tous cas, quand j’ai lu Sens-plastique j’ai dit « C’est extraordinaire, cette capacité de dire beaucoup de choses en si peu de mots. » Et à partir de là, j’ai fait un film qui s’intitule Malcolm, le tailleur de visions (2000) pour mettre en relation cet homme avec son île. Parce qu’il a dit « L’île Maurice m’a tout donné. Et je n’aurais pas pu écrire mon œuvre ailleurs qu’à l’île Maurice » Et je peux comprendre pourquoi. J’ai fait mon film avec Sarane Alexandrian, que Malcolm de Chazal avait contacté. Et quand il y a eu une brouille entre les surréalistes français à ce sujet et que j’avais emmené Sarane Alexandrian à l’île Maurice, il sentait la lumière sur sa peau, voyait les formes des montagnes, les fleurs magnifiques, plein de couleurs, les feuilles généreuses, les fruits, et il m’a dit « Je comprends pourquoi Malcolm a écrit Sens-plastique ici. » Donc il y a d’un côté cette sensualité de l’île, qui est en moi, bien sûr, parce que je suis un insulaire, et de l’autre côté cette fascination que Malcolm a exercée sur moi.
Comment est-ce qu’on peut se représenter le film sur Malcolm de Chazal? Est-ce qu’il y a des aphorismes dedans? Le film commence par des aphorismes, trace la vie de Malcolm, sa relation avec son île, sa relation avec les surréalistes. Il y a Sarane Alexandrian qui intervient dans ce film et ensuite le film se termine par des aphorismes. Et les aphorismes que je cite de Malcolm, répondent à la question de savoir comment devenir un génie. Il y a le mot ‹chazalien› parce que souvent dans les aphorismes, il peut y
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avoir, comme chez Sacha Guitry, de l’humour. Des fois, de la misogynie, etc. C’est à partir de là que cette fréquentation je dirais « chazalienne », m’a donné le goût pour l’aphorisme. Et depuis que ce film a réhabilité Malcolm de Chazal à l’île Maurice, on m’a associé à la fondation « Malcolm de Chazal ». J’ai organisé une exposition sur Malcolm de Chazal à l’île Maurice et à Lyon, j’ai écrit des catalogues, le film a été montré. Et il y a maintenant des gens qui pratiquent les aphorismes à Maurice. C’est donc une écriture qui revient.
Pourriez-vous donner des exemples? Il y a Yusuf Kadel et Umar Timol, ce sont les deux que je peux citer, mais il y en a d’autres.
Passons à des questions génériques concernant l’aphorisme. Dans le titre d’un de vos livres de poésie Chair Corail – Fragments coolies (1999) vous utilisez le terme ‹fragment›. Etant donné que le fragment est souvent considéré comme aphorisme, est-ce que vous pensez qu’il y a une parenté entre la poésie et les aphorismes? Oui, il y a forcément une parenté. Pourquoi? La poésie est de nature fragmentaire. Même si dans la nature autothétique du poème, il y a une sorte de suffisance, il y a toujours cette relation métonymique (comme dans tout texte, je dirais) par rapport à un tout que cette poésie est sensée figurer, représenter, traduire. On est dans le monde de la métonymie, de la relation métonymique. C’est une écriture par fragments. Mon écriture de Chair Corail – Fragments coolies vient aussi du fait que j’aime beaucoup l’écriture du fragment comme marqueur d’une certaine rupture formelle, avec des canons esthétiques, classiques, souvent imposés par des métropoles. Fondamentalement, ma relation avec la langue, avec les identités, avec mon réel, c’est une relation fragmentaire. Parce que je suis considéré comme un être d’une périphérie par rapport à des centres fondateurs, de l’Europe ou d’ailleurs. Je renvoie donc un peu, si je peux dire, cette politesse en travaillant dans le fragment. Mais il y a une volonté polyphonique dans mon œuvre, c'est-à-dire, il y a des textes qui sont repris, amplifiés, chantés, contredits. Il y a un vrai travail de tissage d’un fragment à l’autre. J’écris en fait, un seul poème dans un livre. Et l’aphorisme procède d’une écriture poétique, parce que la relation avec la langue est marquée par une brièveté, par une
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fulgurance. J’aime beaucoup ce terme de fulgurance, parce qu’on a cette impression d’un surgissement du réel qui s’empare de votre être et quelque chose se pose de façon concentrée dans la langue. Le fragment, c’est un marqueur de la modernité. Vous voyez beaucoup d’écrivains actuellement étudier cette forme fragmentaire, inchoative, transitive même dans les récits, à plusieurs lieux, plusieurs espaces. Nous sommes dans la polylogie. Et l’écriture fragmentaire est une possibilité de démonter une réalité qui ne peut être saisie qu’en fragments. Je pense que les gens du sud, du moment qu’ils ont subi des histoires assez violentes avec la colonisation, battent en brèche cette notion que toute la réalité peut être dite ou par un centre ou par une périphérie. Il y a une modestie à avoir: on ne peut dire les choses que par fragments. Et tout cela est dans l’ordre de la négociation. Fragment plus fragment, on peut peut-être faire un cheminement vers « une totalité » que l’on veut appréhender. J’aime beaucoup cette notion fragmentaire parce que je crois beaucoup à l’archéologie de l’écriture, c’est-à-dire, sédiment par sédiment. J’avais pris cette image de Césaire que j’avais rencontré – c’est lui qui m’a inspiré ce livre Chair Corail – Fragments coolies. Et il m’a dit: « Ma négritude n’est pas une pierre. » Et j’avais dit: « Ma coolitude n’est pas une pierre non plus, elle est corail. » Et j’ai développé, à partir de là, la métaphore du corail comme base de la coolitude. Le corail, le plancton, c’est quoi? Ce sont des fragments qui vont faire concrétion quelque part, qui vont se déposer. Je m’éloigne et de la pierre de la négritude et du rhizome de la créolité. Parce que le rhizome demeure une racine que l’on ne peut voir que quand on l’extrait de son milieu naturel. Alors que pour le corail, vous pouvez plonger, avec respect bien sûr, dans son environnement. Et vous pouvez voir le corail vivant. L’aphorisme est fragmentaire. Il dit une chose à un moment précis, à une étape précise, et il n’a pas d’autre prétention que cela. Si je prends l’exemple de Malcolm de Chazal, il peut écrire des aphorismes en dix mots comme il peut écrire des aphorismes sur une page. Quand on écrit des aphorismes de dix pages, on voit comment le caractère de la pensée, l’aspect analytique l’emporte. Et l’idéal, c’est de laisser à cela son aspect fragmentaire. Malcolm de Chazal a voulu expliquer ses aphorismes, par exemple dans un livre qui s’appelle La vie filtrée (1949), qui explicite Sens-plastique. Et quelque part, cela a un peu détruit son œuvre pour moi.
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Vous avez décrit le caractère double de l’aphorisme qui est en même temps fragmentaire et unitaire. Cela nous mène à la question de l’archipel, de l’archipelisation. En effet, on observe dans les dernières décades une production croissante d’aphorismes dans les archipels. Je pense à Déwé Gorodé, Par les temps qui courent (1996), et aussi aux Affreurismes d’Umar Timol, que vous avez déjà mentionné. Est-ce qu’il y a, selon vous, une relation entre l’archipel géographique et l’aphorisme en tant que genre littéraire? Ou bien l’écriture des aphorismes, peut-elle être considérée comme expression d’une archipelisation au sens de Glissant? Si on pense à l’archipelisation, surtout vue d’un aspect géographique comme étant un élément de résistance, on peut, à ce moment là, rendre une fonction de l’aphorisme qui est presque une sentence, comme un violent coup de poing stylistique. Je pense que cette brièveté peut aussi procéder d’une volonté de ramasser son discours dans un minimalisme. Le minimalisme, Yusuf Kadel l’a pratiqué dans le texte poétique Surenchairs (1999) pour être en rupture justement avec les canons esthétiques. Dans mon cas précis, quand j’écris les aphorismes, je ne me mets pas dans une posture de contestation, ou forcément d’archipelisation, je me mets dans l’état de dire quelque chose que je ressens à un moment précis. Mais ce que je peux dire, c’est que par exemple chez Césaire, il y a une nervure aphoristique. On est dans l’ordre de la maxime, de la sentence pour réfuter quelque chose, pour contester quelque chose. Je voudrais aussi parler d’une rencontre entre Breton et Césaire. Breton avait écrit des choses extraordinaires sur Césaire en parlant d’un surréalisme originel. Le surréalisme a une empreinte aphoristique très forte. Vous avez l’écriture des rêves – l’onirisme. L’onirisme, c’est aussi des fragments, des rêves, une réalité rêvée. Donc l’aphorisme ne peut pas être plus développé que cela. Et pour le caractère « contestation-révolte », je pense qu’à un moment ou un autre, quand on écrit un texte, il y a une brièveté dans le travail- même de l’inconscient. Peutêtre l’aphorisme vient-il aussi signaler le fait que l’écriture a son propre travail chez l’écrivain et il y a surgissement, et il y a quelque chose d’écrit qui est de l’ordre- même du surgissement du réel, qui est de l’ordre de la parole. Peut-être il y a-t-il dans l’aphorisme beaucoup plus cette fonction, dans le sens lacanien du terme, de la parole comme marqueur de vérité. On est moins dans l’ordre du discours, sauf comme dans certains cas, où l’on explicite l’aphorisme.
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Pendant votre lecture hier et la discussion suivante, j’ai attrapé quelques aphorismes, comme « L’exil n’est qu’un mensonge pour nier le voyage » ou « Avant d’être homme nouveau, je suis homme en devenir ». Il paraît que les aphorismes parsèment votre pensée et votre manière de parler. Dans quelle mesure les aphorismes sont-ils plus qu’un genre littéraire, sont-ils une manière de penser? Je pense que de toute façon, on est dans un genre littéraire codé. Ce qui marque l’aphorisme, c’est sa brièveté. Et souvent la fin de mes textes condense quelque chose et peut avoir une épaisseur aphoristique. Parce que le poème vient se ramasser, se concentrer, dans ses dernières lignes, ses derniers vers. Et il y a forcément un peu de cette inspiration, de cette nature de l’aphorisme dans la poésie. Il est évident que, sans vouloir faire de l’aphorisme – c’est un peu comme M. Jourdain qui faisait de la prose sans le savoir – on fait des aphorismes. Et bien sûr sans se réclamer vraiment d’une écriture aphoristique. C’est l’analyse littéraire qui va dire après, « Tiens, il y a un aphorisme ici » et peut-être, le poète lui-même est étonné qu’il y ait un aphorisme. Parce que dans l’écriture poétique, on est souvent dans une sorte de lutte pour trouver un équilibre entre la musique et l’idée. Et le surgissement de l’aphorisme, sans le calculer, peut être un mécanisme scripturaire où beaucoup de choses se mêlent. C’est le mystère de l’écriture poétique.
Une dernière question concernant la structure temporelle des aphorismes. En général, les aphorismes sont écrits au présent et ils ne participent pas au temps linéaire de la narration, par exemple. Dans quel sens l’écriture des aphorismes peut-elle aider à échapper au temps linéaire et donc au régime d’une conception de l’histoire européenne? C’est une question très intéressante. Il est vrai que, quand on écrit avec une linéarité, on sent un peu un décalage, surtout quand on se projette dans une chronologie de l’histoire. (Il y a un déficit dans nos jeunes pays de cette chronologie historique vu qu’on n’apprend pas vraiment l’histoire de son pays. On apprend: nos ancêtres les Gaulois, l’empire britannique, la Révolution française, Pierre le Grand en Russie – c’est ce que j’ai appris. Et il y a un hiatus entre l’écriture et la mémoire historique, c’est souvent une bataille.) Et l’aphorisme, justement dans son aspect bref, fulgurant, est une sorte de concentré des temps. Ce qui est dit au
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présent, est valable pour le passé et pour l’avenir. C’est ce qui fait qu’il y a làdedans une sorte d’éclatement, d’explosion, de vision, de perspective. Il y a aussi un peu cet effet « coup de poing » que l’on peut avoir par exemple quand Malcolm de Chazal dit « La graine est le sac à mains des plantes ». On est dans l’abrégé de beaucoup de choses. Ou bien il dit « Les vallées sont le soutiengorge du vent. » C’est très imagé, visuel. En même temps, c’est toujours au présent, mais c’était vrai hier, c’est vrai aujourd’hui. Il y a cet aspect d’une « vérité ». Maintenant, c’est vrai qu’on n’est pas du tout dans cette logique narrative. On est plus dans une logique d’une transmission, d’une vérité qui vous traverse, que l’on découvre, que l’on explore. L’aphorisme est, pour moi, dans l’ordre du surgissement. Quand j’écris des aphorismes, il y a quelque chose qui me traverse. Peut-être encore plus fortement que le poème, parce que le poème vous écrit. L’aphorisme est une sorte de pétillance de vision, de langue. Et le fait même qu’on n’est pas pris par une sorte de travail sur la forme (par exemple, en poésie on a besoin de faire une prosodie, un travail avec l’aspect formel, les rimes, les contre-rimes. On peut aussi travailler avec une base d’alexandrins, contrevenir ces bases), fait que cela donne une liberté dans la durée même de l’écriture, d’échapper au temps de l’écriture et notamment au temps en général.
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Coca Cola und Coolitude O TTMAR E TTE
1. V OM A UFSCHREIBEN
DES
G LOBALEN
Im Verlauf einer in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts begonnenen und bis in die Gegenwart fortgesetzten Serie von Plastiken hat der 1957 als Sohn eines während der Kulturrevolution verfolgten Dichters in Beijing geborene chinesische Konzeptkünstler Ai Weiwei neolithische Gefäße, Vasen aus der Han- oder der Tang-Dynastie sowie verschiedenste Urnen mit dem in jeweils unterschiedlichen Farben gehaltenen Schriftzug der Marke »Coca-Cola« versehen. Diese sich über die Kernzeit der vierten Phase beschleunigter Globalisierung erstreckende Abfolge von Kunstwerken stellt ebenso durch den plakativ wirkenden Rückgriff auf das global icon1 des US-amerikanischen Getränkekonzerns wie durch ihre seriell wirkende Verfertigung zweifellos eine künstlerische Antwort auf Problematiken dar, wie sie im Zeichen der beschleunigten Globalisierung und des weltweiten Massenkonsums unserer Tage mehr denn je an der Wende zum 21. Jahrhundert virulent geworden sind. Denn wie anders ließe sich die Tatsache verstehen, dass sich der Schriftzug »Coca-Cola« allem aufprägt, dessen er sich zu bemächtigen vermag? Man darf gewiss der Einschätzung Lydia Hausteins zustimmen, die auch mit einem kurzen Seitenblick auf Ai Weiwei davon spricht, dass der »in China schon fast surreale Kampf der Kunst gegen die Stereotypisierung der Welt« sich auch in vielen »Sub- und Jugendkulturen Asiens« verstärkt finden lasse (Haustein 2008: 218). Wenn der Schriftzug von Coca-Cola mit seinem hohen Wiedererkennungswert längst in einem globalen Maßstab für eine Kultur und einen Lebensstil einstehen, der je nach Blickwinkel dem Westen im Allgemeinen oder
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Vgl. zur Geschichte von Coca Cola u. a. Exler 2006.
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den USA im Besonderen zugeschrieben werden, so gilt es freilich an dieser Stelle nicht zu vergessen, dass das von John Stith Pemberton in den 1880er Jahren erfundene Getränk, dessen Rechte 1888 von dem Apothekengroßhändler Asa Griggs Candler aufgekauft wurden, auf die dritte Phase beschleunigter Globalisierung zurückverweist, in deren Verlauf mit den USA erstmals – wie wir sahen – ein außereuropäischer global player die Weltbühne betrat. Nur eine dem Zufall geschuldete Koinzidenz mit dem hier vorgestellten Verständnis von Globalisierung als langanhaltendem, aber in unterschiedliche Beschleunigungsphasen zu unterteilenden Prozess? Sicherlich nicht. Der Aufstieg von Coca-Cola begleitet und symbolisiert zugleich den militärischen wie den ökonomischen Aufstieg der vereinigten Staaten von Amerika: 1892 wurde The Coca-Cola Company gegründet, 1893 die Marke geschützt, in der Folge mit der Belieferung der gesamten USA begonnen und ab 1896 die ›Eroberung‹ ausländischer Märkte in Angriff genommen. CocaCola ist eben weit mehr als ein Getränk oder ein Lebensgefühl. Dass der Siegeszug der US-amerikanischen Militär- und Wirtschaftsmacht und jener der Company im Grunde parallel verliefen, mag zu jener Gleichsetzung der Marke des Softdrinkherstellers mit dem vehementen, im Kriegsjahr 1898 kristallisierenden Expansionsprozess entscheidend beigetragen haben, die zu der bis heute in den Globalisierungsdebatten immer wieder zuverlässig auftauchenden Rede vom Coca-Colonialism geführt hat. Zwischen der Globalisierung und Coca-Cola gibt es ein wechselseitiges affektives Verweisungsverhältnis, das nachweislich historisch begründet ist und von Ai Weiwei für seine künstlerische Serie klug und wohlkalkuliert genutzt wurde. Und es mag sein, dass es überdies kein Zufall ist, dass es mit Ai Weiwei ein chinesischer Künstler war, der diese Serie in den neunziger Jahren begann, ließe sich China aus heutiger Perspektive doch mit guten Gründen als eine Macht begreifen, die eine entscheidende Rolle in einer künftigen fünften Phase beschleunigter Globalisierung spielen könnte. Der Rückgriff des chinesischen Intellektuellen, Aktivisten und Performers auf den weltbekannten Schriftzug impliziert unübersehbar eine zweifache Einschreibung in die im vorliegenden Band entfaltete Periodisierung der Globalisierung, werden dadurch doch offenkundig zwei Phasen beschleunigter Globalisierung miteinander in eine Verbindung gebracht, ohne deren wechselseitige Relationalität ein Gutteil der Geschichte des 20. Jahrhunderts unverständlich bleiben müsste. Die Aufschrift (der Ikone) des Globalen führt in Ai Weiweis Kunstwerken freilich zu einer doppelten Einschreibung, die eine klare Botschaft, eine unmittelbar verständliche politische Zuschreibung zu enthalten scheint. Unverblümter Antikolonialismus also?
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Sicherlich auch. Denn gewiss lassen sich die jahrtausendealten Urnen, Vasen und Gefäße, die Ai Weiwei mit dem Schriftzug des Coca-Colonialism versah, als eine direkte Kritik an einem Expansionsprozess begreifen, der vom Westen aus gesteuert die gesamte Welt mit ihren Lebensformen und Lebensnormen, aber auch mit ihren massenkulturell sich äußernden Interessen und Vermarktungsstrategien überzogen hat und weiter überziehen wird. Die runden, oftmals bauchigen Gefäße, die dem Prozess einer Auf-Schreibung des Globalen unterzogen werden, verkörpern gleichsam die Globalität eines Erd-Körpers, dessen Aus-ErdeGemacht-Sein zugleich in einer geschichtlichen, ja vor allem menschheitsgeschichtlichen Dimension zur sinnlichen Anschauung gebracht wird. So wird ästhetisch produktiv, wie sehr die Form der Erde – und damit auch der langanhaltende Prozess der Globalisierung selbst – von Menschenhand gemacht und geformt ist. Das Aufschreiben des Globalen, des global icon, erfasst sowohl den Raum als auch die Zeit, bemächtigt sich der Artefakte anderer Kulturen und anderer Zeiten, denen es seinen Stempel, seine Marke, seine Identität nachträglich aufdrückt. Das Aufschreiben wird zu einem Schreiben auf der Unterlage des Anderen, zu einem im Grunde gewaltvollen Überschreiben, bei dem das Andere freilich palimpsestartig präsent bleibt, wie sehr ihm auch physische Gewalt angetan wird. Gleichwohl: Das Andere wird aus westlicher Sicht zum Eigenen umgestempelt, wird zum Bestandteil eines Wirtschaftssystems gemacht, das allem den immer selben Maßstab – dieselbe Norm, dieselbe Form – aufprägt. Insofern enthält die Serie des chinesischen Künstlers fraglos die erkennbare Kritik an einem System, das auch und gerade den inter- und transnationalen Kunstmarkt selbst beherrscht. Denn wird dabei nicht das Andere – sagen wir hier: die chinesische Kultur – einfach einverleibt, zur bloßen Wertzuschreibung innerhalb eines weltweit operierenden Kunstmarkts herabgewürdigt? All dies ist richtig; und doch bleiben Ai Weiweis Kunstwerke nicht auf diese unmittelbar ablesbare, allzu plakativ aufgetragene Kritik beschränkt. Denn selbstverständlich bedient sich der Künstler selbst in seiner Serie eben dieser Marktmechanismen, die einen westlich beherrschten Kunstmarkt in der vierten Phase beschleunigter Globalisierung auszeichnen. Man darf in diesem Sinne sehr wohl von einem hintergründigen Rückgriff auf den Vorwurf des Coca-Colonialism sprechen, wird dieser doch im Aufschreiben des global Vermarkteten ebenso als Teil einer globalen Zirkulation von Waren und Wissen – und oftmals in der Form von wahrem Wissen – sichtbar gemacht. Die Urnen und Vasen tragen nicht nur die sie ergreifenden globalisierenden Prozesse zur Schau, sondern auch die Art und Weise, wie sie sich selbst unter produktivem Rückgriff
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auf diese Prozesse in Umlauf setzen und ihre eigenen Interessen und Ziele verfolgen. Wir haben es in der Konsequenz mit einer Kunst zu tun, die ihrerseits den globalen Schriftzug überschreibt, indem sie ihn für sich nutzbar macht, ohne damit doch das ihrer eigenen Schrift Zugrundeliegende auszulöschen, auszuradieren, vermeintlich unsichtbar zu machen. Es ist im Gegenteil präsenter denn je. Denn diese Objekte sind noch immer Behältnisse aus dem Neolithikum, aus der Han- oder Tang-Dynastie: Sie setzen ihrer Einverleibung in ein globales System des Kapitalismus Widerstand entgegen. Dieser Widerstand ist freilich keiner Ästhetik des Widerstands verpflichtet, sondern nutzt die Widerständigkeit des Ästhetischen, um dessen Vieldeutigkeit als ästhetische Widerstands-Kraft zu nutzen.2 Dies gilt auch und gerade für die Zirkulationsformen und die Zirkulationsnormen des Globalen. Denn auch hier erfolgt die Einschreibung ins Globale als ein Aufschreibevorgang, der ohne die globalen Medien – und insbesondere das weltweite Gewebe des Internet – kaum möglich wäre. Insofern ist in dieser Hinsicht die Bemerkung ebenso zutreffend wie zugleich unzureichend, dass es bei der Bemalung einer Urne aus der Han-Dynastie um »die Auseinandersetzung der chinesischen Künstler mit der Kultur und dem Markt des Westens« gehe (Herzog 2005: 43). Denn wir haben es hier mit Künstlern zu tun, die zu wahren Experten auf dem Gebiet weltweiter Kommunikation in real time geworden sind und insbesondere im Internet die Widerstands-Kraft des Ästhetischen – den eigenen Interessen und Zielen entsprechend – auf weltweit unübersehbare Weise vorzuführen verstehen. Nicht umsonst wurde Ai Weiwei im Oktober 2011 vom britischen Magazin Art Review an Nummer 1 seiner »Power 100«-Liste gesetzt und damit zum weltweit einflussreichsten Vertreter der Kunstwelt gewählt.3 Diese Wirkmächtigkeit seines künstlerischen Agierens ist auch in der hier besprochenen Serie sehr deutlich. Mag ihn die politische Führung seines Heimatlandes auch durch zeitweilige Inklusion dauerhaft zu exkludieren versuchen: Der Versuch einer derartigen Exklusion führt letztlich nur zu einer umso dauerhafteren Inklusion in die Machtsphäre einer transarealen Kunstszene, in der die Künstler ohne festen Wohnsitz längst schon ihre eigenen, einzelne Areas dynamisch überspannenden und querenden Heimaten gefunden, erfunden und lebbar gemacht haben.
2
Zum ästhetischen Begriff der Kraft vgl. Menke 2008.
3
Vgl. hierzu den Spiegel-Artikel unter http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/artreview-liste-ai-weiwei-ist-maechtigste-kunst-persoenlichkeit-a-791594.html.
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Wer immer sich heute mit chinesischer Gegenwartskunst auseinandersetzt, wird die Tatsache nicht ignorieren oder gar leugnen können, dass Internetauftritte und Blogs nicht nur bloße aktuelle Vehikel, sondern Ausdrucksformen und damit Bestandteile des künstlerischen Schaffens auch und gerade in China (wie auch anderswo) geworden sind. Als im Jahr 2005 im Reich der Mitte die erste Bloggerkonferenz stattfand, wurden viele Künstler von Sina, einer der größten Internetfirmen des Landes, dazu eingeladen, sich mit eigenen Blogs kreativ zu beteiligen. Viele nahmen diese Einladung umgehend an – darunter auch AiWeiwei, dessen erster Blogtext gelautet haben soll: »Um etwas auszudrücken, braucht man einen Grund – der Ausdruck ist der Grund.« (Zit. n. Burki/Zhenhua 2001: o.S.) Die Anerkennung dieses Teils des Schaffens als Kunst ist daher ein wichtiger Fortschritt, der zugleich verhindert, in Ai Weiweis Serie nur eine plakative und bestenfalls gut in Szene gesetzte Anklage eines weltweit allgegenwärtigen CocaColonialism zu sehen. Vielmehr wird diese Kunst selbstreflexiv, wendet ihr Aufschreiben des Globalen in eine Reflexion über die eigenen Verfahren der Globalisierung von Kunstwerken, deren virtuelle Existenz ebenso künstlerisch verdichtet ist wie die Materialien und Gegenstände, deren sie sich nicht selten souverän bedient. Dieses Selbstreflexivwerden einer globalisierten und globalisierenden Kunst macht gleichsam auf den blinden Fleck ihrer eigenen Genese künstlerisch aufmerksam, schließt doch jegliche Erkenntnis das Erkennen jenes blinden Fleckes mit ein, der – wie das Austreten des Sehnervs auf die Netzhaut im Auge – zur unhintergehbaren Voraussetzung jeglichen Sehens, jeglichen Wissens und ästhetischen Gestaltens diesseits wie jenseits aller Prozesse von Sichtbarmachung wird. Dass aber zugleich mit Blick auf die nationalen Gestaltungsbedingungen die Souveränität der Kunst in China (wie auch anderswo) ihre Grenzen hat, zeigen die Repressionsmaßnahmen, denen die chinesischen Künstler im Internet (und auch anderswo) ausgesetzt sind, mit aller unübersehbaren Deutlichkeit. Diese Repression führt zugleich vor Augen, wie wirkungsvoll die ästhetische Widerständigkeit ist, deren Kraft sich Künstler wie Ai Weiwei im weltweiten Gewebe zu versichern verstehen. Lokale Repression wird dadurch translokalisiert und letztlich transareal sichtbar und erlebbar gemacht. Dass sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter eine große Bedeutung innerhalb dieses Prozesses zukommt, ist längst – und nicht erst seit dem sogenannten »arabischen Frühling« – keine strittige Frage mehr. Diese sich quasi selbst generierenden Netzwerke genießen zweifellos in Ländern wie China ein höheres Vertrauen als die öffentlichen Medien und Verlautbarungsmaschinerien, so dass man mit guten Gründen ihre Nutzungsweise »irgendwo zwischen
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Wikileaks und ihrem westlichen Gebrauch« ansiedeln kann. Auch wenn mit staatlichen Mitteln bei hohem Aufwand versucht wird, die Bloggerszene und gezielt auch bestimmte Künstler auszumanövrieren, ist doch die Tatsache unleugbar, dass Ai Weiweis Ausstellungen weltweit auf allen fünf Kontinenten präsent sind und ihre virtuellen Dimensionen längst ihrerseits wieder zum Gegenstand spezialisierter Ausstellungen – wie erst vor kurzem etwa in Winterthur – geworden sind (ebd.). Facebook und Twitter sind im Verein mit anderen Netzwerken folglich dafür verantwortlich, dass sich auf einer weiteren Meta-Ebene die Kunst nicht nur zur westlichen Globalisierung kritisch äußert und zugleich ihre eigene Globalisierung selbstkritisch überdenkt, sondern diese Globalisierung eigenständig steuert, um sie dann selbst wiederum einem kritischen Hin- und Herschalten zwischen Kunstproduzenten, Kunstkonsumenten und Kunstkritikern im weltweiten Maßstab auszusetzen. Die Logiken einer derartigen Kunst schließen die Kunst ein, die Logiken weltweiter Zirkulationsnormen und -formen künstlerisch produktiv zu machen. Was aber heißt »im weltweiten Maßstab«? Betrachtet man eine Weltkarte, welche die Beziehungen der Facebook-Nutzer untereinander visualisiert, so wird rasch deutlich, dass von einem flächendeckenden sozialen Netzwerk nicht die Rede sein kann.4 Die erwartbare Tatsache, dass sich die intensivsten und engsten Beziehungen auf der Nordhalbkugel und dort wiederum zwischen den USA und Europa ausmachen lassen, verweist zugleich auf das Faktum, dass wir es im eigentlichen Sinne mit mehr oder minder großen Inseln von Facebook-Nutzern zu tun haben, die innerhalb dieser derzeit über 800 Millionen Menschen umfassenden Gemeinschaft miteinander über teilweise sehr große Distanzen hinweg im Austausch stehen. In der Rangliste der Länder steht die Zahl der Nutzer in den USA an erster Stelle, gefolgt von Großbritannien, Indonesien, der Türkei, Frankreich, Italien, Canada, den Philippinen, Mexico, Spanien und Indien. Erst nach Argentinien und Kolumbien folgt Deutschland übrigens an 14. Stelle.5 Die höchste Dichte an Facebook-Nutzern pro Einwohner findet sich demnach in Hongkong, gefolgt von Canada, Großbritannien und den USA; China fehlt in dieser Darstellung, wobei als Hauptgrund dieser ›Ausblendung‹ Repressalien von Seiten der chinesischen Regierung ins Feld geführt werden. Selbstverständlich wären in eine ausführlichere Beschäftigung mit derartigen weltweiten Relationalitäten auch andere soziale Netzwerke und Anbieter neben
4
Zur Gemeinschaft der Nutzer von Facebook vgl. Leistert/Röhle 2011.
5
Diese Rangliste findet sich bei Kirkpatrick 2010.
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dem gleichwohl dominanten Facebook miteinzubeziehen.6 Entscheidend für die hier gewählte Fragestellung aber ist, dass eine derartige auf den Beziehungen zwischen einzelnen Facebook-Nutzern beruhende Weltkarte zum einen verdeutlicht, wie ungleich die Nutzung von Facebook und gewiss auch der Zugang zum Internet überhaupt verteilt sind. Zugleich wird deutlich, dass Ländergrenzen auf dieser Weltkarte zwar abgebildet werden, keineswegs aber das dominante Charakteristikum angesichts der mobilen, dynamischen Beziehungen darstellen, die sich zwischen unterschiedlichen Areas unseres Planeten herausgebildet und hergestellt haben. Vor allem aber zeigt dieses mobile mapping auf sehr anschauliche Weise, dass es weniger Strukturen territorialer Kontinuität als vielmehr offene Strukturierungen dynamischer Relationalität sind, welche das Welt-Bild dieser Weltkarte ausmachen. Mit einem wie auch immer gearteten spatial turn werden wir derart hochdynamischen Verhältnissen nicht gerecht und bleiben auf der kultur-, kunst- und literaturtheoretischen Ebene gegenüber künstlerischen Prozessen der vierten Phase beschleunigter Globalisierung, wie sie die Kunstpraktiken von Autoren wie Ai Weiwei geradezu artistisch entfalten, unrettbar unterkomplex. Übersehen werden darf dabei freilich nicht, dass die sich etwa in Facebook oder Twitter herausschälenden insularen, archipelischen und transarchipelischen Verbindungsmuster keineswegs dezentrierte, offene Strukturierungen mit vielfachen Logiken darstellen, sondern durchaus innerhalb fester, von den USA her zentrierter Strukturen global agieren. Die Asymmetrien früherer Phasen beschleunigter Globalisierung haben sich nicht einfach verflüchtigt, sondern sind – insbesondere in vektorisierter Form – noch immer allgegenwärtig. In diesem Sinne handelt es sich mit Blick auf die hier herangezogenen sozialen Netzwerke um ein virtuelles Produkt der Massenkultur, das in seinem Design auf eine möglichst weltweite Verbreitung und Verwendung ausgerichtet ist, für eine bestimmte Spannbreite kulturell unterschiedlich bedingter Rezeptionsweisen offensteht, in seinem strategischen Gemachtsein im Rahmen der in diesem Band vorgestellten Überlegungen aber keineswegs naiv affirmiert werden soll. In Verbindung mit den eingangs vorgestellten und analysierten künstlerischen Praktiken eines Ai Weiwei handelt es sich um eine experimentelle Modellierung unterschiedlichster Praktiken künstlerischer Produktion, Distribution und Rezeption, wie sie im Zeichen der vierten Phase beschleunigter Globalisierung nicht ohne die ungleichen Bewegungsmuster vorgängiger Phasen globaler Beschleunigung gedacht werden kann. Diese Überlegungen beinhalten zweifellos Einblicke und Einsichten von erheblicher Tragweite ebenso für ein Verständnis der aktuellen vierten Phase
6
Vgl. hierzu die Weltkarten bei Zeimke 2011.
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beschleunigter Globalisierung wie für die Bedingungen der künstlerischen, literarischen und kulturellen Produktivität und Kreativität. Denn diese Produktion erfolgt in einer Welt, die im räumlichen Sinne weniger durch Kontinuitäten als durch Diskontinuitäten, weniger durch Stabilitäten als durch Mobilitäten und weniger durch kontinentale als durch archipelische Strukturen und Strukturierungen gekennzeichnet wird. Wenn es auffällig ist, wie hoch die Dichte an Nutzern von Facebook gerade auf Inseln und Archipelen – wie Indonesien oder den Philippinen, der Karibik, Hawaii oder auch Hongkong – ist, dann wird bei einem zweiten Blick deutlich, dass es nunmehr archipelische und transarchipelische (wenn auch nicht notwendigerweise offene) Relationalitäten sind, die den im Internet und in sozialen Netzwerken stattfindenden Austausch zwischen Menschen auf unserem Planeten kennzeichnen und prägen. Das Aufschreiben des Globalen lässt sich einschließlich seiner Aufschreibesysteme 2000 heute als ein transarchipelischer, zutiefst transarealer Vorgang beschreiben und begreifen, der die ebenso kunst- wie literaturtheoretische Entfaltung von Poetiken der Bewegung im Zeichen beschleunigter Globalisierungsprozesse unumgänglich macht.
2. D IE MAGNETISCHE I NSEL P OLYNESIEN
IN EINEM WELTWEITEN
In seinem erstmals im November 2007 veröffentlichten Prosatext La terre magnétique. Les errances de Rapa Nui, l’île de Pâques (Das magnetische Land. Die Irrfahrten der Osterinsel Rapa Nui), der im Rahmen der vom Verfasser selbst herausgegebenen und bereits erwähnten Buchreihe »Peuples de l’Eau« erschien, entwarf der martinikanische Dichter, Kulturtheoretiker und Philosoph Édouard Glissant das literarische Bild einer Insel, die sich auf verschiedensten Ebenen – wie es schon der Untertitel dieses Werkes ankündigte – in unsteter Bewegung befindet. Diese »Irrfahrten« der Osterinsel inmitten der sie umgebenden Meeresflächen (aus amerikanischer Sicht) weit draußen im Pazifik stehen dabei stets im Zeichen des Weltweiten, eines den gesamten Planeten umfassenden Koordinatensystems, innerhalb dessen die Insel zum im mehrfachen Sinne verrückten Fokus, ja zum sichtbaren Bezugspunkt des gesamten Erdballs, eben der terre, wird: »Die Zugvögel bringen das Ei hierher, das erste Ei (das die Welt enthält) garantiert, nachdem man die Meeresströmungen und das Schwindelgefühl der Lüfte beherrscht hat, die Macht für das laufende Jahr. Ebenso nimmt der runde, heilige Stein, den man den Nabel der Welt nennt, in etwa die Form eines Eis an, er ist poliert und aus einer Materie gemacht, die man anderswo auf der Insel nicht findet; und er befindet sich am Meeresufer
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und nicht im Zentrum des Landes (terre). Er liegt am Zusammenfluss der Winde mit den Meeresströmungen.« (Glissant 2007: 39, Übers. O.E.)
Besitzt die Welt also doch ein verborgenes Zentrum? Man würde den Kulturtheoretiker der Poétique de la Relation gründlich missverstehen, wollte man in dieser Passage die Abkehr von einem Denken vermuten, das sich über lange Jahrzehnte vehement gegen Strukturen zur Wehr setzte, die alles und alle zu zentrieren suchten (vgl. Glissant 1990). Denn dieser »Nabel der Welt«, von dem wir gleich eingangs erfahren, dass ihn von weither über den Pazifik gekommene japanische Pilger aufsuchen und verehren (ebd.: 17), bildet für Glissant sehr wohl einen Kreuzungspunkt aller Konfluenzen von Wasser, Luft und Erde, bündelt ein planetarisches Beziehungsgeflecht der vier Elemente, das zwischen den Luft- und den Meeresströmungen am Rande des magnetischen Landes der Osterinsel in einer dezentrierten Position entstand und mit einem alten Mythos verwoben wird, demzufolge die Zugvögel das Ei, das die Welt enthält, hierher, auf dieses Eiland, gebracht hätten. Rapa Nui, die Osterinsel, wird von all jenen Bewegungen erzeugt, welche dieses Ei-Land durchqueren. Doch Rapa Nui bildet kein übergeordnetes Zentrum, demgegenüber alles andere bloße Peripherie wäre. Die Insel liegt weit draußen im Meer. Zugleich lässt der lyrische und vielfach fragmentierte Text Édouard Glissants von Beginn an keinen Zweifel aufkommen: Dieses Land ist mit der ganzen Welt, mit dem gesamten Erdkörper auf intimste Weise verbunden und verwoben. Die Osterinsel ist ein Mittelpunkt – aber in Form eines Schnittpunktes ohne Hierarchie, ohne Peripherie, ohne zentrierende Hysterie. Die nur den Zugvögeln, nicht den Menschen bekannten Wege der Insel als Schiff auf einer Irrfahrt bewirken, dass die Insel zugleich von Dauer und vergänglich, dauerhaft und flüchtig ist: »Die Insel ist ephemer und verloren.« (Ebd.: 42, Übers. O.E.) In diese flüchtige Beständigkeit, die gewiss auch jene der Literatur und des Schreibens selbst ist, schreiben sich die plattentektonisch getriebenen Bewegungen der Insel wie der Vorstellungen und Phantasien ihrer Bewohner ein: »Die Insel wandert, und niemand weiß, wieviele Zentimeter im Jahr, und so wird sie vielleicht das Schicksal der archipelischen Länder erfahren, die eines Tages, von dem ebenfalls niemand weiß, von den unvermeidlichen Reibungen zwischen den Platten in die Tiefe gerissen werden, und das Imaginäre der Bewohner der Osterinsel steuert durch den Raum des Pazifik und unter dem Mond des großen Dreiecks, auf der Suche nach dem verlorenen Wort. Das ist fast wahr.« (Ebd.: 48f., Übers. O.E.)
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Dieses Fast-Wahre, dieses presque vrai der Literatur, nimmt die Bewegungen der Insel und ihrer Bewohner auf und gibt beiden jenes »verlorene Sprechen« wieder, wann und wo auch immer die Insel für immer im Meer versinken mag. Ihre (zweifellos mit dem Attribut des göttlichen Auges versehene) Dreiecksform nimmt die Dreiecksform des gesamten polynesischen Archipels in sich auf und bildet somit das fraktale Muster einer Insel, die eine Insel der Inseln ist: »Das offene Dreieck ist das polynesische Dreieck, das an einer seiner Ecken dieses andere Dreieck, das entfernteste und einsamste überhaupt, markiert, das die Gesamtheit abschließt und diese ganze Oberfläche stützt: das magnetische Land.« (Ebd.: 48, Übers. O.E.)
In dieser Dreiecksform, die in der christlichen Ikonographie das Göttliche in seiner Anwesenheit repräsentiert, aber auch das Dreieck im Zentrum eines menschlichen Körpers sein könnte, vergegenständlicht und objektiviert sich eine Landschaft der Theorie, die im Rahmen jener Tradition, die den karibischen Raum schon so früh prägte, ganz selbstverständlich eine Theorie im weltweiten Maßstab ist. Das (lebendige) Dreieck der Insel Rapa Nui im Dreieck des polynesischen Archipels7 bildet die fraktale Konfiguration nicht allein der Insellandschaften des Pazifik, sondern beinhaltet zugleich als Eiland in der Eiform des von Zugvögeln (hervor)gebrachten Eis jenen Nabel der Welt, von dem aus die Rundung der Erde gedacht und in ihren weltweiten Dimensionen überdacht werden kann. Denn einerseits ist die Osterinsel auf eine geradezu extreme Weise eine Insel-Welt, die eine in sich abgeschlossene Welt mit ihrem eigenen Raum, ihrer eigenen Zeit und folglich auch ihren eigenen Bewegungsmustern repräsentiert. Wie keine andere Insel auf diesem Planeten ist sie – wie gleich zu Beginn des Bandes betont wird – von anderen Ufern, von anderen Ländern durch gewaltige Distanzen getrennt und damit isoliert (vgl. Glissant 2007: 10). Dies ist ein Faktum, das in der Darstellung der Genese des Textes auch durch die Tatsache bewusst in Szene gesetzt wird, dass es dem Dichter in seinem fortgeschrittenen Alter nicht mehr möglich war, eine so weite und anstrengende Reise wie die zur Osterinsel selbst in Angriff zu nehmen. So sollte anstelle Édouard Glissants dessen Lebenspartnerin Sylvie Séma die Reise unternehmen und dem gleichsam zuhause gebliebenen Verfasser dieses poetischen Reiseberichts durch Skizzen und Notizen, durch Zeugnisse und Zeichnungen mit jenen Grundlagen für ein Schreiben versorgen, das explizit auf die Beglaubigung durch das eigene
7
Vgl. zur spezifischen Problematik Rapa Nuis im Schnittpunkt unterschiedlicher Geschichten und Insel-Projektionen McCall 2006.
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In-Augenschein-Nehmen verzichtet, um von einem anderen Ort des Schreibens aus diese Welt literarisch zusammenzufügen. Une île peut en cacher une autre. Das magnetische Land ist folglich ein Reisebericht, der nicht auf der Reise des Schriftstellers aufruht. Die Funktionen von Reisendem und Schreibendem werden weitgehend aufgetrennt und damit Grundlagen der Gattung des Reiseberichts insofern aufgekündigt, als der Schreibende auf den Bericht einer – ihm freilich sehr vertrauten – Reisenden wie auch auf andere Zeugnisse zurückgreift, die ihm zur Verfügung stehen. Das von Sylvie Séma, der auf die Osterinsel gleichsam stellvertretend Reisenden, Vorgefundene wird mit dem am heimischen Schreibtisch Erfundenen zu etwas gemeinsam Hergestelltem und mehr noch gemeinsam Erlebten. Dabei sei nicht verschwiegen, dass dem Text zugleich eine geradezu testamentarische Dimension zuwächst, insofern der Schriftsteller aus der Perspektive der Reisenden in eine andere Welt rückt, als wollte er die Wege der Reisenden aus einem Jenseits kommentieren und mit seinem literarischen Wort – dem einst verlorenen Wort, auf dessen Suche sich die Insel gemacht hat – begleiten. Durch den Tod des Schriftstellers wenige Jahre später ist diese ganz eigene Dimension des Textes offenkundig und folglich lesbar geworden. Andererseits ist diese geographisch extrem isolierte, eine eigene Welt für sich bildende Insel nicht nur eine abgeschlossene Insel-Welt, sondern zugleich eine Inselwelt, insofern sich in ihr eine ganze Welt von Inseln überlagert und bündelt. So schaffen sich in dem kleinen Eiland Rapa Nui mit seinen Vulkanen die vier Elemente von Feuer und Erde, Luft und Wasser in den Meeres- und Luftströmungen, aber auch in den Bewegungen der tektonischen Erdplatten wie des feurigen Magmas, das mit dem pazifischen Feuerring verbunden ist, einen Bewegungs-Ort vielfältigster planetarischer Konfluenzen, an dem sich eine Welt von Inseln immer wieder neu konfiguriert. Rapa Nui wird in diesem Sinne als fraktale Vervielfachung des Insularen zu einer InselInsel,8 in der sich nicht nur die verschiedensten Inseln Polynesiens überkreuzen und überschneiden, sondern das vielgestaltige Gemachtsein dieser (Poly-) Insel aus anderen Inseln noch dadurch vervielfacht wird, dass die von der Lebenspartnerin des Erzählers bereiste Insel vom Erzähler selbst von anderen Inseln aus – seien es die der Antillen oder der Ile de France – niedergeschrieben und weltweit verwoben wird. Die ganze Welt in einer Insel, die die ganze Welt ist, ohne doch deren Zentrum zu sein oder sein zu wollen. Diese relationale und zugleich transarchipelische Sichtweise, die sich immer wieder gerade zwischen der Osterinsel und den Antillen entwickelt, prägt die
8
Zum Begriff der InselInsel vgl. das siebte Kapitel in Ette 2010.
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poetische und poetologische Prosa Édouard Glissants und knüpft zweifellos an seine berühmte »Poetik der Relation« an, die er ausgehend von den Antillen zunächst innerarchipelisch entwickelte, bevor er sie hemisphärisch auf den gesamten amerikanischen Kontinent ausweitete. In seiner 1981 in Le Discours antillais angelegten und 1990 in Poétique de la Relation entfalteten Theorie, die sich in einem kritischen Dialog mit wesentlich stärker zentrierenden Vorstellungen schärfte, wie sie Jean Bernabé, Patrick Chamoiseau und Raphaël Confiant in ihrem vielbeachteten, aber auch vielüberschätzten Eloge de la créolité von 1989 ausformulierten (vgl. Bernabé/Chamoiseau/Confiant), ließ Glissant keinen Zweifel daran aufkommen, dass seine Raumkonzeption der Antillen zugleich relational und hemisphärisch gedacht war. Denn Glissant begriff die Antillen als »Multi-Relation«, die keineswegs als verstreute Fleckchen Erde in einem »See der USA« zu begreifen seien, sondern gleichsam den »Ästuar der Amerikas« bildeten (Glissant 1984: 249, Übers. O.E.). Es ist, als hätte Édouard Glissant den anspruchsvollen Versuch unternommen, jene Landschaft José Lezama Limas als eine Landschaft der Theorie zu entwerfen, in der doch alles stets in Bewegung, forma en devenir, sein muss und nicht zu einer festen Form gerinnen darf. Die hemisphärische Sicht weitet sich in Das magnetische Land konsequent zu einer transarchipelischen Dynamik, deren Relationalität sich nunmehr weltweit entspannt und zugleich auch den amerikanischen Kontinent umfasst: ein Polynesien, ein Vielinselland im globalen Maßstab. Dies zeigt der bereits angesprochene Mikrotext im Zentralstück des gesamten Bandes mit seiner makrogeographischen Dimensionierung mit größtmöglicher Präzision: »Rapa Nui sein, Aufbewahrungsort des Einzigartigen und des ganz Gewöhnlichen, dieser Kräfte, welche die Völker des Pazifik und Südamerikas getragen haben. [...] Papa Kiko singt ein Klagelied der Quechua von den Höhen der Anden, und er tanzt zum Schlag des Tambourins annäherungsweise eine Schrittfolge aus Vanuatu, mit einer totalen Tiefgründigkeit. Pirù perfektioniert das Einsammeln des Mülls, wenn dieser auch ständig überquillt. Der Insel-Körper der Insel ist in ihnen, seine Geheimnisse haben in den Venen der Vulkane der Bewohner Wohnsitz, untrennbar zirkulierend. Da die Insel so weit entfernt ist von jedem Maß und von jeder Berechnung und von jedem Blick und von jeder Annäherung, liegt sie für immer im Blickwinkel von oben, der mit seinen Gaben die dort unten versammelten Archipele gesegnet hat.« (Glissant 2007: 92, Übers. O.E.)
Die Verbindung der aufgrund der gewaltigen Distanzen scheinbar isolierten Insel-Welt mit den Inselwelten der Archipele, aber auch den Anden des kontinentalen Amerika lässt eine Welt entstehen, die im Blick von oben wie aus der Perspektive des Schöpfers die dynamische, mobile Relationalität eines Planeten
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hervorbringt, in der die Gesänge räumlich weit voneinander entfernter Kulturen von verschiedenen Punkten aus hörbar werden, ohne doch miteinander zu verschmelzen. Die offenkundig transkulturelle Anlage dieser polyphonen Orchestrierung von Pazifik und Amerika dynamisiert eine transareale Modellierung im weltweiten Maßstab. Von der Insel-Welt und Inselwelt der Osterinsel wird das Archipele und Kontinente miteinander verbindende Planetarische – und dies eröffnet eine geradezu österliche Dimension – neu begreifbar, neu erlebbar, neu lebbar.
3. E XKLUSIONEN UND I NKLUSIONEN : VON C OOLIES UND K ORALLEN Der 1956 in Port-Louis auf Mauritius geborene Dichter, Filmemacher und Kulturtheoretiker Khal Torabully9 entfaltet aus einem verdoppelten historischen Weltbewusstsein heraus seit den achtziger Jahren sein Projekt der Coolitude. Es bildet den poetisch wie poetologisch reflektierten Versuch, auf der Grundlage der Inklusion all jener von der Geschichte Ausgeschlossenen eine Vision und Revision historischer wie aktueller Globalisierungsprozesse zu entwickeln, die all jene als lebendige Subjekte zur Sprache, zum Sprechen bringen will, welche sich zumeist unter elenden Umständen als Lohn- und Kontraktarbeiter weltweit verdingen mussten. Die Coolies zählen zu den eigentlichen transtropischen Protagonisten der dritten Phase beschleunigter Globalisierung, eine Tatsache, die uns erst in der vierten Phase beschleunigter Globalisierung die Kulturtheorie und die poetische Praxis des aus Mauritius stammenden Schriftstellers in aller Lebendigkeit vor Augen geführt hat. Der mit einer Arbeit über die Semiologie des Poetischen in Lyon promovierte Khal Torabully, der Gründungsmitglied einer französischen Forschergruppe über Globalisierung (Groupe d’Etudes et de Recherches sur les Globalisations, GERM) ist, hat in seinen poetischen wie in seinen poetologischen Texten den vorwiegend aus Indien, aber auch aus China und anderen Ländern stammenden Coolies nicht nur ein literarisches Denkmal, gleichsam einen Gedächtnisort, setzen wollen, sondern auch eine Poetik globaler Migration entwickelt, wie sie bereits in seinem 1992 erschienenen Band Cale d’Etoiles - Coolitude (Sternendock - Coolitude) zum Ausdruck kommt:
9
Zum Werk von Khal Torabully vgl. Bragard 2008.
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»Coolitude, um den ersten Stein meines Gedächtnisses allen Gedächtnisses zu legen, meine Sprache aller Sprachen, meinen Teil des Unbekannten, den zahlreiche Körper und zahlreiche Geschichten immer wieder in meinen Genen und in meinen Inseln hinterlegt haben. Dies ist der Gesang meiner Liebe zum Meer und zur Reise, die Odyssee, welche meine zur See fahrenden Völker noch nicht geschrieben haben... und meine Mannschaft wird im Namen derer auftreten, welche die Grenzen auslöschen, um das Land des Menschen zu vergrößern.« (Torabully 1992: 7, Übers. O.E.)
In diesem mit homerischen Anklängen versehenen Gesang der Liebe tritt an die Seite der Memoria all jener Vergessenen und von der Geschichte Verschlungenen, eine unverkennbar prospektive Dimension. Denn es geht dem poeta doctus, der aus einer Familie stammt, die einst auf der Suche nach Arbeit von Indien nach Mauritius gekommen war, nicht um eine abgeschlossene Vergangenheit, deren verschlossenes Grab man mit mitgebrachten Steinchen pflichtschuldigen Angedenkens ehren müsste. Ausgehend von jenen kollektiven wie individuellen Erfahrungen, welche die weitgehend entrechteten Lohn- und Kontraktarbeiter insbesondere in der dritten Phase beschleunigter Globalisierung erdulden mussten, wird eine auf Zukunft gestellte und die aktuelle Globalisierung mit ihren Migrationen neu beleuchtende Poetik entwickelt, die sich schon früh in ihrer globalen Relationalität gerade im Bereich der Tropen äußert. So heißt es wiederum in französischer Sprache: »Vous de Goa, de Pondicheri, de Chandernagor, de Cocane, de Delhi, de Surat, de Londres, de Shangai, de Lorient, de Saint-Malo, peuples de tous les bateaux qui m’emmenèrent vers un autre moi, ma cale d’étoiles est mon plan de voyage, mon aire, ma vision de l’océan que nous traversons tous, bien que nous ne vissions pas les étoiles du même angle. En disant coolie, je dis aussi tout navigateur sans registre de bord; je dis tout homme parti vers l'horizon de son rêve, quel que soit le bateau qu'il accosta ou dût accoster. Car quand on franchit l’océan pour naître ailleurs, le marin d’un voyage sans retour aime replonger
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dans ses histoires, ses légendes, et ses rêves. Le temps d’une absence de mémoire.«10
Der Begriff des Coolie ist historisch verankert, aber nicht exkludierend gedacht: Er wird von Torabully auch in einem übertragenen Sinne gebraucht und beleuchtet spezifische Phänomene einer Globalisierung von unten, einer Globalisierung der Migranten, die auf der Suche nach Arbeit Meere überqueren. In lyrischer Verdichtung entsteht so ein weltweites Netzwerk all jener »Reisenden«, die als Objekte einer extremen Ausbeutung die Inseln und Städte Indiens, Chinas und Ozeaniens mit den europäischen Kolonialhäfen verbinden. Dabei wird am Beispiel der Veränderungen des lyrischen Ich deutlich aufgezeigt, dass in jedem Übersetzen, in jedem Übersetzen, in jedem Transfer stets eine Transformation enthalten ist, die das Ich zu einem anderen macht und dabei immer neue Spielräume und Blickwinkel eröffnet. Der Ozean wird zum verbindenden und zugleich trennenden Element, das auch die Städte dieses Netzwerks kolonialer Ausbeutung in Inseln verwandelt, die ihren eigenen angle, ihre eigene Perspektive entfalten. Die »Odyssee«11 der Kontraktarbeiter, die ansonsten in fast allen Identitäts-Diskursen über so lange Zeit weitestgehend ausgeblendet war, nimmt zwischen all diesen Inseln ihren weltweiten Lauf. Doch eine Rückkehr nach Ithaca ist in den Bordbüchern und Reiseplänen nicht vorgesehen. Der indische Coolie wird folglich in seiner historischen Gestalt präzise wahrgenommen und rekonstruiert, bleibt aber nicht auf die konkrete geschichtliche Figur beschränkt, sondern wird insofern metaphorisch und mehr noch figural12 ausgeweitet, als all jene ins Blickfeld einer Lyrik und einer Theorie gerückt werden, die unter unmenschlichen Bedingungen eine Reise zumeist ohne 10 »Ihr aus Goa, aus Pondicheri, aus Chandernagor, aus / Cocame, aus Delhi, aus Surat, aus London, aus Shanghai, / aus Lorient, aus Saint-Malo, Ihr Völker aller Schiffe, / die Ihr mich mitnahmt zu einem anderen Ich, mein Sternendock / ist mein Reiseplan, mein Spielraum, meine Vision des / Ozeans, den wir alle durchqueren, auch wenn wir die / Sterne nicht unter demselben Winkel sehen. // Sage ich Coolie, sage ich auch jeden Steuermann ohne eine / Registrierung an Bord; ich sage jeden Menschen, der zum Horizont / seines Traumes aufbrach, welches Schiff auch immer er nahm oder / nehmen musste. Denn wenn man den Ozean überquert, um auf die Welt / anderswo zu kommen, dann liebt es der Seemann einer Reise ohne Rückkehr, / sich in seine Geschichten, in seine Legenden und in seine Träume zu versenken. Die / Zeit einer Abwesenheit von Gedächtnis.« (Ebd.: 89, Übers. O.E.) 11 Vgl. hierzu das Kapitel »The Coolie Odyssey: A Voyage In Time And Space«, in Carter/Torabully 2002. 12 Vgl. Auerbach 1967.
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Wiederkehr angetreten haben. Das, was niemals aufgeschrieben wurde, das, was dem Gedächtnis und der Erinnerung entschlüpfte, das, was niemand in seine jeweilige Identitätskonstruktion integrieren wollte, verdichtet sich in Khal Torabullys Schriften ebenso poetisch wie poetologisch zu einem relationalen Verständnis historischer Prozesse, die nicht territorialisierend und von einem Punkt aus zentrierend zu betrachten sind, sondern bewegungsgeschichtlich – und nicht länger raumgeschichtlich – aus einer ozeanischen Perspektive (oder einer Perspektive Ozeaniens) heraus verstanden werden müssen. Die Figura des Coolie ist dann, erst einmal entdeckt, überall präsent. Denn sie ist weit mehr als eine Figura der Memoria: Sie kündet im vervielfachten Sinne von einer anderen Zeit. Auch wenn die Tropen in ihrer Abhängigkeit von äußeren Mächten stets eine brennende Wunde bleiben – »I will one day discover another new world. / From it I will burn the Tropics / And damn Columbus for his damned economics« (Torabully 2011) –, so bleiben sie doch eingespannt in ein weites Netzwerk von Bewegungen, als deren Begründer Christoph Columbus stellvertretend angeklagt wird. Dieser kurz eingefügte Rückblick auf die erste Phase beschleunigter Globalisierung mit ihrem weltweit sein Fangnetz auswerfenden Wirtschaftssystem öffnet sich freilich auf ein Künftiges, auf eine neue Welt in einem anderen Sinne, in der die neuen Möglichkeiten, eine andere Welt zu bauen, ausgelotet werden. Denn eine andere, in diesem Sinne neue, auf künftigem Zusammenleben in Differenz beruhende Welt ist möglich. Khal Torabullys Ästhetik ist ethisch fundiert, ihre Gestik postkolonial. In seinem 1999 vorgelegten Gedichtband Chair Corail, Fragments Coolies (Korallenfleisch, Coolie Fragmente) hat der mauritianische Dichter, der im Übrigen auch als Filmemacher hervorgetreten ist und beim Internationalen Filmfestival von Kairo für La Mémoire maritime des Arabes 2010 mit dem »Golden Award« ausgezeichnet wurde, eine nicht wie bei Deleuze und Guattari am Rhi13 zom, sondern an der Koralle ausgerichtete Metaphorologie eingeführt, die an diesem symbiotischen Lebewesen des Meeres ausgerichtet ist: »Dans ma mémoire sont des langues aussi / Ma coolitude n’est pas une pierre non plus, / elle est corail.«14 Coolitude ist kein toter Gedenk-Stein, sondern lebendig züngelnde, sprechende Koralle – allein: »Was will uns der Dichter damit sagen?« Wird hier die Sprache nicht zu obskur, zu »schwierig«? Nehmen wir diesen Stimulus also auf. Die für Torabullys eigenes Schreiben so wichtige Sprachenvielfalt und das Übersetzen wie das Übersetzen an andere
13 Vgl. Deleuze/Guattari 1977. 14 »In meinem Gedächtnis sind auch Zungen / Meine Coolitude ist nicht ein Stein / Sie ist Koralle.« (Torabully 1999: 82, Übers. O.E.)
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Ufer stellen unablässige Transferprozesse dar, die immer wieder zu Transformationsvorgängen werden: »non plus l’homme hindou de Calcutta / mais chair corail des Antilles.«15 Aus diesen Mutationen, aus diesen Metamorphosen ergeben sich eine Schreibpraxis und zugleich eine Kulturtheorie, die beide unverkennbar transarchipelisch aufgebaut sind. So heißt es bei Torabully programmatisch: »Das die Coolitude begründende korallene Imaginäre stellt einen Vorschlag dar, um diese Verschiedenartigkeiten zu archipelisieren, die für die Menschheiten so notwendig sind (une proposition d’archipéliser ces diversités si nécessaires aux humanités). Es stellt ganz konkret unser Imaginäres aus den polylogischen, archipelischen Indien in die zeitgenössische Realität, wo Ökonomie, Kulturen und Ökologie nicht voneinander getrennt werden können, so wie dies die gegenwärtige Globalisierung mit ihren wiederholten Pannen voller Gewalttätigkeiten belegt.« (Torabully 2012: 71, Übers. O.E.)16
Diese transarchipelische Sichtweise, die historisch auf den schmerzhaften Erfahrungen von Millionen indischer Coolies aufruht, welche auf ihrer verzweifelten Suche nach Arbeit Fünf- und Zehnjahresverträge unterschrieben, die sie ebenso auf die Inseln des Indischen Ozeans wie nach Ozeanien, ebenso auf die britischen West Indies wie auf die französischen Antillen verschlagen konnten, verbindet sich mit dem für Torabullys Schreiben entscheidenden Theorem der Koralle, das er 2012 wie folgt begründete: »Die Koralle ist in ihrem lebendigen Habitat beobachtbar, ganz im Gegensatz zum Rhizom, das sich unter der Erde befindet. Darüber hinaus erlaubt sie mir, ein agglutinierendes Verbundensein, das sich ähnlich wie ein Palimpsest aus Schichtung, aus Verdichtung, aus Sedimentierung aufbaut, und nicht nur ein erratisches Verbundensein zu entwickeln, wobei sie den egalitären Aspekt der Verbindung beibehält, steht sie doch allen Strömungen gegenüber offen. Die Koralle ist ihrem Wesen selbst nach hybrid, denn sie ist aus der Symbiose eines Phytoplanktons und eines Zooplanktons geboren. In Sachen Metaphorik der Diversität könnte es schlicht nicht besser sein. Sie ist Wurzel, Polyp und Abplattung, ist von sich verändernder Form, schmiegsam und hart und dazu noch verschiedenfarbig. Obgleich sie verwurzelt ist, setzt sie doch die größte Migration auf der Erde frei, die des Plankton, die man vom Mond aus ebenso sehen kann wie das Grand Bareer Reef, das von der UNESCO als Welterbe der Menschheit eingestuft wurde. Dieser korallene Archipel ist
15 »nicht mehr der Hindu-Mensch aus Calcutta / sondern Korallenfleisch von den Antillen.« (Ebd.: 108, Übers. O.E.). 16 Vgl. dazu Torabully 2012 und Henry 2003.
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ganz einfach die auf der Erde sich am weitesten ausbreitende lebendige Skulptur, und auch sie kann man vom Mond aus sehen.« (Torabully 2012: 70f., Übers. O.E.)
Die Rekurrenz des Lexems vivant (›lebendig‹) am Anfang wie am Ende dieser Passage unterstreicht, in welch starkem Maße auch im Theorem der Koralle für Torabully die Lebensprozesse von entscheidender Bedeutung sind. Auch wenn der Dichter und Theoretiker der Coolitude vielleicht die Tatsache nicht miteinbezogen hat, dass kein Geringerer als Charles Darwin einst mit dem Gedanken spielte, die Koralle in seinem Denken zum »Symbol der gesamten Naturentwicklung« zu machen und als »Modell einer Evolution« zu benutzen, »die anarchisch in alle Richtungen wächst und nicht – wie beim Baummodell – den Menschen als Krönung am Ende der Entwicklung« versteht (Bredekamp 2006: 1). Die Koralle wird bei Torabully nicht nur zu einem Lebens-Theorem, sondern verkörpert in ihrer Lebendigkeit zugleich ein Wissen vom Überleben und vom Zusammenleben, das diese Gemeinschaft von Lebewesen in ihrer sym-bio-tischen Daseinsform zu Kunstwerken von gewaltigen Ausmaßen anwachsen lässt. Bereits Darwins »korallene Inspiration« (ebd.: 70) hatte sich einer langen künstlerischen und naturphilosophischen Traditionsgeschichte zu versichern gewusst, in der »die Korallen und ihre im Lebenskampf erzeugten Produkte in den Bereich der Kunst gehören« (ebd.). Hatte nicht schon der im vorliegenden Band in anderem Zusammenhang erwähnte Leon Battista Alberti darauf aufmerksam gemacht, auf welch einfache Weise komplexe Naturformen aus der Perspektive des Menschen in semantisch hochpotenzierte Kunstwerke umgedeutet werden können? Dass sich die Koralle beim Autor aus Port-Louis als Konkurrenzbegriff zur poststrukturalistischen Theorie des Rhizoms versteht, ist offenkundig; zugleich aber wird deutlich, dass Koralle und Rhizom durchaus in einer vergleichbaren Weise für das Nicht-Zentrierte, für das Sich-Vernetzende und für das NichtHierarchische einstehen, wobei die Koralle in ihrem Oszillieren zwischen ihrer lebensspendenden (und zugleich erotischen) Fleischlichkeit – der Chair Corail – und ihrer bildhauerischen Dimension als Gedenk-Stein eine dynamische Verbindung zwischen Geologie und Biologie, zwischen Tierischem und Pflanzlichem, zwischen Tod und Leben, zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft vor Augen führt, deren poetische Valenz in Torabullys Lyrik ausgespielt werden kann. Die symbiotische Welt der Koralle verbindet sich mit einer Konvivenz, die aus der Perspektive der Tropen eine Lebens-Welt entstehen lässt, die sich unterhalb wie oberhalb der Meeresoberfläche ansiedelt und entfaltet. Als poetische Trope verkörpert die Koralle die Bewegungswelt der Tropen und ist dank ihrer Migrationen das transtropische Lebewesen par excellence.
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Es ist faszinierend zu sehen, wie dynamisch und bewegungsgeschichtlich mobil der mauritianische Autor seinen Entwurf der Koralle anlegt, die man in einem allgemeinen Sinne gerade mit Blick auf das Grand Bareer Reef eher mit Starrheit und Widerständigkeit assoziieren würde. Doch Khal Torabully hört auf das Rauschen ihrer Geschichte, ihres Geschichtetseins, ihrer lebendigen Sedimentation. Und er verweist auf ihre naturhafte und zugleich palimpsestartige Kunst. Erst aus dieser zutiefst lebendigen Geschichte kleinster Lebewesen erwächst die Widerständigkeit des riesigen Korallenriffs. Die von Khal Torabully wiederholt betonte Verbindung zwischen Koralle und Migration ist innerhalb der Bild-Welten dieses Dichters und Theoretikers mit einer Coolitude verknüpft, die sich in das Ozeanische wie das Migratorische einschreibt. So heißt es in einem Vortrag des mauritianischen Kulturtheoretikers vor der Unesco: »Es ist unmöglich, die Essenz der Coolitude ohne die Reise der Coolies über die Meere zu verstehen. Diese entscheidende Erfahrung, diese Odyssee der Coolies, hinterließ eine unauslöschliche Markierung in der imaginären Landschaft der Coolitude.« (Torabully 1996: 13, Übers. O.E.)
Die hier implizit angesprochene Landschaft der Theorie bereichert zweifellos die im vorliegenden Band transareal über vier Phasen beschleunigter Globalisierung entfaltete Relationalität von in sich abgeschlossener Insel-Welt und archipelischer wie transarchipelischer Inselwelt insofern, als die Lebens- und Bewegungsformen der ins Ungewisse entlassenen Coolies, aber auch die epistemologische und poetologische Metapher der Koralle nicht allein auf der Ebene einer sich verdichtenden Metaphorologie eine lebendige und weiter verlebendigende Dynamik in diese transtropischen Landschaften der Theorie einbringen. Khal Torabullys korallene Begriffswelt ist zutiefst transareal geprägt. Dies lässt sich auch begriffsgeschichtlich belegen. In einem gemeinsam mit der britischen Historikerin Marina Carter verfassten Band wird 2002 der Begriff der Coolitude historiographisch insofern verankert, als seine verschiedensten Aspekte systematisch unter Einbeziehung historischer Quellen diskutiert werden. Dabei werden die oftmals brutalen Methoden der Rekrutierung billiger Arbeitskräfte immer wieder deutlich herausgearbeitet. So wurde – um nur ein individuelles Beispiel herauszugreifen – im Jahre 1882 ein kleiner Junge namens Dawoodharree wie so häufig unter Vorspiegelung falscher Tatsachen angeworben, um auf der Pflanzung mit dem schönen Namen »Sans Souci« auf Mauritius als Kontraktarbeiter eingesetzt zu werden.
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Die Leitung dieser Pflanzung lehnte es entschieden ab, den Jungen auf dessen Antrag hin wieder freizulassen: »Dawoodharree wurde gleichzeitig mit fünf oder sechs anderen Männern, die zusammen mit ihm aus Indien kamen, engagiert, und er war sich bewusst, dass er nach Mauritius gegangen war, um einen Kontrakt über fünf Jahre einzugehen, dass seine Überfahrt wie auch die Überfahrten der anderen vom Sirdar von ›Sans Souci‹ Estate bezahlt worden und die diesbezüglich vom Sirdar verauslagte Summe von dieser Gesellschaft übernommen worden war.« (Zit. n. Carter/Torabully 2002: 24, Übers. O.E.)
Legalität, Legitimität und feudal-kapitalistische Unmenschlichkeit sind in diesem juristisch argumentierenden postabolitionistischen Dokument kaum noch voneinander zu unterscheiden. Sklaverei mag hier nur noch als Metapher sichtbar sein; doch sie ist weit mehr: von den Coolies gelebte und durchlebte Wirklichkeit. Der Kontrakt wird zum Konstrukt, durch den das tropische Versprechen der Fülle einmal mehr zur Falle wird. Für diese von der Geschichte Vergessenen entfaltet Khal Torabully zugleich eine Poesie und eine Poetik, ein Theorem und eine Theorie, die in der Lage sind, mit Blick auf all jene Entwicklungen, die im Verlauf der dritten Phase beschleunigter Globalisierung einen dramatischen Höhepunkt erreichten, eine sinnlich erfahrbare und mehr noch nacherlebbare Landschaft zu konstruieren, die ohne die kulturtheoretischen Hintergründe des aktuellen Globalisierungsschubs nicht vorstellbar wären. Literatur lässt diese vergessenen Leben wieder lebendig werden und macht dank ihrer ästhetischen Kraft nacherlebbar, welches die Bewegungen, welches die Bahnungen sind, die palimpsestartig unsere aktuellen Bewegungsbahnen vektorisieren und noch immer mitbestimmen. Kein Zweifel: Es handelt sich um eine transareal konzipierte Landschaft der Theorie, die ohne die politischen, sozialen und kulturellen Kontexte der 1968 politisch unabhängig gewordenen Insel Mauritius sicherlich nicht hätte entworfen werden können. Denn die vor ihrer Kolonisierung unbewohnte Insel im Indischen Ozean, die unter der kolonialen Herrschaft Portugals (1505-1598), der Niederlande (1598-1710), Frankreichs (1715-1810) und Englands (1810-1968) stand, bündelt wie in einem Brennspiegel viele jener historischen Entwicklungen, die charakteristisch sind für eine transarchipelische Vielverbundenheit, welche gerade im Bereich der Tropen – wie wir sahen – eine sehr spezifische Ausprägung erfahren hat. Ganz so, wie sich auf der religiösen Ebene Hinduismus, Katholizismus, Protestantismus und Islam auf engstem Raum begegnen, so lassen sich auf der sprachlichen Ebene neben dem Morisyen (einer auf dem Französischen basierenden Kreolsprache, die nahezu von der gesamten
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Bevölkerung verwendet wird) auch verschiedene nordindische Varianten des Hindi, südindische Sprachen wie das Tamil sowie verschiedene südchinesische Dialekte unterscheiden, wobei das Englische Amtssprache ist und das Französische nicht nur von einer Oberschicht als Muttersprache gesprochen wird, sondern in den Massenmedien vorherrscht. Ein sprachlicher, religiöser, kultureller Mikrokosmos, den Khal Torabully mit ästhetischen wie epistemologischen Mitteln auf den Makrokosmos hin zu öffnen versteht. Die Welt der Coolitude ist folglich ebenso mit Blick auf die mauritianische Herkunft Khal Torabullys wie auf die weltweiten Migrationen der Coolies selbst eine in höchstem Maße nicht nur vielkulturelle, sondern auch vielsprachige Welt, in der das Über-Setzen im unterschiedlichstem Sinne von entscheidender Bedeutung ist. Übersetzen und Übersetzen gehören folglich unbestreitbar zum Kernbestand dessen, was man mit Khal Torabully und Marina Carter als »the Coolie Heritage« (ebd.: 117) bezeichnen darf. Auch wenn der vielsprachige Autor aus Mauritius in seinen Schriften wie in seinem Schreiben gewiss nicht alle sprachlichen wie translingualen Dimensionen auszuleuchten vermag, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, wie sehr seine theoretische Prosa und seine lyrische Praxis von ständigen sprachenquerenden Prozessen geprägt sind – eine Tatsache, dies nicht allein in seinen öffentlichen Lesungen hörbar wird. Wenn man folglich mit guten Gründen von einem »Revoicing the Coolie« (ebd.: 214) sprechen will, dann gilt es zu berücksichtigen, dass die vielen Stimmen der Coolitude niemals einstimmig und einsprachig waren oder künftig sein können. Auch wenn sich Khal Torabully immer wieder gegen den Einwand oder Vorwurf verteidigen musste, in seinen Konzeptionen durch einen gewissen Rückbezug auf den Begriff der von Césaire und Senghor geprägten Négritude bisweilen essentialisierend vorzugehen (Torabully 2012: 1f.), und auch wenn man die Begrifflichkeit von der Suche nach »Identität«17 terminologisch als problematisch erachten kann, steht die große Bedeutung des Denkens und Schreibens des mauritianischen Autors doch außer Frage: »In der ›postethnischen Gesellschaft‹ von Mauritius, wo der ›Einschlag der Moderne‹ konkurrierende anzestrale Kulturen weggerieben hat, schälte sich Khal Torabully als ein ›homme-pont‹, als eine menschliche Brücke, heraus.« (Carter/Torabully 2002: 216, Übers. O.E.) Denn an die Stelle einer Kette wechselseitiger Exklusionen – »Der Weiße weist den Schwarzen zurück und dieser den Coolie« (Torabully 2012: 68, Übers. O.E.) – setzt der Autor von Chair Corail, Fragments Coolies ein Schreiben, das sich im Verbund mit Schreibformen weiß, die (in einer oftmals diasporischen
17 Vgl. Carter/Torabully 2002: 215 und passim.
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Situation) vielsprachige imaginaires polylogiques et archipéliques entfesseln. Sie öffnen sich hin auf eine »Kontaminierung von Diskursen, Gattungen, Orten und sogar Sprachen« (ebd.: 69, Übers. O.E.), die keinerlei raumgeschichtlicher, territorialisierender Rückbindung mehr unterliegt. Indien wird auf diese Weise neu pluralisiert, erfährt als les Indes, las Indias oder the Indies nun eine selbstgesteuerte Orientierung, in der Ost-Indien und West-Indien, Asien und Australien, Europa, Amerika und Ozeanien auf literarischer wie auf kulturtheoretischer Ebene in eine wechselseitige Vielgestaltigkeit und Polylogik von Relationen einbezogen und geöffnet werden. Ihr Reichtum ist auch der Reichtum transarealer Literaturen wie transarealer Studien. Denn das, was diese transareal weitaus komplexer zu verstehenden Literaturen und Theorien entfalten, wird unsere Weltsicht und unser Weltbewusstsein, nicht zuletzt aber gerade auch unser konkretes Welterleben – und dazu bedarf es keiner Sehergabe – Stück für Stück verändern und grundlegend transformieren. Die Coolitude ist alles andere als ein Problem der Anderen: Sie erlaubt uns, die Literaturen der Welt weit über die Welt der Literatur hinaus anders und neu zu verstehen und begrifflich zu begreifen. Und damit unsere Welt auf polylogische Weise weiter zu machen.
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Autorinnen und Autoren
Abel, Johanna, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Emmy Noether-Gruppe »Transkoloniale Karibik« (DFG) am Institut für Romanistik der Universität Potsdam. Im Rahmen der Erforschung transkolonialer Zirkulationsprozesse zwischen Frankreich, Spanien und den Antillen realisiert sie ein Promotionsprojekt mit dem Arbeitstitel: »Transatlantisches KörperDenken. Reisende Autorinnen in der spanischen Karibik des 19. Jahrhunderts«. Ihre Forschungsfelder umfassen kulturelle wie religiöse Transkulturationsprozesse in Lateinamerika und der Karibik, sowie hispano-karibische Literaturen und post/koloniale Literaturtheorie. In ihren aktuellen Publikationsbeiträgen beschäftigt sie sich mit kolonialen Schönheitsdiskursen in hispano-karibischen Erzähltexten und mit Archipelfigurationen und kulturspezifischem Körperwissen in Reiseliteraturen. Borst, Julia, promoviert mit einem Graduiertenstipendium der KonradAdenauer-Stiftung an der Universität Hamburg zur Darstellung von Gewalt in der zeitgenössischen haitianischen Literatur, wo sie auch als Lehrbeauftragte tätig ist. Im Zentrum ihrer Forschung stehen die karibischen Literaturen und Kulturen, Gewalt und Trauma, Kolonialität und dekoloniale Wissensproduktionen sowie Körperkonzeptualisierungen. Sie ist Mitglied verschiedener Karibikverbände und hat bisher insbesondere zur haitianischen Literatur publiziert. Zu ihren jüngsten Publikationen zählt: »L’Esthétique du débordement et le débordement de l’esthétique: la violence dans l’œuvre de Lyonel Trouillot«, in: French Review, 86.2 (im Druck). Ette, Ottmar, ist Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. In verschiedenen Ländern Lateinamerikas sowie in den USA hatte er mehrfach Gastdozenturen inne. Er war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und am FRIAS (Freiburg Institute for Advanced Studies). Seit 2010 ist er ordentliches Mitglied der Academia Europaea, seit 2012 Chevalier dans
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l’Ordre des Palmes Académiques. Zu seinen jüngsten Publikationen zählt TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte, Berlin/Boston: De Gruyter (2012). Febel, Gisela, ist Professorin für Romanistik, Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Bremen. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Gegenwartsliteraturen Frankreichs und der Frankophonie sowie der postkolonialen Räume, Renaissance, Frühe Neuzeit und Modernegeschichte, Epistemologie, Poetik und Literaturtheorie, transkulturelle Ästhetik, Literatur und Philosophie. Jansen, Silke, ist Juniorprofessorin für Iberoromanische Sprachwissenschaft an der Universität Mainz, wo sie auch eine Forschergruppe zu historischen Sprachkontakten in der Karibik leitet. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Sprachkontaktforschung und Soziolinguistik, die Varietäten des Spanischen und Französischen im karibischen Raum sowie die Schnittstelle zwischen Angewandter Sprachwissenschaft und Fremdsprachendidaktik. Zu ihren jüngsten Publikationen zählt: Indiana submersa: Antillenspanisch und indianisches Substrat, Frankfurt a.M.: Peter Lang (im Druck). Kovacshazy, Cécile, ist Dozentin für Komparatistik an der Universität Limoges, Frankreich. Sie hat die allererste Tagung zu Roma-Literaturen organisiert (2008 in Limoges, dann 2009 in Paris). Die Akten wurden in der französischen Zeitschrift Études Tsiganes veröffentlicht: Nummer 36 und 37 »Littératures tsiganes: construction ou réalité?« und Nummer 43 »Une ou des littératures romani?«. Vielfältige Publikationen zu Roma-Literaturen, zum Doppelgänger im Roman des 20. Jh. (Simplement double, Classiques Garnier, 2012), zur mitteleuropäischen Literatur, zur Figur der Dienstbotin in der modernen Fiktion. Krämer, Philipp, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Emmy NoetherNachwuchsgruppe »Philologie und Rassismus im 19. Jahrhundert« an der Universität Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Kreolistik, Soziolinguistik, Mehrsprachigkeit, Sprachpolitik und Philologiegeschichte mit den regionalen Schwerpunkten Übersee-Frankreich, Belgien und Luxemburg. Zu seinen jüngsten Publikationen zählt: »Linguistique coloniale au XIXe siècle: La doctrine racialiste dans la recherche française sur les langues créoles«, in: French Colonial History (Vol. 14, 2012). Kuhn, Helke, arbeitet als wissenschaftliche Angestellte am Lehrstuhl für Galloromanistik an der Universität Stuttgart. Sie hat ihr Dissertationsprojekt im
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Rahmen ihres Forschungsinteresses der Literaturen der frankophonen Karibik, im Besonderen des Werkes Édouard Glissants, in diesem Jahr abgeschlossen. Zu ihren jüngsten Publikationen zählt: »Rhizome, Verzweigungen, Fraktale: Vernetztes Schreiben und Komponieren im Werk Édouard Glissants« (Dissertation Universität Stuttgart 2012). Lay Brander, Miriam, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Romanische Literaturen an der Universität Konstanz. Neben dem Aphorismus in der postkolonialen Romania gehören zu ihren Forschungsschwerpunkten Literatur und Kultur im Siglo de Oro, lateinamerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts sowie Raum- und Zeittheorie. Zu ihren jüngsten Publikationen zählt: Raum-Zeiten im Umbruch. Erzählen und Zeigen im Sevilla der Frühen Neuzeit, Bielefeld: transcript (2011) [Ausgezeichnet mit dem Preis der Stadt Konstanz zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses]. Müller, Gesine, ist Leiterin einer DFG-Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe am Institut für Romanistik der Universität Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Literaturen der französischen und spanischen Romantik, lateinamerikanische Gegenwartsliteraturen und Kulturtheorie, karibische Literaturen, literarische Transferprozesse, Transkulturalität. Zu ihren jüngsten Publikationen zählt: Die koloniale Karibik. Transferprozesse in frankophonen und hispanophonen Literaturen, Berlin/Boston: De Gruyter (2012). Mutz, Katrin, ist Senior Lecturer für französische und italienische Sprachwissenschaft an der Universität Bremen. 2000 Promotion an der Universität Konstanz zum Thema »Die italienischen Modifikationssuffixe, Synchronie und Diachronie«. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Morphologie, insbesondere Wortbildung, lexikalische Semantik, Diathesen, Sprachwandel, Sprachkontakt, Kreolsprachen. Schulz, Bastienne, arbeitet als DAAD-Lektorin an der Grande École des SciencesPo de Paris in Nancy. Von 2009 bis 2012 arbeitete sie an ihrem Promotionsprojekt, in dessen Zentrum die neobarocke Ästhetik als Artikulation von kultureller Identität in zeitgenössischen Romanen der Frankokaribik steht, v.a. bei Édouard Glissant und Patrick Chamoiseau. Zu ihren jüngsten Publikationen zählt: »La poétique des romans de la Caraïbe francophone: écriture nomade«, in: Ottmar Ette et al. (Hg.), Trans(it)Areas. Convivencias en Centroamérica y el Caribe. Un simposio transareal, Berlin: Tranvía (2011).
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Tauchnitz, Juliane, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Französische und Frankophone Literatur- und Kulturwissenschaft am Lehrstuhl von Prof. Dr. Alfonso de Toro in Leipzig. Sie arbeitet an einer Dissertation zum Thema »Die Créolité im Kontext der internationalen postkolonialen Debatte um Métissage und Hybridität«, die sie in Kürze abschließen wird. Zu ihren jüngsten Publikationen zählt: »D’une vision caraïbe à une ›Multi-Relation‹ globale. L’antillanité de Glissant«, in: René Ceballos et al. (Hg.), Passagen. Hybridity, Transmédialité, Transculturalidad, Hildesheim/Zürich/New York: Olms (2010). Thill, Beate, ist seit 1983 literarische Übersetzerin und lebt in Freiburg. Ihre Schwerpunkte sind frankophone Literaturen der Karibik und des Maghreb, wie beispielsweise Édouard Glissant, Assia Djebar, J.M.G. Le Clézio und Tchicaya U Tam’si. Zudem arbeitet sie auf Literaturfestivals und hat sich mit übersetzungswissenschaftlichen Fragestellungen beschäftigt. Torabully, Khal, ist Autor eines großen literarischen Werkes (Poesie, Essay) und lebt zwischen Mauritius und Frankreich. Er gilt als der Gründer der Coolitude, die er definiert als »humanisme de la diversité née de la rencontre de l’Afrique, de l’Inde, de la Chine, de l’Europe et de l’espace musulman dans l’océan Indien, premier océan de la mondialisation«. Sein wichtigstes Referenzwerk für den vorliegenden Band ist: Coolitude: an Anthology of the Indian Labour Diaspora [mit Marina Carter], London: Anthem (2002). Ueckmann, Natascha, ist Akademische Rätin für Französische Literaturwissenschaft und eine der Sprecherinnen von INPUTS (Institut für postkoloniale und transkulturelle Studien) an der Universität Bremen. 2011 Habilitation an der Universität Bremen zum Thema »Ästhetik des Chaos. Créolisation und Neobarroco im franko- und hispanokaribischen Gegenwartsroman« (ausgezeichnet mit dem Elise-Richter-Preis, erscheint 2013). Forschungsschwerpunkte: Karibikund Diasporaforschung, Transkulturalitäts- und Hybriditätsforschung, Literatur und Film, Gender Studies, Französische Aufklärung und deren Rezeption. Vergès, Françoise, ist Consulting Professor am Center for Cultural Studies, Goldsmiths College an der University of London. Sie ist Präsidentin des Comité pour la Mémoire et l’Histoire de l’Esclavage. Zwischen 2003 und 2010 war sie Leiterin des Scientific and Cultural Development and Program of Maison des civilizations et de l’unité réunionnaise. Zu ihren jüngsten Publikationen zählt: »Lives That Matter«, in: Okwui Enwezor (Hg.), Intense Proximity. An Anthology of the Near and the Far, Paris: Triennial Catalog (2012).
Postcolonial Studies Anette Dietrich Weiße Weiblichkeiten Konstruktionen von »Rasse« und Geschlecht im deutschen Kolonialismus 2007, 430 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-807-0
Kien Nghi Ha Unrein und vermischt Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolonialen »Rassenbastarde« 2010, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1331-5
Wulf D. Hund (Hg.) Entfremdete Körper Rassismus als Leichenschändung 2009, 252 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1151-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Postcolonial Studies Cassis Kilian Schwarz besetzt Postkoloniale Planspiele im afrikanischen Film September 2012, 400 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2142-6
Julia Reuter, Paula-Irene Villa (Hg.) Postkoloniale Soziologie Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention 2009, 338 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-906-0
Markus Schmitz Kulturkritik ohne Zentrum Edward W. Said und die Kontrapunkte kritischer Dekolonisation 2008, 434 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-975-6
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Postcolonial Studies Eva Bischoff Kannibale-Werden Eine postkoloniale Geschichte deutscher Männlichkeit um 1900
Julia Verse Undoing Irishness Antirassistische Perspektiven in der Republik Irland
2011, 382 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1469-5
Januar 2012, 412 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1682-8
Sérgio Costa Vom Nordatlantik zum »Black Atlantic« Postkoloniale Konfigurationen und Paradoxien transnationaler Politik 2007, 292 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-702-8
Shadia Husseini de Araújo Jenseits vom »Kampf der Kulturen« Imaginative Geographien des Eigenen und des Anderen in arabischen Printmedien 2011, 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1646-0
Patricia Purtschert, Barbara Lüthi, Francesca Falk (Hg.) Postkoloniale Schweiz Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien Juni 2012, 422 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1799-3
Burkhard Schnepel, Gunnar Brands, Hanne Schönig (Hg.) Orient – Orientalistik – Orientalismus Geschichte und Aktualität einer Debatte 2011, 312 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1293-6
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