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German Pages 466 Year 2014
Christoph Bieber, Benjamin Drechsel, Anne-Katrin Lang (Hg.) Kultur im Konflikt
Edition Kulturwissenschaft | Band 4
Christoph Bieber, Benjamin Drechsel, Anne-Katrin Lang (Hg.)
Kultur im Konflikt Claus Leggewie revisited
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt »Alles, was in der Welt passiert, gibt es auch in Wanne-Eickel«. Ein Vorwort Christoph Bieber, Benjamin Drechsel und Anne-Katrin Lang | 11
E INLEITUNG Was ist Kultur? Ein re-konstruktiver Vorschlag Dariuš Zifonun | 17
E RINNERUNGSKULTUREN Schlachtfeld Europa. Transnationale Erinnerung und europäische Identität Claus Leggewie | 29 Kommentar
Geschichte, Geschichtsschreibung und Erinnerung Wolfgang Schmale | 45 Konzentrische Kreise oder Haleckische Geschichtsregionen? Stefan Troebst | 49 Wozu braucht Europa ein Gedächtnis? Heidemarie Uhl | 55 Die Vergangenheit als Erbe oder Last der Geschichte? Siobhan Kattago | 60 Amerika und Europa: Zwei Wege zu Gott? Claus Leggewie | 65 Kommentar
Go West! Von Adenauer zu Obama. Religiöser Markt und Christliche Demokratie Otto Kallscheuer | 81
Amerika als religiöser Transformationsraum Dan Diner | 86 Die Kluft Andrian Kreye | 90
»Meine Bilder sind klüger als ich«. Gerhard Richter und die deutsche Erinnerungskultur Claus Leggewie | 95 Kommentar
Gute Bücher und schlechte Bücher. Zu Jürgen Schreibers Ein Maler aus Deutschland und zu Gerhard Richters War Cut oder: Über die Intelligenz der Igel Marcel Baumgartner | 103 Deutschlandbilder Benjamin Drechsel | 107
D EMOKRATIEKULTUREN Republikschutz Claus Leggewie/Horst Meier | 113 Kommentar
Falscher Einwurf? Günter Frankenberg | 119
Von »Islamkritik« und »Islamofaschismus«: Wieso zivilgesellschaftlicher Republikschutz gerade heute gebraucht wird Bernd Sommer | 130 Republikschutz, Demokratieschutz, Verfassungsschutz, Bürgerschutz, Staatsschutz Eckhard Jesse | 136 REPUBLIKSCHUTZ REVISITED . Antinazistisch oder demokratisch – welche Grundordnung darf’s denn sein? Horst Meier | 141
Gibt es ein Leben nach der Demokratie? Herausforderungen des Westens durch eine Naturgefahr Claus Leggewie | 149 Kommentar
Es »neiget« nicht mehr, sondern es »zwinget«. Klimawandel, Politikwissenschaft und ein gesteigertes Anspruchsniveau Georg Bollenbeck | 159 Fixing Climate Change Means Fixing Democracy Benjamin R. Barber | 165 … wie wir sie kannten? Politik und Demokratie angesichts des Klimawandels Adalbert Evers | 169 Entweder Kant oder Untergang: Wie viel Klimawandel verträgt die Demokratie? Ulrich Beck | 174 NETIZENS – oder: Der gut informierte Bürger heute Claus Leggewie | 181 Kommentar
A Few Thoughts About the Netizen 2.0 Geert Lovink im E-Mail-Interview mit Christoph Bieber | 205
Der »gut informierte« Konsumbürger im Netz Sigrid Baringhorst | 209
M ULTIKULTUR Blick zurück nach vorn: Begriffsgeschichte Multikulturalismus Claus Leggewie im Gespräch mit Susanne Stemmler | 217 Kommentar
Multikulturalismus – die libertäre Version Karen Körber und Sighard Neckel | 227 Denken in Widersprüchen. Claus Leggewies Buch MULTI KULTI zwanzig Jahre später Navid Kermani | 230
Das Ende der Lebenslügen: Plädoyer für eine neue Einwanderungspolitik Claus Leggewie | 233 Kommentar
Einwanderungsland Deutschland Franz Mauelshagen | 237 Gut gelaunter Sisyphos Brun-Otto Bryde | 243 Noch immer ein weiter Weg Rita Süssmuth | 247
An Bedeutung nichts verloren Alfred Grosser | 251 Jenseits des Multikulturalismus. Anmerkungen zu Claus Leggewies Kampf gegen ethnische Engführungen Michael Werz | 254
G ENERATIONENKONFLIK TE Der Mythos des Neuanfangs. Gründungsetappen der Bundesrepublik Deutschland: 1949 – 1968 – 1989 Claus Leggewie | 261 Kommentar
Nur ein »Mythos« des Neuanfangs? Die Generation ’45 Hans-Ulrich Wehler | 284 »Anfangen können« – oder: Die Kunst des Politischen Albrecht von Lucke | 288
Sich ändern können – eine Theorie politischer Demokratie Friedrich Jaeger | 292 Anhaltende Mythenschwäche. So undramatisch wie die Gründung der Bundesrepublik verliefen deren Umgründungen um 1968 und nach 1989 – zum Glück! Norbert Frei | 296
Die Täter sind unter uns. Beobachtungen aus der Mitte Deutschlands Jörg Bergmann und Claus Leggewie | 301 Kommentar
Wenn es brennt Barbara Sichtermann | 329
Exemplarisches Lernen aus dem Einzelfall Detlev Claussen | 333
Die Bundesrepublik, das Ressentiment und ihre konformistischen Rebellen Micha Brumlik | 337 »IHR KOMMT NICHT MIT BEI UNSEREN ÄNDERUNGEN!« Die 89er – Generation ohne Eigenschaften? Claus Leggewie | 343 Kommentar
Die Söhne Mannheims Erik Meyer | 357 Das war vor Jahren. Nach dem Nicht-mehr-Mitkommen Diedrich Diederichsen | 360
Multipolare Welt. Generationsbildung in einer Welt ohne Zentrum Svenja Falk | 366 Was ist aus der Generation der 89er geworden? Heinz Bude | 375
W ISSENSCHAFTSKULTUREN Brüder im Geiste. Kleine Soziologie wissenschaftlicher Kollegenschaft Claus Leggewie | 379 Kommentar
Zur Soziologie wissenschaftlicher Kommunikation im Fach Politikwissenschaft Klaus von Beyme | 392
Paradoxien des Kollegialitätshabitus Jörg Bergmann | 405 Cyberwissenschaft? Ein virtueller Dialog Claus Leggewie/Christoph Bieber | 409 Neue Fenster im Elfenbeinturm? Wissenschaftskommunikation und Web 2.0 Michael Nentwich | 421 Von der Natur- zur sozialen Katastrophe. Wo bleibt der Beitrag der Kulturwissenschaften zur Klima-Debatte? Ein Aufruf Ludger Heidbrink, Claus Leggewie und Harald Welzer | 429 Kommentar
Die synchronisierte Wissenschaftsrevolution Hans Joachim Schellnhuber | 433 Wider das Diktat der Kurzfristigkeit Klaus Töpfer | 438 Sozialwissenschaftliche Klimaforschung – Gedankenfetzen Dirk Messner | 444
E INMISCHUNGSKULTUR Radio Days – oder: Vier Jahrzehnte Zeitdiagnosen. Eine Archivrecherche Wolfgang Stenke | 451
Publikationsnachweise zu den Texten von Claus Leggewie | 459 Autorinnen und Autoren | 461 Dank | 465
»Alles, was in der Welt passiert, gibt es auch in Wanne-Eickel« Ein Vorwort Christoph Bieber, Benjamin Drechsel und Anne-Katrin Lang
Das Verhältnis zwischen NachwuchswissenschaftlerInnen und ihren Doktorvätern beziehungsweise -müttern ist zwangsläufig asymmetrisch. Wissenschaftskarrieren beginnen unabhängig vom späteren Erfolg oder Misserfolg regelmäßig mit der Orientierung an den Vorgaben einer erfahrenen, im und am Wissenschaftsbetrieb gewachsenen Person. Es gilt, Materialsammlungen, Abstracts, Exposés, Gedankenskizzen und Vorträge zu fertigen, dabei zunehmend komplexere Forschungsfragen zu entwickeln sowie schließlich Aufsätze und Qualifikationsarbeiten zu schreiben – und dies immer im Hinblick auf die Ansprüche der fordernden (und hoffentlich auch fördernden) Instanz. Beim Versuch, im viel zitierten Zitierkartell Fuß zu fassen, sind die Ratschläge, aber auch die Ansprüche des »Paten« oder der »Patin« im Hintergrund von entscheidender Bedeutung. In diesem Buch drehen wir den Spieß um und begeben uns damit an das andere Ende der beschriebenen asymmetrischen Relation des »Wissenschaftsbetriebs«: Wir widmen unserem Doktorvater, Claus Leggewie, zum 60. Geburtstag keine traditionelle Festschrift im Sinne einer Sammlung mehr oder weniger zusammenhängender Einzeltexte. Stattdessen haben wir eine ganze Reihe von AutorInnen, die ihm auf die eine oder andere Weise verbunden sind, eingeladen, je einen seiner Texte noch einmal zu lesen und zu kommentieren – an dieser Stelle herzlichen Dank für die Bereitschaft zur Mitarbeit an diesem ungewöhnlichen Projekt. Ausgewählt haben wir wissenschaftliche, politische sowie journalistische Werke von Claus Leggewie, die aus unserer Sicht einerseits eine herausragende Stellung im Rahmen seiner schriftlichen Arbeiten beanspruchen dürfen und die andererseits eine gewisse Prominenz in den jeweiligen Diskursen erreicht haben. Zudem sind auch ein bislang nicht publizierter Aufsatz sowie zwei aktuelle Gespräche von und mit Claus Leggewie abgedruckt. In der wissenschaftlichen Biografie von Claus Leggewie gibt es nur wenige Konstanten. Das Motiv der »Visite« ist eine davon – die Besich-
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tigung, Vermessung und Analyse von Themen und Diskursen sind verlässliche Größen im akademischen Lebenslauf, Perspektiv- und Standortwechsel eingeschlossen, innerhalb wie außerhalb des »Elfenbeinturms«. Formal ist Claus Leggewie seit 1989 gebunden an die Justus-Liebig-Universität Gießen, die nicht unbedingt bekannt ist für eine Drehkreuzposition in der weltweiten Wissenschaftslandschaft. Von der »Kulturstadt an der Lahn« behaupten manche, dass man dort nicht gut leben könne – (wissenschaftlich) arbeiten lässt es sich dort aber sehr wohl. Im Gießener Doktoranden-Diskurs wurden Vor- und Nachteile von komplexitätsreduzierter Abgeschiedenheit übrigens als Gegenkonzept zu urbaner Ablenkung und Überforderung als das »Dorf-Güll-Theorem« verhandelt – auch heute findet der Doktorvater dafür noch Verwendung: »Alles, was in der Welt passiert, gibt es auch in Wanne-Eickel« (Stadtmagazin inherne, Nr. 1/2009, S. 19). Nachdem in den frühen 1990er Jahren Leggewies Visiten vornehmlich in Medienumgebungen vielfältigster Art führten, folgte bald darauf ein akademisches Oszillieren zwischen Mittelhessen und diversen Metropolen auf Augenhöhe (New York, Berlin, Wien). Mit der Visite am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) scheint die Optimierung des Konzepts gelungen. Für den vorliegenden Band sind ausgewählte Texte von kundigen AutorInnen einer Re-Visite unterzogen worden: Von strenger wissenschaftlicher Kritik bis zu überschwänglicher Zustimmung war uns dabei alles willkommen, was einer sachlichen Auseinandersetzung mit Claus Leggewies Thesen dienlich sein konnte. Das Format der Re-Visite passt dabei überraschend gut zum inhaltlichen Rahmenkonzept, gilt doch die Visite als »Teil eines strukturellen Konfliktes […] um Kommunikationschancen, und er wird mit kommunikativen Mitteln ausgetragen« (Thomas Bliesener (1982): Die Visite – der verhinderte Dialog, Tübingen: Narr, S. 14).Von einer Dialogverhinderung kann hier jedoch keine Rede sein: Wir haben den KommentatorInnen lediglich mit auf den Weg gegeben, dass sie, ganz im Sinne der Leggewieschen Arbeitsweise, seine Texte gegen den Strich lesen sollten. »Kultur im Konflikt« lautet ein Titel, den Claus Leggewie bereits in den 1990er Jahren für eine Publikation angemeldet hatte. Das Buch ist jedoch nie erschienen – und das ist gut so: Ein besseres Leitmotiv für unser Re-Visions-Projekt konnte es nicht geben. In zahlreichen seiner Texte und Themen – von Moscheenbau und Minarettstreit bis hin zu europäischen Identitätsentwürfen und transnationalen Erinnerungskulturen – bilden konfliktsoziologische Überlegungen den Kern von Leggewies Argumentation. In Anlehnung an Georg Simmel vertraut er auf die positive und integrierende, aber auch modernisierende Kraft von Konflikten. Dabei hat der Kultur- und Sozialwissenschaftler, aber auch der Feuilletonist, kurz: der öffentliche Intellektuelle Claus Leggewie über viele Jahre hinweg die politischen Debatten der Republik, teilweise auch weit darüber hinaus, geprägt. Mit seinen Texten hat er ebenso aktiv in Erinnerungs-, Wissenschafts- und andere -kulturen eingegriffen wie in die zugehörigen Kon-
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flikte. Dass er viele Trends früh erkannt hat, ist kein Geheimnis, ebenso wenig die große Vielfalt der von ihm behandelten Themen. Wie aber steht es um die Nachhaltigkeit seiner Vorschläge, Thesen, Anregungen und Gedankenspiele? Hier wollten wir nachhaken und haben fünf Konfliktfelder ausgemacht, in denen die folgenden Auseinandersetzungen mit Claus Leggewies Texten aus der Perspektive des Jahres 2010 zu verorten sind: »Multikultur«, »Demokratiekulturen«, »Erinnerungskulturen«, »Generationenkonflikte« und »Wissenschaftskulturen«. Für jedes Segment haben wir mehrere Texte ausgewählt, die es zu kommentieren galt – von verschiedenen AutorInnen, aus unterschiedlichen Perspektiven. Symbolisches Handeln ist »Arbeit am Widerspruch« (Hans-Georg Soeffner (2004): Protosoziologische Überlegungen zur Soziologie des Symbols und des Rituals. In: Bernhard Giesen/Jürgen Osterhammel/Rudolf Schlögl (Hg.): Die Wirklichkeit der Symbole. S. 41-72, hier: S. 57). Kulturwissenschaftlich informierte Sozialwissenschaftler (wie Claus Leggewie sie beispielhaft verkörpert) wissen sehr genau, dass ihre Forschungsgegenstände und -produkte von Symbolsystemen überformt sind. So auch der vorliegende Band: Folgerichtig erfährt das langjährige Wirken von Claus Leggewie in den einzelnen Beiträgen standesgemäße Widersprüche (die freilich auch als Unterstützung formuliert sein können) und wird so in seiner produktiven Widersprüchlichkeit kenntlich gemacht. Auch die HerausgeberInnen tragen ihren Teil zur symbolischen Zeichensetzung bei und bringen das schwierige Festschriften-Ritual zu seinem adäquaten Abschluss: Herzlichen Glückwunsch an Claus Leggewie zum Sechzigsten!
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Einleitung
Was ist Kultur? Ein re-konstruktiver Vorschlag Dariuš Zifonun
Er hat ihn nicht geschrieben, den Essay, in dem Claus Leggewie seinen Begriff von Kultur expliziert und seinen Zugang zu den Kulturwissenschaften vorstellt. Ist es also die Rache des Wissenschaftsbetriebs am Ironiker, ihm just in der kommentierten Sammlung seiner Beiträge einen Aufsatz unterzujubeln, in dem es um den Kulturbegriff geht? Soll ihm damit angezeigt werden, was fehlt, soll er auf etwas festgelegt werden, obwohl er vielleicht gerade diese Festlegung vermeiden wollte? Wir müssen nicht so tun, als könnten wir in Claus Leggewies Kopf schauen. Es ist nicht notwendig, zu behaupten, er habe sich bewusst dagegen entschieden, den Kultur-Essay zu schreiben oder so zu tun, als müsse dieser zwangsläufig fehlen. Wir können es bei der schlichten Feststellung belassen: Es gibt ihn nicht, den konzeptionellen Aufsatz, und wir können von hier aus fragen, welcher Sinn sich damit verbinden könnte. Eine mögliche Antwort könnte lauten: Der Ironiker weiß, dass eine umfassende Klärung des Begriffs nicht möglich ist, dass er ohne ihn aber auch nicht auskommt. Jeder seiner Texte wäre demnach ein Kultur-Essay, in dem ein Ausschnitt dessen, was Kultur ausmacht, ›lokal‹ begriffen oder eine Ausprägung von Kultur ›im Kontext‹ fokussiert wird. So ließen sich dann aus der Textlektüre die Kulturbegriffe rekonstruieren, derer sich Leggewie bedient. Dies soll dann auch das Anliegen dieses Beitrags sein, der der Maßgabe folgt, auf eine vereindeutigende Synthese der rekonstruierten Kulturbegriffe zu verzichten. Eine solche Rekonstruktion kann jedoch nicht rein induktiv erfolgen. Für ihr Gelingen ist die Bezugnahme auf ›anschlussfähiges‹ theoretisches Wissen notwendig. Die Wissenssoziologie drängt sich zu diesem Zweck auf: Sie teilt die Skepsis gegenüber einer ›grundbegrifflichen‹ Verwendung von Kultur und sucht nach Wegen, die Frage nach ›Sinn‹ und ›Bedeutung‹ unter Rekurs auf ›Gesellschaft‹ zu beantworten.
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K ULTUR ALS S INNGEBILDE , W ISSENSBESTAND UND GESELLSCHAF TLICHE I NSTITUTION »Believing, with Max Weber, that man is an animal suspended in webs of significance he himself has spun, I take culture to be those webs, and the analysis of it to be therefore not an experimental science in search of law but an interpretive one in search of meaning« (Geertz 1973: 5).
Clifford Geertz’ Rede vom Tier, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, verweist auf die anthropologische Grundlage von Kultur. Als Wesen ohne »Instinktsicherheit« ist der Mensch, so Helmuth Plessner, »konstitutiv heimatlos«. In dieser »Ergänzungsbedürftigkeit« liegt »der letzte Grund für das Werkzeug und dasjenige, dem es dient: die Kultur« (Plessner 2003: 384f.; Herv. i. O.). Für Plessner hat Kultur damit jenseits aller Fragen nach einer Empirie der Kultur eine existentielle Bedeutung. Und mehr noch: Er betont ihr »Eigengewicht«. Sie kann dem Menschen erst zur »zweiten Natur« werden, »wenn die Ergebnisse seines Tuns sich von dieser ihrer Herkunft kraft eigenen inneren Gewichtes lösen« (Plessner 2003: 385). Kultur kann daher keineswegs als rein mentales, kognitives Gebilde verstanden werden. Sie ist auch keine pure Idee, die sich frei gestalten ließe und kann auch nicht in jeder Situation neu erschaffen werden. Kultur verfestigt sich zur Institution. Genauer gesagt objektiviert sie sich zur gesellschaftlichen Institution. Nicht nur erwerben wir sie von anderen, unser gesamtes Tun steht unter dem Vorbehalt der Unausweichlichkeit der anderen. Wenn uns Kultur also Verhaltenssicherheit gewährleisten soll, so kann sie dies nur als kollektiver Wissensbestand, der geteilten Sinn konstituiert und die Koordination unseres Tuns mit anderen ermöglicht. Eigengewicht hat Kultur, weil sich in ihr Wissen soweit verfestigt, dass es den Charakter objektiver Wirklichkeit annimmt. Wie dies geschieht, haben Peter Berger und Thomas Luckmann in ihrer Wissenssoziologie ausbuchstabiert. Den Ausgangspunkt bilden subjektive Sinnsetzungen, die sich für den einzelnen durch Wiederholung habitualisieren und die ihm so Handlungssicherheit und Entlastung verschaffen. Wenn derartige Handlungsmodelle, die ein Einzelner als individuelle Lösungen für seine Probleme entworfen hat, nun von anderen übernommen werden und sich von den ursprünglichen individuellen Problemkontexten lösen, sprechen Berger und Luckmann in einem zweiten Schritt von Institutionalisierung (vgl. Berger/Luckmann 1980: 58ff.). Der Gewinn der Institutionalisierung für die Handelnden ist die Vorhersehbarkeit der Handlungen des anderen und die dadurch erreichte Entlastung. Durch sie entsteht ein gemeinsamer Horizont der Routine, der zum einen Arbeitsteilung und zum anderen die Einführung von Neuerungen ermöglicht, durch deren Habitualisierung wiederum weitere Institutionalisierungsprozesse einsetzen, die die Grundlage einer »expansiven institutionalen Ordnung« bilden (Berger/Luckmann 1980: 61). Voraussetzung dafür ist die Existenz einer
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dauerhaften gesellschaftlichen (d.h. geteilten) Situation. Der Institutionalisierungsprozess erreicht seinen Abschluss, wenn Dritte – bei Berger und Luckmann heißt das vor allem: eine neue Generation – ins Spiel kommen, an die die Institutionen vermittelt werden und für die diese dann als Sache an sich erscheinen. Wenn eine neue Generation auftritt, bedarf die habitualisierte, institutionalisierte Welt, deren Sinn sich ihren primären Nutzern noch direkt entschlüsselt, der Rechtfertigung und Erklärung, d.h. der Legitimation, da deren Sinn nun eben nicht mehr aus den Tätigkeiten heraus sich selbst erklärt und nur noch das objektivierte Endprodukt, die Institution, erkennbar ist. Diese Legitimationsformeln müssen miteinander übereinstimmen und in einem sinnvollen Zusammenhang mit der Institution stehen. Die institutionelle Ordnung erhält ein »Dach aus Legitimationen« (Berger/Luckmann 1980: 66). Kultur lässt sich aus dieser Perspektive nicht losgelöst von den ›sozialen Gebilden‹ betrachten, die sie hervorbringen und die ihr Dauerhaftigkeit und Geltung verschaffen. Soziale Gruppen, also Kollektive, die über »ein Bewußtsein der Gemeinsamkeit und soziale Beziehungen« verfügen, welche sie »zu abgestimmtem Handeln untereinander, und gemeinsamem Handeln nach außen befähigen« (Tenbruck 1971: 295) sind die Träger von Kultur. In diesem Sinne macht es Sinn von bürgerlicher Kultur, Arbeiterkultur, deutscher oder amerikanischer Kultur oder der Kultur der ›Netizens‹ (Leggewie 1997) zu sprechen. Diese Kulturgemeinschaften prägen die Traditionen aus, die ihren Angehörigen als ›Lebensbewältigungstechniken‹ dienen. Diese Perspektive einzunehmen heißt, Kulturwissenschaft als Soziologie zu betreiben.
K ULTUR ALS SUBJEK TIVER W ISSENSBESTAND UND KOLLEK TIVER M Y THOS Clifford Geertz knüpft in seiner Bestimmung des Kulturbegriffs explizit an Max Weber an. Ihm darin zu folgen heißt aber auch, die kritische Anfrage von Alfred Schütz Ernst zu nehmen, dem der Webersche ›Sinn‹-Begriff zu unbestimmt erschien. Das zwingt in unserem Zusammenhang ausdrücklich zu der Feststellung, dass die ›selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe‹ zu unserer Wirklichkeit nicht allein dadurch werden, dass sie gesellschaftlich konstruiert werden. Sie erlangen Realität, weil sie das Produkt individueller Bewusstseinsleistungen sind. Die Konstitution der Wirklichkeit vollzieht sich in den menschlichen Bewusstseinstrukturen, die vorgeben, wie wir wahrnehmen, wie wir Erlebnisse verarbeiten und wie wir unser Handeln organisieren und durchführen. Strukturierend wirkt dabei insbesondere die menschliche Fähigkeit zur Typisierung von Erfahrungen und zum Entwerfen von Deutungsschemata (vgl. Schütz/ Luckmann 2003). Die subjektive Konstitution hat auch zur Folge, dass der Einzelne nie über die Gesamtheit des in seiner Gesellschaft vorhandenen Wissens verfügt. So wie er subjektive (etwa körperliche) Erfahrungen
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macht, die nicht sozialer Natur sind und nicht mit dem gesellschaftlichen Wissen verarbeitet werden können, ist auch nicht alles gesellschaftliche Wissen von Bedeutung für ihn. Er bricht sich jene Bestandteile des Wissens heraus, die für ihn relevant sind. Die Wirklichkeit liegt jedem Einzelnen also nur subjektiv – gebunden an seinen Körper und seinen Standort in der Welt – als seine eigene Wirklichkeit vor. Daraus folgt auch das ›Naturrecht‹ des Individuums zur Abweichung von den kollektiven Zumutungen seiner Kultur. Dieses Recht zu bewahren und durchzusetzen wird dann besonders prekär, wenn sich Kultur zum Mythos verfestigt. Mythen stiften symbolische Einheit, sie verleihen ›inneres Band und zeitliche Kontinuität‹ (Leggewie 1996) indem sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer sinnhaften Einheit verknüpfen. In der Sprache der Wissenssoziologie begründen Mythen ›symbolische Sinnwelten‹. Durch sie erlangt die institutionelle Ordnung »symbolische Totalität« (Berger/Luckmann 1980: 102). Der Mythos verweist darauf, dass eine historisch lokalisierte Gruppe eingebunden ist in den »Kosmos eines umfassenden Sinnzusammenhanges« (Soeffner 1990: 54), der im Mythos ausformuliert wird. Auf Ebene des Mythos »konstituieren Kollektivsymbole das Gefühl der Gemeinschaft ebenso wie sie deren (Kollektiv-) Bewußtsein und Fortbestehen zu sichern helfen« (Soeffner 1991: 74). Umgekehrt »repräsentieren und stützen zentrale Kollektivsymbole konkrete historische Mythen« (Soeffner 1991: 74) und machen diese für den einzelnen erfahrbar und zu einem Bestandteil seiner Wirklichkeit. Der Begriff des ›Kollektivsymbols‹ bezeichnet also nicht allein, dass Symbole kollektiv geteilt werden, sondern dass über sie ein Kollektiv und kollektive Identität überhaupt erst gebildet werden. Kollektive Identität kann entsprechend als »Steigerungsform« gesellschaftlicher Beziehungen verstanden werden, die »Zugehörigkeit in Zusammengehörigkeit und Masse in ein solidarisch handelndes Kollektivsubjekt« (Assmann 1992: 134) transformiert und ›das Gefühl der Gemeinschaft‹ mobilisiert, wo sonst – bei einer ›einfachen‹ Identifikation mit der Gesellschaft (vgl. Berger/Luckmann 1980: 143) und ohne symbolische Überhöhung der Wir-Gruppe – lediglich die habituelle Übernahme sozialer Verhaltensnormen zu erwarten wäre. Aus durch einzelne Symbole repräsentierten Normen und Werten werden – mythisch überhöht – ›unsere‹ Normen und ›unsere‹ Werte. Nationale Erinnerungspolitiken wie generell mythisch überhöhte Gemeinschaftsvorstellungen von der Nation konfrontieren den einzelnen Erinnernden wie den Alltagsmenschen mit diesen transzendenten Wirklichkeiten und ihren außeralltäglichen Ansprüchen auf Gefolgschaft und Solidarität.
K ULTUR ALS P ROZESS Was innerhalb einer Gesellschaft als wirklich angenommen wird, erweist sich als nicht objektiv vorgegeben, sondern als in Konstruktionsprozessen objektiviert. Soziale Konstruktionen sind damit grundsätzlich offen für Aus-
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einandersetzungen um ihre Gültigkeit: Wirklichkeit kann immer wieder neu und immer auch anders bestimmt werden. Bedeutungsfestlegung ist folglich als Kampf um Deutungsmacht und somit als Politik zu verstehen; Politik ist dem Menschen durch seine kulturelle Natur als Zwang auferlegt. Ronald Hitzler bezeichnet den Versuch, Deutungsmacht zu erringen, als ›quasipolitisches Handeln‹ und unterscheidet es von ›politischem Handeln im engeren Sinn‹, das auf die ›allgemeine Verbindlichkeit‹ von Wirklichkeitsdeutungen zielt und die Repräsentation einer »Idee des Gemeinwesens« (Hitzler 2002: 21ff.) beinhaltet. Es überschreitet damit den Bereich des quasipolitischen Alltagshandelns und ist auf die Gesellschaft bezogen. »Kultur als Prozess« (Wimmer 2005) meint damit zunächst ganz basal die Frage nach der performativen und kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit. Diese kann in streng formalisierten Ritualen vollzogen werden, sich als Aushandeln (Strauss 1978) oder Alltagskonflikt darstellen. Da Kultur eben auch ein Prozess ist, erneuern sich auch die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft kontinuierlich. Wenn im politischen Diskurs die ›Idee des Gemeinwesens‹ zur Disposition gestellt wird, werden Sinngrenzen überwunden und neu errichtet und zugleich die sozialen Grenzen des Kollektivs geöffnet und wieder geschlossen, wie dies etwa in Moscheekonflikten zu beobachten ist (Leggewie 2009). Wenn wir uns Kultur aus dieser Perspektive zuwenden heißt das, Kulturwissenschaft als Politikwissenschaft zu betreiben. Es heißt jedoch nicht, ›konstruktivistisch‹ einer vollständigen reflexiven Verfügbarkeit von Kultur das Wort zu reden. Dagegen spricht das ›Eigengewicht‹ von Kultur. Der Prozess der Institutionalisierung ist nicht hintergehbar. Jeder Konstruktionsprozess beruht selbst auf unhinterfragten Strukturen genauso wie er neue Institutionen hervorbringt.
D IE K ULTUR DER M ODERNE Es sei ein weiteres Mal auf das Geertz-Zitat zurückgekommen. Die deutsche Übersetzung weicht auf entscheidende Weise vom Original ab. So heißt es an der Stelle, die im englischen Text ›I take culture to be those webs‹ lautet: »wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe« (Geertz 1987: 9). Die sprachliche Übertragung genau wie ein Großteil der deutschen Rezeption suggeriert, dass Kultur etwas Einförmiges darstellt, aus einem Stück besteht und damit eine Einheit bildet. Diese Annahme ist gerade mit Blick auf die moderne Kultur irrig und irreführend. Die moderne Kultur ist multikulturell: Sie ist geprägt durch das Nebeneinander und Miteinander alternativer Kulturbestände, an deren Grenzen es zu Geltungs- und Anerkennungskonflikten kommt (Leggewie 1990). Sie ist interkulturell: Sie lebt von ihren inneren Spannungen und Widersprüchen, die den Movens ihrer ständigen Erneuerung bilden (Leggewie/Zifonun 2010). Sie ist transkulturell: Sie verfügt über kulturübergreifend geteilte Bedeutungsrepertoires und Sinnformen (Leggewie 2003).
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So verändern kulturelle Formen und Mechanismen unter den Bedingungen von Modernität ihre Bedeutung und treten neue Kulturträger auf die Bühne. Dies gilt zunächst für den Mythos, der nicht mehr länger Anschluss an Tradition herstellt, sondern vollzieht ›Gründung als permanenten Prozeß der Neu-Gründung‹ (Leggewie 1996). Des Weiteren sind nicht mehr länger stabile und umfassende Gruppen die Träger von Kultur, sondern Milieus, Szenen und um einzelne Themen und Handlungskerne zentrierte soziale Welten, die lediglich Teilzeitwelten mit Teilzeitzugehörigkeiten bilden: »Die Liebhaber diverser Hunderassen oder Automarken, die Freunde sadomasochistischer Praktiken oder der christlichen Paarbeziehungen, die Anhänger des Snowboarding und die Fans des 1. FC Köln bilden kleine Bereiche der Kultur aus, die zu flüchtig sind, um sie als Gruppierungen zu beschreiben, zu sichtbar aber, um sie übersehen zu dürfen […] Gerade weil die moderne Gesellschaft sich in vielen solcher Ausschnitte präsentiert, zeigt sie sich gerade in ihren Ausschnitten in ›Lokalen Kulturen‹ am deutlichsten« (Knoblauch 1996: 15). Diese ›kommunikativen Lebenswelten‹ bilden keine primären Traditionen aus im Sinne von gesellschaftlichen Institutionen, die über mehrer Generationen tradiert werden und als legitim gelten. Stattdessen sind sie geprägt von kommunikativen Institutionen: Nach dem Ende der Verbindlichkeit von Traditionen übernehmen verbindliche Redeweisen deren Funktion. »Der Verlust traditionaler Verbindlichkeiten hat eine ›Dauerreflexion‹ zur Folge; was nicht mehr gemeinsam ist, steht eben nun zur Debatte, muß also kommunikativ neu ausgehandelt werden. Das heißt, daß die schwindenden Verbindlichkeiten der Tradition, des gemeinsamen Hintergrundwissens nun durch kommunikative Traditionen ersetzt wird« (Knoblauch 1996: 18). Aber auch der Konflikt erweist sich als produktive kulturelle Form: Die kommunikative Austragung von Konflikten bringt Menschen zusammen (›vergesellschaftet‹). Konflikte folgen ihren eigenen Regeln und nicht zuletzt erwachsen aus Konflikten neue kulturelle Kompromisse. Genannt werden muss schließlich der Kulturträger Generation. Eine Generation ist eine von ihren Angehörigen subjektiv empfundene Wir-Gruppe, deren geteilte Haltung zur Welt sich aus einer gemeinsamen historischen Erfahrung, einem geteilten historischen Ereignis speist. Generationen als ›Agenturen der Sozialisation und Enkulturation‹ (Leggewie 1996) verfügen damit nicht nur über ihre je eigene Kultur, sondern Generation ist selbst als Kulturprinzip zu verstehen.
Z WEI SOZIALE R OLLEN : K ULTURWISSENSCHAF TLER UND POLITISCHER I NTELLEK TUELLER Charakteristisch ist für die moderne Kultur schließlich, dass sich die sozialen Rollen, die sie für jeden Einzelnen bereithält, widersprechen. Zugleich jedoch liefert die moderne Kultur die Mechanismen, die es uns
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erlauben, die konkurrierenden normativen Verhaltenserwartungen zu managen (vgl. Merton 1957). Die Rollen des Kulturwissenschaftlers und des politischen Intellektuellen können dies exemplifizieren. Das Geertz-Zitat gibt einen Hinweis auf das methodische Prinzip, dem der Kulturwissenschaftler zu folgen hat. Er kann nicht vermeintliche Kulturgesetze ergründen, sondern muss Sinn rekonstruieren. ›Kulturbedeutung‹ lässt sich nicht abstrakt bemessen, da es keine allgemeinen, den Naturgesetzen vergleichbaren Kulturgesetze gibt, sondern nur unter Rekurs auf die Selbstdeutungen der Handelnden. Das von Alfred Schütz formulierte »Postulat der Adäquanz verlangt, dass die Konstruktionen des Sozialwissenschaftlers mit den Konstruktionen der Alltagshandelnden konsistent zu sein haben. Sie müssen also verständlich sein und ein Handeln zutreffend erklären […]. Damit erklären wir die subjektive Perspektive des einzelnen Akteurs zum tatsächlich letzten Bezugspunkt für sozialwissenschaftliche Analysen, denn ›das Festhalten an der subjektiven Perspektive‹ bietet, so Schütz, ›die einzige, freilich auch hinreichende Garantie dafür, dass die soziale Wirklichkeit nicht durch eine fiktive, nicht existierende Welt ersetzt wird, die irgendein wissenschaftlicher Beobachter konstruiert hat‹« (Hitzler/Eberle 2000: 113; Herv. i. O.). Der Kulturwissenschaftler ist damit darauf festgelegt zu rekonstruieren. Anders der politische Intellektuelle: Er soll die Sinnpotentiale einer Gesellschaft ergründen und zur Diskussion stellen. Er tut dies, indem er darauf verweist, dass sich eine potentielle Generation nicht als solche formiert und dadurch ein gesellschaftliches Erneuerungspotential verloren geht, indem er der Einwanderungsgesellschaft vorhält, dass sie sich nicht als solche erkennt oder indem er der karbonstarrenden Gesellschaft Wege ins postkarbone Zeitalter weist. Der politische Intellektuelle ist selbst Mythosunternehmer. Er nutzt die Kraft des Mythos, um »zu repräsentieren, was man mit seinem Werk und seinen Interventionen vertritt« (Said 1997: 131) – und er stellt den Mythos diskursiv zur Disposition – das unterscheidet den Ironiker vom ironiefreien Intellektuellen der klassischen Moderne. Es schadet dem Konstrukteur kaum, wenn er auch als Rekonstrukteur auftritt. Im Gegenteil: Politische Forderungen mit wissenschaftlicher Expertise untermauern zu können, ist im Zeitalter rationaler Mythen eine Fähigkeit, die befördert und nicht beschädigt. Anders jedoch, wenn der Rekonstrukteur von seinesgleichen als Konstrukteur geoutet wird. Da hilft es, die Rollen zeitlich, räumlich und kommunikativ zu trennen. Die eine spielt sich tagsüber in Seminarräumen und Vorlesungssälen ab und artikuliert sich in wissenschaftlichen Fachpublikationen, die andere hat ihre Zeit am Abend z.B. bei Podiumsdiskussionen und äußert sich in den Massenmedien. Glücklich, wer ein Amt findet, das die Integration beider Rollen nicht nur erlaubt, sondern erzwingt. Zum Beispiel das des Direktors eines außeruniversitären kulturwissenschaftlichen Instituts.
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Erinnerungskulturen
Schlachtfeld Europa Transnationale Erinnerung und europäische Identität Claus Leggewie
Dass Europa sich in einer Krise befindet, ist längst ein Gemeinplatz. Erst war es eine Krise der Erweiterung, dann eine Vertiefungs- und schließlich auch eine Verfassungskrise. Daran konnte die vergangene französische Ratspräsidentschaft unter einem hyperaktiven Präsidenten Nicolas Sarkozy wenig ändern; und auch der gegenwärtige Vorsitz Tschechiens mit dem ausgewiesenen EU-Skeptiker Václav Klaus gibt kaum zu größerer Hoffnung Anlass. Insofern wäre es bereits eine positive Überraschung, wenn die Wahlen zum Europäischen Parlament, die in den inzwischen 27 EU-Staaten vom 4. bis 7. Juni dieses Jahres stattfinden, wenigstens die ihnen gebührende Beachtung fänden. Leider ist jedoch auch hier das Gegenteil zu erwarten. Die politische Zukunft der Europäischen Gemeinschaft erscheint somit nach wie vor ungewiss. Anders verhält es sich dagegen mit der europäischen Vergangenheit. Seit im Herbst 2007 im Brüsseler Thurn-undTaxis-Palais ein unprätentiöser und gelungener Überblick über »unsere Geschichte« zu besichtigen ist, die jetzt nicht mehr Nationalgeschichte, sondern die Geschichte Europas seit 1945 sein soll, fehlt es nicht an sarkastischen Kommentaren, wonach Europa, wenn schon keine Verfassung, so doch immerhin ein Museum hat. Ist Europa, angesichts seiner politischen Probleme, also inzwischen museumsreif? Tatsächlich ernster zu nehmen ist wohl die Frage, ob die Europäerinnen und Europäer – viele Millionen EU-Bürger, aber auch Schweizerinnen und Ukrainer, Türkinnen und Norweger –, ob also dieses größte NochNicht-Volk der Erde Erinnerungen teilt und eventuell ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein hat (vgl. Diner 2007; Sznaider 2008; Judt 2006; Schmale 2001). Oder haben sollte, nicht zuletzt, um seine politischen Probleme besser zu bewältigen. Die einzelnen europäischen Nationen haben sich einen Vorrat an Großerzählungen und Mythen zugelegt, um innerhalb gesetzter Grenzen solidarisch handeln zu können. Was ist dann mit
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dem vereinten Europa – in welchem (Doppel-)Sinne1 hat es eine »geteilte Erinnerung«? Skeptiker misstrauen jeder supranationalen Aufspreizung des Europagedankens, weil er die Staats- und Parlamentssouveränität der Mitgliedstaaten und Nationen beeinträchtigt.2 Wer solche Gefahren wittert (in London ebenso wie in Paris oder Athen und erst recht in Warschau), wird auch gemeineuropäische Kommemoration für eine Überanstrengung halten, da sie doch nur alte Konflikte anheizt. Das belegen die erbitterten Auseinandersetzungen über Vertreibungen und ethnische Säuberungen seit 1944 (Mamdani 2007). Nichts könnte die Instrumentalisierbarkeit historischer Konflikte drastischer dokumentieren als die Tatsache, dass der polnischen Staatsspitze zur europäischen Verfassungsdebatte unlängst einfiel, man müsse die Nazi-Opfer einrechnen, um Polens Stimmenanteil im heutigen Europa korrekt zu bestimmen. Für Nationalbewusste ist Europa wesentlich eine Freihandelszone, die nur bei Angriffen von außen kollektiv handelt; und memorabel sind höchstens Abwehrschlachten gegen äußere Feinde und interne Barbaren wie die Nazis. Deren Niederringung im Mai 1945 wird in der Tat fast auf dem ganzen Kontinent gedacht (Schwartz/Mehringer/Wentker 1999). Aber in der estnischen Hauptstadt Tallinn konnte man 2007 besichtigen, welchen Streit auch das auslöst. Die Verlegung eines sowjetischen Ehrenmals, das man im Baltikum nachvollziehbarerweise als Monument jahrzehntelanger Okkupation und Unterdrückung ansieht, aus der Innenstadt der estnischen Hauptstadt führte zu einer echten Staatskrise zwischen Estland und der Russischen Föderation. Bemerkenswert ist dabei, dass es nicht zu einer Krise zwischen der EU und Russland kam, was darauf hindeutet, wie wenig sich die Europäische Union von diesem Vorgang betroffen fühlte. Genau unter Einschluss dieser durch die sowjetische Besetzung des östlichen Europa markierten Erfahrung hatte Jorge Semprun, 1943 bis 1945 Häftling in Buchenwald, zum 60. Jahrestag der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager gefordert, die EU-Erweiterung könne kulturell und existenziell nur gelingen, »wenn wir unsere Erinnerungen miteinander geteilt und vereinigt haben werden« (Semprun 2006). Wer einer europäischen Gesellschaft kollektive Identität verleihen möchte, so meine These, wird also die Erörterung und Anerkennung der
1 | Etymologie und Semantik des Teilens beinhalten das Trennende (Abteilen, Erbteilung) ebenso wie das Verbindende (Beteiligung, Mitteilen), als Gegenteil (oder Nachteil) und Anteilnahme (oder Vorteil). 2 | Am differenziertesten ist diese Position bei Ralf Dahrendorf (2002): Die Krisen der Demokratie. Ein Gespräch mit Antonio Polito, München: C.H.Beck; am plattesten in der rechtsgerichteten EU-Parlamentsgruppe Union für ein Europa der Nationen.
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strittigen Erinnerungen genauso hoch bewerten wie Vertragswerke, Währungsunion und offene Grenzen3.
E RSTER K REIS : D ER H OLOCAUST ALS NEGATIVER G RÜNDUNGSMY THOS ? Ein generelles Problem stellt sich dabei: Anders als seine Nationen früher, kann das heutige Europa nicht Heldentaten ausstellen, sondern in historischer Tiefendimension nur an die großen Katastrophen des langen 20. Jahrhunderts erinnern (Giesen 2004). Erklärte Außenseiter und Feinde von einst müssten dabei ausdrücklich einbezogen werden. Wenn man diesem Versuch gegen die Re-Nationalisierung der Erinnerung eine Chance geben will, kann man Anker- und Fluchtpunkte einer supra- und transnationalen Erinnerung in konzentrischen Kreisen ausbreiten und an Daten und Orten exemplifizieren, die mit dem 27. Januar 1945 in Auschwitz beginnen. Der Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz wird mittlerweile in ganz Europa als Holocaust Memorial Day begangen4. Der gemeinsame Rekurs auf das singuläre Menschheitsverbrechen des Mordes an den europäischen Juden ist das Angebot eines negativen Gründungsmythos für Europa (Schwelling 2006). Die Europäisierung der deutschen Geschichtspolitik – Timothy Garton Ash sprach ironisch von einer »deutschen DIN-Norm« (Ash 2002) – wirkt fürs Erste plausibel, insofern Antisemitismus und Faschismus in der Tat gesamteuropäische Erscheinungen waren und der Mord an den Juden ohne breite Kollaboration europäischer Regierungen und Menschen unmöglich gewesen wäre. Ein Mémorial de la Shoah ist heute auch in Paris eine Selbstverständlichkeit, selbst Polen steht, nach der Debatte um das keineswegs isolierte Pogrom in Jedwabne, vor einem ähnlichen Erkenntnisprozess, der angesichts eines grassierenden Antisemitismus wohl noch Jahre dauern wird5. Kann der Holocaust aber eine politische Handlungsanleitung für das heutige Europa sein? Im Januar 2000 sollte das im Stockholm International Forum on the Holocaust verankert werden, mit einer allzuständigen Gegenwartsbewältigung, die (einmal und bisher nie wieder) an Österreich 3 | Zu den konfliktsoziologischen Voraussetzungen dieser Prämisse in Bezug auf Simmel (1908) und andere Klassiker vgl. Nollmann (1997), sowie Hirschmann (1994). Für eine Darlegung der Geschichtskonflikte vgl. Große Kracht/Jessen/ Sabrow (Hg.) (2003); sowie Leggewie/Meyer (2005). 4 | Der Yom HaShoah am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, wird in Israel als Nationaler Trauertag und mittlerweile, unterstützt vom Europäischen Parlament (2000) und von den Vereinten Nationen (Deklaration von 2005), in vielen west- und osteuropäischen Nationen begangen. 5 | Exemplarisch die Debatte um das Buch von Jan Gross (2006): Fear: AntiSemitism in Poland After Auschwitz.
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erprobt wurde, als Wolfgang Schüssel eine Koalition mit der FPÖ, der Partei des notorischen NS-Verharmlosers Jörg Haider, bildete (Kroh 2007). Daraus wurde 2007 operative Politik, indem die Leugnung des Holocaust in der gesamten Europäischen Union unter Strafe gestellt werden soll. Ob eine derartige Aktualisierung des Holocaust politisch-ethisch geboten ist und seine Instrumentalisierung für gegenwärtige Zwecke praktisch-politisch greift, darf man bezweifeln (Meier 2005). Aber auch erinnerungskulturell begibt man sich damit auf einen problematischen Weg. Sicher hat das »Megaereignis« des Zweiten Weltkriegs alle Europäer und Europäerinnen unter Einschluss der peripheren und neutralen Nationen ergriffen und beschäftigt sie bis heute. Aber der Holocaust sagt vielen schon in Großbritannien oder Portugal auf die eigene Nation bezogen wenig, und vollends problematisch wird diese Zentralperspektive, wenn sie als Matrix der Bewältigung kommunistischer Staats- und Menschheitsverbrechen in ganz Ostmitteleuropa oktroyiert würde.
Z WEITER K REIS : S OWJE TKOMMUNISMUS – GLEICHERMASSEN VERBRECHERISCH ? Mit der Nachfrage, ob – wenn schon die Strafbarkeit der Leugnung des Holocaust EU-weit verbindlich ist – nicht auch die Leugnung der sowjetkommunistischen Verbrechen unter Strafe gestellt gehöre (Baltic Times 2005), haben sich die litauischen MdEP und der frühere Parlamentspräsident Vytautas Landsbergis nicht durchsetzen können und keine Fürsprecher unter westlichen Politikern gefunden. Wir sind damit im zweiten Kreis oder besser: in der anderen Hälfte des Halbkreises, sofern man eine Gesamtschau der totalitären Erfahrungen im 20. Jahrhundert anstrebt. Für die von der Roten Armee besetzten Staaten bleibt der 8./9. Mai 1945 Auftakt eines anderen Okkupationsregimes (Onken 2007), das intellektuelle Sprecherinnen Ostmitteleuropas als »gleichermaßen verbrecherisch«, so Sandra Kalniete auf der Leipziger Buchmesse am 24. März 2004, einstufen und keinesfalls als kollektives Befreiungsdatum akzeptieren können, wie dies die russische Erinnerungskultur und Geschichtspolitik zunehmend aggressiv bekräftigt (Langenohl 2005). Man gerät hier, wie in allen grobschlächtigen und politisierten Varianten der Totalitarismusthese, rasch auf eine schiefe Ebene der ein- oder wechselseitigen Relativierung und Aufrechnung, die auch die deutsche Erinnerung nach 1990 beherrschte. Die Schwierigkeit der europäischen Erinnerungskultur besteht darin, das Singuläre am Zivilisationsbruch der industriellbürokratischen Vernichtung der europäischen Juden herauszustellen, ohne sie damit dogmatisch dem historischen Vergleich zu entziehen und die systematische Ausrottung der »Klassen- und Volksfeinde« im sowjetischen Machtbereich herunterzuspielen (Leggewie 2008). Dass ein vordergründiger antifaschistischer Konsens den Gulag verschwieg (oder mit der Shoah aufrechnete), war den polemischen Kons-
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tellationen des Kalten Krieges geschuldet, der – siehe Tallinn 2007 – keineswegs überwunden ist. Konkurrenz und Hierarchie zwischen, man verzeihe die krude, fast geschäftsmäßige Begrifflichkeit, Holocaust-Gedächtnis und Gulag-Gedächtnis dürfte die wichtigste Hypothek einer geteilten Erinnerung sein, die nicht separieren, sondern synthetisieren möchte. Aber nicht alle Gewaltakte des 20. Jahrhunderts können mit der Ikone des Negativen, dem Holocaust, in Verbindung gebracht werden, so dass Semprun, einst Mitglied der Kommunistischen Partei, in Buchenwald, wo 1945 ein sowjetisches Speziallager errichtet wurde, die Hoffnung formulierte, dass »bei der nächsten Gedenkfeier in zehn Jahren, 2015, die Erfahrung des Gulag in unser kollektives europäisches Gedächtnis eingegliedert sein wird. Hoffen wir, dass neben die Bücher von Primo Levi, Imre Kertész oder David Rousset auch die ›Erzählungen aus Kolyma‹ von Warlam Schalamow gerückt wurden. Das würde zum einen bedeuten, dass wir nicht länger halbseitig gelähmt wären, zum anderen aber, dass Russland einen entscheidenden Schritt auf dem Weg in die Demokratisierung getan hätte« (Semprun 2005). »Ostmitteleuropa« ist nur eine westliche Fiktion und auch im Blick auf die Erinnerung vielfach differenziert. Stefan Troebst hat vier Zonen unterschieden: Während in den baltischen Staaten, in Kroatien und in der Slowakei ein klarer antikommunistischer und antisowjetischer Grundkonsens vorherrsche, liege in Polen, Ungarn, Tschechien, der Ukraine eine (sogar zunehmend) kontroverse Aufarbeitung der Vergangenheit vor; Ambivalenz oder Apathie gegenüber der kommunistischen Vergangenheit könne man in Bulgarien, Rumänien, Serbien, Mazedonien und Albanien konstatieren, während Russland, Weißrussland, Moldawien und andere GUS-Staaten eine hohe Eliten und Gedenkkontinuität an den Tag legten (Troebst 2005). Dort wird Stalin als Feldherr des »Großen Vaterländischen Krieges« oftmals apologetisch betrachtet (Gudkov 2005) bisweilen sogar im Blick auf seine repressive und mörderische Qualität im Inneren Russlands. In dieser Latenz autoritärer Momente in den postsowjetischen Herrschaftsstrukturen erweist sich die ganze Brisanz einer nicht aufgearbeiteten Verbrechensgeschichte: Sie unterminiert den Weg in die Demokratie. Die mögliche Selbstexklusion Russlands aus Europa findet in einer affirmativen und apologetischen Geschichtspolitik nicht nur ihren Ausdruck, sie hat dort womöglich auch ihre tieferen Ursachen. Eine erste Zusammenfassung ergibt drei Gründe für die gegebene Asymmetrie europäischer Erinnerungen: Erstens verursacht (gerade aus deutscher Perspektive) die Annahme der Singularität des Holocaust – zusammen mit der Würdigung der russischen Leidensgeschichte – ungewollt eine Wahrnehmungsblockade gegenüber dem »roten Totalitarismus«; das schließt auch die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit in Deutschland ein (Sabrow 2000), die zum Teil am faulen Antifa-Konsens der DDR festhält und dazu neigt, SED-Verbrechen genauso zu relativieren, wie es nach 1945 bei NS-Verbrechen in Westdeutschland der Fall war.
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Konflikte um die aktuelle Gedenkstättenpolitik in Ostdeutschland und die museale Aufbereitung des DDR-Erbes standen unter diesem ungünstigen Stern. Man kann nur hoffen, dass die zuletzt gefundenen Regelungen eine bessere Grundlage dafür schaffen, dass wer vom Faschismus redet, den Stalinismus nicht verschweigen darf und umgekehrt. Die Asymmetrie der Wahrnehmung von Gulag und Holocaust wird zweitens darauf zurückgeführt, dass der Mord an den europäischen Juden eine viel höhere Sichtbarkeit erreicht hat; eine vergleichbare Ikonisierung und Medialisierung haben die Verbrechen kommunistischer Regime, denen von 1917 bis in die chinesische und nordkoreanische Gegenwart an die hundert Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind, offenbar nicht erreicht. Man kann es auch anders formulieren: Die nationalsozialistischen Deutschen haben vornehmlich andere Völker umgebracht, die Kommunisten in Russland und China überwiegend ihr eigenes. Aber auch diese Rechnung ist falsch, wenn man richtigerweise die Verfolgung von Völkern in Ostmitteleuropa, in Zentralasien und Tibet durch die »Kolonialmächte« Russland und China einbeziehen würde. Als dritter Grund wird genannt, diese mörderische Erfahrung sei eine im Kern osteuropäische geblieben. Doch kann man in Westeuropa nicht ernsthaft behaupten, vom Stalinismus überhaupt nicht affiziert gewesen zu sein; dagegen spricht schon die schiere Größe kommunistischer Parteien westlich des Eisernen Vorhangs, ex negativo auch die über viele Jahre westeuropäische Identität stiftende Funktion des Anti-Anti-Kommunismus und die auf dieser Grundlage verfolgte friedliche Koexistenz mit den sogenannten Volksrepubliken, die friedensstiftend gewesen sein und die Spaltung Europas überwunden haben mag, aber zwischenzeitlich klar auf Kosten der Menschen- und Bürgerrechtsgruppen ging.
D RIT TER K REIS : V ERTREIBUNGEN ALS GESAMTEUROPÄISCHES TR AUMA? Die vorherrschende Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ruft großflächige, Millionen Menschen treffende »Bevölkerungstransfers« in Erinnerung, die mit dem Zerfall der großen Imperien im 19. Jahrhundert begannen und den Holocaust als krassen »Sonderfall« ethnischer Säuberung erscheinen lassen (Naimark 2004; Benz 2006; Barth 2006). Das große Skandalon des deutschen Historikerstreits war die Aufrechnung von »zweierlei Erinnerung«, die der Historiker Andreas Hillgruber einerseits für »Auschwitz« und die europäischen Juden, andererseits für »Nemmersdorf«6, also die deutschen Opfer von Vertreibung und Vergewaltigung reklamieren wollte (Hillgruber 1986). Dass Deutsche im und 6 | Das heutige Majakowskoje wurde bekannt durch ein Massaker der Roten Armee an deutschen Zivilisten am 21.10.1944, dessen Umstände hoch umstritten sind, vgl. Fisch (1997).
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nach dem Zweiten Weltkrieg auch Opfer einer Geschichte wurden, deren Beginn einem Diktum Richard von Weizsäckers zufolge im Jahr 1933 lag, ist mittlerweile im öffentlichen Diskurs angekommen, und zwar überwiegend ohne den apologetischen Zungenschlag und die Aufrechnung, die der Debatte über »Vertreibungsverbrechen« lange anhaftete (vgl. Ther 2005/06; Engler 2005/06; Salzborn 2003; Schmitz 2007). Ihre europäische Dimension wird gerade erst klar, und hier – in der Erinnerung an die »Bevölkerungstransfers« des 20. Jahrhunderts vom Armenier-Genozid bis nach Ex-Jugoslawien – eröffnet sich der brisante dritte Kreis. Er umgreift die Deportationen, die totalitäre Diktaturen auch in den von ihnen besetzten Gebieten durchführen ließen, aber auch die ethnischen Säuberungen, die sich seit dem 19. Jahrhundert überall dort fast zwangsläufig ergaben, wo (nicht zuletzt demokratische) Nationalstaatsbildungen dem Wahn verfielen, die innere und äußere Souveränität und Legitimität politischer Herrschaft sei nur erreichbar auf der Grundlage ethnisch homogener Kollektive. Das besondere Problem etwa der heutigen Tschechen im Blick auf die politischmoralische Anerkennung der Vertreibung der Sudentendeutschen liegt wohl darin, dass eine bürgerlich-demokratische Regierung unter Eduard Benes die Dekrete ausfertigte (Coudenhove-Kalergi/Rathkolb 2007); und das größte Hindernis für die Bearbeitung der jugoslawischen Katastrophe ab 1991 könnte sein, dass weniger das autoritäre Tito-Regime die uneinigen Serben und Kroaten, Bosniaken und Kosovo-Albaner gegeneinander aufgebracht hatte, als die illiberalen Demokratien, deren nationalistische Mehrheiten sich um den Schutz von ethnischen und religiösen Minderheiten bis heute einen Dreck scheren. Die Geschichte der ethnischen Säuberungen kann prima facie kaum zur Herausbildung einer geteilten Erinnerung beitragen, weil sie nicht ausgestanden, also »vergessen und vorbei« ist und Erinnerungen teilt wie das Messer den verletzlichen Körper. Dagegen richten sich Initiativen wie das »Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität« gegen eine rein nationale und rückwärtsgewandte Kommemoration, die dem deutschen »Zentrum gegen Vertreibungen« (anfangs zu Recht) unterstellt worden ist. Im Lauf der Debatte7 mussten aber auch die Initiatoren dieses Zentrums, allen voran der Bund der Vertriebenen, eine europäische und globale Dimension einbauen, die in Veranstaltungen und Ausstellungen erkennbar wird. Am Ende könnte das Zentrum also einen Knotenpunkt in einem europäischen Netzwerk bilden, aber es wird wohl noch lange dauern, bis sich Polen und Deutsche zum Schreiben gemeinsamer Geschichtsbücher bequemen können, wie dies im deutschfranzösischen Fall (aber auch erst nach mehr als 40 Jahren Aussöhnung) möglich geworden ist8. 7 | Umfassend dokumentiert bei www.zeitgeschichte-online.de/md-VertreibungInhalt. 8 | Deutsche Ausgabe (2006): Histoire/Geschichte – Europa und die Welt seit 1945, Leipzig (Gymnasiale Oberstufe (11.-13. Klasse); französische Ausgabe
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Am Beispiel der Vertreibung wird die innen- und außenpolitische Brisanz geteilter Erinnerung sichtbar. Im Westen aktualisiert sich an derartigen Konflikten das Rechts-Links-Schema, im Osten bringen sie national(istisch) orientierte Kräfte (auch der Linken) gegen proeuropäisch-liberale Kreise auf. Geopolitische und geostrategische Spaltungen Alteuropas brechen auf, die durch die Blockkonfrontation der Supermächte im Kalten Krieg eingefroren waren. Aber es sind gar nicht die alten Konflikte, die eine Einigung des neuen Europa verhindern, es sind eher die neuen Konflikte – um Sicherheit, Energie, Freizügigkeit usw. –, die das Europa der Nationen auf- und fortleben lassen. Und diese Divergenzen werden wieder angeheizt durch innenpolitischen Streit: Die polnische Unversöhnlichkeit in Sachen Vertreibung hat natürlich mit der erst lange beschwiegenen, dann fast hysterisch bearbeiteten kommunistischen Vergangenheit zu tun. In allen postkommunistischen Gesellschaften ringen die Erben der Nomenklatura genau wie die Nachfahren der autoritären, oft in Kollaboration verstrickten Rechten um historische Legitimation, deren Mangel sie in einem ethno-nationalistischen Affekt kompensieren.
V IERTER K REIS : DIE A RMENISCHE F R AGE Ein vierter Kreis eröffnet sich mit der Frage, wo Europas Grenzen verlaufen, womit supranationale EU-Binnenidentitäten transnational auf die europäische und nicht-europäische Ebene ausgreifen. Vor allem die Türkei, haben viele Euro-Skeptiker anklingen lassen, könne schon aufgrund ihrer »anderen« Kultur- und Religionsgeschichte niemals Teil einer europäischen Schicksalsgemeinschaft sein (Wehler 2003; Winkler 2002) auch die größten Befürworter eines EU-Beitritts, die Briten, haben dies indirekt bestätigt, da sie die Union als Freihandelszone ohne kulturelles Gedächtnis konzipieren (König/Sicking 2005; Leggewie 2004). An keinem Komplex lassen sich die trennenden Dimensionen geteilter Erinnerung derzeit so deutlich belegen wie anhand der vermeintlichen Kulturgrenze zwischen »dem« Islam und dem »säkularen« Europa, denn viele sehen darin, ungeachtet des tatsächlichen Grades der Entchristlichung, eine historische Erinnerungs- und Schicksalsgemeinschaft gegen den Islam und die Türkei. Dabei war der Kemalismus eine Verwestlichungsgeschichte par excellence, und die laizistische Republik war der beste Beweis für ihre Möglichkeit. Würde Europa seine säkularen Grundlagen ernst nehmen, dürfte Religionszugehörigkeit weder im Inneren der Einwanderungsgesellschaften noch im Außenverhältnis ein unübersteigbares Integrationshindernis darstellen. Einiges andere aber sehr wohl, namentlich Demokratie- und Entwicklungsdefizite – und die »armenische Frage«. Eine Mehrheit auch der liberalen und gerade der säkularen Türken weigert (2006): Histoire/Geschichte – L’Europe et le monde depuis 1945, Paris (Classe de terminale/BAC).
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sich standhaft, die Schwere der historischen Verantwortung für den (zumindest »genozidalen«) Mord an Hunderttausenden von Armeniern 1915 anzuerkennen, und so mauserte sich diese Frage zum informellen Beitrittskriterium, das in nationalen und supranationalen Parlamenten deutlich artikuliert wird. Franzosen und Schweizer haben den Kasus sehr hoch gehängt und die Leugnung des Armenier-Genozids nach dem Vorbild der »Auschwitz-Lüge« unter Strafe gestellt; behutsamer und stärker auf Konsens orientiert waren Erklärungen des Deutschen Bundestages9. Das größere Europa, so scheint es, wird an der armenischen Frage schon erinnerungskulturell gespalten, bevor es überhaupt zusammenfinden kann. Doch erst umgekehrt wird ein Schuh draus: Europäisch müsste die Art sein, wie sich die türkische Gesellschaft im Inneren und die Türkei mit alten Freunden und Feinden über diese Frage verständigt. Zwar wird neuerdings vereinzelt innerhalb der Türkei von Genozid gesprochen, doch in der Regel beharrt man auf dem Wesensunterschied zwischen Massakern (katliam oder kiyim), deren Vorkommen im Ersten Weltkrieg anerkannt und auch bedauert wird, und Genozid (soykirim), der durchweg verneint wird. Das Streitthema hat nicht zuletzt deswegen eine transnationale Dimension angenommen, weil es die türkische Diaspora beschäftigt und aufregt, die wiederum in den USA und Frankreich mit der armenischen Diaspora rivalisiert. Gewahr wurde man dessen im März 2006, als Ultranationalisten unter der Schirmherrschaft des ehemaligen türkischen Staatspräsidenten Süleyman Demirel und des (mittlerweile abgewählten) türkischen Volksgruppenführers in Nordzypern, Rauf Denktasch, zur »Talat-Pascha-Demonstration« in Berlin aufriefen und dabei sehr martialische Töne anschlugen (Leggewie 2006). Die Mobilisierung blieb gering, aber die transnationale Migration macht ungelöste europäische Geschichtskonflikte leicht zu innenpolitischen Themen. Die als Einmischung in innere türkische Angelegenheiten empfundene Armenier-Frage verbindet sich hier mit einem ebenfalls ethno-nationalistischen Reflex gegen Kritik an der Einwanderungspolitik der türkischen bzw. islamischen Dachverbände, deren Repräsentativität umstritten ist.
F ÜNF TER K REIS : E UROPÄISCHE P ERIPHERIE Am Stein-Platz in Berlin, in dessen Nähe der Rachemord an Talat Pascha begangen worden war und wohin türkische Nationalisten »Hunderttausende« bewegen wollten, steht kein Gedenkstein für die Opfer des Genozids an den Armeniern. Man findet aber an verschiedenen Enden des 9 | Vgl. Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP (Bundestags-Drs. 15/5689) vom 15.6.2005; Protokoll der Bundestagsdebatte, Tagesordnungspunkt 6, 21.4.2005, Bundestags-Drs. 15/4933; sowie Manutscharjan (2005).
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leicht heruntergekommenen Parks zwei frühe, zu Beginn der 50er Jahre aufgestellte Gedenksteine für die Opfer des Stalinismus und des Nationalsozialismus. Der Steinplatz könnte also fast die hier skizzierte europäische Erinnerungsgeschichte symbolisieren. Aber es würde ein weiterer Gedenkort fehlen, der auch noch den fünften Kreis, die europäischen Kolonialverbrechen, einbezieht. Anlass könnte, wenn man die Idee überhaupt fortspinnen möchte, die Kongokonferenz 1884 sein, mit der unter deutscher Ägide der Kongo als belgische Kronkolonie unter den europäischen Interessenten aufgeteilt wurde. Während man in Deutschland im Lichte der Aufarbeitung der Vergangenheit relativ spät auch die Kolonialverbrechen vor allem an den Herero und Nama in Erinnerung gerufen hat (und diesbezüglich wenig koloniale Apologetik und Nostalgie zu verspüren sind) (Zeller/Zimmerer 2003; Malinowski/Gerwarth 2007) bestehen diese in anderen europäischen Ländern weit mehr bis hin zu Versuchen, die Behandlung der »positiven Seiten« der Kolonialzeit im Schulunterricht und öffentlichen Diskurs per Dekret zu verordnen10. Das weite Feld umspannt einen historischen Zeitraum von der Sklaverei bis zu neokolonialer Wirtschaftspolitik der Gegenwart. Um den Komplex hier nur an einem Beispiel anzudeuten: Die Europäische Union sicherte 2006 auf Anfrage der Vereinten Nationen den ordnungsgemäßen Verlauf der Wahlen im Kongo mit Soldaten – und das wäre eine Debatte wert gewesen. Generell darüber, ob man Demokratisierung im Zweifel von außen militärisch unterstützen soll, im Besonderen aber, ob sich das ex-koloniale Europa diese Intervention leisten kann mit einer Vergangenheit, die kaum irgendwo brutaler ausgefallen ist als eben in Zentralafrika. Eine Debatte darüber mit wirklich europäischem Zuschnitt fand aber nicht statt; die Nationen befanden darüber in je eigener Manier und Tradition. Argumentiert wurde überwiegend, der Kongo habe reichlich Rohstoffe, und Instabilität dort erhöhe den Migrationsdruck auf Europa und schaffe Rückzugsräume für Terroristen. Ist die Einrichtung und Festigung demokratischer Verhältnisse in einem von Diktatur und Staatszerfall, von Bürgerkrieg und Warlords malträtierten Land an sich also kein Ziel? Die EU bekundet das, aber ihr ging es vor allem um die Demonstration von Handlungsfähigkeit ihrer Eingreiftruppe, um die Profilierung als Global Player. Bemerkenswert ist, dass auch in Deutschland bei der Abstimmung im Bundestag über den Kongo-Einsatz kaum noch der moralische Ton angeschlagen wurde, der bei Gegnern wie Befürwortern von Out-of-areaEinsätzen bisher stets mitschwang (Leggewie 2001). Den Einsatz im Kosovo hatten die rot-grünen Minister Joschka Fischer und Rudolf Scharping 1998 mit einem Argument (»Auschwitz«) gerechtfertigt, mit dem sie zuvor stets ihre Ablehnung legitimiert hatten: Nun war man angeblich gerade »wegen Auschwitz« aufgerufen, Verletzungen der Menschenrech10 | Vgl. das in die französische Nationalversammlung eingebrachte Gesetz vom 23.5.2005; dazu Eckert (2008).
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te mit Militärgewalt zu unterbinden. Auch nach Afghanistan führte die moralische Pflicht, Amerika im »Krieg gegen den Terror« nicht allein zu lassen. Es war dann im Jahr 2003 erstmals »nationales Interesse«, das einen weiteren Einsatz an der Seite der USA im Irak nicht geboten lassen schien. Dagegen wird auf die europäische Kolonialvergangenheit nicht einmal rhetorisch Bezug genommen. Wenn die Linksoppositionen in den nationalen und EU-Parlamenten von militärisch gestütztem Neokolonialismus sprechen, musste man darauf nicht eingehen? Der Filz existiert doch zwischen europäischer Außenpolitik und Unternehmen, die Ruhe im Kongo vor allem wünschen, um dort ungestört Geschäfte machen zu können. Das ist sicher weit entfernt von den Dimensionen der kolonialen Ausbeutung im 19. und 20. Jahrhundert, aber diese finstere Geschichte muss in Rechnung stellen, wer Zentralafrika nachhaltige Entwicklung und die Demokratie bescheren will. Um es auf eine plakative Formel zu bringen: Wer in Europa vom Holocaust redet, darf vom Kolonialismus nicht schweigen. Nur ansatzweise geschieht dies in dem 1910 gegründeten Königlichen Museum für Zentralafrika in Tervuren bei Brüssel, das die Geschichte der belgischen Kongo-Politik bis vor kurzem noch als Abenteuerspektakel inszeniert hat. Sehr halbherzig werden Schuld und Verantwortung Belgiens für ein ungeheuerliches System von Ausbeutung und Unterdrückung im 19. und 20. Jahrhundert anerkannt, gegen Widerstände in der belgischen Gesellschaft, die sich – nach zwei Weltkriegen – als Opfer deutscher Überfälle zu betrachten gewöhnt hat. Doch ohne Zweifel besaß die auf Zwangsarbeit beruhende Gewinnung von Rohstoffen, vor allem von Kautschuk und Elfenbein, streckenweise Züge eines Völkermords. Belastender für das heutige Engagement ist fast noch, dass die Kolonialmission des belgischen Königs Leopold II. mit zivilisatorischen Tönen unterlegt war. Die fatale Dreieinigkeit von militärischer Gewalt, menschenverachtender Profitgier und der Bildungs- bzw. Bekehrungsmission setzt jedes postkoloniale Engagement diesem Verdacht aus. Das spräche für ein generelles »Finger weg vom Kongo!« und für ein »Afrika den Afrikanern!«, aber dieselbe öffentliche Meinung, die unter diesem Motto auf Isolationismus setzt, verlangt angesichts schrecklicher TV-Bilder und Presse-Fotos aus Darfur im Sudan und rückblickend aus Ruanda dann doch nach etwas mehr Internationalismus. Der kongolesische Fall macht das Ansinnen einer nicht auf Europa beschränkten Geschichtspolitik plausibel, er zeigt aber auch die Grenzen und Fallstricke einer Globalisierung des Gedenkens und Erinnerns unter dem Siegel eines raum-zeitlich entrückten Holocaust. Wieder darf die These von der Singularität des Judenmordes den Blick nicht verengen und eine letztlich rassistische Stereotypen übernehmende Hierarchie der Opfer unterstützen. Es gibt den intrikaten Zusammenhang zwischen deutscher Kolonialgeschichte; der nicht-affirmative Vergleich zwischen der Shoah als einem abgegrenzten historischen Phänomen und kolonialen Genoziden ist kein Tabu; im Kongo sind unter der Regentschaft Leopold
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II. bis zu zehn Millionen Menschen bestialisch ermordet worden, auch dort ist »das Unvorstellbare« Wirklichkeit geworden. Der Rassenanthropologe Eugen Fischer begann sein unheilvolles Wirken in Deutsch-Südwestafrika und beendete es an der Rampe von Auschwitz – diese personale Kontinuität stellt nur eine Facette dieses Zusammenhangs dar. Entschädigungsansprüche der durch Sklavendeportation und koloniale Verfolgung betroffenen Schwarzen sind bisher nicht erfüllt worden und generell wohl schwer erfüllbar, aber anachronistisch ist ein eurozentrisches Deutungsmuster von Ursachen und Wirkungen von Völkermorden, das sich auf die Singularitätsthese bezieht und dabei auch den kulturellen Pluralismus moderner Gesellschaften verkennt.
S ECHSTER K REIS : E UROPA ALS E INWANDERUNGSKONTINENT Nur ganz (und unverdient) kurz angesprochen werden soll hier der sechste Kreis europäischer Erinnerungen, der mit dem Tatbestand massiver transnationaler Wanderungen nach Europa im 19. und 20. Jahrhundert und vor allem seit den 1950er Jahren zu tun hat. Da dies auch eine Geschichte von Asyl und Armutsmigration ist, besteht ein enger Zusammenhang zur kolonialen und postkolonialen Geschichte Europas. Doch bringen die in den Anfängen befindlichen Migrationsmuseen in ganz Westeuropa noch andere Facetten kultureller Globalisierung zum Sprechen11. Eine besondere Frage ist, inwiefern dies nur den Erfolg oder Misserfolg der Auswanderung aus der Perspektive der Migranten bzw. die Schwierigkeiten ihrer sozialen Integration, politischen Einbürgerung und kulturellen Assimilation aus Sicht der »Mehrheitsgesellschaft« thematisiert, sondern darüber hinaus auch einen reflexiven Bezug zur europäischen Verbrechens- und Katastrophengeschichte von Shoah und Gulag, der definitiv nicht Einwanderer und ihre Vorfahren betraf, sich ihren Nachfahren der zweiten und dritten Generation aber doch als Frage stellt, aus der heraus sie auch die »eigene«, ihnen fremd gewordene Geschichte betrachten und bewerten können (Georgi 2003). Und die europäischen Erinnerungsorte, beginnend mit dem römischen Erbe und mittelalterlichen Relikten, können nicht mehr vermittelt werden, wenn keine Verstehens-Brücke zu den Einwanderern der dritten Generation geschlagen und berücksichtigt wird, wie stark sie derzeit mit nicht-europäischen Identitätsangeboten, etwa aus der islamischen Umma, konfrontiert werden. Transnational wird ein europäisches Gedächtnis also, wenn die eingewanderten Europäer (sofern sie als Bürger anerkannt sind!) Verantwortung für Verbrechen und Ereignisse übernehmen, die außerhalb ihres ethnischen Herkunftsglaubens liegen, und wenn sich europäische Menschenrechts- und Asylpolitik zugleich in
11 | Exemplarisch Paris; dagegen die nur stockend umgesetzten Initiativen der deutschen Initiative DOMiD, vgl. Motte/Ohliger (Hg.) (2004).
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internationalen Krisen einschalten kann, ohne dass unter diesem normativen Schutzschild eurozentrische Interessen verfochten werden.
S IEBTER K REIS : E UROPAS E RFOLGSGESCHICHTE NACH 1945 Man sieht zusammenfassend: Europas kollektives Gedächtnis nach 1989 ist ebenso vielfältig wie seine Nationen und Kulturen und genauso – im doppelten Sinne – geteilt wie seine Staaten- und Gesellschaftswelt. Erinnerung lässt sich nicht mnemotechnisch regulieren und durch offizielle Staatsakte und routinierte Gedenkrituale wie zum 8./9. Mai oder 27. Januar verordnen. Europäisch kann jedoch der Weg sein, an Untaten der Vorfahren gemeinsam zu erinnern und daraus behutsam Lehren für die Gegenwart der europäischen Demokratien zu ziehen. Der starke, immer wiederkehrende Impuls, Vergessen in und für Europa sei besser als Erinnern, ist verständlich und hat prominente Anwälte gefunden – im postkolonialen Frankreich wie im postfranquistischen Spanien und im postsozialistischen Polen. »Amnestie ja – Amnesie nein!«, lautet dagegen das Plädoyer eines ebenso prominenten Widerstandskämpfers (Michnik 1999/2000). Denn die Erfahrung zeigt, dass Demokratisierungsprozesse in Übergangsgesellschaften – und das waren nach 1945 fast alle europäischen Nationen – ohne kritischen Durchgang durch die eigene Vergangenheit prekär und unvollkommen blieben. Und so wie europäische Demokratien seither gegeneinander keine Kriege mehr führen, bietet der demokratische Prozess selbst genügend Legitimation durch eine nunmehr gesamteuropäische Geschichtspolitik, an der lokale Graswurzelinitiativen ebenso beteiligt sind wie Schulbuchkommissionen sowie staatliche und überstaatliche Veranstaltungen. Man darf an dieser Stelle geschichtspolitisch und ausstellungspädagogisch durchaus einen Schnitt machen und auf die unbestreitbare Erfolgsgeschichte (West-)Europas nach 1950 kommen, die in der eingangs erwähnten Ausstellung in Brüssel einen ebenso wichtigen Platz einnimmt. Denn seither hat sich in Europa ja eine Entwicklung ergeben, die aus dem totalitären Zirkel und der ideologischen Ost-West-Spaltung herausführt. Für Osteuropa ist der Blick darauf wiederum von Leid und Neid geprägt, denn im Kalten Krieg waren der Erfolg und das Glück des Westens relativiert durch das Unglück und die Misserfolge jenseits des Eisernen Vorhangs. Man kann kaum behaupten, dass die Osterweiterung von 2004 diesen Riss bereits geheilt hat. Aber man muss sich auch nicht scheuen, ein Europa-Museum zu bauen, das diese Erfolgsgeschichte thematisiert.
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Geschichte, Geschichtsschreibung und Erinnerung Wolfgang Schmale
In Europa wurden die Grundlagen für nationale Erinnerungskulturen, die einer transnationalen Erinnerung heute in gewisser Weise im Wege stehen, sehr früh geschaffen. Als spätester Zeitraum ist hierfür der Humanismus anzusehen, der eine lokal-, regional- und (proto-)nationalgeschichtliche Historiographie begründete. Zwar lassen sich für diese Zeit auch europageschichtliche Ansätze feststellen, aber diese sind durchwegs heterogener geartet als die übrigen Historiographien. Eine Europahistoriographie, die europäischen im Sinne von transnationalen Phänomenen nachgeht, setzte sich erst im 18. Jahrhundert durch – wo sie erst recht der Konkurrenz der nationalen Geschichtsschreibung ausgesetzt war. Immerhin kann man von einer Konkurrenz sprechen, was im Humanismus die Sache nicht treffen würde. Unterstellt ist hierbei, dass sich historiographischer Typus und Erinnerung bzw. Erinnerungskultur entsprechen. Gibt es heute eine europäische Europahistoriographie? Europahistoriographien, die Europas Geschichte von einem kulturraumgebundenen Standpunkt aus betrachten, gibt es mannigfach: eine westeuropäische, eine mitteleuropäische, zahlreiche nationale Europahistoriographien. Letztlich überwiegen die nationalen Europahistoriographien. Wollte man einen Kanon zusammenstellen von Werken, die ›überall‹ in Europa rezipiert werden, blieben nicht allzu viele Titel übrig: Denis de Rougemont und Oskar Halecki, Rémi Brague, Miroslav Hroch, Krysztof Pomian, Norman Davies und einige mehr. Man muss schon selber Europäer/in sein, was mindestens bedeutet, sich vom eigenen nationalen Zusammenhang, in den man einmal gestellt wurde, soweit zu lösen, dass man die wissenschaftliche Vernunft als seine Heimat anerkennt, wenn man eine europäische Europahistoriographie betreiben möchte. Es wäre falsch zu sagen, es gebe diese gar nicht, aber sie ist einstweilen nicht sehr üppig, und dies spiegelt die Schwierigkeit einer transnationalen europäischen Erinnerungskultur wider. Wem nutzt eine europäische Europahistoriographie, auf die sich eine europäische Er-
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innerungskultur stützen könnte oder würde? Sie nutzt oder würde jenen nutzen, die Leggewie für den Moment als »dieses größte Noch-Nicht-Volk der Erde« bezeichnet. Vor dem Humanismus tat sich »Europa« mit einer europäischen Erinnerung in gewisser Weise leichter, wenn man denn für jene Zeiten, in denen wir noch kein modernes Geschichtsbewusstsein verzeichnen können, sondern es mit Heilsgeschichte zu tun haben, von europäischer Erinnerung sprechen kann. Heilsgeschichte war universal und im Rahmen der zunehmenden Gleichsetzung von Christenheit und Europa im späteren Mittelalter dann vor allem auch europäisch. Was geschah, im Guten wie im Schlechten, ließ sich in die Heilsgeschichte und Gottes eingreifende Hand einschließen. Der allmähliche Verlust dieses transnationalen Erinnerungsraumes im materiellen wie ideellen Sinn verlockte nach 1945 zu einer Kompensation, die darin bestand, schon in den frühesten gemeinsamen europäischen Dokumenten an ein positiv dargestelltes gemeinsames europäisches Erbe anzuknüpfen. Gemeint waren vorwiegend Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Freiheit u. ä. Die Ausblendung der dunklen Seiten europäischer Geschichte war sehr weitgehend, und dies wurde zunehmend kritisiert. Die Geschichte der europäischen Integration wurde überaus positiv gesehen und dargestellt in der »Erklärung über europäische Identität« vom Dezember 1973 (EG-Gipfeltreffen in Kopenhagen) wurde sie als eine Säule der europäischen Identität dargestellt. Es handelte sich um eine Art säkularer Heilsgeschichte, die vieles ausblendete. Leggewie stellt anhand von sechs Kreisen die Problemfelder der Erinnerung dar, und zwar genau jene, die in der säkularen Heilsgeschichte der europäischen Integration fehl(t)en. Dass überhaupt darüber diskutiert wird, und zwar allgemein in verschiedenen Medien, in der Politik und eben nicht nur in dieser oder jener Wissenschaft, zeigt, dass der Versuch einer säkularen europäischen Heilsgeschichte als Grundlage eines europäischen Geschichtsbewusstseins seinem Ende zugeht. Doch das Neue, die europäische, sprich transnationale Erinnerung, ist noch nicht da. Die Differenzen sind zu groß. Es kann dabei im Übrigen zunächst nur um Prinzipien gehen. Gerade die zunehmende innereuropäische Mobilität wie auch die Zuwanderung aus der Peripherie und angrenzenden Kontinenten erzwingen eher die Einigung auf Prinzipien als auf Einzelnes. Für den mobilen Europäer und den Zugewanderten haben die nationalen Erinnerungen nicht mehr den gleichen Stellenwert wie in den Jahrzehnten der Rekonstruktion des Nationalstaats nach 1945. Deutsch-türkische Schulkinder können die Judenvernichtung nicht allein aufgrund der Tatsache, dass sie in Deutschland geboren wurden und vielleicht einen deutschen Pass besitzen, in derselben Weise als »ihre« Geschichte verstehen wie »die« Deutschen. Verstehen und akzeptieren können sie freilich das Prinzip der Erinnerung an jegliche Art von Genozid wie auch das Prinzip der Pflicht zur Erinnerung und offenen Thematisierung. Dieses Prinzip
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ist alles andere als banal; wäre es schon anders, gäbe es bereits eine europäische Erinnerungskultur. Das Grundprinzip, um das es dabei eigentlich geht, ist das der »Verantwortung vor der Geschichte« und für die Geschichte. Dies ist dann für die EU essentiell, wenn sie etwas anderes will, als ein global player unter anderen (USA, China, Russland …) zu sein. Vielleicht soll sie auch das wollen, darüber kann man streiten, aber sie hat allen Grund, vorhandene Ambitionen, etwas anderes als nur global player zu sein, nicht aufzugeben. Es mangelt nicht an Beispielen von Mächten, die ihrer eigenen Geschichte völlig kritik- und verantwortungslos gegenüber stehen und daher nur eine einzige Handlungsoption haben, die der Macht und Gewalt: China, Iran, Russland und viele andere. Wer das in diesen Ländern anders sieht, sozusagen mit europäischen Augen im Sinne des hier zur diskutierenden Grundprinzips, wird verfolgt, gefoltert, ins Gefängnis weggeschlossen, ermordet oder hingerichtet. Meist wird ihnen ja ohnehin vorgeworfen, vom »Westen« (was außer der EU natürlich auch die USA meint) gesteuert und finanziert zu sein. Die Fähigkeit, sich auf bestimmte Prinzipien der Erinnerung zu einigen, ist eine selbst-reflexive Fähigkeit. Dies in politische Kraft und Strategie umzusetzen, ist eine Frage der Erinnerungskultur und des »europäischen Volkes« bzw. Demos. Dies zu verfolgen, ist besonders spannend im Fall der Türkei. Wie viel hat sich doch getan! Die jetzigen EU-Mitglieder sehen nach wie vor einen EU-Beitritt der Türkei sehr kritisch und manche hoffen still auf gut begründbare Blockaden weiterer Verhandlungskapitel. Sie müssen aufpassen, dass sie nicht plötzlich als die Hinterwäldler dastehen. Weiß man denn wirklich nicht zu ermessen, was sich in der Türkei entwickelt? Gelingt es, z.B. die im Oktober 2009 vorangetriebene Annäherung mit Armenien, oder die Anerkennung der Kurden als Minderheit, ausgestattet mit den in der EU erforderlichen Minderheitenrechten, und vieles mehr umzusetzen, dann werden sich viele derzeitige EU-Mitglieder fragen müssen, was sie eigentlich Geschichtsmächtiges in den letzten Jahren geleistet haben. Noch ist es nicht soweit, aber die Entwicklungsdynamik liegt bei der Türkei. Die Frage der europäischen Erinnerungskultur ist nicht nur eine Frage der gemeinsamen Prinzipien, sondern auch eine Frage nach den Inhalten der Erinnerung. Unweigerlich kommt man auf die Frage nach den Grenzen »Europas«, nach der »Peripherie«, oder auch, ob es nicht doch Sinn macht, von einem Kulturraum Europa zu sprechen. Leggewie spricht die Türkei und den Genozid an den Armeniern an. Was wissen wir über Armenien – gerade angesichts der Debatte um die Richtigkeit öffentlicher, politischer, parlamentarischer Verurteilungen des Genozids und klarer Schuldzurechnungen? Besucht man Armenien, so erzählen einem Armenier humorvoll all die Vorurteile und Mythen, die bezüglich Armenien bestehen. Trotz einer ausgedehnten armenischen Diaspora im »Westen« ist das Wissen über Armenien gering. Keineswegs zum Allgemeinwissen gehört, dass Armenien einer der ältesten christlichen Staaten
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ist, ein Umstand, der auch heute kulturell und mental noch für Armenien trotz der Zwangssäkularisierungen in der Sowjetära bedeutsam ist. Es geht dabei weniger um Europa als christlich-religiöses Europa, sondern um kulturelle Gemeinsamkeiten, die sich im Christentum als Kultur äußern. Europäische Regierungen haben während des Genozids an den Armeniern sehr viel gewusst – und weggeschaut. Die Verurteilung des Genozids ist das eine, ihn zum Teil einer europäischen Erinnerungskultur, die auf bestimmten Prinzipien aufruht, zu machen, ist das andere. Das verlangt mehr. Europäische Erinnerungskultur verlangt von den Europäer/inne/n, dem »europäischen Volk«, also von uns, viel: Wir haben weder die Option einer religiösen oder säkularen Heilsgeschichte noch die des geschichtlichen Mythos, wie er für die Nationalgeschichten kennzeichnend war (und ist). Die einzige Option, die wir haben, verweist auf eine geschichtlich neue und in dieser Hinsicht bisher einmalige Situation: Wir müssen uns auf der Grundlage gemeinsamer Prinzipien einer Gewaltgeschichte stellen, die sehr weit zurückreicht. Ausmaß der Gewalt, Ausübungsorte und Zielgruppen der Gewalt waren unterschiedlich je nach Land oder Staat, wenn wir von der gegenwärtigen politisch-nationalen Landkarte ausgehen. Das ist nichts, worauf man stolz sein könnte. Insofern sind die Kompensationsversuche durch eine säkulare Heilsgeschichte verständlich, aber nicht zielführend. Zielführend ist, dass aus einer europäischen Erinnerungskultur, die sich zentral um die Gewaltgeschichte(n) Europas dreht, politische Ziele entwickelt werden, die nicht zuletzt das politische Selbstverständnis Europas, gemeint ist EU-Europa, in der Welt betrifft. Denn an der europäischen Identität ist derweil das Konkreteste die »internationale Identität EU-Europas«, die sich in der Tat jetzt, wo durch den Lissabon-Vertrag das Gemeinsame durch zwei Gesichter, das des jeweils für zweieinhalb Jahre gewählten Ratsvorsitzenden und das der Hohen Beauftragten, der »Außenministerin der EU«, verdeutlicht wird, vor der Chance steht, als Alternative zur internationalen Identität der USA oder Russlands oder Chinas oder Indiens oder Japans, um die größten »Anderen« zu nennen, erkannt zu werden.
Konzentrische Kreise oder Haleckische Geschichtsregionen? Stefan Troebst
I. Souverän Fragen danach beiseite schiebend, ob »transnationale Erinnerung« vorstellbar ist, ob von der Existenz einer »europäischen Identität« ausgegangen werden kann und ob beide Bereiche wo möglich bereits eine »europäische Erinnerungskultur« konstituieren, hat Claus Leggewie »Anker und Fluchtpunkte einer supra- und transnationalen Erinnerung« der Europäer benannt. Dabei hat er sieben Themenfelder identifiziert und diese »konzentrischen Kreisen« gleich angeordnet. Die ersten fünf sind »die großen Katastrophen des langen 20. Jahrhunderts«, nämlich Holocaust, GULag, ethnische Säuberung, Armeniergenozid und Kolonialismus. Der sechste Kreis, »Europa als Einwanderungskontinent«, ist ambivalenter Natur, und nur der siebte, »Europas Erfolgsgeschichte nach 1945«, ist eindeutig positiver Art. Aber war das wirklich alles? Wo bleibt das (übrige) Positive, etwa die Erinnerungsorte »1945« oder »1989«? Sicher eignen sich die von Leggewie genannten EU-Errungenschaften wie »Vertragswerke, Währungsunion und offene Grenzen« nur bedingt als gesamteuropäische lieux de mémoire, doch was ist mit »Demokratie« und »Rechtsstaatlichkeit«, mit »Diktaturüberwindung«, »Wohlfahrtsstaat«, »Menschenrechten« und »Frieden«? Aber der Reihe nach: Unbestritten ist mittlerweile die Funktion der Holocaust-Erinnerung als memorialer Nucleus – auch über die Grenzen nationaler Gedächtnisse der Europäer hinweg: Dieser präzedenzlose Zivilisationsbruch ist das Auge des Hurricans des europäischen 20. Jahrhunderts, und dies ungeachtet dessen, dass seine Bezeichnung eine in Vergessenheit geratene bizarre, da im Wortsinne faschistische Vorgeschichte hat: Città olocausta nannten in den zwanziger Jahren italienische Nationalisten und Mussolini-Anhänger die Stadt Fiume, das vormals habsburgische St. Veit am Flaum, das dem neuen Königreich der Serben, Kroaten
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und Slowenen, dem späteren Jugoslawien, unter dem Namen Rijeka zugeschlagen wurde. Auch der zweite Kreis, die Erinnerung an den Sowjetkommunismus Stalinscher Prägung und an seine Opfer, ist mitnichten ein lediglich regionalspezifisch osteuropäischer, sondern ein gesamteuropäischer, wie zuletzt Tony Judt in seinem Nachkriegsbuch am Beispiel der Selbststalinisierung französischer, italienischer und anderer westeuropäischer Intellektueller eindringlich gezeigt hat. Leggewies dritter Kreis indes, die ethnopolitisch motivierte Zwangsmigration vulgo ethnische Säuberung, kann wohl ungeachtet der europaweiten Ausstrahlung des post-jugoslawischen Szenarios kaum als »gesamteuropäisches Trauma« gelten. Vielmehr handelt es sich um eine traumatische Erinnerung primär zentral- und osteuropäischer Gesellschaften, die für Portugiesen und Briten, Niederländer und Norweger nur schwache Prägekraft besitzt. Spiegelverkehrtes Gegenstück ist der fünfte Kreis des KolonialismusGedächtnisses als dezidiert west- und südeuropäisches Strukturmerkmal, das in der Osthälfte Europas keine Entsprechung findet – sieht man vom bereits im 18. Jahrhundert versunkenen Herzogtum Kurland mit seinen überseeischen Besitzungen Trinidad und Tobago einmal ab. Ein in mehrfacher Hinsicht interessantes Phänomen ist der Leggewiesche vierte Kreis, der nur auf den ersten Blick für die Europäer marginale Völkermord an den Armeniern 1915 im osmanischen Imperium der drei Kontinente. Dass, wie Leggewie annimmt, das Vorhandensein einer türkische Diaspora in Westeuropa, das Streben der Türkei in die EU und die Islam-Aversion vieler Europäer hierfür den Ausschlag geben, trifft zweifellos zu. Doch eine mindestens ebenso bedeutende Rolle spielt dabei die vermeintliche Nicht-Europäizität des Geschehens sowie seine räumliche wie kulturelle Distanz, also der »Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!«-Effekt. Gerade dies aber belegt, wie kurz und löchrig das Gedächtnis EU-Europas ist, waren doch dessen heutige Mitglieder Deutschland, Bulgarien und, in ihrer Eigenschaft als Nachfolgestaaten der Doppelmonarchie, auch Österreich, Ungarn, die Tschechische Republik, die Slowakei, Slowenien, Italien sowie Rumänien im Ersten Weltkrieg Verbündete des Sultans – und damit Komplizen des grausamen Geschehens in Ostanatolien. Sicher keine gesamteuropäische Erinnerungsklammer stellt Leggewies sechster Kreis, »Europa als Einwanderungskontinent«, dar. Was für den »alten Westen« zutrifft, passt auf den »alten Osten« nicht, handelt es sich doch hierbei um einen – halben – »Auswanderungskontinent«. Charakteristika sind hier seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ökonomisch und politisch bedingte Emigration, wohingegen die (zahlenmässig bescheidene) Immigration aus anderen Kontinenten, z.B. von Chinesen aus Hongkong nach Ungarn oder von Asylsuchenden aus Afrika nach Bulgarien, eine Folge des Epochenjahrs 1989 ist. Erinnerungskulturelle Prägekraft kommt dem (noch) nicht zu. Dasselbe gilt für innerosteuropäische
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Migrationsprozesse, etwa von Tschetschenen nach Polen, von Weißrussen nach Litauen oder von Ungarn aus dem rumänischen Siebenbürgen und der serbischen Vojvodina nach Ungarn. Schon eher könnte man hier an die quantitativ beträchtliche binneneuropäische Ost-West-Wanderung seit 1917 denken – Russen nach Deutschland, Armenier nach Frankreich, Ungarn in die Schweiz, Tschechen nach Italien, Kosovoalbaner nach Schweden, Moldauer nach Spanien usw. Und auch der siebte Kreis, die erfolgreiche Integrationsgeschichte Europas, steht zuvörderst für einen in der Westhälfte vonstatten gehenden Prozess, der erst nach 1989 bzw. ab 2004/07 die Osthälfte erreichte. Erinnerungskulturelle Prägewirkung paneuropäischer Observanz weist er dort kaum auf.
II. Dass die Leggewieschen sieben Kreise ein work in progress sind, hat ihr Konstrukteur 2008 in einer Diskussion in Leipzig im Rahmen des Internationalen Forums der Geschichtswerkstatt Europa der Bundesstiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft ausdrücklich eingeräumt. Dabei kam die Sprache auf den bemerkenswerten wie merkwürdigen Umstand, dass die historisch gesehen akuteste, längste und fundamentalste Bedrohung der gesamten Existenz der Europäer in der Moderne in ihrem Gedächtnis so gut wie keine Rolle spielt: die atomare Bedrohung in den Jahrzehnten des Kalten Krieges. Wie ist dies angesichts des Umstandes zu erklären, dass etwa die internationale Finanzkrise des Jahres 1929, ja selbst die wesentlich schwächere Ölkrise von 1973 in der Erinnerung etlicher europäischer Nationalgesellschaften deutlich präsenter sind als das, was einst »nuklearer Holocaust« genannt wurde? Stumpft longue durée erinnerungskulturell ab? Geht in kollektiven Gedächtnissen Faktizität vor Potenzialität, ungeachtet der Dimension? Und müssten folglich den sieben konzentrischen Kreisen »transnationaler Erinnerung« in Europa nicht eine Reihe von Kreisen »europäischer Verdrängung« zugeordnet werden?
III. So anregend Leggewies Modell einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur auch ist, so deutlich lässt es doch zugleich die gravierenden nationalen und mesoregionalen Unterschiede hervortreten. Bei der erinnerungskulturellen Binnengliederung Europas leisten die Limits and Divisions of European History, die Oskar Halecki in seinem Buch von 1950 identifiziert hat, bis heute gute Dienste: In seinem nordamerikanischen Exil identifizierte der aus Wien gebürtige Historiker polnisch-kroatischer Herkunft ein transatlantisches »Westeuropa«, ein deutschsprachiges »Westmitteleuropa«, ein multiethnisches »Ostmitteleuropa« sowie ein russisch do-
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miniertes »Osteuropa«. Nicht zuletzt in dem Umstand, dass Haleckis historisch-religiös-kulturelles Gliederungsmodell im Übergang vom Zweiten Weltkrieg zum Kalten Krieg entstanden ist, liegt seine Erklärungsmacht für die Gedächtnislandschaften der Europäer in der Gegenwart. Doch auch Haleckis vier europäische Geschichtsregionen sind mit Blick auf Europas Erinnerungskulturen zu grobmaschig, wie ein Blick auf eine von ihnen, nämlich auf »Ostmitteleuropa« belegt. »1938« etwa ist eine Gedenkikone für die Tschechen: Sie steht für den Anfang vom Ende der demokratischen Tschechoslowakei durch die Aggression des Dritten Reiches. Anders die Perzeption der Slowaken, die damit die staatliche Wiedergeburt, ermöglicht durch eben dieses Dritte Reich, verbinden. »1968« hingegen symbolisiert für Tschechen und Slowaken das Trauma der Okkupation durch sowjetische und andere Warschauer-Pakt-Truppen – im Gedächtnis von zumindest indirekt beteiligten Nationalgesellschaften, wie etwa Litauern oder Bulgaren, markiert dieses Jahr eher eine Leerstelle denn einen Einschnitt. Noch divergierender ist die Deutung von 1945, das in Polen für »Jalta«, in der Tschechischen Republik hingegen für »Rückkehr zur demokratischen Eigenstaatlichkeit« steht. Weitere Beispiele divergierender ostmitteleuropäischer Gedächtnisse wären die nationalen Deutungen von »1939«, »1948« und »1956«, gar »1989«. Die beiden schwedischen Politikwissenschaftler Joakim Ekman und Jonas Linde haben daher unlängst die Kommunismuserinnerung samt positiven wie negativen Ausschlägen in den heute zur EU gehörenden Transformationsgesellschaften empirisch untersucht. (Ekman/Linde 2009). Dabei kommen sie zu dem Ergebnis, dass zum einen die baltischen Staaten insofern eine besondere Gruppe bilden, als hier das Nostalgieniveau niedrig und im Zeitraum 1993-2004 nur minimal gestiegen ist – mit Lettland als regionalem Spitzenreiter. Zum anderen konstatieren sie, dass der Anteil derjenigen Befragten, die eine Rückkehr zum vormundschaftlichen Staat sowjetischer Prägung befürworten, bei den übrigen neuen EU-Mitgliedern deutlich höher als im Baltikum ist – mit Bulgarien auf dem ersten Platz. Den größten Nostalgiesprung hat zwischen 1993 und 2004 die Slowakei gemacht – von Platz 6 auf 2 –, während die Tschechische Republik klarer Tabellenletzter ist und es die heftigsten Ausschläge in beide Richtungen in Polen gegeben hat. Insgesamt ist der Anteil der Staatssozialismus-Nostalgiker in fast allen EU-Staaten Ostmittel- und Südosteuropas seit 1989 gestiegen. Einziger Ausreißer dieses Trends ist Ungarn, wo der Zustimmungsgrad zu einer Rückkehr zum Kommunismus sank. Mit anderen Worten: Im Haleckischen »Ostmitteleuropa« ist die Erinnerung an die Periode sowjetischer Hegemonie ebenso unterschiedlich wie volatil. Wir können versuchen, sie zu messen, zu kartieren und zu kategorisieren – es bleibt aber der schwierige Versuch des Treffens eines beweglichen Ziels. Und das ist mit Blick auf »Westeuropa«, »Westmitteleuropa« und »Osteuropa« nicht viel anders, denkt man etwa an die von Richard von Weizsäcker 1985 höchst erfolgreich vorgeschlagene Umdeutung des deutschen Erinnerungsortes »8. Mai 1945« von einer »Niederlage« zu einer »Befreiung«.
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IV. Nicht gänzlich überzeugen kann Leggewies Kunstgriff, die Europäer zum »größten Noch-Nicht-Volk der Erde« zu ernennen, dem dann, gleich seinen Einzelnationen, »ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein« zugeschrieben werden kann. Dies gilt trotz oder gerade wegen des Verweises auf Ansätze zur Musealisierung der Geschichte des europäischen Integrationsprozesses, so auf die mit »C’est notre histoire« überschriebene Ausstellung 2007/08 in Brüssel. Auch das ebenso auf das 20. Jahrhundert ausgerichtete, aber wesentlich breiter und größer konzipierte »Haus der Europäischen Geschichte« der EU, das derzeit gleichfalls in der belgischen Hauptstadt entsteht, dürfte daran wohl nichts ändern. Denn dessen chronologisch angelegte Konzeption zielt auf das Ideal der Vollständigkeit und geht von einer imaginären Quintessenz europäischer Nationalgeschichten aus. Herausgekommen ist ein kleinster gemeinsame Nenner samt zahlreichen nationalen Extrawürsten. Wirklich große Linien und innovative Interpretationen sind daher kaum erkennbar, und der rote Faden ist, wenig originell, der Europagedanke in seiner »politisch korrekten« Form. Außer Acht gelassen werden dabei Europakonzeptionen der extremen Rechten und Linken, desgleichen die Europa ja gleichfalls konstituierenden und nicht selten ebenso wirkungsmächtigen Anti-Europa-Diskurse. Welch unwegsames Terrain die europäische Erinnerungslandschaft derzeit ist, zeigt überdies das Schicksal anderer Europamuseumsprojekte, so das Scheitern des »Musée de l’Europe« in Brüssel, die trotz mehrfacher Ankündigungen noch immer nicht erfolgte Eröffnung des »Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée« in Marseille sowie das sangund klanglose Ende des »Bauhauses Europa« in Aachen – trotz massivem genius loci-Vorteil. Wenn selbst politisch gut vernetzte, aus prominenten europäischen Intellektuellen bestehende schlagkräftige Lobbygruppierungen noch nicht einmal ein den Nerv europainteressierter Europäer treffendes Europamuseum zustande bringen, wie soll dann die EU-Bürokratie ein in sämtlichen Mitgliedsstaaten nicht nur akzeptiertes, sondern als signifikant und repräsentativ anerkanntes gesamteuropäisches Geschichtsbild herbeiadministrieren? Das globalisierungsbedingte Schlagwort von der Provinzialisierung Europas, das nicht zuletzt wegen eurozentristischer Nabelschau Brüsseler Spielart seine Berechtigung hat, gewinnt so eine zusätzliche Dimension. Der »europäische Traum« nimmt sich diesbezüglich als Phänomen der Außenperspektive aus, wie auch die Traumata des europäischen 20. Jahrhunderts im Innern keine Folgewirkung in Form einer von Leggewie (wunsch)gedachte »transnationalen Erinnerung und europäischen Identität« entfalten wollen. Die von ihm gebrauchte doppeldeutige Metapher von der »geteilten Erinnerung« – gemeint sind die semantischen Ebenen »geteilten Leides« (oder Freude) einerseits und eines in mehrere Teile zerlegten vormaligen Ganzen andererseits – erweist sich daher vor allem in ihrer auf Separation zielenden Bedeutungshälfte als zutreffend. Vielleicht
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ist es kein Zufall, dass dieser Doppelsinn des Verbs »teilen« eine Besonderheit des Deutschen ist. Das Englische etwa hält kein polyvalentes Synomym bereit; hier gibt es eine nicht überbrückbare Trennung zwischen »shared memory« und »divided memory«.
V. Dass Europa in erinnerungskultureller Hinsicht auch weiterhin ein »Schlachtfeld« bleiben wird, wie Leggewies Aufsatztitel signalisiert, ist mehr als wahrscheinlich. Dem multiplen Erinnerungsjahr 2009 mit seinen divergierend interpretierten Jubiläen »1789« »1939«, »1949« und »1989« ist 2010 gefolgt: In Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Dänemark, Norwegen und den baltischen Staaten wird in diesem Jahr der Erinnerungsort »1940« (Okkupation durch das nationalsozialistische Deutschland bzw. die Sowjetunion Stalins), in Polen, Litauen, Weißrußland und neuerdings auch in der Rußländischen Föderation, weniger hingegen in Deutschland, der lieu de mémoire »1410« (Schlacht bei Grunwald/Žalgiris/Hrjunval’d/Tannenberg gegen den Deutschen Orden) kommemoriert werden – in ganz unterschiedlicher sowie mitunter in innergesellschaftlich bzw. zwischenstaatlich konfliktträchtiger Art und Weise. Das Nachdenken und das Diskutieren über Möglichkeiten und Grenzen eines gesamteuropäischen Gedächtnisses wird also nicht nur weiterhin aktuell bleiben und (hoffentlich!) Erkenntnisfortschritte bringen, sondern mutmaßlich auch an Bedeutung zunehmen – sowohl auf dem Sonnendeck der in Formierung befindlichen EU-Geschichtspolitik als auch im Maschinenraum kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschung zu den Erinnerungskulturen Europas.
L ITER ATUR Ekman, Joakim/Linde, Jonas (2009): Found Memories of Dictatorship? – Nostalgia and Support for Democracy in Post-Communist Europe. In: Uwe Backes/Tytus Jaskułowski/Abel Polese (Hg.), Totalitarismus und Transformation. Defizite der Demokratiekonsolidierung in Mittel- und Osteuropa, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, S. 241-260. Halecki, Oscar (1950): The Limits and Divisions of European History. London, New York: Sheed and Ward. Troebst, Stefan (2010): Halecki Revisited: Europe’s Conflicting Cultures of Remembrance. In: Stråth, Bo, Małgorzata Pakier (eds.): A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance. London, New York: Berghahn, S. 56-63. Troebst, Stefan (2005): Jalta versus Stalingrad, GULag versus Holocaust. Konfligierende Erinnerungskulturen im größeren Europa. In: Berliner Journal für Soziologie 15, H. 3, S. 381-400.
Wozu braucht Europa ein Gedächtnis? Heidemarie Uhl
Dass ein gemeinsames europäisches Gedächtnis wünschenswert, wenn nicht notwendig ist – daran lassen Claus Leggewies Beiträge zu diesem Thema keinen Zweifel. Auch dem Aufsatz »Schlachtfeld Europa. Transnationale Erinnerung und europäische Identität« liegt dieses Credo zugrunde: »Wer einer europäischen Gesellschaft kollektive Identität verleihen möchte, so meine These, wird also die Erörterung und Anerkennung der strittigen Erinnerungen genauso hoch bewerten wie Vertragswerke, Währungsunion und offene Grenzen.« Claus Leggewies Text lässt sich somit im wissenschaftlichen Dispositiv der Begründung von Europa als Erinnerungsgemeinschaft verorten, wie es etwa auch Aleida Assmann (2007), Tony Judt (2006) und andere vertreten. Die Thesen und Argumente von »Schlachtfeld Europa« sollen im Folgenden als paradigmatisches Beispiel für diesen Diskurs diskutiert werden.
I. D IE B EGRÜNDUNG EINES EUROPÄISCHEN G EDÄCHTNISSES Vor dem Hintergrund des Gedächtnisparadigmas, wie es sich seit den 1980er Jahren in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften formiert hat, ist das Eintreten für eine europäische Geschichts- und Identitätspolitik keineswegs selbstverständlich, im Gegenteil: Mit dem Fahnenwort Gedächtnis verbindet sich – zumindest im deutschsprachigen Raum – ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel, der die Kategorien Gedächtnis und Identität grundsätzlich zur Disposition stellt. Aufgabe der Wissenschaft ist es, das Gedächtnis einer Gesellschaft kritisch zu befragen, Identitäten zu dekonstruieren und Mythen zu entlarven. Nicht mehr – wie noch im 19. Jahrhundert – als Baumeister der nationalen Identität, sondern als »Mythenjäger« (Elias 2009: 51ff.) im Dienste historisch-politischer Aufklärung verstehen sich die WissenschaftlerInnen der Generation des »cultural turn«. Warum ist dieser kritisch-reflexive Habitus in der Frage der europäischen Identität gewissermaßen außer Kraft gesetzt? Die These, dass die Europäische Union nicht nur auf rationalen, utilitaristischen Fundamen-
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ten zu begründen sei, ist der gemeinsame Fluchtpunkt des wissenschaftlichen Engagements. Jacques Delors’ viel strapazierter Ausspruch, einen Binnenmarkt könne man nicht lieben, liegt nicht nur den politischen Initiativen eines europäischen Identitäts-Management zugrunde, sondern ist auch kompatibel mit Analysen von Prozessen der Vergesellschaftung. Die Europäische Union bedürfe – ebenso wie die Nation – eines »sense of belonging«, eines affektiv-emotionalen Gefühls der Zugehörigkeit zu einer Wir-Gemeinschaft, so der Befund. »European Soul Searching«, die Suche nach einer kollektiven europäischen Identität, erfährt beim Politikwissenschaftler Leggewie allerdings eine überaus nüchterne Begründung: Eine »geteilte Erinnerung« sei erforderlich für den politischen Integrationsprozess. Ein Europa als Freihandelszone benötige kein kulturelles Gedächtnis, für Europa als politische Gemeinschaft ist die Frage, ob »dieses größte Noch-Nicht-Volk der Erde Erinnerungen teilt und eventuell ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein hat«, jedoch essentiell: Dies sei die Voraussetzung für die Formierung einer handlungsfähigen Solidargemeinschaft. Leggewie lässt keinen Zweifel an seiner Überzeugung, dass Europa ein gemeinsames Gedächtnis »haben sollte« – um »seine politischen Probleme besser zu bewältigen«, um, wie es die Nationen seit dem 19. Jahrhundert mit ihrem »Vorrat an Großerzählungen und Mythen« erfolgreich unter Beweis gestellt haben, »innerhalb gesetzter Grenzen solidarisch handeln zu können.« Dieses Handeln ist nicht zweckfrei, Ziel ist es, gerade in den Transformationsgesellschaften Demokratisierungsprozesse zu stärken. Auch wenn Leggewie das Vokabular einer moralisch-ethischen Begründung von Erinnerung und Begriffe wie Wertegemeinschaft vermeidet, so ist sein Konzept eines europäischen Gedächtnisses normativ begründet: Europäisch ist ein Synonym für demokratisch, und die »Brisanz einer nicht aufgearbeiteten Verbrechensgeschichte« liegt, so Leggewie, darin, dass sie »den Weg in die Demokratie (unterminiert).«
II. N EGATIVER G RÜNDUNGSMY THOS UND E RINNERUNGSKREISE Europa als politisches Projekt ist »aus den Krematorien von Auschwitz« erbaut – mit dieser Formulierung hat Tony Judt (2006: 966) den negativen historischen Bezugspunkt eines europäischen Gedächtnisses auf den Punkt gebracht. Auch Claus Leggewie sieht Auschwitz im Zentrum der europäischen Erinnerung, als ersten Erinnerungskreis und »Anker- und Fluchtpunkt einer supra- und transnationalen Erinnerung«. Durch diesen »negativen Gründungsmythos« grenze sich europäisches Gedächtnis auch von nationalstaatlicher Geschichtspolitik ab: Das heutige Europa könne, anders als seine Nationen, »nicht Heldentaten ausstellen«, »sondern in historischer Tiefendimension nur an die großen Katastrophen des langen 20. Jahrhunderts erinnern«.
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Leggewie strukturiert die europäische Gedächtnislandschaft in »konzentrischen Kreisen«, die »mit dem 27. Januar 1945 in Auschwitz beginnen«. Das Schuldgedächtnis (vgl. Barkan 2002), die Erinnerung an Verbrechen, für die die eigene Gesellschaft (mit)verantwortlich ist, bildet somit die Grundlage einer europäischen Erinnerungskultur, wobei Leggewie folgende historische Bezugspunkte anführt: Holocaust, Sowjetkommunismus, Vertreibungen, Armenische Frage, Kolonialismus. Diese Erinnerungskreise erweisen sich nun allerdings keineswegs als Grundlage eines gemeinsamen Gedächtnisses, sondern führen zu neuen Differenzen und Ungleichzeitigkeiten. Diese Ambivalenz durchzieht die Argumentation Leggewies in »Schlachtfeld Europa«: Die These, dass Europa ein gemeinsames Gedächtnis »haben sollte«, wird auch in der Metapher der konzentrischen Kreise reflektiert – ein Sprachbild, das Überlagerungen und gemeinsame Schnittmengen erwarten lässt. In der konkreten Beschreibung macht Leggewie hingegen deutlich, dass die konzentrischen Kreise nicht harmonisch oder neutral interagieren, sondern dass es sich um konkurriere Interpretationen, unterschiedliche Funktionalisierungen und asymmetrische Wahrnehmungen bzw. Wahrnehmungsverweigerungen handelt. So ist etwa die Anerkennung des Genozids an den Armeniern zum »informellen Beitrittskriterium« der Türkei zur EU geworden, während die europäischen Kolonialverbrechen – von Leggewie in den Kanon negativer historischer Bezugspunkte aufgenommen – im Haushalt europäischer Gedächtnis-Themen praktisch irrelevant sind.
III. E UROPA ALS NEUE A RENA IM K AMPF UM DIE E RINNERUNG Das Diskurs- und Handlungsfeld Europäisches Gedächtnis lässt sich offenkundig treffender mit dem titelgebenden Bild des »Schlachtfeldes« als mit der Harmonie von konzentrischen Kreisen beschreiben. Dies würde auch einem hegemonietheoretischen Verständnis von Gedächtnis entsprechen, wie es Oliver Marchart entwickelt hat: Gedächtnis kann nie homogen sein, sondern ist als symbolisches Kampffeld zu denken, in dem unterschiedliche Akteursgruppen bzw. deren unterschiedliche, vielfach gegensätzliche Interpretationen der Vergangenheit in Konkurrenz treten. Der Streitwert und das Ziel des Kampfs um die Erinnerung ist die Definition dessen, was »unsere« gemeinsame Geschichte ausmachen soll, also das »offizielle«, repräsentative Geschichtsbild eines Kollektivs (Marchart 2005). Die Logik von Gedächtnis und Identität ist somit eine zweifache: zum einen ist es die Funktion der Grenzziehung zwischen »uns« und den »Anderen«, von der auch Jan Assmanns Gedächtnistheorie ausgeht: eine »identifikatorische Besetztheit im positiven (›das sind wir‹) oder im negativen Sinne (›das ist unser Gegenteil‹)«, eine »scharfe Grenze, die das Zugehörige vom Nichtzugehörigen, d.h. das Eigene vom Fremden trennt.« (Assmann
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1988: 13) Zum anderen wird jedoch die Vorstellung einer homogenen WirGemeinschaft erst durch die Differenz zu einem »Anderen« erzeugt. Über die Vergangenheit eines Kollektivs, einer Nation herrscht aber nur scheinbar Konsens, was wir als »unsere Geschichte« betrachten, ist vielmehr das Ergebnis der Konflikte um die Deutungsmacht über die Vergangenheit. Aus dieser Perspektive ist die Dichotomie von nationalem und europäischem Gedächtnis, von der auch Leggewie ausgeht, hinfällig. Die europäische Ebene eröffnet vielmehr einen weiteren Schauplatz im »Kampf um das Gedächtnis«, sowohl zwischen den Nationen als auch innerhalb der nationalen Gesellschaften. Europa bildet dabei den Rahmen für neue Versöhnungsszenarios ebenso wie für neue Unversöhnlichkeiten. So kann das brisante Thema Vertreibung – der dritte Leggewie’sche Gedächtnis-Kreis – zunehmend europäisch erinnert werden, hier wurden Formen der Verständigung entwickelt, die den nach wie vor vorhandenen Ressentiments und Schuldzuweisungen auf nationaler Ebene entgegenwirken. Gedächtnis zieht aber auch neue symbolische Grenzen, die mitten durch Europa verlaufen. Mit der Ost-Erweiterung der EU ist die Frage des Verhältnisses von Holocaust- und Gulag-Erinnerung zu einer zentralen Herausforderung geworden (vgl. Troebst 2005). Hier erweist sich die europäische Dimension jedoch nicht als Faktor des Ausgleichs und der Entemotionalisierung, sondern, ganz im Gegenteil, als zusätzlicher Konfliktgenerator. Leggewies Befund, die »Konkurrenz und Hierarchie zwischen […] Holocaust-Gedächtnis und Gulag-Gedächtnis dürfte die wichtigste Hypothek einer Erinnerung sein, die nicht separieren sondern synthetisieren möchte«, hat mittlerweile an Brisanz gewonnen: Im April 2009 wurde auf Initiative von Abgeordneten aus postkommunistischern Ländern der 23. August, der Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes, als gesamteuropäischer Gedenktag für die Opfer des »Totalitarismus« beschlossen. Die kritischen Reaktionen »westlicher« HistorikerInnen bzw. die Kontroverse um die damit verbundene explizite Gleichsetzung der Verbrechen des Nationalsozialismus und des Kommunismus (vgl. Bauer 2009, Uhl 2009) lassen sichtbar werden, dass auch das europäische Gedächtnis ein umkämpftes Feld ist. Der zentrale Ort des Holocaust in der europäischen Erinnerungskultur ist ja selbst das Ergebnis der geschichtspolitischen Schlachten der vergangenen Jahrzehnte. Mit den beiden konkurrierenden europäischen Gedenktagen – dem Holocaust-Gedenktag am 27. Jänner und dem 23. August als Gedenktag für die Opfer des »Totalitarismus« – erweist sich, dass die Logik von Gedächtnis auch auf europäischer Ebene wirksam ist. Erstmals sind die Kontroversen nicht zwischen Nationen bzw. zwischen nationaler und transnational-europäischer Ebene angesiedelt, sondern innerhalb der EU, und sie werden im Herzen des politischen Akteursfeldes, im Europäischen Parlament, verhandelt. Dabei haben sich zwei konkurrierende supranationale europäische Gedächtnis-Paradigmen herauskristallisiert, die den Anspruch erheben, das gemeinsame europäische Gedächtnis zu repräsentieren.
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Folgt man kommunikationstheoretischen Ansätzen, so ist es nicht Konsens, sondern Konflikt, der eine »imagined community« (vgl. Anderson 1988) reaktiviert und reproduziert (vgl. Eder 2004). Die Auseinandersetzung um die Gleichsetzung von Holocaust und Gulag ist das erste europäische Konfliktszenario, das im symbolischen »Schlachtfeld« des europäischen Gedächtnisses geführt wird. Das, worauf es ankommt – und damit der Streitwert – liegt in der Frage, wer dieses gemeinsame Gedächtnis mit welchen Zielen definiert. Insofern könnte gerade von der Spaltung der europäischen Erinnerungskultur der Impuls für die Wahrnehmung von Europa als einem gemeinsamen Kommunikationsraum ausgehen.
L ITER ATUR Anderson, Benedict (1988): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a.M.: Campus. Assmann, Aleida (2007): Europe: A Community of memory?. Bulletin of the German Historical Institute 40, S. 11-25. Assmann. Jan (1988): Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 9-19. Barkan, Elazar (2002): Völker klagen an. Eine neue internationale Moral, Düsseldorf: Patmos Verlag. Bauer, Yehuda (2009): On Comparisons between Nazi Germany and the Soviet Regime. Online unter www.gedenkdienst.at/index.php?id-585 (zuletzt aufgerufen am 23.03.2010). Elias, Norbert (2009): Was ist Soziologie?, 11. Aufl., Weinheim/München: Juventa. Eder, Klaus (2004): Europäische Öffentlichkeit und multiple Identitäten – das Ende des Volksbegriffs? In: Claudio Franzius/Ulrich K. Preuß (Hg.), Europäische Öffentlichkeit, Baden-Baden: Nomos, S. 61-80. Judt, Tony (2006): Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München/Wien: Hanser. Marchart, Oliver (2005): Das historisch-politische Gedächtnis. Für eine politische Theorie kollektiver Erinnerung. In: Christian Gerbel et al. (Hg.), Transformationen gesellschaftlicher Erinnerung. Studien zur »Gedächtnisgeschichte« der Zweiten Republik, Wien: Turia + Kant, S. 21-49. Troebst, Stefan (2005): Jalta versus Stalingrad, GULag versus Holocaust. Konfligierende Erinnerungskulturen im größeren Europa. Berliner Journal für Soziologie 15, H. 3, S. 381-400. Uhl, Heidemarie (2009): Conflicting Cultures of Memory in Europe: New Borders between East and West? Israel Journal of Foreign Affairs 3, H. 3, S. 59-72. Online unter http://israelcfr.com/documents/issue9Uhl.pdf (zuletzt aufgerufen am 23.03.2010)
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Die Vergangenheit als Erbe oder Last der Geschichte? Siobhan Kattago
Wie Mark Mazowers »The Dark Continent« und Tony Judts »Postwar« bietet »Schlachtfeld Europa« einen düsteren Überblick über die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Mit Hilfe der Metapher konzentrischer Kreise der Erinnerung führt Leggewie seinen Leser durch sechs Kreise des europäischen Infernos: Holocaust, Sowjetkommunismus, Vertreibungen, die Armenische Frage, Europäische Peripherie und Europa als Einwanderungskontinent. Dann, im siebten Kreis, wird man in einen fegefeueroder himmelartigen Kreis europäischer Erneuerung erhoben. Leggewies Schlachtfeld-Metapher illustriert ein Konzept von Reinhart Koselleck sehr treffend, in welchem die Vergangenheit als »Erfahrungsraum«, als eine Art Landkarte oder Ort vollendeter Ereignisse verstanden wird. Die Zukunft als »Erwartungshorizont« hingegen ist qualitativ anders, weil sie dem Unbekannten gegenüber offen ist und noch nicht durchlebt wurde (Koselleck 1979). Vor 1945 tendierten Reflexionen über eine nationale Vergangenheit dazu, die positiven Aspekte von Tradition und Erbe zu betonen. Danach hat die Erinnerung an die jüngste Vergangenheit stets ein traumatischeres Verständnis der Aufarbeitung von Geschichte begleitet. Während Leggewies erste sechs Kreise europäischer Nachkriegsgeschichte dazu neigen die Vergangenheit als Last zu betonen, empfiehlt der letzte Kreis die Vergangenheit als kultivierbares Erbe zu verstehen. Genau diese Doppeldeutung der Hinterlassenschaft der Vergangenheit als Erbe und/oder Last ist es, was »Schlachtfeld Europa« so provokativ macht. In den Kreisen europäischer Erinnerung hält Leggewie Abstand von der Idee eines »kollektives Gedächtnisses.« Erst im siebten Kreis der europäischen Erneuerung taucht der Begriff auf. Während er über die Brauchbarkeit eines Europa-Museums nachdenkt, benutzt Leggewie stattdessen »transnationale Erinnerung« als ein Synonym für europäisches Geschichtsbewusstsein: »Tatsächlich ernster zu nehmen ist wohl die Frage, ob die Europäerinnen und Europäer – viele Millionen EU-Bürger, aber auch Schweizerinnen
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und Ukrainer, Türkinnen und Norweger –, ob also dieses größte NochNicht-Volk der Erde Erinnerungen teilt und eventuell ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein hat.« (Leggewie 2009: 81) Wie ein solches Noch-NichtVolk eine transnationale Erinnerung sowie eine gemeinsame Identität entwickeln kann, ist schwer zu prognostizieren.
K OMMUNISMUS UND N ATIONALSOZIALISMUS VERGLEICHEN ? Obwohl Leggewie hier und anderswo für die Pluralität europäischer Erinnerungen plädiert, wird die Einzigartigkeit des Holocausts als negativer Grundstein der europäischen Nachkriegserinnerung verstanden. Auch wenn Kommunismus wie Nationalsozialismus kriminelle Regime waren, führe die Äquivalenz-Metapher zu moralischen und politischen Problemen (Leggewie 2006). Dieses Verständnis widerspiegelnd behauptet Tzvetan Todorov, dass – während die Totalitarismusthese Kommunismus und Nationalsozialismus gleichstelle, »wie ein Ei dem anderen« – die Einzigartigkeit jedes Regimes eher eine von »Äpfeln und Birnen« sei (Todorov 2003: 74-90). Wie jüngst (2007) die Krawalle in Tallinn um die Versetzung eines sowjetischen Kriegsdenkmals bestätigten, teilen viele Europäer tatsächlich kein gemeinsames Verständnis des Zweiten Weltkrieges, geschweige denn der Nachkriegszeit. Wo die westeuropäischen Narrative des Zweiten Weltkrieges an die Einzigartigkeit des Holocausts als primäres Trauma erinnern, tendieren die osteuropäischen/post-sowjetischen Narrative dazu, sich stärker auf nationales Leiden und Deportationen im Kommunismus zu beziehen, wobei der Holocaust nur in der Peripherie auftaucht. Ebenso erinnert ein russisches Narrativ an den Großen Vaterländischen Krieg (1941-1945) und das Leiden der russischen Nation unter dem Nazi-Faschismus, während die Jahre des Bündnisses zwischen Hitler und Stalin 1939 bis 1941 heruntergespielt werden.
G IBT ES ÜBERHAUP T EIN KOLLEK TIVES G EDÄCHTNIS ? Als Reaktion auf die Popularität der Idee des »kollektiven Gedächtnisses« wenden sich sowohl Koselleck, als auch Susan Sontag gegen diese Erinnerung ist für sie etwas intrinsisch Individuelles. Über seine Erfahrung als deutscher Soldat in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager sinnierend, warnt Koselleck vor der verlockenden Verwirrung eines kollektiven Gedächtnisses. »Ich habe keine Erinnerung bis auf das, was ich selbst erfahren habe. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass jeder Mensch ein Recht auf seine eigene Erinnerung hat.« (Koselleck 2004: 3) Seine persönliche Erinnerung an das Konzentrationslager Auschwitz aus der Perspektive eines Kriegsgefangenen unterscheidet sich von dem, was beim offiziellen Gedenken an dessen Befreiung (27. Januar) erinnert wird: »Als Gedenkfeier, als recommemoration ist das semantisch eine völlig an-
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dere Erinnerung als die, die ich als Augenzeuge in dieser ersten Nachricht in meiner Erinnerung behalten habe.« (Koselleck 2004: 3) Susan Sontag argumentiert auf ähnliche Weise für die Einzigartigkeit und die Vielfältigkeit von Erinnerung(en). Im Gegensatz zu Koselleck, der sich auf historische Narrative und Dokumente konzentriert, basieren Sontags Betrachtungen auf visuellen Bildern und Fotografie. »Strictly speaking, there is no such thing as collective memory – part of the same family of spurious notions as collective guilt. But there is collective instruction.« (Sontag 2003: 85) Sontag und Koselleck weisen auf etwas Entscheidendes hin: Genau wie Schuld ist auch Erinnerung individuell. Man sollte vorsichtig sein, individuelle Erfahrung auf Kollektive wie Kulturen oder Nationen zu projizieren. Wie kann man sich angesichts dieser Problematik, dieser Einschränkung des kollektiven Gedächtnisses überhaupt ein »transnationales Gedächtnis« und eine gemeinsame europäische Identität vorstellen? Hier machen Leggewies Überlegungen zu den Kreisen der Vertreibungen, der armenischen Frage, der europäischen Peripherie und über Europa als Einwanderungskontinent deutlich, dass es nicht die Frage ist ob man sich erinnern oder vergessen sollte, sondern wie man aus der Vergangenheit mögliche Lektionen für die Zukunft Europas internalisieren kann. Diese Frage verfolgt Leggewie schon seit seinem Buch »Von Schneider zu Schwerte«. Die Vergangenheit ist nicht nur ein anderes Land, sondern kann im Fall von Schneider/Schwerte auch eine andere Person sein. Leggewie zeigt, wie die widersprüchliche Biographie Schneider/Schwerte teilweise die Geschichte der Deutschen verkörpert hat. Sowie Schneider/ Schwerte hat die Bundesrepublik einen neuen Name des Landes und eine neue Staatsform entdeckt (Leggewie 1998).
M USEUMSREIF, ABER BIT TE KEINE M USE ALISIERUNG Während Europa reif genug für ein Europa-Museum sein mag, ist allerdings noch eine Balance zwischen Musealisierung, Sakralisierung und Trivialisierung der Vergangenheit von Nöten. Vielleicht liegt ein Teil der Schwierigkeit in der Entweder-Oder-Rahmung: Da Erinnerung selektiv ist, führt die Entweder-Oder-Dichotomie in die Irre. Statt entweder Erinnerung oder Vergessen, könnte man Garton Ashs Diskussion über Amnesie, Hypermnesie und Mesomnesie in Erwägung ziehen (Ash 2001). Während Hypermnesie die Vorgabe des ›Nie Vergessens‹ bezeichnet, ist Amnesie die Verdrängung des Vergangenen. Da beide, Hypermnesie und Amnesie, Extreme beschreiben, plädiert Ash für eine moderatere Form der Erinnerung zwischen den Polen des totalen Gedächtnisses und des kompletten Vergessens. Mesomnesie erkennt die Vergangenheit an, bleibt aber nicht fixiert innerhalb des traumatischen Moments. In ähnlicher Manier argumentiert auch Todorov für ein gemäßigteres Erinnern – eines, das den Ex-
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tremen von Sakralisierung oder Trivialisierung nicht nachgibt. (Todorov 2003: 168-176) Während Leggewie den Leser durch Europas sechs Kreise des Infernos führt, ist man geneigt nach weiteren Kreisen zu fragen: der spanische und italienische Faschismus, die griechischer Militärdiktatur, Nordirland – die Liste könnte lang sein. Sobald man jedoch zu »Europas Erfolgsgeschichte nach 1945« aufsteigt, wandelt sich das traumatische Verständnis von Geschichte als Last in eine positivere Kultivierung eines gemeinsamen europäischen Erbes. An dieser Stelle führt Leggewie die Zukunft als »Erwartungshorizont« ein. Wie kann man sich eine gemeinsame europäische Zukunft vorstellen, die auf der nahen Vergangenheit basiert, aber nicht auf sie fixiert bleibt? Leggewies Interpretation von »Europas kollektivem Gedächtnis« ist pluralisch, nicht singularisch: eine Art Aggregat konzentrischer und ineinander übergehender Kreise. »Europas kollektives Gedächtnis nach 1989 ist ebenso vielfältig wie seine Nationen und Kulturen und genauso – im doppelten Sinne – geteilt wie seine Staaten- und Gesellschaftswelt.« (Leggewie 2009: 92) Aus genau dieser Zuerkennung der unterschiedlichen Erinnerungen an die zeitgenössische europäische Geschichte geht ein gemeinsamer europäischer »Weg« hervor, der die kantischen Ideale der Hospitalität, der Würde, des Respekts und des Friedens betont: »Europäisch kann jedoch der Weg sein, an Untaten der Vorfahren gemeinsam zu erinnern und daraus behutsam Lehren (sic!) für die Gegenwart der europäischen Demokratien zu ziehen.« (Leggewie 2009: 93) Das ist eine willkommene Veränderung, in der Kant die Rolle der Beatrice zu spielen scheint, leitet er doch Leggewie und seine Leser aus Europas Inferno in Richtung des Versprechens vom ewigem Frieden: »Es ist hier, wie in den vorigen Artikeln, nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede, und da bedeutet Hospitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden.« (Kant 1793/1919: 33) Übersetzung Lisa Kuhley
L ITER ATUR Ash, Timothy Garton (2001/2002): Mesomnesie: Pläydoyer für ein mittleres Erinnern. In: Transit Winter 2001/02, S. 32-48. Judt, Tony (2005): Postwar: A History of Europe since 1945, New York: Penguin Press. Kant, Immanuel (1793/1919): Zum ewigen Frieden und ausgewählte Stücke. München: Drei Länder Verlag. Koselleck, Reinhart (1979): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Koselleck, Reinhart (2004): Gibt es ein kollektives Gedächtnis?. Divinatio, 19/2, Frühling, S. 1-6.
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Leggewie, Claus (1998): Von Schneider zu Schwerte. Das ungewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte lernen wollte. München: Carl Hanser Verlag. Leggewie, Claus (2006): Gleichermaßen verbrecherisch? Totalitäre Erfahrung und Europäische Erinnerung. In: Eurozine. www.eurozine.com/ articles/2006-12-20-leggewie-de.html. Leggewie, Claus (2009): Schlachtfeld Europa. Transnationale Erinnerung und europäische Identität. Blätter für deutsche und internationale Politik 2, S. 81-93. Mazower, Mark (1998): The Dark Continent. Europe’s Twentieth Century, New York: Vintage Books. Sontag, Susan (2003): Regarding the Pain of Others, New York: Picador. Todorov, Tzvetan (2003): Hope and Memory. Reflections on the Twentieth Century, London: Atlantic Books.
Amerika und Europa: Zwei Wege zu Gott? Claus Leggewie
Wer sagt, Amerika sei »anders«, denkt dabei vor allem an die Kultur in den Vereinigten Staaten (oder sogar deren vermeintliche Abwesenheit). Bei genauerem Hinsehen konkretisiert sich dieses »Anderssein« in Gestalt der Religiosität der US-Gesellschaft, die im Vergleich zum alten Europa erheblich intensiver ist und in letzter Zeit zu zahlreichen Spekulationen Anlass gegeben hat. So unterstellt man der amerikanischen Außenpolitik ganz wesentlich religiöse, oder – was für viele dasselbe meint: »fundamentalistische« Motive; verstärkt seit dem 11. September 2001. Als Beleg dient die spontane Reaktion des amerikanischen Präsidenten, man befinde sich nunmehr auf einem »Kreuzzug«. Zwar hat George W. Bush diese im Affekt geäußerte Parole selbst als Lapsus bezeichnet und ausdrücklich zurückgenommen, doch das Vorurteil, Außen- wie Innenpolitik der Vereinigten Staaten seien durchweg von obskuren Antrieben beherrscht, hat sich in der Weltöffentlichkeit festgesetzt und speist auch einen guten Teil der innenpolitischen Kritik an der Bush-Administration. Mittlerweile heißt es, es gebe eine Art globalen »clash of fundamentalisms«, einen für Europa und den Rest der Welt gefährlichen Showdown zwischen Osama bin Laden und George W. Bush, denen man Geistesverwandtschaft in ihrem religiösen Wahn nachsagt. Der amerikanische Präsident gilt vielen sogar als gefährlicher, da es sich bei ihm doch um einen Fundamentalisten an der Spitze der größten Militärmacht der Welt handele. Rechnungen wie diese führten dazu, dass im Dezember 2003, als Al-Qaida ein zweites Mal in Istanbul zuschlug, Londons Bürgermeister den amerikanischen Präsidenten zum »gefährlichsten Mann der Welt« erklärte und Demonstranten ihn, den US-Präsidenten – und nicht Osama bin Laden –, symbolisch vom Sockel stießen. Solche Phänomene muss man sozialwissenschaftlich einzuordnen versuchen. Man kann hier gleich den Widerspruch herausstreichen, dass Amerika-Kritiker, die den USA pauschal Fundamentalismus nachsagen, ihnen im gleichen Atemzug schnöde materialistische Motive für ihren vermeintlichen Kreuzzug unterstellen. Es gehe letztlich doch nur um Erdöl im Mittleren Osten, und der American Way of life zeichne sich gene-
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rell durch seinen Ungeist, also das Fehlen jeder spirituellen Grundlage aus, die sich distinguierte Alteuropäer zugute halten. Der gleiche Abstand zum protestantischen wie islamischen Fundamentalismus deutet auf ein tief sitzendes Missverständnis der politischen Kultur der Vereinigten Staaten hin, das nun – nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation – ans Licht tritt und die Frage aufwirft, auf welchen Fundamenten das viel beschworene »atlantische Wertebündnis« und die unterstellte Einheit der »westlichen Gesellschaft« bis dato eigentlich beruht hatten. Denn Frömmigkeit ist ins Weiße Haus ja nicht erst beim Amtsantritt George W. Bushs im Jahr 2001 eingekehrt, und christlichen Fundamentalismus gibt es in der US-Gesellschaft seit langem. Fundamentalismus ist in der Tat eine Erfindung amerikanischer Protestanten im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. So bedeutsam diese religiöspolitische Strömung ist und so stark sie in den vergangenen Jahrzehnten auch auf die amerikanische Politik Einfluss zu nehmen versucht hat, so sehr man ferner Berührungen des amtierenden Präsidenten mit fundamentalistischen Kreisen nachweisen kann (er verleugnet sie im übrigen nicht), so falsch ist der pauschale Fundamentalismus-Verdacht, der in der öffentlichen Meinung in Europa vielfach erhoben wird. Was dieses Vorurteil noch bedenklicher macht, ist die kolossale Übertreibung des realen fundamentalistischen Kerns im amerikanischen Fall, verglichen mit der Nachsicht, die das aufgeklärte Publikum islamistischen Fundamentalisten entgegenbringt. Damit soll nicht der Dialog mit Muslimen kritisiert werden, die dem Islamismus großenteils fern stehen und oft seine ersten Opfer sind, wohl aber hingewiesen werden auf eine verdächtige Diskrepanz und das Nicht-Verstehen-Wollen der Vereinigten Staaten von Amerika. Amerika besser zu verstehen – nicht zuletzt, um die amerikanische Politik angemessen kritisieren zu können – ist das Ziel der folgenden Darlegungen zum Thema Religion und Politik in der amerikanischen Gesellschaft. Es geht darum, die religiösen Grundlagen der US-Politik darzulegen, ohne sie gleich be- oder verurteilen zu wollen. Es ist ja in der Tat verblüffend, dass die Vereinigten Staaten, Vormacht und Symbol technisch-industrieller Modernität, zugleich eine der religiösesten Gesellschaften des Westens sind, und dass in der ältesten modernen Demokratie zugleich die stärkste fundamentalistische Strömung eingebettet ist, die gegen die Trennmauer zwischen Religion und Staat anläuft. Nirgendwo sonst ist die Rechte – die gemäßigte wie die radikale – so religiös geprägt wie hier, und kaum eine moderne Gesellschaft ist durch die verschiedenen Wellen der Säkularisierung und des Wertewandels im 19. und 20. Jahrhundert hindurchgegangen und dennoch so religiös geblieben. Es mag also sein, dass die wachsende Kluft zwischen Amerika und Europa auf zwei schon seit langem konträre Pfade der Modernisierung zurückzuführen ist, und man fragt sich, welches Säkularisierungsmuster »Amerikas Welt« am Ende stärker bestimmen wird – eines, in dem Religion allmählich »unsichtbar« wird, wie in den meisten europäischen
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Gesellschaften, oder eines, in dem ihre Präsenz im öffentlichen Raum eher zunimmt. Das ist keineswegs nur in den USA der Fall. So scheint nicht der amerikanische Weg moderner und postmoderner Frömmigkeit die weltweite Ausnahme darzustellen, wie die Soziologie im Gefolge von Max Weber annahm, eher befindet sich Europa, das man mit Moderne und Modernisierung gleichgesetzt hat, auf einem Sonderweg. Jede akademische Einführung, ein privater Besuch in den USA oder sonstiger Kontakt mit Durchschnittsamerikanern macht einem rasch die besondere Bedeutung der Religion seit den historischen Ursprüngen dieser Nation klar. Religion ist gewissermaßen der »Aufmacher«. Sie bestimmt das Selbstbild vieler Amerikaner, die sich oft zu Nachfahren der »Pilgerväter« und Puritanergemeinden des 17. Jahrhunderts stilisieren und die Eigenheiten ihres politischen Systems – unter Anrufung des unübertroffenen Kronzeugen Alexis de Tocqueville – auf die Kraft religiöser Sekten und Lokalgemeinden zurückführen. Drei Aspekte aus der reichhaltigen und höchst verzweigten Religionsgeschichte der USA muss man sich hier vergegenwärtigen: Die Siedler waren hoch motivierte Gläubige, die sich mit Gott im Bunde fühlten und jenseits des Atlantiks eine christliche »nation under God«, ein neues Jerusalem errichten wollten, sie waren zweitens religiösen Bürgerkriegen und repressiven Staatskirchen entronnen und pochten energisch auf ihre individuelle Religionsfreiheit als Schutzrecht vor dem Staat, und sie etablierten drittens, wenn auch anfangs oft contre coeur, einen hochgradigen Pluralismus, der keiner einzelnen Kirche den Vorrang gab, sondern die soziale Lebenswelt und die politischen Institutionen als Ganze religiös einfärbte. Auch wenn vor der Unabhängigkeit im Jahr 1776 und in manchen Einzelstaaten noch weit danach europäische Staat-Kirche-Verhältnisse tradiert wurden, setzte sich als Wesenszug die lokale, von religiösen Sekten geprägte Gemeindestruktur durch, die klerikalen Hierarchien misstraute und auch eine Keimzelle der republikanisch-egalitären Versammlungsdemokratie war. Nicht eine bestimmte Religion, wohl aber Religiosität schlechthin bildete den Kitt der politischen Ordnung, ihre »Zivilreligion«. Dass jeder Amerikaner nach seiner Fasson selig werden kann, von allen Religionen aber ein prägender Einfluss auf das bürgerliche Leben ausgeht, ist der Kern dieser Zivilreligion und zugleich Grundlage des amerikanischen Patriotismus, den man im Rest der Welt so wenig versteht wie Amerikas Religiosität. Der verdeckt religiös imprägnierte Patriotismus kann durchaus nationalistische und chauvinistische Seiten an den Tag legen, aber im Grunde ist er inklusiv. Auf dieser Grundlage herrscht religiöser Wettbewerb in einer, wie man sagen kann: theistischen Nation, die als »nation with the soul of a church« (als politische Gemeinschaft mit der Seele einer Kirche) bezeichnet wurde. Nicht zufällig liest man als Motto »In God We Trust« auf die Landeswährung, den Dollarschein, geprägt, ohne dabei jemals in die Versuchung oder gar Nähe einer Theokratie zu geraten. Religiosität, Nation und Demokratie sind hier eine enge und schwer lösliche Beziehung eingegangen.
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In der Pledge of Allegiance, der berühmten, übrigens erst in den 1950er Jahren eingeführten Gelöbnisformel, zeigt sich der Gottesbezug – »one nation under god, indivisible, with liberty and justice for all« (eine einige Nation unter Gott, unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle). Das ist der Eckpfeiler der amerikanischen Nationalideologie, womit keine bestimmte Konfession privilegiert wird, sondern ein dogmatisch wie liturgisch unspezifizierter Glaube an einen Gott und die Transzendenz menschlichen Daseins postuliert wird. Rainer Prätorius, der kürzlich eine prägnante Zusammenfassung der amerikanischen Religionspolitik vorgelegt hat, spricht diesbezüglich von »Religion I« und »Religion II« – Religion I ist meine eigene, private Angelegenheit, Religion II die, die ich mit allen teile und die damit Teil des öffentlichen Lebens wird. Die auffällige Präsenz religiöser Praxen und Symbole im öffentlichen Raum ist im Endeffekt also inklusiv und tolerant, und sie wertet religiöse Konkurrenz ausdrücklich positiv, auch wenn es eine faktische Vorherrschaft christlicher Bekenntnisse gibt und unter den christlichen Gemeinden wiederum eine höchst ungleiche Ressourcen-Ausstattung vorliegt, also ein asymmetrischer Pluralismus der amerikanischen Religionslandschaft zu konstatieren ist. Die Besonderheiten der amerikanischen Säkularisierung (denn um eine säkulare Gesellschaft handelt es sich ja ohne Zweifel, je nach Sichtweise sogar um die am stärksten säkularisierte Gesellschaft überhaupt), die Besonderheiten betreffen vor allem die hohe »Trennmauer zwischen Religion und Politik«, die der immer wieder zitierte Gründervater Thomas Jefferson in die Garantie religiöser Freiheit aufnahm und sogar auf seinen eigenen Grabstein einmeißeln ließ. Religionsfreiheit ist somit der Schlüssel zu den bürgerlichen Freiheitsrechten überhaupt, und politische Autoritäten dürfen eine bestimmte Religionsausübung weder vorschreiben noch verbieten. Diese Deklaration positiver und negativer Religionsfreiheit fand auch Eingang in die Bill of Rights. Doch die freie Religionsausübung blieb ein ewiger Streitfall und ist bis heute Gegenstand verfassungsrechtIicher Kontroversen, die das Verhältnis von Religion und Politik (in europäischer Terminologie: Kirche und Staat) in einer nicht nur für Verfassungsjuristen interessanten Weise deuten und der sozialen und kulturellen Entwicklung anpassen. Auf aktuelle Streitfälle, an denen sich die Wirksamkeit christlich-fundamentalistischer Kreise messen lässt, kommen wir noch einmal zurück. Als Besonderheit der amerikanischen Säkularisierung ist die strenge Trennung von Politik und Religion hervorzuheben, die ausdrückliche oder vermeintliche Staatskirchensysteme ausschließt. Historischer Hintergrund ist die Pluralität, Intensität und der Wettbewerb der Religionspraxis in den USA, nicht aber das Nachlassen der privaten Frömmigkeit, womit man in den meisten europäischen Gesellschaften Säkularisierung identifizieren kann. Viele religionssoziologische Studien der letzten Jahrzehnte unterstreichen die unvermindert hohe Bedeutung der Religion in Amerika, messbar an der intensiven religiösen Aktivität aller vertre-
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tenen Konfessionen, in Gestalt von regelmäßiger Teilnahme an Gottesdiensten und kultischen Feierlichkeiten, und an der selbstverständlichen Präsenz religiöser Weltanschauungen und Normen in der Alltagsmoral der großen Mehrheit. Fast die Gesamtheit der Amerikaner glaubt an ein »höheres Wesen«, ein Leben nach dem Tode, auch an die Existenz böser, teuflischer Mächte, und fast die Hälfte ist davon überzeugt, dass die Vereinigten Staaten unter dem besonderen Schutz »Gottes« stehen, wobei dieser eben nicht mit dem christlichen Gott in eins fällt. Interessant ist die Tatsache, dass die intensive Frömmigkeit nicht allein die Säkularisierungswelle der 1960er und I970er Jahre überstanden, sondern seither sogar noch zugenommen hat. Einer jüngeren Meinungsumfrage des Pew Center zufolge stimmen 80 und mehr Prozent der Aussage voll oder überwiegend zu: »Beten ist ein wichtiger Bestandteil meines täglichen Lebens«, »Wir werden uns alle beim Jüngsten Gericht vor Gott für unsere Sünden zu verantworten haben«, »Ich bezweifle niemals die Existenz Gottes«. Nur sieben Prozent der Amerikaner würde alle drei Aussagen verneinen. Atheisten gibt es natürlich auch in den USA; sie genießen im Prinzip die amerikanische Toleranz, aber sie müssen immer wieder darauf bestehen, dass sie gute Patrioten sind. Neben diesem hochgradigen Pluralismus der Religionen in Amerika kann man zudem die Assimilationsfähigkeit diverser Bekenntnisse zu einer Art von »amerikanischer Religion« konstatieren. Das heißt, dass die verschiedenen Konfessionen in den USA oftmals mehr miteinander gemein haben als mit ihren jeweiligen Glaubensgenossen außerhalb der USA. Diese Anpassung an eine populäre amerikanische Religionskultur durchlaufen auch nicht-christliche und nicht-jüdische Religionsgemeinschaften – bis zu dem Exempel der Nation of Islam, die mit der islamischen Weltgemeinschaft sehr wenig teilt – dafür umso mehr mit dem lockeren Amerikanismus aller Religionen. Religion verbindet sich in den USA selten mit Dissoziation, Spaltung und Bürgerkrieg, wie in Europa bis heute, sondern mit nationaler Gemeinschaft, demokratischer Kooperation und religiöser Ökumene. Insofern ist es nur konsequent, wenn sich gut zwei Drittel der Amerikaner wünschen, ihr Präsident solle über »starke religiöse Überzeugungen« verfügen. Vergleichende Studien über den Rang der Religion bestätigen den seltsamen Platz der USA innerhalb der westlichen Welt. »America’s strange place«, wie es das britische Wirtschaftsmagazin Economist ausdrückte, ergibt sich daraus, dass in den USA – ganz anders als in Ost- und Westeuropa – traditionale, darunter vor allem religiös begründete Werthaltungen mit solchen der Selbstverwirklichung kombiniert sind. Es gibt offenbar, was Europa und Amerika anbetrifft, zwei konträre Pfade der Säkularisierung. Wie die amerikanischen Religionssoziologen Casanova und Martin herausgestellt haben, weist Säkularisierung drei mögliche Facetten auf, die nur in Europa sämtlich zutreffen: die strikte Trennung von Staat und Kirche, die Privatisierung der Religion und die progressive Entchristlichung. Während in Europa die letzten beiden Aspekte stärker hervor-
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treten, erfolgte Säkularisierung in den USA nur im Hinblick auf Staat und Kirche – und dies viel strikter als in Europa. Diesen Sachverhalt hat das Oberste Bundesgericht vielfach bestätigt, womit ausgeschlossen wurde, was in den europäischen Staatskirchen gang und gäbe ist: Kirchensteuern, religiöse Unterweisung in öffentlichen Schulen, para-staatliche Sozialdienste unter kirchlicher Leitung und dergleichen. Am schärfsten lassen sich die konzeptionellen Unterschiede am französischen und US-amerikanischen Muster der bürgerlichen Revolution herausarbeiten: Die von antiklerikalen und atheistischen Motiven getragene Säkularisierung im Gefolge der Französischen Revolution zielte auf eine vollständige Privatisierung der Religion ab, was im Verlauf von Aufklärung und Rationalisierung ein Nachlassen der rituellen Glaubenspraxis und das Verschwinden der privaten Frömmigkeit beinhaltete. Dagegen war die Amerikanische Revolution selbst von starken religiösen Motiven getragen. Das Trennungsgebot lief weder auf die Verdrängung des Glaubens aus dem öffentlichen Raum hinaus, noch war erwünscht oder impliziert, mit der rasanten Verstädterung, Industrialisierung und Volksbildung auch die religiösen Bindungen des amerikanischen Volkes zur Disposition zu stellen. Während es in vielen Gesellschaften Europas seit Beginn des 19. Jahrhunderts also zu einer Säkularisierung im umfassenden Sinne kam, einschließlich einer Ent-Christlichung, hielt sich die Ausübung der zahlreichen Glaubensüberzeugungen in den Vereinigten Staaten auf hohem Niveau und sorgte für eine starke Präsenz der Religionen im gemeinsamen öffentlichen Raum. Neutralität und Offenheit des Staates in religiösen Belangen bedeutet also nicht zwangsläufig deren Verdrängung aus dem öffentlichen Leben, auch nicht deren Entpolitisierung. Dass sich die Bürger der Vereinigten Staaten über Jahrhunderte hinweg religiös zeigen, ist im Übrigen der Fall, gerade weil die US-Verfassung die Etablierung einer Kirche als Staatskirche und einer Religion als Staatsreligion von vornherein ausschloss. Deshalb konnte das öffentliche Leben jenseits des Atlantiks stärker religiös geprägt bleiben als in der Alten Welt. Auch diese öffentliche Rolle der Religion in den USA hängt – nur scheinbar paradox – mit der Tatsache zusammen, dass jede organisatorische Verbindung zwischen Staat und Kirche beseitigt wurde, sich Religiosität also weniger institutionell denn individuell ausprägen und behaupten musste. Und das heißt: In der lockeren Struktur freiwilliger und miteinander konkurrierender Gemeinden konnten Bürger und Arbeiter, intellektuelle und politische Eliten offenbar besser religiös bleiben als in den machtgestützten Arrangements zwischen Religion und Politik, die Europa in verschiedener Form kennzeichnen, wo staatlich-politische, nationale und religiös-kulturelle Wir-Gefühle trotz oder wegen der intensiven Kirchenund Glaubenskämpfe stärker in eins fielen. Pointiert gesagt: In den USA konnte ein »aufgeklärter« Mensch religiös bleiben oder sich zur Religion hin entwickeln, in Europa wurde er am besten – Atheist. Weil keine Religionsgemeinschaft ein Monopol auf die spirituelle Vertretung des ameri-
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kanischen Volkes in Anspruch nahm, konnte dieses Volk in seiner vielfältigen Gesamtheit sogar durch alle Religionsgemeinschaften repräsentiert bleiben und aus dieser friedlichen Koexistenz heraus wiederum die Vorgaben für die amerikanische Zivilreligion entwickeln. Hier zeigt sich ein über den Marktwettbewerb laufendes, naturrechtlich begründetes, historisch auf die Nonkonformisten des 17. Jahrhunderts zurückgehendes Regulierungsmuster religiösen Pluralismus, das auf die bekannten Unterschiede zwischen »amerikanischem Individualismus« und »europäischem Kollektivismus« verweist. Regulator möglicher Konflikte ist im amerikanischen Fall nicht der Hobbesianische Staat und die von ihm institutionalisierte Kohabitation, sondern der Markt und die auf ihm getätigten Nutzenkalküle der Individuen. Zu den Merkmalen von Religiosität gehört in den USA nämlich, dass persönliche Frömmigkeit mit den Usancen der freien kapitalistischen Marktwirtschaft vollständig kompatibel ist und die Religionsgemeinschaften sich zum Teil selbst wie kapitalistische Unternehmen gerieren. Die scharfe Kritik des Vatikan am »Raubtier-Kapitalismus« und an den Dysfunktionen der wirtschaftlichen Globalisierung hat viele amerikanische Christen, darunter Katholiken, befremdet, und nicht zufällig hat der katholische Religionswissenschaftler Michael Novak auf die Formulierung der Enzyklika Centesimus annus Einfluss genommen, welche die Marktwirtschaft von katholischer Seite erstmals ausdrücklich legitimierte. Wirtschaftlicher Erfolg gilt, nicht nur in bestimmten Sparten des Protestantismus, als der beste Beweis, von Gott auserkoren und des ewigen Lebens würdig zu sein. Im Kapitalismus kann man eben ökonomisch eindeutig am besten glänzen. Dem kam die früh auf Wettbewerb getrimmte Religionsstruktur entgegen: Sekten können weder im Prinzip noch in der Praxis über ihre Gläubigen verfügen, sie müssen stets um sie werben. Gläubige werden als autonome und eigensinnige Individuen angesprochen, die aus freier Gewissensentscheidung zu ihrem Bekenntnis gelangen. Bei hoher Vielfalt stimmen so gut wie alle amerikanischen Gläubigen in der Affirmation des kapitalistischen Marktes überein. Wenn sie somit als Konsumenten oder Kunden angesprochen werden können und sich religiöse Sekten materiell und personell nicht auf wohlfahrtsstaatliche Alimentation stützen, dann herrscht folglich überall Mission. Die kann freilich nicht machtgestützt mit Zwang (und Schwert) vorgehen, sondern muss durch Überzeugungsarbeit auftreten (wie Handelsvertreter, die ein Produkt zum Kauf anbieten). Aus dieser Erfahrung heraus hat man den europäischen Kirchen die Umwandlung in eine McJesus, Incorporation, eine Art »Nachfrage-Diakonie« angeraten. Das würde bedeuten: Religionen überzeugen weniger durch ihre institutionelle und sozio-politische Macht oder als mehr oder weniger etablierte Staats- und Landeskirchen, sondern durch das täglich neu zu generierende Engagement und die Überzeugungskraft der Glaubensgemeinschaften. Als markantes Kennzeichen der amerikanischen Religionslandschaft haben wir damit ihre horizontale Vielfalt herausgestellt – wobei man an-
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merken muss, dass dieser Pluralismus auch in der amerikanischen Geschichte immer wieder gestört und unterbrochen wurde durch religiöse Feindschaften und Diskriminierungen. Sie richteten sich vor allem gegen die Einwanderer-Religionen des 19. und 20. Jahrhunderts, allen voran gegen irische und südeuropäische Katholiken sowie gegen mittel- und osteuropäische Juden. Teile des US-Protestantismus sind bis heute nicht nur Anhänger einer Segregation der Schwarzen, sondern auch in der Wolle gefärbt antisemitisch und antikatholisch. Doch unterm Strich – und dies gilt gerade auch für die religiöse Rechte von heute – haben sich »fremde« Religionen der diversen Einwanderergruppen recht flexibel in die gegebene Religionslandschaft assimiliert, also den binnen-protestantischen Pluralismus ökumenisch erweitert. Die Etappen dieser Inkorporation und Sedimentierung kann man grob folgendermaßen festhalten: In der Gründerphase der Vereinigten Staaten dominierten zahlenmäßig wie theologisch noch Kongregationalisten, Anglikaner und Presbyterianer, also die aus England stammenden Repräsentanten von »AngloAmerica«, denen sich dann deutsche Lutheraner, holländische und skandinavische Reformierte und so weiter zugesellten. Sie wuchsen zum protestantischen Mainstream zusammen, aus dem sich die politische und wirtschaftliche Führungselite rekrutierte, die so genannten White Anglo-Saxon Protestants – kurz: WASP’s. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts veränderte sich das Bild erheblich: Zum einen traten im Great Awakening mit den »restaurativ‹ ausgerichteten Churches of Christ fundamentalistische Gemeinden auf den Plan, zum anderen erblühten vor allem mit der Westexpansion und aus den Reihen der schwarzen Sklaven methodistische und baptistische Strömungen, die egalitär und anti-elitär ausgerichtet waren und sich in Gegensatz zur akademisch-liberalen Hochkultur der WASP und damit der Mainstream-Kirchen stellten. Ein weiterer Faktor dieser tektonischen Verschiebung war die bereits erwähnte, durch Immigration bedingte Zunahme nicht-protestantischer Bekenntnisse. Die Erosion des Mainstream-Protestantismus, der mit der säkularen Gesellschaft Frieden geschlossen hatte, setzte sich in der Zunahme und Abspaltung theologisch konservativer und evangelikaler Gemeinden fort, die nun den Kern jenes Magmas bilden, das heute unter dem Titel »Fundamentalismus« firmiert. Dieser Fundamentalismus ist nicht zufällig in den USA entstanden, wo Modernisierung und Säkularisierung mit Riesenschritten vor sich gegangen waren und alt-religiöse Vorstellungen unter Druck gesetzt hatten. Der sich dagegen erhebende Fundamentalismus war selbst ein modernes Phänomen, ein religiöses Revival innerhalb der Moderne, also eine Stellungnahme zu und in ihr. Fundamentalismus ist damit kein einfacher Rekurs auf die Tradition, sondern selektiver Antimodernismus, keine »Rückkehr ins Mittelalter« und auch kein »Aufstand gegen die Moderne«, wie plakative Schlagzeilen immer noch suggerieren. Es handelt sich um ein soziales Krisenphänomen, das derselben mentalen Verunsicherung von sogenannten »Modernisierungsverlierern« entsprang wie progressive
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Sozialideologien, neue Varianten religiöser Revitalisierung, aber auch der Antisemitismus sowie mannigfache Bewegungen »zurück zur Natur«. Der Fundamentalismus ist zunächst eine eher unpolitische und weItablehnende Bewegung – ein Gemeinschafts-Milieu aus unterschiedlichen sozialen Lagen, in dem Angehörige der »marginalisierten Mitte«, proletarisierte Intellektuelle und vom Lande vertriebene oder eingewanderte Unterschichten zusammenströmen. Anders als die sozialreformerischen und -revolutionären Ideen der gleichen Epoche interpretierten sie nun den drohenden Statusverlust in nicht-säkularen heilsgeschichtlichen Kategorien und schotteten sich von der verkehrten und verrückten Welt in einem streng patriarchalen Sozialgefüge ab. Der originäre Fundamentalismus strebt also weder die Macht im Staat an, noch ist er per se subversiv und gewalttätig, sondern zunächst ganz auf fromme Lebensführung und die Erlangung des göttlichen Heils durch vorbildlichen Lebenswandel ausgerichtet. Nicht Terror oder Gottesstaat, sondern die resolute Verteidigung einer patriarchalischen Sozial- und Sexualmoral ist das »harte« gemeinsame Kennzeichen aller Fundamentalismen in Geschichte und Gegenwart, und zu ihrer Legitimation greifen die männlichen Ideologen dieser Moral in einem »mythischen Regress« mit gesetzes-ethischer Rigorosität schriftgläubig auf den Buchstaben ihrer jeweiligen Überlieferung (die Bibel, den Koran) zurück. Diese Schriften bestätigen nicht nur eine in grauen Vorzeiten liegende Offenbarung, sondern reinszenieren auch den sozialen Kontext der (ebenso weit zurückliegenden) Ursprungskultur, der sie aktuelle Gesetzeskraft verleihen. Die Bibel gilt, nicht das bürgerliche Gesetzbuch. Der legalistisch und literalistisch inspirierte Fundamentalismus sagt: Die Schrift kann nicht irren. Hinzu tritt in der Geschichte fundamentalistischer Sozial- und Protestbewegungen ein mindestens genauso wichtiger charismatischer Zug, der – wie an den amerikanischen Pentecostals (den Pfingstlern) und den Born-again-Christians (den wiedergeborenen Christen) exemplarisch sichtbar wird – auf eine authentische individuelle Gnadenerfahrung, eine radikale Konversion und ekstatische Gemeinschaftserlebnisse abhebt. Dies ist erneut eine Reaktion auf die moderne Krisenerfahrung sozialer Desintegration, aber auch eine Antwort auf Entwicklungstendenzen der »offiziellen« Kirchen, die ihnen zu bürokratisch, professionell, akademisch und liberal vorkommen. Daran wird plausibel, warum die amerikanische Gesellschaft apriori »anfällig« war für eine fundamentalistische Vergemeinschaftung von unten, denn hier nahmen Sekten von vornherein einen prominenten Platz ein, während Kirchenorganisationen im europäischen Sinne (einschließlich der katholischen) schwach ausgebildet waren und sind. Auf dem Vormarsch befinden sich hingegen heute noch die Sekten, die ihren Mitgliedern höchstes Engagement und Opferbereitschaft abverlangen. So verlor der Mainstream-Protestantismus seit Jahrzehnten ständig an Anziehungskraft, und dieser Prozess hat sich seit den 1980er Jahren noch einmal verstärkt: Heute sind die weißen Amerikaner zu gleichen Teilen Evangelikale
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und Anhänger des nunmehr »Mainline« getauften Establishments. Auch im Protestantismus bilden Evangelikale bereits die Mehrheit. Waren in den USA sozialrevolutionäre Strömungen immer marginal und herrschten auch im Mainstream-Protestantismus individualistische Motive des »social gospel«, des sozialen Engagements, vor, so waren Endzeiterwartungen umso prominenter und beliebter: Eine bessere oder gar ideale Ordnung wurde weniger durch menschliche Perfektionierung als durch göttlichen Eingriff erwartet. In der Konkurrenz von Weltgericht und Weltrevolution gab ersteres immer den apokalyptischen Ton an. Besonders schrill klingt hier der so genannte Prämillenarismus, der eine Wiederkunft Jesu vor Beginn des Tausendjährigen Reiches postuliert. Alle Chiliasten übertönen noch die sogenannten midtribulationists, welche die Jetztzeit und damit die eigene Lebenszeit als die des Weltgerichts annehmen und von daher zu allerhand fähig sind. Doch zurück aus diesen verwirrenden Verzweigungen zum »Mainstream-Fundamentalismus«: Evangelikale Vorstellungen wie strikte Bibelauslegung, die Bezugnahme auf Jesus Christus als Erlöser, die Betonung des subjektiven Bekehrungserlebnisses und missionarische Aktion, bilden heute den Kern des US-Protestantismus, und interessanterweise verbreiten sich solche Überzeugungen auch im Katholizismus und Judaismus. Nicht alle Evangelikalen sind, das ist wichtig zu erwähnen, Fundamentalisten, aber aus ihren Kreisen rekrutieren sich am ehesten fundamentalistische Strömungen, die sich in Opposition zu der in ihren Augen säkularen, ja gottesfeindlichen Mehrheitskultur setzen. In dieser Dekadenz sehen Fundamentalisten übrigens den Beweis der nahen Wiederkunft Jesu und ihrer bevorstehenden Erlösung, und sie stehen vor dem Dilemma, ob sie sich quietistisch auf das unvermeidliche Weltgericht vorbereiten oder die Mächte des Bösen aktiv bekämpfen sollen. Rainer Prätorius sieht in dem geschilderten Dualismus die – widersprüchliche – Koexistenz einer schriftzentrierten mit einer erlebenszentrierten Glaubenspraxis: Die erste läuft auf die Unterwerfung unter den allmächtigen Gott hinaus, letztere hingegen auf die demonstrative Wahl des richtigen Weges und den Erwerb des Heils durch ein gutes Leben, wozu dann eben auch eine aktivistische und politische Komponente gehören kann. Pfingstler und Born again Christians, für die das in besonderer Weise gilt, sind damit nicht zwangsläufig politisch, oft gilt auch bei ihnen politisches Engagement als sündig und sie ziehen sich ins Privat- und Gemeindeleben zurück. Auch wo politisches Engagement geübt wird, schlägt dieses nicht zwangsläufig nach rechts aus, wie das Beispiel des »wiedergeborenen Christen« Jimmy Carter zeigen mag. Aber der Fundamentalismus enthält eine wenigstens implizite Gesellschaftskritik und ist wie jede apokalyptische Rhetorik politisch anschlussfähig. Den wichtigsten Anschluss bildet die christliche Rechte, die im vergangenen Jahrhundert diverse Politisierungs- und Enttäuschungsschübe durchgemacht hat. Vor und nach dem Ersten Weltkrieg war die »Alte Christliche Rechte« im Wesentlichen getragen von statusbedrohten protestantischen Funda-
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mentalisten, die sich in Kampagnen wie dem Alkoholverbot und solchen für die Etablierung des creationism, der Schöpfungslehre an Stelle des Darwinismus an den Schulen sowie in antikommunistischer Agitation betätigten; dabei waren sie auch stets strenge Opponenten gegen den New Deal und den Ausbau des Bundesstaates zum welfare state, der in ihren Augen ein Nachlassen der individuellen Suche nach dem Seelenheil bewirkt. In den I970er Jahren entstand eine »Neue Christliche Rechte«, die sich deutlich davon unterschied: Sie florierte auf der Basis eines generellen religiösen Revivals im Abstand oder Gegensatz zum religiösen Establishment und wurde vorangetrieben durch den an Einfluss und Macht gewinnenden Evangelikalismus, der nun auch bei der Bevölkerung mit mittlerem bis gehobenem sozialen Status Anklang fand. Die Politisierung dieser Strömung erfolgte vor dem Hintergrund des kulturellen Wertewandels, der so genannten counter culture der 1960er Jahre, und des Vietnam-Traumas. Hier gelang eine Koalitionsbildung über einzelne religiöse Sekten hinweg, die unter den Titeln Moral Majority und Religious Roundtable auftraten. Die Präsidentschaft Ronald Reagans war die Hoffnung der Christlichen Rechten, unter dem Strich aber eine riesige Enttäuschung, die zur zeitweiligen Demobilisierung führte. Seit den 1990er Jahren ist die Christliche in die Religiöse Rechte unter Einschluss konservativer Katholiken, Juden und Muslime aufgegangen und damit zur Kerntruppe eines pan-religiösen Neokonservatismus geworden. Die charismatischen Tele-Evangelisten, die ihre Botschaften über zahlreiche TV-Kanäle verkündeten und dabei Milliarden Dollar einsammelten, wurden abgelöst durch smartere Lobbyisten, die in die Republikanische Partei hinein wirkten. Damit verbunden war eine Institutionalisierung, Professionalisierung und Mediatisierung der Christian Coalition unter ihrem Sekretär Ralph Reed. Aber auch in den I990er Jahren blieb diese erheblich erweiterte Gruppierung in der Opposition. Acht Jahre Bill und Hillary Clinton sind der Beweis der schlimmsten Niederlage des politischen Fundamentalismus, der überdies mit seiner militanten Rhetorik der Republikanischen Partei 1992 wie 1996 einen möglichen Wahlsieg kostete. Heute basiert die religiöse Rechte vor allem auf finanzstarken Lobbygruppen wie dem Family Research Council und dezentralen Grassroots-Kampagnen. Man kann ihre Bedeutung so resümieren, dass mittlerweile religiöse Einstellungen für das Wahlverhalten einen stärkeren Ausschlag geben als sozialer Status oder die aktuelle Einschätzung der Wirtschaftslage. Der insgesamt begrenzte Erfolg der Religiösen Rechten bewirkte gleichwohl wesentliche Veränderungen der US-Politik seit den I970er Jahren: die Verlagerung des regionalen Schwergewichts nach Süden, das Überwechseln der traditionell rechts stehenden Südstaaten-Demokraten zur Republikanischen Partei, die Nationalisierung dieser Partei und die Durchdringung ihrer lokalen Basis durch fundamentalistische Bewegungsunternehmer. Evangelikale pressure groups bilden heute eine Sperrminorität in der »Grand Old Party« der Republikaner, und im Jahr
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2000 war nicht zuletzt ihre Präferenz für George W. Bush der Grund für dessen knappen Wahlerfolg. Der tiefere Grund für den Einfluss der Religiösen Rechten auf die amerikanische Politik liegt in der hohen institutionellen Fragmentierung des politischen Systems und in der starken Partizipationsorientierung der politischen Kultur. Der politische Fundamentalismus präsentiert sich als soziale Protest-Bewegung mit professioneller Organisation, er ist per se parteifern, übt aber großen Lobby-Einfluss auf die Parteien und Abgeordneten aus, die ihrerseits dann soziale Bewegungen programmatisch zu kooptieren versuchen. Das Ergebnis ist eine Integration durch Partizipation, aber auch die Domestizierung der christlichen Rechten. Die Christian Right ist damit ideales Terrain für politische Unternehmer und Fernsehprediger, die weiterhin ein hohes Spendenaufkommen akquirieren, über eine hoch motivierte Anhängerschaft verfügen und vor allem über Adressenlisten, Mega-Kirchen und Medienkommunikation ein weit verzweigtes Netzwerk unterhalten, mit dem sie alle Bereiche der US-Gesellschaft erreichen können. Sie bilden eine mächtige Unterströmung des »sozialen Konservatismus«, der oft genug überkreuz liegt mit den libertären, antistaatlichen Strömungen, sowie mit »Corporate America«, den Wirtschaftskonservativen, die der kapitalistischen Verwertung keine moralischen Schranken setzen möchten. Diese Kräfte müssen die Kandidaten und Parteiapparate der Republikaner zusammenbinden. Oft genug drohen so genannte »moral issues« das Bündnis zu sprengen, wenngleich andere Faktoren – hier vor allem die Ablehnung eines starken Wohlfahrts- und Bundesstaates – alle Fraktionen vereinen. Den Sozialkonservativen gelingt es besonders in Mobilisierungsphasen wie in Wahlkämpfen besser, konservative Wähler ihrer Provenienz zur Registrierung zu veranlassen und die Vorwahlen zu beeinflussen; auch unterliegen Abgeordnete und Senatoren einer ständigen Kontrolle, wie sie im Kongress zu kritischen Fragen abgestimmt haben. Dabei ist es ihnen seit langem eine Herzensangelegenheit, die liberale Abtreibungsregelung des Obersten Verfassungsgerichts von 1976 zu kippen und die drohende Gleichstellung homosexueller Verbindungen mit dem Stand der Ehe zu verhindern. Generell haben die Sozialkonservativen die akademische »Gegenkultur« und eine hedonistische Sozial- und Sexualmoral im Visier. Das betrifft immer wieder auch den etablierten Protestantismus, wenn etwa die anglikanische Kirche weibliche oder homosexuelle Geistliche ordiniert und schwule Paare in Gotteshäusern traut oder wenn Bischöfe und Priester pazifistische Auffassungen predigen. Ausgründungen und Abwanderungen in konservative Synoden sind dann die Regel, sie verstärken die verwirrende Vielfalt der amerikanischen Religionslandschaft, die man auch schon mit einem Supermarkt verglichen hat Streckenweise nahmen die Kampagnen der religiösen Rechten Züge eines regelrechten Kulturkampfes an. So gut wie niemand ist für die Errichtung einer Theokratie in »God’s own country«, doch die so genannten »Theo-Konservativen« rennen vehement gegen die Trennmauer zwischen
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Religion und Politik an. Sie wollen aus beiden, in allen modernen Gesellschaften separaten Systemen, eher kommunizierende Röhren machen. Eine Bresche wurde geschlagen mit der knappen 5:4-Entscheidung im Obersten Gerichtshof, nach der konfessionelle Schulen im Bundesstaat Ohio durch ein Bonus-System in den Genuss öffentlicher Zuwendungen kommen, sofern genug Wahlmöglichkeiten bestehen. Ziel ist nach Auffassung der Richtermehrheit nicht die Verbreitung religiöser Lehren, sondern die Vermehrung der Optionen, besonders für sozial benachteiligte Eltern, und genau das macht die sogenannten Schulgutscheine populär. Denn Religionsgemeinschaften treten hier als Anbieter sozial- und bildungspolitischer Leistungen auf, die der Staat nicht zu garantieren in der Lage ist. Bemerkenswert ist, dass dieser vermeintliche Durchbruch keineswegs von allen Fundamentalisten begrüßt, sondern eher misstrauisch beäugt wurde. Denn ein religiös geprägter Unterricht in öffentlichen Schulen ist immer auch ein Einfallstor für staatliche Kontrolle und im übrigen ein Vehikel der Rassenmischung, an der viele Konservative nicht das geringste Interesse haben. So nimmt in den letzten Jahren das »home schooling« sehr stark zu, wobei Kinder religiöser Eltern konsequent von diesen selbst oder privatem Lehrpersonal zuhause unterrichtet werden. Der Grund ist, dass in öffentlichen Schulen Kinder nicht nur mit einer liberalen Sozial- und Sexualmoral konfrontiert sein könnten, sondern auch mit darwinistischen Lehren – Auffassungen also, die dem creationism, der strikten Übernahme der biblischen Schöpfungslehre, zuwiderlaufen. Indem die Bush-Administration zudem in der öffentlichen Großforschung christliche Positionen durchdrücken will, verletzt sie nach Auffassung vieler amerikanischer Kritiker die Forschungsfreiheit. Ist dies ein Beispiel für eine höchst problematische Verletzung der Religionsfreiheit, so muss man auf der anderen Seite erwähnen, dass die in amerikanischen Schulen und öffentlichen Einrichtungen gebräuchliche Gelöbnisformel kürzlich auf Veranlassung eines kalifornischen Vaters vom Obersten Gericht auf ihre Verfassungswidrigkeit geprüft werden musste. Gerade der Vormarsch der Evangelikalen hat liberale Kräfte veranlasst, die Trennmauer zwischen Religion und Politik wieder höher zu ziehen. Der aktuelle Druck fundamentalistischer Netzwerke auf die Rechts- und Sozialpolitik ist gleichwohl stark. Vor allem der Präsident wird gedrängt, bei der Neubesetzung von Bundesrichterposten Konservative zu bevorzugen. In Justizminister Ashcroft haben die Sozialkonservativen einen der ihren in der Administration, und prompt ist in den letzten Jahren die ohnehin rigorose Strafjustiz noch gnadenloser geworden – eine Tendenz, die bei der Behandlung von Kriegsgefangenen nun auf die internationale Ebene durchschlägt. In der Sozialpolitik rücken indessen sogenannte »Faith based initiatives« in den Vordergrund, das heißt: religiös ausgerichtete Wohltätigkeitsorganisationen treten an Stelle des Staates auf und kassieren öffentliche Mittel. Man sagt, damit wäre keinerlei religiöse Indoktrination der Klienten verbunden, aber dies erscheint als wirklichkeitsfremde Schutzbehauptung. Die Diskrepanz zum Wohlfahrtsstaat europäischen
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Typs wird immer deutlicher, und sie beruht ganz wesentlich auf religiösen Einstellungen und Werthaltungen, die auch ein toleranteres Verhältnis zur Ungleichheit der Einkommen und Vermögen und eine rigidere Haltung gegenüber Armen und Arbeitslosen einschließt. Halten wir fest: In den USA finden wir die wohl stärkste und bestorganisierte religiöse Rechte in westlichen Demokratien, aber sie bleibt eingebettet in demokratische Politik, wird dadurch im Zaum gehalten und ist weit von einer Machtübernahme oder gar Theokratie entfernt. Fragt sich nun abschließend, welchen Einfluss diese mächtige Gruppe auf die Formulierung und Ausführung der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik nehmen kann. Auch hier hat die religiöse Rechte seit Jahren wirksam mobil gemacht, unter anderem mit Kampagnen gegen Länder, in denen Christen verfolgt werden, was etwa ein Veto gegen Handelsverträge mit der Volksrepublik China einschließt. Religiöse Nicht-Regierungs-Organisationen treten international gegen Empfängnisverhütung und Geburtenkontrolle auf und setzen amerikanische Verhandlungsdelegationen in UN-Gremien unter Druck. Doch auch ohne diesen Druck benutzt die Bush-Administration und allen voran der US-Präsident selbst eine religiöse Terminologie, wenn er Absichten und Hintergründe seiner Außenpolitik darlegt. Dies ist nichts prinzipiell Neues. Schon Ronald Reagan sprach vom Reich des Bösen, womit er die Sowjetunion meinte. Zur »Achse des Bösen«, wie George W. Bush die Reihe autoritärer Regime im Besitz von Massenvernichtungswaffen titulierte, war es da niemals weit, doch der massive Angriff islamischer Terroristen auf US-Territorium hat diese Rhetorik verstärkt und damit die der amerikanischen Weltpolitik eigene, manichäische Vorstellung vom Kampf des Guten gegen das Böse mit einer intensiven Feindbestimmung radikalisiert. Der Historiker Detlef Junker nennt dies »die manichäische Falle«, in die immer wieder Staaten oder Gruppen gegangen sind, die als lebendige Teufel imaginiert und personifiziert wurden. Amerika nimmt seit den ersten puritanischen Siedlern in Anspruch, das Gute unter Rekurs auf den lebendigen Gott zu repräsentieren – und mehr noch: Die Vereinigten Staaten geben ein Erlösungsversprechen, das Übel jetzt und ein für allemal auszulöschen. Politische Ziele bekommen damit eine theologische Weihe. Die in diesem Akt begründete Siegesgewissheit biegt sich, wie im Fall des Irak-Krieges, ein Weltbild zurecht, in dem es auf tatsächliche Fakten und Beweise nicht mehr ankommt. Solche Konstruktionen gehen auf die Ursprünge der amerikanischen Nation zurück, als die Landnahme im Westen theologisch gedeutet wurde und sich die Idee der manifest destiny, der amerikanischen Sendung, verfestigte. Sie sind keine abgestandenen Mythen oder Elite-Ideen, sondern Gemeingut durchschnittlicher Amerikaner, für die eine religiös motivierte Kritik, etwa am Irak-Krieg, schwer nachvollziehbar ist, da Religion und Nation im amerikanischen Patriotismus eng miteinander verflochten sind. Vor allem die evangelikalen Gruppen und christlichen Rechten standen und stehen zu der Art, wie ihr supreme commander auf Erden,
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der Präsident, auf die Terroranschläge reagierte. Nicht selten verbaten sich Gemeindemitglieder Belehrungen durch Pfarrer und kriegskritische Sonntagspredigten. Durchschnittsamerikaner begreifen sich als Teil eines auserwählten Volkes, das mit Gott im Bunde steht. Diese Mission wird seit Ende des 19. Jahrhunderts nach außen gewendet. Doch waren solche religiösen Vorstellungen immer nur ein Motiv der US-Außenpolitik, die nie per se expansionistisch und interventionistisch gesonnen war, sondern eher dazu neigte, sich in der Linie des ersten Präsidenten George Washington aus den Händeln der übrigen Welt herauszuhalten. Auch heute herrscht nicht, wie man behauptet hat, der Prämillenarismus im Weißen Haus. Die US-Politik wird von so profanen Motiven wie der Sicherung der Rohstoffe und Kalkülen strategischer Überlegenheit bewegt. Gleichwohl irritieren Sätze aus dem Munde von George W. Bush wie: »Die Freiheit, die wir so hochschätzen, ist nicht Amerikas Gabe an die Welt, sondern Gottes Geschenk an die Menschheit«, oder: »Gott hat uns aufgerufen, unser Land zu verteidigen und die Welt zum Frieden zu führen«. Bush ist ein überzeugter Methodist, der sich von seinem ausschweifenden Leben nach eigenem Bekunden durch die Begegnung mit Jesus lösen konnte. Unmittelbar nach dem 11. September 2001, erklärte er fünf religiösen Führern der amerikanischen Nation, die er ins Weiße Haus geladen hatte und die von ihm eine politische Erklärung erwarteten: »Sie wissen ja, dass ich ein Alkoholproblem hatte. Wenn alles so weitergelaufen wäre, säße ich jetzt in einer Bar in Texas anstatt im Oval Office. Es gibt nur einen einzigen Grund, weshalb ich hier im Oval Office bin und nicht in der Bar: Ich habe zum Glauben gefunden. Ich habe Gott gefunden«. Amerika sei auf dem Kreuzzug, kann man von einigen extremen Fundamentalisten hören, die allen Ernstes zum Kampf gegen den Islam als Inkarnation des Bösen aufrufen; man kann es auch von islamischen Fundamentalisten hören, die ihre Auseinandersetzung mit dem Westen als Fortsetzung der Abwehrschlacht gegen die Kreuzzügler auslegen – und so sehen es auch viele Kritiker Amerikas im Westen. Diese Behauptung ist ebenso übertrieben, wie das Szenario vom Aufeinandertreffen zweier Fundamentalismen, zu denen Europa auf gleiche Distanz gehen müsse. Was die US-Außenpolitik seit 2001 antreibt, ist weniger ein Kreuzzug gegen den Islam als eine Neuauflage jenes Internationalismus, den Bushs Vor-Vorgänger Woodrow Wilson im Ersten Weltkrieg formuliert hatte: also Krieg zu führen, um alle Kriege zu beenden und die Welt sicherer zu machen für die Demokratie. Die Kritik der europäischen Theologie auch an solchen Denkmustern war scharf. Protestanten sprachen dem Methodisten Bush ab, die Bibel richtig auszulegen, und der Papst stellte Bush als Pseudo-Moralisten bloß, der ein höchst selektives Verständnis von Gott habe. Vor allem – tadelte Johannes Paul II. – der den Krieg »immer als eine Niederlage« brandmarkte, dass ein Präsident sich anmaße, was nur dem Allmächtigen zustehe, nämlich zu sagen: Denn mein ist die Rache. Jenseits dieses theologischen Disputs steht am Schluss eine alte religionssoziologische Frage, die auf Max Weber zurückgeht: welches Verständnis
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oder Muster von Säkularisierung sich global durchsetzen werde. Es deutet vieles darauf hin, dass derzeit weltweit die amerikanische Version attraktiver ist. Das ist die Herausforderung für eine Religionspolitologie, die nicht mehr einfach Staat-Kirche-Verhältnisse und Religionssysteme einzelner Nationen miteinander vergleicht, sondern Globalisierung auch unter religiösen Gesichtspunkten ernst nimmt. Vermutlich waren religiöse Kräfte immer schon die treibenden Elemente der Entgrenzung der Welt.
Go West! Von Adenauer zu Obama. Religiöser Markt und Christliche Demokratie Otto Kallscheuer
»Christlich kommt das Neue von Gott, politisch kommt es von der Straße.« S. Kierkegaard; Tagebücher (1854)
E RSTENS : Z WEI P A AR S CHUHE Wer wie Claus L. am Kölner Apostelgymnasium zur Schule ging, wo man bei einer Abiturfeier auch mal den Indianerhäuptling und Altkanzler Adenauer als Festredner vernehmen konnte – mit unverwechselbarem Zungenschlag auf dem »g« (»ich sare Ihnen, meine Herren«) –, war gegen politische Naivität in Sachen organisierter Religion schon einmal gut geimpft. Egal, ob solche Naivität nun im linkskatholischem Herz-JesuSozialismus oder im SPIEGEL-lesenden Angestellten-Antiklerikalismus mündete. Der gläubige Katholik »Konny« Adenauer, dessen Enkel natürlich auch unsere Mittel- und Oberstufe besuchten, hatte schließlich gegenüber einem Bodenpersonal des katholischen Himmels, dessen Gros der Bischöfe im Nationalsozialismus schäbig versagt hatte, keinerlei Illusionen. Schon darum hatte der rheinische Macchiavellist stets seinen eigenen Draht in die kirchliche Szene (von Kardinal Frings bis zu Oswald von Nell Bräuning). Politische und geistliche Macht, das sind zwei Paar Schuhe: und nicht jeder wollte in beiden tanzen.
Z WEITENS : A R A A GRIPPINENSIS Ein echter Rheinländer wie Claus L.– nur bei den Düsseldorfern, zu denen der Vater, Philologe, Schul- und Ministerialdirektor später auf dem
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cursus honorum aufrückte, war man sich ja nie so sicher – wusste von vornerein, von wo der Wind der Freiheit weht. Natürlich vom Westen. Ein instinktiver kölscher Schuss Separatismus gegenüber Sibirien (welches für Oberbürgermeister K.A. bekanntlich hinter der Elbe anfing) und dem preußisch-deutschen Zentralismus verband sich dann in den sechziger Jahren hoch- und popkulturell zunächst mit existentialistischen Trips nach Paris (und da trifft Claus dann zwar nicht Jean Paul Sartre, sondern dessen Sekretär und Sozialdenker André Gorz, aber das wäre eine andere Geschichte). Dann kam der Rock’n Roll, das American Folk Blues Festival (fecit Lippmann&Rau) spielte im Gürzenich, die Akustik wird aufgedreht – und die Fluchtlinie verlängert sich zu den Amis, »vor denen se uns schon immer jewarnt han«, wie Wolfgang Niedecken in seiner schönen Amerika-Hymne weiß. Der BAP-Refrain zu den Amis geht weiter: »bei denen is’ jeder jleich, ejal ob arm oder reich«. Und in der Tat, mit verordneter Gleichheit – mit dem »Driß aus dem Osten« – hat die republikanische Freiheit Amerikas nichts zu tun. Eher schon der evangelikale Populismus. Doch dafür ist Leggewie zu katholisch – und um sich an kommunistischen Gleichheitsphantasien zu dilektieren, war er viel zu individualistisch. Der will »da rein« (in die Hall of Fame). Seine Erfolgssucht, auch der Spaß an der eigenen Anerkennung, passte auch habituell gut nach Amerika – nur spirituell nicht ganz, weil dem katholischen Jung’ jeder calvinistische Antrieb fehlt: Bei Schuldfragen geht man beichten. Eine Suche nach der Auserwähltheit, zu den Gerechten des jüngsten Tages zu gehören (oder zu den Hohepriestern des diskursiven Philosophenstaats), hat Claus jedenfalls nicht mit seiner professionellen Karriere verbunden. Diese fiel darum nicht zufälligerweise für die linksliberalen Mandarine der intellektuellen E-Kultur immer zu sehr »pop« aus. Überschritt sie nicht die Grenze zum Journalismus und opinion making? Sind seine Formeln nicht zu eingängig? Gemach, Freunde.
D RIT TENS : P OWER POINT Soziale Zusammenhänge, Muster, Geheimnisse zu erkennen, einen verkannten Zusammenhang endlich und also: provokativ deutlich zu machen – das muss doch auch Spaß machen, oder? Sonst steckt die Einsicht nicht an. Und damit wir etwas begreifen können, darum braucht es fassliche Begriffsbilder. Hier trifft sich der Essayist Leggewie mit dem Powerpoint-Pädagogen: to realize is to visualize. Aber dazu muss man vorher selber etwas gesehen haben – und entscheidend ist oft bereits der allererste Eindruck. Davon handeln viele Amerika-Reisebücher, gerade die kulturhistorischen Klassiker, etwa von Tocqueville oder Max Weber. Adorno hat nie richtig hingeschaut, so sehr widerte ihn die Kulturindustrie an; Hannah Arendt hat die römische Republik der Revolutionstradition idealisiert, aber das Volk als pragma-
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tisch-materialistisch verachtet. Ein anderer Exilant, und Zeitgenosse, der französische Philosoph Jacques Maritain, Antifaschist und Erzthomist, hält in »Amerika – Land der Hoffnung« (1959) als ersten Eindruck einen Gegensatz zwischen der amerikanischen Volksseele und der übergestülpten Zivilisation der europäischen Moderne fest: »die Seelen der Amerikaner und ihre Lebensenergie, ihre Träume, ihre alltägliche Anstrengung, ihr Idealismus und ihre Großherzigkeit widersetzten sich der inneren Logik der übergeordneten Struktur« der modernen, ausdifferenzierten Zivilisation. So konnte er im vermeintlichen Lande des Materialismus die Hoffnung auf eine »neue Christenheit« finden: »Ich erwarte, daß mitten aus den Mühen der Welt Heilige und Wundertäter aufstehen. Ohne sie sehe ich keine Möglichkeit, wie eine neue christliche Zivilisation je kommen könnte.« – Gemach, Frère Jacques: Soweit würde Leggewie natürlich nicht gehen. Aber er nimmt in den Vereinigten Staaten das real existierende Christentum wahr, das ja viel lebendiger und individualistischer, viel populärer und populistischer sein kann als sein europäisches Pendant. Claus hört es noch bei Bruce Springsteen oder Patty Smith heraus, und den meisten anderen Helden und Königinnen des Rock’n Roll. Welche europäische Fürbitte würde schon intonieren: »Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz«?
V IERTENS : P R AISE THE L ORD! All diese Qualitäten des Beobachters Claus L. sieht man gut am vorliegenden Text über die beiden Wege des Christentums im Westen. Der Autor genießt die Provokation jenes linksliberalen Commonsense, welcher das »fundamentalistische« Amerika und den »mittelalterlichen« Islam Seite an Seite der europäischen Aufklärung entgegenstellt. Gewiss, mit New Yorker Blick hat er den evangelikalen Geist des amerikanischen christlichen Mainstream ein wenig zu schnell mit der Religiösen Rechten identifiziert (denn 2005, als er diesen Text veröffentlichte, waren auch die Anzeichen einer Rückkehr der evangelikalen Linken in den U.S.A. bereits nicht zu übersehen). Aber im Gegensatz zu den meisten europäischen America-Watchers und Bush-Haters hat Leggewie begriffen, dass die Bibel die Muttersprache der amerikanischen Freiheit darstellt (übrigens die volkstümlichere King James Version – und nicht die politisch korrektere, konfessionell markante Ginevra-Bibel der englischen Bürgerkriegs-Calvinisten). Und der Pädagoge als Essayist braucht nun ein eingängiges Schaubild: Leggewies Begriffsbild für die auserwählte »Nation mit der Seele einer Kirche« ist der horizontal integrierende religiöse Pluralismus der amerikanischen Denominations – natürlich im Gegensatz zum vertikalen europäischen Monopol oder Oligopol der National-, Staats- oder Volkskirchen: Denn die horizontale Marktvielfalt führt, im Gegensatz zum vertikal integrierten europäischen Staatskirchenmodell des Konfessio-
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nalismus oder später des zivilreligiösen Laizismus, zur Steigerung des Wettbewerbs um die Akkumulation von Seelen; und dieser wiederum verhindert jenes Einschlafen kirchlich gebundener Religiösität, die im Europa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundertws gerade die ›garantiertesten‹ steuer- und kulturstaatlich alimentiertesten Christenheiten befallen hat. Und wenn es diese – horizontale – Marktvergesellschaftung ist, die den Erfolg der amerikanischen Christenheit erklärt, dann wird auch die weltreligiöse Konfliktlage (nach dem berühmten Bestsellertitel des New York Times-Kolumnisten Tom Friedman) »flacher« werden müssen. Säkularisierte Staatlichkeit, dereguliertes Religionsverfassungsrecht und religiöse Marktkonkurrenz bilden eine zukünftige »win-win«-Strategie, mit der ein Zivilisationskonflikt zwischen Westen und Antiwesten, zwischen religiösen Radikalen und Säkularisten verhindert werden könne.
F ÜNF TENS : C IVIL R ELIGION Und wo bleibt das Negative? Wo greift Claus zu kurz? Nun, Leggewies Alternative Staat/Markt ist wohl – für den religiösen Markt – zu marktoptimistisch: Gerade das marktschreierische »Praise the Lord!«-Evangelium der Megachurches und heute der Assemblies of God (think about the one from Wasilla, Alaska!) kann ja heute – wie in der Vergangenheit – durchaus auch einen religiösen Radikalismus hervorbringen, der puritanische Sexualmoral und öffentliche Heuchelei, Handfeuerwaffen und being tough on terror kurzschließt. Die Alternative dazu ist natürlich nicht »der Staat« (oder church establishment), sondern public policy: aber eine öffentliche Rhetorik, die von jenem Common Good handelt, welches allein auf dem religiösen Supermarkt der »Church-Mall« nicht zu finden ist. Es braucht – mit anderen Worten – auch politische Theologie, oder eben: civil religion, deren Propheten Robert Bellah Claus zwar zitiert, aber offenbar nicht recht ernstnimmt. Doch es waren in Amerika gerade die nicht auf den religiösen Markt setzenden Theologen gewesen – selbstkritische Protestanten wie der Durkheimianer Bob Bellah mit seiner Suche nach Gemeinsinn, oder der Augustinianer Reinhold Niebuhr mit seiner Diagnose der tragischen Ironie eines schuldig »erwählten Volkes« –, welche auch zur symbolischen Selbstkritik der populistischen Gefahren und Arroganzen Amerikas in der Lage waren. Das amerikanische Paradox (wenn es denn eins ist) besteht also darin, dass auch noch die Kritik des amerikanischen Credos, um verstanden werden zu können, im Idiom der biblisch gebundenen, zivilreligiösen Freiheit formuliert werden muss. Ohne sie hat in den Vereinigten Staaten auch die Reform keinen langen Atem – und dies haben wir ja alle beim Wahlkampf Barack Obamas live mitverfolgen können.
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S ECHSTENS : F REEDOM OF C HOICE Obama hatte ihn schon 2004 als Glaubenswahlkampf begonnen: Sola fides – allein der Glaube rettet!, predigte der Senator aus Illinois auf der demokratischen Convention in Boston: »Es ist der Glaube, dass ich meines Bruders Hüter, meiner Schwester Hüter bin, der dies Land zusammenhält. Nur dieser Glaube erlaubt uns, unsere individuellen Träume zu verfolgen und doch zusammenzukommen als Eine Amerikanische Familie: E pluribus unum«. Obamas Erfolg beglaubigte das »Wagnis der Hoffnung: ein Glaube in Dinge, die wir noch nicht gesehen haben. Ein Glaube, dass bessere Tage vor uns liegen« – auch für seine eigene Familie. Vater Barack Obama kam mit einem Stipendium freiwillig nach Amerika. Sein gleichnamiger Sohn knüpft an diesen Erfolgswillen an. Sich in das Schicksal der schwarzen Unterschicht einzufühlen, hat er in seinem Chicago-Sozialarbeiterjahr gelernt – ihr Ressentiment teilt er nicht. »In die Sekte wird man nicht hineingeboren, sondern tritt ihr auf Grund bewußter Bekehrung bei«. So charakterisierte der große Religionssoziolge Ernst Troeltsch die Baptisten und andere »Gemeinschaften der Freiwilligkeit und des bewußten Anschlusses«. Freiwilligkeit war das Wesen der Sekten vom radikalen Flügel der Reformation, die aus dem konfessionellen Europa der Staatskirchen und Gnadenanstalten flohen, um jenseits des Atlantik ihr Neues Jerusalem zu gründen. Und Freiwilligkeit charakterisierte auch das Streben nach der »more perfect union«, dem immer vollkommneren Bunde auf dem Verfassungskonvent von Philadelphia. Diese Formel (re)zitierte Obama auch im März 2008 in seiner Rede zur Rassenfrage. Seinem Chicagoer Pastor Wright warf er nun eine amerikanische Todsünde vor: keinen ausreichenden Glauben in die Veränderbarkeit Amerikas zu haben. Er selber wird ihn auch als Präsident noch brauchen können.
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Nähe macht Distanz erst sichtbar. In der Tat erscheinen Europa und Amerika einander nah, gleichsam ähnlich. Wird der Schleier vorgeblicher Nähe indes gelüftet, werden einschneidende Differenzen erkennbar. Diese zu entschlüsseln fällt gerade kontinentalen Europäern schwer. Umso eindringlicher ist der von Claus Leggewie vorgenommene Vergleich in einem überaus auffälligen Bereich jener konstatierten Differenz: im Bereich des Religiösen. Claus Leggewie hat zeitdiagnostisch und vor historischem Hintergrund jene Differenz präzise herausgearbeitet und so manch verbreitetes wie ausgesprochen populäres Missverständnis zurechtgerückt. Dem Kommentator bleibt recht eigentlich wenig hinzuzufügen – außer vielleicht eine bescheidene Ergänzung, eine Marginalie. Solche randständige Hinzufügung bezieht sich auf eine der Quellen jener religiös imprägnierten Besonderheit Amerikas. Sie schlägt sich in der amerikanischen Realität ebenso nieder wie in der Verfassung, der im Prinzip ältesten Konstitution der modernen Welt: Die Rückbindung menschlicher Existenz wie der menschlichen Entscheidungen an Gott. Dies ist im Übrigen auch eine der Einsichten die Hannah Arendt in einem ihrer eher gering gewürdigtem Werke berücksichtigt, dem Buch »Über die Revolution« – einer Gegenüberstellung der Amerikanischen und der ihr auf dem Fuße folgenden Französischen Revolution. Eine auf die Erfindung Amerikas einwirkende geistige Strömung war die schottische bzw. die britische Aufklärung in der Bewahrung der traditionellen Bindung an die Transzendenz. Vor dem Hintergrund des von Claus Leggewie herausgestellten Pluralismus in den Vereinigten Staaten, hervorgegangen aus der Vielfalt der sich nach Amerika begebenden protestantischen Denominationen, wurde der für die Geschichte Kontinentaleuropas so auffällige Dualismus der Konfessionen gleichsam in seinem Kern neutralisiert. Dies hatte zur Folge, dass sich unter nicht unerheblichen, indes allein historisch bedingten Verwerfungen, andere und durch Migration nach Amerika übergreifende Religionen, auch nichtchristliche, sich wie von selbst einem konfessionalisierenden Verwandlungsprozess aussetzen. Um dem Pluralismus der Neuen Welt zu entsprechen, kon-
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vertierten sie zu einer »protestantischen« Denomination unter anderen Denominationen. Amerika ist eine bürgerliche Gesellschaft ohne Staat. Das war eine eher nebenbei geäußerte Bemerkung Hegels gewesen – indes eine durchaus zutreffende. Ohne den der Gesellschaft vorausgehenden Staat, ohne dem ancien régime der europäischen Tradition ist die Frage der besten Ordnung untereinander den Menschen wie von selbst auferlegt. Das galt für den kolonialen Raum, in dem sich die Vereinigten Staaten etablierten. So ganz ohne Schutz und Tradition am Ort begründete sich die die Menschen untereinander verpflichtende Ordnung in der von ihnen eingegangenen Bindung an die Transzendenz. Ansonsten wäre das sich souverän konstituierende Volk der beständigen Gefahr ausgesetzt, in den Zustand einer »Verbrecherbande« zu versinken – so jedenfalls die Formulierung Hannah Arendts in jenem oben erwähnten Buch und dabei die Französische Revolution im Auge. Schließlich hätten die französischen Revolutionäre in der Tradition von Rousseau und Voltaire die Bindung an die Transzendenz gänzlich gekappt. Dies war direkte Folge einer Art von notwendigem Missverständnis: In der kontinentalen Tradition gingen Kirche und Religion einander her. So ergriff der kirchenfeindliche Furor die Religion als Ganzes. Für kontraktualistisch durchdrungene Gemeinwesen, vor allem für solche mit einer strukturell schwachen Staatsgewalt, ist die Bindung an die Transzendenz im Sozialverhalten der Menschen untereinander gleichsam zwingend. So argumentiert John Locke, der nicht zuletzt auch die Verfassung Virginias entworfen hatte in seinem »Brief über die Toleranz« für eine unterschiedslose Behandlung der Angehörigen aller Denominationen und Religionen – handele es sich nun um Christen aller nur erdenklichen Sekten, um Juden oder um Mohammedaner, wie er sie nannte. Auch sei alle öffentlich zur Schau getragene Kopfbedeckung zu ertragen. Nur bei den Quäkern scheint sich Locke über die Geltung des Toleranzprinzips nicht ganz sicher. Dies rührt ob ihrer Weigerung, den sie zu allen Anlässen tragenden Hut zu lüften. Handele es sich hierbei um eine bloße religiöse Sitte oder ist jener Gewohnheit ein verdeckter Hinweis zu entnehmen, die herrschende Ordnung umstürzen zu wollen? Stellen die Quäker einen Grenzfall dar, so stößt die Locke’sche Toleranz freilich dort an ihre absolute Grenze, wo von den Atheisten die Rede ist. Ihnen sei jedenfalls der Genuss der Toleranz zu verweigern. Warum gerade den Atheisten? Nun, die Atheisten seien vor Gericht nun einmal nicht in der Lage auf die Bibel oder auf ein anderes als heilig erachtetes Buch, welcher Religion auch immer, zu schwören um so dem Wahrheitsgehalt ihrer Aussage den nötigen und von der Transzendenz gedeckten Nachdruck zu verleihen. Sie sind insofern nicht vertragsfähig und insofern auch nicht tolerierbar. Der Umgang mit ihnen wird nicht von Vertrauensgewissheit gestützt. Vertragsfähigkeit in sich letztendlich kontraktualistisch begründenden Gemeinwesen ist ohne Deckung durch die Transzendenz nicht denk-
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bar. So wird in den Vereinigten Staaten von Amerika, ein letztendlich von protestantischen Sekten begründetes Gemeinwesen, die herausgekehrte Gottesfurcht zur Bedingung von Teilnahme und Teilhabe am Marktgeschehen. Zwar nicht dergestalt und dem gestrengen Locke’schen Diktum folgend, Atheisten die Vertragsfähigkeit abzusprechen und ihnen die Vorzüge der kommerziellen Kommunikation zu verweigern. Der Habitus einer gottesfürchtigen Lebensweise und eines gottgefälligen Verhaltens schafft indes eine Patina des Vertrauens. Die Einwanderung in die Vereinigten Staaten ist mit einer kaum sichtbaren, indes umso wirksameren Selbstverwandlung verbunden. Es geht um die Transformation von Attributen der Zugehörigkeit. Dass es Menschen aus derart verschiedenen Kulturen direkt oder in generationeller Verschiebung im Prinzip und jedenfalls offensichtlich einfacher als anderswo zu gelingen scheint in einem verfassten Gemeinwesen auszukommen, dürfte an der relativen, gleichsam anthropologisch angelegten Universalisierbarkeit der amerikanischen Lebensform und der mit ihr verbundenen Werte liegen. Etwa an der geradezu doktrinären wie egalitären Individualisierung; oder an der Übertragung des religiösen Pluralismus auf die ethnische Vielfalt; oder der Neutralisierung der öffentlichen bzw. staatlichen Sphäre von allen Attributen und Symbolen einer partikularen Wahrheit welcher Provenienz auch immer. Dies mag zu der leicht einsehbaren Einsicht führen, dass Amerika zwar nicht die Menschheit ist, dieser aber doch näher rückt als jedes andere Gemeinwesen. Um an diesem Projekt der Zukunft und nicht der Herkunft teilzuhaben sind die Neuankömmlinge freilich angehalten einen Absolutheitsanspruch ihrer jeweiligen Religion aufzugeben. Sie schließen sich der amerikanischen öffentlichen Rhetorik an, zwar Gott anzurufen, aber dabei von keinem spezifischen zu sprechen. Dies führt zu jener paradox anmutenden, von Claus Leggewie herausgestellten Konstellation einer einerseits säkularen, andererseits einer das Gemeinwesen durchdringenden Zivilreligion zu huldigen. Alteuropäische Religionen finden sich in Amerika verwandelt. Das gilt etwa sowohl für das Selbstverständnis katholischer Gläubiger wie für Juden. Zugespitzt argumentiert, verwandelt sich die katholische Kirche in eine protestantische Kongregation. Gleiches widerfuhr dem Judentum. Dessen dominierende Tendenz in den Vereinigten Staaten ist das Reformjudentum geworden – eine sich dem Protestantismus anverwandelte Spielart jüdischen religiösen Selbstverständnisses. Gegenwärtig ist zunehmend die Rede von der Verwandlung des muslimischen Glaubens in Amerika. Jedenfalls wird ständig und immer wieder darauf hingewiesen, dass nicht nur die Integration von Muslimen in Amerika sich leichter vollzöge als in Europa. Auch gehe diese, in der neuen Welt vor sich gehende Verwandlung auch auf den Islam als Religion über. So entwickeln die Muslime in Nordamerika zunehmend einen eigenen Korpus religiös begründender Rechtsregeln für das Leben in der Diaspora und damit jenseits des Hauses des Islam. Das ist eine Neuerung
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gleichsam revolutionären Ausmaßes. Zuvor galt die islamische Vorstellung, Muslime haben sich unter muslimische Herrschaft zu begeben, um den Maßgaben ihrer Religion zu entsprechen. Nunmehr suchen muslimische Rechtsgelehrte vornehmlich in Amerika den Islam außerhalb des Hauses des Islam mit den Lebens- und Rechtsformen ihrer nicht-muslimischen Umwelt in Einklang zu bringen. Das gilt für die Teilhabe am Wehrdienst ebenso wie für andere an ihre Bürger gerichteten Maßgaben und Belange jener Länder, in denen Muslime nunmehr aus eigenem Entschluss zu leben beabsichtigen. Dass sich diese Verwandlung eher in Amerika als in Europa vollzieht, steht mit jener Besonderheit der Vereinigten Staaten in Verbindung: nämlich inklusiv im Sinne einer farbenblinden Verfassung zu sein und dabei gleichzeitig in einem pluralistisch gehaltenen Gemeinwesen nicht auf vertretbare Eigenheiten partikularen Zugehörigkeit zu verzichten sowie einer Zivilreligion zu folgen, die sich zwar auf die Transzendenz beruft, ohne indes einen bestimmten Gott zu verehren. Dies ist eine denkbar andere Konstellation als die in Kontinentaleuropa vorfindliche, wo der historisch gewachsene Gegensatz zwischen Kirche und Staat in jeweils unterschiedlicher Dichte und Schärfe, wenn auch teilweise verdeckt, bis in die Gegenwart hinein konstitutiv ist. Ihres Säkularismus oder gar Laizismus sich rühmenden Gemeinwesen ohne Ausgleich einer Kultur des Pluralismus wird die Integration von Angehörigen einer Religion von erhöhtem Wahrheitsanspruch, wenn überhaupt, bei weitem schwerer fallen, als in jenem sich ebenso säkular wie religiös verstehenden Amerika.
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Die Kluft Andrian Kreye
Als sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts zwischen Europa und den USA eine Kluft auftat, die sich quer durch den Atlantik zu ziehen schien, erschien es vielen als historisches Ende einer ewigen Freundschaft. Die Ära der Gemeinsamkeiten hatte lange gehalten. Sie hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gestalt angenommen und sich mit dem Ende des 2. Weltkrieges endgültig manifestiert. Sie überdauerte auch das Ende des Kalten Krieges und damit das Verschwinden des gemeinsamen Feindes, der historisch wirkungsmächtigsten aller Gemeinsamkeiten. Doch just in jenem Moment, als mit dem islamistischen Terror und seiner Ideologie ein gemeinsamer Feind gefunden war, drifteten die Kontinente ideologisch auseinander, wie seit Jahrhunderten nicht mehr. In seinem Text »Amerika und Europa: Zwei Wege zu Gott?« forscht Claus Leggewie nach den Wurzeln dieses Konfliktes, die keineswegs in den Unterschieden zwischen den europäischen und amerikanischen Kulturen liegt, sondern im grundverschiedenen Umgang mit dem Glauben: »Es mag also sein, dass die wachsende Kluft zwischen Amerika und Europa auf zwei schon seit langem konträre Pfade der Modernisierung zurückzuführen ist, und man fragt sich, welches Säkularisierungsmuster ›Amerikas Welt‹ am Ende stärker bestimmen wird – eines, in dem Religion allmählich ›unsichtbar‹ wird, wie in den meisten europäischen Gesellschaften, oder eines, in dem ihre Präsenz im öffentlichen Raum eher zunimmt.« Damit führt Leggewie einerseits in die Zeit der ersten europäischen Siedlungen zurück, die ja letztlich gegründet wurde, um den religiösen Dissidenten Europas Zuflucht und Enfaltungsraum zu bieten. Zum anderen betrachtet er jenen Aspekt der neuen transatlantischen Kluft, der gerade für Europäer am direktesten gelebt wird. Denn die Praxis des Glaubens – zu der auch das Nichtglauben gehört – ist anders als die geopolitischen, ideologischen und makroökonomischen Unstimmigkeiten im Alltag erlebbar und somit emotional am direktesten nachvollziehbar. Es fällt einem leicht, die fundamentalistischen Aspekte des amerikanischen Glaubens zu verachten. Reist man durchs amerikanische Hinter-
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land, dann reduziert sich der radikale Protestantismus schnell zum Panoptikum der frömmelnden Absurditäten. Da predigen die Pastoren im Radio schon wenige Meilen hinter den Metropolen von Pech und Schwefel, Sünde und Vergebung. Und man findet Einrichtungen wie das »Dinosaur Adventure Land«, einen der bizarrsten Orte des Landes. Doktor Kent Hovinds Dinosaurierabenteuerland ist ein Vergnügungspark für Kinder im Küstenstädtchen Pensacola am nordwestlichsten Ende von Florida. Eine Tafel mit bunten Dinosauriern zeigt die Einfahrt zum Parkplatz an, dazu der Werbespruch »Dinosaur Adventureland – wo sich Dinosaurier und die Bibel treffen«, sowie die Unterzeile »Evolution – was für eine dumme Idee«. Denn was die lieben Kleinen zwischen den Gipsdinos, Schaukeln und den Exponaten in der zweistöckigen Aluminiumbaracke des Schöpfungsmuseums lernen sollen ist die Geschichte unseres Planeten Erde, wie sie sich gemäß der absoluten biblischen Wahrheit vollzogen hat. Eines will Doktor Hovind bei seinen Besuchern klarstellen: Die Erde wurde vor sechstausend Jahren von Gott geschaffen. Wer etwas anderes behauptet, der lügt. Und die Dinosaurier sind allesamt vor 4400 Jahren zu Grunde gegangen. In der großen Flut, vor der sie auch Noahs Arche nicht retten konnte. Auf die vielen gläubigen Christenfamilien, die während ihrer Ferien an Floridas Golfküste einen Ausflug in diesen Themenpark machen, der sich äußerlich kaum von den unzähligen anderen Themenparks unterscheidet, macht Hovind einen glaubwürdigen Eindruck. Er trägt kurze Pfadfinderhosen und ein kanariengelbes Freizeithemd, auf dem »Dr. Dino« steht. So sieht er ein wenig so aus wie die Wissenschaftler in Steven Spielbergs »Jurassic Park«-Filmen. Er trägt seine Thesen mit der Routine eines langgedienten Dozenten vor, klappt einen Laptopcomputer auf, um eine PowerPoint-Präsentation aufzurufen. Da sind die Dinosaurier dann auch nur eines von vielen Beispielen für den Irrglauben der Naturwissenschaften, der Planet Erde und seine Bewohner seien durch den Urknall und die darauf folgenden evolutionären Prozesse entstanden. Wissenschaftliche Erkenntnisse über Erdmagnetismus, Kontinentaldriften, Entstehung von Kohle, Diamanten und des Grand Canyon, Ernst Haeckels biogenetische Grundregel und das menschliches Steißbein entlarvt Doktor Hovind mit knappen Sätzen und simpel gestalteten Tafeln als Irrglauben. Solche Begegnungen belegen für Europäer den irrationalen Kern des amerikanischen Glaubens. Im ganzen Land gibt es inzwischen solche Institutionen, sogenannte »Creationist Museums«, deren Ausstellungen die Naturwissenschaften umdeuten wollen. Sie belegen aber vor allem Vorurteile. Über die Eröffnung des Creation Museum in der Nähe von Cincinnati im Mai 2007 wurde von europäischen Fernsehsendern so ausführlich berichtet wie über die Eröffnung eines richtungweisenden Kunstmuseums. Dabei handelt es sich lediglich um eine Ausstellung, die ähnlich Hovinds Dinosaurierpark die Geschichte des Planeten Erde auf Basis der Genesis erzählen will.
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In solchen Extremen kulminiert der transatlantische Glaubenskonflikt, der trotz absurder Streitpunkte ganz reale Auswirkungen hat. Zum einen in den USA selbst. Die Versuche amerikanischer Kreationisten, Darwins Evolutionstheorie aus staatlichen Schulen zu verbannen, werden von den Schulbehörden nicht nur ernst genommen. Sie waren schon in einigen Landkreisen erfolgreich, und sind letztlich die Speerspitze eines Versuches, die Säkularisierung, die konsequente Trennung von Kirche und Staat, zu revidieren. Vor allem aber in den Köpfen jener Europäer, die zum Anti-Amerikanismus tendieren. Aber auch die säkularen Ressentiments des Anti-Amerikanismus gründen sich meist in den zwei so unterschiedlichen religiösen Wegen, wie sie Leggewie beschreibt. Nimmt man die positive Kehrseite des Ressentiments und betrachtet die Verklärung der amerikanischen Kultur, die in Europa trotz des Widerspruchs gleichberechtigt neben dem Ressentiment gepflegt wird, dann stößt man oft auf ganz ähnliche Leitmotive. Gerade in der Begeisterung für amerikanische Popkultur steckt oft eine Sehnsucht, die illustriert, was Leggewie unterscheidet als ein europäisches Religionsverständnis vom Glaube, der auf Worten und Angeboten basiert, und ein amerikanisches Religionsverständnis, das auf einem aktiven Ausleben und Leben des Glaubens beruht. In diesem Widerspruch zwischen Theorie und Praxis des Glaubens erwacht selbst im vernunftbestimmten, kosmopolitisch gebildeten Europäer der Wunsch nach einer Form der Authentizität, die letztlich auf dem religiösen Prinzip der Inbrunst und Ekstase beruht. Wo die europäische Kultur den Formalismus und die Verinnerlichung betont, fördert die amerikanische Kultur die säkularen Formen der Inbrunst, die sich vor allem in der schwarzen Musik, aber auch in der Literatur, der Kunst und im Film finden. So wird das Erlebnis amerikanischer Kultur für den Europäer zu einem kathartischen Erlebnis, das eine Verklärung zur Folge hat, deren religiösen Ursprünge nicht nur verdrängt sind, sondern vehement abgelehnt würden. Wie nachhaltig dieses kathartische Motiv amerikanischer Popkultur wirkt, kann man am einfachsten bei Ausflügen erfahren, die man mit Europäern nach Harlem unternimmt. Weil die Kirchen der amerikanischen Schwarzen aus dem Abolitionismus und aus den Jahren der Bürgerrechtskämpfe einen Nimbus der Befreiung und Dissidenz behalten haben, fällt es Europäern im Umfeld schwarzer Gemeinden meist leichter, Motive zu akzeptieren, die sonst die Ressentiments des Antiamerikanismus unterfüttern. Das erklärt den Erfolg marginaler Gospelchöre in Deutschland genauso wie die Bewunderung für Geistliche schwarzer Kirchen, selbst wenn sie ganz ähnliche Argumente führen wie die weißen Kreationisten aus der amerikanischen Provinz. Doch die Religion muss gar nicht im Vordergrund stehen, um die Ambivalenz zu beobachten. Ein Besuch der Amateur Night im Apollo Theater reicht schon. Die Amateur Night ist seit 1934 das Epizentrum der schwarzen Kultur Amerikas. Ella Fitzgerald, James Brown und die Jackson 5 hatten hier an Harlems 125.
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Straße ihren Durchbruch. Und hier können Besucher noch heute die Energie eines Gospelgottesdienstes in einem säkularen Umfeld erleben. Denn das Publikum agiert hier wie eine Kirchengemeinde in einem Akt kollektiver Inbrunst. Auch wenn dieser Akt im Rahmen der Amateur Night nur dazu dient, die Musiker, Komiker und Artisten zu bejubeln oder von der Bühne zu buhen, so ist der religiöse Kern ähnlich präsent wie in der säkularen Form der Gospelmusik, dem Soul. Meist endet so ein Abend in einer der Jazzkneipen rund um die 125th Street, in der Lennox Lounge oder in Showman’s Cafe. Dort lassen sich die Besucher dann gerne bis in die frühen Morgenstunden von Jazzcombos mitreißen, deren Zentrum eine Hammondorgel ist, die ganz ähnlich funktioniert, wie die Kirchenorgeln der Baptisten. Mit ihren aufwallenden Akkorden und harten Akzenten gibt sie der Ekstase der Solisten einen Rahmen, in dem sie ein Höchstmaß an Energie entwickeln können. Die Gefahr eines Ressentiments oder auch einer Emphase mit religiösen Wurzeln ist eine Irrationalität, die der Irrationalität des kritisierten religiösen Arguments in nichts nachsteht. Ähnlich wie die europäische Islamkritik der moslemischen Welt per se einen Fundamentalismus unterstellt, wirft die Amerikakritik der USA per se einen missionarischen Eifer vor. Es dauerte nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nicht lange, bis die antiamerikanischen Ressentiments in Europa erste Höhepunkte erreichten. Eine Konferenz, die der deutsche Historiker Dan Diner an der New York University zum Thema der deutsch-jüdischen Beziehungen geplant hatte, wurde eilig umgewidmet. »Verwirrung – die Frage nach Antisemitismus, Antiamerikanismus und anderen Formen der Verschwörung« lautete der neue Titel. Und viele der Vortragenden zeichneten die Motive, die Antisemitismus und Antiamerikanismus verbinden. Es sei vor allem eine vorindustrielle, religiös fundierte Kapitalismuskritik, die sich da in Form von Verschwörungstheorien rühre, war das Fazit von einigen Vorträgen. So verzerren sich die transatlantischen Meinungsverschiedenheiten mit ihren vermeintlich säkularen Argumenten zu einem Glaubenszwist, aus dem es wie in allen Konflikten, die dogmatisch bestimmt sind, letztlich keinen Ausweg gibt. Nur wer die transatlantische Kluft aus diesen Blickwinkeln betrachtet, wer die unterschiedliche Glaubensgeschichte der beiden Kontinente zu Rate zieht, um die oft so schwer nachvollziehbaren Streitpunkte zu analysieren, der wird auch Lösungswege finden, die eine bewährte Freundschaft von historischer Bedeutung wieder in gemeinsame Bahnen lenken.
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»Meine Bilder sind klüger als ich« Gerhard Richter und die deutsche Erinnerungskultur Claus Leggewie
Der »Fall Grass« hat noch einmal das weite Feld zwischen okkasionellem Vergessen, echtem Verdrängen und gezieltem Verschweigen aufgedeckt.1 Hat der Autor verschiedener »Erinnerungsbücher« seine eigene Vergangenheit vergessen, verdrängt, verschwiegen? Mein Beitrag soll diese Frage an einem anderen, nicht minder verblüffenden Vorgang anhand ikonographischer Dokumente ausleuchten. Der Fall hat mit beiden deutschen Vergangenheiten zu tun, doch jenseits der überstrapazierten Rhetorik von Verdrängung und Katharsis führt er die komplexe und hochkontingente Mechanik des autobiografischen Gedächtnisses vor – ins »Menschenmögliche« unserer Erinnerung. Anhand einer Bilderkette kann man den sich über ein ganzes Leben erstreckenden, disparaten und diskontinuierlichen Aufbau von Erinnerung verfolgen; exemplarisch können Zeitgenossen und Historiker erkennen, womit sie es überhaupt zu tun haben, wenn sie über »Erinnerung« reden. Gerhard Richters Bild »Tante Marianne«, um das es im Folgenden wesentlich gehen soll, belegt die offenbar unüberbrückbare Diskrepanz zwischen öffentlicher und privater Erinnerung und die meist zu wenig berücksichtigte visuelle Dimension des individuellen wie sozialen Gedächtnisses. Der Titel meines Beitrags rekurriert auf ein Gerhard Richter zugeschriebenes Zitat, das seine Scheu vor Interviews und Selbstdarstellungen kund tat (im Sinne eines »Künstler bilde, rede nicht«), vor dem Hintergrund des Themas »Zivilisationsbruch und Gesellschaftskontinuität« aber metaphorische Qualität annimmt. Wie Familiengeschichte sich hinterrücks ins Bewusstsein heben kann, zeigt die vor allem durch den Journalisten Jürgen Schreiber bekannt gemachte Geschichte von Gerhard Richter, einem der größten Künstler der Gegenwart. 1932 in Dresden geboren, verlässt er nach dem Studium in Zittau und an der Kunstakademie Dresden die DDR 1 | Für den Wiederabdruck in diesem Band wurde die Rechtschreibung aktualisiert. Der Originaltext enthält Abbildungen.
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1961 als 29-Jähriger mit seiner Frau Marianne (genannt Ema), um nach eigener Aussage »dem verbrecherischen Idealismus der Sozialisten« und der Reglementierung der Kunst zu entkommen, und lässt sich im Rheinland nieder. Weltweit anerkannt, erreichen ihn im August 2002 in Köln die Bilder von der Überschwemmungskatastrophe in seiner Geburtsstadt, die er bis dahin nur einmal 1986 wieder aufgesucht hat. Die verheerenden Wasserschäden – der kleine Fluss Leiseritz war nach gewaltigen Regenfällen im Erz- und Riesengebirge über die Ufer getreten und hatte unter anderem Semperoper und Gemäldegalerie unter Wasser gesetzt – lösen eine breite Solidaritätsaktion von Museen, Künstlern und Mäzenen aus, zu welcher Richter sein Gemälde »Fels« (1989) beiträgt. Bei einer Versteigerung erzielt es 2,6 Millionen Euro, womit der Grundstock für die Neugestaltung des Museums und den Bau eines Depots gelegt war. Zugleich überließ der anonyme Käufer das Richter-Bild dem Albertinum als Leihgabe. Daraus wiederum entwickelte sich die Idee einer Dauerpräsenz weiterer Arbeiten in Dresden, möglicherweise mit einem Archiv dieses großen Sohnes der sächsischen Landeshauptstadt. Richter stimmt zu, offenbar überwältigt von Erinnerungen an Jugend und Kindheit, die beim Durchstreifen der Stadt hochgekommen sind (SZ 23.8.2004). So kam es zu einer in der Kunstwelt als sensationell empfundenen Dauerleihgabe von 41 Werken aus allen Werkphasen Richters, ein Durchgang durch fast alle Stilrichtungen der Malerei nach 1945, und zwar in der »gültigen« Selbstinterpretation und Hängung durch den Maler selbst, der überdies mit Werken Caspar David Friedrichs, der Brücke, der Dresdner Sezession, Otto Dix und einer Reihe von Malern aus der ehemaligen DDR kongenial kombiniert ist. Erinnerungskulturell bemerkenswert ist, wie sich die Initiative zu dieser Werkausstellung, vom Laudator Werner Spies »Dresdner Entscheidung« genannt, mit einer überraschenden und schockartigen Pointe in Richters Biographie verbindet, ebenfalls durch Anstoß von außen. Leben und Werk treten hinterrücks in eine dokumentarische Beziehung, die Richter stets programmatisch zurückgewiesen hat. Sein Oeuvre ist voller Bezüge zur deutschen Geschichte, was sich nicht auf den ikonisch gewordenen »18.Oktober 1977« (Baader-Meinhof-Zyklus) mit Porträts toter Mitglieder der RAF beschränkt oder das visuelle Schnappschüsse und Spurbilder inventarisierende Atlas-Projekt. Dazu gehört auch das großformatige Duoton-Foto »14. Februar 1945« aus dem Jahr 2002, das während der Umsetzung der Dresdner Entscheidung an der Atelierwand des Künstlers hing. Es zeigt die Luftaufnahme aus einem Aufklärungsflugzeug auf eine zerstörte Brücke im Kölner Süden, handelt aber auf eine Richter auszeichnende Weise das geschichtliche Ereignis der Nacht zuvor ab, die Zerstörung Dresdens durch den schwersten Luftangriff, dem eine deutsche Großstadt im Zweiten Weltkrieg ausgesetzt war und der in der Erinnerung des Dritten Reiches, der DDR wie auch der frühen und heutigen Bundesrepublik bekanntlich eine besonders herausragende Rolle spielt. Sichtbare Zerstörung und Bombenkrater unterscheiden diese Arbeit von anderen Stadtansichten Richters.
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Spies setzt ihre Wirkung mit Picassos »Guernica« gleich und charakterisiert Richters indirekte und distanzierte, gewollt unscharfe und »verwackelte« Beziehung zur Geschichte: »Die Bilder, die er uns anbietet, tragen Geschichte und Geschichten in sich, ohne die wir die Zeit nicht verstehen können.« Damit ist weder eine photographisch-dokumentarische Methode gemeint noch eine Heimatmalerei, sondern ein Collageverfahren, das (ähnlich wie bei Richters Freund und Malerkollegen Sigmar Polke) auch zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion hin und her wandert und sich formal wie inhaltlich abschließender Urteile enthält. Entsprechend reserviert scheint Richter auf eine Recherche reagiert zu haben, die der damalige (und heutige) Chefreporter des Tagesspiegel, Jürgen Schreiber, Theodor-Wolff-Preis-Träger und zweimaliger Gewinner des renommierten Wächterpreises, unter dem Titel »Das Geheimnis des Malers« kurz nach der Ausstellungseröffnung in Dresden veröffentlichte (Tagesspiegel 22.8.2004). Es geht in dem Artikel um die familiengeschichtliche Verwebung von Opfer und Täter: Das Opfer ist Richters Tante Marianne, die als Schizophrenkranke zunächst zwangssterilisiert und dann am 16. Februar 1945 im Krankenhaus Großschweidnitz, einem Vernichtungslager für Euthanasieopfer, an einer »plötzlichen Kreislaufstörung« zu Tode gekommen ist. In Wahrheit hungerten die Nazis die Patienten aus und schläferten sie mit Veronal oder Luminal ein. Leben und Sterben der Marianne Schönfelder hat Jürgen Schreiber akribisch aus den Akten rekonstruiert und Gerhard Richter damit konfrontiert. Marianne Schönfelder wurde in einem Massengrab verscharrt. In Richters Familie wurde ihr Schicksal kaum offen thematisiert; sie wurde dem Jungen als Drohbild vorgehalten: »Immer, wenn ich etwas ausgefressen hatte, hieß es, du wirst noch einmal wie die närrische Marianne«. Er erhielt erst durch den Reporter genaue Kenntnis davon – und noch von einigem mehr: Richters Dresdner Förderer und erster Schwiegervater, Professor Heinrich Eufinger, bis 1945 Direktor einer Dresdner Frauenklinik und SS-Obersturmbannführer, man ahnt das Ungeheuerliche, hätte eben jene zwangsweise »Unfruchtbarmachung« an Tante Marianne vornehmen können, die 1938 dann von einem anderen furchtbaren Mediziner des Euthanasieprogramms vorgenommen wurde und ihr trostloses Dasein als künftiges Opfer der tödlichen Medizin einleitete. Richter hat, ohne wie gesagt von all dem viel zu wissen, Tante Marianne 1965 in Düsseldorf gemalt – und sich selbst. Vorlage war ein typisches Familien- und Genrefoto vom Juni 1932, auf dem die hübsche Tante im Alter von 14 Jahren den vier Monate alten Neffen Gerhard auf dem Paradekissen hält und den Betrachter auf eine bezaubernde Weise anlächelt. Als Richter sich das Foto vornahm und »Tante Marianne« vollendete, war ihm deren Leidensweg kaum präsent, im Bild scheint für den Betrachter nichts davon auf. Auf der Rückseite des im Garten des Großvaters aufgenommenen Originalfotos ist handschriftlich angegeben: »Gerd Richter mit Marianne Schönfelder. Gerd vier Monate, Marianne 14 Jahre alt, im Juni 1932«. Der Zusammenhang erschließt sich erst aus der Serie von
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Bildern, die Richter 1965 angefertigt hat. Gemalt hat Richter in ähnlicher Technik seinen Schwiegervater, mehrfach dessen Tochter und seine Frau Ema (von Marianne) sowie seinen im Krieg verschollenen »Onkel Rudi«. Diese Arbeit macht das Bildprogramm Richters Mitte der 1960er Jahre als eine neue Form des Historienbildes deutlich, das zugleich die Darstellbarkeit des Historischen problematisiert. Ausgangspunkt ist die Photographie als Medium, »das die Form der Präsentation des Historischen entscheidend verändert und damit Status, Praxis und Möglichkeiten der Malerei neu bestimmt hat.« (Stefan Germer). Dazu Richter in seinen Notizen 1964-1965: »Ein Photo wird gemacht, um über eine Begebenheit zu berichten. Wichtig für den Photographen und den Betrachter ist als Resultat, der ablesbare Bericht, die in Form eines Abbildes fixierte Begebenheit«. Im Kontrast demonstriere das Ölbild »die Zahllosigkeit der Aspekte, es nimmt uns unsere Sicherheit …« Rudi Schönfelder war der von Richters Mutter als Vorbild und Antipode des Vaters gepriesene und im Krieg gefallene »schöne Rudi«. Richter setzte dieses privat deklarierte Bild durchaus politisch ein: 1967 stellte es der Galerie René Block für eine Ausstellung »Hommage à Lidice« zum 25. Jahrestag des als Vergeltung des Attentats auf Reinhard Heydrich begangenen SS-Massakers zur Verfügung. Das (87 x 50 cm kleine) Bild ging an eine Galerie in Prag, ist dort verschollen und erst 1996 wieder aufgetaucht. 2004 wurde es in der Ausstellung »Mythen der Nationen« im Deutschen Historischen Museum mit Exponaten aus der Wehrmachtsausstellung kombiniert. Zur gleichen Zeit entstand 1965 »Herr Heyde«, womit niemand anderer gemeint ist als Werner Heyde alias Fritz Sawade, der bis 1959 unentdeckt in Westdeutschland lebende Hauptverantwortliche des Euthanasieprogramms, mit anderen Worten der Schreibtischmörder von Tante Marianne. Ende 1939 fungierte Werner Heyde als Leiter und Obergutachter der medizinischen Abteilung der Zentraldienststelle für die Durchführung der »Euthanasie«-Aktion, der ab April 1940 nach dem Dienstsitz in der Berliner Tiergartenstraße 4 »Aktion T4« genannten Tötung von Geisteskranken und Behinderten. Ziel der »Aktion T4« war im Anschluss an die sog. Kinder-»Euthanasie«, die Tötung von Kleinkindern mit angeborenen schweren Schäden wie Idiotie, Wasserköpfen, Lähmungen usw., der Plan der Tötung eines großen Teils der Geisteskranken bzw. aller, die in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft keinen Platz mehr haben sollten – geistig Behinderte wie Schizophrene, Epileptiker, Altersdemente, Verbrecher und »Asoziale« sowie rassisch »Andersartige«. Heyde, Professor in Würzburg und kurz vor Kriegsende zum SS-Standartenführer avanciert, wurde 1945 von den Briten verhaftet und interniert. Nach der Vernehmung als Zeuge im Nürnberger Ärzte-Prozess gelang ihm auf dem Rücktransport bei einem Halt in Würzburg die Flucht, er tauchte für zwölf Jahre ab. Unter dem Falschnamen Dr. Sawade und mit der Unterstützung eines Arztkollegen, der seine wahre Identität kannte, war er als nervenärztlicher Gutachter für das Oberversicherungsamt in Schleswig-
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Holstein tätig. Nur durch Zufall wurde 1959 seine Identität, die zahlreichen Mitwissern bekannt war, aufgedeckt; dem gegen ihn angestrengten Prozess entzog sich Heyde durch Selbstmord in der U-Haft. Gerhard Richter dürfte das Bild nach einem Foto aus einer Illustrierten gemalt und sich die Unterzeile selbst ausgedacht haben. Schreiber nennt diese Koinzidenz der Täter- und Opferfiguren in den zeitnah entstandenen Bildern (unscharf) eine Deckerinnerung (»zeigen, ohne zu offenbaren«), er deklariert sie als vorbewusstes »Requiem, ein Kolossalgemälde vom Zusammenbruch einer humanen Welt«. Ungeachtet dieser etwas bombastisch wirkenden Einordnung hat er einen wahrhaft unheimlichen Zusammenhang rekonstruiert, mit dem womöglich gebotenen Pathos: »Gerhard Richter … wurde der Bote des deutschen Dramas, ohne daß es ihm bewußt war. Unter dem Firnis seiner Bilderwelt verbirgt sich ein Geheimnis, zu dem bisher niemand vordrang, zum Geheimnis seines Lebens. Nicht einmal der Künstler kennt die Details der Familientragödie, sein Schaffen gibt sie ungewußt preis. Auch Richter liest die Enthüllung hier erstmals« – gemeint ist die Wochenendausgabe des Tagesspiegels, in dem der mittlerweile zum Stern gewechselte Reporter seinen Scoop nicht ganz uneitel publiziert. Dass die Bilder im Werkverzeichnis, das Richter selbst scheinbar willkürlich, jedenfalls nicht streng chronologisch und alles umfassend angelegt hat, aufeinander folgen, kommentiert Richters Biograph Dietmar Elger so: »Die Bilder Tante Marianne und Herr Heyde stehen also in einem direkten Dialog miteinander und interpretieren sich gegenseitig, indem sie die familiäre Geschichte in eine historische Dimension einordnen und das verbrecherische System der Nationalsozialisten am individuellen Schicksal erfahrbar werden lassen«. Von Robert Storr nach einem Zusammenhang befragt, hat Richter geantwortet: »Es war nicht in meinem Bewußtsein. […] Ich wollte Bilder machen und nicht in das Lager derjenigen kommen, die irgendetwas anklagen« (Robert Storr) und sich so womöglich als Künstler an die Aufarbeitung von Zeitgeschichte oder Sozialarbeit zu machen. Die Bilder müssen klüger bleiben. In einem Interview mit Sabine Schütz 1990 führt Richter aus: »Sie sollten unbedingt klüger sein als ich. Ich muß nicht mehr ganz mitkommen, sie müssen etwas sein, was ich nicht mehr so ganz verstehe. Solange ich sie theoretisch begreife, ist es ja langweilig.« 1966 wechselt Richter abrupt in die Abstraktion und vollzieht mit Farbtafeln einen radikalen Bruch in seinem Bildvokabular. An der Politisierung der Kunst, die auch in Düsseldorf im Umfeld der Beuys-Schüler und des von ihm frequentierten legendären Künstlerlokals »Creamcheese« anhebt, nimmt der »bürgerliche« Richter ausdrücklich nicht teil. Schreibers investigative Recherche zielt nicht allein auf die Würdigung des Euthanasie-Opfers, sondern auch und vor allem auf die Anklage des Mittäters Eufinger, ein exemplarischer Fall von Zivilisationsbruch und Gesellschaftskontinuität, von dem Richter offenbar noch weniger wusste oder wissen wollte. Richter gilt als notorisch ungesprächig und gibt zu seinem Werk ungern Auskunft, um alle biografischen, sozialgeschichtlichen und anderen Kurzschlüsse zu unterbinden. Schreiber scheint aber
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ins Schwarze getroffen und Richter zurückgeführt zu haben in die Wiener Straße 91 in Dresden, die Richter im Übrigen auch gemalt hat. Dort lebte der Maler von April 1953 bis zu seiner Flucht ein Leben, das aus Richters bisherigem Werkkatalog (beginnend 1962) komplett getilgt ist, weil alle frühen Werke dort liegen geblieben sind, genau wie lange auch die Erinnerungen an die Dresdner Zeit zwischen der toten Tante Marianne und ihrem potenziellen Mörder Eufinger, in dessen Klinik sie hätte eingewiesen werden und dem als Beteiligtem im Euthanasieprogramm rund 900 Zwangssterilisierungen nachgewiesen werden können. Eufinger war seit 1940 Besitzer der vom Krieg verschonten Villa, und nachdem der ehemalige SS-Mann 1948 aus sowjetischer Internierung freigekommen war, konnte man in der DDR und in der Wiener Straße 91 als angesehener Arzt wieder ein unbehelligtes, fast bourgeoises Leben führen – und einen Kunststipendiaten und Querkopf im Haus aufnehmen, der mit der Tochter Marianne alias Ema »ging« und mit ihr bald ein Kind namens Betty haben würde, in dessen Genen Tante Marianne und Dr. Eufinger in gewisser Weise repräsentiert sind. Richters Frühwerk, nur in Fotos erhalten, ist verschollen. Eufinger übersiedelte schon 1956 in den Westen, wo er 1988 hochbetagt und in allen Ehren starb; Gerhard Richter und seine Frau folgten 1961 in den Westen, das Haus Wiener Straße wurde enteignet und diente als konspirative Wohnung für die Stasi; nach der Wende wurde die Immobilie an die Töchter rückübertragen. Die Geschichte von Mariannes Bild, das 1965 für 1000 Mark an einen Sammler in Stuttgart gegangen war, hatte im Jahr 2006 noch ein bizarres Nachspiel, fast so, als müsse sich jede Tragödie zur Farce steigern. Das Bild (über das die ehemalige Besitzerin sagt: »Ich weine dem überhaupt nicht nach, bin heilfroh, das Ding los zu sein«) kam bei Sotheby’s London unter den Hammer. Nach heftigem Wettbewerb erwarb ein anonymer Bieter das Bild für 2,136 Millionen Pfund. Der Schätzpreis für »Tante Marianne« soll etwa um eine Million Euro höher als vergleichbare Werke liegen, diese Steigerung verdankt sich in den Worten eines Marktkenners dem Wissen um die tragische Geschichte – das Bild bringe Dinge hervor, »die verschüttet waren« (gemeint ist das »Thema« Euthanasie). Man fragt sich tatsächlich, warum dieses Bild nicht in einem deutschen Museum zu sehen ist, sondern jetzt in einer Privatwohnung hängt oder als Kapitalanlage in einem Banksafe liegt. Versucht man diese Rekonstruktion einer öffentlichen Biographie einzuordnen und zu bewerten, fällt zunächst die Offizialisierung auf Richters Webseite auf, wo der fragliche Lebensabschnitt nach 2004 folgendermaßen gerahmt ist: »Seine Familie gehört zum städtischen Bürgertum. Wie in vielen damaligen Familien, sind auch seine Verwandten in die Verbrechen des Nazi-Regimes verstrickt. Der Bruder seiner Mutter, Onkel Rudi, fällt als junger Wehrmachtsoffizier im Krieg. Richters geistig behinderte Tante Marianne wird zunächst interniert und später im Rahmen des nationalsozialistischen Euthanasieprogrammes ermordet. Fanatische Ideologien und der Tod haben Richter seit seinen frühen Kinderjahren verfolgt
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und sind vielleicht die Ursache für seine Ablehnung jeglicher Ideologien und sein Interesse an der Natur als einem ideologiefreien Raum.« Damit kontrastiert der klassische deutsche Familienroman Schreibers: »Richter vermied die Fragen, Eufinger die Antworten« und eine spätere, apologetisch klingende Würdigung Eufingers durch Richter, in Kenntnis aller von Schreiber ausgebreiteten und belegten Fakten: »Er hatte nichts von einem Nazi, er war hoch gebildet, tüchtig, ein sehr imponierender Typ«, was er mit einer herben Autorenschelte verbindet, die viele Biographen lebender Persönlichkeiten erfahren haben: »Schreiber bläst das bewegende Thema zum Buch auf, mixt Fakten, konstruiert Zusammenhänge, schmückt aus mit seinen Phantasien und zerrt intime Begebenheiten ans Licht, die nicht dem Thema dienen, sondern nur seiner Lust am Schnüffeln.« Interessanter als diese sattsam bekannten Rahmungen und Abrechnungen erscheint es mir, noch einmal die Dresdner Assoziationskette um Tante Marianne aus den Jahren 2002 bis 2004 im Blick auf die kumulative und selektive Konstruktion des autobiografischen Gedächtnisses zu befragen. Im August 2002 bewegen Bilder aus der überschwemmten Innenstadt Dresdens, wohl auch im Zusammenhang mit ihrer Ausschlachtung für den Bundestagswahlkampf, die einige Beobachter sogar als wahlentscheidend deklariert haben, und vielleicht auch der nationalen Rettungsaktion für die Wiedererrichtung der Dresdner Frauenkirche. Zu diesem Zeitpunkt hängt an Richters Kölner Atelierwand das Bild von den Luftangriffen auf die Domstadt, die Camouflage der Dresdner Bombennacht 1945, die mit der breiten Thematisierung der deutschen Opfer im Luftkrieg im öffentlichen Diskurs brisant wird und den privaten Untergrund der diesbezüglich reservierten Offizialkultur hervorkehrt. Parallel arbeitet Richter intensiv an seinem Projekt War Cut, einer Parallelisierung von 216 Ausschnitten seines Abstrakten Bildes Nr. 648-2, 2002 im Pariser Museé d’Orsay fotografiert, mit Textauszügen aus zwei FAZ-Ausgaben im März 2003 mit Berichten über die ersten Tage des Irak-Kriegs, dessen Countdown seit dem Sommer 2002 gelaufen war und der neben der »Elbe-Flut« die politische Agenda bestimmt hatte. Diese Text-Bild-Kombination, eine letzte Übermalung von Geschichte, enthält wieder keine direkte politische Aussage, sie ist eher ein Goyasches »Ich habe es gesehen« und ein Schlachtengemälde aus einem Luftkrieg, dessen breite Ablehnung in der deutschen Bevölkerung nicht zuletzt durch Dresden-Reminiszenzen genährt wird. Als Richters Dresdner Entscheidung eine Art Heimkehr nach Dresden anzeigt, erscheint Schreibers Artikel, der wiederum auf Gesprächen mit Richter in den Monaten zuvor beruht, bei denen der Maler sich zunächst zugeknöpft und abwartend, dann aber doch aufgeschlossen und bewegt gezeigt hat. Das 2005 im Pendo Verlag erschienene und gut verkaufte Buch macht Richters Historienmalerei aus den 1960er Jahren endgültig in all ihren Bezügen öffentlich, darunter die früh entstandenen Bomberstaffeln, die am Anfang des Werkverzeichnisses stehen. Es liegt mir fern, in Gerhard Richters Kopf blicken zu wollen, aber man darf an diesen nur angedeuteten Bezügen wohl demonstrieren, wie kom-
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plex das autobiographische Gedächtnis funktioniert, aus dem wir Kindheitserinnerungen schöpfen und sie je nach Alterslage immer wieder neu rekonstruieren. Es ist hier gut zu beobachten, wie organische Reifung und psychische Entwicklung eines Individuums durch soziale Interaktion und kulturellen Kontext überformt werden, und man darf daraus schließen, dass man sich in den vergangenen Jahrzehnten stets mit gutgemeinten Postulaten überhoben hat, die Menschen dürften ihre »Vergangenheit« nicht vergessen und verdrängen. Wozu waren sie denn jeweils kognitiv fähig? Ohne dieses Caveat im Mindesten apologetisch wenden zu wollen, müssen Konsequenzen für die Memorik der Bundesrepublik gezogen werden, die hier nur angedeutet werden können. Im öffentlichen Erinnerungsdiskurs stellt man einen beachtlichen Spannungsabfall im herkömmlichen Schulddiskurs fest, der den Abschluss der Gefühlsgeschichte der alten BRD andeutet und unsere Aufmerksamkeit für die Kontingenz historischer Konstellationen und Verstrickungen steigert. Das wiederum hat Konsequenzen für den historiografischen Fachdiskurs: Es steigt die Anerkennung der Widersprüche des Materials und es drängt sich ein epistemischer Pluralismus auf, der »fehlerhafte Erinnerung« in interdisziplinärer Arbeit mit den kognitiven Fähigkeiten abgleicht. Dazu passt, wie ich vielleicht darlegen konnte, Gerhard Richters Bildprogramm der Unschärfe, die epistemisch wie moralisch vielleicht schwer auszuhalten ist: »Die Demarche, zu der (Richt)er als Maler greift, spricht gegen die kategorische Aussage: Denn die Botschaft, die das Werk auf stilistischer Ebene vorträgt, besteht nicht zuletzt darin, daß in den Augen Richters keine letzte Entscheidung getroffen werden kann. […] Der bewußt labile Stil, könnte man sagen, entwaffnet grundsätzlich jede Rechthaberei. Nicht nur die ästhetische, auch die moralische. Es kann auch inhaltlich kein Entweder-Oder geben.« (Werner Spies).
L ITER ATUR Elger, Dietmar (2002): Gerhard Richter, Maler, Köln: DuMont. Germer, Stefan (1989): Ungebetene Erinnerung. In: ders., Gerhard Richter. 18. Oktober 1977, Köln: König, S. 51-53. Godau-Schüttke, Klaus-Detlev (1998): Die Heyde-Sawade-Affäre. Wie Juristen und Mediziner den NS-Euthanasieprofessor Heyde nach 1945 deckten und straflos blieben, Baden-Baden: Nomos. Schreiber, Jürgen (2005): Ein Maler aus Deutschland. Gerhard Richter: Das Drama einer Familie, München/Zürich: Pendo. Spies, Werner (2004): Die Dresdner Entscheidung. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. April. Storr, Robert (2002): Gerhard Richter, Malerei, Osftildern-Ruit: HatjeCantz. Vormbaum, Thomas (Hg.) (2005): »Euthanasie« vor Gericht. Die Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim OLG Frankfurt a.M. gegen Dr. Werner Heyde u.a. vom 22. Mai 1962, Berlin: BWV.
Gute Bücher und schlechte Bücher Zu Jürgen Schreibers Ein Maler aus Deutschland und zu Gerhard Richters War Cut oder: Über die Intelligenz der Igel Marcel Baumgartner
Nachdem im Tagesspiegel vom 22. August 2004 Jürgen Schreibers Reportage Das Geheimnis des Malers mit den Enthüllungen über Gerhard Richters Schwiegervater Prof. Dr. Heinrich Eufinger als Arzt im Dienst der nationalsozialistischen Eugenik- und Euthanasieprogramme und über die damit verbundenen Implikationen auch für Richters Bild Tante Marianne erschienen war, hatte der Künstler in einem Spiegel-Interview sich zwar an der »Aufmachung« – an der »reißerischen Titelei wie ›Das Geheimnis des Malers‹ oder ›Das Drama einer Familie‹« (Letzteres offenbar bereits bezogen auf den Untertitel des angekündigten Buchs) – gestört, sich aber im Übrigen zuversichtlich gezeigt und gesagt: »[Das Buch] wird so sein wie der Bericht […], nur mit sehr viel mehr Fakten und viel weiter gehenden Recherchen. Wenn [es] hält, was der Bericht versprach, wäre ich sehr erfreut« (Richter 2005: 512). Und auch noch nach dem Erscheinen des Buches im Herbst 2005 gab er der Kunstredakteurin der Münchner Abendzeitung zu Protokoll: »Jürgen Schreibers Artikel im Tagesspiegel vor gut einem Jahr hatte mich ziemlich beeindruckt, genauso wie die Gespräche über seine Recherchen und die Besessenheit, mit der er dieses Thema verfolgte. Er hatte sehr viele Fakten zusammengetragen, von denen ich nichts gewusst hatte, und die ich auch ganz allgemein sehr interessant fand« (Richter 2005a: 518). Claus Leggewies Versuch, die von Gerhard Richter im gleichen Interview geäußerte harsche Kritik an Schreiber mit der üblichen, »viele[n] Biographen lebender Persönlichkeiten« widerfahrenden »Autorenschelte« zu erklären und des Künstlers »in Kenntnis aller von Schreiber ausgebreiteten und belegten Fakten« (Leggewie) gemachte Aussage über Eufinger: »Er hatte nichts von einem Nazi, er war hoch gebildet, tüchtig, ein sehr imponierender Typ« (Richter 2005a: 519) letztlich als Fortsetzung einer Strategie zu deuten, die den Umgang der Generationen »in diesem Land der Tauben und Stummen« (Schreiber 2005: 231) in den fünfziger und sechziger Jah-
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ren bestimmt hatte – »Richter vermied die Fragen, Eufinger die Antworten« (ebd.) –, und aus diesem Beispiel Schlüsse zu ziehen auf das Funktionieren des autobiographischen Gedächtnisses, scheint mir deshalb nicht den Kern der Sache zu treffen. Dieser Kern ist: Bei Schreibers Ein Maler aus Deutschland handelt es sich – bei allen Verdiensten, die man dem Autor für seine Recherche-Arbeit zuschreiben wird – um ein schlechtes Buch. In der Tat sehe ich keine Ursache, Richter nicht Glauben zu schenken, wenn er als den eigentlichen Grund seiner Ablehnung anführt, dass es »leider gar kein gutes Buch geworden« sei und er sich nur über dessen Qualität aufrege (Richter 2005a: 518). Richter hat recht. Seine (gewiss nicht unproblematische) Charakterisierung Eufingers aber sollte deswegen nicht isoliert zitiert werden, weil es sich dabei um eine Widerrede gegen Schreiber handelt, der es allein aufgrund einer Fotografie von Eufingers »zeitlosem Anpassergesicht« anders (und besser) wissen wollte und den »Blick aus kleinen und eng stehenden Augen« für »ungut« erklärte (Schreiber 2005: 177). Zu dieser Art von Physiognomik – Johann Caspar Lavater lässt grüßen – sagt Richter: »So etwas ist […] vor allem absolut dumm«; und dass sein Schwiegervater sich ihm (was Claus Leggewie ebenfalls unterschlägt) »damals [!] einfach anders dar[gestellt]« habe. Mit seinen Hinweisen auf einen unerträglichen Jargon, der »doch die erwünschte Annäherung an die Wahrheit verhinder[e]«, kritisiert Richter an Schreibers Buch Ein Maler aus Deutschland genau das, was ihm vier Jahre später auch Erich Hackl aus Anlass der 2009 erschienenen Monika-Ertl-Biographie mit dem Titel Sie starb wie Che Guevara (Schreiber 2009) vorhalten wird: »Jürgen Schreiber ist schuldig des Vergehens der Effekthascherei, des saloppen Umgangs mit Quellen und Informanten, des inflationären Gebrauchs von Gemeinplätzen, Stereotypen und Klischees, der skrupellosen Anbiederung an den vermeintlichen Publikumsgeschmack« (Hackl 2009). Oder was soll man von einem Autor halten, der glaubt, uns mitteilen zu müssen, dass »der vor dem Anstaltseingang« von Großschweidnitz »liegende Gottesacker […] nie« für das Verscharren von 8000 Euthanasieopfern »gedacht« gewesen sei (Schreiber 2005: 152)? Auf den Gedanken, so etwas zu schreiben, muss man doch erst einmal kommen. Oder aber beim Schreiben überhaupt nichts denken. Wenn indes Richter den grundlegenden Fehler von Schreiber darin sieht, dass er »dieses bewegende Thema« zu einem Buch »aufgeblasen« habe, dann lässt sich das Problem vielleicht noch präziser fassen, wenn man sagt: Er hat eine Zeitungsreportage zum Buch aufgeblasen – wenn man also mit der Kritik noch stärker auf das Misslingen der Form abzielt und die These aufstellt: Die (gute) Sache ist definitiv beim Transfer von der Reportage zum Buch aus dem Ruder gelaufen, und: Das Misslingen hat primär mit einem eklatanten Mangel an Medienbewusstsein und Medienreflexion zu tun. Dies ist umso bemerkenswerter, als Gerhard Richter wohl just zu dem Zeitpunkt, als Jürgen Schreiber seine Recherchen betrieben und bei ihm verkehrt hatte, mit einem Projekt beschäftigt war, bei dem es zentral um
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den Transfer von Texten, die ursprünglich für die Zeitung geschrieben waren, in ein (Künstler-)Buch (und darüber hinaus um den Transfer des Mediums Malerei in das Medium Fotografie) geht. Gerhard Richters War Cut, erschienen im Frühjahr 2004, ist ein Zusammenschnitt – »›Cut‹ […] nicht in der Bedeutung von Trennung, sondern als eine Montage im Sinne des Filmschnittes« (Schwarz 2007: 98) – von Detailaufnahmen eines abstrakten Gemäldes von Gerhard Richter aus dem Jahr 1987 mit Meldungen und Berichten, die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20. März 2003 über den Vortag und in der Ausgabe vom 21. März 2003 über den ersten Tag des Zweiten Irakkriegs erschienen waren. Bei der Umsetzung in das auch in seiner Gesamtanlage streng strukturierte Buch, in dem jede Doppelseite »mit festgelegten Anordnungen und Mengen« (Richter 2004a: 470) an Text oder an Bild gefüllt wird (vgl. Schwarz 2007: 98-101; Meincke 2009: 247), wurden auch die ungekürzt Wort für Wort wiedergegebenen Zeitungstexte – Meldungen, Berichte, Reportagen, Analysen und Kommentare aus den Ressorts ›Politik‹, ›Zeitgeschehen‹, ›Unternehmen‹, ›Wirtschaft‹, ›Finanzmärkte und Geldanlage‹, ›Aktien und Indizes‹, ›Devisen- und Warenmärkte‹, ›Deutschland und die Welt‹, ›Briefe an die Herausgeber‹, ›Sport‹, ›Feuilleton‹, ›Medien‹ und ›Reiseblatt‹ – einer radikalen formalen Disziplin unterworfen und völlig emotionslos hingestellt. Hinter dieser formalen Disziplin steht Richters Überzeugung: »Je dramatischer die Ereignisse sind, desto wichtiger ist die Form« (Richter 2004a: 470). All dies ist denkbar weit entfernt vom »Goyasche[n] ›Ich habe es gesehen‹« oder gar von einem »Schlachtengemälde aus einem Luftkrieg« (Leggewie). Auch scheint mir die in den bisher vorliegenden Auseinandersetzungen mit Richters Buch mehrfach betonte Möglichkeit, aus den Mikrostrukturen von Richters abstraktem Gemälde »illustrative Evidenzen und mögliche Bedeutungsvalenzen« herauslesen zu können – vom »Blick eines Wartenden durch die Fensterscheibe einer Flughafenhalle auf das nächtliche Rollfeld« über eine »glitzernde Wasserfläche aus großer Höhe« bis hin zur »Figur einer knienden, soeben enthaupteten Geisel« (Meincke 2009: 258, 261; so auch Diers 2006: 104) –, nicht der springende Punkt beim schauenden Lesen zu sein, zu dem Richter uns anhält. Vielmehr lenkt Richter, indem er die Texte, ihrer ursprünglichen Bebilderung beraubt, ohne Hinweis auf ihre ursprüngliche Ressortzugehörigkeit und alle ursprünglichen Gattungsunterschiede einebnend, aneinanderreiht, unsere Aufmerksamkeit auf die Mechanismen, nach denen Lesen und Sehen funktionieren. Gar nichts hat Richter, und gar nichts haben wir vom Irakkrieg »gesehen«. Stattdessen waren und sind wir konfrontiert mit Informationen – mit Bildern und mit Texten –, bei denen uns »jede Möglichkeit genommen ist, über ihre Wahrheit und Echtheit zu entscheiden« (Schwarz 2007: 109). »Deshalb«, so Gerhard Richter, »habe ich es auch unbedingt vermieden, eine Meinung zu sagen, die ist hier ganz unnütz und gleichzeitig auch hinderlich bei dem Versuch, der Wahrheit etwas näher zu kommen« (Richter 2004a: 473).
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Was er auf solche Art mit seinem Buch War Cut als Künstler-Igel längst leistet, ist also genau das, was selbst avancierteste WissenschaftlerHasen wie Claus Leggewie »für den historiografischen Fachdiskurs« erst fordern: gesteigerte »Aufmerksamkeit für die Kontingenz historischer [aber, so möchte man ergänzen, auch gegenwärtiger] Konstellationen«, und: »Anerkennung der Widersprüche des Materials«.
L ITER ATUR Diers, Michael (2006): War Cuts. Über das Verhältnis von zeitgenössischer Kunst und Pressefotografie. In: ders., FotografieFilmVideo. Beiträge zu einer kritischen Theorie des Bildes, Hamburg: Philo & Philo Fine Arts, S. 83-110. Elger, Dietmar/Obrist, Hans Ulrich (2008): Gerhard Richter. Texte 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König. Hackl, Erich (2009): Vor dem Sprachgericht: In allen Punkten schuldig. Für die Richtigkeit der Ausfertigung: Erich Hackl. WOZ Die Wochenzeitung 25, 18. Juni 2009. Meincke, Guido (2009): Gerhard Richter: WAR CUT. Zum Verhältnis von Malerei und massenmedialer Kriegsberichterstattung. Zeitschrift für Kunstgeschichte 72, S. 247-273. Richter, Gerhard (2004): War Cut, hg. von Suzanne Pagé und Hans Ulrich Obrist, Paris: Musée d’Art Moderne/Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König. Richter, Gerhard (2004a): Interview mit Jan Thorn-Prikker über die Arbeit WAR CUT. In: Elger/Obrist 2008: S. 469-473 (zuerst unter dem Titel »Je dramatischer die Ereignisse sind, desto wichtiger ist die Form. Ein Gespräch mit dem Künstler Gerhard Richter über seine Arbeit WAR CUT«. Neue Zürcher Zeitung, 29./30. Mai 2004). Richter, Gerhard (2005): SPIEGEL-Interview mit Susanne Beyer und Ulrike Knöfel 2005. In: Elger/Obrist 2008: S. 509-518 (zuerst unter dem Titel »Mich interessiert der Wahn«. DER SPIEGEL, 15. August 2005). Richter, Gerhard (2005a): Gespräch mit Roberta de Righi 2005. In: Elger/ Obrist 2008: S. 518-519 (zuerst unter dem Titel »Mit jeder Seite neue Zweifel«. Abendzeitung, 7. September 2005). Schreiber, Jürgen (2005): Ein Maler aus Deutschland. Gerhard Richter. Das Drama einer Familie, München/Zürich: Pendo. Schreiber, Jürgen (2009): Sie starb wie Che Guevara. Die Geschichte der Monika Ertl, Düsseldorf: Artemis & Winkler. Schwarz, Dieter (2007): Gerhard Richter: War Cut. Ein abstraktes Bild als Buch. In: Dietmar Elger/Jürgen Müller (Hg.), Sechs Vorträge über Gerhard Richter, Dresden: Gerhard Richter Archiv, Staatliche Kunstsammlungen/Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, S. 96-111.
Deutschlandbilder Benjamin Drechsel
»Bilder sind klüger« – das heißt auch: Sie sind unbeherrschbar, ihre Verwendung ist riskant. Leider führt dieser Gedanke allzu leicht in eine Sackgasse, nämlich zu der Schlussfolgerung, dass alle Bilder lügen. Manipulation, dieses Verdikt scheint dann unvermeidlich – und scharfe (Bild-) Kulturkritik der einzige Ausweg. An dieser Stelle wird die Diskussion sehr schnell sehr langweilig, weil aus nachträglich zusammengerückten Pyramiden, aus einem abgedunkelten Gesicht oder auch aus einem wegretuschierten Schweißfleck ein Generalverdacht gegen alle politischen Bilder komponiert wird. Würden sie tatsächlich generell lügen, dann entginge man ihrer Macht wohl am besten, indem man entweder gar nicht mehr hinschaut oder sie nur noch mit Argusaugen beobachtet, die jeden Pinselstrich und jedes Pixel auf ihre manipulative Kraft hin untersuchen. Doch ist diese Sichtweise allzu einfach und führt deshalb in die Irre; beispielsweise haben die Bilder des 11. September nicht (oder auf sehr eigentümliche Weise) gelogen und zudem hat auch Wegsehen an diesem Tag nicht geholfen: Sie waren in der Welt und haben sie in der Folge verändert. Die Bilder werden uns stets einige Schritte voraus bleiben. Man kann ihren ständigen Strom aber bewusst an- und selbst innehalten, in Ruhe schauen, das Gesehene ernst nehmen, um daraus zu lernen. Claus Leggewie hat in diesem Sinne vor der Vermischung von Bilderfeindlichkeit mit Politikverdrossenheit gewarnt und setzt stattdessen schon seit vielen Jahren auf systematische Inszenierungskritik: »Es hilft also wenig, Politik als Theater zu diskreditieren […]; statt dessen sollten wir genauer hinschauen lernen« (Leggewie. 2000: 243; als für einen deutschsprachigen Politikwissenschaftler vergleichsweise frühen Text zur visuellen Politik vgl. ders. 1991). Am Beispiel Gerhard Richters hat er aufgezeigt, was das für die erinnerungskulturelle Forschung bedeuten könnte und skizziert dabei eine bildkulturwissenschaftliche Perspektive, die zwischen Kunst, autobiographischem und sozialem Gedächtnis vermittelt. Ich möchte seine Forderung nach »genauerem Hinschauen« hier aufgreifen – und zwar an Hand der ersten »Du bist Deutschland«-Kampagne (September 2005 bis Ende
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Januar 2006), die ebenfalls aussagekräftig für das Verhältnis visueller Erinnerungskulturen und deutscher Identitätskonstruktionen sein dürfte. Bilder zeigen sich als Oberflächen. Tatsächlich sind sie jedoch (die sichtbaren) Teile eines vielschichtigen kulturellen »Bedeutungsgewebes« (Clifford Geertz), in dem sich die Menschen, die sie betrachten, unausweichlich verstricken. Zum Entwirren einzelner Fäden ist Kontextwissen hilfreich – sei es nun künstlerischer, ökonomischer, historischer oder politischer Natur. Auch wenn häufig das Gegenteil behauptet wird: Ein Bild sagt aus sich heraus keineswegs mehr als 1.000 Worte, eher fordert es diejenigen, die es verstehen möchten, stumm dazu auf, tausende Worte zu lesen. Auch die Bilder der Kampagne »Du bist Deutschland« bedürfen der Hintergrundinformation: Sie wurzelten in einer Initiative aus dem Umfeld der rot-grünen Bundesregierung zur Zeit der Kanzlerschaft Gerhard Schröders (1998-2005). Diese »Partner für Innovation« wollten die German Angst als Wirtschaftsbremse erkannt haben. Im Oktober 2004 verabredeten deshalb einige Protagonisten der deutschen Medienlandschaft (u.a. der Spiegel-Verlag und verschiedene TV-Sender) eine Aktion: Insbesondere die Agenturen Jung von Matt, kempertrautmann und fischerAppelt steuerten dann die angeblich bis dahin größte deutsche Social-MarketingKampagne. Als zentrale Werbeträger fungierten TV-Spots, Anzeigen in Printmedien sowie der Webauftritt unter www.du-bist-deutschland.de. Testimonials waren Unbekannte ebenso wie Prominenz von Xavier Naidoo bis zu Anne Will. Gemeinsam vermittelten sie das pathetische Manifest (»Ein Schmetterling kann einen Taifun auslösen«) und erreichten zumindest rechnerisch jeden einzelnen Deutschen gleich mehrfach in unterschiedlichen medialen Formaten. Hinzu kam die umfangreiche Anschlusskommunikation im Fernsehen, im Radio und online. Der Claim »Du bist Deutschland« wurde dabei zum geflügelten Wort. Die Macher verstrickten sich allerdings ganz nebenbei im (erinnerungs-)kulturellen Bedeutungsgewebe ihrer eigenen Produktion: Im November 2005 verlautete aus Bloggerkreisen, dass schon die Nationalsozialisten den Spruch »Denn Du bist Deutschland« benutzt hatten (vgl. Freiburg/Haas 2005). Diese Behauptung wurde durch ein historisches Foto aus dem Bestand der städtischen Lichtbildstelle Ludwigshafen belegt (zu finden u.a. in Becker/Mörz 2003: 185). Das Motiv ist wohl am Morgen des 12. November 1933 auf dem Ludwigsplatz der Stadt am Rhein anlässlich von »Reichstagswahl« und »Volksabstimmung« entstanden. Zu sehen sind darauf vermutlich SS-Leute1 mit einem überdimensionalen Hitler-Porträt und dem bereits zitierten Spruch. KritikerInnen, denen der softe Patriotismus der »Du bist Deutschland«-Kampagne zuwider war, sahen sich durch diesen Fund in ihrer Haltung bestätigt (bspw. Erenz 2005). Allerdings gelang es letztlich nicht, die historische Parallele zur nationalsozialistischen Propaganda entscheidend zu skandalisieren. Insgesamt setzte sich in der Öffentlichkeit wohl eher die Überzeugung durch, dass 1 | So die Auskunft des Stadtarchivars Stefan Mörz im April 2008.
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die Ähnlichkeit zufälliger Natur gewesen sei – trotz des vermeintlichen Bildbeweises. Visualisierung und Macht mögen also wechselseitig noch so sehr aufeinander angewiesen sein: Allmächtig sind die Bilder keineswegs. Vielmehr handelt es sich um rhetorische Instrumente mit einer sehr spezifischen und durchaus begrenzten Wirkmacht. Außerdem, so zeigt das angeführte Beispiel ja auch, stehen in einer funktionierenden Öffentlichkeit Bilder nie alleine, sondern gegen und neben Bilder(n), die sich wiederum mit verschiedensten Zeichenensembles überlagern. Was Bilder wann, wo und wie bewirken, lässt sich insofern politisch nie zweifelsfrei steuern. Bilder ermöglichen den Einstieg in tiefere kulturelle Bedeutungsschichten gerade auf Grund ihrer Oberflächeneigenschaften. Deshalb gibt schon eine kurzer Vergleich der »Du bist Deutschland«-Bilder mit der Ludwigshafener NS-Fotografie vom November 1933 Hinweise auf tief greifende ideologische Unterschiede. Dazu ist zunächst anzumerken, dass die Anzeigenmotive der Kampagne alle dem gleichen Schema folgen (vgl. Speth 2006: 32-35): Eine Fotografie kontrastiert mit der Headline »Du bist« sowie einem prominenten Namen (etwa »Albert Einstein« oder »Max Schmeling«, Frauen kommen selten vor). Das jeweils gewählte Motiv zeigt zwar Menschen in Aktion, aber nicht die genannten Berühmtheiten. So entsteht also eine ironische Text-Bild-Schere. Dieses Stilmittel der Aufmerksamkeitserzeugung wird durch einen Copytext abgefedert (»Du bist wahrscheinlich nicht Goethe – aber wäre es nicht interessant, herauszufinden, ob ein wenig von ihm nicht auch in dir steckt?«). Hinzu kommen noch der Claim »Du bist Deutschland« und das Kampagnenlogo. Auf dem NS-Foto von 1933 stehen gesichtslose Uniformierte unter dem körperlosen Hitlergesicht dafür, dass Deutschland sich in einem (vermeintlichen) Übermenschen personifiziert. »Denn Du bist Deutschland« meint in diesem Fall: »Hitler-Deutschland«. Deshalb steht sein Porträt unangefochten im Zentrum der Bildkomposition und gibt dem entindividualisierten Massenkörper gleichsam ein kollektives Gesicht. Alle Menschen haben sich hier fraglos ein- und unterzuordnen. Die »Du bist Deutschland«-Kampagne des 21. Jahrhunderts hingegen spielt mit der Lächerlichkeit ihres eigenen Pathos. Der Protagonist auf dem »Du bist Max Schmeling«-Motiv jedenfalls ist ein Säugling mit angewinkelten Fäustchen. Und auch die anderen Heldenfiguren sind stets postmodern gebrochen: So etwa ein Traktorfahrer, der eben gerade nicht Michael Schumacher ist, oder ein Maskottchen, dessen Unterhaltungswert offensichtlich nicht mit dem von Günter Jauch mithält. Das neoliberale You can do it gibt sich also selbstironisch und überantwortet die imaginäre Gemeinschaft der Deutschen dem Gestaltungswillen fehlerbehafteter Individuen. Wie künstlich jene kollektive Identität gleichwohl ist, der die »Du bist Deutschland«-Bilder Überzeugungskraft verleihen sollen, das könnte im Vergleich mit weiteren Deutschlandbildern vielleicht deutlicher werden – aber das würde noch sehr viel »genaueres Hinschauen« erfordern.
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L ITER ATUR Becker, Klaus Jürgen/Mörz, Stefan (Hg.) (2003): Geschichte der Stadt Ludwigshafen am Rhein. Band 2. Vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zur Gegenwart, Stadtarchiv Ludwigshafen am Rhein: Ludwigshafen am Rhein. Erenz, Benedikt (2005): Kreatives Grenzland. Zeit online, 25. November 2005, http:www.zeit.de/online/2005/48/denn_du_bist_deutschland (zuletzt aufgerufen am 19. Januar 2010). Freiburg, Friederike/Haas, Daniel (2005): Echo aus der Nazi-Zeit. Spiegel online, 24. November 2005, www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/ 0,1518,386544,00.html (zuletzt aufgerufen am 19. Januar 2010). Leggewie, Claus (2000): Fischer syne Fru und des Kanzlers neue Kleider: Inszenierungen des Politischen – Politik als Theater? In: Ulrich Streeck (Hg.), Erinnern, Agieren und Inszenieren. Enactments und szenische Darstellungen im therapeutischen Prozeß, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 222-245. Leggewie, Claus (1991): Kurze Geschichte der Roten Hand. Ansichten zum Politischen Design. In: Kursbuch 106, S. 141-149. Speth, Rudolf (2006): Die zweite Welle der Wirtschaftskampagnen. Von »Du bist Deutschland« zur »Stiftung Marktwirtschaft«. Arbeitspapier 127 der Hans Böckler Stiftung, www.boeckler.de/pdf/p_arbp_127.pdf (zuletzt aufgerufen am 20. Januar 2010).
Demokratiekulturen
Republikschutz Claus Leggewie/Horst Meier
»Kein Mensch bekämpft die Freiheit; er bekämpft höchstens die Freiheit der anderen.« (Karl Marx 1842 in seiner Polemik gegen die preußische Pressezensur, in: Debatten über die Preßfreiheit, MEW 1,51)
I Demokratien müssen damit leben, dass ihnen, gerade in schlechten Zeiten, ein gewisser Teil der Bürgerinnen und Bürger nicht nur abwartend und passiv gegenübersteht, sondern sie rundweg ablehnt und sich etwas anderes an ihrer Stelle wünscht.1 Auch solche Gegner der Demokratie zählen zu den »Andersdenkenden«, die die Freiheit der abweichenden Meinung genießen. In pluralistischen Gesellschaften gibt es kein vorab normierbares, »politisch korrektes« Denken, auch nicht namens einer »freiheitlichen demokratischen Grundordnung«. Über Grundsätze und Regelwerke friedlichen und gedeihlichen Zusammenlebens muss man sich immer wieder neu verständigen und einigen. In multikulturellen Gesellschaften – in diese Richtung entwickelt sich die Bundesrepublik – kommen weitere Gruppen »Andersdenkender« hinzu, die dem demokratischen Betrieb zuweilen noch ferner stehen als manche alteingesessene Verächter der Demokratie. Ein Teil der Einheimischen hat sich in den letzten Jahren darangemacht, »Fremde« zu drangsalieren, von denen wiederum einige ihre Differenzen in der Bundesrepublik hinein- und mit gewaltsamen Mitteln austragen. Auch diese Herausforderungen muss eine Demokratie bestehen – und die Berliner Republik kann dies auch. Seit 1989 auf Schleichwegen, nicht durch einen konstituierenden Gründungsakt des Souveräns etabliert, hält sie auch radikal Andersdenkende aus. Trotz fremdenfeindlicher 1 | Für den Wiederabdruck in diesem Band wurde die Rechtschreibung aktualisiert.
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Gewalt, trotz Druck von rechts und trotz der Altlasten aus der Zeit des SED-Regimes kann die Bundesrepublik als stabile westliche Demokratie selbstbewusst in die Zukunft blicken – »Weimar-Gefühle« sind nicht angebracht. Wer Gefahren dramatisiert, egal ob von Amts wegen oder »von unten«, schwächt Handlungsbereitschaft und Tatkraft, wo tatsächlich Gefahr im Verzuge ist. 1989 war eine epochale Zeitenwende. Die aus dieser Zäsur erwachsene Berliner Republik kann sich nicht mehr auf ein »Anti« gründen, wie es ihre Vorgängerinnen getan haben. Der althergebrachte bundesdeutsche Antiextremismus kann ebenso wenig Geschäftsgrundlage des vereinigten Deutschland sein wie ein aufgemöbelter Anti-Faschismus aus DDRZeiten. Nicht weit vorauseilender ideologischer Verfassungsschutz, der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit beeinträchtigt, sondern die selbstbewusste Entfaltung der zivilen Gesellschaft stärkt ein demokratisches Gemeinwesen. Über den Wegfall der Kontrapositionen – der NS-Diktatur wie des SED-Regimes – muss nur trauern, wer auch der Dritten Republik eine negative Identität und ein von vornherein eingeschüchtertes Selbstbewusstsein verpassen will. Demokratien sind sich selber Grund genug. II Das heißt nicht, dass die deutsche Demokratie der militanten Fremdenfeindschaft oder einem eventuellen Erstarken antidemokratischer Kräfte tatenlos zuschauen müsste – im Gegenteil. Weder ist der ethnische Bürgerkrieg unabwendbar, noch ist vorprogrammiert, dass eine Demokratie dem Versuch ihrer Abschaffung indifferent gegenüberstehen müsste. Man muss jedoch die Maßstäbe haben und geeignete Instrumente schaffen, damit die Verteidigung der Demokratie nicht genau das Gut in Frage stellt, was sie zu schützen vorgibt: Freiheit und Demokratie selbst. Nicht eine verschwommene innergesellschaftliche Feinderklärung, sondern die Abwehr konkreter Gefahren muss das Meta-Kriterium aller Vorkehrungen zum Schutz der Republik sein. Das bedeutet: Der politische Meinungsstreit ist unbegrenzt, und er endet, wo Gewalt, das Gegenteil von Politik, zum Zuge kommt und üblicherweise die Strafjustiz als Ultima ratio gesellschaftlicher Konfliktregelung ansetzt. Wer immer diese Grenze überschreitet, den trifft die repressive und rechtsstaatlich gebundene Gewalt einer Demokratie. Eine solche Aufgabe bleibt nicht den Behörden der Inneren Sicherheit überlassen. Demokratie als Lebensform basiert auf Regelwerken, die Modalitäten und Formen des politischen Streits ordnen. So verstanden, ist das Grundgesetz eine »Marktordnung« des offenen politischen Wettbewerbs, nicht aber Wertetafel eines Gesinnungs-TÜV, der substantielle Vorgaben im Sinne der »freiheitlichen demokratischen Grundordnung« macht. Wer in diesem Sinne Demokratie wagt, der nimmt notwendigerweise ein Restrisiko in Kauf – es gibt keine politischen Lebensversicherungen. Aber er gewinnt dabei jene radikale Freiheit, die seit jeher das Versprechen der demokratischen Revolution war und das Lebenselixier der offenen Bürgergesellschaft ist. Der Streit der Meinungen ist kein Übel, sondern Bedingung der Freiheit.
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An die Stelle des ideologischen Verfassungsschutzes, der zwischen politischer Form und Inhalt nicht trennen kann, tritt also der Republikschutz. So kann man ein Konzept bezeichnen, in dem die Sicherung der Demokratie stets mit den Bürgerrechten konvergiert. Es bezieht seine Maßstäbe aus den Prinzipien der zu schützenden Form politischer Herrschaft: Freiheit und Gleichheit. Republikschutz vermeidet auch die etatistische Schlagseite des althergebrachten Staatsschutzes, der einzig an der Behauptung staatlicher Ordnung interessiert ist. Soweit die Verteidigung der Demokratie nicht Sache der Bürgerinnen und Bürger selbst ist, bleibt politische Freiheit stets antastbar. Im Zweifel muss zivilgesellschaftlicher Republikschutz sich also ohne den Staat denken lassen. Sonst besteht die Gefahr, dass Freiheit durch das Gewicht bürokratischer Apparate erdrückt wird. III An diesen Maßstäben lassen sich die Maßnahmen zur »Gefahrenabwehr« bemessen – und ihre gegenwärtige institutionelle Praxis kritisieren. Die bundesdeutsche Politik der Inneren Sicherheit zeichnet sich bis in die jüngsten Ansätze zur »Verbrechensbekämpfung« durch eine typische Schieflage aus: Während gegen rabiate Gewalttäter die verfügbaren Mittel von Polizei und Justiz unausgeschöpft bleiben, flüchtet man sich in Gesetzgebungshektik und symbolische Politik, wobei politische Gewaltakte, organisierte Kriminalität, repressive Ausländerpolitik und die Bekämpfung unliebsamer Meinungen besinnungslos zu einem Bedrohungscocktail vermengt werden. Die hastig verschnürten Pakete der Inneren Sicherheit werden damit selbst zu Zeitbomben gegen die Demokratie. Die bequeme Delegation bürgerlicher Sicherheitsbedürfnisse an einen autoritären Etatismus steigert nur die Gefühle der Unsicherheit bei den Bürgern. Auch im Republikschutz muss der Staat »schlank« sein, will er wirklich souverän, das heißt so demokratieschonend wie möglich und so stark wie nötig (re)agieren. Wo er die Samthandschuhe der Toleranz ablegt und die Eisenfaust der Repression überstreift, muss garantiert sein, dass der richtige Gegner mit angemessenen Mitteln getroffen wird. Wer mit Vorliebe vermeintliche Verfassungsfeinde attackiert, hat sein Pulver schon verschossen, wenn »Durchgreifen« tatsächlich angebracht ist. Symbolische Vorfeld-Politik, mit Verbotsandrohungen gegen Politsekten, erst recht mit der weltweit einmaligen Grundrechteverwirkung und der Neuauflage der unseligen Berufsverbote, kann einer Restauration des Nationalsozialismus, sollte sie einmal ernsthaft betrieben werden, nicht beikommen. Vor allem aber: Wirksamen Schutz der von politisch motivierter Gewalt betroffenen Opfer bietet diese Mimikry zuallerletzt. Ersatzweise signalisiert dieses Gefuchtel zwar »dem Ausland« Problembewusstsein – im Inneren aber demonstriert es die ganze Rat- und Hilflosigkeit des realexistierenden Apparats von Staats- und Verfassungsschutz. Verbote sind allein dort angebracht und wirksam, wo von den betreffenden Organisationen tatsächliche Gefahren ausgehen: Verbotsforderungen, die ohne Aussicht auf Erfolg gestellt werden, werten die Betreffenden nur auf oder stilisieren sie zu Märtyrern der fdGO. Statt REP und PDS – immer in
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der zwanghaften Symmetrie und Gleichsetzung, welche die Extremismustheorie gebietet – zu stigmatisieren und mit dem Stempel der präsumtiven Verfassungsfeindlichkeit eine amtliche Wettbewerbsverzerrung (über die Fünf-Prozent-Hürde hinaus) vorzunehmen, kommt es darauf an, sie im demokratischen Wettbewerb leerlaufen zu lassen. Die REP haben ihre totale Inkompetenz längst unter Beweis gestellt und von der Wählerschaft quittiert bekommen; bei neuen Anläufen und Nachfolgeorganisationen wird man es genauso halten müssen. Die PDS wird dasselbe Schicksal ereilen: Sie wird in Wahlkämpfen und offenem Disput auf den Status einer Politsekte zurückgestutzt oder demokratisch eingebunden, basta. So kann man die populistische Brackwasserzone demokratisch rekultivieren, statt ihr durch aufgeregte Debatten über fehlende Grundgesetztreue, womöglich noch in Talkshows, immer neuen Sauerstoff zuzuleiten. IV In diesem Zusammenhang sind nach 1989 die Weichen falsch gestellt worden: Statt den Verfassungsschutz, diesen Inlandsgeheimdienst aus dem Geist des Kalten Krieges, im Westen parallel zu seinem Pendant, dem (ungleich mächtigeren und gefährlicheren) Ministerium für Staatssicherheit, abzuwickeln, hat man ihn nach Osten erweitert und damit den anachronistischen Dualismus der streitbaren Demokratie erneuert. Auch ohne die endlose Kette von Skandalen, Pleiten und Pannen (man denke nur an den V-Mann Schmitt-Solingen, der sicherlich ein größerer Problemfall für die Demokratie war als die Bürschchen, die unter seiner Schulung zu Mordbrennern geworden sind) ist der Verfassungsschutz ein Skandal für die Demokratie, der sich nur dank Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit und neuerdings »islamischer Gefahr« in die Berliner Republik hinüberretten konnte. Als Frühwarnsystem macht er sich unentwegt wichtig, hat aber erwiesenermaßen auf ganzer Linie versagt. Als Geheimdienst ist er in Sachen Republikschutz obsolet und kann durch geeignetere Instrumente ersetzt werden. Als Gesinnungsprüfstelle ist er ein Fremdkörper im politischen Kampf. So bleibt seine Abschaffung auf der Tagesordnung einer sich selbst ernst nehmenden radikalen Demokratie. Denn seine »antifaschistische« Umwidmung heilt den Skandal der konspirativen Aufklärung über Inländer auch nicht. Ebenso ist seine Umwandlung in ein Kommissariat zur Bekämpfung organisierter Kriminalität verfehlt, seine Abmagerung zu einer Einrichtung politischer Bildung oder Öffentlichkeitsarbeit überflüssig. Nicht sachliche Gründe sprechen für den Fortbestand dieses zweifelhaften Instruments der Sicherheitsüberwachung, sondern die Befürchtungen, Demokratie stünde sonst »nackt« und wehrlos da. Dieses »Argument«, lieber etwas Fragwürdiges zu tun als gar nichts, ist keines. Denn hat man sich einmal auf das Kriterium der Gewalt als neutraler Grenze des politischen Kampfes besonnen, kann man von der nebulösen Präventionsideologie, die nur ewig den Anfängen wehrt, die objektiv nicht feststellbar sind, zur effektiven Gefahrenabwehr übergehen. Es ist ein Treppenwitz der streitba-
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ren Demokratie, dass bundesdeutsche Law-&-Order-Politiker jenseits ihrer martialischen Rhetorik keine zugleich effektive und demokratieverträgliche Sicherheitsarchitektur zustande gebracht haben. Dem korrespondiert auf der anderen Seite die Tabuisierung der – horribile dictu? – Politischen Polizei, die es unter dem Namen Staatsschutz als Abteilung der Kriminalpolizei längst gibt. Von ihr werden nicht legale Dissidenten disqualifiziert, sondern politisch motivierte Straftaten, für die das einschlägige Gesetzbuch konkrete Namen und Paragraphen nennt. Wer hier sogleich die Gestapo in Erinnerung ruft und Alarm schlägt, sitzt entweder im Glashaus, wie die abwicklungsreifen Verfassungsschützer, oder verkennt die Bedeutung des staatlichen Gewaltmonopols. Gewiss produziert auch die Politische Polizei seit eh und je Übergriffe und Skandale – naiv zu glauben, man könne der Exekutive das ein für allemal austreiben –, aber sie kann leichter rechtsstaatlich eingehegt und kontrolliert werden als alle Schnüffler der »freiheitlichen Demokratie«. Sie operiert nicht mit warnendem Zeigefinger im ominösen Vorfeld, sondern legt Hand an, wo es brennt. V Die Hauptgefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik geht derzeit von lose gefügten, informellen Gruppen und Cliquen aus, die eine Art Wochenendterrorismus gegen Fremde und Passanten entfalten. Gegen sie muss der Rechtsstaat in der Tat die Zähne zeigen. Auch hier herrscht wieder die bezeichnende Disproportion zwischen Gesinnungsüberschuss und Vollzugsdefizit. Die politische Klasse ruft fast unisono nach schärferen Gesetzen, während die Strafjustiz sich nur mühsam zu einer angemessenen Würdigung der Mordversuche durchringen kann. Denn als solche muss man Brandanschläge gegen Ausländer bezeichnen, wohingegen viele Staatsanwälte, Richter und Strafverteidiger, auch Justizminister einen merkwürdig »verstehenden« Zugang zu den Taten und Tätern suchen. Die Trias von Vergeltung, Spezialprävention und Generalprävention wurde zum Bermudadreieck. In vielen einschlägigen Anklageschriften und Urteilen verschwanden nicht nur die Ansprüche der Opfer, sondern auch der Demokratie auf eine zutreffende Charakterisierung der Anschläge als empfindliche Störung des inneren Friedens – wobei eine adäquate Einstufung der Gewaltakte als Mordversuche eine milde, auf Resozialisierung der überwiegend jugendlichen Gewalttäter bedachte Strafzumessung nicht ausschließt. Weder dürfen Gewalttaten gegen »Fremde« wie Kavaliersdelikte behandelt werden, noch darf eine vom schlechten Gewissen über ihre Mitverantwortung geplagte Öffentlichkeit an den Gewalttätern drakonische Exempel statuieren. Die Strafjustiz, beim Republikschutz nicht anders als in Alltagskonflikten, tritt als Ultima ratio ein, wo andere Mittel versagt haben. Die Magier der Inneren Sicherheit jedoch finden so lange kein Strafmaß, wie Ihnen Maßstäbe zur Beurteilung politisch motivierter Gewalt fehlen. Und hier gilt: Wer Ausländer bedroht oder schädigt, stört den sozialen Frieden mindestens ebenso wie ein Terrorist, der Repräsentanten von Verfassungsorganen oder hochrangige Vertreter der Wirtschaft angreift.
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Der landläufige Vorwurf, eine radikaldemokratische Position führe die Berliner Republik in »wertrelativistische« Weimarer Verhältnisse zurück und liefere sie der neonazistischen Restauration geradezu aus, geht an der Sache vorbei. Die ach so »wehrhafte« Bonner Demokratie hat es in vierzig Jahren ihrer Existenz nicht vermocht, eine klare Position gegenüber dem Nationalsozialismus zu entwickeln. Auch hier kam es zum Systemfehler einer vorgeblich antitotalitär ausgewogenen »Grundordnung«, die auf unzulässige Meinungen und den Kostümnazismus fixiert ist. Das führte zu den bekannten Haarspaltereien über die Frage, ab welchem Neigungswinkel eine ausgestreckte Hand zum strafbaren Hitlergruß wird, das brachte Gesetze wie das wider die Lüge von der »Auschwitzlüge« ein, also problematische und schwer operationalisierbare Versuche, neonazistische Agitation zu stoppen. Dort allerdings, wo der ausdrückliche Anschluss an den Nationalsozialismus erkennen lässt, dass einem neuen Völkermord das Wort geredet wird, wird auch ein radikaler Liberalismus in Deutschland nicht auf das Ansetzen zu diesem Versuch warten, sondern, nicht zuletzt in Rücksicht auf die Überlebenden der Shoah und die Nachkommen der Ermordeten, die Eingriffsschwelle an dieser Stelle senken. Gerade dazu haben sich die Ideologen der streitbaren Demokratie in ihrer geschichtsblinden Ausgewogenheit nicht entschließen können. Auch 1989 haben sie die Gelegenheit verstreichen lassen, nebst anderen Revisionen des Grundgesetzes in ihm eine konsequente Einseitigkeit zu verankern: die strikte Illegalisierung neonationalsozialistischer Politik. Damit würde die Bundesrepublik nicht irgendwelchen »linksextremistischen« oder »neofaschistischen« Umtrieben vorbeugen, worauf das ganze Instrumentarium der Partei- und Organisationsverbote in schöner Symmetrie abzielt, sondern sich mit einem Ausnahmeartikel eine Rückwärtssperre gegen den erneuten Zivilisationsbruch auferlegen. Sich diesen kategorischen Imperativ zu verordnen und Sympathisanten der NS-Vernichtungspolitik die »Meinung« zu verbieten, sie könnten bestimmen, mit welchen »lebenswerten Rassen« sie auf der Welt leben möchten und mit welchen nicht, stünde der Berliner Republik gut an. Nichts bleibt, wie es war? »Berlin« ist nicht »Weimar«, aber auch nicht mehr »Bonn«. Das vereinte Deutschland braucht nicht auf den Antipoden der braunen oder roten Gefahr aufzubauen, sondern gründet in den praktischen Erfahrungen einer halbwegs gelernten Republik und auf den noch unausgeschöpften Potenzen der ostdeutschen Bürgerrevolution. Heute stellt sich die deutsche Frage vorrangig als demokratische Frage. Die Berliner Republik braucht – abgesehen von der eng gefassten Ausnahme gegen Neonationalsozialisten – nicht mehr die Freiheiten anderer einzuschränken, sondern kann ihre eigene Freiheit wagen. Wenn der Schutt der freiheitlichen demokratischen Staatsreligion entsorgt ist, wird sich das Regelwerk der Verfassung auch gegenüber kulturell Fremden und inländischen Ausländern bewähren müssen, indem es sich vom ideologisch überhöhten Fremdenabwehrrecht zum geschmeidigen Regelwerk der Vielvölkerrepublik wandelt. Aber das ist ein weiteres, ein neues Thema.
Falscher Einwurf? Günter Frankenberg
R ÜCKBLICK In der Tagespresse vom 25. Februar 1995 wurde von einem »guten Tag für die Demokratie« berichtet. »Schnell, aber zu spät« habe Bundesminister Kanther die »Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei« (FAP) verboten (Frankfurter Rundschau 25.2.1995: 1, 3f.). Nach seinem soeben verlorenen Wahlkampf bewies er, wie andere Innenminister vor ihm, »hilflose Entschlossenheit« gegenüber geschätzten 430 Neonazis. Ein Schelm, wer Böses dabei dachte. Der Hamburger Innensenator wollte dem nicht nachstehen und verhängte gegen die 30 Mitglieder der »Nationalen Liste« ebenfalls ein Vereinsverbot nach Maßgabe von Artikel 9 Absatz 2 des Grundgesetzes (GG). Das Bundesverfassungsgericht hatte diese Verbote nebst den durch diese ausgelösten Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen insbesondere des Vereinsvermögens, der Propagandamaterialien, aber auch von Armbinden und T-Shirts rechtlich ermöglicht (BVerfG Beschl. v. 23.3.1995 – 2 BvB 1/93 2 BvB 2/93). Es hatte nämlich aus Anlass eines Antrags der Bundesregierung gem. Art. 21 II GG i.V.m. §§ 13 Nr. 2, 43ff. BVerfGG festgestellt, beide Organisationen seien keine Parteien, genössen daher nicht das ohnehin fragwürdige »Privileg«, gemäß Art. 21 II GG durch das Verfassungsgericht höchst selbst für verfassungswidrig erklärt zu werden. Ein guter Tag für die Demokratie? Wohl eher ein Tag für den Staatsschutz alter Art, wenngleich die Verbotsbegründung nicht auf den Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zielte, sondern beiden Vereinigungen zu Recht vorwarf, sie seien in ihren Zielen der NSDAP verwandt, missachteten die Menschenrechte und betrieben ausländerfeindliche und antisemitische Hetze.
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I M R ÜCKSPIEGEL : K RITIK Eben gegen diesen Staatschutz alter Art, diese »kopflose Verteidigung der Demokratie« zogen Claus Leggewie und Horst Meier in ihrer Streitschrift zum »Republikschutz« (1995) energisch zu Felde. An diese Streitschrift und deren Rezension möchte ich nunmehr aus festlichem Anlass erinnern. Ausgangspunkt war damals die nicht neue, aber bis dato auch nicht schlüssig beantwortete Frage, ob es »rationale Maßstäbe« gäbe, »nach denen die Demokratie zu verteidigen wäre, ohne mit ihrer Idee in Widerspruch zu geraten« (ebd.: 16f.). Bevor sich die Autoren auf die Suche nach diesen Maßstäben begaben, »positionierten« sie ihr Unternehmen in rhetorisch deutlichem Abstand zum »autoritären Etatismus« und zur »zivilgesellschaftlichen Idylle« als »Staatsräson der demokratisch verfassten Republik« (ebd.: 18). Den Etatismus führten sie auf gut 270 Seiten eindringlich vor. Von der Idylle, die keiner erklärenden Rede wert zu sein schien, durften wir nur vermuten, dass damit Lichterketten gemeint waren, in denen der Altbundespräsident Richard von Weizäcker, Hand in Hand mit Skinheads, gegen Rassismus demonstriert. Vor die konstruktive Maßstabsarbeit zum Schutz der Republik hat der Herr die mühsame Tätigkeit der Kritik gesetzt. Diese beginnen Leggewie & Meier mit der Rekonstruktion des »Schlingerkurses der Strafjustiz«, setzen sie sodann fort mit einer sorgfältigen Aufarbeitung der Organisationsverbote (»Aktion Wasserschlag«) und der staatlichen Übergriffe auf den Bereich der öffentlichen Kommunikation (Bestrafung der Leugnung des Holocaust) (vgl. Cobler 1985: 159ff., Frommel 1994: 323ff.). Die Kritik gipfelt in einer scharfen Attacke auf die Praxis innerstaatlicher Feinderklärungen nach Maßgabe des Instrumentariums und der »Staatsreligion« der freiheitlich demokratischen Grundordnung.1 Durch eine prägnante Analyse des »Weimar-Syndroms«, die sich auf eine materialreiche Studie von Gusy (1991, s.a. Jasper 1963, Kirchheimer 1981) stützen konnte, widerlegen Leggewie und Meier einmal mehr die Legende von der Wertneutralität und Wehrlosigkeit der Weimarer Republik, die sich selbstmörderisch ihren Verächtern ausgeliefert habe – und daher zur ewig sprudelnden Quelle der Inspiration und Legitimation für den Verfassungsschutz in der zweiten Republik wurde. Weil Bonn (heute: Berlin) nicht Weimar sei, sollte eine »abwehrbereite« bzw. »streitbare Demokratie« etabliert werden, die ihren Feinden, entsprechend dem Diktum des Jakobiners Saint-Just, keine Freiheit gewährt. Die kritischen Passagen gelingen Leggewie & Meier in einer so eindrucksvollen Weise, die hinsichtlich der konstruktiven Vorschläge hohe Erwartungen weckt. Freilich: nicht ohne eine Prise Selbstmitleid (oder ist 1 | Aus der nahezu unübersehbaren, von Leggewie und Meier allerdings selektiv rezipierten Literatur vgl. nur Denninger (1979: 8ff.) m.w.Nachw. und Bundesamt für Verfassungsschutz (1990). Auf die ständige Bericht- und Kritikererstattung in der K J der siebziger und achtziger Jahre darf verwiesen werden.
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es eitle Freude über die eigene analytische Leistung?) schreiben sie am Ende ihres zwar langen, aber kurzweiligen und informativen Durchgangs durch das Feld der inneren Sicherheit und des Verfassungsschutzes: »Auf der Suche nach einem neuen Verständnis von Republikschutz war ein zerklüftetes Terrain des herkömmlichen Sicherheitsdenkens und einer wenig reflektierten Praxis zu erkunden: Neben den Wechselfällen der Tageskonjunktur waren dies die Untiefen des Weimar-Syndroms, das Arkanum der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und der konturlose Extremismusbegriff.« In der Tat. Die Autoren entledigen sich dieser Aufgabe mit einer sprachlichen Leichtigkeit und analytischen Schärfe, mit historischer Anschauung und polemischer Freude, die ihrem Buch eine Karriere als »Renner« bescheren durfte. Es wäre kleinlich, hiergegen einzuwenden, die Formulierungs- und Angriffslust hätte bisweilen um der Präzision willen diszipliniert und zur Vermeidung von Redundanzen gebremst werden können. Wer davon spricht, »der Rechtsstaat müsse Zähne zeigen«, die Verächter der Demokratie gehörten »kunstgerecht unterdrückt«, sollte sich vor Augen führen, wessen politische Metaphorik er sich borgt.2 Keine republikanische jedenfalls.
I M R ÜCKSPIEGEL : K ONSTRUK TION Über irrationale Maßstäbe, nach denen die Demokratie seit 1949 in der Bundesrepublik verteidigt wird, und über rationale Maßstäbe, nach denen sie zu verteidigen wäre, hatten nicht erst Leggewie & Meier nachgedacht.3 Sie befanden sich in bester Gesellschaft. Vorzuwerfen war ihnen nun nicht, dass sie die konstruktiven Beiträge anderer zum (Selbst-)Schutz der Demokratie nicht gebührend würdigten, sondern dass sie ihre Argumentation sehenden Auges in ein Dilemma hineintrieben, aus dem keine noch so gut gemeinte und politisch sympathische Absicht sie befreit. Welches waren ihre innovativen Vorschläge, abgesehen von der unstreitig notwendigen Abschaffung des Verfassungsschutzes und der diesen fadenscheinig legitimierenden »verwitterten Staatsreligion«? Zunächst schlugen Leggewie & Meier im Sinne eines gefahrorientierten Republikschutzes vor, dessen Instrumentarium auf die Abwehr gewalttätiger Aktionen zu justieren. Wer die Regeln des politischen Machterwerbs durch gezielten Bruch der Rechtsordnung verletzt, dem/der soll der »Rechtsstaat die Zähne zeigen«. Wohl nicht nur das: zubeißen sollte und soll er wohl auch. So weit so gut, wenn damit gemeint ist, Verstöße gegen das 2 | Franz-Josef Strauß (ehemaliger Bayerischer Ministerpräsident, Bundesminister und Kanzlerkandidat der CDU/CSU): »Der Rechtsstaat muß Zähne und Klauen haben.« (Südd.Zeitung v. 25.4.1977). 3 | Hinzuweisen ist auf die Urheber des Konzepts der »streitbaren Demokratie«: Loewenstein (1937, 1975) und Mannheim (1951).
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Gewaltverbot seien mit den Mitteln des rechtsstaatlich gezügelten Gewaltmonopols zu ahnden. Allen Ernstes aber hielten die Autoren freilich die Gewaltgrenze für »neutral und berechenbar«, nachdem sie die »wortgewaltige Agitation« vom Odium der aufs Körperliche eingeschränkten Gewalt befreit hatten. Als hätte es niemals die endlosen Debatten über die fragwürdige Unterscheidung von Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen gegeben. Als hätten sich nicht zahllose Richter – darunter auch durchaus kluge – aus Anlass der Strafverfahren gegen Sitzdemonstranten daran versucht, den Gewaltpudding an die Wand zu nageln.4 Als gäbe es nicht im richtigen Leben Situationen, in denen bedrohte Minderheiten aufgrund ihrer besonderen Versehrbarkeit auch massive psychische Pressionen, wie etwa Aufmärsche von Neonazis in jüdischen Wohngebieten, als Gewalt empfinden.5 Mit der Gewalt als vermeintlich berechenbarer Eingriffsschwelle war und ist das folglich eine so klare Sache nicht. Ähnliches gilt für den Satz: »Illegal, das ist was etwas völlig anderes und ungleich Solideres als jene nebulöse Verfassungswidrigkeit, die sich bei einem bestimmten Intensitätsgrad der fdGO-Verneinung ergeben soll« (Leggewie/Meier 1995: 257). Das hätte man in einer Studie über den Schutz der Republik lieber nicht gelesen. Er offenbart eine beachtliche Naivität gegenüber der Unbestimmtheit des Rechts, ein Missverständnis der Verfassung (auch diese ist ein Gesetz und hat Teil an der Legalität) wie auch die nunmehr ungezügelte Sehnsucht, das Dilemma eines demokratischen Selbstschutzes ohne Suspendierung von Bürgerrechten einer schlichten Lösung zuzuführen. So ließen sich Leggewie & Meier dazu verleiten, am Ende eine Reihe ihrer kritischen Einsichten zu kompromittieren. Eben noch hatten sie den Blick dafür geöffnet, dass die (vor allem nichtdeutschen) Opfer von Gewalttaten dort, wo sie Schutz suchen, nicht selten selbst in die Hände von Gewalttätern fallen – in den Amtsstuben der Polizei; dass der Verfassungsschutz durch die (auch nach der Publikation ihres Buches munter weiter betriebene) Ausweitung seiner Kompetenzen seit langem die Grenzen zu einem innerstaatlichen Geheimdienst überschritten hat; dass sich die Strafjustiz bei der Aburteilung von Straftaten mit »rechtsextremistischer Motivation« auf einem Schlingerkurs befindet. Gleichwohl dienen uns die Autoren als institutionellen Ausdruck des neuen Geistes einer nicht-hilflosen Entschlossenheit doch eine Art Politischer Polizei an. Wer hiergegen die Vorgeschichte amtlicher Gesinnungsschnüffelei in Anschlag bringen wollte, müsste sich wohl vorhalten lassen, Bonn-Berlin sei nicht Karlsbad. Was unstreitig zutrifft. Und im Übrigen, trugen sie vor, 4 | Zum Gewaltbegriff im Strafrecht grundlegend Brink/Keller (1983). Weitere Nachw. BVerfGE 73, 203/232f. Zur Nötigungsrechtsprechung anlässlich der Sitzdemonstration vgl. Frankenberg (1985), Kramer (1988) und zuletzt Frommel (1989). 5 | Leggewie/Meier weisen selbst auf den Fall Skokie (Illinois, USA) hin, dem eben diese Konstellation zugrunde lag. Dazu Hentoff (1993).
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handele es sich um eine »zu Unrecht dämonisierte Institution«, die sich, mit »reflektiertem Misstrauen« betrachtet, rechtsstaatlich domestizieren lasse. Leggewie & Meier verlegten sich hier, in der Rückschau auf Kompetenzverschränkungen und informationelle Verbünde wird das deutlich, auf fromme Wünsche: »Die Trennung von Politischer Polizei und den herkömmlichen Geheimdiensten … muss selbstverständlich gewahrt bleiben« (Leggewie/Meier 1995: 272). Selbstverständlich. Nur wie? Nicht jede Politische Polizei, das ist zuzugeben, muss sich zur Gestapo entwickeln. Und es wäre gewiss ein Fortschritt, den jetzigen »polizeilichen Staatsschutz« und die Staatsschutzdelikte umzuwidmen: »Wer sein Haus anzündet, um bei der Versicherung abzukassieren, ist ein Fall für das Betrugsdezernat; wer die Häuser von Fremden anzündet, weil er ›Stress mit Ausländern‹ hat, dagegen ein Fall für den Staatsschutz« (ebd.: 266). Allerdings: das Strafgesetzbuch hält die angemessenen Bezeichnungen bereit für fremdenfeindliche, rassistische, antisemitische Gewalttaten – Mord, Totschlag, Brandstiftung, Körperverletzung etc. Warum soll es bei der Aburteilung (jenseits der Vorsatzprüfung) oder bei der Verbrechensaufklärung auf das »Selbstverständnis und die Motivlage der Tatverdächtigen« ankommen, um »politisch motivierte« Delikte identifizieren zu können? Man durfte Leggewie & Meier damals fragen und wird auch heute noch fragen dürfen, welcher Teufel sie geritten hat, mit der Politischen Polizei eine Institution auf Hochglanz zu polieren, die historisch nirgendwo und niemals – auch in Weimar nicht – ihre Republikfreundlichkeit unter Beweis gestellt hat, und die gleichsam von Amts wegen stets veränderungsfeindlich agiert. Dass sich die polizeiliche Verteidigung des gesellschaftlichen und politischen Status quo »listigerweise als Stabilität dynamischer Veränderungspotentiale entpuppen« werde, das glaube, wer will, verkaufe dies aber bitte nicht als demokratischen Republikschutz.
S TA ATSR ÄSON UND R EPUBLIKSCHUT Z Damit nicht genug, schlagen Leggewie & Meier am Ende auch noch eine »eng verstandene Ausnahme des gefahrenorientierten Republikschutzes vor«. Niemand wird ihnen widersprechen, dass dem organisieren Antisemitismus und dem Wiederaufleben der NSDAP energischer, als das bisher geschieht, entgegenzutreten ist. Hier wäre jedoch die Bürgervernunft, nicht die Staatsräson zu aktivieren. Warum aber die »rostigen Schwerter« des kalten Krieges neu schleifen? Eben das aber tun die Autoren, wenn sie – nach einer entsprechenden Verfassungsänderung – Parteien verbieten wollen, »deren Mitglieder systematisch die Regeln des Meinungskampfes verletzen und dadurch gegen Strafgesetze verstoßen«, bzw. die aufgrund ihrer antisemitischen Zielsetzung als Neugründungen der NSDAP »in jeglicher Form« zu qualifizieren sind (dazu Meier 1993). Die Probleme einer solchen in das Grundgesetz eingebauten »zivilisatorischen Rück-
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wärtssperre« liegen auf der Hand. Ganz abgesehen davon, dass sich die zu einer Verfassungsänderung erforderliche parlamentarische Mehrheit angesichts der traditionellen Orientierung an einer schematischen linksrechts-extremistischen Ausgewogenheit kaum auf diese »einzige, nämlich antinazistische Durchbrechung des politisch neutralen Republikschutzes« einlassen wird. Was wäre neben der falschen Symbolik eines weiterhin, wenn auch eingeschränkter als derzeit in Art. 18 und 21 II GG verfassungsmäßig verbürgten Misstrauens in die Bürgerschaft, so die letzte Frage, der praktische Ertrag dieser Sperre gegen den Rückfall in eine nun neonazistische Barbarei? Politische Aktivitäten der Neonazis unterfielen dem unmittelbaren Zugriff der Exekutive. »Nach dem derzeitigen Stand der Dinge«, schrieben Leggewie & Meier, könnten »allenfalls Sekten vom Zuschnitt der FAP« verboten werden. Das ist aber bereits am 24. Februar 1995 geschehen. Und zwar mit Hilfe der »rostigen Schwerter« des kalten Krieges. Das wird, wenn die Vorschläge von Leggewie & Meier hier realisiert werden, anders sein: Namens und im Auftrage einer »Staatsräson der demokratisch verfassten Republik« zeigt dann der Rechtsstaat endlich Zähne. Seine dritten, wie hinzuzufügen wäre.
N ACHTR ÄGLICH : F ALSCHER E INWURF ? Die eben vorgetragenen kritischen Bemerkungen möchte ich heute, nicht so sehr wegen des festlichen Anlasses, sondern nach den schmerzlichpeinlichen Erfahrungen bei dem Versuch, die NPD für verfassungswidrig zu erklären (BVerfGE 107, 339 dazu: Bull 2003: 197ff.), modifizieren und schlage einen Perspektivenwechsel vor: von der Staatsräson zur Republikräson, welche die von Leggewie & Meier ein wenig vernachlässigte Zivilgesellschaft – oder, wenn man so will, die Volkssouveränität – in den Blick und in Pflicht nimmt (ausführlich dazu: Frankenberg 2003: Kap. II, V). Der Ausgangspunkt: Volkssouveränität ist als demokratische doppelt codiert. Sie hat eine empirische und eine normative Komponente. Die normative ist noch einmal doppelt codiert: nämlich als Pflicht und als Recht zu lernen. Wird Souveränität über den Leisten von Lernprozessen geschlagen, dann verflüssigt und temporalisiert sich diese ehedem monolithisch-starre Größe. Das Risiko falscher, weil zu früh abgebrochener Lernprozesse tritt hervor. Gegen das Risiko des Lernens und der Experimente mit ungewissem Ausgang wie ebenso gegen die Risiken »falscher« Lernprozesse können sich demokratische Gesellschaften nicht versichern. Allerdings sind sie durch die Pflicht zum zukunftsorientierten Lernen gehalten, alle nur möglichen prozeduralen und institutionellen Vorkehrungen zu treffen, die ein Höchstmaß an Offenheit gewährleisten. Unbeschadet sowohl denkbarer als auch nahe liegender kritischer Einwände, lässt sich das so genannte »Parteienprivileg«, das ein Parteienver-
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bot einem Spruch des Bundesverfassungsgerichts vorbehält, prima facie als eine solche Vorkehrung begreifen. Zu den bedrückendsten und nachhaltigsten Lernerfahrungen des deutschen Volkes gehören die Liquidierung der ersten Republik durch den Nationalsozialismus und die singulären Massenverbrechen des nationalsozialistischen Terror-Regimes. Aus diesen Erfahrungen durfte der Souverän als Verfassungsgeber grundsätzlich seine normativen Schlüsse ziehen, ohne damit die Codierung seiner demokratischen Entscheidungsmacht zu durchbrechen und die Selbstbindung sowie den demokratischen Experimentalismus zu kompromittieren. Der Verfassungsgeber war berechtigt, das abstrakte Prinzip Demokratie historisch und politisch einzubinden, ohne sich sogleich den Vorwurf zuziehen, selbstwidersprüchlich gehandelt zu haben. Voreilig wäre allerdings die Annahme, die konstitutionelle Verankerung einer »abwehrbereiten« oder »streitbaren Demokratie« mit ihren verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Konkretisierungen sei damit als Resultat historischen Lernens und als legitime Ein-Bindung jeder Kritik enthoben. Lehren und Praktiken der »abwehrbereiten Demokratie« sind vielmehr – mit Leggewie & Meier – daraufhin kritisch zu befragen, ob und inwieweit sie dem Grundsatz allgemeiner Selbstbestimmung in den Rücken fallen und die für eine Zukunftsorientierung erforderlichen politischen Lernprozesse und Experimente abschneiden. Diese Befragung wird im Folgenden an der Praxis der Parteiverbote in der Bundesrepublik und den theoretischen und dogmatischen Argumenten illustriert, die diese rechtfertigen sollen.6 Bei Parteiverboten handelt es sich, das dürfte unstreitig sein, gemäß der klassischen Definition Otto Kirchheimers um Akte politischer Justiz (Kirchheimer 1981: 186ff.). Ebenso unstreitig berühren sie die zentralen Voraussetzungen demokratischer Selbstbestimmung, nämlich unmittelbar die Freiheit politischer Organisation und mittelbar die Freiheit politischer Kommunikation, nämlich die Meinungs- und Versammlungsfreiheit: Für verfassungswidrig erklärte Parteien werden aufgelöst. Regelmäßig wird ihr Vermögen eingezogen. Ferner ist ihnen untersagt, Ersatzorganisationen zu bilden. Ihrer Programmatik und Propaganda werden der Schutz und die Prämien der Legalität entzogen. Folglich müssen Parteiverbote in einer Demokratie einen Rechtfertigungszwang auslösen. Diesen Zwang belegt die kaum zu überschauende verfassungsrechtliche Literatur zu Art. 21 Abs. 2 GG, die sich einer eher libertären oder einer eher protektionistischen Position zuordnen lässt. Das übergreifende Konzept und die einzelnen Instrumente der »abwehrbereiten Demokratie« tragen den Protektionismus gleichsam auf der 6 | Ich nehme dabei Unterscheidungen auf, die ich im NPD-Verbotsantrag des Bundestages gemeinsam mit Wolfgang Löwer entwickelt habe und die von Peter Niesen unter Rekurs auch auf diesen Antrag weiter ausdifferenziert worden sind. Hinsichtlich der nachfolgenden Überlegungen verweise ich auf Niesen (2002).
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Stirn. Allerdings wendet uns die im Grundgesetz verankerte »abwehrbereite Demokratie« kein leicht lesbares Gesicht zu. Sie war und bleibt als Gesamtkonzept wie auch in ihren Ausprägungen ebenso interpretationsbedürftig wie höchst umstritten. Zwangsläufig verschiebt und markiert jede Deutung die Stoßrichtung und Grenzen des Protektionismus bzw. der Toleranz für gesellschaftliche Lernprozesse. In Hinsicht auf die Verankerung und Praxis der »abwehrbereiten Demokratie« in der Bundesrepublik lassen sich drei markante Interpretations- und Rechtfertigungsmuster oder, wenn man so will, Paradigmen unterscheiden. Diese nehmen, wie im Folgenden gezeigt wird, unterschiedliche Güter in Schutz und lassen sich von unterschiedlichen Vorstellungen der Gefahrenabwehr leiten. Zu unterscheiden sind: der AntiExtremismus als Nebenverfassung, der negative Republikanismus als Gegenverfassung und schließlich eine zivilgesellschaftliche Konzeption von Abwehrbereitschaft. Der Anti-Extremismus der 50er und 60er Jahre verlagert hyperpräventiv den politischen Ordnungsschutz in einen Bereich vor, in dem von einer greifbaren Gefährdung der universalistischen Kernelemente von Demokratie noch nicht die Rede sein kann. Erscheint das frühzeitige Abschneiden von Lernprozessen in der Gründungsphase der bundesrepublikanischen Demokratie vielleicht gerade noch erklärbar, so entbehren entsprechende Rechtfertigungen in einer konsolidierten und vergleichsweise umsturzresistenten Demokratie jeglicher Durchschlagskraft. In den 90er Jahren findet (vielleicht auch deshalb) ein Paradigmenwechsel statt: Mit dem Übergang vom Anti-Extremismus zum Anti-Nationalsozialismus, dessen moderate Variante unter anderem auch Leggewie & Meier vertreten, verändert sich die Blick- und Zielrichtung der »Abwehrbereitschaft«. Sie tritt organisierten Versuchen entgegen, eine nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« auf der Grundlage eines aggressiven Antisemitismus und Rassismus wieder zu installieren, und entzieht ihnen die Prämien der Legalität. Dieses Paradigma bezieht also allein aus der kollektiv erfahrenen Geschichte einer Gesellschaft seine Legitimität und bringt eine spezifische Lerngeschichte zur Sprache, die in einer Einschränkung des Zugangs zur öffentlichen Sphäre oder des Verbleibs darin, also einer Einschränkung des republikanischen Prinzips (dazu Frankenberg 2001), zur Geltung kommt. Das Paradigma einer »zivilgesellschaftlichen« Einhegung von Lernprozessen und politischen Risiken lässt den abstrakten und (hyper)präventiven Ordnungsschutz hinter sich und geht auch über die historische Orientierung und Haftung hinaus. Es zielt darauf ab, die agonale Demokratie – oder geläufiger: die demokratische Streitkultur – abzusichern. Damit geraten organisierte Ansätze in den »Abwehr-Blick«, welche die grundlegenden Konfliktregeln zu Lasten bestimmter gesellschaftlicher Gruppen in gravierender Weise verletzen: also Parteien, die, erstens, »aufs Ganze gehen« und keine Beschränkung der Konfliktmethoden wie das Gewaltverbot anerkennen, und, zweitens, die Kontrahenten im Konflikt
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mit Feinderklärungen überziehen, drittens den demokratischen Kampf in eine bürgerkriegsähnliche Situation umwidmen und ihren »Feinden« handgreiflich die Menschenrechte nehmen – also nicht nur verbal die horizontale Ebene der Gleichheitsgesellschaft verlassen. Das zivilgesellschaftliche Paradigma ist ersichtlich breiter ausgelegt als seine Vorläufer, womit sich die Generalisierungsgefahr erhöht. Es konzentriert sich jedoch auf die fundamentalen Bedingungen, unter denen die allfälligen sozialen Konflikte ausgetragen werden, wodurch im Gegenzug eine restriktive Anwendung der »Abwehrbereitschaft« gesichert werden soll. Soziologischer Ausgangspunkt dieses Paradigmas ist die Integration durch Konflikt. Verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt ist die in das demokratische Prinzip eingelassene, wechselseitige Verpflichtung aller Bürgerinnen und Bürger, die Integrität demokratischer Prozeduren und Institutionen zu wahren, um die legitimen Interessen vor allem der überstimmten Minderheiten zu schützen. Das zivilgesellschaftliche Paradigma geht also von der Prämisse aus, dass das normativ und institutionell komplexe Gebilde einer Demokratie nur auf der Basis einer minimalen Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zur wechselseitigen Anerkennung als Gleiche Bestand haben und sich entwickeln kann (vgl. Preuß 2002, kritisch dazu: Ladeur 2002). Es verknüpft Toleranz mit dem Prinzip reziproker Anerkennung. Diese Bestands- und Entwicklungsbedingungen werden vor allem durch Gewalt, Hass, Rassismus und Antisemitismus untergraben. Für diese Ausbrüche aus der Demokratie muss eine sich als demokratische verstehende Gesellschaft daher eine gesteigerte Sensibilität entwickeln. Wann welches Einschreiten angemessen oder geboten ist, folgt allerdings einem deutungsoffenen Skript, das sich vom Grundsatz der Subsidiarität, von den Regeln abgestufter Toleranz und reziproker Anerkennung informieren lässt. Zunächst wird man auf Diskussion und Aufklärung, auf Selbstheilung und Selbsthilfe, wie etwa den eher pathetisch so genannten »Aufstand der Anständigen«, auf demokratische Selbstkontrolle und sozialpädagogische Interventionen setzen. Das ist den Kritikern von Verboten (insbesondere Wolf 2002/Grimm 2002) ohne weiteres zuzugeben. Wo jedoch genuin zivile Abhilfe nicht möglich oder nicht ausreichend ist, spricht bei gravierenden Verletzungen demokratischer Lebensformen – wie etwa der NPD-Einrichtung von »Angsträumen« und »national befreiten Zonen«, in denen Nichtdeutsche terrorisiert und aus denen sie vertrieben werden, – wenig gegen eine individuelle und qua Organisation kollektive Haftung in Gestalt strafrechtlicher Sanktionen. Weiter gehende verfassungsrechtliche Sanktionen in Gestalt von Organisations- und Parteiverboten können dann nicht ausgeschlossen sein, wenn sowohl das Strafrecht sich als ohnmächtig erweist als auch demokratische Argumente ins Leere laufen und die alltäglichen Missachtungen, Verfolgungen und Verletzungen unter dem Deckmantel der Legalität organisiert betrieben werden. Weder die »Ordnung« noch die Mehrheit der Nichtbetroffenen,
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die den Tenor vieler von Opportunität informierter wie auch prinzipieller Verbotskritiken (vgl. Meier 1993/ebd. 2002: 23f., 27) zu diktieren scheint, sondern die Opfer haben ein Recht darauf, dass einer antisemitischen oder rassistischen Einschüchterungspropaganda und Verfolgungspraxis das Wasser abgegraben und diese nicht mit dem Gestus gemütlicher Radikalität als unangenehmer, aber zu tolerierender Teil demokratischer Normalität hingenommen werden. Freilich: das richtige Maß zu finden und den richtigen Zeitpunkt zu wählen für die jeweils angemessene Intervention, ist eine Frage von trial and error. Womit wir wieder am Anfang wären. Beim lernenden Souverän, der ein Recht auf Irrtum hat, allerdings auch eine Pflicht, gravierende Irrtümer nach Möglichkeit zu vermeiden. Zu den vermeidbaren Irrtümern gehört, Gefahren erst dann für relevant zu halten, wenn die zahlenmäßige Mehrheit unmittelbar betroffen scheint.
L ITER ATUR Brink, Josef/Keller, Rainer (1983): »Politische Freiheit und strafrechtlicher Gewaltbegriff. Kritische Justiz 2/1983, S. 107-126 Bull, Hans Peter (2003): Verfehltes Verfahren, Niederlage der abwehrbereiten Demokratie oder Sieg der Toleranz?. In: Martin H.W. Möllers/Robert Chr. van Ooyen (Hg.): Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2002/2003, Frankfurt a.M.: Verlag für Polizeiwissenschaft. Bundesamt für Verfassungsschutz (Hg.) (1990): Verfassungsschutz in der Demokratie. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis. Köln: Carl Heymanns. Cobler, Sebastian (1985): Das Gesetz gegen die »Auschwitz-Lüge«. Anmerkungen zu einem rechtspolitischen Ablasshandel. Kritische Justiz 18, S. 159-170. Denninger, Erhard (1979): Verfassungstreue und Schutz der Verfassung. VVDStRL 37, S. 7. Dietz, Simone (1995): Die Lüge von der »Auschwitzlüge« – Wie weit reicht das Recht auf freie Meinungsäußerung? Kritische Justiz, S. 210-222. Frankenberg, Günther (2003): Der lernende Souverän« und »Tocquevilles Frage«. In: ders.: Autorität und Integration. Zur Grammatik von Recht und Verfassung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 46-72. Frankenberg, Günther (2001): Art. 20 Abs. 1-3 I ›Republik‹. In: Erhard Denninger/Wolfgang Hoffmann-Riem/Hans-Peter Schneider/Ekkhart Stein (Hg.): Alternativkommentar zum Grundgesetz II. 2. Aufl. Berlin: Neuwied, S. 1-19. Frankenberg, Günther (1985): Passive Resistenz ist keine Nötigung. Kritische Justiz 3/1985, S. 301-324. Frommel, Monika (1995): Fremdenfeindliche Gewalt, Polizei und Strafjustiz. Kritische Justiz, S. 323ff. Grimm, Dieter (2002): Über den Umgang mit Parteiverboten. In: Claus
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Leggewie/Horst Meier (Hg.): Verbot der NPD? Oder Mit Rechtsradikalen leben? Die Positionen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 138-144. Gusy, Christoph (1991): Weimar – Die wehrlose Republik? Verfassungsschutzrecht und Verfassungsschutz in der Weimarer Republik, Tübingen: Mohr. Hentoff, Nat (1993): Free Speech for Me – But Not for Thee. How the American Left and Right Relentlessly Censor Each Other, New York: Harper Collins. Jasper, Gotthard (1963): Der Schutz der Republik. Studien zur staatlichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik 1922-1930, Tübingen: Mohr Siebeck. Kirchheimer, Otto (1981): Politische Justiz. Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt. Ladeur, Karl H. (2002): Die Rechten und das Recht – eine Warnung vor der Zivilgesellschaft. In: Claus Leggewie/Horst Meier (Hg.): Verbot der NPD? Oder Mit Rechtsradikalen leben? Die Positionen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 120-125. Leggewie, Claus/Meier, Horst (1995): Republikschutz. Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie. Mit zwei Exkursen von Alexander Molter und Wolfgang Stenke, Reinbek: Rowohlt Verlag. Loewenstein, Karl (1937): Militant Democracy and fundamental Rights. The American Political Science Review XXXI, 3, S. 416ff. Loewenstein, Karl (1975): Verfassungslehre, Tübingen: Mohr-Siebeck, 3. Aufl. Mannheim, Karl (1951): Diagnose unserer Zeit. Gedanken eines Soziologen, Zürich/Wien/Konstanz: Europa Verlag. Meier, Horst (2002): ›Ob eine konkrete Gefahr besteht, ist belanglos‹. Kritik der Verbotsanträge gegen die NPD. In: Claus Leggewie/Horst Meier (Hg.): Verbot der NPD? Oder Mit Rechtsradikalen leben? Die Positionen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 14-29. Meier, Horst (1993): Parteiverbote und demokratische Republik: zur Interpretation und Kritik von Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes, Baden-Baden: Nomos. Narr, Wolf-Dieter (2002): Weshalb ich als radikaler NPD-Gegner fast ebenso radikal gegen ein Verbot derselben votiere. In: Claus Leggewie/Horst Meier(Hg.): Verbot der NPD? Oder Mit Rechtsradikalen leben? Die Positionen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 126-131. Niesen, Peter (2002): Äußerungsfreiheit und kultureller Pluralismus. In: Joachim Renn/Jürgen Straub/Shingo Shimada (Hg.): Übersetzung als Medium des Kulturverstehens und sozialer Integration, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 237-272. Preuß, Ulrich K. (2002): Die empfindsame Demokratie. In: Claus Leggewie/Horst Meier (Hg.): Verbot der NPD? Oder Mit Rechtsradikalen leben? Die Positionen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 104-119.
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Von »Islamkritik« und »Islamofaschismus«: Wieso zivilgesellschaftlicher Republikschutz gerade heute gebraucht wird Bernd Sommer
R EPUBLIKSCHUT Z DAMALS Es liegt auf der Hand: Die Frage, wie sich eine freiheitliche und demokratische Gesellschaftsordnung »systemkonform« – also mit freiheitlichen und demokratischen Mitteln – gegen ihre Feinde verteidigen lässt, ist auch 15 Jahre nach dem Erscheinen von »Republikschutz« hoch aktuell. Vielleicht ist sie heute sogar noch akuter als Mitte der 1990er Jahre. Der Anlass für Claus Leggewie und Horst Meier über einen »zivilgesellschaftlichen Republikschutz« anstelle eines »ideologischen Verfassungsschutzes« (Leggewie/Meier 1995: 343) nachzudenken, war vor allem die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus in Deutschland: Nach wiederholten Wahlerfolgen der Partei »Die Republikaner« wurde öffentlich über ein Verbot der REP diskutiert; zugleich sind als Reaktion auf eine Serie von rechtsextrem motivierten Übergriffen Anfang der 90er Jahre verschiedene neonazistische Gruppierungen wie die »Wiking-Jugend« (WJ) oder die »Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei« (FAP) verboten worden. Die Option auf Partei- und Organisationsverbot, aber auch die Möglichkeit der Verwirkung bestimmter Grundrechte sind Ausdruck eines historisch begründeten deutschen Sonderfalls des demokratischen Verfassungsstaats, der gegenüber seinen Feinden »wehrhaft« oder »streitbar« sein sollte. In Abgrenzung zu diesem Konzept der »wehrhaften Demokratie« beschrieben Claus Leggewie und Horst Meier 1995 den »Republikschutz« als Aufgabe der Zivilgesellschaft und als Modell, »in dem die Sicherung der Demokratie stets mit den Bürgerrechten konvergiert« (ebd.). Die Welt hat sich seit 1995 gewandelt. Als Reaktion auf islamistischen Terrorismus sowie einem, vor allem über das Internet verbreiteten, radikalen politischen Islam und »Cyber Jihad« hat die Gefahr, zum »Schutze der Freiheit« Freiheits- und Bürgerrechte zu beschneiden, nicht nur an Brisanz gewonnen, sondern sich auch generalisiert. Nicht mehr ausschließ-
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lich in Deutschland, auch in anderen westlichen Demokratien sind antiliberale Tendenzen, die den Teufel mit dem Belzebub auszutreiben suchen, sichtbar geworden. Hier ist nicht der Ort, um auf die einzelnen Entwicklungen en detail einzugehen, aber die Ausweitung der Befugnisse verschiedener Sicherheitsbehörden im Zuge der Antiterrorgesetzgebung, die Infragestellung des Folterverbots sowie die zu beobachtenden Tendenzen zur Umformung des Rechts- in einen Präventivstaat können hierfür als exemplarisch gelten. Damit ist die heutige Entwicklung aber noch nicht ausreichend beschrieben: Bemerkenswert an den aktuellen Diskussionen ist, dass nicht nur bei den staatlichen Sicherheitsakteuren, sondern auch und insbesondere in der breiten Öffentlichkeit die Vorstellung virulent ist, im Namen und zum Schutze »der Toleranz« intolerant sein zu dürfen, es sogar sein zu müssen.
I SL AMFEINDLICHKEIT IM WWW Besonders radikal finden sich derartige Argumentationen auf sogenannten islamkritischen Weblogs, die sich seit einigen Jahren einer großen Beliebtheit im Internet erfreuen. Internetseiten wie »Die Grüne Pest« (http://die-gruene-pest.com), »Stop Islam« (www.stop-islam.de), oder »Akte Islam. Für Europa – gegen Eurabien« (www.akte-islam.de), für die sich der ehemalige FAZ-Journalist Dr. Udo Ulfkotte verantwortlich zeichnet, finden täglich mehrere tausend Leser. Zu den größten deutschsprachigen islamfeindlichen Blogs zählt die 2004 gegründete Webseite »Politically Incorrect« (PI), die nach eigenen Angaben täglich bis zu 60.000 Leser und insgesamt schon über 28 Millionen Besucher zählt (vgl. http:// pi-news.net [eingesehen am 18.1.2010]). Entsprechend der eigenen Zielsetzung, »gegen die Islamisierung Europas« zu sein, und sich gleichzeitig »für Grundgesetz und Menschenrechte« einzusetzen – wie es im Banner der Webseite heißt –, wird auf PI ein radikal essentialisiertes Bild vom Islam als gewalttätige, menschenrechtsfeindliche und nach Herrschaft strebenden Religion verbreitet. Als Beleg für diese These tragen sogenannte Spürnasen aus dem schier unbegrenzten Fundus des World Wide Web alle nur denkbaren Gräueltaten zusammen, die tatsächlich oder vorgeblich im Namen des Islam begangen werden, während ihrem Bild widersprechende Ereignisse oder Verlautbarungen ignoriert werden oder Muslimen als eine Strategie der Taqiyya (Täuschung) ausgelegt wird, um letztendlich doch die Herrschaft in Europa zu erlangen. Dem Kampfbegriff des »Islamofaschismus«, der die islamische Religion als grundsätzlich totalitäre Ideologie diffamiert, kommt in dieser Argumentation eine zentrale Bedeutung zu: Kampagnen gegen Moscheebauvorhaben können so mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus gleichgesetzt und die »Islamkritiker« vor dem Vorwurf des Rassismus geschützt werden (vgl. Shooman 2008: 72).
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I SL AMFEINDLICHKEIT IM M AINSTRE AM Nun ließe sich einwenden, dass es sich bei den islamfeindlichen Weblogs um rechtspopulistische Randerscheinungen handele, die zwar aufgrund ihrer Popularität ernst zu nehmen sind, aber letztendlich Randerscheinungen blieben. In der Tat sind monothematische Internetportale wie »Politically Incorrect« mit ihrer kruden Aufmachung und Rhetorik nur bedingt mainstreamfähig. Gleichwohl sind die dort verbreiteten Argumentationen auch außerhalb der radikal islamfeindlichen Internetszene populär. Ein Bindeglied zwischen islamfeindlicher Blogosphäre und Mainstream stellt die Internetseite »Achse des Guten« (www.achgut.com) dar, auf der u.a. der »Spiegel«-Autor Henryk M. Broder oder die »Welt«Journalisten Michael Mirsch und Dirk Maxeimer bloggen. Die »Achse des Guten« – der Name ist eine Umkehrung der vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush ausgemachten »Achse des Bösen« – hat sich die Anliegen der amerikanischen Neocons zu eigen gemacht, was bedeutet, dass sich neben rabiater »Islamkritik« vor allem klimaskeptische Einlassungen auf der »Achse« finden. Auch wenn hier die Islamfeindlichkeit weniger aggressiv formuliert wird als auf Blogs wie PI (wo Personen mitunter auch körperliche Gewalt angedroht wird), ist das Argumentationsmuster identisch: Bei »dem Islam« handele es sich um eine vormoderne, reaktionäre Ideologie, die sich mit den Werten einer freiheitlichen Demokratie grundsätzlich nicht vertrage. Zudem wird das Bild eines schwächelnden, sich zugunsten muslimsicher Dominanz selbst aufgebenden Westens gezeichnet, der vergleichbar mit den europäischen Mächten am Vorabend des Zweiten Weltkriegs eine Appeasement-Politik gegenüber dem »Islamofaschismus« vertrete. Entsprechend euphorisch ist von Henryk M. Broder – der auch seine letzten öffentlichkeitswirksamen Publikationen »Hurra, wir kapitulieren« (2006)1 und »Kritik der reinen Toleranz« (2008) dem angeblichen Appeasement Europas widmete – das Schweizer Minarettverbot begrüßt worden. In seinem diesbezüglichen auf der »Achse des Guten« veröffentlichten Text »Ein hoch auf die direkte Demokratie!« heißt es: »Die Schweizer sind die erste europäische Nation, die sich in einer freien Abstimmung gegen die Islamisierung ihres Landes entschieden hat. Nicht gegen die Religionsfreiheit, nicht gegen Lokale, in denen halal gegessen wird, nicht gegen den Islam als Religion. Nur gegen eine Asymmetrie, die auch in anderen Ländern als naturgewollt hingenommen wird. Moslems dürfen in Europa Gebetshäuser bauen, Christen in den arabischislamischen Ländern dürfen es nicht (von den Juden und anderen Dhimmis nicht zu reden). In Afghanistan und Pakistan droht Konvertiten die Todesstrafe, Touristen dürfen nach Saudi-Arabien nicht einmal Bibeln im Gepäck mitführen. Das sind Zustände, die nicht toleriert werden können. 1 | »Hurra, wir kapitulieren. Von der Lust am Einknicken« wurde beispielsweise auch von der Bundzentrale für politische Bildung (bpb) verlegt.
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Ab jetzt werden Geschäfte nur noch nach dem Tit-for-tat-Prinzip gemacht. So wie zwischen den Regierungen Slots für die Fluggesellschaften ausgehandelt werden, werden jetzt auch »Landerechte« für den Bau von religiösen Einrichtungen vereinbart. Natürlich nicht im Verhältnis eins zu eins, aber grundsätzlich. Wenn es in Bonn eine König-Fahd-Akademie geben kann, die nicht der Schulaufsicht untersteht, muss es in Riad oder Jedda eine Evangelische, eine Katholische oder eine Akademie für Theorie und Praxis des Atheismus geben können. Wenn iranische Frauen in Vollverschleierung durch München flanieren können, müssen europäische Frauen in der Kleidung ihrer Wahl durch Teheran oder Isfahan gehen dürfen, ohne von den notgeilen Greifern der Sittenpolizei belästigt zu werden. Es ist ganz einfach. Einer muss nur den Anfang machen« (www.achgut.com/ dadgdx/index.php/dadgd/article/ein_hoch_auf_die_direkte_demokratie/ [eingesehen am 18.1.2010]). Im Klartext heißt dies: Wird einer bestimmten Religionsgemeinschaft verboten, repräsentative Gottes- und Gebetshäuser zu bauen (ein Verbot, das zudem eine Minderheit betrifft), so handelt es sich dabei nicht um eine Einschränkung der Religionsfreiheit, sondern um die Aufhebung einer bestehenden Asymmetrie in den »Geschäfts«grundlagen zwischen Staaten. Broder scheint nicht zu merken, dass, wer so argumentiert, nicht mehr die westlichen Werte, sondern allenfalls noch einen westlichen Lebensstil verteidigt. In seiner Dankesrede für den Ludwig-Börne-Preis geht Broder sogar noch weiter, wenn er die »Appeasement-Politik der Europäer gegenüber dem neuen Totalitarismus« mit den Worten kritisiert: »›Fighting is no option‹ wäre ein schönes Motto für die europäische Verfassung, man sollte den Satz auch auf alle Euroscheine drucken« (Broder 2007). Broders implizite Aufforderung, nun endlich Schluss zu machen mit dem permanenten »Einknicken« und zu kämpfen, ist gerade deshalb so infam, weil er zusammen mit anderen »Islamkritikern« die Differenzierung von Islam und Islamismus für unsachgemäß hält. Doch was bedeutet dieser Schlachtruf – wenn er sich also nicht auf islamistische Terroristen bezieht – für die 3,2 Millionen Muslime in Deutschland und ca. 1,3 Milliarden Anhänger des Islam in der Welt? Henryk M. Broders Ausführungen dienen hier nur als Beispiel für die Anschlussfähigkeit und Popularität der Islamfeindlichkeit im Mainstream. Bespielt wird die islamophobe Klaviatur in populären Massenmedien auch von Ralph Giordano (»Nicht die Migration, sondern der Islam ist das Problem«), Hans-Peter Raddatz, Necla Kelek, Thilo Sarrazin und anderen. Als internationale Stichwortgeber werden gerne auch Ayaan Hirsi Ali oder Leon de Winter zitiert. Giordano nimmt in diesem Kreis eine als tragisch zu bezeichnende Rolle ein, weil er es als Shoa-Überlebender und ehemals linksliberaler Intellektueller ermöglicht, »den Hass auf eine Minderheit als eine, dem Rassismus und Rechtsextremismus unverdächtige ›Meinung‹ aus der Mitte der Gesellschaft zu präsentieren« (Shooman 2008: 82; vgl. kritisch auch: Brumlik 2008). Vor dem Hintergrund dieses geistigen Klimas verwundert es nicht, dass es kaum noch
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für Empörung sorgt, wenn der »Spiegel« mit »Mekka Deutschland. Die stille Islamisierung« titelt (13/2007) oder bekannt wird, dass die aktuelle Bundesfamilienministerin Kristina Schröder [ehemals Köhler] auf ihrer Homepage einen Link zu »Politically Incorrect« platzierte (vgl. Spiegel 01/2010: 133).
F A ZIT : R EPUBLIKSCHUT Z HEUTE »Der symbolische Diskurs über Minarette ist in Wirklichkeit eine Kampagne gegen Menschen, die als Mitglieder einer Gruppe diskriminiert werden, eine Kampfansage gegen Toleranz und Demokratie«, bilanzierte der Leiter des »Zentrums für Antisemitismusforschung« (ZfA) Wolfgang Benz (2010) in der Süddeutschen Zeitung. Der staatliche Verfassungsschutz mag – wenn überhaupt – geeignet sein, um die Gefahren einzudämmen, die von gewaltbereiten Neonazis ausgehen. Der »Angriff auf Europa« (Kermani 2009) und die Demokratie, wie er in Abstimmungen über die Religionsfreiheit und einer jegliches Maß vermissenden »Islamkritik« zum Ausdruck kommt, kann nur durch einen »zivilgesellschaftlichen Republikschutz« abgewehrt werden, wie ihn Claus Leggewie und Horst Meier vor rund 15 Jahren beschrieben haben. In der Vergangenheit hat das liberale Bürgertum in Deutschland zumeist leider keine besonders rühmliche Rolle gespielt, wenn es darum ging, diskriminierte Minderheiten – und damit auch die eigene Wertordnung – zu verteidigen. Es bleibt zu hoffen, dass die demokratische Zivilgesellschaft in Deutschland heute das Vertrauen rechtfertigt, das Leggewie und Meier in sie setzen.
L ITER ATUR Benz, Wolfgang (2010): Der Feind in der Wiege. Was die Antisemiten des 19. Jahrhunderts und manche »Islamkritiker« des 21. Jahrhunderts eint. Süddeutsche Zeitung vom 4. Januar 2010. Broder, Henryk M. (2006): Hurra, wir kapitulieren. Von der Lust am Einknicken, Berlin: Wjs Verlag. Broder, Henryk M. (2007): Toleranz hilft nur den Rücksichtslosen. Online unter www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,druck-490497,00. html (zuletzt aufgerufen am 18.1.2010) Broder, Henryk M. (2008): Kritik der reinen Toleranz, Berlin: Wjs Verlag Brumlik, Micha (2008): Das halbierte Humanum – Wie Ralph Giordano zum Ausländerfeind wurde. In: Alexander Häusler (Hg.): Rechtspopulismus als »Bürgerbewegung«. Kampagnen gegen Islam und Moscheebau und kommunale Gegenstrategien, Wiesbaden: VS Verlag. Kermani, Navid (2009): Angriff auf Europa. Süddeutsche Zeitung vom 13. Dezember 2009.
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Leggewie, Claus/Meier, Horst (1995): Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie, Hamburg: Rowohlt. Shooman, Yasemin (2008): Islamfeindlichkeit im World Wide Web. In: Wolfgang Benz (Hg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung 17, Berlin: Metropol Verlag, S. 69-96.
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Republikschutz, Demokratieschutz, Verfassungsschutz, Bürgerschutz, Staatsschutz Eckhard Jesse
Claus Leggewie gehört zu den Anhängern der offenen Gesellschaft. Er tritt für Toleranz ein und verkörpert Liberalität. Das hat ihn aber nicht daran gehindert, (tatsächliche oder auch nur vermeintliche) Gefährdungen der Demokratie durch (Rechts-)Extremisten aufzuspüren (vgl. Leggewie 1990; 1993). Und umgekehrt untersuchte er die Frage des Demokratieschutzes, wobei für ihn weniger Extremisten den demokratischen Verfassungsschutz bedrohen als vielmehr dessen militante Schutzmaßnahmen. Im Band »Republikschutz« entwickelt er gemeinsam mit Horst Meier »Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie« (vgl. Leggewie/Meier 1995). So lautet nicht nur der Untertitel des Bandes, sondern auch sein zusammenfassendes und ausblickartiges Schlusskapitel. Aus der Sicht der normativen und vergleichenden Extremismusforschung (vgl. Backes/ Jesse 2005) sollen nun exemplarisch Schwächen und Stärken von Leggewies Ansatz, wie er in diesem Kapitel anschaulich verdeutlicht (Leggewie/ Meier 1995: 341ff.), zur Sprache kommen. Es ist des Autors Kernthese, dass die Demokratie erst bei Gewaltanwendung ihrer Gegner repressiv reagieren darf. Die streitbare Demokratie verstoße durch die Vorverlagerung des Demokratieschutzes gegen dieses Prinzip. Die Konzeption Leggewies hat zwei Vorteile: Zum einen ist die Grenze zwischen Gewalt bzw. Gewaltaufrufen einerseits und gewaltlosen Aktivitäten andererseits in der Regel (nicht immer) klar zu ziehen. Zum anderen fällt bei Leggewie Legalität und Legitimität zusammen, wie es im demokratischen Verfassungsstaat sein sollte. Denn wer eine (höhere) Legitimität gegen die »bloße« Legalität auszuspielen sucht, unterminiert die Grundlagen der demokratischen Grundordnung. Nur: Die meisten Kräfte, die wesentliche Bestandteile des demokratischen Verfassungsstaates abschaffen wollen, sind längst dazu übergegangen, dies gewaltlos zu tun. Gegen eine solche Legalitätstaktik ist Leggewies Konzeption weithin wirkungslos. Die Legalitätstaktik von Antidemokraten
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bedarf einer Illegitimierungsstrategie durch Demokraten. Diese Konsequenz zog der Parlamentarische Rat 1949 aus der leidvollen Vergangenheit. Wir haben es hier mit einem Grenzproblem der Demokratie zu tun. Nicht alles, was legal ist, muss demokratisch legitim sein. Diese Position der Anhänger der streitbaren Demokratie findet ihr »umgekehrtes« Pendant bei den Verfechtern des zivilen Ungehorsams: Nicht alles, was demokratisch legitim ist, muss legal sein. Damit werden (mehr oder weniger symbolische) Verstöße gegen die Rechtsordnung begründet. Das Konzept der streitbaren Demokratie kommt einer demokratietheoretischen Gratwanderung gleich (vgl. Preuß 2002). Es stellt nun einmal ein Paradox der Demokratie dar, dass Eingriffe in Freiheitsrechte nötig sein können, um sie zu erhalten. Eine Crux beim Thema Extremismus und Demokratieschutz besteht im Aufbau falscher »Fronten«. Es geht in der Regel nämlich nicht darum, dass eine liberale Position einer militanten widerstreitet. Die vielen »Initiativen gegen Berufsverbote« in den siebziger und achtziger Jahren kritisierten vehement die »Ausgrenzung gegen links«, befürworteten im gleichen Atemzug jedoch die »Abgrenzung gegen rechts«. Nicht die Schutzmaßnahme an sich stand zur Disposition, sondern ihre Richtung. Gegenüber rechtsaußen wurde jede staatliche Vorkehrung gutgeheißen, gegenüber linksaußen jede unter Ideologieverdacht gestellt. Claus Leggewie zählt nicht zu den Befürwortern dieser antifaschistischen Position, die taktisch argumentiert, nicht prinzipiell (vgl. Jesse 1997). Allerdings fällt er – wenig folgerichtig – hinter seine Grundposition zurück, wenn für eine »konsequente Einseitigkeit« plädiert wird, um »Sympathisanten der NS-Vernichtungspolitik die ›Meinung‹ zu verbieten« (Leggewie/Meier 1995: 349). Diese Ausnahmeregelung steht im Widerspruch zu seiner Kritik an der Strafbarkeit der Leugnung des Holocaust und öffnet die Büchse der Pandora. Wer »die strikte Illegalisierung nationalsozialistischer Politik« (Leggewie/Meier 1995: 349) anstrebt, muss wissen, dass er damit Missbrauch Vorschub leistet. Was ist bereits »nationalsozialistisch«, was noch nicht? Der Streit um die Einordnung der NPD zeigt das heikle Problem nachhaltig. Die Kritik an der »zwanghaften Symmetrie und Gleichsetzung« (Leggewie/Meier 1995: 345) der Extremismustheorie ist ihrerseits höchst kritikbedürftig. Wer für Asymmetrie plädiert, setzt die Prinzipien der ungeteilten Freiheit aufs Spiel, macht sich unglaubwürdig. Und welcher Extremismusforscher redet denn von einer »Gleichsetzung«? Die Frage gibt zugleich die Antwort. Gewiss, die Devise des demokratischen Verfassungsstaates kann nicht lauten »keine Freiheit den Feinden der Freiheit«, wie manche Verfechter der streitbaren Demokratie meinen, weil so verkannt wird, dass selbst Feinde der Demokratie (und solche gibt es, nicht nur in einem politischen Lager) in einem gewissen Maße ebenso der Freiheit bedürfen. Aber sie kann auch nicht lauten »gleiche Freiheit den Feinden der Freiheit«, denn dadurch macht sich die Demokratie gleichsam schutzlos, relativiert sie die eigenen Prinzipien. Leggewie muss dies wohl geahnt haben, denn sonst
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wäre sein Verweis auf »die selbstbewusste Entfaltung der zivilen Gesellschaft« (Leggewie/Meier 1995: 142), die ein demokratisches Gemeinwesen stärke, überhaupt nicht nötig. Besteht nicht die Gefahr, dass das Plädoyer für »zivilgesellschaftlichen Republikschutz« (Leggewie/Meier 1995: 143), der sich im Zweifel ohne Staat denken lasse, militanten Gegnern einer (tatsächlich oder vermeintlich) antidemokratischen Gruppierung den Berufungstitel liefert, rabiat gegen diese vorzugehen, so den Minderheitenschutz aushebelt und die Prinzipien demokratischer Streitbarkeit missachtet? Ein gutes Gewissen legitimiert keinerlei Jakobinismus. Der »Kampf gegen rechts« treibt seltsame Blüten. Die Art und Weise der politischen und publizistischen Auseinandersetzung mit der offen rechtsextremistischen NPD ist kein Ruhmesblatt einer offenen Gesellschaft. Die Öffentlichkeit nimmt vollmundige Parolen der geächteten Partei häufig für bare Münze. Nach dem Verbotsantrag gegen die NPD stand Leggewie auf derselben Seite wie die Mehrheit der Verfechter der streitbaren Demokratie (vgl. Leggewie/ Meier (Hg.) 2002; Jesse 2003). Heute, nach dem Scheitern des Antrages (Flemming 2005) und nach dem Einzug der Partei in zwei Landesparlamente, geht die Diskussion heftiger denn je weiter (vgl. Lang 2008; Jesse 2008), als sei die Bundesrepublik Deutschland von einer derartigen Kraft ernsthaft bedroht. Alarmismus grassiert. Dabei versucht die Exekutive Demonstrationen der NPD zu unterbinden. Und wenn die Judikative sie genehmigt, sorgen antifaschistische Kreise oft für »gewaltfreien Widerstand«, um den Euphemismus aufzugreifen. Steht Claus Leggewie an der Seite der Justiz oder an der Seite der (gutwilligen und weniger gutwilligen) Antifaschisten? Mit Blick auf seine inkonsistente Konzeption liefert er der einen wie der anderen Seite Argumente. Wer gegen die NPD demonstriert und zugleich demonstrativ Position bezieht, dass diese innerhalb der gesetzlichen Regeln das Recht besitzt, ihrerseits zu demonstrieren, verwickelt sich in keinen Widerspruch. So ist Freiheit. Das verfassungsrechtlich Gebotene deckt sich nicht immer mit dem politisch Opportunen. Der Sprachgebrauch von den »radikal Andersdenkenden« und den »legalen Dissidenten« (Leggewie/Meier 1995: 341, 347) ist per definitionem in einem demokratischen Verfassungsstaat fehl am Platz. Wenn Claus Leggewie den auf Freiheit und Gleichheit basierenden Republikschutz gegen jede Form des »ideologischen Verfassungsschutzes« oder des »althergebrachten Staatsschutzes« (Leggewie/Meier 1995: 343) auszuspielen sucht, so muss man ihn daran erinnern, dass in einem demokratischen Verfassungsstaat diese Unterschiede ihre Bedeutung einbüßen. Auch Staatsschutz ist Bürgerschutz und vice versa. Nach Leggewie »ist der Verfassungsschutz ein Skandal für die Demokratie« (Leggewie/Meier 1995: 346), nach der Konzeption der streitbaren Demokratie ein »Schutz für die Demokratie«. Das bedeutet freilich nicht, ihn von Kritik auszunehmen. Die Demokratie kann nämlich durch extremistische Strömungen ebenso gefährdet sein wie durch Überreaktionen des Staates auf diese. Gleichwohl:
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Unser demokratischer Verfassungsstaat ist gefestigt. Wir müssen das von Ängstlichkeit zeugende Weimar-Syndrom überwinden. Die offene Gesellschaft bedarf in der Tat keiner »negativen Identität« (Leggewie/Meier 1995: 342). Wer glaubt, die Staatsräson der zweiten deutschen Demokratie (Leggewies Topos von der »Dritten Republik« überzeichnet die Unterschiede zwischen der »Bonner Republik« und der »Berliner Republik«, denn diese ist im Kern eine Erweiterung der Bundesrepublik vor der Einheit) müsse ihren Fluchtpunkt in der Erinnerung an Auschwitz haben, trägt nicht zur Zukunftsfestigung der offenen Gesellschaft bei. Und wer meint, die Stärken einer Demokratie mit den Schwächen einer Diktatur zu begründen, verbleibt in den Argumentationsbahnen seiner Gegner. Die Demokratie ist innerlich von ihnen unabhängig, bedarf nicht in erster Linie der Abgrenzung von extremistischen Positionen. In diesem Punkt jedenfalls dürfte Leggewie dem Verfasser zustimmen. Und vielleicht könnte er ihm auch darin folgen, dass die Devise »keine Freiheit zur Abschaffung der Freiheit« den demokratischen Verfassungsstaat charakterisiert.
L ITER ATUR Backes, Uwe/Jesse, Eckhard (2005): Vergleichende Extremismusforschung, Baden-Baden: Nomos Verlag. Flemming, Lars (2005): Das NPD-Verbotsverfahren. Vom »Aufstand der Anständigen« zum »Aufstand der Unfähigen«, Baden-Baden: Nomos Verlag. Jesse, Eckhard (1997): Der Streit um die streitbare Demokratie. Fundamentalkritik an der Schutzkonzeption des Grundgesetzes und an der Praxis. Politische Vierteljahresschrift 38, S. 577-583. Jesse, Eckhard (2003): Der gescheiterte Verbotsantrag gegen die NPD. Die streitbare Demokratie ist beschädigt worden. Politische Vierteljahresschrift 44, S. 292-301. Jesse, Eckhard (2008): NPD-Verbot ist kein Gebot. Die endlose Diskussion um einen Verbotsantrag gegen die NPD. Deutschland Archiv 41, S. 392-396. Lang, Anne-Katrin (2008): Demokratieschutz durch Parteiverbot? Die Auseinandersetzung um ein mögliches Verbot der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), Marburg: Tectum Verlag. Leggewie, Claus (1990): Die Republikaner. Ein Phänomen nimmt Gestalt an, völlig überarbeitet und erweiterte Neuausgabe, Berlin: Rotbuch Verlag. Leggewie, Claus (1993): Druck von rechts. Wohin treibt die Bundesrepublik, München: C.H. Beck. Leggewie, Claus/Meier, Horst (1992): Die Berliner Republik als »streitbare Demokratie«. Nachruf auf die freiheitliche demokratische Grundordnung. Blätter für deutsche und internationale Politik 37, S. 598-607.
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Leggewie, Claus/Meier, Horst (1995): Republikschutz. Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie, Reinbek: Rowohlt. Leggewie, Claus/Meier, Horst (Hg.) (2002): Verbot der NPD oder Mit Rechtsradikalen leben?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Preuß, Ulrich K. (2002): Die empfindsame Demokratie. In: Claus Leggewie/Horst Meier (Hg.): Verbot der NPD oder Mit Rechtsradikalen leben?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 104-119.
REPUBLIKSCHUTZ REVISITED1 Antinazistisch oder demokratisch – welche Grundordnung darf’s denn sein? Horst Meier
»Kein Mensch bekämpft die Freiheit; er bekämpft höchstens die Freiheit der anderen.« Karl Marx 1842 in seiner Polemik gegen die preußische Pressezensur. (Motto in Republikschutz)
Angefangen hat alles mit der Debatte um Die Republikaner, in der sich 1989 zwei Autoren fanden: Claus Leggewie hatte gerade sein einschlägiges Buch veröffentlicht (Leggewie 1989); und Horst Meier nahm die Verbotsdebatte, die sogleich nach dem ersten Wahlerfolg der Schönhuber-Partei losgegangen war, zum Anlass, gegen eine Reanimation der »streitbaren Demokratie« zu argumentieren. So erschien in der zweiten Auflage des REPBuches der Beitrag Verfassungsschutz auf republikanisch (Meier 1990). Den »Radikalenerlass« von 1972 und das KPD-Verbot von 1956 im Hinterkopf, wollten wir weder Berufsverbote für REP-Beamte noch ein auf »verfassungsfeindlichen« Gesinnungen fußendes Parteiverbot. Bürgerrechte, die abgestuft, nach Freund-Feind-Kriterien »gewährt« werden, sind keine.
1. Einige Jahre später, als unter dem Eindruck einer Serie fremdenfeindlicher Brand- und Mordanschläge in Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen die Regierung reflexartig zu Verbotsmaßnahmen gegen rechtsradikale Sekten griff, wollten wir der Sache auf den Grund gehen: Wie soll, 1 | Happy Birthday, Claus!
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wie darf eigentlich der demokratische Verfassungsstaat gegen seine Gegner vorgehen? Das schloss natürlich die Kritik an einzelnen Maßnahmen ein, doch im Mittelpunkt stehen sollte eine systematische Reflexion der Maßstäbe, die die Verteidigung der Demokratie zu einer systemgerechten machen. So entstand Republikschutz, ein Projekt, das Rüdiger Dammann, damals Lektor beim Rowohlt Verlag in Reinbek, sehr umsichtig betreute. Das Buch erschien 1995, fand freundliche Beachtung und in Teilaspekten durchaus Zustimmung, indes wurde die darin entwickelte Alternative zur »streitbaren Demokratie« abgelehnt. Die Kritik der »streitbaren Demokratie« (vgl. Kap. 3) zielt darauf ab, die in Deutschland seit je her schwach ausgebildete Tradition bürgerlichliberalen Verfassungsdenkens zu stärken. Das Grundgesetz bezeichnet seinen Kern als »freiheitliche demokratische Grundordnung« und kennt Instrumente des präventiven Verfassungsschutzes: die Verwirkung von Grundrechten nach Artikel 18, wenn diese »missbraucht« werden; außerdem das Parteiverbot nach Artikel 21, das mit bloßen verfassungswidrigen Zielen begründet werden kann. Dieses Konzept ist schon vom Ansatz her illiberal, weil es die »extremistischen« Teilnehmer am gewaltfreien politischen Wettbewerb zu »Verfassungsfeinden« erklärt und potentiell zur Ausgrenzung freigibt.
2. »Republikschutz« meint im strikten Gegensatz zum landläufigen Verfassungsschutz eine Theorie und Praxis, die aus dem Nebel der Prävention in die aufgeklärte Zone der Gefahrenabwehr gelangt (vgl. Kap. 4). Verfassungsschutz bekämpft seit eh und je verdächtige Ziele und anstößiges »Gedankengut«, also schon die Gesinnung vermeintlicher Verfassungsfeinde; Republikschutz dagegen bekämpft politisch motivierte Gewalttaten oder deren konkrete Androhung und nachweislich gefährliche Hasspropaganda, also erst das strafbare Verhalten von Verfassungsgegnern. Dreh- und Angelpunkt des Republikschutzes ist das Gewaltkriterium (vgl. Kap. 4.2, S. 249ff). Es markiert die Grenze des politischen Wettbewerbs. Dieser Maßstab ist deshalb so wichtig, weil er nur mit einem präzise ausdifferenzierten Gefahrenbegriff gedacht werden kann. Von daher ist die Verknüpfung von (drohender) Gewalt mit einer situationsspezifisch nachzuweisenden Gefahrenlage ebenso rechtsstaatlich wie demokratiefreundlich. Republikschutz ist politisch neutral, weil er nicht auf den (stets umstrittenen) »extremistischen« Inhalt von Politik abstellt, sondern gleichsam unideologisch auf die Form von Politik. Vollmundige Parolen gegen das System und andere Verbalradikalismen sind Teil der offenen, unabschließbaren Debatte: Der demokratische Staat darf keine politische Wahrheit, und sei sie noch so evident und gut gemeint, gegen Andersdenkende mit Zwang behaupten. Jene aber, die Gewalt ins Spiel bringen, und
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sei es für eine noch so gute Sache, darf der Staat in den Formen des Rechts unterdrücken, denn sie handeln per se »verfassungswidrig«. Diese Grenzziehung ist einerseits rigide, weil sie keine Ausnahme vom Gebot der Friedlichkeit kennt; sie ist andererseits so tolerant, wie Liberalität nur sein kann. Denn sie bietet dem politischen Wettbewerb der Parteien und jedem Einzelnen im Meinungskampf ein Maximum an Freiheit. Natürlich ist auch diese Grenzziehung in manchen Fällen nicht so eindeutig, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Doch es ist ein Unterschied ums Ganze, ob man es mit den Abgrenzungsproblemen eines richtigen oder eines falschen Kriteriums zu tun hat. Alle Erfahrung zeigt: Je weiter sich ein Denken vom Gewaltkriterium entfernt, desto bedenkenloser ist die dahinter stehende (meist unbewusste) Neigung, anstößige Meinungen, provozierende Kundgebungen und schrille Oppositionsparteien zu unterdrücken.
3. Republikschutz plädiert dafür, sich auf die Tradition des bürgerlich-liberalen Verfassungsdenkens zu besinnen, das heißt auf das reformalisierte Verständnis einer »demokratischen Grundordnung«: kein Eingriff in Kommunikationsfreiheiten ohne »clear and present danger«. Allerdings haben wir uns gefragt, ob das nach den Erfahrungen mit Naziregime und Völkermord ohne jede Ausnahme praktiziert werden sollte. Freiheit wirklich auch für das Hakenkreuz, für die Insignien der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft? Freiheit wirklich auch für jene, die »den Führer« hochleben lassen oder Planer und Gehilfen der »Endlösung« wie Heydrich und Eichmann? Obgleich »die staatliche Ächtung irgendeiner politischen Gesinnung im diametralen Widerspruch zum Republikschutz (steht)« (S. 336), votierten wir 1995 »im Bewusstsein naheliegender Einwände« (S. 281) für eine dezidiert einseitige und offen antinazistische Ausnahme – gegen alle Bestrebungen, auf direkte Weise, etwa in Gestalt einer NSDAP/AO (Aufbauorganisation), an die Naziideologie anzuknüpfen (vgl. Kap. 5.4, S. 308ff). Das Plädoyer für die offene Unterdrückung »andersdenkender Neonazis«, für eine »antinazistische Grundordnung« hat uns, wie nicht anders zu erwarten, den Vorwurf der Inkonsequenz eingetragen – wobei manche Kritiker mit einer gewissen Entdeckerfreude daherkamen. Dabei hatten wir uns klipp und klar zu dieser Inkonsequenz bekannt: »Weil Nationalsozialisten den Holocaust organisiert haben, darf die politische Gefährlichkeit ihrer Nachfolger unwiderleglich vermutet werden.« (S. 314) Auch zur Einseitigkeit haben wir uns bekannt und damit die Hüter des herrschenden Antiextremismus auf den Plan gerufen, die vorgeben, ihre »streitbare Demokratie« mache den Verfassungsfeind stets ausgewogen, rechts wie links, dingfest. Stattdessen haben wir historisch konkret, also antinazistisch und nicht abstrakt antitotalitär argumentiert.
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Gerade wegen dieser Engführung auf den Antisemitismus und den Völkermord des NS-Regimes ist der tagespolitische Gebrauchswert einer »zivilisatorischen Rückwärtssperre« recht gering zu veranschlagen: Weder »Republikaner« noch NPD, sondern allenfalls einige hundert offen bekennende Neonazis würden davon erfasst (vgl. S. 317). So liegt denn auch der Sinn einer antinazistischen Grundordnung in einer Art Verfassungspädagogik. Es stünde den Deutschen gut an, dachten wir, in ihrem Grundgesetz ausdrücklich jede Bestrebung zu verbieten, die NSDAP fortzusetzen – und handele es sich auch nur um die neonazistische Folklore einiger Politneurotiker. Die Einschätzung, dass »die verfassungspolitischen Chancen unseres Vorschlags nicht sonderlich hoch« zu veranschlagen sind (S. 336), erwies sich als realistisch. Dem »Kampf gegen rechts«, der inzwischen zu einer Art Staatsziel avancierte, fehlt nach wie vor eine solide verfassungsrechtliche Grundlage. Deshalb gilt bis heute: »Eine klare politische Entscheidung ist fällig: Entweder hält man unsere Neonazis für eine zu vernachlässigende Größe, dann muß man sich und anderen deren haarsträubende Freiheit eben zumuten – und Aufzüge von Hakenkreuzlern unter Polizeischutz stellen. Oder man unterdrückt selbst Spurenelemente neonazistischer Politik kunstgerecht mit einem rigorosen Ausnahmeartikel. Beides zugleich, die Ächtung dieser ›Ewiggestrigen‹ und das gute Gewissen des unbefleckten Verfassungsrechts, ist nicht zu haben. Der exzeptionelle, freiheitsverkürzende Charakter einer für notwendig erachteten Verfassungsdurchbrechung darf deshalb nicht in politischer Harmonie vernebelt werden. Sie muß im klaren Bewusstsein aller demokratischen Skrupel und ohne antifaschistische Verklärung offen beim Namen genannt werden: als gesinnungsbezogenes Meinungs- und Organisationsdelikt einer unausgewogen ›antinazistischen Grundordnung‹.« (S. 319)
4. Die bundesrepublikanische Praxis tut bis heute so, als gäbe es diesen antinazistischen Verfassungsvorbehalt schon. Aber das Verbot nationalsozialistischer Propaganda und Kennzeichen, etwa von Hakenkreuz oder SS-Emblemen (§§ 86, 86a Strafgesetzbuch) und das faktische Verbot der Neugründung der NSDAP sind vom derzeit geltenden Grundgesetz nicht gedeckt (vgl. Kap. 5.2, S. 292ff). Daher gibt es untergründige Spannungen zwischen einfachgesetzlichen Verboten und grundrechtlichen Freiheitsverbürgungen. Freilich sorgt ein Konsens in politischer Elite und Justiz dafür, diese Widersprüche zu kaschieren. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, ein antinazistisches Verfassungsprinzip in das Grundgesetz hineinzuinterpretieren, vor allem mit Blick auf Artikel 139. Nach dieser Übergangsregelung werden die zur »Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus« erlassenen Gesetze von der Geltung der Grundrechte ausgenommen. Daraus
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wurde etwa ein auf die Alliierten zurückgehendes apriorisches Verbot der NPD abgeleitet. Allerdings ist von der heutigen Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff bereits 1988 überzeugend dargelegt worden, dass Artikel 139 Entnazifizierungsgesetze westdeutscher Länder betraf, deren Maßnahmen allesamt längst beendet wurden (vgl. Kap. 5.1, S. 282ff). Der vorläufig letzte Versuch, das Grundgesetz antinazistisch aufzuladen, geht auf das Konto des Bundesverfassungsgerichts. In seiner Wunsiedel-Entscheidung erklärte es die neueste Verschärfung des Volksverhetzungsparagrafens (130 Abs. 4 StGB) für verfassungsgemäß. Diese war 2005 vom Bundestag beschlossen worden, gerade um Versammlungen wie den alljährlich in Wunsiedel stattfindenden Heß-Gedenkmarsch verbieten zu können. Zwar handele es sich, so das Verfassungsgericht, beim Verbot der Gutheißung des NS-Regimes um »Sonderrecht«, das sich gegen bestimmte Meinungen richte. Gleichwohl sei dieses mit Artikel 5 vereinbar, denn der Meinungsfreiheit sei eine »Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts immanent« – eben weil die Bundesrepublik als »Gegenentwurf« zur NS-Herrschaft zu verstehen sei. Obwohl das Gericht beteuert, dem Grundgesetz sei damit »kein allgemeines Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder auch nationalsozialistischen Gedankenguts« immanent, so argumentiert es doch der Sache nach mit einer ungeschriebenen antinazistischen Schranke der Meinungsfreiheit. Einerlei, wie weit die Konstruktion eines antinazistischen Vorbehalts geht und wo sie ansetzen mag – die Rücknahme von Verfassungsgarantien zum Zwecke der politischen Diskriminierung kann nur durch eine Verfassungsänderung, das heißt eine Zweidrittelmehrheit des Parlaments, demokratisch legitimiert werden. Was der historische Verfassungsgeber 1949 versäumte oder unterließ, darf weder rechtswissenschaftliche Interpretation noch richterliche Rechtsfortbildung eigenmächtig nachholen.
5. Die dem vorgelagerte Frage lautet allerdings, ob eine solche Verfassungsreform politisch überhaupt sinnvoll und wünschenswert ist. 1995 haben wir die Konstitutionalisierung einer »antinazistischen Grundordnung« gefordert und auf »demokratisch geschärfte Gegenargumente« gesetzt (S. 336). Dass neuerdings die Idee einer antinazistischen Grundordnung höchstrichterliche Schützenhilfe bekommt, darüber will keine rechte Freude aufkommen. Ist es heute nicht an der Zeit, demokratische Normalität zu praktizieren und den Republikschutz ohne jede Ausnahme, eben als demokratische Grundordnung voll zu entfalten? Ich neige immer stärker zu dieser Position und möchte sie hier in aller Kürze skizzieren. Die Meinungsfreiheit ist für die Demokratie »schlechthin konstituierend«, urteilte das Bundesverfassungsgericht im Lüth-Urteil, einer Leitentscheidung aus dem Jahr 1958: »Denn (sie) ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement
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ist.« Die Meinungsfreiheit ist gewissermaßen, so die deutschen Verfassungsrichter in Anlehnung an ihre amerikanischen Kollegen, »the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom«. Die Verfassungspraxis in den USA liefert einen so drastischen wie spannenden Anschauungsunterricht. Dort wird die politische Betätigung von Neonazis nach genau den selben Kriterien beurteilt wie jede andere politische Richtung: Für die Freiheit der Rede spricht eine Vermutungsregel, Eingriffe müssen inhaltneutral sein und Hate Speech wird einem strengen Clear-and-present-danger-Test unterzogen. Daher gibt es eine winzige legale National Socialist Party of America, manchmal Aufmärsche von Braunhemden mit Hakenkreuzarmbinde und eine ungehemmte Agitation im Internet. Was in den USA belächelt wird oder schockiert, scheint für Deutschland schlechthin undenkbar. Doch die US-Verfassung mit ihrer über zweihundertjährigen Tradition sollte nicht einfach abgetan werden. Die Berufung auf deutsche Verhältnisse ist verständlich, aber als Beharren auf einem Sonderweg längst Teil des Problems geworden. Mittlerweile spricht vieles dafür, finde ich, das amerikanische Modell als Vorbild für eine nachholende, besser gesagt eine vollständige Demokratisierung der Bundesrepublik zu wählen. Keine Bange. Das bedeutet nicht, die amerikanischen Verhältnisse einfach zu kopieren. Es bedeutet, für die volle Entfaltung der Kommunikationsgrundrechte eine brauchbare Orientierung zu haben, ein inspirierendes Rechtsgefälle. Was schon in New York oder Chicago brisant ist, wirkt in Berlin oder München als ultimative Provokation, zugegeben. Man mag daher hierzulande einige vergangenheitspolitisch motivierte Abstriche machen – doch möglichst zurückhaltend und vor allem mit Blick auf das, was man den Nachkommen der Opfer im Namen der Freiheit aller zumuten darf. Der Historiker Dan Diner, der 1988 das inzwischen vielzitierte Wort vom »Zivilisationsbruch« prägte, stellte apodiktisch fest: »Der Holocaust ist die ungeschriebene Verfassung der Bundesrepublik«. Das ist politisch-moralisch so wahr wie es juristisch abwegig ist, daraus einen antinazistischen Vorbehalt abzuleiten. Wie aber soll ein Verfassungsdenken nach Auschwitz der Erinnerungskultur verpflichtet bleiben, ohne die Idee der Freiheit zu verraten? Einer Minima Moralia der Bundesrepublik, die beiden Imperativen gerecht werden will, wäre die Aufgabe gestellt, den Holocaust als »ungeschriebene Verfassung« beharrlich zu erinnern und zugleich die Bürgerrechte der geschriebenen Verfassung radikal ernst zu nehmen. Die Konsequenz, Freiheit für Hakenkreuzler und Auschwitzleugner, hört sich spektakulär an und ist es bis auf weiteres auch, wird sich aber politisch und polizeilich wohl einigermaßen handhaben lassen. Sobald unsere Neonazis nicht mehr die verfolgte Unschuld spielen können (weil sie als »politische Gefangene« einige Jahre wegen Volksverhetzung absitzen dürfen wie Ernst Zündel oder Horst Mahler), sondern sich auf dem Marktplatz der Ideen bewähren müssen, werden sie auf das ihnen eigene Maß schrumpfen. Auch das Spektakuläre nutzt sich ab, gerade in Medien. Die Reporter werden sich überlegen, ob sie zum siebten Mal ausrücken,
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nur weil schon wieder einige Gestalten mit einem Hakenkreuz gesichtet wurden.
6. Dass heutzutage die Bürgerrechte von Rechtsradikalen gefährdet sind, ist gewiss ein Fortschritt; schließlich stand in Deutschland der Feind lange genug links. Das war einmal. Inzwischen zeitigt der staatliche und zivilgesellschaftliche »Kampf gegen rechts« nachhaltige Erfolge. Liberale kommen daher in die Verlegenheit, die guten Bürgerrechte schlechter Leute zu verteidigen. Zum Beispiel Aryeh Neier: Geboren 1937 in Berlin als Kind jüdischer Eltern, 1939 über England in die USA geflüchtet, Jurist, 1970 bis 1978 Executive Director der American Civil Liberties Union (ACLU). Aryeh Neier verteidigte das Recht von Neonazis, in Skokie bei Chicago, wo damals viele Holocaustüberlebende wohnten, zu demonstrieren. Die Wellen der Empörung schlugen landesweit hoch. Am Ende war die von der ACLU organisierte Rechtshilfe zwar in allen Instanzen erfolgreich, aber die Bürgerrechtsorganisation verlor 15 Prozent ihrer Mitglieder. Ein zu hoher Preis? »Für die Verteidiger der Freiheit wäre es wirklich angenehmer, sich um die Fälle einer besseren Klasse von Opfern zu kümmern«, schrieb Aryeh Neier 1979 in Defending My Enemy: »Wenn wir aber warten, bis nette Leute verfolgt werden, kann es schon zu spät sein. Freiheit muß da verteidigt werden, wo sie verweigert wird.«
7. Und die Aussichten in Sachen Republikschutz? Ich will nicht kneifen, überlasse aber gern einem Dichter das letzte Wort: Einer, so Robert Gernhardt, schreibt der Berliner Republik etwas ins Stammbuch: Erstmals sind die Älteren nicht per se schon Täter. Erstmals heißt es: Macht erst mal, bilanziert wird später. Erstmals sind die Jüngeren nicht per se schon Richter. Erstmals schreckt das Kainsmal nicht älterer Gesichter. Erstmals müssen alle ran, Turnschuhe wie Krücken. Glückt’s nicht, sind wir alle dran, ergo muß es glücken.
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L ITER ATUR Améry, Jean (1980): Die Grenzen liberaler Toleranz. In: ders., Widersprüche, Frankfurt: Ullstein, S. 204-209. Assmann, Aleida (2006): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: Beck. Bundesverfassungsgericht: Wunsiedel-Beschluss vom 4.11. 2009. Online unter www.bverfg.de. Brugger, Winfried (2003): Verbot oder Schutz von Hassrede? Rechtsvergleichende Beobachtungen zum deutschen und amerikanischen Verfassungsrecht. Archiv des öffentlichen Rechts, Jg. 128, S. 372-411. Cobler, Sebastian (1979): Grundrechtsterror. In: Kursbuch 56, S. 38-49. Cobler, Sebastian (1985): Das Gesetz gegen die »Auschwitz-Lüge«. Kritische Justiz, S. 159-170. Diner, Dan (1988): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt: Fischer. Gernhardt, Robert (1997): Lichte Gedichte, Zürich: Haffmans. Henne, Thomas/Riedlinger, Arne (Hg.) (2005): Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag. Leggewie, Claus (1989): Die Republikaner. Phantombild der Neuen Rechten, Berlin: Rotbuch. Leggewie, Claus/Meier, Horst (Hg.) (2002): Verbot der NPD oder Mit Rechtsradikalen leben? Frankfurt: Suhrkamp. Lübbe-Wolff, Gertrude (1988): Zur Bedeutung des Artikel 139 GG für die Auseinandersetzung mit neonazistischen Gruppen. Neue Juristische Wochenschrift, S. 1289-1294. Meier, Horst (1990): Verfassungsschutz auf republikanisch. In: Claus Leggewie, Die Republikaner, völlig überarbeitete & erweiterte Neuausgabe, Berlin: Rotbuch, S. 170-181. Meier, Horst (1993): Parteiverbote und demokratische Republik, BadenBaden: Nomos. Meier, Horst (1999): Kritik des Grundgesetzes. Merkur 607, S. 10991104. Meier, Horst (2004): Über die Parteienfreiheit. Merkur 668, S. 1115-1120. Meier, Horst (2005): Holocaustgedenken und Staatsräson. Merkur 680, S. 1167-1172. Meier, Horst (2008): »Mehr Diskussion, nicht erzwungenes Schweigen«. Über die Redefreiheit in den USA. Merkur 708, S. 447-451. Neier, Aryeh (1979): Defending My Enemy. American Nazis, the Skokie Case, and the Risks of Freedom, New York: Dutton. Preuß, Ulrich K. (1973): Legalität und Pluralismus, Frankfurt: Suhrkamp. Tedford, Thomas L./Herbeck, Dale A. (2005): Freedom of Speech in the United States. Pennsylvania: Strata Publishing. Wenzel, Uwe Justus (1995): Demokratisches Manifest. Neue Zürcher Zeitung vom 29./30. Juli 1995.
Gibt es ein Leben nach der Demokratie? Herausforderungen des Westens durch eine Naturgefahr Claus Leggewie
THREE C HEERS FOR D EMOCR ACY : D AS P ROBLEM DER E NDLICHKEIT In Teheran muss jüngst ein intellektueller Kopf der Demokratiebewegung in einem Schauprozess bekennen, er habe sich zu stark von den umstürzlerischen Ideen eines Max Weber, Talcott Parsons und Jürgen Habermas beeinflussen lassen – das Regime sieht das Programm der Moderne offenbar in toto als Gefahr an (FAS 13.9.2009). Damit rechnet auch die indische Schriftstellerin und weltbekannte Globalisierungskritikerin Arundhati Roy ab: »Gibt es ein Leben nach der Demokratie? Und wie wird es aussehen? Demokratie meint dabei nicht ein Ideal oder eine Hoffnung. Vielmehr geht es um das Arbeitsmodell: die westliche, liberale Demokratie, ihre Varianten und ihre Realität. Nun denn: Gibt es ein Leben nach der Demokratie?« (FR 9.9.2009). Auch der linksoppositionelle chinesische Sozialwissenschaftler Wang Hui verlangt eine Neuaufklärung: die Kritik an einer Moderne, die den Kapitalismus und sein Demokratiemodell zum Maßstab auch der chinesischen Entwicklung erhebt. Endlich sollen die Erfahrungen Chinas und anderer nicht-westlicher Gesellschaften für Modernisierung und Demokratie fruchtbar werden (FAZ 14.9. 2009). Interessant ist, dass die chinesische KP ihrem Kritiker im Blick auf eine ökologisch verträglichere Sozial- und Wirtschaftspolitik durchaus recht gibt. Vor diesem Hintergrund – sagen wir: der autoritären Versuchung postdiktatorischer Regime, die im Widerspruch zum modernisierungstheoretischen Optimismus im Westen steht, und der Demokratieskepsis, die Selbstbild und Wahrnehmung des Westens radikal herausfordern – soll die Frage nach dem Schicksal der liberalen Demokratie hier im Blick auf einen speziellen, vermutlich vordringlichen Aspekt aufgeworfen werden: Wie viel Klimawandel verträgt die Demokratie, wie viel Demokratie erfordert Klimaschutz? Wenn sich die Politikwissenschaft der Problematik des Klimawandels stellt und sie nicht länger den Naturwissenschaften überlassen
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will, wenn dafür gerechte Lösungen gefunden, Machtpotenziale relevanter Akteure ausgelotet, Möglichkeiten und Grenzen politischer Steuerung analysiert und der Druck auf die politischen Institutionen untersucht werden sollen, muss sich auch die Frage nach der Legitimität nationalstaatlicher und vor allem supra- und transnationaler Maßnahmen aufwerfen, die Katastrophen- und Klimaschutz bereits erfordern und erfordern werden. So lautet die demokratiepolitische Herausforderung: Autoritäre Regime könnten nicht nur (wie erwartet) in der Lage sein, mit einem von oben verordneten Prozess nachholender Industrialisierung globalen Klimawandel eskalieren zu lassen, sie könnten als grün aufgeklärte Oligarchien Klimaschutz und Energiewende auch in einem Umfang und einer Geschwindigkeit verordnen, zu denen westliche Demokratien nicht willens oder in der Lage wären. Wolfgang Harich, der kommunistische Abweichler, hat bereits 1975 in dem Interview-Band Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der »Club of Rome« die Öko-Diktatur, den »starken, hart durchgreifenden Zuteilungsstaat« und den »asketischen Verteilungsstaat« als einzigen Weg benannt, die bedrohte Biosphäre zu erhalten. Und auch weniger drastisch formuliert, haben viele Klimaschutz- und Anpassungsprogramme den Geruch des Ausnahmeregimes. Man sieht: der Klimawandel ist eine Heuristik künftiger Verhältnisse und ein Prüfstein für die Zukunftsfähigkeit etablierter und neuer Demokratien. Äußere Herausforderungen der Demokratie werden neuerdings richtigerweise ergänzt durch die Betrachtung von Herausforderungen durch die Demokratie (Brodocz et al. 2008; Latour 2008), innere Strukturdefekte also, die erstens mit der globalen Entgrenzung und Demokratiemängeln supra- und transnationaler Regulierung zusammenhängen, zweitens mit dem beschränkten Zeithorizont, den sich demokratische Politik üblicherweise gibt. In beide offenen Flanken stößt der Klimawandel hinein, der zum einen ein bisher ungekanntes Maß grenzüberschreitender Kooperation verlangt, zum anderen den politischen Normalbetrieb in ein Zeitkorsett spannt, das auf Grund der schlichten Physik des Klimawandels zunehmend enger wird. Auch wenn Kassandra heiser ist: Für die Abwendung gefährlichen Klimawandels steht nicht mehr viel Zeit zur Verfügung. Binnen ein oder zwei Legislaturperioden müssen die Staaten der Welt jene Maßnahmen implementieren, die ab 2020 greifen müssen, damit um 2050 (das sind ein bis zwei Generationen weiter) die Treibhausgasmessionen auf Null zurückzuführen sind. Gelingt das nicht, leben unsere Nachfahren in einer Vier- oder Mehr-Grad-Welt mit höchst unangenehmen Seiten (WBGU 2009). Diese neue Zeitrechnung ist eine Provokation für liberale Gesellschaften, die sich mit »der Natur« fertig wähnten und stets einen trotz aller Katastrophen und Rückschläge nach vorne offenen Möglichkeitstraum vor sich liegen sahen. Die Figur der Endlichkeit (des wirtschaftlichen Wachstums, der natürlichen Ressourcen, vor allem aber der verfügbaren Zeit) drängt das in der Neuzeit ganz auf »Un-Endlichkeit« programmierte Selbstbewusstsein ebenso in die Enge wie handelnde Politiker und Poli-
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tikerinnen. Ihr Zeitrhythmus ist kurzfristig, oft auch kurzatmig auf die jeweilige Legislaturperiode ausgerichtet, und durch Wahlkämpfe und langwierige Inauguralphasen neuer Regierungen faktisch noch weiter verkürzt. Effekte permanenter Wahlkampagnen lassen die Chancen für effektives Regierungshandeln zusammenschnurren, wo sich politische Instanzen den Unternehmensrhythmen anpassen, gerät Politik in den Sog ganz volatiler Quartalsbilanzen und Börsenbarometer, und kongenial unterwirft sich der politische Betrieb selbst dem Diktat monatlicher Meinungsumfragen. Hier tut sich ein Widerspruch auf zwischen dem »shortermism« (Giddens 2009) und den dilatorischen Methoden der Dissensbearbeitung und Kompromissfindung in pluralistischen und neo-korporatistischen Verhandlungsarenen, die schwer lösbare Probleme »auf die lange Bank« schieben und auf Zeit spielen. Darunter fallen fast alle Reformagenden westlicher Demokratien: demografischer Wandel, Kostenexplosion im Gesundheitswesen, Massenarbeitslosigkeit und Staatsverschuldung und so weiter, die in einer abschreckenden Mischung aus kampagnenbezogener Hektik und permanenter Verschiebung traktiert werden. Der performative Widerspruch demokratischer Staatlichkeit (und ein möglicher Grund für den Verfall von Output-Legitimität) liegt mithin darin, dass Mega-Probleme durch nervöse politische Kommunikation latent gehalten, Lösungen dafür aber ad calendas graecas vertagt werden. Dilatorische Politik ist nun nicht per se ein Übel. Zeitgewinn ist für die Bewahrung von Stabilität oftmals absolut erforderlich, und das Ringen darum reagiert auf die Kontingenzen und Risiken moderner Gesellschaften, die in der Regel einfache Bescheide und klare Entscheidungen nicht erlauben. Unaufhebbare Zukunftsunsicherheit wird so in Rituale der Konsensfindung und Routinen der Aushandlung überführt; auf diese Weise geht politische Macht mit Risiken um, denn ebenso wenig wie der Markt verfügt sie über eine »systemeigene Wirkungstechnologie, die es erlaubte, Ressourcen zu dosieren und Fehler zu erkennen« (Luhmann 2000: 433). Wer die berühmten dicken Bretter bohren will, muss hin und wieder abwarten und aussitzen, bis sich die Dinge eventuell von selbst erledigt haben, Interessenlagen ändern, Gemüter beruhigen, Wähler vergessen oder resignieren. Für Klaus Günther (2006) liegt die wahre Kunst des Politischen in eben diesem Dissensmanagement durch Kompromissbildung, vor allem bei Agenden wie Rüstungspolitik und Abtreibungsgesetzen. Aufschieben und Abwarten lässt sich auch damit rechtfertigen, dass die Wachstumsdynamik kapitalistischer Ökonomien und die sozialstaatliche Inklusion »morgen« (spätestens »übermorgen«) Gelegenheit zur Lösung von Verteilungskonflikten gibt. Offenbar stecken liberale Demokratien in einem Dilemma: Dilatorische Strategien schützen vor den Illusionen identitärer Demokratie, die von Rousseau bis Carl Schmitt auf einen demokratiefeindlichen Dezisionismus hinauslaufen. Doch stellen die ökologische Krise und insbesondere die Klimakrise die Erbschaft der bürgerlichen Revolution mit ihrem
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Fortschritts- und Wachstumsoptimismus, mit ihrer Politik des Durchwurstelns und permanenter Reform in Frage. Die Absorption von Unsicherheit und die Domestizierung von Konflikten durch Zeitspiel stoßen an ihre Grenzen, wo sich Verteilungs- brutal auf Risikofragen umstellen und Risiken, die reflexiv zu bewältigen schienen, beim gefährlichen Klimawandel in basale Gefahren zurückverwandeln. Risikogesellschaften können Irritationen durch den Verweis auf ihre Wissens- und Deutungsabhängigkeit durch Wissenschaft und Expertensysteme relativieren, und auch wenn die Erdsystemanalyse ganz besonders auf naturwissenschaftliche Information und Rahmung angewiesen scheint, so visualisieren suggestive Bilder den Klimawandel – vom Hockeyschläger-Diagramm des sprunghaften Anstiegs der gemessenen und erwartbaren Erderwärmung bis zu dem kontinuierlich von Web-Cams verfolgten Auftauen der arktischen und alpinen Eismassen und den Mitleid erregenden Bildern von Eisbären auf schmelzenden Eisschollen – als eine absolute Gefahr, was durch zunehmend präzise Messungen und Prognosen möglicher Kipppunkte unterfüttert wird. Die ungläubige Reaktion der seit den 1990er Jahren gut informierten Öffentlichkeit und die hinhaltende Renitenz so genannter Klima-Skeptiker zeugen von der Kränkung, die ein ganz auf Zukunft und Zukuftsverzehr ausgelegtes Industriesystem zu verdauen hat. Was kann die Politikwissenschaft hier zum Erkenntnisgewinn beitragen? Was leistet sie als normativ ausgelegte Demokratiewissenschaft, was mit empirisch-komparativen Analysen der Qualität, Produktivität und Reformfähigkeit von Demokratien, was in der politischen Soziologie und Kulturforschung? Mehr als einige offene Fragen kann ich hier nicht thematisieren. Eine zentrale Frage ist, wie Demokratien nach ihrem Siegeszug über die posttotalitären Systeme des Ostens und Südens nun im Wettbewerb mit den verbliebenen autokratischen Regimen bei der Bewältigung gefährlichen Klimawandels und anderer Megakrisen reüssieren, auch im Rahmen demo-autoritärer Mischregime wie der Gruppe der 20. Die Anschlussfrage lautet, ob diese Fokussierung eventuell Kräfte freisetzt für die Revitalisierung demokratischer Beteiligung und die (Rück-)Gewinnung von Demokratiekompetenz, das heißt auch als Mittel gegen die steigende Unlust an der Demokratie als Herrschafts- und Lebensform.
O FFENE F R AGEN (1): D EMOKR ATIEQUALITÄT UND K LIMAPERFORMANZ In den letzten Jahren hat es auch in der deutschen Politikwissenschaft beachtliche Ansätze und Methodendebatten zur Demokratiemessung gegeben (»PVS-Debatte«). Wir wissen aber noch wenig darüber, wie Demokratiequalität und Umweltperformanz zusammenhängen und welche sozialen Milieus und Lebenslagen Träger und Stützen einer Klimapolitik »von unten« sein könnten. Derzeit haben wir kaum mehr als das normative Vorurteil, Demokratien agierten im Umweltschutz erfolgreicher als
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Autokratien oder defekte Demokratien. Zu wünschen wäre ein Demokratie-Audit (Kaiser/Seils 2005), das die umwelt- und klimapolitische Leistungsfähigkeit von Wettbewerbs- und Konkordanzdemokratien im angloamerikanischen und zentraleuropäischen Raum prüft und sich auch den »neuen Demokratien« in Ostmitteleuropa und in den Schwellenländern zuwendet. Seit 1990 ist die scharfe Dichotomie zwischen Demokratie und Diktatur einem Kontinuum unterschiedlich entwickelter Demokratien gewichen; auch Ein-Parteien-Systeme wie die VR China stehen unter weit höherem Legitimationsdruck als früher. Wie ein Demokratie-Audit aussehen könnte, kann hier nur in groben Strichen skizziert werden. Qualität und Performanz von Demokratien werden gemessen an ihrem Input, also an der effektiven Beteiligung der Bürger, der »Responsivität« der Volksvertreter und dergleichen, überwiegend aber an ihrem Output, der politischen Leistungsfähigkeit in Gestalt effektiven und effizienten Handelns der Exekutive, das auch als »politische Produktivität« bezeichnet wird (Brusis 2008). Die Messung von Demokratiequalität sollte stets beide Aspekte umfassen. Gute Klimapolitik besteht dann in einer effektiven und nachhaltigen Verringerung der Treibhausgasemissionen durch die Verbreitung nicht-fossiler Energieträger, durch Effizienzprogramme und einen ganzen Kranz von Einspareffekten in den drei Hauptverursacherfeldern Mobilität, Ernährung und Landnutzung. Zum anderen erfordert sie aber eine Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger, konventionell via Wahlen, aber auch über selbstorganisierte Verhaltensänderungen in den genannten Bereichen. Klimapolitik setzt oft zu einseitig auf gesetzlich, regulativ oder über Marktanreize vermittelte Top-Down-Policies; die Schwierigkeiten, den durch EU-Regulierung verordneten Ersatz konventioneller Glühbirnen durch Energiesparlampen durchzusetzen, wogegen sich Boykott und Obstruktion breit gemacht haben, zeigen die Notwendigkeit, für klimaadministrative Akte nicht nur die sprichwörtlich gewordene »Akzeptanz« zu erreichen, sondern auch eine aus Einsicht und Überzeugung geborene Mitwirkung der Verbraucher zu erwirken – in ökonomischer Terminologie: Ergebnisnutzen (wie Kostenersparnisse) mit intrinsischem Prozessnutzen zu verbinden (Frey 2006).
O FFENE F R AGEN (2): G LOBAL C LIMATE G OVERNANCE ? Während sich Weltmärkte und Weltgesellschaft rapide formiert haben, sind kosmopolitische Normierungen und Regulierungen nur tastend und sektoral begrenzt vorangekommen. Die demokratiepolitische Problematik besteht darin, dass herkömmliche Government-Entscheidungen nationalstaatlich verfasster Regierungen und Verwaltungen in Netzwerke grenzüberschreitender Abstimmung, Koordination und Verhandlung aufgehen, diese aber keine erkennbare demokratische Legitimation besitzen. Beteiligt sind in erheblichem Umfang private und semi-staatliche Ak-
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teure, die ebenfalls ohne formale Legitimation und Rechenschaftspflicht agieren. In dieser Mehrebenenpolitik wirken systemisch getrennte Steuerungsmechanismen zusammen: autoritative Lenkung durch staatliche Exekutiven und supranationale Governance, Koordinierunginstanzen an der Schnittstelle privater und öffentlicher Akteure (PPP) und korporative Organe, darunter machtvolle Unternehmens- und Bankenkonglomerate. Vor diesem Hintergrund hat sich seit dem Rio-Gipfel 1992 und mit dem 2005 in Kraft getretenen Kyoto-Protokoll eine Global Climate Governance entwickelt. Die zentrale, noch nicht beantwortete Frage lautet auch hier, wie sich solche hybriden Regime legitimieren lassen beziehungsweise wie sie ohne direkte Rechenschaftspflicht legitimiert werden, wenn z.B. die Bundeskanzlerin 2007 in Meseberg klimapolitisch vorprescht und dem G20-Treffen in Pittsburgh 2009 die Einführung einer globalen Börsenumsatzsteuer nahelegt. Mangels Wahlkörperschaften und Abstimmungsmodalitäten ist dies nicht auf klassische Weise durch Wahlen und Abstimmungen legitimiert; und auch, wo supranationale Organe einer parlamentarisch-ministeriellen Teilkontrolle ausgesetzt sind (wie im Fall der Europäischen Kommission), bleibt die Rede vom Demokratiedefizit. Ersatzweise treten umwelt- und klimapolitische Gruppen, auch Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen advokatorisch für kollektive Güter, für künftige Generationen oder für Gaia auf den Plan, betätigen sich vielgliedrige Bürger- und Verbrauchergruppen und mobilisieren Protestinitiativen – ist das das Leben nach der repräsentativen Demokratie (Leggewie 2003)? Wenn die G8 ihre im Juli 2009 in L’Aquila eingegangene Verpflichtung umsetzen wollten, die Zwei-Grad-Leitplanke einzuhalten, setzte das einen immensen Fortschritt freiwilliger globaler Kooperation und kosmopolitischer Mobilisierung voraus. Bis 1990 war das internationale System durch die bipolare Kontrolle zweier »Supermächte«, ferner durch regionale Hegemonialmächte und einen UN-gestützten, sektoralen oder regionalen Multilateralismus beherrscht. Seither vermochten sich weder die USA als »einzige verbliebene Supermacht« durchzusetzen, noch konnte ein von IWF, Weltbank und anderen Bretton Woods-Instanzen im Washington-Konsens formulierte Marktregulierung oder ein generalisierter Multilateralismus die Lücke zu füllen. Auch die »Gruppe der 7« (unter Einschluss Russlands G8) konnte sich nicht als informelle Weltregierung durchsetzen. Neue Akteure und Konstellationen der zwischenstaatlichen Politik sind seither aufgekommen. Als Erweiterung der G7/8 ins Leben gerufen wurde das Gremium der G20, konkret in Reaktion auf die schwere Finanzkrise 1997 in Asien und gerade in diesen Tagen mit dem Auftrag einer nachhaltigen Reform und Kontrolle des Weltfinanzsystems. Die Gruppe der 20 repräsentiert rund 85 Prozent des Weltsozialproduktes und zwei Drittel der Weltbevölkerung. Ihr Aufstieg war unvermeidlich; in einer globalisierten Ökonomie bringen Länder wie Indien und Brasilien das Gewicht ihrer multinationalen Großunternehmen ein und Länder wie China gewaltige Währungsreserven. Wird und soll diese »bunte Truppe«
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die neue, aus der Systemkrise geborene Weltregierung sein? Und wie vertragen sich liberale Demokratien westlichen Typs mit Regimen, die zum geringeren Teil Demokratien sind (wie Indien und Indonesien), zum größeren Teil aber demo-autoritäre Systeme wie die Türkei oder gar keine Demokratien wie Saudi-Arabien? Zwar haben sich nach dem Wegfall der sozialistischen Alternative vielerorts formale Demokratie und Kapitalismus durchgesetzt, aber der für den nordatlantischen Westen typische Konnex zwischen ökonomischer und politischer Freiheit existiert in vielen G20-Ländern nicht. Mit der G20 muss sich die Weltpolitik exemplarisch auf eine Art demo-autoritäres Mischregiment einstellen, in dem liberale Demokraten mit autoritären Herrschern ganz unterschiedlicher Couleur zusammenwirken, für die weder das demokratische Ideal noch das marktwirtschaftliche Modell des Westens noch eine Richtschnur sind. Das Gremium ist sicher keine Weltregierung, eher eine Clearingstelle, aus der auch kein primus inter pares herausragt, höchstens ein instabiles Duumvirat der USA und Chinas. Das ist kein geordneter Multilateralismus, sondern eine verschachtelte Struktur, die eher an die Anarchie der Staatenwelt im 19. Jahrhundert erinnert als an eine Matrix globalen Regierens im 21. Jahrhundert. Drei Facetten dieses mit der G20 exemplarisch symbolisierten Wandels sollten exemplarisch analysiert werden: (1) die Versuche, Demokratiedefizite durch einen so genannten »enhanced multilateralism« (Keohane et al. 2009) zu kompensieren, (2) die Bedeutung neuartiger Wissensregime und (3) die Chancen »partizipativer Governance« (Walk 2008). Zu 1: Angesichts der unter der Bush-Administration verstärkten Aversion gegen multilaterale Arrangements haben drei Princeton-Politologen kürzlich die Vorzüge einer multilateralen Politik gegen zu starken Lobby-Einfluss, Diskriminierung und Desinformation in den Nationalstaaten hervorgehoben (Keohane et al. 2009). In der Tat können regionale oder globale Agenden wie Handelsliberalisierung, freier Informationsfluss und die Bekämpfung des Klimawandels national gar nicht bearbeitet werden, mit anderen Worten: Die Erfüllung zentraler Aufgaben moderner Gesellschaften, wie kollektive Sicherheit und Wohlfahrt, und die Bereitstellung öffentlicher Güter erzwingt die Bündelung politischer Souveränität jenseits von Nationalstaaten aus demokratiepolitischen Gründen! Das ist kein Blankoscheck für multilaterale Politik, und man muss von Fall zu Fall betrachten, wo multilaterale Agenturen nationalen Lobby-Einfluss wirklich einhegen, ob sie Minderheiten effektiv zu einem auf nationaler Ebene verweigerten Recht verhelfen und ob sie tatsächlich die Debatten in den nationalen Öffentlichkeiten verbessern. Offen bleibt, ob und wie multilaterale Organisationen nicht nur »für das Volk« tätig sind, sondern im Sinne der Gettysburg-Formel Abraham Lincolns auch »government by the people« darstellen. Wer heute, namentlich in der Umwelt- und Klimapolitik, mehr und bessere multilaterale Kooperation will, muss also eine Verhandlungsarena bauen, in der nicht nur Lobbyisten, sondern auch Bürger mit Macht ausgestattet sind. Selbst einst so geschlossene Gesellschaften
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wie die Weltbank öffnen sich der Sphäre, die euphorisch »(Welt-)Zivilgesellschaft« getauft wurde; wer sich beispielsweise im Civil Society Policy Forum der Weltbank registriert oder in einer globalisierungskritischen Bewegung tätig ist, vertritt natürlich keinen heimischen Wahlbezirk, versetzt aber die dortige Debatte in eine globale Arena und bringt transnationale Sichtweisen mit nach Hause. Zu 2: Für die Klimapolitik hat Dahan-Dalmedico (2008) die Verschränkung wissenschaftlicher Expertise mit politischer Macht am Beispiel des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) analysiert. Das 1988 gegründete Gremium, 2007 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, hatte anfangs weder rein wissenschaftliche noch politische Aufgaben, sondern legte die Bandbreite der Erkenntnisse zum Klimawandel zur geopolitischen Konsensfindung vor. Kritiker bestreiten seine Legitimation, auf diesem indirekten Wege weitreichende politische Entscheidungen auf den Weg zu bringen, aber das Zusammenwirken inklusiver politischer Beteiligungsstandards mit dem über Peer Review und Reputation laufenden Mechanismus wissenschaftlicher Konsensfindung und der moralischen Mobilisierung durch Nicht-Regierungs-Organisationen haben dem IPCC und seinen Unterorganen ein unerwartet hohes Maß an Glaubwürdigkeit und Effizienz in der wissenschaftlichen Gemeinschaft wie in den politischen Gemeinwesen verschafft. Das IPCC kann man somit als Modell funktionierender Multilateralität auf einem höchst schwierigen Terrain studieren, um Aufschlüsse zu gewinnen für eine angemessene Architektur globaler Kooperation, in der klassischer Multilateralismus zwischen Nationalstaaten ergänzt wird durch auf den ersten Blick unpolitische Netzwerke. Zu 3: Auch diese rekurrieren auf die Expertise und Mobilisierung von NRO, deren Wirkung Walk (2008) als »partizipative Governance« rubriziert hat, die stets auch das lokale Wissen und damit eine kultursoziologische und ethnographische Dimension berücksichtigen muss.
O FFENE F R AGEN (3): Z UR POLITISCHEN S OZIOLOGIE DER K LIMABE WEGUNG Die constituencies der Weltbürgergesellschaft werden immer lokal, günstigstenfalls »glokal« sein. Und von dort wird der Ruf nach dem, aber auch der Widerstand gegen den »asketischen Zuteilungsstaat« kommen. Der Mainstream der Forschung, der praktischen Politik und der Forschungsförderung kapriziert sich derzeit auf klimapolitische Regulierungen top down. Die Formel von der »Dritten Industriellen Revolution« beispielsweise setzt auf eine intelligente Kombination aus technischer Innovation und politischer Steuerung, die für die Länder des Nordens eine »WinWin-Situation« suggeriert, Anthony Giddens sieht diesbezüglich eine Renaissance des Planungsstaates. Auch in dem innovativen Konzept »Ökologische Industriepolitik« (BMU 2008) der Bundesregierung findet sich
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kaum ein Abschnitt, der sich mit der subjektiven Seite der Implementierung des Konzepts befasst – mit den Bürgerinnen und Bürgern. Die Ebenen, auf denen das politische Subjekt der Demokratie hier auftritt, sind allein steuer- und anreizpolitisch definiert. Die Implementierung der erhofften Energie- und Klimawende wird aber – so die Gegenhypothese – kaum gelingen, wenn man die lebensweltlichen, milieu-spezifischen und kulturellen Rahmen unberücksichtigt lässt, in die hinein implementiert werden soll. Nur wenn bei der Entwicklung innovativer Konzepte der Verbraucher-, Steuer-, Subventions-, Struktur- und Forschungspolitik die Mitglieder des politischen Gemeinwesens als aktive Gestalter ihrer Zukunft angesprochen werden, können unabdingbare Veränderungen in den Lebensstilen und Handlungsoptionen realisiert werden. Eine wichtige, bisher wenig erforschte Säule ist der »Politisierte Konsum« (Lamla/Neckel 2006) und seine Rückwirkungen auf Produktion, Arbeitswelt und Wirtschaftsdemokratie, insofern sie nicht nur punktuelle Modifikationen des Verbraucherverhaltens (z.B. durch die internetgestützte Wahl eines anderen – billigeren – Stromanbieters) auslösen, sondern generelle Fragen eines nachhaltigeren Lebensstils aufwerfen und diese in Alltagsüberlegungen überführen. Hier können wiederum die Strategien von Unternehmen und Industrieverbänden ansetzen, die über ein simples Greenwashing hinausreichen (vgl. den jüngsten Appell von 500 multinationalen Konzernen zum Kopenhagen-Gipfel) und auf die Ansprüche von Kunden und Belegschaften reagieren. Kristallisieren sich hier eventuell innovative Nischen-Milieus in der Mainstream-Kultur heraus, deuten (stets mit Vorsicht zu genießende) Umfragen auch darauf hin, dass klimapolitische Zielsetzungen und Forderungen ebenso mehrheitsfähig geworden sind. Laut einer Emnid-Bertelsmann-Erhebung vom August 2009 sehen deutsche Jugendliche im Klimawandel neben der Armutsbekämpfung die größte globale Herausforderung. Umfragen der Marktforschung und Eurobarometer zufolge spielt der Klimaschutz für die große Mehrheit der Wähler eine wichtige bis sehr wichtige Rolle. Galt Umweltschutz jahrelang als Jobkiller, sind in Nordamerika und Nordwesteuropa nunmehr fast alle davon überzeugt, Investitionen in erneuerbare Energien stellten das beste Rezept gegen die Weltwirtschaftskrise und eine echte Jobmaschine dar. Die wichtigsten Agenten des Wandels – kritische Konsumenten, Energierebellen, isolierte Klimahelden, die verstreute Nachhaltigkeitsintelligenz in Unternehmen und Verwaltungen – bleiben (trotz der zum Teil an Regierungen beteiligten grünen Parteien) in der etablierten Politik marginal. Ihnen ist eine außerparlamentarische Bewegung neuen Typs vorbehalten, und wo diese sich neuer Kommunikationsmedien bedient, kann sie sehr breitenwirksam werden; zu Recht wird auf den Einfluss dieses katalytischen Wählersegments bei den letzten Wahlen in Australien, Kanada und Japan hingewiesen. Eine Infratest-Umfrage vom August 2009 hat nun ergeben, dass knapp ein Fünftel der unentschiedenen oder noch nicht fest entschiedenen Wähler am ehesten die Partei desjenigen Kanzlerkandidaten
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wählen würden, der am meisten »für alternative Energien, eine ökologische Wirtschaft und eine deutsche Führungsrolle bei internationalen Klimaverhandlungen« eintritt. Klimapolitik als Entscheidungs- und Wanderungsmotiv – das ist neu und hätte auch den deutschen Wahlkampf 2009 eigentlich inspirieren können.
L ITER ATUR BMU (2008): Ökologische Industriepolitik. Nachhaltige Politik für Innovation, Wachstum und Beschäftigung, Berlin: BMU. Brodocz, André/Llanque, Marcus/Schaal, Gary S. (Hg.) (2008): Bedrohungen der Demokratie, Wiesbaden: VS. Brusis, Martin (2008): »Reformfähigkeit messen? Konzeptionelle Überlegungen zu einem Reformfähigkeitsindex für OECD-Staaten«. PVS 49/1, S. 92-113 Dahan-Dalmedico, Amy (2008): Climate expertise: Between scientific credibility and geopolitical imperatives. Interdisciplinary Science Reviews, 33/1, S. 71-81. Frey, Bruno/Stutzer Alois (2002): Prozessnutzen in der Demokratie. In: Manfred Rehbinder/Martin Usteri (Hg.), Glück als Ziel der Rechtspolitik, Bern: Stämpfli, 193-209. Giddens, Anthony (2009): The Politics of Climate Change, Cambridge: Polity. Günther, Klaus (2006): Politik des Kompromisses. Dissensmanagement in pluralistischen Demokratien, Wiesbaden: VS. Harich, Wolfgang (1975): Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der »Club of Rome«, Reinbek: Rowohlt. Kaiser, André/Seils, Eric (2005): Demokratie-Audits. Zwischenbilanz zu einem neuen Instrument der empirischen Demokratieforschung. PVS 46/1, S: 133-43. Keohane, Robert O./Macedo, Stephen/Moravcsik, Andrew (2009): Democracy-Enhancing Multilateralism. International Organization 63/1, S. 1-31. Lamla, Jörn/Neckel, Sighard (Hg.) (2006): Politisierter Konsum – konsumierte Politik. Wiesbaden: VS. Latour, Bruno (2008): Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer Symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Leggewie, Claus (2003): Die Globalisierung und ihre Gegner, München: Beck. Luhmann, Niklas (2000): Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Walk, Heike (2008): Partizipative Governance. Beteiligungsformen und Beteiligungsrechte im Mehrebenensystem, Wiesbaden: VS. WBGU (2009): Kassensturz für den Weltklimavertrag. Der Budgetansatz, Berlin: WBGU.
Es »neiget« nicht mehr, sondern es »zwinget« Klimawandel, Politikwissenschaft und ein gesteigertes Anspruchsniveau Georg Bollenbeck
Vom Wetter reden die Menschen, seitdem es sie gibt. Sie tun dies, weil der Stoffwechsel zwischen ihnen und der Natur eine anthropologische Konstante bleibt. Aber je geringer die Naturbeherrschung, desto stärker erscheint die Natur den Menschen als ein großes »Überraschungsfeld[es], in das die erfolgreiche Praxis sozusagen Inseln des Neutralisierten und Gewohnheitssicheren eingebaut hat […]« (Gehlen 1975: 99). Das gilt besonders für das Wetter. Von seinen destruktiven Elementargewalten wie auch von seiner fruchtbringenden Gunst gehen viele Überraschungen aus. Darauf musste man sich seit je einstellen. Vor den Kapriolen des Wetters schützte uns in zunehmendem Maße der technische Fortschritt. Aber der ist risikoreich geworden. Die Dynamik des Kapitalismus scheint inzwischen die Kosten für die Umwelt so hoch zu treiben, dass diese langfristig nicht mehr zu begleichen sind. Von daher das paradoxe Phänomen: Heute kann auch vermeintlich »gutes Wetter« einen bedrohlichen »von Menschen gemachten« Klimawandel anzeigen.
1. Bereits in Babylon und im antiken Griechenland beschäftigt man sich systematisch mit dem Wetter (vgl. Fritscher 2000: 88-94). Aber erst im Gefolge der europäischen Aufklärung wird es als Relevanzphänomen entdeckt, naturwissenschaftlich erforscht und universalgeschichtlich bewertet. Wenn Francis Bacon eine Erfahrungswissenschaft fordert, die Naturerscheinungen »rein, von jedem Schein und von jeder Wunderhaftigkeit unberührt« zu untersuchen hat, dann zeigt sich hier ein neuartiges Verständnis von Theorie, »die nicht mehr ruhende und beglückende Anschau-
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ung der Dinge ist – wie es die Antike gesehen hatte –, sondern als Arbeit und Kraftprobe begriffen wird« (Blumenberg 1966: 385). Seitdem steigen in einer deistisch, pantheistisch oder materialistisch gedeuteten Welt Beobachtung, Experiment und instrumentenvermittelte Naturerkenntnis im Kurs. Erst »die langsame Erfindung des Thermometers« (Weigl 1990: 86ff.) ermöglicht geographische und meteorologische Klimatologie. Das Überraschungsfeld Wetter verwandelt sich so in ein Forschungsfeld. Die aufklärerische »Universalgeschichte« bewertet das Klima (im Sinne langfristiger Wetterphänomene in unterschiedlichen Zonen) als einen entscheidenden Faktor innerhalb des Zivilisationsprozesses (Rohbeck 2000: 36ff.). Montesquieus Versuch, soziale Veränderungen monokausal aus natürlichen Lebensbedingungen wie Boden und Klima zu erklären, greifen Geschichtstheoretiker wie Turgot, Ferguson oder Rousseau auf. Aber sie lehnen dessen Determinismus ab, auch indem sie auf andere Faktoren verweisen: physische Großformen der Erde, Vererbung, Erziehung, die Kultur, die Politik und die Ökonomie. Auch das Klima gilt als ein Bestandteil dieses allgemeinen geschichtsphilosophischen Ermöglichungszusammenhangs. Es »zwinget nicht, sondern es neiget« (Herder 1967: 273), heißt es bei Herder. Unter gleichen klimatischen Bedingungen sind unterschiedliche Gesellschaften möglich, weil nicht nur die äußerlichen Bedingungen der Natur, sondern auch die menschliche Arbeit ausschlaggebend für den Verlauf der Geschichte und den Zustand der Gegenwart sind. Die Menschen produzieren zwar ihre Lebensverhältnisse selbst, aber sie bleiben dabei vom Klima abhängig: Das ist von nun an eine Grundannahme universalgeschichtlicher Darstellungen.1 Heute erlaubt eine verfeinerte instrumentengestützte Naturerkenntnis die präzise Bestimmung eines Klimawandels mit desaströsen Folgen. Die Launen des Wetters drohen nicht mehr nur hier und da den Urlaub oder die Ernte zu verhageln. Seit mehr als 20 Jahren schwingt in der alltäglichen Rede vom Wetter auch die Sorge über irreversible Veränderungen des Klimas im Weltmaßstab mit. Dürreperioden und Sturmfluten, zu heiße Sommer und zu warme Winter, Missernten und Artensterben werden als Zeichen eines drohenden Unheils angesehen. Die mediale Aufbereitung mag das Meinungsklima aufheizen. Presseberichte, Sachbücher, »Ökothriller«, Plakate, Filme, Fernsehen und Internet, Eisbären ohne Eis, Schiffswracks in der Steppe und Skilifte auf der grünen Winterwiese – offensichtlich bietet der Klimawandel den nötigen Rohstoff für Skandalisierungen, Bedrohungsgeschichten und apokalyptische Szenarien (vgl. Weingart/Engels/Pansegrau 2008). Aber die Einsicht in den medienbedingten Alarmismus entpflichtet uns nicht von der Anerkennung wissenschaftlicher Befunde. Diverse Forschungsaktivitäten, verbesserte Wetterstatistiken, ozeanographisch ausgerüstete Schiffe, Wettersatelliten, Computermodelle und Theorien dynamischer Systeme – die Klimatologie 1 | Vgl. wie Jared Diamond (2005: 334) neben anderen Faktoren den Klimawandel für den Untergang der Wikingersiedlungen in Grönland verantwortlich macht.
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zeigt, dass es einen vom Menschen verursachten Klimawandel gibt mit der Gefahr eines Anstiegs der globalen Mitteltemperatur, im schlimmsten Fall, innerhalb von 100 Jahren bis zu fünf oder sechs Grad.2
2. »Der überklimatische Kunstmensch, der die Nachtheile jedes Klima`s zu compensiren weiß und die Ersatzmittel für das, was dem Klima fehlt (z.B. Öfen), in jedes Klima schleppt – ein anspruchsvolles, schwer zu erhaltendes Wesen!«, heißt es bei Nietzsche. »Schwer zu erhalten« scheint inzwischen dieses Wesen nicht nur wegen der schwindenden fossilen Energien, sondern auch wegen einer völlig neuen Bedrohungslage. Nun »neiget« das Klima nicht mehr, sondern es »zwinget« die Menschen zu einem grundlegenden Einstellungs- und Verhaltenswandel. Aber wie lässt sich dieser nötige Wandel herstellen; wer sind dessen staatliche, privatwirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Akteure; welche Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse sind freizusetzen; schließlich, welches politische System ist eher zu einer ökologisch verträglichen Sozial- und Wirtschaftspolitik fähig? Für die Beantwortung dieser Fragen kann die Politikwissenschaft zunächst ein gewisses Exklusivrecht beanspruchen, geht es ihr doch um das Zusammenleben der Menschen (nicht im soziologischen Sinne einer Vergemeinschaftung/Vergesellschaftung oder, um mit Georg Simmel zu sprechen, einer »Natur der Gesellschaft« als soziale Konstruktion), sondern im Sinne von Herrschaftsformen und Konsensfindung, von politischen Parteien und Bewegungen, internationalen Beziehungen und Konflikten. In »Gibt es ein Leben nach der Demokratie? Herausforderungen des Westens durch eine Naturgefahr« geht Claus Leggewie von dem Bedrohungsszenario der Klimatologie aus und er erörtert die Möglichkeiten politischen Handelns. Der großen Koalition von »formale[r] Demokratie und Kapitalismus« traut er nur eine eingeschränkte Problemlösungskapazität zu. Sein Beitrag widerlegt den hämischen Standardvorwurf gegenüber den Sozialwissenschaften, sie seien unfähig gesellschaftliche Krisen zu prognostizieren. Gesellschaftliche Krisen/Umbrüche mögen nicht theoriefähig sein, weil sich aus ihnen vielleicht Lehren, aber keine Gesetze ablesen lassen. Der Klimawandel ist mit seinen destruktiven Folgen für Leggewie keine vage Prognose, sondern eine naturwissenschaftlich verbürgte Verlaufsform mit sich beschleunigenden Folgeschäden: Hunger, Migrationsbewegungen, Kriege um Böden und Wasser. Man kann dieses Szenario nicht mehr als »Apokalypsepuzzle« abtun. Und eine Politikwissenschaft, die angeblich wertfrei, analytisch und methodisch sich an den Naturwissenschaften orientierend, das Zusammenleben der Menschen erklären will, ist angesichts dieser neuartigen Bedrohungslage völlig überfordert. 2 | Von möglichen fünf bis sechs Grad spricht der Gründungsrektor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, vgl. Roßbach 2008.
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Für den Politikwissenschaftler Leggewie gilt dies nicht. Sein normatives Demokratieverständnis (mit einer ideengeschichtlichen Rückvergewisserung, die weiß, dass in der aristotelischen Tradition der Bürger als Seele des Staates gilt) schärft den Blick und steigert das Anspruchsniveau. So macht er in der Gegenwart erhebliche Demokratiedefizite aus und er traut für die Zukunft der demokratischen Partizipation viel zu. Autoritäre Optionen, die auf einen hart durchgreifenden Zuteilungsstaat setzen, verwirft er. Offenbar hat er auch kein Vertrauen in die vermeintlich pragmatische Vernunft der wissenschaftlich-technischen Experten und Kommissionen. Also weder Wolfgang Harich noch Helmut Schelsky. Leggewie gehört auch nicht zu jenen politikwissenschaftlich verbildeten Wanderpredigern, die den Hochwertbegriff Demokratie besingen, ohne auf die politischen Realitäten zu schauen. Er benennt deren Mängel: das kurzfristige Durchwursteln und den durch die nächste Wahl eingeschränkten Zeithorizont, demokratisch nicht legitimierte supra- und transnationale Regulierungen, über Marktanreize vermittelte Top-Down-Policies oder einen nationalen Lobby-Einfluss mit starken Verhinderungsqualitäten. Genau besehen, geht es in dem Beitrag nicht nur um Probleme des Klimaschutzes und Energiewandels mit Blick auf defizitäre demokratische Praxen. Leggewie will (hier zeigt sich sein gesteigertes Anspruchsniveau) mehr: eine »außerparlamentarische Bewegung neuen Typs« und den Bruch mit einem konsumistischen Lebensstil alten Typs. Die Akteure des Wandels sollen die selbstbestimmten Bürgerinnen und Bürger sein. Das mag zunächst banal klingen. Aber damit stellt er sich in eine aufklärerische Tradition, die, etwa bei Kant, bürgerliche Selbstständigkeit als Voraussetzung für politische Partizipation bestimmt. Und damit stellt er sich gegen die Rede von »den Menschen« und den sich darin artikulierenden entmündigenden Fürsorgeanspruch der parteipolitischen Apparate und Sachzwangapologeten. Leggewie unterschätzt keineswegs die Potentiale des Parlaments und der Parteien. Aber er sieht die wichtigsten Agenten des Wandels in einer Art neuer APO; in einer bunten, politisch handlungsfähigen Gruppe, zu der kritische Konsumenten, verstreute Nachhaltigkeitsintelligenzler in den Unternehmen, diverse Klimarebellen und eine sich vernetzende außerparlamentarische Bewegung zählen. Seine Forderung »Abschied vom konsumistischen Lebensstil« meint keine lebensreformerische Weltflucht in Entschleunigungsoasen mit zehn verschiedenen Müslisorten; kein trendiges Greenwashing mit Stromanbieterwechsel und Solarzellen auf dem Dach, sondern einen grundlegend veränderten Lebensstil.
3. Von Foucault kann man lernen auch auf das Nichtgesagte zu achten. Ein kühler Diskursbeobachter, so meine Vermutung, ein Beobachter, der auch in Kategorien der Generationskohorten denkt, könnte darauf hinweisen,
G EORG B OLLENBECK
dass in Leggewies Citoyenpathos achtbare Spuren der nichttotalitären eher libertären 68er Bewegung zu finden sind, dass allerdings eine andere Spur dieser Bewegung noch stärker verwischt wird: die Spur der Kapitalismuskritik. Der Kapitalismus ist, um den Marxbewunderer Max Weber zu zitieren, »die schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens«. Und diese Macht bestimmt noch immer ein ressourcenvernutzendes Naturverhältnis mit beschränktem Zeithorizont. Sie ist durchaus in der Lage, neue umweltverträgliche, ressourcenschonende und risikoarme Technologien zu entwickeln. Sie wird aber auch weiterhin, wenn es Gewinne verspricht, neue umweltbelastende, ressourcenvernutzende und risikoreiche Technologien nutzen wollen – ganz zu schweigen von dem Klimakiller Kohle und der risikoreichen Atomenergie. Deshalb wäre genauer zu analysieren, welche Interessenvertreter in der Wirtschaft, in der Politik und in den Medien die nötigen Maßnahmen gegen den Klimawandel verhindern, verschleppen oder lediglich diskursiv entsorgen; und es wäre zu erörtern, ob nicht nur unser »Lebensstil«, sondern auch der »Produktionsstil« grundlegend verändert werden müsste. Diese Kritik unseres besserwisserischen Diskursbeobachters mag zutreffen, aber sie erledigt nicht den kognitiven und appellativen Rang des Beitrags. Leggewie ist ein anerkannter Wissenschaftler und angesehener public intellectual. Er hält Distanz zum Zeitgeist, aber will in seiner Zeit wirken. Deshalb weisen seine Texte oft eine Doppeladressierung und ein virtuoses Resonanzkalkül auf, ein Miteinander von großer Problemsensibilität, analytischer Schärfe und diskurstaktischer Dämpfung. Bezeichnend dafür, wie er sich in den herrschenden Diskurs einfädelt, ohne sich von ihm beherrschen zu lassen: Der Titel seines Beitrags spricht mit »Demokratie«, »Herausforderungen des Westens« und »Naturgefahr« einen unstrittigen Hochwertbegriff, eine weltpolitische Konfliktlage und ein medienpräsentes Bedrohungsszenario an. Sein Verfasser betreibt allerdings keine politikwissenschaftlich drapierte Leitartikelei. Vielmehr analysiert er blockierende Demokratiedefizite und er verweist unter Rückgriff auf unterschiedlich gestaffelte Traditionen auf mögliche Alternativen – chapeau!
L ITER ATUR Blumenberg, Hans (1966): Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Diamond, Jared (2005): Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, Frankfurt a.M.: S. Fischer. Fritscher, Bernhard (2000): Art. Meteorologie. In: Hubert Cancik/Helmuth Schneider (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 8, Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler, S. 88-94. Gehlen, Arnold (1975): Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. 3., verbesserte Auflage. Mit fünf Abbildungen auf Kunstdrucktafeln, Frankfurt a.M.: Athenaion.
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Herder, Johann Gottfried (1967): Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Sämtliche Werke Bd. 13, Hildesheim: Olms. Rohbeck, Johannes (2000): Technik – Kultur – Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Roßbach, Henrike (2008): Der Temperatur-Fühler. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30/31. August. Weigl, Engelhard (1990): Instrumente der Neuzeit. Die Entdeckung der modernen Wirklichkeit, Stuttgart: J. B. Metzler. Weingart, Peter/Engels, Anita/Pansegrau, Petra (2008): Von der Hypothese zur Katastrophe. Der anthropogene Klimawandel im Diskurs zwischen Wissenschaft, Politik und Massenmedien. Unter Mitarbeit von Thomas Hornschuh. 2. Auflage, Opladen, Farmington Hills: Budrich.
Fixing Climate Change Means Fixing Democracy Benjamin R. Barber
Claus Leggewie rehearses Arundhati Roy’s provocative question »Is there life after democracy?« in order to come to terms with a disturbing modern paradox: democracies often seem less effective in dealing with long term crises like climate change than more authoritarian, top-down regimes. China, for example, may seem more capable of responding to catastrophic climate change than the United States or Germany. For what has become apparent is not only that authoritarian regimes are able to modernize and industrialize in ways that escalate warming, but that they are also capable of becoming »green oligarchies« able to develop alternative energy and other solutions to warming that seem beyond the reach or will of the Western democracies. Democracy affords a politics of procrastination that is quite deadly in the environmental arena. Does this mean that democracies simply cannot deal with climate change? If this is the case, there may quite literally be no life after democracy! Yet is this really the pertinent question? Implicit in Leggewie’s useful discussion is a prior question of whether democracy is in any meaningful sense actually democratic in our current world? How democratic can democracy be given two fateful constraints operating on it – constraints that would seem to make representative systems in the West less than effectively democratic? The first constraint is inherent in representation itself and arises out of the alienation and ennui that accompany top-down representative systems, a version of the »iron law of oligarchy.« The second is the brute reality of interdependence and the consequent impotence of sovereign nations in dealing with the global challenges they face, of which climate change is perhaps the most pressing. Representation allowed democracy to survive the challenge of scale as towns became cities and provinces turned into nation states. But it did so at a very considerable cost, the absence of significant participation, engagement and civic responsibility among alienated citizens, disgruntled non-participants who nowadays view »government,« »the state« and often
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»democracy« itself as alien and hostile entities that subvert rather than represent their will and interests and thereby undermine democracy’s legitimacy. Anger at representatives can generate a kind of faux populism, often right wing, that turns democratic politics into the anti-politics of resentment and opposition. Under these circumstances, jaded voters come to see themselves as the people versus the public, while democracy engenders only distrust of government rather than the will to make it democratic and effective. The American public has for thirty years been voting with vigor and virulence against … the American public. The public calls it »Washington« or »politics as usual« or »government,« but the target is the Republic – the public’s democratic right to control its own destiny through public institutions and the »people’s representatives« the people elect. The real struggle today is the struggle of the people against the public. Leggewie argues Germany is undergoing an analogous deformation with equally devastating consequences, and the evidence suggests he is correct. The problem lies not with ambivalence about messy democratic politics but with a powerful prevailing ideology: an ideology of anti-politics that decouples »we« from »we the people« and turns the people into an enemy of the public (the republic or res publica) for which it stands. Populists no longer ask government to address their fears and needs, but cast government as the source of their fears and the enemy of their needs. The social contract is broken and the trust on which it depends fractured. The government becomes a seeming center of special interests and private lobbies, while (ironically) the private sector is granted an irrational trust so that critics of state monopoly refuse to grapple with private monopoly or the real problem of private interest (and private money) in public politics. The second constraint that undermines democracy and robs it of the capacity to deal with global issues like environmental degradation and CO2 emissions is the brute reality of interdependence. Our crucial modern dilemma is the fundamental asymmetry that exists between our challenges and our remedies: the reality that though so many of our 21st Century challenges are global, too many of our democratic remedies remain national and parochial, still wedded to 18th century institutions. It is not democracy that has failed to come to terms with warming but sovereignty – democracy tethered to the sovereign nation state, whose borders are evermore irrelevant to the challenges of a borderless world. Not just climate change but crime, drugs, prostitution, runaway markets, public health perils, weapons of mass destruction, labor migration, terrorism and war are all global threats rooted in an unavoidable modern interdependence. Yet democratic responses emanate from parochial states and often fail to significantly impact the problems. This is true for hegemonic »superpowers« like the United States as well as for other less powerful nations. If the United States as the most powerful nation on earth cannot control its own destiny, how can Germany, let alone Slovenia or Tunisia, be expected to do so?
B ENJAMIN R. B ARBER
The failure of Copenhagen (Leggewie had a remarkable sanguine view of what might be possible in his remarks on the G 8 summit at L’Aquila in July 2009!) was not a failure of democracy but a failure of sovereignty. 193 sovereign states spent two weeks proving why their sovereignty did not permit them to take the steps that collectively, they acknowledge, had to be taken if the planet was to survive. They insisted the frontiers that demarcated their peoples were more weighty than the environmental perils that united their peoples. As Leggewie remarks, climate change is a problem for »humankind at large.« What he does not say so explicitly is that there is no democratic entity that represents humankind at large, and that it is not so much the presence of regional and national democratic governments but the absence of global democratic governance that presents us with such grave problems. Unless we can either globalize democracy or democratize globalization, democratic institutions are likely to become every less relevant to our lives. Trapped in the nation state box, where humankind is splintered into hundreds of discrete »nations,« democracy cannot be expected to address the problems of humankind at large. The two issues of a privatized people using democratic populist rhetoric to oppose democracy and of obsolete democratic power caught up in rival sovereign nation states converge in a most destructive way. The neo-liberal ideology that has dominated the last forty years, entailing marketization and privatization, has delegitimized and eroded democracy from within even as globalization and interdependence have undermined it from without. As Ronald Reagan famously said, government is »part of the problem not part of the solution« – a conclusion that rationalizes the absence of global government rather than attempting to overcome it. Channeling Jefferson, Leggewie rightly proposes that the remedy for the deficiencies of democracy is more democracy. We need also to understand that the remedy for the deficiencies of nation-state democracy is not just more democracy but global democracy. While neo-liberal rhetoric is directed against »big government« and »welfare bureaucracy,« its victim has often been the ideals and practices of democracy itself – which I think is the real theme behind Leggewie’s concerns. For to argue that government cannot achieve public ends is to say that the people are incapable of governing themselves. In buying into this, we the people literally disempower ourselves. At the very moment when globalization is removing many of the most important public goods like responding vigorously to global climate change from sovereignty’s compass, the very idea of public goods is under assault within nationstates in ways that further cripple citizens and parliaments alike. Leggewie may be overly optimistic in thinking that »strategic consumers« can be a vehicle of sustainable economics. Consumers think privately, and properly so. Sustainability is a public good and demands the judgment of public citizens (see Barber 2007.)
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I believe Leggewie and I share the core conviction that to restore the capacity of democracy to deal with climate change requires that we restore democracy itself. The aim must be to create a democracy of public judgment rather than private opinion; a democracy of citizens and not consumers; a democracy in which deliberation about public goods (which automatically entails the defeat of »short-termism«) replaces poll taking which represents, at best, aggregated private interests. If democracy means only the rule of the majority as measured by an aggregation of private opinions, there is no question that it will be unable to deal with climate change. Prudent dictators will have to do what imprudent consumers refuse to do. But prudent, deliberative citizens beat prudent, deliberative dictators (whether authoritarian rulers or technical experts) every time, because citizens can embody the wisdom of crowds and the judgment of a general will – always preferable to the wisdom of individuals and the judgments of an enlightened private will. The politics of the general will is always superior to the rationality of the enlightenedindividual, which is why we must prefer Rousseau to Kant, Jefferson to Bentham, and – dare I say? – Leggewie to the children of Hegel.
L ITER ATURE Barber, Benjamin R. (2007): Consumed. How Markets Corrupt Children, Infantilize Adults, and Swallow Citizens Whole, New York: Norton & Company.
… wie wir sie kannten? Politik und Demokratie angesichts des Klimawandels Adalbert Evers
Das große Verdienst von Claus Leggewie in seinen jüngsten Publikationen zum Klimawandel besteht darin, eine Brücke zu schlagen zu den Diskussionen um den gegenwärtigen Zustand, vor allem aber auch um die Zukunft von Politik und Demokratie. In dem vorliegenden Beitrag hat er noch einmal verdichtet, was er in anderen Veröffentlichungen (v.a. Leggewie/Welzer 2009) weiter ausgebreitet hat. Ich möchte mich im Folgenden nicht näher mit Punkten beschäftigen, für die er überwiegend Zustimmung ernten dürfte. Da ist zunächst einmal der Verweis auf die Grenzen nationalstaatlicher Politiken und die Frage nach den Risiken und Möglichkeiten transnationaler Politiken und Abkommen, die auch zusammen mit weniger demokratischen und diktatorischen Regimen erarbeitet werden müssten. Dann gibt es seine Forderung, einmal genauer zu untersuchen, ob und inwieweit Demokratien wirksamer als andere Gesellschafts- und Regierungssysteme mit klimapolitischen Herausforderungen umgehen können. Tatsächlich wäre es ein großer Gewinn, wenn man hier zu ähnlichen Befunden gelangen könnte wie Amartya Sen in seinen Studien zum Problem des Hungers, wo deutlich wurde, dass in Demokratien Hunger und Hungersnöte seltener aufgetreten sind als in anderen Regierungssystemen, die es sich eher leisten können, auf elementare Bedürfnisse ihrer Bürger keine Rücksicht zu nehmen. Schließlich gibt es im vorliegenden Beitrag von Claus Leggewie noch eine dritte Forderung – die nach einer Requalifizierung demokratischer Politik. Vollziehen soll sie sich vor allem dadurch, dass weit mehr als bisher »die Mitglieder des politischen Gemeinwesens als aktive Gestalter ihrer Zukunft angesprochen« werden, statt sich weiterhin wie bisher vor allem politischer Verfahren zu bedienen, die die Bürgerinnen und Bürger, »das politische Subjekt der Demokratie […] allein steuer- und anreizpolitisch« definieren. Auch bei dieser dritten Forderung könnte man sagen – geschenkt. Sind nicht die Ausarbeitungen, Studien und Programme Legion, bei denen man sich vor allem von der Aktivierung und Einbezie-
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hung der Zivilgesellschaft und den zahlreichen Gruppen von NGOs, von »Subpolitik« (Ulrich Beck) in diesem Sinne mehr Durchschlagskraft für progressive klimapolitische Zielsetzungen erhofft? Wo soll hier das Neue und Besondere sein? Als jemand, der sich seit langem mit dem Thema »soziale Bewegungen und Zivilgesellschaft« beschäftigt (allerdings vor allem in Bezug auf Fragen der Sozialstaatsreform), möchte ich darauf aufmerksam machen, dass an dieser Stelle in dem Entwurf von Claus Leggewie etwas Elementares angesprochen wird, etwas, das im üblichen Diskurs um mehr Wirksamkeit demokratischer Politik durch »mehr Zivilgesellschaft« kaum vorkommt und bislang höchst kontrovers ist. Gemeint sind die Passagen, wo Claus Leggewie eine stärkere Rolle der Bürger nicht allein in bekannten und gehabten, sondern auch in neuen Formen anspricht. Er fragt hier nämlich auch nach der Rolle, die den Bürgern als Konsumenten zukommen könnte, spricht von bisher wenig erforschten Möglichkeiten einer Politisierung des Konsums und von »Strategien von Unternehmen und Industrieverbänden […] die über ein simples Greenwashing hinausreichen«. Es geht ihm also um mehr als eine Chancenmehrung für Demokratie durch eine stärkere Einbeziehung einer Zivilgesellschaft der NGOs. Er geht offenbar davon aus, dass wichtige Veränderungsimpulse auch von den Märkten selbst kommen können, sei es von Konsumenten, die ihre zivile Bürgermoral nicht am Eingang des Supermarktes abgeben, oder sei es von Unternehmen, die klimapolitische und andere Gemeinwohlziele in ihre Agenden mit aufnehmen und damit als zivilgesellschaftliche Akteure auch »corporate social responsibility« unter Beweis stellen wollen. Bei verschiedenen öffentlichen Auftritten ist Claus Leggewie gerade mit seinen Hinweisen in diese Richtung, auf neue Formen und Terrains von Politik und Demokratie am stärksten in die Kritik geraten. Und tatsächlich sind Einwände wohlfeil. Zahlreiche Untersuchungen haben demonstriert, wie selektiv das Bürgergewissen von Konsumenten sein kann, dass es ihnen oft reicht, zu seiner Beruhigung einmal symbolisch das Wasserglas zu heben (Fahrrad kaufen, Wärmeheizpumpe anschaffen, sich anders ernähren) um dann in allen wesentlichen Dingen weiterhin Wein zu trinken und so unbekümmert um Umwelt und Klima zu agieren wie bisher – mit Urlaubsflugreisen, mehr Wohnfläche u.a.m. Und was die Unternehmen angeht, wird argumentiert, dass sie dann, wenn sie ernsthaft gemeinwohlorientierte Ziele zum Teil ihrer Agenda machen, sehr bald lernen müssen, dass Marktgesetze so etwas nicht erlauben. Die derzeit wohl artikulierteste Absage an jede Form der Einbeziehung der Bürger als Konsumenten und der Unternehmen als potentiell progressiver verantwortlicher Akteure in die Politik hat hier Robert Reich (2007) formuliert. Mit zahlreichen empirischen Verweisen zeigt er, dass die amerikanischen Bürger als Konsumenten letztlich nur das Schnäppchen zum eigenen Vorteil suchen – unabhängig von ihren gesellschaftsund umweltpolitischen Überzeugungen. Abgesehen von der überwiegen-
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den Zahl der Fälle, wo sich »corporate social responsibility« ohnehin nur als das bereits erwähnte Greenwashing entpuppt, haben laut Reich in den wenigen anderen Fällen die Märkte engagierte Unternehmen entsprechend abgestraft. Sein folgerichtiger Appell ist, die Finger von entsprechenden illusionären Konzepten und Praktiken zu lassen und zurückzukehren zur guten alten Politik, bei der dann auch Zivilgesellschaft wieder zum bekannten, vom Markt und dem Konsumenten strikt geschiedenen Sektor der aktiven Staatsbürger wird; als solche sollen sie ihre Forderungen ganz selbstverständlich nicht an die Unternehmen, sondern an die regulative staatliche Politik adressieren. Aber kann es ein solches von Reich beschworenes Zurück zur Politik, wie wir sie kannten (oder besser: zu einer demokratischen Politik der Aktivbürger, wie viele sie trotz aller Enttäuschungen bis heute wünschen) geben? Warum fällt es uns so schwer, Offenheit zu entwickeln für die ungewissen Möglichkeiten von Konzepten, die sich an Bürger auch als Konsumenten und an Unternehmen auch als Organisationen mit einem durch den Markt nicht vorab determinierten Entscheidungsraum richten? Die überwiegend strikt empirische Argumentation mit den meist bescheidenen Wirkungen bisheriger Formen der »Politik mit dem Einkaufswagen« (Baringhorst u.a. 2007), wie sie Reich und viele andere artikulieren, muss man nicht überzeugend finden. Schließlich sieht – gleichermaßen strikt empirisch betrachtet – die Erfolgsbilanz des bekannten politisch-staatlichen Weges zur Grenzsetzung von Unternehmen und Märkten ebenfalls sehr bescheiden aus. Aber zu Recht wird daraus nicht abgeleitet, dass man deshalb davon lassen sollte. Und was theoretische Argumente angeht, so wird auch in der ökonomischen Zunft selbst argumentiert, dass es durchaus einen Entscheidungskorridor für Unternehmen gibt, innerhalb dessen sie sich auf der einen Seite klimapolitisch taub stellen und auf der anderen Seite risikobereit mit Fragen der Klimawende auseinandersetzen können. Warum also nicht, statt Versuche der letzten Jahre zur Politisierung des Konsums als bloßen Irrweg zu etikettieren, solche Bewegungen erst einmal annehmen? Warum nicht in den Politikwissenschaften untersuchen, was es mit der Politisierung von Konsumenten- und Unternehmensstrategien auf sich hat und Faktoren benennen, die darüber mitentscheiden, was daraus werden könnte? Die Arbeitshypothesen wären •
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dass sich außerhalb der bekannten institutionalisierten politisch-demokratischen Verfahren Arenen ausgebildet haben, in denen Betroffene nicht nur als Mitglieder der politischen community sondern auch als Konsumenten agieren – also als »consumer citizens« oder »Verbraucherbürger« klimapolitisch aktiv werden, sich an die Unternehmen selbst wenden und deren Verantwortung thematisieren, statt sich allein an den Staat zu wenden; dass Märkte – je nach ihrer kulturellen, sozialen und politischen Einbettung – mehr oder minder große Optionsspielräume für Unter-
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nehmen lassen, sodass es Sinn macht, von so etwas wie einer Verantwortung von Unternehmen zu sprechen, statt sie als strukturell »amoralische«, weil marktbestimmte und allein staatlich-regulativ zu beeinflussende Akteure zu sehen. Beide Perspektiven zusammengenommen würden bedeuten (auch im Zusammenhang der Klimapolitik), eine Perspektive der Ausweitung des Politischen zu verfolgen. Bürger wären dann auch dort, wo sie überwiegend als Konsumenten agieren, mitverantwortlich, ebenso wie Unternehmen, für die sich nicht einfach aus Umweltsignalen jeweils errechnen lässt, was am Markt unvermeidlich zu tun ist. Ein Plädoyer für eine Politikwissenschaft und ein Verständnis von Politik, das Unternehmen und Verbraucher-Bürger in diesem Sinne mit einbezieht, sagt noch nichts über das mögliche Gewicht, das solche Entwicklungen im größeren Zusammenhang eines Ringens um die Zivilisierung des Kapitalismus bekommen könnten. Und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Entwicklungen politisch sehr verschieden interpretiert und auch funktionalisiert werden können. Aber man sollte die beschriebenen Phänomene nicht aus Furcht davor tabuisieren, dass sie denen in die Hände spielen, die dem regulierenden Staat seit jeher Enthaltsamkeit predigen (»aufgeklärte Unternehmen und Konsumenten machen das am besten unter sich aus«). Auch sollte man nicht gleich unterstellen, dass Politik vor allem deshalb in den Bereich des Konsums und der Konsumenten verschoben wird, weil man angesichts der geringen Möglichkeiten von Bürgerbewegungen her wirksam Druck auf staatliches Handeln machen zu können, resigniert hat (»angesichts des status quo der Politik kann man als Konsument viel mehr bewegen denn als Bürger«). Warum nicht umgekehrt davon ausgehen, dass diese neuen Formen und Terrains der Politisierung auch einen Beitrag zur Revitalisierung der Formen demokratischer Politik leisten können, wie wir sie bisher kannten? Was bestimmte Konsumentengruppen heute in neuen Formen und Arenen praktizieren und einfordern, kann auch zum Bezugspunkt staatlicher Konsumenten- und Umweltpolitik werden. Und umweltpolitische Selbstverpflichtungen, die heute von einzelnen Unternehmen eingegangen werden, könnten Vorläufer staatlich sanktionierter allgemeiner Standards von morgen sein. Bereits jetzt gibt es Verfahren, wie social audits, die die Bewertung von Unternehmensstrategien zu einem organisierten öffentlichen Prozess machen, an dem Bürger, Konsumenten, Politik und Wirtschaft gleichermaßen beteiligt sind, und die damit das Instrumentarium demokratischer Politik bereichern. Alles in allem: Wenn (auch und gerade) im Kontext des Klimawandels von Politik und Demokratie die Rede ist, dann sollte nicht immer nur von Politik und Demokratie, wie wir sie kannten, gesprochen werden. Es geht darum, sich für die seit einiger Zeit zu beobachtende Ausweitung ihres Terrains und ihrer Darstellungsformen zu sensibilisieren. Das sollte auch für das viel benutzte Zauberwort von der Zivilgesellschaft gelten. Wie
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zivil eine Gesellschaft ist, hängt nicht allein von der Größe eines zivilgesellschaftlichen »Sektors« mit seinen NGOs und Assoziationen ab, sondern vor allem davon, inwieweit die soft power ziviler Wertorientierungen (und der respektvolle Umgang mit Umwelt gehört immer mehr dazu) quer durch die gesellschaftlichen Bereiche Bedeutung bekommt (Dekker/ Evers 2009), auch im Bereich der Unternehmen und des Verhaltens von Bürgern als Verbrauchern. So habe ich Claus Leggewie verstanden.
L ITER ATUR Baringhorst, Sigrid/Kneip, Veronika/März, Annegret/Nesyto, Johanna (Hg.) (2007): Politik mit dem Einkaufswagen. Unternehmen und Konsumenten als Bürger in der globalen Mediengesellschaft, Bielefeld: transcript Verlag. Dekker, Paul/Evers, Adalbert (Hg.) (2009): Civicness and the Third Sector. Voluntas (special issue) 20/3. Leggewie, Claus/Welzer, Harald (2009): Das Ende der Welt wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag. Reich, Robert (2007): Superkapitalismus. Wie die Wirtschaft unsere Demokratie untergräbt, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag.
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Entweder Kant oder Untergang: Wie viel Klimawandel verträgt die Demokratie? Ulrich Beck
1. Der Klimagipfel von Kopenhagen im Dezember 2009 war, sagen viele, ein Desaster. Ich sage das nicht. Für mich war Kopenhagen eher ein Augenöffner – zum einen für die vulkanisch veränderten Landschaften der Macht, genauer: für die sich im Verteilungskonflikt um globale Risiken herauskristallisierende »Drei-Klassen-Länder-Weltgesellschaft«. Es stehen sich gegenüber (von oben nach unten gedacht): (1) die reichen und machtvollen Staaten, (2) die neue »Klasse« der reichen Aufsteiger-Entwicklungsländer und (3) die eher armen und machtlosen, weniger entwickelten Länder, die am meisten leiden, kaum zu den Emissionen beitragen, aber auf dem weltpolitischen Schachbrett der Klimapolitik so gut wie keine Macht und keine Stimme haben. Allerdings ist das auch noch eine zu grob gezeichnete Differenzierung. Denn zum anderen war Kopenhagen gar kein Klimagipfel, sondern ein Weltwirtschaftsgipfel, den die G2 Staaten, nämlich die USA und China, dominierten. Ging es doch um Außenhandelsüberschüsse und -defizite und nicht zuletzt auch darum, die diesbezüglichen »Folterwerkzeuge« der einen und der anderen Seite auf den Tisch zu legen. Es wurden, mit anderen Worten, die Augen darüber geöffnet, dass Klima- und Finanzkrise sowie die in dramatischen Auf- und Abstiegen sich manifestierenden, geopolitischen Machtverschiebungen untrennbar miteinander verwoben sind. Die Europäer betraten das »Kopenhagener Schachbrett« der Weltklimakonferenz im Selbstbewusstsein der »Dame« oder wenigstens eines »Springers« und verließen es als geschlagene »Bauern«. Und doch hat sich gerade in den Köpfen vieler Klima-engagierter, naturwissenschaftlich denkender Europäer die Frage eingenistet, die Claus Leggewie – dem ich anlässlich dieses runden Geburtstags herzlich zu seiner öffentlichen Präsenz gratuliere! – zugespitzt formuliert: »Wie viel Klimawandel verträgt die Demokratie, wie viel Demokratie erfordert Klima-
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schutz?« Selbstverständlich, die Klimaforscher sind großartige Realisten, aber gesellschaftlich und politisch Idealisten, weil sie alle Menschen als kleine Klimaforscher sehen und infolgedessen nicht verstehen können, warum ihre apokalyptischen Modellrechnungen nicht sofort das dringend gebotene Gegenhandeln auslösen. In der Welt des homo oecologicus gibt es beispielsweise keine gerade durch Klimawandel und Klimapolitik notorisch erzeugten Ungleichheiten. Und daher droht hier der Kurzschluss von den schaurig-schönen Bildern schmelzender Eiskappen auf eine Art Notstands-Expertokratie, die das Weltgemeinwohl gegen die nationalen Egoismen und Demokratievorbehalte im Überlebensinteresse aller durchsetzt. Drei Komponenten – Antizipation der Menschheitskatastrophe, das Zeitkorsett und die sichtbar werdende Unfähigkeit der Demokratien zu entschiedenem Handeln – verleiten dazu, dass wenigstens halb unausgesprochen Wolfgang Harichs Vision des »starken, hart durchgreifenden Zuteilungsstaates« sowie des »asketischen Verteilungsstaates«, also ökodiktatorische Modelle, durch die Köpfe gerade der Engagiertesten geistern. Dagegen moralisch Sturm zu laufen mag notwendig sein, ist aber wenig hilfreich. Wenn doch nur das Müsste und Sollte ausreichen würden! Vielmehr haben wir uns – was Claus Leggewie anspruchsvoll und eindrucksvoll tut – der Frage zu stellen: Wie wird Demokratie in Zeiten des Klimawandels möglich? Oder noch schärfer gefragt: Warum ist die Weiterentwicklung der Demokratie eine conditio sine qua non für eine Kosmopolitik des Klimawandels? Ich will hier – in aller gebotenen Kürze – nur ein positives Szenario der Interdependenz von Klimapolitik und Demokratie jenseits des methodologischen Nationalismus skizzieren (wohl wissend, dass allerlei Negativszenarien möglicherweise realistischer sind, aber wer weiter alpträumen will, möge die Tagespresse lesen oder Fernsehnachrichten zu Rate ziehen).
2. Warum gibt es eigentlich keinen Sturm auf die ökologische Bastille, warum keinen Roten Oktober des Klimawandels? Warum wird den drängendsten Schicksalsfragen unserer Zeit – Klimawandel und ökologische Krisen – nicht mit demselben Enthusiasmus und vorwärtsstürmenden, demokratischen Geist begegnet wie den früheren Tragödien der Sklaverei, der Tyrannei und des Krieges? Darauf gibt es eine klare Antwort: weil der Diskurs über Klimawandel und Klimapolitik bislang ein Elitendiskurs geblieben ist, in dem es kaum eine Rolle spielt, was die Menschen auf der Straße, also Bürger, Arbeiter, Wähler denken. Wenn es aber nicht gelingt, dass die Wähler – und zwar überall auf der Welt! – ihr Kreuz für Klimapolitik machen (oft gegen ihre eigenen persönlichen Interessen), muss diese scheitern.
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Es geht ja nicht nur um die Verminderung von Emissionen, um CO2 Zertifikate, um den weltweiten Einsatz von Sonnen- und Windenergietechnologie sowie andere Errungenschaften der Klimadiplomatie. Es geht letztlich um die Großfrage, wie ein Handlungssubjekt namens Menschheit politisch auf die Beine gestellt werden kann, das im Stande ist, auf die kollektive Bedrohung des Klimawandels zu reagieren. Oder eine Nummer kleiner gefragt: Wie wird das ökologische und soziale Europa als Antwort auf den Klimawandel und die Finanzkrise möglich? Und warum ist die transnational begründete Demokratie eine Bedingung der Möglichkeit dafür, dass das gelingt? Meine völlig unzulängliche Kurzantwort lautet: WENN ÜBERHAUPT (und das muss man in Großbuchstaben schreiben), dann auf dem Hintergrund von »imagined communities globaler Risiken«: Ähnlich wie es im 19. Jahrhundert gelang, die fragmentierte Pluralität kleinräumiger Herrschaftsordnungen in »imagined communities« (Benedict Anderson) von demokratischen Nationalstaaten zu verwandeln, so könnte es am Beginn des 21. Jahrhunderts gelingen, im Angesicht der laufenden zivilisatorischen Selbstzerstörungen imagined cosmopolitan communities zu kreieren, die sich überhaupt erst in der Zustimmung und Mitbestimmung der Bürger konstituieren, und damit eine transnational-demokratische Kosmopolitik des Klimawandels zu ermöglichen. Diese kosmopolitischen Schicksalsgemeinschaften sollten die nationalen Identitäten und Staaten nicht etwa negieren, sondern durch weltbürgerliche Offenheit und Kooperation in verwandelter und gebündelter Souveränität neu begründen. Noch einmal nachgehakt: Wie also werden derartige demokratische Weltrisikogemeinschaften möglich?
3. Um die Reichweite dieser Frage zu verstehen, ist es notwendig, von scheinbar ehernen Gewissheiten Abschied zu nehmen. Denken viele, nur Nationen oder Ethnien hätten gemeinschaftsprägende Kraft, so müsste nun erkennbar und erkannt werden, dass und wie globale Risiken neuartige Schicksalsgemeinschaften stiften und insofern durch die Mauern von Nationen und Ethnien hindurch gemeinschaftsbildend demokratische Kraft entwickeln können. Auch müssen wir uns von der Gewissheit verabschieden, dass Gemeinschaftsbildung nur auf der Grundlage positiver Integration durch geteilte Werte und Normen möglich wird, und uns für die Vorstellung öffnen, dass Gemeinschaftsbildung gerade auch aus Konflikten über negative Werte (Krisen, Risiken, Vernichtungsgefahren) hervorgehen kann – ja, dass die demokratische Regulierung der durch den Klimawandel (oder auch Finanzrisiken etc.) erzeugten Konflikte wahrscheinlich die einzige Möglichkeit ist, zu wirklich konsensfähigen und nur dadurch auch effektiven Antworten und Entscheidungen zu kommen.
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Um diese paradoxe transnationale Integration durch Demokratie und Konflikt zu verstehen und zu konkretisieren, ist es ferner notwendig, zwischen selbst-induzierten und fremd-induzierten Gefahren zu unterscheiden. Im Falle der »Selbstgefährdung« sind die Entscheider über Risiken und die von ihnen Betroffenen einem Gesellschafts- bzw. Kulturkreis zuzurechnen – dies trifft auf den europäischen und US-amerikanischen Pfad der Modernisierung zu, während im Fall der »Fremdgefährdung« Entscheider und Betroffene verschiedenen Ländern, Kulturen, Weltregionen angehören; dies entspricht den postkolonialen Modernisierungspfaden. Damit wird die Ungleichheits- und Herrschaftsfrage in der »Logik« globaler Risiken selbst verortet. Das Risiko setzt die Entscheidung, also einen Entscheider voraus und erzeugt eine radikale Asymmetrie zwischen denjenigen, die Risiken wagen, definieren und von ihnen profitieren, und denjenigen, denen sie zugewiesen werden, die die »nicht-gesehenen Nebenfolgen« der Entscheidungen anderer am eigenen Leib ausbaden, vielleicht sogar mit ihrem Leben bezahlen müssen, ohne am Zustandekommen der Entscheidungen mitwirken zu können. Zwischen Selbstgefährdung und Fremdgefährdung zu unterscheiden, ist wahrlich von kosmopolitischer Brisanz, weil so das Verhältnis ganzer Weltregionen zueinander als Herrschaftsverhältnis der Externalisierbarkeit von selbstproduzierten Gefahren auf andere sichtbar wird. Die Reichen und Mächtigen im Westen produzieren und profitieren von den Risiken des Klimawandels, während die Armen und Ohnmächtigen bis in das Mark ihrer Existenz von den Nebenfolgen dieser Entscheidungen betroffen sind. Wer allerdings die Frage nach den imagined communities des Klimawandels (aber auch der Finanzkrisen usw.) stellt, darf nicht bei der Feststellung derartiger Ungleichheiten und Konfliktpotentiale stehenbleiben, sondern muss die Frage nach der Einheit der Differenz von Selbst- und Fremdgefährdung aufwerfen. Dann wird sichtbar: Nicht aus dem technokratisch erzwungenen Top-down-Konsens, sondern aus dem demokratisch kanalisierten Dissens über unabsehbare Folgen der Moderne entsteht über alle Grenzen von Nationen hinweg ein weltöffentlicher Diskurs, aus dem der Anspruch auf vernetztes Handeln hervorgeht. Die ökodiktatorischen Modelle gehen immer von dem harten technokratisch durchgreifenden Einzelstaat aus. Wie aber zwingen Staaten Staaten den Ökokonsens auf? Durch Kriege? Durch eine Weltökodiktatur? Spätestens hier wird erkennbar, dass die technokratische Versuchung in einen unendlichen Regress derselben führt, der nicht nur Werte der Demokratie und Freiheit negiert, sondern letztlich auch in der Sache wirkungslos, ja kontraproduktiv ist. Demgegenüber zielt die Grenzen übergreifende Risikodiskursivität auf die Herausbildung entsprechender Handlungsnetzwerke von unten gegen die nationalstaatlich institutionalisierten Handlungsblockaden. Ich gehe also nicht davon aus, dass Globalität aus sich heraus die Gemeinsamkeit eines »globalen« oder »planetaren« Bewusstseins stiftet. Alltäglicher Erfahrungsraum kosmopolitischer Interdependenz entsteht nicht als ein Liebesverhältnis aller mit allen. Er entsteht und besteht in
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der wahrgenommenen Not globaler Folgen zivilisatorischen Handelns. Diese Folgen erzeugen einen »kosmopolitischen Imperativ – kooperiere oder scheitere!« Über alle nationalen Grenzen und Gräben hinweg wird mit der gesellschaftlich konstruierten und im Alltag von den Menschen akzeptierten planetarischen Gefährdungsdefinition ein gemeinsamer Verantwortungs- und Handlungsraum geschaffen, der, analog zum nationalen Raum, demokratisch-politisches Handeln zwischen Fremden stiften kann (keinesfalls muss). Dies ist dann der Fall, wenn die akzeptierte Gefährdungsdefinition einerseits im Alltag »sichtbar« und im Horizont des individuellen Handelns beantwortbar gemacht wird, andererseits zu globalen Normen, Absprachen und gemeinsamem Handeln führt. Die umfangreichen Forschungen zur Entstehung entsprechender inter- und transnationaler Politikregime haben allerdings durchgängig gezeigt, wie schwierig es ist, von der Gefährdungsdefinition zur Handlungsverbindlichkeit zu kommen. Rhetorische Aufgeschlossenheit bei unverminderter Verhaltensstarre ist das dominante Muster. Damit sich imagined communities globaler Risiken herausbilden können, ist jedoch bereits die Entstehung eines kosmopolitischen Diskurshorizontes bedeutsam. Immer mehr Konflikte, Verhandlungen und Regimebildungen machen sich an Externalisierungen, den systematisch produzierten, radikal ungleichen Folgebelastungen erfolgreicher Modernisierungen fest. Man kann dies als die Entstehung einer kosmopolitischen Folgen-Öffentlichkeit im Sinne John Deweys begreifen. Dauerkommunikation über Gefährdungen ist ein wichtiger Bestandteil informeller kosmopolitischer Normenbildung. Der Normenbildungsprozess in Weltrisikogemeinschaften wäre deswegen zu eng verstanden, wenn man sein Potential auf neue, noch zuschaffende Institutionen beschränkt. Bereits vor jeder Institutionalisierung entstehen kosmopolitische Normen aus der – sagen wir ruhig: demokratischen – Empörung über Sachverhalte, die man nicht hinnehmen zu können meint. Gerade global wirksame Normen ergeben sich mitunter als »Nebenprodukte ihrer eigenen Verletzung, also rückwirkend«, wie Niklas Luhmann es ausdrückt. Mit anderen Worten: Es sind nicht unbedingt positive, formale Normensetzungen notwendig, die Entstehung globaler Normen kann sich, gleichsam von unten nach oben »negativ«, aus der Bewertung von Krisen und Gefahren speisen. Eines ist sicher: Auch wenn Kopenhagen zu keinem verbindlichen Abschluss geführt hat, das kosmopolitische, demokratische und gemeinschaftsbildende Empörungspotential, das dem Klimawandel durch alle Kontroversen hindurch innewohnt, ist weltöffentlich sichtbar und hörbar geworden. Es in institutionelle, demokratisch-politische Formen zu gießen, ist allerdings noch nicht einmal ansatzweise gelungen. Das globale Risiko ist eine aus den Mitteln der Kommunikation gewobene Schutzvorrichtung gegen die besondere Verletzbarkeit der sich selbst bedrohenden Menschheit. Globale Risiken nötigen dazu, die nationalen Besonderheiten – Kultur, Sprache, Religion, Recht – in den Hintergrund treten zu lassen, um über Grenzen und Differenzen hinweg kon-
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fliktvoll zu kooperieren, selbst wenn man sich vielleicht sogar feindlich gesinnt ist. Dies geschieht nicht als bewusste Umsetzung der normativen Ideen des Kosmopolitismus, sondern unintendiert, hinter dem Rücken der Akteure; nicht als Übertragung großartiger Ideen eines großen Philosophen auf die Welt, und es geschieht wenigstens, solange die Menschen am eigenen Leben hängen. Vielleicht ist es angemessen, in diesem Fall von einem »banalen Kosmopolitismus« zu sprechen. Auf diese Weise unterminieren Weltrisikogemeinschaften das, was die imaginierte Nationalgemeinschaft ausmacht: die Gleichsetzung von Nation und Schicksalsgemeinschaft. In der Verbindung von nationalen und kosmopolitischen imagined communities, die sich in Weltrisikokonflikten herausbilden können – das historische Schlüsselbeispiel dafür ist die Europäische Union –, kommt dann allerdings auch eine spannungsreiche Differenz zur Geltung: Die Macht der Nation beruht letzten Endes auf der Bereitschaft jedes Mitglieds dieser Nation, für diese sein Leben zu opfern. Die imagined cosmopolitan communities globaler Risiken gründen genau umgekehrt darauf, dass das Überlebensinteresse aller zum Eigeninteresse jedes Einzelnen wird. An die Stelle der nationalen Empathie tritt eine kausale Verantwortung als ein transnationaler Raum potentieller Verpflichtung gegenüber den national ausgeschlossenen Anderen.
4. Vielleicht geht es bei Klimapolitik gar nicht nur und zentral um Klimapolitik. Vielleicht geht es bei der Regulierung der Finanzrisiken gar nicht nur um die Regulierung der Finanzrisiken. Vielleicht geht es bei beiden um etwas ganz anderes und dasselbe. Gibt es doch einen versteckten Zusammenhang zwischen Klimawandel bzw. Finanzrisiken und Immanuel Kant. Bedarf es doch eines entschiedenen Schrittes, wenigstens ein Stück »ewigen Friedens« in die Tat umzusetzen, um dem Klimawandel ebenso wie der Finanzkrise eine Antwort entgegenzusetzen. Das heißt: In der naturwissenschaftlichen und ökonomischen Formelsprache der Weltrisiken verbirgt sich etwas Normatives, Großes, eigentlich Undenkbares, dessen Realismus Teil des Realismus ist, der mit der drohenden ökologischen Apokalypse an Durchsetzungsmacht gewinnt. Dabei reicht es nicht (um die berühmte Unterscheidung Max Webers aufzugreifen) nur Gutes zu wollen – kosmopolitische Gesinnungsethik. Es bedarf einer kosmopolitischen Verantwortungsethik oder, um die anspruchsvolle Formel noch einmal zu bemühen: Es bedarf der Konstitution eines demokratischen Subjekts namens Menschheit. Also: Individuen, Gesellschaften, Neoliberale und Neonationale, Diktatoren und Demokraten, Mächtige und Ohnmächtige der Welt – nur wenn Ihr Euch an einen Tisch setzt und die Konditionen eines global deals des gerechten Ausgleichs aushandelt, also ein Stück Kant in die Welt setzt, dann habt Ihr eine Chance zu überleben! Dieser Teufelspakt der sich selbst gefährdenden Zivilisation – gerade die
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Unerbittlichkeit der Überlebensmaxime: entweder Kant oder Untergang! – verweist wiederum auf die alles entscheidende, dritte Größe: Das Ringen um klimapolitische und finanzpolitische Antworten muss herausgelöst werden aus eben diesem Ringen, aus diesen Expertendebatten und den ihnen innewohnenden Expertokratieversuchungen und -visionen. Der Sturm der weltweiten Empörung wäre demgegenüber auf die Segel einer neuen Friedensbewegung zu lenken. Im Grenzen übergreifenden, zivilgesellschaftlichen Ringen um den zutiefst gefährdeten Frieden mag sich dann auch als »beabsichtigte Nebenfolge« einer dissensfähigen, politischen Antwort auf den Klimawandel herausbilden. Anders gesagt: Es geht um den Aufruhr politischer Emanzipation in neuen Formen und nicht um das politisch selbstmörderische Predigen des Weniger, um Halt-Rufen und öffentliches Selbstauspeitschen für die begangenen Sünden an der Natur. Nur ein Mehr an Moderne, an Demokratie, an Freiheit – und nicht ein Weniger oder gar der Ausstieg aus der Moderne und der Demokratie – kann den politischen Sturm der Empörung auslösen, der die alten falsch gewordenen Prämissen und Institutionen hinwegfegt wie der Wirbelsturm Katrina die Armenhäuser von New Orleans.
NETIZENS oder: Der gut informierte Bürger heute 1 Claus Leggewie
Bürgerfragestunde: Es war nur ein Zuhörer anwesend, der keine Fragen hatte. Amtsblatt der Gemeinde Frickenhausen (Spiegel 17/1997) He that will not apply new remedies must expect new evils; for time is the greatest innovator. (Francis Bacon, nach Wired 4.06/1996)
E INLEITUNG : N EUES A THENISCHES Z EITALTER ODER ELEK TRONISCHER P OPULISMUS ? Demokratie und neue Medien, das ist wie alter Wein in neuen Schläuchen. Der Wein, also die Demokratie, ist alt und gut, wenn auch vielleicht nur mit dem Prädikat Winston Churchills, dass sie die schlechteste Regierungsform sei mit Ausnahme aller anderen. Nach ihrem Triumph über faschistische Diktaturen, autoritäre Militäroligarchien und »Volksdemokratien« hat sich die repräsentative Demokratie als Norm durchgesetzt. Als ob ihr dieser Sieg nicht gut bekommen wäre, mehren sich jedoch die 1 | Der Artikel ist entstanden am Center for European Studies und am Institut für die Wissenschaften von Menschen, das auch eine frühere Netz-Version veröffentlicht hat. Für Hinweise danke ich Benjamin Barber, Christoph Bieber, Martin Hagen, Christa Maar, Klaus Nellen und Dan Weitzner sowie den Teilnehmern von Seminaren der Freien Universität Berlin und der Julius Raab-Stiftung, Wien. Für den Wiederabdruck in diesem Band wurde die Rechtschreibung aktualisiert, Querweise auf andere Beiträge der Transit-Ausgabe Nr. 13 sowie nicht mehr aktuelle Hyperlinks wurden entfernt.
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Klagen über das Versagen der Demokratie, der es offenbar schwerfällt, akute Probleme moderner Gesellschaften – von der Massenarbeitslosigkeit über die Umweltverschmutzung bis zu ethnischen und religiösen Konflikten – in den Griff zu bekommen. »Demokratieversagen« und »Politikverdrossenheit« sind oft nur eine unbedachte façon de parler, die leicht als selbsterfüllende Prophezeiung wirkt. Aber wachsende politische Apathie und Wahlabstinenz sind spürbar und auch messbar. Den herkömmlichen intermediären Instanzen zwischen Staat und Gesellschaft, vor allem Parteien und Interessenverbänden, fällt es schwer, gesellschaftliche Strömungen und Ansprüche adäquat in politisch-administratives Handeln zu übersetzen, und die »vierte Gewalt«, Print- und elektronische Medien, erfüllt ihren Auftrag zur Meinungs- und Willensbildung und als kritische Öffentlichkeit wohl kaum zur allgemeinen Zufriedenheit. Solche Phänomene lassen sich als Indikatoren einer heraufziehenden Repräsentationskrise und als Ausdruck eines Legitimationsverlustes der liberalen Demokratie deuten. Demokratien sterben nicht, they fade away … Unter der Oberfläche liegen tiefere Probleme moderner Demokratien, deren Institutionen im Wesentlichen dem 18. und 19. Jahrhundert entstammen und auf noch ältere Traditionen zurückgehen. Vor allem eine Grundbedingung demokratischer Selbstherrschaft ist aus dem Lot geraten: die Identität von Herrschaftssubjekten und -objekten. Idealerweise sollten die an kollektiven Entscheidungen Beteiligten mit den von ihnen Betroffenen ineinsfallen, doch dies ist aufgrund dreier sich gegenseitig verstärkender Entwicklungen nicht mehr der Fall: Selbst unbedeutend erscheinende Entscheidungen überschreiten die Grenzen von Nationalstaaten, d.h. einheimische Bürger werden Objekt anderswo getroffener, häufig schwach demokratisch legitimierter Entscheidungen. Die Arena der klassischen Demokratien, der Nationalstaat, ist durch internationale Migration von Kapital und Arbeit (Globalisierung) entgrenzt und durchlöchert und macht provisorischen und unvollkommenen transnationalen Regelungsregimen Platz (Sassen 1996). Globale Problemlagen von unüberschaubarer zeitlicher Reichweite – bei gleichzeitig akuter symbolischer Präsenz – erschweren es überdies, Ad-hoc-Mehrheitsentscheide gewählten Volksvertretern zuzuordnen (Rechenschaftspflicht) und nach erneuter Beratung umzukehren (Reversibilität). Die Rechte Stimmloser – Auswärtiger und Nachlebender, die von solchen Entscheidungen betroffen sind, aber nicht am Abstimmungsprozess teilnehmen konnten – bleiben unberücksichtigt. Schließlich ist die kollektive Identität des demos als politische Gemeinschaft problematischer geworden, da ihm ein gemeinsames kulturelles Fundament und die Grundlage gegenseitiger Anerkennung verloren gegangen ist. In kultur-pluralistischen Gesellschaften hinterlassen moralische Wertkonflikte zunehmend unversöhnte Minderheiten, die von der Mehrheit gesetzte faits accomplis nicht mehr zu akzeptieren bereit sind. Kultureller Pluralismus, Entgrenzung des Raums und Kolonisierung der Zukunft – diese Probleme sind zwar nicht neu, haben sich aber zweifel-
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los zugespitzt und lassen Forderungen nach autoritären und Expertenentscheidungen bzw. territorialen Abspaltungen aufkommen. Um diesen raum-zeitlichen Verwerfungen zu begegnen, sind eine Reihe konventioneller Reformen und Modernisierungsrezepte erdacht worden, die an der Oberfläche der »Politikverdrossenheit« ansetzen und die unübersehbare Entfremdung der Bevölkerung von den politischen Eliten bzw. Klassen heilen sollen. Mit Hilfe von Parlamentsreformen versucht man, das Hauptgremium politischer Öffentlichkeit und Deliberation zu rehabilitieren, mit vermehrten Direktentscheiden politische Beteiligung zu steigern. Referenden, Parlamentskanäle im Fernsehen und dergleichen haben indes nicht den erhofften Legitimationsgewinn gebracht. In dieser Lage treten die Verfechter neuer, computergestützter Medien auf den Plan und kündigen – in der »typisch amerikanischen« Mischung von history and hope – ein »neues athenisches Zeitalter« (Al Gore) an. Cyberdemocracy oder elektronische Demokratie heißen die neuen Schläuche, welche die passive Zuschauerdemokratie in eine aktive Mitwirkungsdemokratie verwandeln und zugleich eine globale Öffentlichkeit schaffen sollen. Damit werde die dezentrale, ungefilterte Kommunikation vieler mit vielen über weltgesellschaftliche Angelegenheiten möglich, so die optimistische Denkschule von Medientheoretikern, Praktikern der »Internet-Szene« und sogar einigen Angehörigen des politischen Establishments (Rheingold 1991, Etzioni 1992, Selnow 1994). Sie sehen in den neuen Medien (vulgo: Internet) eine Chance für die Modernisierung der Demokratie und die Stärkung der Zivilgesellschaft, übrigens auch zur Beseitigung autoritärer Regime. Nachrichten können im Internet schwerer zensiert und unterdrückt werden als in den staatlich oder wirtschaftlich kontrollierten Medien alten Typs. Im Internet können sich soziale Bewegungen als »digitale Bürgerbewegungen« formieren und erheblichen Druck ausüben (Wagner/Kubicek 1996). Dagegen haben sogleich die Warner Stellung bezogen: Die neuen Medien seien nicht besser als die alten, vielmehr würden sie die bewährten Mechanismen und Prozeduren der repräsentativen Demokratie weiter aushöhlen und einem »elektronischen Populismus« Tür und Tor öffnen. Die Pessimisten sehen eine ungebremste Stimmungsmache durch pseudo-soziale Bewegungen und die opportunistische Anpassung der politischen Klasse kommen, und sie fürchten, dass die für den demokratischen Prozess konstitutive direkte Kommunikation der Bürger anonymisiert und sich fortan ohne Ansehen der Person und Zurechenbarkeit eines Arguments abspielen werde. Die Hoffnungen der Optimisten sind vage und unbewiesen, die Kassandrarufe der Pessimisten nur auf den ersten Blick plausibel. Denn sie treffen bereits auf den gegenwärtigen Zustand repräsentativer Demokratien zu, bevor die neuen Medien überhaupt zur Geltung gekommen sind und ihre Potenziale entfalten konnten. Welche Ressourcen bieten die neuen Medien für mehr Partizipation und bessere Deliberation, welche Chancen hat der »gut informierte Bürger« in der alten wie neuen, durch
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Kommerz, Amüsement und »Infotainment« beherrschten Informationsgesellschaft? Diese Frage soll im Folgenden erörtert werden. Dazu muss zunächst die demokratische Frage neu gestellt, d.h. die Hindernisse der »Selbstregierung nach ausführlicher Diskussion« (Mill) durch die oben genannten Prozesse analysiert werden. Danach werden Eigenheiten der neuen Medien herausgearbeitet und auf die akuten Problemlagen politischer Apathie und Entfremdung bezogen. Die amerikanische Diskussion und der Implementationsvorlauf in den Vereinigten Staaten können hilfreiche Anregungen für die entsprechende Debatte in Europa geben, wobei sie in den Kontext des staatlichen Handels und der politischen Kulturen West- und Osteuropas eingeordnet werden müssen. Meine Hypothese ist, dass die neuen Medien lokale Kommunikation verdichten und globale Kommunikation herbeiführen können, allerdings nur, wenn Technologie- und Telekommunikationspolitik ein neues, beteiligungsfreundliches Konzept ausarbeiten. Bisher sind die neuen Medien von rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten dominiert, die Netzbenutzer hingegen sind als Interessengruppe und politische Assoziation kaum präsent. Die Demokratie fährt auf der Datenautobahn bestenfalls auf der Kriechspur. Das Internet z.B., das auffälligste und bekannteste neue Medium (Bollmann/Heibach 1996), steht an einem Scheideweg – es kann eine weitere Spielwiese der »Unterhaltungsidioten« (i.e. Privatleute) werden und den Weg von Rundfunk und Fernsehen in eine weitgehende Entpolitisierung gehen, es kann sich aber auch zu einem seriösen öffentlichen Kommunikationsmittel weiterentwickeln, das Elemente direkter Demokratie in das bewährte Institutionengefüge der repräsentativen Demokratie einfügt. Nur als demokratisches Netzwerk, das allgemein, frei, gleich und billig verfügbar ist wie Telefon und Fernsehen, könnte es Aufgaben der politischen Information, der Artikulation und Aggregation von Interessen, der Bewältigung von Dissens und der Schaffung von Konsens sowie schließlich auch der Entscheidungsbildung übernehmen, also Hauptfunktionen westlicher Demokratien.
D ELIBER ATIVE D EMOKR ATIE – THEORE TISCH UND PR AK TISCH Was heißt Demokratie? Die Frage scheint überflüssig und tausendfach beantwortet. Prinzipien und Prozeduren der Demokratie werden als gegeben hingenommen und gelten offenbar als stabil. Der Reiz der Diskussion um die sich seit Beginn der 90er Jahre rasant verbreitenden neuen Medien besteht aber darin, dass sie Gelegenheit bietet, die demokratische Frage (Rödel u.a. 1989, vgl. auch Schmidt 1995) neu zu stellen. Es hat sich eingebürgert, die demokratische Herrschafts- und Regierungsform mit allerhand Synonymen und Substituten gleichzusetzen – mit bürokratischer Perfektion, mit dem Wohlfahrtsstaat oder gar mit einer florierenden (sozialen) Marktwirtschaft. All das ist in nichtdemokratischen Gesellschaf-
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ten auch erreichbar. Demokratie heißt politische Selbstbestimmung der Bürgerschaft, die Gesetzen gehorcht, die sie sich selbst auferlegt hat. Sie schaltet dazu in der Regel Vertretungseliten ein, die nach der Mehrheitsregel eingesetzt und abberufen werden können. Demokratie setzt nicht soziale Gleichheit voraus, sie stellt vielmehr unter Ungleichen politische Egalität her, nach dem zutiefst revolutionären Prinzip, das seit Aristoteles lautet: Stimmen werden gezählt und nicht gewogen (wie in Ständegesellschaften oder Zensusdemokratien). Das demokratische Prinzip reicht freilich über die bloße Anwendung der Mehrheitsregel zur Herbeiführung kollektiv verbindlicher Entscheidungen hinaus. »Government by discussion« hat John Stuart Mill die Norm bezeichnet, wonach Mehrheitsentscheidungen der ausführlichen Diskussion möglichst vieler Betroffener entspringen sollen, und zwar unter Respektierung der unterlegenen Minderheit, die vor der »Tyrannei der Mehrheit« geschützt werden muss. Offene freie und allgemeine politische Kommunikation ist damit das Lebenselixier demokratischer Gesellschaften. Ihre Eckpfeiler sind eine möglichst breite Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger und ein hohes Niveau politischer Urteilskraft, also Partizipation und Deliberation. Diese (interaktive Kommunikation) konstituiert eine funktionierende Öffentlichkeit und begründet eine politische Gemeinschaft sozial, ethnisch und kulturell Verschiedener, die auf diskursivem und gewaltlosem Wege Konsens erzielen können. In der Demokratietheorie stehen sich »realistische« und »idealistische« Positionen gegenüber. Sie neigen dazu, die demokratische Lebenswelt skeptizistisch oder perfektionistisch zu überzeichnen. Damit werden realexistierende Demokratien entweder auf eine »Führerdemokratie« (Max Weber, dazu Anter 1995) reduziert oder durch radikal-demokratische Utopien überfordert. Die schrittweise, experimentelle Verbesserung demokratischer Gemeinwesen verlieren beide Positionen aus dem Blick. Im Mittelpunkt dieser vielleicht »melioristisch« zu nennenden Position soll deshalb die konkrete Lebenswelt des »gut informierten Bürgers« (A1fred Schütz 1972) stehen, der anzusiedeln ist zwischen dem Menschen auf der Straße, der »ein Wissen von Rezepten (hat), die ihm sagen, wie er in typischen Situationen typische Resultate durch typische Mittel zustande bringen kann«, und dem Experten, der sich auf »gesicherte Behauptungen« (also nicht auf »bloße Raterei oder unverbindliche Annahmen«) stützt. Er entspricht weder dem hohen Ideal des (unentwegt deliberierenden) zoon politicon, noch ist er ein bloßer Nutzenmaximierer (homo faber) oder Unterhaltungsidiot (homo ludens). Freilich trägt er Züge aller drei Figuren, und Bürger demokratischer Massengesellschaften übernehmen faktisch alle drei Rollen: Wir sind meistens »Menschen auf der Straße«, fallweise Experten und hin und wieder »gut informierte Bürger«.
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Schaubild 1: Der gut informierte Bürger im demokratischen Prozess (nach A. Schütz)
Eine ethnomethodologisch orientierte, lebensweltliche Fundierung politischer Kommunikation betrachtet alle Ebenen der öffentlichen Kommunikation »als Unterhaltung« – im dreifachen Sinne von Klatsch, Entertainment und Deliberation. Sie verbindet unreflektierte Dimensionen des bloßen Fühlens, Dafürhaltens und Glaubens mit common sense, qualifiziertem Wissen und strategischem Wollen, das sich sowohl an egoistischen Partikularinteressen wie an Kollektivgütern orientiert. Jede demokratische Kommunikation ist von Hause aus »schmutzig« – kraus, uferlos, unfokussiert, bisweilen obszön und extremistisch. Das mag dem Diskurs-Theoretiker als einem »delibérateur avancé« unheimlich oder zuwidersein, und man kann in der Tat all diese Attribute z.B. in der heutigen Internet-Kommunikation entdecken. Aber ist es auf der Agora, im politischen Salon und in der Paulskirche jemals vornehmer zugegangen? Noble Deliberation muss sich immer erst aus dem Bauch des Volkes lösen, und nie darf sie gegen Volkes Stimme taub werden. Gut informiert zu sein, bedeutete für Schütz also, »zu vernünftig begründeten Meinungen auf den Gebieten zu gelangen, die seinem (des gut informierten Bürgers, C.L.) Wissen entsprechend ihn zumindest mittelbar angehen, obwohl sie zu seinem zuhandenen Zweck direkt nichts beitragen« (1972: 88). Der Mensch auf der Straße wird nach den »wesentlichen Relevanzen« seiner in-group leben und sich bei seiner Meinungsbildung mehr vom Gefühl
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als von der »Information« leiten lassen; der Experte hingegen wird gemäß seinem Spezialwissen technokratische Kompetenz beanspruchen. Beide verletzen die inklusive Gleichheits- und Mitwirkungsnorm demokratischer Gesellschaften, die im Grunde Laiendemokratien sind und auf einer Jedermann-Kultur aufbauen. Schütz hat allerdings darauf hingewiesen, dass wir unter »auferlegten Relevanzen«, d.h. unter dem Druck des Systems auf die Lebenswelt leiden und sich in einer zunehmend mediatisierten Welt das Verhältnis zwischen dem »Hier« (Lebenswelt) und dem »Dort« (System) umzukehren droht. Die Medien stipulieren sich zur zweiten, eigentlichen Realität. Vor diesem Hintergrund möchte ich nun die vier Grundpfeiler demokratischer Gesellschaften (Partizipation, Deliberation, Öffentlichkeit und politische Gemeinschaftsbildung) diskutieren und sie in den Kontext der eingangs skizzierten These vom Demokratieversagen stellen. Gemessen am Standardmodell politischer Partizipation (Milbrath 1965, Barnes/Kaase 1979, Dalton 1988, Parry u.a. 1992, Uehlinger 1988, vgl. Schaubild 2) kann man heute von einer Vorherrschaft konventioneller Beteiligung (an Wahlen und in Parteien) sprechen, die deutlich an Attraktivität verliert und einem (jedenfalls latenten) Bedürfnis nach unkonventioneller Beteiligung (Bürgerinitiativen, ziviler Ungehorsam) weicht. Schaubild 2: Stufen politischer Partizipation in demokratischen Gesellschaften konventionell (verfasst)
unkonventionell (legal-illegal)
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Regelmäßiges Wählen
Mitarbeit in Parteien
Gewalt gegen Aktivität in ziviler einer Bürger- Ungehorsam Sachen und Personen initiative
In den langen Wellen von »Engagement und Enttäuschung« (Hirschman 1974) befinden wir uns zweifellos in einem Enttäuschungstal, aus dem periodisch Protestwähler aufbrechen, während zum Engagement bereite Bürgerinnen und Bürger noch nach einem besseren institutionellen Arrangement suchen, als es ihnen periodische Wahlbeteiligung und die Mitarbeit in Parteien bieten. Es ist ein Beteiligungsbedarf entstanden, den offenbar auch die seit den 60er Jahren gewachsenen Partizipationsinstrumente (neue soziale Bewegungen) nicht befriedigen können. »Politikverdrossenheit« ist demnach eher Resultat als Ursache des schlechten Zustands des herrschenden Politikbetriebs. Die Kur dagegen heißt: mehr, nicht weniger Beteiligung. Elitäre Demokratiekonzepte siedeln die Herausbildung des Bürgerwillens jedoch im vorpolitischen Raum an, einem passiven Resonanzkörper, dessen Funktion sich auf die Elitenrekrutierung und eine Art elektorale Generalermächtigung der politischen Klasse beschränkt. In »realistischer« Sicht ist diese interessegeleitete Aggre-
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gation von Stimmen der einzige Weg, in pluralistischen und komplexen Gesellschaften jedem Bürger den gleichen Anteil an Willensbildung und Entscheidungsfindung zu geben. Ein partizipatorisches Konzept der Demokratie ist dem vorzuziehen, weil es den Prozess der Willensbildung zutreffender als Kommunikationsprozess und politische Klugheit als Produkt demokratischer Beteiligung und breiter Beratung ansieht. Politische Beteiligung ist ein permanenter Lernvorgang, in dem sich individuelle Artikulations- und Konfliktfähigkeit, kollektiver Bürgersinn und Verantwortlichkeitsgefühl erst herausbilden (Warren 1992). Die Administrationseliten fürchten, dass ihre Expertise in komplizierten Politikmaterien durch Einbeziehung des vermeintlich inkompetenten und chaotischen Bürgerwillens unterlaufen und der Entscheidungsprozess diffus wird. Intensivere Bürgerbeteiligung vermag jedoch den Entscheidungen der Exekutive nicht nur mehr Akzeptanz zu verleihen, sie kann auch deren Effizienz steigern. Zahlreiche Beispiele, von lokal begrenzten Materien bis zu großen Reformwerken zeigen, wie rein elitär getroffene Entscheidungen daran leiden, dass die in sie einbezogenen Informationen nicht ausreichten. Die auf den ersten Blick geringeren Entscheidungskosten werden dann oft durch nachträglichen Widerstand (Bürgereinsprüche) oder die massenhafte Nichtbefolgung von Gesetzen erhöht, was durch eine erweiterte Diskussion und Mitentscheidung zu vermeiden gewesen wäre. Wenn diese Hypothese zutrifft und man zugleich von einem latenten, aufgestauten Partizipationsbedarf sprechen kann, dann käme es darauf an, adäquate Instrumente zu schaffen, die einerseits die politische Normalbeteiligung nicht unter eine kritische Schwelle abrutschen lassen (was z.B. bei der amerikanischen Präsidentschaftswahl und bei den meisten Referenden in der Schweiz der Fall zu sein scheint) und die andererseits unkonventionellen Beteiligungswünschen eine Alternative zu Protest oder Gewalt eröffnen. Bürger westlicher Massendemokratien stehen oft unter dem widersprüchlichen Eindruck einer Überflutung mit politischer Information (die sie sich übrigens mit einem erstaunlich hoch bleibenden politischen Interesse anzueignen versuchen) bei gleichzeitigem Unbehagen, dass Entscheidungen nicht genügend überlegt und ausdiskutiert werden und ihnen selbst jede Chance zur direkten Mitwirkung fehlt. Die famose Wissensgesellschaft weiß gleichzeitig zu viel und zu wenig. Für den schlechten Zustand »deliberativer Politik« (Habermas 1992) sind nicht allein korporatistisch abgeschiedene Eliten verantwortlich, sondern auch die »alten« Medien (Zeitung, Rundfunk und vor allem Fernsehen), die heute noch als wichtigste politische Kommunikationsmittel fungieren. Deliberation hebt nicht allein auf eine hohe Teilnahmefrequenz am politischen Prozess ab, sondern auch auf das inhaltliche Niveau der Diskussion selbst, d.h. auf politische Urteilskraft und Klugheit. Deliberation kann nur im öffentlichen Raum stattfinden, in dem »gut informierte Bürger« in einem zwanglosen Diskussionsprozess Entscheidungsalternativen gründlich abwägen und während der Diskussion durch die Kraft
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des besseren Arguments andere Meinungen oder die eigene verändern können. Die Urspungsorte dieses Modells, Agora und Salon, sind unwiederbringlich dahin; ein nachhaltiger Strukturwandel hat bekanntlich zur Kommerzialisierung, Machtkonzentration und Entpolitisierung der klassischen Öffentlichkeit geführt (Habermas 1990). Soziale Ungleichheit und die Komplexität moderner Gesellschaften lassen damit das Deliberationsideal als definitiv gescheitert erscheinen. Die »Realisten« ziehen daraus den Schluss, die Mitwirkung der Bürger auf Wahlakte zu beschränken, um dem Dilemma moralischer Konflikte zu entgehen. Die »Idealisten« hingegen halten am Ideal deliberativer Politik fest, legen die Latte für deren Erfolg aber so hoch, dass es unerreichbar erscheint. Neo-Jeffersonianer und Anwälte der »starken Demokratie« setzen auf eine Revitalisierung der Nachbarschaftsdemokratie in town hall meetings und ähnlichen Institutionen (Buchstein 1995), Diskurstheoretiker schließlich auf so gut wie unerfüllbare Prozeduren der Kommunikation (Gutmann/Thompson 1996). Praktische politische Vernunft definiert Deliberation hingegen als joint social activity (Bohmann 1996), d.h. als lebensweltlich verankerten Dialog, und sie sucht nach institutionellen Arrangements wie deliberative Meinungsumfragen (Fishkin 1992 und 1995) und televoting (Slaton 1992), die zum einen das Größenproblem komplexer Gesellschaften berücksichtigen, indem sie Akteure einbeziehen, die sich nicht face to face begegnen können, zum anderen bloß punktuelle, demoskopische Abfragen von Bürgermeinungen (oder -ressentiments) in einen kontinuierlichen Prozess des Austauschs von Argumenten überführen. Sie schaffen damit politische Mikro-Gemeinschaften, d.h. informelle, schwach hierarchisierte Interaktionsnetze, die sich sowohl von wirtschaftlichen Märkten als auch von bürokratischen Organisationen unterscheiden und auf gewachsenen Gewohnheitsnormen und Vertrauensverhältnissen beruhen. Benjamin Barber hat vor über zehn Jahren angeregt, neue Formen des town meeting zu inszenieren, in denen die Kommunikation direkt ist, aber den lokalen Rahmen übersteigt. Elektronische Kommunikation (seinerzeit noch über das Kabel-Fernsehen) hielt er für eine mögliche Lösung des Größenproblems (dilemma of scale) (1984: 273f). Mit teledemokratischen Projekten ist in den Vereinigten Staaten und anderswo seither experimentiert worden, zum Teil mit beachtlichem Erfolg (Abramson u.a. 1988, Arterton 1987 und 1988, Becker 1993, Hagen 1996). Inzwischen sind new community networks hinzugetreten, die sich als computergestützte (virtuelle) politische Gemeinschaften bzw. (digitale) soziale Bewegungen konstituiert haben (Rheingold 1991, 1994; Schuler 1996; Doheny-Farina 1996, Browning 1996, Wagner/Kubicek 1996). Damit hat die Stunde – und die Bewährungsprobe – der neuen Medien geschlagen.
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V OM N UT ZEN UND N ACHTEIL DES I NTERNE T FÜR DAS DEMOKR ATISCHE L EBEN Das Internet, um es exemplarisch herauszustellen, ist in der Tat ein neues Medium. Es unterscheidet sich von herkömmlichen Informationsträgern im Kern vor allem dadurch, dass es ein netcast- und kein bloßes broadcastMedium ist, d.h. nicht nur einseitige, vertikale one- oder few-to-many-Kommunikation erlaubt, sondern bidirektionale Interaktion und sowohl Individual- wie Massenkommunikation (one-to-one und many-to-many). Es ist damit schneller, billiger und horizontaler als das Fernsehen und andere Medien und verfügt über ein besseres »Gedächtnis« als diese (Bonchek 1996). Technik- und kulturhistorisch betrachtet, ist es eine multimediale Komposit-Technologie, die bestehende Kommunikationsformen und -träger evolutionär fortschreibt, modernisiert und zugleich synthetisiert. Schaubild 3: Das Internet als Komposit-Technologie Medium
Kommunikation Gesellschaftstyp Politik
Partizipation
Nachbarschaft
oral face-to-face
elitär (Charisma)
Club/Salon oral Parlament Print Flugblatt/ Zeitung
parochialsegmentär
tribalfeudal
modern national
repräsentativ-elitär (Besitz) (Bürokratie)
Post Telefon Highway
common carriers, public right of way
Radio Film/TV Fax Video Kabel
audiovisuell
Satellit multimedial PC/Modern
modern international
repräsentativ massendemokratisch (Aufmerksamkeit)
global lokal
Netzwerk-Selbstorganisation (Wissen)
INTERNET
Das Internet integriert Potentiale der mündlichen Direktkommunikation (Plausch, Telefon-Gespräch), der Printmedien (Brief, Flugblatt, Zeitung, Buch, Fax) sowie der audio-visuellen Medien (Rundfunk, Fernsehen, Video). Es steigert deren Kapazität (durch höhere Speicher- und Archivierungsfähigkeit) und Transaktionsdichte (als many-to-many-Medium) und verringert die Transaktionskosten. Zugleich jedoch erhöht es deren Reichweite (als globales Netzwerk), löst Information aus ihrer raum-zeitlichen Verankerung (Virtualisierung), wobei natürlich auch neue Transaktionskosten der Verarbeitung des Zugewinns an Information entstehen
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können. Im Cyberspace ist Kommunikation gewissermaßen ohne Ort, ohne Zeit und, in bestimmter Hinsicht, auch ohne Autor. Interaktive Zwei-Weg-Kommunikation flacht die Hierarchie der herkömmlichen Sender-Empfänger-Kommunikation ab, indem jeder Teilnehmer Sender und Empfänger zugleich sein kann. Netzwerk-Kommunikation hat kein festes Zentrum mehr. Das relativiert die Selektionsmacht traditioneller gate keeper der Meinungs- und Willensbildung (»alte Medien«, Parteien und Interessenverbände) und beugt deren Zensur und Manipulation vor, schafft aber auch neue soziale Hierarchien und kommunikationstechnische Flaschenhälse. Schaubild 3 zeigt, wie die Potentiale des Internet an vormoderne und moderne politische Kommunikationsformen anschließen, wobei die Summe mehr sein dürfte als die einzelnen Teile. So kann das Internet in elektronischen town-hall meetings uralte Formen der mündlichen Gemeindekommunikation aktualisieren, Diskussionsforen können die politisch-literarischen Zirkel und Salons der frühbürgerlichen Öffentlichkeit wiederbeleben und die Arbeit von professionalisierten Redaktionen kann jeder Internet-Nutzer selbst ausführen und neuartige Redaktionskollegien bilden. E-Mail ist eine beschleunigte Form der Korrespondenz. Sofern das Internet allgemein und zu geringen Kosten zugänglich ist, bedient es sich der common carriers. Sofern es eine öffentliche Struktur bekommt und behält, steht es in der Tradition des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens (ohne damit gleichsetzbar zu sein). Diese Potentiale reichen weit über die beschränkten teledemokratischen Beiprodukte des »realexistierenden« Fernsehens hinaus, etwa call-ins, öffentliche Live-Veranstaltungen mit Zuschauer- bzw. Hörerbeteiligung usw. Die von vielen befürchtete Retribalisierung des öffentlichen Raumes tritt nicht automatisch ein, vielmehr kann das Internet sowohl lokale Kommunikation verdichten als auch globale Kommunikation erweitern. Die rasante, sich mit großer Wahrscheinlichkeit beschleunigende und irreversible Entwicklung wirft nicht nur technische Fragen auf, als da sind: • Kapazität und Geschwindigkeit der Übertragungsmedien (Telefon und Kabelnetze, Satelliten etc.) • Entwicklung benutzerfreundlicher Schnittstellen zwischen Mensch und Computer • Interkonnektivität und Interoperabilität der Netze; oder ethische Fragen wie • Gewährleistung von Vertraulichkeit und Integrität der Information • der »dezente« Umgang der Kommunikationspartner in anonymen Netzen (netiquette), • die Prävention extremistischer Propaganda und pornographischer Inhalte im Internet;
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oder sozialstrukturelle Probleme wie • die Entwicklung dezentraler telematischer Arbeitsformen (mit den entsprechenden Rationalisierungsfolgen vor allem im Angestelltensektor), • deren Auswirkungen auf Transport, Urbanisierung, Konsum- und Freizeitverhalten, • die Herausbildung einer neuen sozialen Spaltungslinie zwischen »Wissensbesitzern« (Kognitariat) und Habenichtsen bzw. »Technophoben« (Schiller 1996, Sale 1995). Diese Herausforderungen werden in einschlägigen Problemkatalogen technologiepolitischer Entscheidungsgremien und in der Berichterstattung der Medien aufgelistet und (oft schwarzseherisch, z.B. Siegele 1996, Stoll 1995) abgehandelt. Dass das Internet darüberhinaus demokratiepolitisch relevant ist, nämlich als Instrument politischer Information, Meinungsbildung und Partizipation, rangiert dagegen unter ferner liefen. Unter nutzentheoretischem Gesichtspunkt muss man, vor dem Hintergrund der beschriebenen Defekte der repräsentativen Institutionen und des vermuteten Partizipationsdefizits, fragen, ob die neuen Medien die Kosten demokratischer Partizipation und Deliberation senken können. Das würde sie attraktiv machen als Ergänzung oder Ersatz herkömmlicher intermediärer Instanzen bzw. diese selbst verändern. Zugleich muss man, wie bei den alten Medien, die unbeabsichtigten Folgen einer breiten Nutzung neuer Medien bedenken, die ggf. die Transaktionskosten steigen lassen (Tenner 1996). Daran müssen auch die aktuellen telekommunikationspolitischen Weichenstellungen gemessen werden, wobei die Maxime gilt, dass allein ein partizipatorischer Prozess, der Netzbenutzer und (potentielle) Netizens einbezieht, zu einem demokratieverträglichen bzw, -förderlichen Konzept der neuen Medien führen kann (Bulmahn u.a. 1996). Schaubild 4 zeigt die für die Politik (und Politikwissenschaft) relevanten Facetten der neuen Medien im Hinblick auf ihre policy-, politics- und polity-Dimension, d.h. im Hinblick auf angewandte Politikfelder, das politische Konfliktgeschehen und Ordnungs- bzw. Verfassungsfragen.
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Schaubild 4: Demokratiepolitische Dimensionen des Internet Medium
Issue
Internet als 1. Instrument der Verwaltungsrationalisierung 2. Gegenstand der Telekommunkationspolitik
Ebene Policy
3. Neues Medium konventioneller politischer Politics Kommunikation 4. Autonomes Medium politischer Partizipation und Deliberation 5. Vehikel eines neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit 6. Problem des Verhältnisses von Demokratie und Technologie
Polity
Computervermittelte Kommunikation an sich ist weder demokratiefreundlich noch -feindlich. Wenn a priori kein Interesse an politischer Beteiligung besteht, wird sie auch das Internet nicht herbeizaubern. Die Debatte war diesbezüglich viel zu stark von Technikutopien oder NeoLudditentum beherrscht, d.h. von deterministischen Konzepten, die der Technik an sich die ausschlaggebende Rolle zuwiesen (dazu Sclove 1995, Smith/Marx 1994 und McLuhan 1964). Allerdings weist die Netzwerkstruktur dieses Typs von Kommunikation wesentliche Eigenschaften auf, die einer partizipatorischen Demokratie entgegenkommen und dem Bürger, der sich gut informieren will, nützen. Eine Auswertung amerikanischer Pionierprojekte2 zeigt, dass freie Netze eine große Zahl politisch interessierter Bürger anziehen konnten, die sie autonom und verantwortlich gestaltet haben. Es sind auch Bürger hinzugekommen, die den alten Medien und konventioneller politischer Beteiligung distanziert gegenüberstehen, so dass deren Repräsentanten die neuen Medien nicht länger ignorieren können. Punktuell haben diese damit bereits Grundfunktionen politischer Kommunikation übernommen und das bestehende Monopol der Parteien, Interessenverbände und alten Medien in der politischen Meinungs- und Willensbildung angekratzt. Ein geläufiger Einwand gegen die neuen Netzwerke lautet, dass sie »just talk« böten, also auf einem relativ niedrigen Informations- und noch primitiveren Deliberationsniveau stünden und nicht an den (parlamenta2 | Den besten Überblick geben außer Abramson u.a. 1988 und Arterton 1988 das von Mark Boncheck initiierte Political Participation Project (MIT/Harvard) sowie Hagen 1996, Ludlow 1996, Ogden 1994, Poster 1995 und die Beiträge in Kleinsteuber 1996. Herausstreichen möchte ich hier insbesondere das Minnesota e-Democracy Project (http://www.e-democracy.org), dazu Aikins 1996, und das Seattle Community Network (http://www.scn.org), dazu Schuler 1996. Einen guten Überblick über computervermittelte Demokratieprojekte geben TAN+N News (https://fp.auburn.edu/tann/), das Project Vote Smart (http://www.votesmart.org) und die California Voter Foundation (http://www.calvoter.org).
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rischen) Entscheidungsprozess rückgekoppelt seien. Die Rede von »just talk« zeugt indessen von der Verachtung, die (politische wie intellektuelle) Eliten dem Gespräch unter den Bürgern schenken, und zugleich von den illusionären Erwartungen an deliberative Politik (z.B. London 1995). Sicher gibt es die Überschwemmung der freien Netze und Diskussionsforen mit »Informationsmüll«, d.h. redundanter oder sektiererischer Information und Propaganda. Das Ideal unkanalisierten Austauschs aller mit allen, ohne Einschaltung von Redaktionskollegien (und neuen »Info-Eliten«) wird ohnehin umso uneinlösbarer, je mehr potentielle Gesprächsteilnehmer tatsächlich ans Netz gehen. Dies mag dem ursprünglichen Ideal der Netz-Pioniere zuwiderlaufen, aber es ist zu erwarten, dass es wie bei der Entwicklung der Printmedien, die sich aus dem Flugblatt und Plakatanschlägen heraus entwickelt haben, wieder »Journalisten« (alias Provider) geben wird, die sich als kommerzielle oder nicht-kommerzielle Agenturen der Klassifizierung und Selektion von Informationsmaterial einschalten. Auch unterhalb dieser Schwelle hat sich gezeigt, dass die Netze für eine in diesem Sinne anspruchsvolle Kommunikation organisierbar sind. Die neuen Medien stecken diesbezüglich noch in den Kinderschuhen. Niemand wird ernsthaft leugnen wollen, dass sie inhaltlich besser werden können, und niemand kann die geradezu manische Konzentration der öffentlichen Debatte auf Pornographie und Extremismus im Internet ernst nehmen. Initiativen wie »Schulen ans Netz«, die nicht allein die technische Ausrüstung mit PCs und Modems besorgt, sondern den sinnvollen Umgang mit den neuen Medien unterrichtet, können das deliberative Niveau sicherlich steigern. Die Kritiker des »just talk« widersprechen sich in einem zentralen Punkt. Sie ironisieren die faktische Folgenlosigkeit der chat groups für »echte« Entscheidungsprozesse, warnen aber zugleich davor, elektronische Wahlverfahren zuzulassen. Diese Warnung ist sicher berechtigt, wenn man televoting als eine Veranstaltung organisiert, die ohne vorangehende Debatte und Deliberation brisante Politikmaterien der spontanen Knopfdruck-Entscheidung überläßt, ganz im Stil gegenwärtiger TED-demoskopischer Umfragen über Personen- und Sachalternativen. Hier treffen dieselben Bedenken zu wie bei schlecht vorbereiteten Referenden (wie jüngst in Kalifornien über die Begrenzung der Rechte von Einwanderern), die zum populistischen Plebiszit verkommen. Auch technisch sind televoting-Verfahren viel zu unausgereift, um Wahlen per Tastendruck sicher und geheim genug zu gestalten. Aber dies kann man kaum als unüberwindbares Problem ansehen, machen sich doch Großunternehmen und Geldinstitute derzeit an Experimente mit electronic cash, in denen ähnliche Missbrauchsrisiken bestehen (Snider 1994, Kay/Kay 1995). Die entscheidende Frage ist, ob die politischen Eliten televoting wollen – und auf diese Weise den freifließenden Diskussionen in den Netzen mehr Gewicht geben, da sie zu »echten« Entscheidungen führen. Bisher sind die Reaktionen der etablierten Politik auf die neuen Medien eher symbolischer Art
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(Diamond/Silverman1995, Sageelyn 1996, Cascy 1996, vgl. auch Hacker/ Tadino 1996).3 Auch ein zweiter Einwand gegen virtuelle Kommunikation sticht nicht: das Fehlen physischer Präsenz (Buchstein 1995, Bredekamp 1996). Macht man dies zum Kriterium demokratischer Kommunikation, fällt die Kritik sogleich auf die repräsentative Eliten-Demokratie zurück, in der das direkte Bürgergespräch zum Residuum verkommen ist. Erfahrungen mit new community networks zeigen überdies, dass virtuelle Netz-Gemeinschaften direkte Kommunikation und »reale« Gemeinschaften nicht verdrängen, sondern eher ergänzen oder gar stärken (Bonchek 1995, Schuler 1996, Doheny-Farina 1996, Bowen 1996, Barlow 1995, Höflich 1995, Jones 1995). Deren Zustand ist, wie die Kritik Putnams gezeigt hat (in Kuttner 1996), alles andere als dem Tocquevilleschen Ideal entsprechend; insofern können neue Medien (vor allem Civic networks, FreeNets usw.), die soziale Güter im Auge haben, der durch »Suburbanisierung« bedingten Erosion und Individualisierung entgegenwirken. Ein dritter Einwand ist weit gewichtiger. Dass nämlich die Netz-Gemeinschaften nur einen sehr begrenzten Ausschnitt der Bevölkerung widerspiegeln, also demokratisch nicht repräsentativ sind (Schiller 1996, Ludlow 1996) und vor den Machtkonzentrationen wirtschaftlicher Art kapitulieren müssen (Miller 1996, Tapscott 1996). Diese Skepsis herrschte auch in der Anfangszeit der heute in fast jedem Haushalt verbreiteten politischen Kommunikationsmittel Radio und Fernsehen, von denen man glaubte, sie würden auf einen elitären Kreis von Benutzern beschränkt bleiben. Die Entscheidung, ob das Internet und ähnliche neue Kommunikationsformen exquisite Medien einer Schicht weißer, männlicher, hochqualifizierter Personen bleiben (Wetzstein u.a. 1994), hängt sowohl vom wirtschaftlichen Erfolg der Online-Dienste ab, der einen Synergieeffekt zwischen Gewinninteressen und öffentlicher Nutzung herbeiführen könnte, als auch von politischen Weichenstellungen, die neuen Medien als Universaldienste aufzubauen, sie zu erhalten und ihre flächendeckende Nutzung zu erreichen, die selbst im »gelobten Land« des Internet bisher nur sehr punktuell ist (Moss/Townsend 1996). Aber auch hier gilt wieder, dass Verzerrungen der politischen Partizipation durch soziale Ungleichheit auf die neuen Medien projiziert und ihnen »Informationsungleichheiten« angelastet werden, die längst für die Wirklichkeit repräsentativer Demokratien gelten. Auch für die Nutzung alter Medien, die Verbreitung politischen Interesses und die Intensität konventioneller wie unkonventioneller Beteiligung gelten Restriktionen, die mit Einkommen und Bildungsniveau zu tun haben. Erfahrungen mit gemeinwohlorientierten Netz-Projekten zeigen überdies, dass man dieser ungleichen Ver3 | Der Aspekt der Verwaltungsrationalisierung durch neue Medien, auch im Sinne einer verbesserten Vernetzung sowohl mit den Bürgern wie mit dem Wirtschaftssystem, wird hier nicht berücksichtigt, vgl. dazu Winograd/Buffa 1996 und Osborne/Pastrik 1997.
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teilung durch gezielte Förderung sozialer Randgruppen und ethnischer Minderheiten als Netzbenutzer entgegenwirken und das Internet als deren Fürsprecher einsetzen kann. Zusammenfassend zeigt Schaubild 5 die Bandbreite der Nutzungsmöglichkeiten neuer Medien für den demokratischen Prozess. Schaubild 5: Anwendungsgebiete des Internet im demokratischen Prozess Ebene Typus
Ressourcen
Ziel
Bürgerinformation
Bürgersinn
Transparenz
bürgernahe Verwaltung
Top one-to-many many-to-one
Elektronische Petition Planungsbeteiligung Tele-Wahlen
many-to-many Diskussionsforen Gemeinschaftsnetze
Elektronische Demokratie Deliberation community empowerment
Down
D IE »S CHL ACHT UMS I NTERNE T« Die Weichenstellungen in der Technologiepolitik, in welchem Umfang und zu welchen Konditionen die neuen Medien allgemeiner, freier, gleicher und geheimer Nutzung zur Verfügung stehen sollen und das Recht auf informationelle Grundversorgung gewährt werden soll (Kahin/Keller 1995, Drake 1995, Kleinsteuber 1996 und Kiper/Ruhmann in diesem Heft), ist, wie üblich, Resultat eines Machtkampfes, der zwischen sehr ungleichen Partnern ausgetragen wird. An der Ausgestaltung des Internet in den USA waren vor allem drei Hauptakteure beteiligt: • erstens der amerikanische Bundesstaat, der den ursprünglich für militärische Zwecke eingerichteten Cyberspace für die zivile Nutzung freigegeben und dann industrie- und bildungspolitische Anreize zu seiner Entwicklung gegeben hat, • zweitens die in den 70er Jahren deregulierte Telekommunikationsbranche, die sich neuerdings – eben dank der neuen Medien – in einem radikalen Umbruch befindet, • drittens (und nicht zuletzt) die Internet-Nutzer selbst, die sich das Netzwerk zu privaten und öffentlichen Zwecken, als subkulturelle oder akademische Gemeinschaften, zum Teil auch als public-interest-groups und Stiftungen eingerichtet haben. Zu unterscheiden ist dabei zwischen staatlichen, öffentlichen und kommerziellen Nutzungskonzepten sowie zwischen top-down und bottom-
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up-Initiativen im Netz. Zwischen den Akteuren herrschen mannigfache Kooperations- und Synergieeffekte, aber auch heftige Konkurrenz um Zugänge und Nutzung und um das letztendliche Ziel computervermittelter Kommunikation. Wie ist der Kampf um die Kommunikationsmittel in den Vereinigten Staaten bisher verlaufen? Steven Miller unterscheidet fünf Lager in der Auseinandersetzung um die politische Ökonomie des Internet und die Ausgestaltung der »National Information Initiative« (NII): market libertarians, corporate conservatives, mixed-market liberals, progressive communitarians und state socialists (1996: 65ff.). Die Libertären lehnten, außer im Anfangsstadium, jegliche Staatseinmischung in die freie Entwicklung des Netzes ab, egal ob in Gestalt langfristiger Industrieförderung oder der Beschneidung von privacy und free speech. Sie setzten auf den Wettbewerb kleiner Pfadfinder-Unternehmen und die Innovationsphantasie der Netzbenutzer, wovon sie sich eine Konvergenz von Profitabilität und Meinungsfreiheit erhoffen (Barlow 1996, Toffler/Toffler 1994). Demgegenüber strebte die Telekommunikationsbranche starke Oligopole an, die Staatsintervention in Gestalt von Forschungs- und Entwicklungs-Subventionen und Anreizen für die kommerzielle Nutzung des Internet dankend in Anspruch nahmen bzw. durch massive Einflussnahme auf die Gesetzgebung erzwangen. Liberale und Progressive (jeweils im amerikanischen Sinne) bestritten nicht die Führungsrolle privater, gewinnorientierter Investoren, wollten aber stärker dafür Sorge tragen, dass vom Markt vernachlässigte Nutzergruppen und öffentliche Interessen berücksichtigt und mit starken Zugangsrechten ausgestattet werden (public-right-of-way). Das sollte durch gezielte Förderung im Wettbewerb benachteiligter Gruppen oder durch Freihaltung nicht-kommerzieller Fenster in den neuen Medien geschehen. Sozialisten (im europäischen Sinne) setzten sich für eine vom Staat eingerichtete und öffentlich kontrollierte Informations-Infrastruktur ein. Daraus lassen sich folgende Gestaltungsmuster der neuen Medien ableiten. Schaubild 6: Gestaltungsstrategien des Internet Internet als Selbstorganisierter, nachfrageorientierter Meinungsmarkt oligopolistischer, angebotsorientierter Unterhaltungsmarkt öffentlich geregelter Meinungs- und Unterhaltungsmarkt gemeinschaftsgestützter Informationsmarkt öffentlich(-rechtlich)es Universalmedium neuen Typs
In den Vereinigten Staaten scheint die »Schlacht ums Internet« entschieden zu sein. Jüngste Entwicklungen (vor allem die Fusionen innerhalb sowie zwischen Unterhaltungs- und Telekommunikationsbranche unter Einschluss der Hard- und Software-Produzenten, Online-Dienste usw.)
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stellen die kostengünstige und universale öffentliche Nutzung in Frage. Die Deregulierungspolitik der republikanischen Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses hatte hier ausgesprochen negative Wirkungen. Das Internet wurde entpolitisiert und privatisiert, kommerzialisiert und monopolisiert, d.h. in einem Wort: von den großen TelekommunikationsKonzernen kolonisiert. Gegen ihre eigene libertäre Rhetorik haben die Protagonisten der »republikanischen Revolution« unter Newt Gingrich den corporate conservatives das Feld überlassen. Die liberal-progressiven Visionen, die anfangs vor allem Vize-Präsident Al Gore artikuliert hatte, sind dagegen fast verstummt. Der amerikanischen Technologiepolitik ist zugute zu halten, dass sie Wechselwirkungen und Synergieeffekte zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Graswurzelgemeinschaften besser gefördert und damit technische Innovation, Risikoinvestition und öffentliche Aufmerksamkeit stärker zusammengeführt hat, als dies bisher für Europa galt. Auch hat sie frühzeitig öffentliche und freie Zugänge zum Internet eröffnet und Schulen und Universitäten mit Hard- und Software versorgt. Aber die jüngste Gesetzgebung, vor allem der (selbst für seine Befürworter) höchst unübersichtliche Telecommunications Act von 1995 (vgl. Rosenbach 1996), und staatliche Intervention zielen darauf ab, allein die Kräfte des (oligopolistischen) Marktes und Konzentrationsprozesse zu stimulieren, welche content und carrier, also die Lieferanten des inhaltlichen Informationsangebots und die Informationsträger, in Oligopolen zusammenschweißen werden. Während die öffentliche Politik viel zu passiv blieb in Sachen Konzentrationskontrolle, bereitete sie zugleich Maßnahmen zur Beschneidung der Informationsfreiheit (Electronic Decency Act), restriktive Gesetze zum Schutz des geistigen Eigentums und eine problematische Einschränkung der Verschlüsselungsmöglichkeiten vor, womit Datenschutz, Freizügigkeit und Öffentlichkeit im Netz eingeschränkt werden. Der Cyberspace wird, analog zum Fernsehen, als zentralisierter Marktplatz organisiert, und die (stärker als beim Fernsehen gegebenen) Chancen horizontaler ZweiwegKommunikation werden ignoriert oder bleiben unterentwickelt. Allerdings ist es aufgrund des dezentralen Charakters der neuen Medien zweifelhaft, ob sie sich gänzlich kolonisieren lassen werden. Deswegen ist es notwendig, gerade im Hinblick auf die europäische Technologiedebatte4, auf dem Recht der Bürger und Netzkonsumenten auf informationelle Grundversorgung und dem Ausbau einer dualen Informationsordnung zu insistieren und Leitlinien einer alternativen Medienpolitik zu formulieren, die sich etwa an folgenden Kriterien der Benton Foundation (Washington D.C.)5 orientieren könnte: 4 | Zur europäischen Informationsdebatte siehe vor allem die Beiträge der Generaldirektion 13 der EU-Kommission (federführend: Martin Bangemann), zur deutschen Diskussion zuletzt German (1996), Wilke (1996) sowie Kubicek (1995). 5 | Die Benton Foundation (http://www.benton.org) in Washington D.C. ist eine der in den Vereinigten Staaten sehr aktiven und relativ erfolgreichen public inte-
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• • • • • •
Deepen people’s understanding of policy issues Broaden participation in deliberations on political issues Increase the accountability of officeholders Enable more effective advocacy by individuals and groups Register opinions by allowing electronic voting Increase citizens’ interest in other community activities, thus tightening communal ties and increasing participation in community governance.
Dabei hängt die Sicherung des partizipatorischen und deliberativen Potentials vom gegebenen Niveau demokratischer Beteiligung ab, d.h. nur funktionierende politische Gemeinschaften werden auch ein demokratisch fungibles Internet zustandebringen. Das Netz ist kein deus ex machina, der apathischen und beteiligungsschwachen Demokratien schlagartig auf die Sprünge hilft. Nur dort, wo eine demokratische Kultur lebendig ist, kann egalitäre politische Kommunikation gedeihen, gleich welchen Mediums sie sich bedient. Das Problem ist, dass die seit den 60er Jahren gewachsene Bewegungsszene sich den neuen Medien gegenüber eher indifferent, ignorant oder ablehnend verhält (Sale 1995, Brook/Boal 1995) oder sich mit der Existenz eines randständigen und selbstbezogenen Technotops (einem »Cyberkeley« der Sub- und Gegenkultur) zufrieden gibt und in libertärer Selbstüberschätzung übt (Barlow 1995 und 1996, dazu Barbrook/Cameron 1996). Dies wird sich nur ändern, wenn die Subkultur der netizens auf den Mainstream der Gesellschaft überspringt, wozu in den USA auf den ersten Blick bessere technische und politisch-kulturelle Voraussetzungen bestehen als in Europa. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass die technische Infrastruktur der west- und mitteleuropäischen Länder einen höheren Grad an Flächendeckung aufweist und diese Länder zudem auf eine große Beteiligungstradition zurückgreifen könnten. Insofern ist es noch nicht zu spät für eine europäische Informations-Initiative.
rest groups, die sich für den Aufbau einer demokratischen Netzkultur einsetzen und als deren Interessenvertreter in der öffentlichen Debatte und in den Gesetzgebungsprozessen auftreten. Ebenso zu erwähnen ist das Moreno Institute (1995) und das Center for Democracy and Technology (http://www.cdt.org.html) in Washington D.C., das Arbeitsgruppen zu unterschiedlichen Bereichen unterhält. In diesem Sinne hat der Münchener Kongress der Akademie zum Dritten Jahrtausend im Februar 1997 eine »Münchener Erklärung« vorgelegt; an der Diskussion konnte man sich via E-Mail und online (http://www.akademie3000.de). Die Konferenzdokumentation erschien als Leggewie, Claus/Maar, Christa (Hg.) (1998): Internet und Politik. Von der Zuschauer- zur Beteiligungsdemokratie? Köln.
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A Few Thoughts About the Netizen 2.0 Geert Lovink im E-Mail-Interview mit Christoph Bieber
Geert Lovink ist ein einflussreicher Beobachter und Analyst digitaler Kultur und Kommunikation seit deren Anfängen. Er gründete die InternetProjekte nettime (www.nettime.org) und fibreculture (www.fibreculture. org), Bücher wie Dark Fiber (2002), My First Recession (2003) oder Zero Comments (2007) sind Eckpfeiler seiner umfangreichen theoretisch-kritischen Auseinandersetzung mit dem Internet. Er ist Gründungsdirektor des Institute of Network Cultures in Amsterdam (networkcultures.org) und arbeitet gerade an seinem neuen Buch. Dennoch fand er Zeit für eine kurze E-Mail-Konversation zu einigen Ideen und Impulsen aus dem Netizen-Aufsatz von 1997. Christoph Bieber: Taking on an idea of Alfred Schütz, Claus Leggewie developed a model of the »good informed citizen« as key actor within the concept of deliberative communication. Netizens were assumed to be a »connector« between exclusive expert communication and the »just talk«communication on the street. More than a decade and a couple of new economies later – do you think this positive idea of an active netizen is still viable? Or do networked citizens today necessarily have to drown in those waves of information coming in through the real-time web? Geert Lovink: At first glance, the idea of the netizen is a mid-1990s response to the initial wave of users that took over the Net. It is proposed in the spirit of good conduct and corporate citizenship and social responsability that people themselves had to embody. It is not a call for government regulation – and was explicitly designed as such. Until 1990, the late academic stage of the Net, it was presumed that literally all users knew these rules, and would behave accordingly. Of course this was not always the case (in the end, we’re all too human …). So, in a case of misbehaviour, the individual could be convinced to stop spamming, bullying etc. This was no longer possible after 1995 when the internet was opened to the general public and the World Wide Web with its web browsers made it so much easier to use. The code of conduct, developed over time by IT-
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engineers and scientists could no longer be passed on from one user to the next. This is the time of the netizen texts with Claus among others and a series of manifestos, meant to spread ideas in a more indirect and public way. At that time, the Net was seen as a global medium that could not easily be controlled by national legislation – not just Claus and me believed this. Perhaps there was some truth in this. Cyberspace was out of control, in a nice way. It was a cute and somewhat desperate image that in a room next to the prime minister of Bavaria in Munich, authorities would install a task force to police the Bavarian part of the internet. While preparing the Conference on Internet und Politik in 1997 we had a good laugh about such a hopeless gesture. After 9/11 and the dotcom crash things changed dramatically. A good decade later there are tons of legislative efforts, intrusive government bodies and most of all a lot of software tools to oversee the National Web, as it is now called. Retrospectively, it is quite easy to deconstruct the netizen approach as a libertarian Gestalt, a figure from the neo-liberal age of deregulation, but the issues that are addressed in this text have only grown exponentially, and not gone away. These days we would rather frame it as a part of education programs on schools, and general awareness campaigns. Identity theft is a serious business. Cyberbullying amongst young kids does happen and both parents and teachers need to know how to identify, and to respond to it. Much like the mid-1990s we’re still faced with the problem of »massification«. The sheer user numbers and intensity in which people engage with the internet is phenomenal. What perhaps has changed is that many people no longer believe that the internet community is able to sort out these issues itself. Internet has penetrated society to such an extend that they have become one and the same. CB: One of Leggewies’ hypotheses is »that new media are able to enhance the density of local communication, fostering global communication. Yet, this only will be possible when telecommunication and technology policy develop a new, participation-oriented concept. Up to now, new media are dominated by mere economic aspects, there is no lobby group for online users and democratic ideas and associations are not visible.« What do you think – is networked communication on the platforms of the Web 2.0 the next step towards a »global communication«? Is the »Architecture of Participation« (Tim O’Reilly) a step towards a more self-determined position, creating something like »Netizens 2.0«? And: are there any functioning concepts enhancing public participation via the Internet? What about the US after Barack Obama was elected? GL: Due to rise of the national webs, the focus has shifted from global potential towards local, regional and national exchanges. Only around 25 % of the content is in English these days. Most conversations are no longer happening in English. A host of new technologies is geo-sensitive. What
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people care about first and foremost is what happens in their immediate surroundings – and there is nothing wrong with that. We predicted this in the nineties, it just took a while to be implemented. The »democratization« of the internet really only happened over the past 5-10 years and yes, the Obama campaign is a significant landmark in this respect. However, we need to be more precise what we’re talking about. Participation in this context is still old school. It presumes that we have a goal and then invite others to go along. In this age of large corporations, big NGOs and government departments, it is all too easy to deploy Web 2.0 strategies as a part of your overall communication plan. This knowlegde-for-all has not arrived everywhere, true. And it’s not something one would use in every type of situation. But Web 2.0 is certainly no longer a Geheimtipp. And there is already a lot known about certain demographics. You would for instance not use MySpace to approach the senior citizenry and it is also known that young people are reluctant to use Twitter. It’s just not their thing. In a way these are all top-down considerations. It gets more interesting if you ask the »Netizen 2.0« question. How will people themselves start to utilize these tools bottom-up? Remember that social networking sites did not originate in a social movement scene. They were developed in response to the silly wave of e-commerce during the late 1990s that had no concept what online users were looking for. Instead of regarding users merely as consumers of goods and services, in the Web 2.0 era people are pressed to produce as much data as possible. From the so-called »user generated content« profiles are exstracted, which are then sold to advertizers as direct marketing customer data. Users do not experience the parasitic nature of Web 2.0 immediately. CB: In Germany, 2009 saw an intense debate on »Digitale Bürgerrechte«, paralleled by the coming-of-age of the Piratenpartei. Membership numbers rose from about 1000 in January to almost 12.000, they collected 850.000 votes in the Bundestagswahl in September and after a little help of »Zensursula« von der Leyen they are now at least visible within the political landscape. Do you think this is one of those »bottom-uputilizations«, Web 2.0 entering social movement scene? GL: Most certainly. And remember Germany is one of the harder countries when it comes to creation of political parties. Elsewhere, like in the Netherlands, it’s much easier to establish a party, which then gets voted into local councils, state and federal parliaments. That makes the loss of political legitimacy even more significant. Over the past decades you can see the general demise of the big post-war parties. These days that’s mainly discussed in relation to the decline of the social-democratic parties like the SPD, but it’s an overall trend. The fight over the Mitte is over. This also explains the rise of the »Linke« and the stabilization of the green parties (even though they are dead as a door nail).
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The sudden rise of the pirate parties, seen from a Dutch perspective, grows out of a slightly rightwing populist discontent amongst younger voters. These days young people are not by default leftist-progressive drop-outs. This is the age of neo-liberal globalization and the attitude, in particular after 9/11 and the cultural tensions with the muslim parts of the population is always there in the background. The pirate party tendency claims old school freedom in an age of increased paranoia and state control. This fight is OK but has the problem of scapegoating in the background, a resentment that can always play up – because who, in the end, is to blame for the increased control measures, on airports, online, on the street? Right, the Muslims … They are to blame for 9/11. So, we need to be careful here, and always remain on the alert for such indirect and unspoken games with the collective unconcious. We need some very seductive waves of »Multikulti 2.0«, a deep hybridization of cultures, and a radical critique of the current border regimes. It’s not enough to demand info freedom worldwide if bodies cannot travel in the same way. If capital can move around globally, so should data and bodies. It’s too provincial and selfish to only focus on the health condition of one’s P2P-torrents. Not only information, also bodies want to be free! CB: Describing the potentials of online communication, Leggewie wrote: »With electronic town-hall meetings, the Internet might be able to update ancient forms of oral community communication, discussion fora might be able to revive the political-literary circles of a bourgeois public sphere and the work of professional journalists might be done by any Internet user, developing new forms of editorial boards.« One may read this as a quite precise view into the future of the net and especially the future of news media. Do you think Leggewies’ image of the netizen has turned out not to be the future citizen, but the future journalist? GL: I am optimistic about these things. What’s not there yet, or what has disappeared can most easily come back. We need to keep in mind that Internet is not generating social movements or protest. Let’s not make the mistake of the so-called Twitter Revolution that occured in June 2009 when scores of American techno-evangelists expected a downfall of the regime in Iran simply because a hand full of people started twittering from the streets of Teheran, followed by thousands of fellow Iranians who live outside of Iran in exile. Without organization and an active willingness of many to resist and protest, nothing much is going to change. And remember, even movements that have a very clever communication strategy can fail. Let’s not overdo the importance of networking and information exchange. What I do like about Claus’ statement is its emphasis on deliberation and debate. You hardly find that these days in Web 2.0. What we can learn from the German national web is its emphasis on forum software. In fact, we need some German export of expertise in this field!
Der »gut informierte« Konsumbürger im Netz Sigrid Baringhorst
In der politischen Theorie wird die Dominanz audio-visueller Medien, insbesondere des Fernsehens, unter Stichworten wie »Zuschauerdemokratie« oder »Mediokratie« (Meyer 2001) oft als schädlich für die Demokratie gedeutet. Dabei werden Veränderungen des Verhältnisses von Medien und Politik auf der Makro-Ebene der Gesellschaft diskursiv verknüpft mit Veränderungen auf der Mikro-Ebene individueller politischer Partizipation und Mediennutzung: Verwiesen wird dabei auf Befunde eines abnehmenden Institutionenvertrauens, einer abnehmenden Wahlbeteiligung oder eines zunehmenden politischen Desinteresses, wobei ein enger Nexus zwischen »Politikverdrossenheit« und einer konsumorientierten Mediennutzung unterstellt wird. Folgt man etwa der pessimistischen Gesellschafts- und Politikdiagnose von Colin Crouch, so haben sich westliche Demokratien zu »Post-Demokratien« entwickelt, in denen »(t)he consumer has triumphed over the citizen« (Crouch 2004: 49). Nicht nur hinsichtlich der Mediennutzung werden, so Crouch, Einstellung und Verhalten der Bürger durch Konsumorientierung geprägt. Konzepte der Verwaltungsmodernisierung, die unter dem Label New Public Management seit den 1980er Jahren eingeführt wurden, trugen ebenso dazu bei, konsumorientierte Haltungen der Bürger zu stärken, indem die Interaktion zwischen Bürgern und öffentlichen Verwaltungen primär als Ausdruck von Beziehungen zwischen Anbietern und Nachfragern öffentlicher Dienstleitungen interpretiert wurde. Dieser eher düsteren demokratietheoretischen Dystopie können zwei systematisch miteinander verknüpfte Stränge optimistischer Deutungen von Politik- und Demokratieentwicklung gegenübergestellt werden: zum einen Annahmen einer Transformation von Politik und Bürgerschaft zugunsten der Entstehung eines kritischen Consumer Citizen, zum anderen Visionen einer Transformation von passiven Medienkonsumenten zu (inter)aktiven Netizens.
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Crouchs Bild vom Bürger als passivem Medienkonsumenten und Verwaltungskunden widerspricht nicht nur den Annahmen der Cultural Studies, nach denen Medienrezeption prinzipiell als aktiver, kreativer, wenn nicht gar kritischer und zuweilen subversiver Akt gedeutet wird (vgl. Hellmann 1997; Göttlich 2001). Nicht nur bezogen auf den Konsum massenmedialer Angebote hat sich insbesondere seit den 1960er Jahren mit dem Anstieg des allgemeinen Bildungsniveaus und fortschreitender Individualisierung und Enttraditionalisierung moderner Gesellschaften das Verhältnis zwischen Konsumenten bzw. Kunden und Waren- bzw. Dienstleistungsanbietern grundlegend gewandelt. In tendenziell allen gesellschaftlichen Subsystemen – und somit auch im politischen System – kann ein »Aufstand des Publikums« (Gerhards 2001) festgestellt werden, mit dem die jeweilige Leistungserwartung der Rezipienten/Konsumenten wie auch das Aktivitätsniveau der Konsumenten bzw. Kunden gesteigert wurde. Claus Leggewie weist in seiner Erörterung der »These vom Demokratieversagen« zu Recht auf die Ambivalenz in der Entwicklung der politischen Partizipation der Bürger in westlichen Demokratien hin: Zwar haben konventionelle Formen der politischen Beteiligung an Attraktivität verloren, doch ist zugleich »ein Beteiligungsbedarf entstanden, den offenbar auch die seit den 60er Jahren gewachsenen Partizipationsinstrumente (neue soziale Bewegungen) nicht befriedigen können.« (Leggewie 1997: 9). Eindimensionale Verlustrechnungen der Entwicklung politischer Partizipation verkennen den gestiegenen »Beteiligungsbedarf« wie auch die innovativen Formen politischer Partizipation, mit denen das Bedürfnis nach gesellschaftlicher und politischer Einflussnahme befriedigt wird. So widersprechen zum Beispiel pessimistische Annahmen der Transformation von Bürgern zu passiven Konsumenten von Medien, Politik und Verwaltung der deutlich gestiegenen Bereitschaft, an Boykotten von Produkten, Firmen oder Branchen teilzunehmen, um politische Ziele durchzusetzen, oder durch gezielte, reflexive Konsumakte, sog. »Buykotte«, universalistische Normen durchzusetzen oder im Sinne diskursiver Konsumakte politische und moralische Implikationen des globalisierten Marktgeschehens explizit zu machen. Dem Consumer Citizen wird ein großes moralisches Verantwortungsbewusstsein für die sozialen, politischen und ökologischen Folgen seines Marktverhaltens, ein hohes Maß an Kenntnissen über Produkte und Produktions-, Distributions- und Konsumptionsprozesse sowie die gute Absicht zugesprochen, den eigenen Konsum an Kriterien des Gemeinwohls wie der Einhaltung der Menschenrechte, der ökologischen Nachhaltigkeit oder einem gerechten Welthandel auszurichten (Micheletti 2003; Scammell 2003; Lamla/Neckel 2005; Baringhorst et al. 2007). Politisches Handeln als Consumer Citizen kann einerseits bezogen auf die gesellschaftliche Mikro-Ebene als individuelles Konsumhandeln verstanden werden (Ernst & Young 2007), andererseits können die Zunahme unternehmenskritischer Kampagnen und anderer Formen kollek-
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tiver konsumeristischer Aktionen wie Demonstrationen vor Geschäften wie auch die steigende Beteiligung an netzbasierten sozialen Netzwerken kritischer Konsumenten (z.B. www.utopia.de) auf der gesellschaftlichen Meso-Ebene als Indikatoren einer wachsenden Mobilisierung von Konsumenten in ihrer Rolle als Bürger herangezogen werden. Die sich im individuellen wie kollektiven Handeln von Konsumenten als Bürgern ausdrückende »Politik mit dem Einkaufswagen« (Baringhorst et al. 2007) eröffnet vor allem »gut informierten« Bürgern, die sich durch die Institutionen der repräsentativen Demokratie wie Parlamente und Parteien nicht oder wenig angesprochen fühlen, neue Optionen einer kostengünstigen, dem individualisierten Lebensstil moderner Konsumgesellschaften angepassten politischen Teilhabe. Medienkritische demokratietheoretische Dystopien sind auch mit Hoffnungen auf netzbasierte Politik zu konfrontieren, wie sie bezogen auf das Internet seit den 1990er Jahren verbreitet werden. Neue technische Möglichkeiten der politischen Information und vor allem der interaktiven politischen Kommunikation werden, wie Claus Leggewie vielfach differenziert erläutert hat (vgl. 1997), als neue Möglichkeitsstrukturen zur Realisierung älterer Konzepte einer direkten oder deliberativen Demokratie interpretiert, die in der Vergangenheit nicht zuletzt auch an den hohen Transaktionskosten der Many-to-many-Kommunikation scheiterten (vgl. z.B. Castells 2005). Nach ersten ernüchternden empirischen Befunden (vgl. z.B. Grunwald et al. 2006) wurden die Erwartungen eines »electronic grassrooting of democracy« (Castells 2004: 417) zwar gedämpft, doch gab in den letzten Jahren die Diskussion um das sogenannte Social Web den Hoffnungen auf die Umsetzung politisch partizipativer Potentiale des Internets neuen Auftrieb. Von den Enthusiasten des Social Web werden vor allem die Aktivierung von Usern als »Produtzer« bzw. »Produser« (Bruns 2008; 2010), die Verbreitung von »Do-It-Yourself-Politics« und die damit verbundenen neuen Chancen für demokratische Deliberation und Partizipation hervorgehoben (z.B. Benkler 2006). Dagegen betont Claus Leggewie in einer kritischen Reflexion der fragmentierenden Wirkung netzbasierter Öffentlichkeiten eher die postdemokratisierenden Effekte des WWW. »Ein historisches Höchstmaß an netzwerkartiger Inklusion und ›Partizipation‹ geht einher mit der freiwilligen Außerkraftsetzung des Bürgerstatus im ›User‹ (Nutzer) und qua Netzwerk der für westliche Demokratien typischen Repräsentation.« (2009: 81). Gerade mit Blick auf die Optionen, die netzbasierte Kommunikationsmedien für die Information und Mobilisierung »gut informierter« Konsumentenbürger haben, akzentuiert dieses pessimistische Resumeé der Betrachtung der »Wechselwirkung von Demokratisierung und Medialisierung« (Leggewie 2009: 70) zu einseitig die Verluste für die Institutionen der repräsentativen Demokratie und unterschätzt die Chancen für die Verbreitung neuer Formen des Bürgerengagements, wie sie z.B. in transnationalen Netzwerken markt- und unternehmenskritischer Mobilisierung zum Ausdruck kommen.
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Das Verständnis vom Bürger als gut informiertem Konsumbürger ist systematisch verknüpft mit dem Verständnis vom Bürger als interaktivem Netizen bzw. Netizen 2.0. So interpretiert etwa Scammell den gewachsenen ökonomischen und politischen Einfluss von Verbrauchern als Folge der Netzkommunikation. Anbieter haben demnach durch interaktive Konsumentenplattformen ihr Informationsmonopol gegenüber Konsumenten verloren. Letztere können Unternehmen stärker unter Druck setzen, Preise zu senken oder die Qualität von Produkten zu verbessern, wobei auch ethische Kriterien der sozialen Gerechtigkeit oder ökologischen Nachhaltigkeit zur Produktoptimierung beitragen. Durch »Corporate Watch«-Portale oder konsumkritische Social Networking Sites erhalten Verbraucher – im Sinne eines »re-writing« der Regeln des Marktes (Scammell 2003) – Zugang zu einer immensen Datenmenge, in der minutiös Produktgeschichten und Wertschöpfungsketten analysiert, dokumentiert und Warnungen über Produktrisiken für Gesundheit und Umwelt sowie Folgen für die Einhaltung von Menschen- und Arbeitsrechten top-down vermittelt, wie aber auch in einem gemeinschaftlichen Prozess der Wissensgenerierung kollektiv erzeugt werden. Mit der komplexen netzbasierten Verknüpfung individuellen und kollektiven Handelns des Bürgers als Consumer Citizen geht eine grundlegende Neuverortung der Grenze zwischen privatem und öffentlichem Handeln bzw. zwischen privaten und öffentlichen Räumen einher (Baringhorst et al. 2010). Während eine Politisierung des Konsums, die sich nur in Änderungen individuellen Kaufverhaltens äußert, wenig zu einer Erweiterung des öffentlichen Raums beiträgt, weisen Buykotte wie Boykotte über den individuellen Aktionsradius hinaus. Dies gilt insbesondere, wenn sie in öffentliche Thematisierungen und kollektive Formen politischer Konfliktaustragung eingebettet sind. Individuelle Konsumhandlungen stehen somit keineswegs prinzipiell konträr zu einem demokratischen Politikverständnis. Ganz im Gegenteil, kollektive und öffentlich ausgerichtete Formen der Politisierung privaten Konsums können wesentlich dazu beitragen, das (vorhandene) politische Engagement der Bürger zu revitalisieren und politische Partizipation enger an alltagsweltliche Lebenspraxen anzuschließen.
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Multikultur
Blick zurück nach vorn: Begriffsgeschichte Multikulturalismus Claus Leggewie im Gespräch mit Susanne Stemmler1
Susanne Stemmler: Ihr Buch Multi Kulti. Spielregeln für die Vielvölkerrepublik war 1990 ein Meilenstein in der Beschreibung der bundesrepublikanischen vielkulturellen Gesellschaft und hat bis 1993 mehrere Auflagen erlebt. Mit »Multikulti« und »Multikulturalismus« hat es zunächst Begriffe geprägt, dann Debatten angestoßen, die heute noch fortwirken. Ich habe vor kurzem, fast 20 Jahre nach der ›Erfindung‹ des Begriffes, Migrationsforschern und politischen Akteuren die Frage gestellt, was eigentlich danach kommt, was eigentlich Jenseits des Multikulturalismus liegt? Es wird in unserem Gespräch daher zum einen um die Geschichte der Begriffe gehen, zum anderen um die dadurch bis heute angestoßenen Debatten gehen. Mögen Sie mir bitte zunächst erzählen, wie Sie überhaupt auf den Buchtitel kamen? Claus Leggewie: Den habe ich importiert. Als ich an dem Buch arbeitete, stand ich in engem Kontakt mit Daniel Cohn-Bendit und dem Frankfurter Amt für multikulturelle Angelegenheiten, das vor 20 Jahren gerade in Gründung war. »Multikulturell« gab es also schon, aber das Buch brauchte noch einen Titel. Im »Sounds of Brazil«, einem berühmten Jazz-Lokal in Manhattan, spielte das Quartett des Trompeters Don Cherry damals einen Bebop, der asiatische und nahöstliche Elemente aufnahm. Daraus wurde 1990 das Album »Multikulti«.2 Ich habe mir den Titel ausgeliehen, nicht ahnend, wie überwiegend humorfrei ihn Freund & Feind hier zu Lande aufnehmen würden. 1 | Das Gespräch wurde am 10.12.2009 geführt für: Susanne Stemmler (Hg.): Beyond Multiculturalism. Fragen an die Einwanderungsgesellschaft, ersch. 2010. Für den Abdruck in diesem Band wurden einige Passagen leicht überarbeitet, andere gekürzt. 2 | Multikulti, mit Peter Apfelbaum, Carlos Ward, Bob Stewart, Ingrid Sertso, Karl Berger, Ed Blackwell, Naná Vasconcelos u.a., 1990.
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SSt: Der Begriff »Multikulti« ist dann viel zitiert worden, vor allem aber auch der des Multikulturalismus. Wenn man davon ausgeht, dass Begriffe auch gesellschaftliche Wirklichkeiten prägen, hat Multikulturalismus aus Ihrer Sicht eine ›Erfolgsbegriffsgeschichte‹ geschrieben? CL: Schön wär’s. Multikulti hat bei uns eine symptomatische Konversion durchlaufen: vom Schmusewort zum Schimpfwort. In Deutschland sprachen wir bekanntlich lange von »Gastarbeitern«, womit das Faktum Einwanderung unterschlagen und verkannt wird – Rotationsbetrieb und so weiter. Korrekter war der Titel, der damals in einem Wettbewerb des Westdeutschen Rundfunks auftauchte: »Ausländische Arbeitnehmer«. So war der Differenzpunkt – der interessierte mich seit meinem Soziologiestudium – in einer per se von kulturellen Unterschieden geprägten Gesellschaft die Sozialstruktur. Einwanderer waren Arbeitnehmer, tendenziell Unterschicht, und »ausländisch«. Man verband eine sozialstrukturelle mit einer rechtlichen Sicht, also wenig von Kultur und nichts von Religion, auch wenn die ersten Organisationen »Kulturvereine« waren, die sich teilweise religiös betätigten. SSt: Dabei blieb es aber nicht … CL: Denn aus Gastarbeitern oder ausländischen Arbeitnehmern, bei denen »Klasse« im Vordergrund stand, wurden Ende der 1960er Jahre »die Türken«. Auch die hießen selten Muslime, weil sie anfangs nur verhalten religiös waren; sie kamen aus einem kemalistischen, laizistisch-republikanischen Umfeld und begriffen sich ihrerseits als Wanderarbeiter. Aber in der türkischen Gesellschaft drangen seinerzeit ethnische Untertöne, auch religiöse, an die Oberfläche, womit das importierte Tabu zerbrach und Binnendifferenzen wichtiger wurden: Viele entdeckten ihr Kurdischsein hier, nicht in der Türkei, und als Kollateraleffekt der iranischen Revolution 1979, mit dem Vordringen des islamischen Fundamentalismus, wurden aus »Türken« und »Kurden« dann Muslime, Aleviten, Kopftuchträgerinnen und so weiter.3 SSt: Die Muslime und die Mehrheitsgesellschaft legten sich ihre Nomenklaturen zurecht. CL: Das sind »Konstrukte« mit realen Konsequenzen, wie parallel in Algerien, wo ich das Entstehen des Islamismus ab 1977 »live« mitbekommen habe.4 Und das schwappte nach Europa in die interkulturellen Kontakt3 | Dazu jetzt Leggewie, Claus/Kemming, Jan (i.E.): Unsere Türken? Wie Einheimische und Einwanderer die Deutschtürken sehen. In: Udo Steinbach (Hg.), Länderbericht Türkei, Bonn: bpb. 4 | Leggewie, Claus (1993): Nach der Befreiung – Islam und Demokratie in Algerien. In: ders., Alhambra – Der Islam im Westen, Reinbek: Rowohlt, S. 149-167.
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zonen, in denen eine Art Ambivalenzmanagement betrieben wird. Und die neoliberale Marktgesellschaft lässt, durchaus auch bei der postmodernen Linken (darauf hat Richard Rorty hingewiesen), das Kriterium Sozialstruktur, die kollektive Klassenzugehörigkeit inklusive der Dimension politischer Rechte, zurücktreten hinter Kultursymbolik und Deutungskonkurrenzen. In gewisser Hinsicht ist das ein neoliberales Räsonnement, wenn kleinräumige Identitäten (»Wo komme ich her?«, »Wer ist wir?«) als Ankerpunkte genommen werden oder als Rettungsanker, die sich religiös aufladen lassen, sobald in der zweiten und dritten Generation Ansprüche, Sensibilitäten und Konflikte wachsen und nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Diese Geschichte haben wir auch in Deutschland durchgemacht. Obwohl wir es mit den immer selben Leuten zu tun hatten, ist unsere Distinktion von »Gastarbeitern« über »Türken« oder »Kurden« zu »Muslimen« gewandert und wir haben das als Vielfalt gefeiert. SSt: Worin liegt das Problem? CL: Darin, dass Arbeitnehmer, die ihre türkische, bosnische etc. Identität entdeckt haben und religiöse Bekenntnisse heute in sichtbaren Moscheen ablegen, zu Nichtdeutschen, zu Aliens erklärt wurden und dies zum Teil auch selbst tun. Das war die These des Multi-Kulti-Buches, das von manchen als emphatische Feier der Verschiedenheit gelesen wurde, obwohl wir uns darüber eher lustig gemacht5 und stets auf mögliche Reibungen und Konflikte hingewiesen haben. Das große Missverständnis besteht rechts wie links bis heute darin, Identität alias Leitkultur für etwas zu halten, was man besitzt und gegenüber anderen straight behaupten kann – und das muss dann gefälligst »anerkannt« und respektiert werden. In Wirklichkeit wissen wir aus der abendländischen Philosophie (aber nicht nur aus der), dass Identität stets die reziproke Beziehung zu anderen ist und dadurch gewonnen, dass der oder die sie anerkennt. Mit anderen Worten, Identität ist nichts, was ich selbst behaupten kann, sondern etwas, was erst im Diskurs, in der Kommunikation bestätigt wird. Integration hingegen, die wir immer für etwas nehmen, was Gastarbeiter oder Russen oder Hindus zu leisten hätten, ist ein gesamtgesellschaftlicher Effekt. Ein Individuum oder eine Familie ist vollständig damit überfordert, »sich zu integrieren«. Das leisten Wohlfahrtsstaaten, Märkte oder Patriotismus. Oder eine Republik, was zum Beispiel in Frankreich recht gut funktioniert hat. SSt: Hier möchte ich nachhaken, weil wir gerade Frankreich ansprechen als Kontrastfolie zu unserer Debatte hier. Es gab ja die »synthèse républicaine«, die mehr oder weniger zum Postulat eines »wir sind alle gleich«, »wir 5 | Vgl. Horstmann & Trautmann & Voggenreiter (1990): »Danke Fremder«. In: Claus Leggewie (Hg.), Multi Kulti. Spielregeln für die Vielvölkerrepublik, Berlin: Rotbuch, S. 21-25 und 69-73.
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sind alle Franzosen« führte. Haben Sie nicht den Eindruck, dass diese an sich fortschrittliche Haltung viele Dinge zugleich betoniert hat, dass sie auch zum Beispiel verhindert hat, dass man gar nicht angefangen hat, Leute mit Migrationshintergrund überhaupt zu zählen oder zu bestimmen, woher sie kommen? Ich überspitze einmal und nenne es den Wahn der Gleichheit, der den Blick auf die Differenzen verschüttet. Und das ist ja auch ein Punkt, den die beurs selbst oder die Franzosen aus dem Senegal zum Beispiel gerade in Frankreich postulieren, vor allem in Bezug auf das Geschichtsdenken und ihre Rolle im II. Weltkrieg. CL: Das war ein republikanischer Exzess, der gottlob nicht in die praktische Sozialpolitik durchgeschlagen ist. Ich erinnere mich gerne an ein »Arte«-Streitgespräch mit Dominique Schnapper, der Tochter von Raymond Aron, die einen egalitären Republikanismus verfocht und stets den Citoyen sans couleur im Sinn hatte. Und die Farbenblindheit, die sich Republiken – letztlich ja auch, aber weniger dogmatisch die Vereinigten Staaten – vorschreiben, ist etwas Gutes, während man in England oder auch bei uns zum Teil fast besoffen ist vor Vielfalt. Man tut so, als wäre sie ein Wert an sich, dabei kann Vielfalt misslich sein, hinderlich und schäbig. Die Bundesrepublik als spätes Einwanderungsland ist eine Mischung aus Amerika, Frankreich und Ostmitteleuropa, wo die Reaktionäre – Herder missdeutend – auf Blutsverwandtschaft und Gottunmittelbarkeit der Stämme setzen. Bei den Türken findet man diese Selbst-Ethnisierung auch, deshalb passen reaktionäre Türken und Deutsche gut zusammen mit ihrem Leitkulturwahn. Dagegen postulierte unser Buch im Untertitel: Spielregeln für die Vielvölkerrepublik6, was Kritiker nicht hinderte, ausgerechnet uns als Kulturrelativisten anzuklagen. SSt: Da sehe ich auch Parallelen. Aber gegen den Wahn einer ethnisch homogenen Türkei steht doch immer auch die große kosmopolitische Tradition, die dieses Land auch geprägt hat und die immer noch einfach glatt gestriegelt wird – oder nicht? CL: Die Türkei entdeckt den osmanischen Multikulturalismus und das Eigengewicht der Religion wieder. Ich glaube, wir haben das damals wenigstens angedeutet – Multikulturalität ist kein Nebeneinander unantastbarer Kulturen, eher eine Gesellschaft ohne leitkulturelles Zentrum, die nicht Gruppenloyalität, sondern die Chancen des Individuums stärkt, in eine Gemeinschaft einzutreten und daraus Ideen, Talente, Ressourcen zu ziehen. Dazu gehört spiegelbildlich das Recht jedes Einzelnen, von »seiner« Gemeinschaft in Ruhe gelassen zu werden, sich bei Bedarf von ihr loszusagen. Multikulti ohne Austrittsmöglichkeit ist blanker Gruppenzwang. 6 | Vgl. vor allem die verfassungspolitische Skizze in Leggewie, Claus (Hg.) (1990): Multi Kulti. Spielregeln für die Vielvölkerrepublik, Berlin: Rotbuch, S. 142ff.
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SSt: Wenn man das Buch heute liest, scheinen die ideologischen Debatten, die das Buch ausgelöst hat, wie ein monolithischer Block dazwischen zu stehen. Wenn man das liest, dann könnte man es heute eigentlich genauso wieder neu auflegen. Das ist schön für Sie und die anderen Autoren, aber eigentlich genau das Erschreckende in Bezug auf unsere gesellschaftliche Situation. CL: Heiner Geißler, Daniel Cohn-Bendit und ich gelten in Leitartikeln und Blogs immer noch als »Multikulti-Fantasten«, die die Republik leichtsinnig dem ethnisch-religiösen Bürgerkrieg ausgeliefert haben. Wer genau liest, merkt aber: Das waren keine Spinner und Utopisten. Nur bei den vermeintlichen Realisten hat es bis 2009 gedauert, dass zum Beispiel ein Armin Laschet die Fehler von damals zu Protokoll gibt. Navid Kermani hat es bei der Verleihung des Hessischen Kulturpreises auf den Punkt gebracht. Multikulturalismus bedeutet Konflikt, und das ist gut so, solange er zivil ausgetragen wird. SSt: Man kann das Buch jedenfalls heute noch lesen und die Debatten, die sich dazwischen geschoben haben, die Interpretationslinien sind das eigentlich Interessante. Der Begriff »Multikulturalismus« wurde aufgenommen und weiterentwickelt, das ist mit Begriffen und Konzepten so üblich. Die eine Interpretationsschiene war es, daraus eine Politik der Anerkennung zu entwickeln im Sinne eines »wir leben alle gut nebeneinander«, eine schöne, aber etwas naive Utopie. Die andere Interpretationslinie war es, den Begriff nüchtern als eine gesellschaftliche Zustandsbeschreibung zu verstehen. Mich würde interessieren, welche Dringlichkeit, welche Notwendigkeit es vor etwa 20 Jahren für diesen Begriff »Multikulti« gab? Wie war die gesellschaftliche Situation damals, gab es eine Stagnation in der Einwanderungsdebatte? CL: Wir wurden damals etwas ungeduldig, weil wir spürten, dass nun schon die zweite Generation von Einwanderern nicht wirklich zur Kenntnis genommen wurde und es dringend einer politischen Initiative bedurfte, einer gründlichen Umstellung unserer Staatsbürgerschaft.7 Denn wir erwarteten, dass der Prozess der ethnischen, religiösen und kulturellen Pluralisierung in der Bundesrepublik nicht problemlos vor sich gehen würde, im Buch steht ausdrücklich: »we never promised you a rosegarden«. So gingen wir in soziologischer Nüchternheit mit Ralf Dahrendorf davon aus, dass Konflikte eine notwendige Voraussetzung gesellschaftlicher Integration sein würden. Wir waren im Grunde genommen für diese Konflikte, vermissten aber – und wir reden über die heiße Phase der Deutschen Einheit – eine politische Arenenbildung, in der sie friedlich ausgetragen werden konnten. Und deswegen führten wir einen aus Amerika 7 | Dazu Bade, Klaus J. (Hg.) (1994): Das Manifest der 60. Deutschland und die Einwanderung, München: Beck.
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und Frankreich adaptierten Republikanismus ins Feld, der die kulturellen, sozialen, religiösen Verschiedenheiten respektiert, ihnen aber nicht zu viel Raum gibt und den Germanozentrismus im Zaum hält. Das war seinerzeit im Rotbuch Verlag ein sehr spannender Diskussionsprozess. Die Grünen wollten kulturelle Vielfalt politisch multiplizieren, doch als »amerikanischer Linker« war ich ein klarer Gegner des Doppelpasses … SSt: Dazu kommen wir gleich noch. Was pressierte denn damals so? CL: Leute wie Otto Kallscheuer, Dan Diner, Dany Cohn-Bendit und andere hatten, geistig entweder aus Frankreich oder aus Amerika kommend, die Vorstellung einer multikulturellen Demokratie – einer politischen Egalität, die von den Farben der Herkunft und den Unterschieden der Religionen absieht, sie aber nicht zum Verschwinden bringt. Und wir hofften, man könnte diese im sich vereinenden Deutschland deplatziert wirkende Facette einführen. Damals fürchteten viele, mit der Verschiebung von »Wir sind das Volk« zu »Wir sind ein Volk« könnte ein ethnischer Nationalismus zurückkehren.8 Die Slogans der Antideutschen vom »Vierten Reich« waren sicher übertrieben, aber die Eskalation der Asyldebatte demonstrierte die Latenz des Ethno-Nationalismus, eine Instrumentalisierung des zunächst unschuldigen »jus sanguinis« für ethnische Säuberungen – wie bald darauf in Jugoslawien. SSt: Der Hintergrund von Multi Kulti war die Wiedervereinigung? CL: Genau. Wir waren keine spontanen Verfechter der deutschen Einheit – das war ein großes Problem der Linken damals. Aber die Tatsache, dass Aus- und Übersiedler in 24 Stunden Deutsche wurden, während Ausländer, die 24 Jahre hier wohnten, noch mindestens weitere 24 Jahre zu warten hatten, war absurd und führte zu dem Gedanken »Einheit plus« – gleichzeitige Einbürgerung der Ossis und der »Aliens«. Da ich ein begeisterungsfähiger Mensch bin, habe ich nicht lange, wie Günter Grass oder viele aus meiner Generation, Schlimmstes kommen sehen. Wir sahen ja den spannenden Integrations- und Assimilations- und Differenzierungsprozess der deutschen Gesellschaft, wollten aber eine politische Absicherung der unvermeidlichen Konflikte und die Möglichkeit, Alltagsdiskriminierung dadurch zu neutralisieren, dass auch die Einwanderer Deutsche wurden. Damals konnte sich kaum jemand vorstellen, was auch heute noch nicht selbstverständlich ist – Deutsche türkischer Herkunft 8 | Leggewie, Claus (1993): Vom deutschen Reich zur Bundesrepublik und nicht zurück. Zur politischen Gestalt einer multikulturellen Gesellschaft. In: Friedrich Balke u.a. (Hg.), Schwierige Fremdheit. Über Integration und Ausgrenzung in Einwanderungsländern, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 3-20 und ders. (1990): Reich werden oder Bund bleiben? Eine Begegnung mit Herrn von Metternich. Kursbuch 100, S. 23.
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und islamischen Glaubens. Deswegen forderten wir die Abkehr vom »jus sanguinis« zum »jus soli« und ein neues Staatsangehörigkeitsrecht. Der große Verhinderer war erst Helmut Kohl – und dann auch Otto Schily. Die Grünen haben sich große Verdienste erworben, oft aber ohne zu wissen, was sie eigentlich tun. Denn die meisten hingen einem romantischen Multikulturalismus an und mimten die Postmodernen, die sind immer für die Minderheiten und pflegen Aversionen gegen die Mehrheit … SSt: »Ausländer, lasst uns nicht mit den Deutschen allein.« CL: Auch ich war skeptisch, aber Multi Kulti war gewissermaßen die Annäherung eines Spät-68ers an die deutsche Nation, eben weil man die jetzt republikanisch verstehen konnte. Vorher war mir das Vaterland unheimlich oder ziemlich schnuppe. SSt: Im Nachhinein könnte man doch vielleicht auch sagen – und da komme ich noch einmal auf die Entstehungsgeschichte des Titels im New Yorker Jazz-Club zurück –, dass die Band mit dem Namen »Multikulti« nichts anderes gemacht hat, als auf ihre Herkunft zu referieren und das auch noch cool vor sich herzutragen. Haben Sie denn nicht die Gefahr gesehen, die darin liegt, jemand auf seine Herkunft zu reduzieren? Genau das ist doch heute die entscheidende Debatte, wie sie auch von den Betroffenen selbst geführt wird. Es sind ja heute die Nachfahren der Einwanderer, die dann es einfach satt sind, die überhaupt nicht der »Türke« sind, eher schon Kreuzberger … CL: Ja, verstehe schon. Diese Gefahr ist in dem Buch vielleicht nicht klar genug benannt worden. Mir war jedoch nie daran gelegen, dass jemand in seiner blöden »community« eingeschlossen bleibt und falsche Loyalitäten aufgezwungen bekommt. Necla Kelek tut manchmal so, als seien wir schuldig an den Ehrenmorden und am Patriarchat, die in solchen Defensiv-Gemeinschaften blühen können. Unser Begriff von Multikulturalismus basierte weniger auf makrosoziologischen Theorien als auf Klassikern wie Georg Simmel, Alfred Schütz, Erving Goffman9, das bedeutet, wir sind immer der Meinung gewesen (und betreiben das am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen als Programm), es bedürfte der soziologischen Normalisierung eines kulturalistisch überladenen Kulturbegriffs.10 Weniger kompliziert gesagt, Kultur muss ein dynamisches, bewegliches Magnetfeld bleiben, sobald es sich verfestigt und kristallisiert, wird das zum Problem. Bazon Brock hat auf Multi Kulti mit einem Goebbels zugeschriebenen 9 | Siehe Leggewie, Claus (Hg.) (1990): Multi Kulti. Spielregeln für die Vielvölkerrepublik, Berlin: Rotbuch, S. 97ff. 10 | Dazu jetzt Leggewie, Claus/Zifonun, Dariuš (i.E.): Was heißt Interkulturalität? In: Mike Sandbothe (Hg.), Pragmatismus als Kulturpolitik. Beiträge zum Werk Richard Rortys, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Spruch reagiert: »Wenn ich Kultur höre, entsichere ich meinen Revolver« – als würden wir die Leute in ihr kulturelles Ghetto sperren. SSt: War das aber nicht implizit gemeint? CL: Niemals. Wer einem soziologischen Prinzip der Interkulturalität verpflichtet und gleichzeitig ein Verfechter des libertären Individualismus ist, also Kollektiven jedweder Art im Grunde misstraut, dem war doch vollkommen klar, dass die Austrittsmöglichkeit aus der selbstgewählten Gemeinschaft stets garantiert sein muss. Was ich an Religionsgemeinschaften und Zentralkomitees verachte, ist, wenn sie ihren Mitgliedern dogmatische Linientreue auferlegen wollen und ihnen, wie viele Muslime behaupten – ich halte das für unkoranisch –, nicht erlauben, die Gemeinschaft zu verlassen und das als einen todeswürdigen Verrat ansehen. Man reklamiert positive Religionsfreiheit »Jeder darf nach seiner Fasson selig werden«, aber die Voraussetzung: »Lasst mich in Ruhe, wenn ich nicht will«, wird von den meisten Muslimen und natürlich auch von vielen Christen, Juden, Hindu-Nationalisten nicht anerkannt. Die Gefahren eines kulturellen Relativismus würde ich heute, angesichts der feigen Reaktion auf die Mohamed-Karikaturen, schärfer attackieren, das ist klar, aber ich finde, das ist im Buch schon angelegt.11 Es gibt für kulturelle und religiöse Gemeinschaften zwei große Nagelproben: wie lässig gehen Sie mit Gotteslästerung um, und wie reagieren sie auf Homosexualität. In beiden Fragen gibt es eine reaktionäre Internationale der Glaubenshüter, die weder den Blasphemietest bestehen noch Männer öffentlich Händchenhalten lassen wollen. SSt: Aber es ist ja auch interessant, das einmal revue passieren zu lassen und die ganzen Veränderungen und Aufnahmen, die der Begriff erfahren hat … CL: Ich wäre aber nicht so hypersensibel wie meine postmodernen Kritiker. Sie sehen die andere Dimension der Normalisierung unserer Gesellschaft nicht, sie sehen nicht, dass Multikulti im Großen und Ganzen ein erfolgreiches Programm gewesen ist. Es gibt viele Türken der dritten Generation oder anderer oder auch Muslime, die sagen: »Ihr Deutschen legt uns fest.« Davon ist aber gar keine Rede, das halte ich für übertrieben. SSt: Stimmen Sie mir zu, dass es einer der heute oft begangenen Fehler ist, aus diesem Begriff ein politisches Handlungskonzept abzuleiten? Die11 | Vgl. Leggewie, Claus (1993): Salman Rushdie und der andalusische Islam. In: ders., Alhambra. Der Islam im Westen, Reinbek: Rowohlt, S. 77-91 und jetzt ders. (i.E.), Globaler Kulturkampf um einen »blasphemischen« Roman: Salman Rushdies »Satanic Verses« (1988). In: Dirk van Laak (Hg.), Literatur, die Geschichte schrieb, Göttingen.
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se Kritik wird von dem Wissenschaftler und Politikberater Steven Vertovec am Multikulturalismus-Begriff festgemacht. Er beklagt, dass Kommunen daraus ableiten, für die »Türken« das »Türkenprogramm« zu machen, für die »Syrer« das »Syrerprogramm« und darüber hinaus ein bisschen Folklore anzubieten. Da stagniert es dann natürlich, es ist kein gesamtgesellschaftliches Vielheits-Konzept in Sicht. Dazu kommt der Exotismuseffekt, der dem Begriff »Multikulturalismus« ja auch zur Last gelegt wird. CL: Einwanderer sind Menschen wie du und ich. Was fehlte, ist eigentlich die stärkere Pointierung der soziologischen Perspektive auf die Gegenwartsgesellschaft, die in sich interkulturell ist. Demnach sollte man überhaupt nicht mehr über Deutsche und Ausländer reden, wie sich das damals politisch anbot, man würde die generelle Pluralität der deutschen Gesellschaft betrachten, ungeachtet der Tatsache, ob dort überhaupt Gastarbeiter oder Muslime anwesend sind. Man würde im Gegenteil sagen, wie unterschiedlich die deutsche Gesellschaft ist und dass jede Gesellschaft interkulturell ist. SSt: »Interkultur« statt Multikulti? CL: Interkultur ist aber auch kein kulturpolitischer Begriff, der nur eine Nische für Minderheiten reserviert, ganz unabhängig davon, ob ihre Kunst gut ist oder nicht. »Qualität statt Quote«, würde ich dagegen sagen, damit an jeden Kulturschaffenden, egal wo er herkommt, erst einmal ein ästhetischer Maßstab angelegt wird. Kulturpolitik hat nicht die Aufgabe, Nischen zu schaffen und Subventionen für alle möglichen Folklore-Gruppen zu machen, sie hat die Aufgabe, Menschen, die aus der Sphäre der »Hochkultur« entweder materiell oder durch sichtbare und unsichtbare Mauern ferngehalten werden, diese zugänglich zu machen. SSt: Was verbindet Sie eigentlich mit Navid Kermani? CL: Eine nonkonformistische, bei mir allerdings eher blasphemische Frömmigkeit, und die (meistens frustrierende) Anhängerschaft zum 1. FC Köln, dessen Fans immerhin den Schlachtruf intonieren: »Wir sind multikulturell«. Wichtiger ist aber das Programm, für das der Gelehrte Navid Kermani in der Forschungs- und Universitätslandschaft steht, nämlich die Anerkennung der Orientalistik oder Islamwissenschaft (oder analog der Japanologie etc.) als allgemeine Kulturwissenschaft, nicht als Nischenwissenschaft. Gegen den Substantialismus der japanischen, der iranischen, der Was-weiß-ich-was-Kultur. Der existiert in den Wissenschaften immer noch mangels soziologischer Perspektive, mangels auch der Rezeption postkolonialer Theorie, die den Eurozentrismus längst erschüttert haben müsste. […]
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SSt: Ich möchte noch eine allerallerletzte Frage stellen, zum Thema Rassismus. Ich habe das Gefühl, der Begriff »Multikulturalismus« ist auch ein Hilfsbegriff gewesen, um Rassismus anzusprechen und zu thematisieren und Provinzialität aufzubrechen, als politischer Impuls. Heute habe ich den Eindruck, wenn man jenseits der plumpen Autonomen-Sprache über Rassismus sprechen will, dann hat man Schwierigkeiten. Kaum jemand nimmt das wirklich in den Mund und spricht bestimmte Probleme an. Wenn ich hier Besuch habe aus Kamerun, dann habe ich keine Lust, ihn in bestimmte Gebiete von Berlin zu schicken und ich sage denen auch, du sollst da nicht hingehen. Darüber wird aber nicht geredet, es wird lieber unter der Decke gehalten, man spricht lieber von Diskriminierung. Oder ist meine Beobachtung falsch? Sehen Sie das nicht so? CL: Das ist die Nachtseite der multikulturellen Erfolgsgeschichte. Unter Einheimischen wie unter Einwanderern gibt es offenen und verdeckten Rassismus. Die Schule ist oft eine Kampfzone, mittlerweile auch Betriebe und interessanterweise: Kultstätten, vor allem Moscheen. Die Finanzkrise könnte diese Phänomene massiv verstärken. Um mal pathetisch zu werden: Daran kann die gesamte Konstruktion Europas zugrunde gehen. […] SSt: Vielen Dank für das Gespräch!
Multikulturalismus – die libertäre Version Karen Körber und Sighard Neckel
Der 1990 von Claus Leggewie herausgegebene Band »Multi Kulti. Spielregeln für eine neue Vielvölkerrepublik« markiert einen wichtigen Einschnitt in der Diskussion um das staatliche Selbstverständnis Deutschlands nach der deutschen Vereinigung und am Ende des 20. Jahrhunderts. Während in den Vereinigten Staaten, in Frankreich, in den Niederlanden oder Großbritannien längst über die gesellschaftspolitischen Konsequenzen der weltweiten Wanderungsbewegungen debattiert wurde und sich bereits ein vorsichtiger Wandel in den Selbstbeschreibungsversuchen demokratisch verfasster Nationalstaaten beobachten ließ, weigerte sich der gerade erweiterte deutsche Staat hartnäckig, der gesellschaftlichen Realität von Einwanderungen politisch Rechnung zu tragen. Vor diesem Hintergrund stellte Claus Leggewies Entwurf für einen neuen Gesellschaftsvertrag einen zentralen Beitrag dar, der durch den besonderen Zeitpunkt seines Erscheinens im Jahr der Wiedervereinigung zusätzlich an Bedeutung gewann. Gegen ein nationales Selbstverständnis, welches das Recht auf den Bürgerstatus noch immer ausschließlich an die ethnische Zugehörigkeit band, forderten die an »Multi Kulti« beteiligten Autoren eine Revision des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts und damit die längst überfällige politische und rechtliche Gleichstellung von Eingewanderten und deren Nachkommen. Der kritische Blick, der hier gegenüber der besonderen Verfasstheit Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg eingenommen wurde, war dabei geschult an Beispielen und Erfahrungen anderer Einwanderungsländer und unternahm somit auch den Versuch, gleichsam von außen auf den (neuen) deutschen Staat zu schauen. »Multi Kulti« nahm eine Perspektive ein, die bei allem Engagement zu einer gewissen Nüchternheit aufforderte und zugleich der besonderen moralischen Aufgeregtheit entgehen wollte, von der die innerdeutsche Debatte um ethnische Multikulturalität bis in unsere Gegenwart über weite Strecken gekennzeichnet ist. »Multi Kulti« wirft die Frage auf, welche Regeln sich eine Gesellschaft geben sollte, die im Zuge transnationaler Mobilität und grenzüberschreitender Kommunikationen zu der Erkenntnis gelangt ist, dass sie »ohne
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K OMMENTARE ZU B EGRIFFSGESCHICHTE M ULTIKULTURALISMUS
ein kulturelles Zentrum und ohne hegemoniale Mehrheiten« (Claus Leggewie) existieren muss. Leggewies Antwort auf diese Herausforderung besteht in einem Konzept von Multikulturalismus, welches zuerst einmal grundsätzlich bereit ist, Prozesse der ethnischen, religiösen oder kulturellen Vergemeinschaftung in Einwanderungsgesellschaften anzuerkennen und diesen Vergemeinschaftungen auch das Recht auf politische Artikulation zuzusprechen. Mit dieser Position unterscheidet er sich von jenen Stimmen im Multikulturalismusdiskurs, die sich zwar ebenfalls für eine staatsbürgerrechtliche Gleichstellung von Eingewanderten aussprechen, dabei jedoch gegen jede institutionalisierte Form der Anerkennung von Differenz votieren, da diese hinterrücks jene essentialisierenden Unterscheidungen wieder einführen würde, die die egalitäre Bürgergesellschaft gerade ausschließen will (Dan Diner, Frank-Olaf Radtke). Gegen dieses Modell eines radikalen Individualismus, das im »Lob der Gleichgültigkeit« gegenüber aller ethnisch-kultureller Besonderheit zum Ausdruck gebracht wird, beharrt Claus Leggewie nicht nur auf der Faktizität und Vielfalt von Gemeinschaftsformen, sondern verweist auch auf deren besondere Potentiale der Selbstintegration und der Stärkung von Individuen. Nur auf den ersten Blick nähert er sich mit dieser Position jenen Vertretern eines normativen Multikulturalismus an, wie er etwa von Charles Taylor und Will Kymlicka formuliert worden ist: In Gesellschaften, die »mehr als eine kulturelle Gemeinschaft umfassen, die überleben will« (Charles Taylor), sei es legitim, ethnischen Großgruppen kollektive Rechte zuzuschreiben. Tatsächlich legt der normative Multikulturalismus seinen gesellschaftspolitischen Konzepten implizit einen Kulturbegriff zugrunde, der Kultur mit der kollektiven Lebensform einer Gemeinschaft identisch werden lässt. Kultur erscheint als eine fraglos gegebene Größe, die einzelne Bevölkerungsgruppen als different voneinander charakterisiert. Als zentrales Kennzeichen einer »multikulturellen« Gesellschaft gilt dann ihre »ethnisch-kulturelle Vielfalt«: Multikulturelle Gesellschaften sollen aus einem Nebeneinander ethnisch-kultureller Einheiten bestehen, die nach innen jeweils durch Kohärenz und eine stabile Gruppenidentität gekennzeichnet sind und die sich nach außen als eindeutig voneinander verschieden wahrnehmen. Anders jedoch als jene Fürsprecher der normativen Multikulturalität verwahrt sich Claus Leggewie gegen die Gefahren eines übersteigerten Kulturalismus, der, wie Seyla Benhabib dies einmal formuliert hat, nur die »Reifizierung vorausgesetzter Gruppenidentitäten« befördert – Jürgen Habermas sprach in diesem Zusammenhang gar von einem »administrativen Artenschutz«, der ethnischen Gruppen nur dazu diene, »der eigenen Lebenswelt Ultrastabilität zu verleihen« und »eine zerfallende Substantialität« zu konservieren. Einem dynamischen und durchlässigen Verständnis von Kultur folgend, stehen in Claus Leggewies Überlegungen der Schutz des Einzelnen vor dem Zugriff der Gemeinschaft und das Recht des Individuums gegenüber dem ethnischen Kollektiv eindeutig
K AREN K ÖRBER UND S IGHARD N ECKEL
im Vordergrund. Der libertäre Individualismus, den Claus Leggewie vertritt, sieht Gemeinschaften nicht als essentiell und auf Dauer angelegt an, sondern als vorläufig und flexibel. Dass ethnische Gemeinschaften in ihrem Zusammenleben konfliktträchtig sind, verliert in Leggewies Konzeption die Schreckensgestalt, die der staatsbürgerliche Traditionalismus dem Multikulturalismus verleiht, da Konflikte generell als notwendige Voraussetzungen einer gesellschaftlichen Integration betrachtet werden, die nicht nur ethnische Differenzen umfasst. »Multikulturalismus bedeutet Konflikt, und das ist gut so, solange er zivil ausgetragen wird«, wie Claus Leggewie in dem Gespräch sagt, dass er 20 Jahre später mit Susanne Stemmler über »Multi Kulti« geführt hat. Während der normative Multikulturalismus die Existenz distinkter ethnisch-kultureller Gruppen als ein vermeintlich zwangsläufiges Ergebnis von Einwanderungsprozessen immer schon voraussetzt, öffnet sich Claus Leggewies Plädoyer für »Spielregeln in der Vielvölkerrepublik« den dynamischen Prozessen, denen Zugehörigkeiten auch in ethnischer Hinsicht in der modernen Gesellschaft der Gegenwart unterliegen. Damit erweist sich »Multi Kulti« als ein ebenso realitätstüchtiges wie vorausschauendes politisches Konzept, das bis heute an Aktualität nichts eingebüßt hat.
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Denken in Widersprüchen Claus Leggewies Buch MULTI KULTI zwanzig Jahre später Navid Kermani
Man holt das Buch, das man nur noch antiquarisch besorgen konnte – dafür billig, 0,01 Euro plus Porto, weil es seinerzeit so oft verkauft wurde –, aus dem Briefumschlag, in den es tatsächlich passt, und ist als erstes vom Druckbild überrascht: So klein und eng waren die Buchstaben, als in Deutschland ein breites, bei allen Auseinandersetzungen doch relativ kohärentes linksintellektuelles Milieu existierte, in dem noch wie selbstverständlich von Theorie und Praxis die Rede war. Unternimmt man dann die Anstrengung, für die Lesen offenbar gehalten wurde, beginnt man bereits nach dem Vorwort zu verstehen, warum die Koordinaten »links« und »rechts« seither immer weniger taugen, die geistige Wirklichkeit der Republik zu erfassen: »Man kann aber aus einem sozialen Faktum keine moralische Norm basteln«, heißt es dort: »Die Einwanderungsgesellschaft ist nicht utopiefähig.« (Leggewie 1990: 8) Der Satz klingt rechts, konnte aber 1990 offenbar nur von einem Linken ausgesprochen werden. Sieht man von Heiner Geißler ab, gab es rechts niemanden, der sich mit der Migration auseinandersetzte, statt sie zu leugnen oder Gastarbeitern, wie sie noch hießen, eine gute Heimreise zu wünschen; links prägte das Bewusstsein die Wirklichkeit, dass Einwanderung notwendig eine Bereicherung und Ausländer irgendwie die besseren Menschen seien. »Mit spiegelbildlich angeordneten demographischen, ökonomischen, ästhetischen und ethnischen Argumenten wird ›Durchmischung‹ hier euphorisch gefeiert, dort rigoros verdammt«, hat Claus Leggewie diese Frontlage damals selbst beschrieben: »Die nationalistische Ideologie verurteilt sie aus denselben Gründen, gegen die der Kosmopolit sie ins Feld führt.« (Ebd.: 7) So viel hat sich in der Diskussion über die multikulturelle Gesellschaft geändert, die Claus Leggewie mit anstieß, und zugleich so wenig. So viel, weil heute Migration niemandem mehr ein »Rand(gruppen)problem« ist, »eine Sache für freundliche Ausländerpädagogen und frustrierte Sozialberater (ebd.: 17); so wenig, weil die meisten Argumente, die das Buch seinerzeit zur Diskussion stellte, nichts von ihrer Relevanz verloren ha-
N AVID K ERMANI
ben; so viel, weil das Milieu, in dem das Buch entstand, heute in keinem anderen Punkt so entzweit ist wie in der Beurteilung der Einwanderung; so wenig, weil das Buch all die Defizite, die heute gegen die multikulturelle Gesellschaft ins Feld geführt werden, damals schon benannt hat; so viel, weil sein Verfasser genauso wie andere, die 1990 eine Art Realitätsschock in der Einwanderungsdebatte bewirkten, heute als Phantast, Spinner oder Utopist abgetan wird: »Multikulti hat bei uns eine symptomatische Konversion durchlaufen: vom Schmusewort zum Schimpfwort«, beschreibt Claus Leggewie in dem Interview mit Susanne Stemmler die Geschichte jenes Begriffs, den er aus einem Jazz-Lokal in Manhattan nach Deutschland mitgebracht hat. Dass Leggewie innerhalb desselben Diskurses scheinbar die Fronten wechselte, ohne seine Position substantiell zu verändert zu haben, ist aber noch mehr als nur die Folge eines Normwandels. Es hat auch damit zu tun, dass dieser Position die Beweglichkeit, die Veränderung des Blickwinkels, das Paradoxe inhärent ist. Claus Leggewie behandelte 1990 die multikulturelle Gesellschaft nicht als etwas, das man ablehnt oder befürwortet, begrüßt oder verabschiedet, sondern endlich als eine Wirklichkeit, die in ihrer Vielfältigkeit zu beschreiben, zu analysieren und zu gestalten ist. Allein schon dieser eigentlich selbstverständliche Anspruch eines Sozialwissenschaftlers ist 2010 zu einem Plädoyer geworden. Vielleicht war es immer so, vielleicht hat es mit dem Talkshow-Format zu tun, in dem heute intellektuelle Debatten auch in den Feuilletons geführt werden: Man lässt möglichst gegensätzliche und eingängige Positionen aufeinander prallen, die jede widerspruchsfrei zu sein vorgeben – je zugespitzter, desto breitenwirksamer. Dass Intellektualität und akademische Redlichkeit beginnen, wo Widersprüchlichkeit bedacht und in Kauf genommen wird, ist eine Einsicht wohl aller mystischen Traditionen und wurde in dem Milieu, im dem das Buch 1990 erschien, mit dem Begriff des Dialektischen gefasst (wenngleich nicht immer beachtet). Das Milieu hat sich aufgelöst, aber wie wenige andere Gelehrte in Deutschland fährt Claus Leggewie fort, soziale Wirklichkeit in Widersprüchen darzustellen und zu erklären. Sein Buch legt von dieser grundlegendsten aller reflektorischen Tätigkeiten genauso Zeugnis ab wie das oben abgedruckte Interview, in dem er sich 20 Jahre später zu dem Buch äußert. Was 1990 noch nicht sichtbar war und Leggewie dafür in dem Interview um so klarer bezeichnet, ist der ideologische Rückraum der heutigen Identitätsdebatte: Wo kulturelle Differenz hochgehalten wird, gilt dies fast immer auch sozial. Deshalb produzieren arabische Diktatoren, neokonservative think tanks in den Vereinigten Staaten, europäische Rechtspopulisten und links sozialisierte Islamkritiker nicht nur die gleichen essentialistischen Bilder vom Islam wie vom Westen, sondern proklamieren sie ökonomisch auch dasselbe neoliberale, also deregulierende, Unterschiede bejahende und festschreibende Modell. »Es bedürfte der soziologischen Normalisierung eines kulturalistisch überladenen Kulturbegriffs«, beschreibt Leggewie in dem Interview die Aufgabe, die 20 Jahre nach MUL-
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TI KULTI zugleich geblieben ist und sich neu stellt. Aus der Perspektive meiner Disziplin, der Orientalistik, wäre zu ergänzen, dass mit der soziologischen auch die philologische Normalisierung einherginge, will sagen: Statt es Fundamentalisten gleich zu tun und religiöse Normen zu behandeln, als seien sie von himmlischer Hand in Stein gemeißelt, jederzeit und an jedem Ort wörtlich gültig, gilt es, auch die sogenannten heiligen Texte in ihrem sozialen Kontext, mit Blick auf kulturelle Wechselwirkungen und mit Rücksicht auf ihre spezifische literarische Struktur zu entschlüsseln. Was Leggewie bescheiden »Normalisierung« nennt und als »Säkularisierung« seine Entsprechung in der Hermeneutik hat, ließe sich auch als »Aufklärung« bezeichnen, die fortzuschreiben ist, ohne je ihre Ambivalenz aus dem Auge zu verlieren. Aber das ist dem Mann, der seine Begrifflichkeiten in New Yorker Jazz-Clubs aufliest, wahrscheinlich zu pathetisch.
L ITER ATUR Leggewie, Claus (1990): MULTI KULTI, Spielregeln für die Vielvölkerrepublik, Berlin: Rotbuch.
Das Ende der Lebenslügen: Plädoyer für eine neue Einwanderungspolitik Claus Leggewie
1. V ON DER › RE AL E XISTIERENDEN ‹ ZUR FORMELLEN E INWANDERUNGSPOLITIK Einwanderungspolitik im weitesten Sinne umfasst alle staatlichen Maßnahmen und gesellschaftlichen Initiativen, die grenzüberschreitende Wanderungsprozesse konsensfähig und effektiv zu steuern suchen.1 Das kann in Deutschland auf verschiedene Weise geschehen, implizit oder explizit: Eine erste Möglichkeit wäre eine Fortsetzung des bisherigen, ›liberal‹ akzeptierten Sickerungsprozesses. Die staatliche (Nicht-)Entscheidung bestand dabei darin, Einwanderung zwar nicht ausdrücklich zu fördern, aber geschehen zu lassen, und sich mit dem Ergebnis ›ausländerpolitisch‹ auseinanderzusetzen. Dies geschieht restriktiv gegenüber der Ausländerbevölkerung aus Nicht-EG-Ländern; denn ein großzügiges Niederlassungsrecht bis hin zur Einbürgerung der eingewanderten Familien besteht nur für ›EG-Europäer‹. Auf diese Weise vollzieht sich Einwanderung ohne aktive, planende Gestaltung des Aufnahmelandes – und der Einwanderer selbst. Auch sie erkennen sich erst in dem Moment als Einwanderer, in dem sie um die deutsche Staatsangehörigkeit nachsuchen, sofern sie eine reale Chance dazu haben. Ergebnis sind Unübersichtlichkeit und Unsicherheit auf beiden Seiten und nicht zuletzt auch Spannungen zwischen beiden Seiten. Die Alternative besteht in formeller gesetzlicher Regelung und Institutionalisierung der Einwanderung im Rahmen einer Gesamtkonzeption mit klar abgesteckten Handlungsspielräumen und Zielvorstellungen. Danach ist festzulegen, wie viele und welche Einwanderer kommen sollen. Geeignete Instrumente zur sozialen Integration sind bereitzustellen. Der 1 | Für den Wiederabdruck in diesem Band wurde die Rechtschreibung aktualisiert.
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Vorteil einer vorausschauenden Einwanderungspolitik liegt darin, dass ein konfliktbeladener, für populistische Kampagnen geeigneter Prozess entdramatisiert, also durch staatliche Planung und Regelung ›normalisiert‹ wird. Es wird transparent und kontrollierbar, wie viele Einwanderer jährlich ins Land kommen und was arbeitsmarkt- und sozialpolitisch für ihre Eingliederung getan werden muss. Dies geschieht derzeit nur in Bezug auf deutschstämmige Aussiedler aus Osteuropa. Diese ›real existierende‹ deutsche Einwanderungspolitik hat, im Unterschied zu derjenigen anderer Staaten, ein ethnisches Privileg. Die politische Frage ist, ob im Hinblick auf die kaum abwendbare Überalterung der deutschen Bevölkerung in großem Umfang auch eine Öffnung für nicht-deutsche Gebietsfremde vorzusehen ist, wenn der Zustrom deutschstämmiger Aussiedler versiegt sein wird. Gegen eine vorausschauende Einwanderungspolitik wendet sich eine wachsende militante ›Anti-Immigrations-Partei‹ an den Wahlurnen, auf den Straßen und an den Stammtischen. Lässt man indes die in Umlauf gesetzten Horrorgemälde von Überfüllung und Überfremdung beiseite, dann spricht vieles für eine vorsorgende und ganzheitliche Politik der Öffnung für Einwanderung. Auch wenn Einwanderung in größerem Stil erst nach der Jahrtausendwende geboten sein sollte, sind dafür bereits jetzt die notwendigen gesetzlichen, institutionellen und nicht zuletzt psychologischen Voraussetzungen zu schaffen.
2. W ANDERUNGSSTEUERUNG DURCH E INWANDERUNGSPOLITIK Einwanderer im strengen Sinne sind Personen, die – im Gegensatz zu Flüchtlingen bzw. Asylsuchenden – aus freien Stücken in die Bundesrepublik einreisen, um hier auf Dauer ihren Lebensmittelpunkt zu finden. Dabei gibt es in der Wirklichkeit oft fließende Grenzen zwischen Aufenthaltswünschen mit offenem Zeithorizont und dauerhafter Bleibeabsicht. Das galt auch für das Gros der 1955-1973 angeworbenen ›Gastarbeiter‹ und ihre Familien, die heutigen ›Altfälle‹ einer nicht erkannten und nicht anerkannten Einwanderung. Motive von Einwanderern können so klar auch nur abstrakt von denen der Asylbewerber und Flüchtlinge unterschieden werden. Obgleich es auch hier in der Wirklichkeit vielerlei Überschneidungen gibt, ist diese Trennung doch unverzichtbar für die Formulierung einer künftigen Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik. Einwanderungspolitik ist nicht zu verwechseln mit humanitärer Entwicklungshilfe, wenngleich sie die Folgen der eigenen Reglements für Herkunftsländer von Einwanderern stets im Auge behalten muss. Sie setzt vielmehr die klar formulierten Interessen des Einwanderungslandes (z.B. an der Ausfüllung demographischer Lücken, am Ausgleich sozialpolitischer Defizite, an geeigneten Arbeitskräften usw.) an die erste Stelle und dann in Beziehung zu den Bedürfnissen potentieller Einwanderer
C L AUS L EGGEWIE – D AS E NDE DER L EBENSLÜGEN
im Rahmen der gültigen Verfassungs- und Menschenrechtsstandards. Das Einwanderungsland bestimmt also die Konditionen der Einwanderung – mit der Fixierung der Kontingente bzw. Quoten ebenso wie mit der Verbindlichkeit seiner Verfassungsordnung. Für eingewanderte Personen aber muss es ein Höchstmaß an politischer Gleichstellung, sozialer Integration und kultureller Autonomie gewähren. Staatsbürgerliche Inklusion ist unabdingbar, wenn Einwanderung nicht das gesellschaftliche Konfliktpotential erhöhen soll: Obsolet ist deshalb eine ›Einwanderungspolitik‹, die nur Zuwanderung regelt, ohne politische Zugehörigkeit und Teilhabe zu garantieren. Die künftige Einwanderung ist nach Größenordnung (Kontingente), Zusammensetzung und Herkunft (Quoten) zu bestimmen. Die Höhe der jährlichen Einwanderung (durch Familiennachzug und Aussiedlerzuwanderung derzeit rund 350.000 Personen) ist in bundesgesetzlich definierten Handlungsspielräumen je nach Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung kurz- und mittelfristig festzulegen. Einwanderer haben ihre Anträge grundsätzlich vom Ausland aus zu stellen. Übersteigt die Zahl der Anträge das vorgesehene Kontingent, muss über geeignete Verfahren (Punktesystem) nach den Kriterien von Herkunft (bei Familiennachzug im engeren Sinne), Qualifikation und Alter der Bewerber gewichtet werden. Personen, die einen Asylantrag gestellt haben, sollten erst nach einer angemessenen Frist als Einwanderer Berücksichtigung finden können. Nötig ist eine Abgleichung (aber nicht ›Verrechnung‹) mit Asylbewerbern, Kontingentflüchtlingen und Übersiedlungen von europäischen ›Unionsbürgern‹. In Zuwanderungsfragen soll indes nicht allein die Arbeitsmarktlage den Ausschlag geben. Es müssen – jenseits von Flüchtlings- und Entwicklungshilfe im engeren Sinne – auch in der Einwanderungspolitik selbst humanitäre Aspekte Berücksichtigung finden. Im Zentrum der Einwanderungspolitik sollte eine leitende exekutive und konzeptuell tätige Behörde stehen, möglichst ein Bundesministerium für Migration, Integration und multikulturelle Angelegenheiten. Es bündelt die bisher in verschiedenen Ressorts (Ministerien des Inneren, für Arbeit und Sozialordnung, der Justiz) verstreuten Aufgaben und koordiniert sie mit den Ländern und Gemeinden. Hinzu kommt die Abstimmung auf europäischer Ebene; denn Einwanderungspolitik im nationalen Alleingang ist in Europa nicht mehr vorstellbar. Die Leistungsfähigkeit von Einwanderungspolitik ist letztlich an zwei hochbrisanten Indikatoren ablesbar: einerseits am Umfang der illegalen Einwanderung und damit an der Fähigkeit des Staates, die beanspruchte Steuerung praktisch durchzusetzen; andererseits am Ausmaß der gegen Einwanderung gerichteten Agitation; denn es geht bei der Einwanderungspolitik nicht nur um Steuerung, sondern auch um Legitimation. Einwanderungspolitik kann nicht gegen die einheimische Bevölkerung gemacht werden. Weil Einwanderungspolitik Legitimationsprobleme aufwirft, muss sie konsensfähig sein und bedarf deshalb der aktiven Werbung in der Aufnahmegesellschaft. Nötig dazu ist der Abschied von den
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Horrorgemälden und die pragmatische Erschließung eines zu lange vernachlässigten politischen Gestaltungsbereichs. *** Die Herausforderungen auf nationaler Ebene sind mit denen auf europäischer und globaler Ebene verschränkt. In diesem Manifest war von Perspektiven für Deutschland die Rede. Europäische Aufgaben vor globalem Hintergrund wurden nur in Rahmenbezügen gestreift. Europa hat nicht nur die Chance, sondern auch genügend Gewicht in Weltpolitik und Weltwirtschaft, um in den Herkunftsregionen der auf Europa gerichteten Wanderungsströme die Lebensbedingungen zu verbessern und den Wanderungsdruck zu verringern. Es geht nicht nur um das wirtschaftliche Können, sondern auch um das politische Wollen. Solche Fähigkeiten zu solidarischem und präventivem Handeln können freilich nicht ohne Veränderungen in Werthaltungen, Lebens- und Konsumstilen in den europäischen Gesellschaften entstehen. Dieser Lernprozess muss in der eigenen Gesellschaft beginnen. Eine Festungsmentalität und ein Festhalten an eigenen Vorteilen, die andernorts migrationsfördernde Lebensbedingungen erzeugen, sind auch im langfristigen Eigeninteresse kontraproduktiv. Es geht in Deutschland und Europa nicht nur um globalen Altruismus, sondern um Einsichten in dieses Eigeninteresse und um die politische Klugheit, daraus rechtzeitig Konsequenzen zu ziehen. Noch lässt die Migrationspolitik in Deutschland und Europa diese Klugheit vermissen – langfristig zum eigenen Schaden.
Einwanderungsland Deutschland Franz Mauelshagen
Das »Manifest der 60« zur Einwanderung in Deutschland erschien vier Jahre nach der Wiedervereinigung. Helmut Kohls Geist schwebte noch über deutschen Wassern und Landen. Das Manifest wurde in hoher Auflage gedruckt und an die Abgeordneten des Bundestages übergeben. Wie der Titel schon sagt, handelt es sich um handgreiflich gemachte Wissenschaft: um den leider seltenen Fall einer von Wissenschaftlern ergriffenen politischen Initiative. Die zehn Autoren und weitere 50 Unterzeichnete votierten für eine offene Debatte über die Notwendigkeit einer aktiven deutschen Einwanderungspolitik im europäischen Rahmen und wiesen auf die umfassende gesellschaftliche Bedeutung einer solchen Politik hin: »Es geht um die Situation von Einheimischen und Zuwanderern auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, in den Schulen, im Alltag von heute. […] Und es geht um den Sozialstaat von morgen, um die Sicherung seiner sozialen Leistungssysteme bei einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung. Ihre Abnahme in absoluten Zahlen wurde bislang noch durch Zuwanderung aufgefangen. Wahrscheinlich werden wir in Zukunft weit stärker auf solche Hilfe von außen angewiesen sein, als wir uns heute vorstellen können und wollen.« (Bade et al. 1994: 14f.) Das Manifest wollte die notwendige Integrationsbereitschaft als wechselseitige Aufgabe der aufnehmenden und der aufgenommenen Bevölkerung verstanden wissen. Es ist darin wie in der sozialpolitischen Breite, in der es Wanderung diskutiert, heute so aktuell wie vor mehr als 15 Jahren. Ein Rückblick auf die Chronologie der frühen Neunzigerjahre zeigt die Dringlichkeit des Anliegens: Im Jahr der Wiedervereinigung stieg die Zahl der Einwanderer mit deutscher Volkszugehörigkeit nach Art. 116 des Grundgesetzes auf Rekordhöhe (397.000 Aussiedler) und blieb bis Mitte des Jahrzehnts hoch. Die Gesamtzahl dieser Einwanderer lag im Zeitraum 1988 bis 2005 bei rund drei Millionen. Sie kamen aus Rumänien, Polen, den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und einigen wenigen andern Ländern. Ab Anfang der 1990er Jahre stieg auch die Anzahl der Asylsuchenden rapide an. Sie erreichte 1992 mit 438.191 Erstanträgen ihren Höhepunkt.
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Deutschland war weder logistisch noch administrativ noch politisch auf diese Menschen vorbereitet. Das Thema Einwanderung wurde in der Öffentlichkeit weitgehend tabuisiert oder rechtspopulistischen Stimmen überlassen, die pauschal – ohne Rücksicht auf das Prinzip der Individualprüfung – von »Missbrauch des Asylrechts« und »Wirtschaftsflüchtlingen« sprachen. Rechtsradikale Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte in Hoyerswerda (September 1991), Rostock-Lichtenhagen (August 1992) und an einigen anderen Orten – auch im Gebiet der »alten Bundesrepublik« – drängten zum Handeln. Das Manifest diagnostizierte, die »wachsende Fremdenfeindlichkeit« sei eine »aggressive Antwort auf fehlende Konzepte in der Migrationspolitik« (Bade et al. 1994: 13). Die politische Debatte blieb jedoch auf das Asylrecht eingeengt. Die Regierung Kohl verstand es, den Druck der gewalttätigen politischen Rechten auf die Opposition umzulenken. So kam es am 6. Dezember 1992 zum sogenannten Asylkompromiss und schließlich zu einer Änderung des Grundrechts auf Asyl (Art. 16a GG) mit den Stimmen von CDU, CSU, FDP und SPD. Die Neuregelung durch die Prinzipien der sicheren Dritt- und Herkunftsstaaten sowie durch die Flughafenregelung bedeutete eine Einschränkung des Individualanspruchs auf Asyl. Das Asylverfahren wurde vereinfacht und dadurch beschleunigt, die Abschiebung erleichtert. Tatsächlich gingen die Asylgesuche in den folgenden Jahren deutlich zurück – Erfolg einer defensiven Vermeidungspolitik. Stellen wir diese Phase in einen weiteren historischen Kontext: Deutschlands Status als Ein- oder Auswanderungsland schwankte, bei ebenfalls schwankenden staatlichen Grenzen, von einer Epoche in die nächste. Nach großen Bevölkerungsverlusten während des Dreißigjährigen Krieges wurde im späteren 17. und 18. Jahrhundert eine aktive »Peuplierung« betrieben. Im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert verstärkte sich die überseeische Auswanderung zum dominanten Phänomen. Alleine 5,5 Millionen Deutsche wählten den Weg in die Vereinigten Staaten. Die Zwischenkriegszeit und der Zweite Weltkrieg waren von Flucht- und Zwangswanderungen geprägt; Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg schlossen nahtlos daran an. Bis zum Mauerbau 1961 gab es überdies einen größeren Bevölkerungszustrom aus der DDR in die Bundesrepublik. Die Arbeitsmigration aus Südeuropa hatte parallel dazu bereits seit 1955 (Abkommen mit Italien) eingesetzt (weitere Vereinbarungen mit Spanien und Griechenland 1960, mit der Türkei 1961, Marokko 1963, Portugal 1964 und Jugoslawien 1968). Die dominierende Süd-Nord-Wanderung wurde im Jahrzehnt der Wiedervereinigung nur vorübergehend durch eine starke Ost-West-Wanderung überlagert. Insgesamt jedoch erreichte die Zuwanderung in den 1990er Jahren ein neues Niveau (Abb. 1), durch das der Anteil der ausländischen Bevölkerung in Deutschland stark angehoben wurde. Er pendelt sich in den letzten Jahren bei um die sieben Millionen ein, was ein Verhältnis von etwa 90 Ausländern auf tausend deutsche Staatsangehörige ergibt. Noch mehr, nämlich 15,3 Millionen
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F RANZ M AUELSHAGEN
Menschen, die in Deutschland leben, haben einen Migrationshintergrund (Hamburgisches WeltWirtschaftsInstitut 2007). Abbildung 1 8
100
Ausländische Bevölkerung in Deutschland 1871-2009 (in Mio.) 90 7 80
Durchschnittsniveau je Periode 6
absolut in Mio. 1990-2009
relativ je 1000 Einwohner
70
5 60
4
50
40 3 1961-1989
30
2 20
?
1
10 1871-1933 0
0 1871
1881
1891
1901
1911
1921
1931
1941
1951
1961
1971
1981
1991
2001
Datengrundlage: Statistisches Bundesamt 2010
Die Bundesrepublik ist de facto seit langem ein Einwanderungsland, was nichts anderes bedeutet, als dass die Zuwanderung konstant höher ist als die Abwanderung (Abb. 2). Das ist letztlich seit 1955 der Fall, als die Bundesrepublik der »Wirtschaftswunderzeit« ausländische Arbeitnehmer anzuwerben begann. Die Abwanderung überwog lediglich in kurzen Phasen wirtschaftlicher Stagnation, Mitte der 60er Jahre, kurz nach der Ölkrise und in der ersten Hälfte der 80er Jahre. Die Zuwanderung erreichte in den späten 80er, vor allem aber in den 90er Jahren neue Dimensionen. Die Zahlen belegen, wie lange die deutsche Gesellschaft schon herausgefordert ist, Integrationsleistungen in so grundlegenden Bereichen wie Arbeit, Familie, Bildung und soziale Sicherheit zu erbringen – und nicht nur von Zuwanderern einzufordern.
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Abbildung 2
Datengrundlage: Statistisches Bundesamt 2009
Die politische Debatte zu Migration kam viel zu spät in Gang. Die 80er Jahre können diesbezüglich als verlorenes Jahrzehnt gelten. Die christlichliberale Regierung hatte schon in ihrem ersten Koalitionsvertrag von 1982 programmatisch erklärt: »Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland. Es sind daher alle humanitär vertretbaren Maßnahmen zu ergreifen, um den Zuzug von Ausländern zu unterbinden.« Das war zwar schon im Jahrzehnt der »geistig-moralischen Wende« eine Lebenslüge, aber anders als andere Lügen haben »Lebenslügen«, wie Claus Leggewie schrieb, »lange Beine« (Leggewie 1994: 213). Auch das vierte Kabinett Kohl (1991-1994) hielt an der Legende vom Nichteinwanderungsland fest. Leggewie kritisierte aber nicht nur die Regierungskoalition, sondern auch die Sozialdemokraten, weil sie sich »um klare Aussagen zu den bei zugelassener Einwanderung unumgänglichen Fragen nach Quotierung und Kontingentierung« drückten. Wer aktive Einwanderungspolitik betreiben wollte, durfte die »letztlich immer mit unumgänglichen Härten verbundene Auswahl geeigneter Kandidaten, die die Bundesrepublik künftig braucht und verkraften kann«, nicht scheuen (ebd.: 218). Anders als das Asyl, ist Einwanderung keine humanitäre Frage. Ihre Gestaltung fordert eine Debatte über die Interessen, die ein Staat mit seiner Einwanderungspolitik verfolgt. Die Bundesrepublik benötigte nach Leggewies Diagnose einen tragfähigen Konsens, der zugleich eine Legitimationsgrundlage für eine neue Einwanderungspolitik bilden konnte. Für die Herstellung eines solchen Konsenses war eine offene politische Debatte Voraussetzung.
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Leggewie plädierte weiter für eine institutionelle Bündelung – »am besten [durch] ein Bundesministerium für Migration, Integration und multikulturelle Angelegenheiten« (ebd.: 220) – und für ein Einwanderungsgesetz. Von diesen Vorschlägen bis zum Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes 2005 ging mehr als ein Jahrzehnt ins Land. Dazwischen liegen die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts (2000) und, nicht zu vergessen, einige Stationen auf dem Weg der Europäisierung der Migrationspolitik. Mit dem Zuwanderungsgesetz wurde zwar kein neues Bundesministerium ins Leben gerufen; aber das »Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge« wurde mit neuen Aufgaben betraut und in ein »Bundesamt für Migration und Flüchtlinge« umfunktioniert. Die Bundesrepublik ist seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nicht mehr nur faktisch, sondern auch de jure zum Einwanderungsland geworden (vgl. Bade 2007: 169). Der politische Wille, die demographischen und sozialpolitischen Probleme einer alternden Gesellschaft mit der Werbung um hochqualifizierte Arbeitskräfte zu beantworten, ist aber nach wie vor schwach. Vor allem die hohe Arbeitslosigkeit stellt sich dem öffentlichen Eintreten für Einwanderung als unüberwindliches Hindernis in den Weg. Es dürfte aber nur eine weitere Lebenslüge sein, dass sich der Sozialstaat ohne Einwanderung schultern lässt. Dazu droht der Bundesrepublik auch noch der brain drain, der ihre wissenschaftliche, wirtschaftliche, technologische und politische Innovationsfähigkeit weiter in Frage stellt. Schon 1997 gründete eine Kerngruppe der am »Manifest der 60« beteiligten Wissenschaftler den »Rat für Migration« (RfM). Auch Claus Leggewie gehörte dazu. Guter Rat wird weiterhin nötig sein, denn die Einwanderungsfragen des 21. Jahrhunderts sind alles andere als gelöst. Die Dominanz der Süd-Nord-Wanderung ist zurückgekehrt. An den südlichen Grenzen der Europäischen Union – Spanien, Italien, Griechenland vor allem – zeigen sich bereits die sozialen Folgen mangelnder Integration und teilweise illegaler Einwanderung. Die Einwanderungspolitik steht heute vor neuen Herausforderungen, unter denen die größte Wanderungsbewegungen aus Drittweltländern sind, die vom Klimawandel verstärkt werden. Auch dies hat das »Manifest der 60« weitsichtig antizipiert. Es darf nicht zuletzt wegen dieser Weitsicht zu den bedeutendsten und wirkungsvollsten politischen Schriften des wiedervereinigten Deutschland gezählt werden.
L ITER ATUR Bade, Klaus J. (Hg.) (2007): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München: Wilhelm Fink Verlag. Bade, Klaus J. et al. (1994): Das Manifest der 60. Deutschland und die Einwanderung, München: C.H. Beck. Hamburgisches WeltWirtschaftsInstitut (2007): Länderprofil Deutschland, Hamburg (www.focus-migration.de).
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Leggewie, Claus (1994): Das Ende der Lebenslügen: Plädoyer für eine neue Einwanderungspolitik. In: Bade 1994, S. 213-223. Statistisches Bundesamt (2009): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Wanderungen 2007 (Fachserie 1/Reihe 1/2), Wiesbaden. Statistisches Bundesamt (2010): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Ausländische Bevölkerung. Ergebnisse des Ausländerzentralregisters (Fachserie 1/Reihe 2), Wiesbaden.
Gut gelaunter Sisyphos Brun-Otto Bryde
»Das Ende der Lebenslügen«: Liest man diese Überschrift als Feststellung aus dem Jahre 1994, könnte man Claus Leggewie für übertrieben optimistisch halten. Damals hatte die politische Ausbeutung von Fremdenfeindlichkeit gerade einen Höhepunkt. Das »Manifest der 60«, in dem sich der Beitrag findet, und das auch ich – wohl auf seine Anregung – gezeichnet habe, reagierte darauf. Wer damals behauptet hätte, dass es mit der Lebenslüge vom Nicht-Einwanderungs-Land bald vorbei sei, müsste fast schon blauäugig optimistisch gewesen sein. Aber man kann den Titel auch als politische Aufforderung verstehen, im Sinn von: »Schluss mit der Lebenslüge!« So ist der Beitrag gemeint. Er entwirft ein Konzept, wie die widersprüchliche Situation des De-factoEinwanderungslandes, in das Einwanderung stattfindet, das Einwanderung auch braucht, das aber die daraus folgenden Probleme weder anpackt noch bewältigt, durch eine zielgerichtete Einwanderungspolitik im Interesse von Einwanderer wie Einwanderungsland überwunden werden kann. Auch für die Vorlage eines solchen Konzepts braucht man Optimismus. Das gilt jedenfalls, wenn man sich politische Wirkung erhofft. Dabei ist die politische Wirkung wissenschaftlicher Politikberatung nicht auf den Fall begrenzt, dass ein vom Wissenschaftler entworfenes Regelungsprogramm von der Politik tatsächlich übernommen wird. Das geschieht selten, und zwar aus dem simplen Grund, dass der konfliktive und kompromisshafte politische Willensbildungsprozess nach seiner eigenen Logik in der Regel gar nicht fähig ist, akademische Entwürfe modellrein umzusetzen. Das macht Entwürfe wie den, den Claus Leggewie vorlegt, nicht überflüssig (und wir haben über dieses Thema viel gemeinsam nachgedacht, von einem gemeinsamen interdisziplinären Seminar, in dem Studenten ein Einwanderungsgesetz entwarfen, bis zur Begutachtung eines Entwurfs der grünen Bundestagsfraktion.) Es hat nämlich Vorteile, am politischen Diskurs nicht mit abstrakten Erwägungen, sondern mit einem konkreten Gesetzgebungsprogramm teilzunehmen. Es dient der eigenen Vergewisserung über die Praktikabilität der Zielsetzung, es verteidigt gegen den Vorwurf, dass man keine konkreten Vorschläge habe,
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vor allem aber erlaubt es das Aufzeigen von Alternativen und gibt damit der Kritik an politischen Unterlassungen eine sichere Basis. Diese Texte heute wieder zu lesen lohnt auch wegen einer verbreiteten, entweder uninformierten oder böswilligen Kritik an angeblich naiven damaligen Multikulturalismusentwürfen: Probleme werden darin gerade nicht beschönigt, sondern mit – wie sich inzwischen erwiesen hat nur allzu berechtigter – Sorge über die Folgen des Nichtstuns aufgezeigt, und es wird darauf insistiert, dass sie gesehen und angegangen werden. Die Hoffnung, mit solchen Beiträgen gehört zu werden, war und ist trotzdem optimistisch, aber es ist kein blauäugiger, sondern ein pragmatischer Optimismus. Der Einsatz für Minderheiten ist selten leicht, und der Einsatz dafür, dass die Bundesrepublik sich ihrer multikulturellen Wirklichkeit stellt, war in den vergangenen 20 Jahren mit ziemlich vielen Niederlagen und Enttäuschungen verbunden. Claus Leggewie hat diesen Kampf nie aufgegeben. Und die Bilanz ist auch nicht nur negativ. Die Forderung von damals, die Lebenslüge zu beenden, ist immerhin im Ansatz erfüllt: Dass Deutschland eine Einwanderungspolitik braucht, dass es Probleme mit den Zuwanderern gibt, die nicht nur in deren Interesse, sondern auch dem der deutschen Gesellschaft gelöst werden müssen, ist im Zuwanderungsgesetz offiziell bekräftigt worden und heute breiter Konsens, allerdings oft ein folgenloser, sobald es an konkrete Schritte geht. Ein weiterer Unterschied zu damals: Forderungen nach einem vernünftigeren Umgang der Bundesrepublik mit ihren Einwanderern hielten dem eigenen Land gern selbstkritisch das Bespiel liberalerer Nachbarländer (Niederlande! Dänemark!) entgegen. Inzwischen ist es im Rest Europas eher schlimmer als in Deutschland: Rechtsextreme und ausländerfeindliche Parteien sind hierzulande unbedeutender als in vielen Nachbarstaaten – und nicht an der Regierung beteiligt, auch nicht indirekt; wir verbieten zwar Kopftücher von Lehrerinnen, aber immerhin nicht von Schülerinnen; um Moscheebauten gibt es Streit, aber ein verfassungskräftiges Minarettverbot ist ziemlich undenkbar. Aber dass es anderswo noch schlimmer ist, ist allein kein Trost. An einer ganzen Reihe grundlegender Defizite hat sich nichts geändert. Dabei ist das wahrscheinlich wichtigste der nach wie vor bestehende Ausschluss von der politischen Mitwirkung. Auch nach drei Generationen sind viele Einwanderer in der Bundesrepublik (vor allem – um die Sache beim Namen zu nennen – türkische Einwanderer muslimischen Glaubens) von der politischen Mitwirkung ausgeschlossen. Das ist mitverantwortlich dafür, dass die Politik sich ihrer Belange nicht annimmt, sie kann vielmehr sicher sein, dass sie für jede Aktion gegen sie Beifall bei den Wählern der Mehrheitsgesellschaft bekommt. Das bleibt ein Defizit der deutschen Demokratie. Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes hatten im Jahre 2002 8,9 % der Einwohner der Bundesrepublik keine deutsche Staatsangehörigkeit, in sechs Bundesländern sind es mehr als 10 %, in einigen Gemeinden über 25 %, und es geht um Menschen, die
B RUN -O TTO B RYDE
überwiegend schon mehr als eine Generation in Deutschland leben. Als ich gemeinsam mit Claus Leggewie vor mehr als 20 Jahren versucht habe, daran etwas zu ändern, habe ich in meinem Schriftsatz für den SchleswigHolsteinischen Landtag zur Verteidigung des Ausländerwahlrechts in dem Gericht, dem ich heute angehöre, geschrieben »Ein politisches System, in dem annähernd ein Zehntel, für die gemeindliche Demokratie ein Viertel, in manchen Stadtteilen die Mehrheit der von politischen Entscheidungen Betroffenen, auf deren Zustandekommen keinen Einfluss haben, widerspricht dem Ideal der freien Selbstbestimmung aller grundlegend.« Dabei geht es nicht nur um die Rechte der Einwanderer, sondern auch darum, dass Interessen unterrepräsentiert sind. Die Einwanderer verteilen sich ja nicht gleichmäßig auf die Einwohnerschaft: Wenn ein überproportionaler Teil, in manchen Gemeinden die Mehrheit, der ungelernten Arbeiter, der Hauptschulabgänger oder der jungen Familien im politischen System nicht repräsentiert sind, dann hat das Folgen auch für Arbeiter, Hauptschüler und junge Familien mit deutschem Pass. Dabei wäre der damalige bescheidene Versuch mit dem kommunalen Wahlrecht, dem gelegentlich Inkonsequenz vorgeworfen wurde, ein sinnvoller pragmatischer Ansatz gewesen, auch weil er auf die schwierige Identitätsfindung vieler Einwanderer eingeht. Denn deren Identifizierung mit ihrer Heimatgemeinde ist überhaupt nicht zweifelhaft: Sie mögen Schwierigkeiten haben, sich als Deutsche zu verstehen, dass sie Berliner oder Kölner sind, ist sicher. Leider hat der Zweite Senat den mutigen Vorstoß einiger norddeutscher Länder gestoppt. Er hat dabei allerdings der Auffassung der Verteidiger des Ausländerwahlrechts zugestimmt, die demokratische Idee verlange »Kongruenz zwischen den Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft einer bestimmten staatlichen Herrschaft Unterworfenen«. Wegen der vom Gericht angenommenen notwendigen Verbindung von Staatsangehörigkeit und Wahlrecht soll diese Kongruenz aber über das Staatsangehörigkeitsrecht erreicht werden. Auch die damit angemahnte Staatsangehörigkeitsrechtsreform ist jedoch nicht hinreichend angegangen worden. Das höchst problematische Optionsmodell und die Verbeamtung des Staatsbürgerstatus durch Loyalitätserwartungen und -kontrollen sind deutlicher Beleg für die Halbherzigkeit bei dem Unternehmen, Menschen, die schon seit Generationen hier leben, endlich zu Vollbürgern zu machen. Es gehört zur Geschichte der Ausgrenzung, dass diese ihre Xenophobie immer leugnete und sich als Verteidigung von Demokratie und Kultur ausgab. Die neueste Variante dieser Haltung ist eine Verteidigung von Säkularismus und Aufklärung gegen den islamischen Bevölkerungsteil, der an dessen Lebenswirklichkeit ziemlich vorbei geht und stattdessen Vorurteile pflegt und bestärkt. Es gehört zwar zu den rhetorischen Standardfloskeln jeder Beschäftigung mit der muslimischen Minderheit in Deutschland, dass nur Islamismus abgelehnt wird, normale fromme Muslime aber in Deutschland willkommen sind. Aber Zweifel an der behaupteten
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Bereitschaft, die religiöse Minderheit zu akzeptieren, wachsen durch die Vorbehalte dagegen, Äußerungen von Frömmigkeit, die für Muslime normal und keinesfalls besonders fromm oder gar fundamentalistisch sind, vielen Deutschen aber fremd vorkommen, in der Öffentlichkeit zu akzeptieren, mit anderen Worten: nicht nur in der Statistik, sondern auch in unseren Stadtbildern sichtbar werden zu lassen, dass der Islam heute eine deutsche Religionsgemeinschaft von einigem Gewicht ist. Ob diese Bereitschaft besteht, ist zweifelhaft, wie der Streit zeigt, der entsteht, wenn Muslime eine nicht im Hinterhof oder im Industriegebiet versteckte, ganz normale Moschee bauen wollen, also nicht mehr beanspruchen als die bauliche religiöse Grundversorgung für eine Gemeinschaft von ca. 4 Millionen Menschen. Damit sind sie zwar bundesweit immer noch eine relativ kleine Gruppe, aber in den urbanen Ballungsgebieten sieht es anders aus. In Köln gibt es ungefähr so viele Muslime wie Protestanten, in Hamburg so viele wie Katholiken: soll sich das im Stadtbild widerspiegeln, gibt es Proteste. Andere glaubensgeprägte Verhaltensweisen wie Speisegebote (Stichwort: Schächten) oder Bekleidungsvorschriften (Stichwort: Kopftuch) sind noch größere Herausforderungen an die Toleranzbereitschaft der Mehrheitsgesellschaft und eignen sich noch besser zur Mobilisierung von Muslimophobie mit gutem Gewissen. Auch an dieser neuesten Front finden wir – man möchte sagen: natürlich – Claus Leggewie. In den Streit um Moscheebauten hat er sich mit sehr bemerkenswerten, pragmatischen und hilfreichen Beiträgen beteiligt. Der Einsatz für ein multikulturelles Miteinander in Deutschland bleibt eine Sisyphusarbeit. Claus Leggewie geht sie nicht verhärmt oder verbiestert, sondern gut gelaunt an: »Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.« (Albert Camus)
Noch immer ein weiter Weg Rita Süssmuth
Es ist ein konzeptionelles Plädoyer für ein neues Denken, für eine realitätsbezogene Politik, überschrieben: »Von der ›realexistierenden‹ zur formellen Einwanderungspolitik.« Claus Leggewies Konzeption nimmt 1994 vorweg, was Anfang 2000 und in den Folgejahren die Zuwanderungskommissionen der Bundesregierung dringend empfohlen haben. Er unterscheidet zwischen dem faktisch, »›liberal‹ akzeptierten Sickerprozess« und einer aktiv planenden Gestaltung der Einwanderung mit klaren gesetzlichen Regelungen. Am status quo kritisiert er in diesem Zusammenhang die Haltung des laissez faire, die fehlende Förderung der Einwanderung, das damit einhergehende passive Geschehenlassen und »sich mit dem Ergebnis ›ausländerpolitisch‹ auseinandersetzen« sowie die höchst restriktive Haltung gegenüber Ausländern aus Nicht-EG-Ländern. Die Antwort Leggewies hierauf lautet: Deutschland kann nicht bei der »impliziten« Einwanderungspolitik stehen bleiben, notwendig ist eine »explizite«, aktiv planende, steuernde und gestaltende Politik des Aufnahmelandes. Eine unscharfe Begrifflichkeit verweist zumeist auf ein unklares Konzept. Anders bei Leggewie: Trotz oft fließender Grenzen zwischen Asylbewerbern und Flüchtlingen sind Einwanderer für ihn »Personen, die – im Gegensatz zu Flüchtlingen bzw. Asylsuchenden – aus freien Stücken in die Bundesrepublik einreisen, um hier auf Dauer ihren Lebensmittelpunkt zu finden.« Einwanderung ist insofern »nicht zu verwechseln mit humanitärer Entwicklungshilfe«. Trotz des offiziellen Wechsels der Politik vom Rotationsprinzip zum »Einwanderungsland« ist der hier geforderte Schritt hin zu einer klaren und rational an den Interessen des Einwanderungslandes ausgerichteten »Gesamtkonzeption« in der Praxis auch mit dem Zuwanderungsgesetz (2005) nicht erfolgt. Es bleibt beim Anwerbestopp mit drei Ausnahmen: Hochqualifizierte, Selbstständige und Studierende. Es erfolgte eine Öffnung mit Übergängen vom zeitlich befristeten zum unbefristeten Aufenthaltsrecht mit Einbürgerungsrecht nach mehrjährigem Aufenthalt. Dabei gilt eine Aufenthaltsdauer von acht
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Jahren, die unter bestimmten Bedingungen auf sieben bzw. sechs Jahre verkürzt werden kann. Claus Leggewie stellt dagegen schon 1994 eine »vorausschauende Einwanderungspolitik«. Er weiß um die wachsende, militante »›AntiImmigrations-Partei‹ an den Wahlurnen, auf den Straßen und an den Stammtischen.« Er nennt die »Horrorgemälde« von Überfüllung und Überfremdung. Es war und ist auch eineinhalb Jahrzehnte später immer noch an der Zeit, die Menschen in unserem Land aufzuklären, zu beteiligen an längst überfälligen Maßnahmen zur Integration der Eingewanderten und zur Steuerung der Einwanderungspolitik. Einwanderung – so auch Leggewie – kann ohne Beteiligung und Zustimmung der Bevölkerung nicht gelingen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen deshalb beispielsweise wissen, welche Folgen der Rückgang der Geburten und die Überalterung der Bevölkerung haben. Hinzu kommen Engpässe auf dem Arbeitsmarkt. Diese Prozesse sind längst für viele Menschen real erfahrbar und sollten deshalb nicht mehr verdrängt, sondern auch mit Hilfe einer durchdachten Einwanderungspolitik gelöst werden. Die Bundesrepublik konzentriert ihre Politik heute auf die nachholende Integration. Deutschland ist zwar offiziell ein Einwanderungsland, aber es fehlt an Einwanderung der gewünschten Zielgruppen. Die Abwanderung ist statistisch höher als die Zuwanderung. Zugespitzt lässt sich also formulieren: Deutschland ist ein Einwanderungsland ohne Einwanderung. Von einer stringenten Planung und Steuerung der Einwanderung, wie sie Leggewie mit Weitblick bereits 1994 forderte, kann nicht die Rede sein. Konsens besteht in der Auffassung, dass es keine Anwerbung ungelernter Arbeitskräfte geben dürfe. Unser Hauptfehler bestand angesichts der Anforderungen der Wirtschaft jedoch nicht in der Anwerbung von ungelernten Arbeitskräften, sondern in dem Versäumnis, nach Wegfall ihrer Arbeitsplätze diese »Gastarbeiter« nicht nachqualifiziert zu haben. Die zunächst auf Zeit angeworbenen ausländischen Arbeitskräfte verblieben in Deutschland ohne an Bildung und Arbeit teilzuhaben. Gewiss, viele kehrten nach dem Anwerbestopp in ihre Heimatländer zurück. Aber mehr als 50 Prozent blieben in Deutschland, wobei in den Folgejahren die größte Gruppe der Zuwanderer die Familienangehörigen bildeten. Faktisch waren sie Einwanderer, wurden aber nicht als solche behandelt. Die soziale Realität entwickelte sich anders als die Planung und Erwartung der Politik. Es fehlte ein Zukunftskonzept, d.h. es gab keine »vorsorgende und ganzheitliche Politik der Öffnung für Einwanderung.« Die »Gastarbeiter« aus der Anwerbezeit 1955-1973 blieben auch danach »Gastarbeiter«, wenn auch mit Daueraufenthaltsstatus. Selten wird öffentlich über die Mehrheit dieser »Ausländer«, vor allem auch der Türken gesprochen, die sich mit großen Anstrengungen integriert haben. Mehr als 60.000 türkische Unternehmen mit über 500.000 Arbeitsplätzen
R ITA S ÜSSMUTH
wurden inzwischen geschaffen. Junge Eliten, Frauen wie Männer gingen aus dieser Einwanderungsgruppe hervor. Es gibt allerdings auch die Gruppe der Nichtintegrierten, wenn wir Sprachkenntnisse, Bildungsabschlüsse und Teilhabe an Erwerbsarbeit zugrunde legen. Inzwischen lernen wir, wie entscheidend es ist, zuerst auf die Potenziale zu schauen und nicht einseitig von den Defiziten auszugehen. Wir lernen, dass Integration ohne Wertschätzung und Akzeptanz durch Menschen im Aufnahmeland nur sehr schwer zu erreichen ist. Wir werden uns wie andere Einwanderungsgesellschaften mehr und mehr bewusst, dass Probleme und Konflikte nur mit den Einwanderern gelöst werden können. Durch gemeinsame Arbeit lernen Fremde einander kennen, entwickeln Vertrautheit und arbeiten an gemeinsamen Aufgaben. Aus der Politik für Migranten und Flüchtlinge wird eine Politik des Miteinanders. Von diesen Notwendigkeiten geht Claus Leggewie bereits in seinem Aufruf von 1994 aus. Er verlangt, nicht zu warten, sondern zu reagieren, wenn die politischen Verhältnisse es nicht mehr erlauben, politisches Handeln noch länger zu vertagen. Haben wir uns dem Stadium »vorausschauende Einwanderungspolitik« im Verständnis von Claus Leggewie angenähert? Es wächst die Einsicht in die Notwendigkeit, dass Deutschland aus demographischen, wirtschaftlichen und sozialkulturellen Gründen auf »absehbare« Zeit Zuwanderung braucht. Aber das bedeutet nicht, dass man sich auf einen Zeitpunkt und auf ein Verfahren geeinigt hat. Der klare Standpunkt Leggewies lautet: »Auch wenn Einwanderung in größerem Stil erst nach der Jahrhundertwende geboten sein sollte, sind dafür bereits jetzt die notwendigen gesetzlichen, institutionellen und nicht zuletzt psychologischen Voraussetzungen zu schaffen.« Alle entscheidenden Aufgaben und bevorstehenden Fragen werden in Leggewies Beitrag bearbeitet und klar definiert. Teilaspekte dieser zukunftsweisenden Konzeption finden sich auch im neuen Zuwanderungsgesetz. Das gilt für die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Zuwanderungsgruppen, Arbeitsmigranten, Flüchtlingen, Asylsuchenden und Geduldeten. Aber strikt vermieden wird der für Leggewie zentrale Begriff »Einwanderer«, d.h. die nähere Bezeichnung jener Personen, die – im Gegensatz zu Flüchtlingen bzw. Asylsuchenden – aus freien Stücken in die Bundesrepublik einreisen, um hier auf Dauer ihren Lebensmittelpunkt zu finden. Dabei werden fließende Grenzen zwischen den verschiedenen Migrantengruppen benannt. Doch es geht Leggewie (wie bereits angemerkt) darum, dass Einwanderung nicht zu verwechseln ist mit »humanitärer Entwicklungshilfe«. Es gehe vielmehr um die Interessen des Einwanderungslandes. An diesem Punkt ist zu bemerken, dass heute nicht einseitig die Interessen des Aufnahmelandes gesehen werden, sondern vielmehr (im Geist der »Global Commission« und allen voran des früheren Generalsekretärs der UNO Kofi Annan) von der zu schaffenden Win-win-win-Situation für
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Aufnahmeland, Herkunftsland und die Migranten selbst ausgegangen wird. Das betrifft nicht nur die mehr als 300 Milliarden Euro registrierer Rückzahlungen der Migranten in ihre Heimatländer. Das gilt ebenso für ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leistungen im Aufnahmeland wie für den Transfer von Wissen und Entwicklung in die Herkunftsländer. Doch das Entscheidende für Leggewie ist der Status der einwandernden Personen. Gefordert werden ein »Höchstmaß an politischer Gleichstellung, sozialer Integration und kultureller Autonomie. Staatsbürgerliche Inklusion ist unabdingbar, wenn Einwanderung nicht das gesellschaftliche Konfliktpotential erhöhen soll: Obsolet ist deshalb eine ›Einwanderungspolitik‹, die nur Zuwanderung regelt, ohne politische Zugehörigkeit und Teilhabe zu garantieren.« Mit diesen Aussagen mahnt Leggewie eine Einwanderungspolitik und eine Einwanderungskultur als Verpflichtung an, die nicht Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse sondern eine Gesellschaft gleichberechtigter Bürgerinnen und Bürger schafft, in der Teilhabe nicht nur eine Floskel, sondern ein Recht und eine Verpflichtung ist. Ohne leitende Prinzipien verlieren sich die praktischen Regelungen in Pragmatismus und Opportunismus. Ohne Zweifel sind die Entscheidungen über Auswahlkriterien (»Punktesystem«) sowie Kontingente bzw. Quoten an Wirtschaftsentwicklung und Bevölkerungsentwicklung auszurichten. Diese Komplexe sind nach Auffassung von Leggewie möglichst von einer Behörde, einem Ministerium für Migration, Integration und multikulturelle Angelegenheiten zu gestalten. Die nationale Politik bedarf der Abstimmung auf europäischer Ebene. Entscheidend ist sein zukunftsweisender Satz auch in diesem Kontext: »denn Einwanderungspolitik im nationalen Alleingang ist in Europa nicht mehr vorstellbar.« Inzwischen sind diese Positionen unter Experten Konsens. Aber die praktische Politik besteht weiterhin auf nationalen Zuständigkeiten. Ein Beleg dafür ist die 2005 verabschiedete europäische Richtlinie zur Blue Card, d.h. zur Anwerbung von qualifizierten Arbeitskräften in der EU. 1994-2010: Claus Leggewie zählt zu den wegweisenden migrationspolitischen Vordenkern und legt mit seinem Aufruf ein Konzept für eine Einwanderungspolitik vor, das stringent und ganzheitlich ist. Solche Anstöße aus der Wissenschaft sind nicht ohne Langzeitwirkung. Aber bis zur konsequenten und in sich stimmigen Umsetzung ist es immer noch ein weiter Weg.
An Bedeutung nichts verloren Alfred Grosser
Seitdem das Manifest der 60 erschienen ist, sind etwa 15 Jahre vergangen. Was hat sich verändert, wenn man den Beitrag von Claus Leggewie und die anderen Kapitel heute noch einmal liest? Die »Legende vom NichtEinwanderungsland« ist glücklicherweise abgeschwächt. Auch der Zugang zu der deutschen Staatsangehörigkeit funktioniert besser. Von Paris aus gesehen, ist der (bis heute nicht durchgeführte) Vorschlag ein eigenes Bundesministerium für Migration, Integration und multikulturelle Angelegenheiten einzurichten in doppelter Hinsicht sehr in Frage zu stellen. Erstens, weil der Begriff des Multikulturellen doch allzu sehr den communautarisme fördert, der die Gemeinsamkeiten der politischen und gesellschaftlichen Grundwerte beiseite lässt. Ich habe deshalb, so gut ich konnte, Klaus Wowereit bei der Einführung des obligatorischen Ethik-Unterricht unterstützt. Dort und nicht im Islam-Unterricht hätte das muslimische Mädchen erfahren, dass sie als Frau gleichberechtigt ist oder sein sollte. Zweitens, weil wir in Frankreich die schlimmste Erfahrung mit dem Ministère de l’immigration, Intégration et Identité nationale gemacht haben und immer mehr machen. Der von der Sozialistischen Partei übergelaufene Minister Eric Besson macht noch mehr Jagd auf die Ausländer, die nur eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, wenn sie eine Arbeit gefunden haben und nur eine legale Arbeit finden können, wenn sie eine Aufenthaltsgenehmigung haben. Er schürt mit dem Begriff der nationalen Identität die Ausländer-, insbesondere die Islamfeindlichkeit. Das vorgeschlagene deutsche Ministerium würde wahrscheinlich die Integration erschweren durch eine gewisse Brandmarkung der Immigranten. Die Unterscheidung zwischen Immigranten und Asylsuchenden ist immer schwierig, sobald man sie umsetzen will: Unrecht, Verfolgung, Folter herrschen in so vielen Ländern, dass es an sich schwierig sein sollte, Menschen in viele Teile der Welt zurückzuschicken, so wie es Frankreich mehr als Deutschland tut. Wobei auch unsere Centres de rétention viel schlimmer sind und die Eingeschlossenen viel unmenschlicher behandeln, ihnen ihre Rechte viel strikter verweigern, als es in den deutschen Gewahrsamseinrichtungen für »Ausreiseverpflichtete« (wer hat diesen
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verschönernden Ausdruck erfunden?) der Fall ist. (Allerdings bleibt auch in Deutschland seit der 1993 erfolgten Veränderung des Art. 16 GG vom Asylrecht nur wenig übrig.) Die Organisation der Einwanderung durch ein Quoten-System ist mir immer als Ansatz zur Diskriminierung erschienen, vielleicht, weil ich zu sehr an die amerikanische Praxis denke, die zu vielen deutschen Juden den Zutritt verweigert hat, oder an den Brief des Regierungschefs Charles de Gaulle an seinen Justizminister, in dem es hieß, man solle bei Einwanderung und Naturalisierung Menschen aus Nordeuropa (darunter Deutsche: 1945!) gegenüber jenen aus den Mittelmeerländern bevorzugen. Wie hoch wäre heute die Quote der Afghanen und der Kurden? Es geht natürlich auch um den Begriff der »Integration«. Das französische Beispiel mag zeigen, wie differenziert er aufzufassen ist. Man wird leichter Franzose als Deutscher (und wie viele türkisch geborene Deutsche gelten noch als »Türken mit deutschem Pass«?) Aber welch Unterschied zwischen den gut integrierten Immigrantenkindern (mit ungarischem Vater wie Nicolas Sarkozy, deutschem wie ich, italienischem wie der 2000 gewählte Präsident der Nationalverfassung Raymond Forni) und Tausenden junger Menschen aus den banlieues, die ihre tatsächliche berufliche und andere Diskriminierung als besonders hart empfinden, eben weil sie Franzosen sind! Das »Multikulturelle« ist hier Nebensache, denn man kann sehr wohl voll integriert, sogar assimiliert sein und trotzdem die ursprüngliche Kultur neben der neuen beibehalten. Charles Aznavour betonte das vor kurzem noch einmal in seinen Memoiren. Der hervorragende Filmregisseur Henri Verneuil, geboren als Achad Malakian, hat nicht nur das armenische Schicksal in seinem Film Mayrig dargestellt, sondern in seiner Antrittsrede in der Académie des Beaux Arts seine doppelte Kultur hervorgehoben. In Deutschland möchte man gerne Garantien haben, dass der Deutsche in spe auch die deutsche »Leitkultur« beherrscht, nicht im Sinne der Grundwerte, die von Hambach über 1848 bis zu den 20 ersten Artikeln des Grundgesetzes gehen, sondern in Form von Kenntnissen, die wenige »Urdeutsche« besitzen, sei es über das Funktionieren der Institutionen oder zur Frage, was das »Wunder von Bern« 1954 gewesen ist. Leider wird das Positivste des französischen Systems gerade zerstört: Es sollen nur noch Immigranten hereingelassen werden, die schon die französische Sprache beherrschen! Bisher konnte ich getrost sagen: Das junge Immigrantenkind soll in Frankreich schnell die Sprache lernen, um sie seinen Eltern beizubringen, während es in Deutschland das Türkische beibehalten soll, um mit seinen Eltern sprechen zu können. Allerdings mischt sich in Frankreich kaum eine fremde Regierung ein. Die Rede des Regierungschefs Erdogan in Köln war skandalös. Alle Türken in Deutschland, seien sie deutsche Staatsbürger oder nicht, sollen sich nach seinem Willen als Türken betrachten und die deutsche Sprache gut beherrschen – als Fremdsprache!
A LFRED G ROSSER
Was in meinen Augen dem Beitrag von Claus Leggewie und dem gesamten Manifest rückblickend fehlt, ist die heutige Dauerdebatte um den Islam. Das soll nicht heißen, dass man in Frankreich vorher keinen Fremdenhass gesehen hätte. Es wird zu oft übersehen, dass es am Ende des 19. Jahrhunderts echte Pogrome gegen Italiener gegeben hat und dass Polen in Zügen zurücktransportiert wurden, weil es damals noch keine Charterflüge gab. Aber heute geht es doch in Deutschland wie auch in Frankreich in den Köpfen der Ablehnenden um ein religiöses Problem und um die Ausübung dieser Religion, wobei die Gleichsetzung Islam = Terrorismus nicht nur im Hintergrund steht. Wie Untersuchungen seit Jahrzehnten zeigen, muss man Migranten gar nicht persönlich erleben, um sie abzulehnen. 1950 in Vienne sur le Rhône wollten die 500 befragten Schüler gerne Schweizer oder amerikanische Kameraden haben, aber keine »Neger«, keine Juden, keine Araber und vor allem keine Caroliens, eine von den Forschern erfundene Kategorie! Die Ablehnung der Minarette in der Schweiz kam in erster Linie aus den Kantonen, in denen es überhaupt keine Moscheen gab. In Frankreich wie in Deutschland versuchen die Innenminister, einen französischen oder deutschen Islam entstehen zu lassen, mit Französisch oder Deutsch sprechenden und predigenden Imamen, mit von französischem oder deutschem Geld finanzierten Moscheen. Diese richtige Politik zeigt einige Erfolge. Aber die negative Einstellung bleibt. Würde man in den meisten antimuslimische Äußerungen die Worte Muslim oder Araber durch Jude ersetzen, wie groß wäre der Skandal! Lohnt es sich jedoch wirklich, Verschiebungen der Akzente seit 1993 festzustellen, wo doch die Wesenselemente des Manifests und des Beitrags von Claus Leggewie bis heute an Bedeutung nichts verloren haben?
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Jenseits des Multikulturalismus Anmerkungen zu Claus Leggewies Kampf gegen ethnische Engführungen Michael Werz
Der renommierte Historiker David Hollinger ist ein liberaler Kritiker von »affirmative action«-Programmen, den politisch umkämpften, aber erfolgreichen Fördermaßnahmen für Minderheiten in den Vereinigten Staaten. Hollinger hat nichts mit jenen Konservativen gemein, denen kulturelle und sprachliche Vielfalt ein Gräuel ist, im Gegenteil. Er will die Diskussion einen Schritt weiterbewegen, weil sich die Situation seit den sechziger Jahren, als affirmative action eingeführt wurde, erheblich verändert hat. Eine moderne, aufgeklärte Gesellschaft müsse in der Lage sein, »die Vorstellung zurückzuweisen, dass Herkunft Schicksal sei«, sagt Hollinger. Hautfarbe und ethnische Herkunft seien keine ausreichenden Unterscheidungsmerkmale, auf denen soziale und politische Programme basieren könnten, und die Heterogenität innerhalb der Minderheitsgruppen, die in den USA in wenigen Jahrzehnten die Hälfte der Bevölkerung ausmachen werden, entziehe sich ebenfalls der Logik standardisierter Gruppenzugehörigkeit. Von dieser Debatte ließe sich einiges lernen hinsichtlich der Verleugnung der Frage und Nicht-Entscheidung darüber, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland sei oder nicht. Claus Leggewie gehört zu jenen, die diese Entscheidung bereits früh und oft angemahnt haben. In seinem »Das Ende der Lebenslügen« überschriebenen Plädoyer für eine neue Einwanderungspolitik forderte er bereits in den frühen neunziger Jahren ein Mehr an republikanischer Substanz für das neue Deutschland sowie eine Abkehr vom Prinzip ethnischer Privilegien. Die Argumente von David Hollinger und Claus Leggewie weisen auf etwas Grundsätzliches hin: Migration und kulturelle Vielfalt sind keine Randphänomene, die mit politischen Mitteln und bürokratischer Expertise lenkbar sind. Sondern es handelt sich um Chiffren sehr grundsätzlicher Fragen: Wie sollen unsere Gesellschaften in der Zukunft aussehen und wie sollen sie sich arrangieren? Nach welchen Kriterien wird über Zu-
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gehörigkeit entschieden und wie mit demographischen Problemen und steigender Mobilität umgegangen? Migration und Pluralismus sind nicht weniger als der Lackmustest moderner Demokratien. Aus dieser Perspektive erscheinen sowohl Vorschläge, die demographischen Probleme in Deutschland mittels Einwanderung zu bekämpfen, als auch Debatten um multikulturelle Integration überholt und veraltet. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind moderne Industriegesellschaften gefordert, ein pluralistisches (und republikanisches) Selbstverständnis zu entwickeln, in dem Kultur und ethnische Herkunft voneinander entkoppelt sind und zunehmende Heterogenität nicht als Zeichen des Untergangs beschrieben oder fatalistisch als unabänderbar hingenommen wird. Wichtig ist heute, dass Gruppen und Persönlichkeiten die Initiative ergreifen und an die aufgeklärten Eigeninteressen etwa der deutschen Gesellschaft appellieren: Pluralismus ernst zu nehmen heißt kulturelle Offenheit und Inklusion auf allen gesellschaftspolitischen Ebenen bewusst zu etablieren – flankiert von moderner Einwanderungs- und Antidiskriminierungsgesetzgebung, mehrfacher Staatsangehörigkeit sowie einem unnachgiebigen öffentlichen Konsens gegen ethnische Rückständigkeit. Wer denkt, mit Gesten des Großmuts gegenüber Einwanderern sei es getan, sitzt einer Illusion auf. Es geht um die Zukunft und die Lebensfähigkeit der Gesellschaft insgesamt. In aktuellen Diskussionen wird oft konstatiert, man könne von den Erfahrungen in den USA nur begrenzt lernen, weil die enormen Unterschiede vor allem daher rührten, dass die Vereinigten Staaten eine Einwanderergesellschaft seien und Deutschland eben nicht. Dieses Argument ist nicht nur deshalb unzureichend, weil die hundertjährige deutsche Geschichte erzwungener und freiwilliger Wanderungsbewegungen, beginnend mit polnischen Lohnarbeitern nach der Jahrhundertwende, Zwangsarbeitern in der NS-Ära, ostpreußischen Migranten nach 1945 und schließlich der Rekrutierungen der sechziger Jahre, ignoriert wird. Auch der Blick zurück in die amerikanische Geschichte gibt Aufschluss darüber, dass die Dinge komplizierter sind als sie gemeinhin erscheinen. Seit der Gründung der nordamerikanischen Republik schuf die Koexistenz von weltlichem Staat und religiösen Sekten eine einmalige Dynamik des Umgangs mit Differenz: Amerika ist der säkularste aller Staaten und das Land des Glaubens par excellence. Es ist der Ort einer erfolgreichen demokratischen Revolution, die Freiheit für (und nicht, wie in Frankreich wenige Jahre später, von) Religion etablierte. Der erste Verfassungszusatz verbietet der amerikanischen Regierung jedwede Gesetze in Bezug auf Religion zu erlassen, denn die Erfahrungen religiöser Verfolgung in Europa waren bei den protestantischen Sekten in der Neuen Welt noch allgegenwärtig. Dadurch wurde Religion de facto in ein privates Geschäft verwandelt, noch heute ist es in den USA einfacher eine Kirche als eine Firma zu gründen. Die unterschiedlichen Denominationen organisierten sich regional und unzusammenhängend, sie schufen ihre eigenen sozia-
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len Einrichtungen, die Alexis de Tocqueville im 19. Jahrhundert treffend als »Schulen der Demokratie« bezeichnet hat. Die gegenwärtige Vitalität des Glaubens in den USA ist kein Überbleibsel aus zurückliegenden Zeiten, sondern Bestandteil einer modernen und säkularen amerikanischen Gesellschaft, die in ihrem Kern auf Abstrakta gründet: Verfassung, Rechtsstaat und Fahne. Religiöser Pluralismus und die Verwandlung von Religion in individuellen Glauben sind politische Errungenschaften, die ein Passepartout für den Umgang mit Differenz bilden. Glaube (wie ethnische Zugehörigkeit) sind eingebettet in die Pluralität anderer Identifikationen und gründen zugleich auf die universelle Teilhabe an der amerikanischen Nation. Dies sind die gesellschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen der amerikanischen Erfolgsgeschichte von Migration und kulturellem Pluralismus. In Europa liegen die Dinge ganz anders. Den dreißigjährigen Religionskriegen im 17. Jahrhundert folgte nicht die Säkularisierung, sondern die Konfessionalisierung der europäischen Staaten und die territoriale Fixierung von Kirche und politischer Macht: cuius regio, eius religio (»wessen das Land, dessen der Glaube«). Boden und Religion gingen ein symbiotisches Verhältnis ein, die europäische Erde verlor ihre Universalität. Es folgte ein drei Jahrhunderte andauernder Export europäischer Minderheiten, vor allem nach Nordamerika. Die Auflösung der konfrontativen Starre von Protestantismus und Katholizismus in Kontinentaleuropa erfolgte letztlich durch Faschismus und Nationalsozialismus und im Namen der Auslöschung aller Minderheiten. Diese Befreiung von Religion durch Barbarei ist eine Galaxie vom säkularen Gründungsakt der Vereinigten Staaten entfernt. In der Alten Welt wurde dies in den fünfziger Jahren mit der Gründung der Europäischen Union nachgeholt. Ihr ökonomischer und politischer Erfolg in den sechziger Jahren machte sie zur idealen Projektionsfläche eines säkularen europäischen Selbstverständnisses und die Europäische Integration erscheint heute als um 300 Jahre verspätete Komplettierung des Westfälischen Friedens. Doch die Säkularisierung ist unvollständig, denn sie ist Produkt eines politischen Nachkriegskonsens, nicht aber emphatischen Einverständnisses. Die europäische Integration bietet die Chance für eine Diskussion darüber, wie die Gesellschaften der alten Welt in 30 oder 40 Jahren aussehen sollen. Es ist nicht allzu schwer zu argumentieren, dass moderne Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitspolitik kulturelle Kompetenzen und pluralistisches Selbstverständnis aktiviert – allesamt unabdingbare Qualifikationen für die Weltgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Dass daraus auch Standortvorteile auf dem internationalen Arbeitsmarkt resultieren, so wie in Australien, Neuseeland und Kanada zu beobachten, wäre nur ein Nebeneffekt. Um diese Diskussion anzustoßen, bedarf es jedoch kraftvoller politischer Initiativen in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten. Das Gegenteil ist der Fall.
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Die Sprache der Einwanderungsdebatte ist oftmals so rückständig wie die weit verbreiteten Ressentiments gegen Fremde. Nur selten ist eine klare Unterscheidung von Einwanderungskontrolle inklusive Visumsprozeduren, Asylgesetzgebung, illegaler Migration sowie integrationspolitischen Versuchen und der Anwerbung hochqualifizierter Arbeitskräfte zu erkennen. Der amerikanische Gemeinplatz, dass Vielfalt und Heterogenität eine Gesellschaft stärkten und dynamisierten, ist in Europa weitgehend unbekannt. Zu oft werden die Antworten auf gegenwärtige und zukünftige Fragen in der Vergangenheit gesucht. Das Gegengift liegt im Festhalten an der Idee einer republikanischen Bürgertradition, die es in Deutschland nie gab. Die Arbeiten von Claus Leggewie sind ein wichtiger Teil dieses Gegengiftes.
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Generationenkonflikte
Der Mythos des Neuanfangs Gründungsetappen der Bundesrepublik Deutschland: 1949 – 1968 – 1989 Claus Leggewie
I. G RÜNDUNG UND G E WALT 1. Incertitudes allemandes Vor fünf Jahren kam der revolutionäre Prozess, der zur Öffnung des Eisernen Vorhangs, zur Beseitigung der Mauer und zur Überwindung der europäischen Teilung führte, im staatsrechtlichen Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten zum Stehen.1 Aber seine Energien sind nur stillgestellt, nicht aufgezehrt. Am Horizont steht nun – wenn nicht die wirtschafts- und ethnonationalistische Selbstzerstörung Europas infolge abrupter »Schubumkehr« (Menasse 1995) – seine Wiedervereinigung, eine neue politische Ordnung. Diese wird kein bloßer Staatenbund, aber auch kein Bundesstaat mehr sein können, sondern etwas welthistorisch Neues sein müssen. Europa muss nichts weniger als: sich neu gründen. Nach dem Vorbild der deutschen Vereinigung kann sich dies nicht vollziehen: Das Gebiet der »abgewickelten« DDR, zunächst technisch als Beitrittsgebiet bezeichnet, dann poetisch-kurios Neufünfland genannt, heute im Verwaltungsjargon als »neue Länder« etikettiert, schloss sich schlicht dem bestehenden Provisorium an, um es zu verewigen – ein merkwürdiger, unscheinbarer Gründungsakt, mit dem die Deutschen immer noch Schwierigkeiten haben. Das beweist die symptomatische Unfähigkeit, den Gründungstag ordentlich zu feiern. Zwar ist der 3. Oktober, der Tag des Inkrafttretens des Einigungsvertrags, ohne viel Aufhebens zum Nationalfeiertag de1 | Für den Wiederabdruck in diesem Band wurde die Rechtschreibung aktualisiert.
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klariert worden. Aber die Deutschen tun sich schwer damit. Jugendliche Totschläger haben gleich zur Premiere Unterkünfte von Asylbewerbern angezündet und Fremde angegriffen – Gewaltakte, die an Versuche »ethnischer Säuberung« andernorts heranreichten. In der Debatte um die Finanzierung der Pflegeversicherung wurde dann die komplette Streichung dieses Feiertags erwogen, um Arbeitnehmern und evangelischen Gläubigen ihre gewohnten Feiertage zu erhalten. Tagsüber arbeiten und abends feiern, schlugen die einen vor. Andere propagierten, in Abwandlung des Gregorianischen Kalenders, der 3. Oktober solle fortan immer sonntags liegen.2 Die Episode verrät, wie schwer sich Patriotismus in diesem Land tut. Die einen wollen endlich eine normale Nation sein, die anderen finden an der Nation normalerweise nichts Feierliches. Es fällt der politischen Gemeinschaft von 80 Millionen Deutschen offensichtlich schwer, ihr »Wir« zu symbolisieren, also feierlich auf einen Tag, in einem Eigennamen, in einer Kapitale zusammenzuballen. Wir sind, um Christian Meier zu zitieren, »eine Nation, die keine sein will«, nicht die »Eine Republik Deutschland«, die Dieter Henrich vorschwebt (vgl. Henrich 1990). Die notorische Gründungs-Unsicherheit hält nach dem Wegfall der Teilstaatsprovisorien an. Es hilft nichts: Die »alte Bundesrepublik« ist nicht mehr.3 Aber gibt es damit bereits die »neue Bundesrepublik«, die dritte, oder, wie sie manche nennen: Die Berliner Republik? Zählweise und Ortsverschiebung würden signalisieren, dass in der Tat Neues angestrebt und eingeleitet worden ist und eine neuerliche »Selbstanerkennung« ansteht. Die Frage berührt das Problem, wie politische Gemeinschaften kollektive Identität nicht nur definieren, sondern immer wieder neu be- und umschreiben, das heißt anerkennen, also im wahrsten Sinne des Wortes begründen. Nicht alltägliche Routine und systemfunktionale »Legitimation durch Verfahren« stiften offenbar solche Identität, sondern – so meine These – republikanische Gründungsakte, die sich im Zeitablauf periodisch erneuern und den gestifteten Zusammenhang bestätigen. Die Frage, 2 | Ein Befürworter dieses Notopfers, der hessische Ministerpräsident Eichel (SPD), ist von Regierungsseite als Politiker ohne geschichtliche Erinnerung und als Mensch mit mangelndem patriotischen Gefühl gescholten worden. Es haben sich noch andere »Identitätsschwächen« der neuen Bundesrepublik herausgestellt: Ihre Vertreter und Bewohner sind uneins, wie das Land offiziell heißen und umgangssprachlich bezeichnet werden soll: weiterhin »Bundesrepublik Deutschland« oder schlicht »Deutschland« oder kurz »Bundesrepublik« oder etwa »BRD«? Auch die Plazierung der Hauptstadt bleibt, trotz eindeutiger Entscheidung des Souveräns, noch ziemlich offen, dazu von Beyme 1991; und polemisch Schmid 1991. Immerhin scheinen nach Abschluß des deutsch-polnischen Vertrages die Grenzen der sich weiterhin provisorisch gebenden Bundesrepublik festzustehen. 3 | Es sind zahlreiche sozialwissenschaftliche Nachrufe auf sie verfaßt worden. Vgl. Luhmann 1990; Nolte,1990; Rammstedt/G.Schmidt 1992; Blanke/Wollmann 1991.
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die dann auftaucht, lautet: Kann und soll die Bundesrepublik neu gegründet werden?4
2. Gründung als Mythos, Mythos als Gründung Ich werde diese Doppelfrage pointiert beantworten: Die Möglichkeit und Notwendigkeit, aber man darf Zweifel haben am Gelingen dieses Vorhabens. Doch zunächst ein paar Stichworte zum Begriff der Gründung und des Mythos – zwei Termini, die eng miteinander zusammenhängen. Auch und gerade der politische Mythos ist eine Erzählung, die gemeinschaftliche Identität stiftet und in einer Wir-Gruppe über ihre sozialen Spaltungen und kulturellen Differenzen hinweg selbstverständlich-fraglose Geltung erlangt. Nach klassischer Auffassung ist der Mythos ein autoritatives Wort, welches das Gegebene bezeichnet oder, was ihn in die Nähe des Numinosen rückt, offenbart. Archaische Mythen betonen den Anschluss der Gegenwart an die Tradition, moderne Mythen basieren auf revolutionären Zäsuren, tatsächlichen oder imaginären Vertragsabschlüssen und Verfassungsgebungen. Soziologisch gesehen stiften Mythen das kollektive Bewusstsein und Gedächtnis großer Gruppen, darunter von Nationen, denen sie jenseits ihrer räumlichen Ausdehnung und territorialen Begrenzung ein inneres Band und zeitliche Kontinuität verleihen. Der politische Mythos beglaubigt, was im Gemeinwesen ist und sein soll, schafft Glaubwürdigkeit in der ganzen Breite des Wortsinns von Legitimation. Mythen begründen, als Charta der sozialen Ordnung, Selbstverständnis und Selbstverständlichkeiten einer Gesellschaft. Dadurch haben Mythen Be-Gründungskraft, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Politische Mythen enthalten dabei immer Elemente von Wahrheit und Lüge, von Geschichtsschreibung und Prophetie, von Vergangenheit und Zukunft. Sie sind insofern wahr und falsch zugleich. Indem sie soziale und politische Wirklichkeiten begründen, sind sie wahr. Indem sie der Gemeinschaft eine Zukunft weisen, erfüllen sie sich selbst. Indem sie fälschen oder etwas verschweigen (und das tun alle Mythen), säen sie den Zweifel an ihrer Gültigkeit und damit die Keime der Dissidenz, den Gegen-Mythos. Diese »Konstruiertheit« gilt keineswegs nur für »Bananenrepubliken«, die sich ihre Existenz mit fadenscheinigen Herleitungen 4 | Der Beitrag versteht sich als eine Vorarbeit zu einer Geschichte der Bundesrepublik aus der Perspektive der Zäsur von 1989. Vgl. Doering-Manteuffel 1993; Broszat 1990. Ältere Darstellungen aus der Perspektive der Zweistaatlichkeit bilden die letzten neun Bände der Deutschen Geschichte der neuesten Zeit, hrgs. vom Institut für Zeitgeschichte; Geschichte der Bundesrepublik, hg. von Theodor Eschenburg u.a., Stuttgart 1981ff.; sowie Benz 1989; ferner Thränhardt 1993; Klessmann 1988; Steiniger 1983; Rupp 1978; auch Fülberth 1982; oder Blumenwitz/Zieger 1989; aus »revisionistischer« Perspektive einer uneingelösten Wiedervereinigung zum Beispiel Diwald 1990; und als Parallelgeschichte Bender 1989; sowie zur Situation nach 1989 Weidenfeld 1993.
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erschummeln müssen, sondern auch für die klassischen Republiken des Westens in Amerika und Europa. Der Sturm auf die Bastille, an dem so gut wie nichts wahr ist (dazu Reichardt 1996), reichte dennoch für einen Nationalfeiertag, der seit zwei Jahrhunderten unverbrüchlich begangen wird. Und im »We, the People of the United States« fehlen zwar die Ureinwohner Amerikas, aber die Formel gab einer Nation von Einwanderern zwei Jahrhunderte Halt, vielleicht auch noch länger (dazu jüngst kritisch Ostendorf 1994). So schnöde also manche Gründungsmythen nach ihrer De(kon)struktion wirken mögen – etwas Analoges hat die Bundesrepublik nicht aufzubieten, die alte nicht und die neue auch nicht. Im Motiv der Gründung erweist sich die janusköpfige Zeitstruktur politischer Gemeinwesen. Archaische Mythen affirmieren das Alte, rückversichern die Gegenwart in der Ur- und Frühgeschichte des Gemeinwesens. Je weiter sie in eine Vorzeit zurückgreifen, desto stärker wirken sie. Mythen der Moderne folgen nicht mehr diesem zyklischen Zeit-Begriff – sie müssen sich ganz auf die Hervorbringung des Neuen kaprizieren. Das wirft eine kolossale Schwierigkeit auf. Der politische Mythos kann seine abrupt-gewalttätige, den neuen Anfang setzende Natur nicht abwerfen, versucht dies aber durch Kanonisierung beziehungsweise interne Autorisierung seitens berufener Erzähler vergessen zu machen. Geltung erreicht ein politischer Mythos durch seine Fort-Erzählung in der oralen Tradition der Gemeinschaft und durch intellektuelle Spezialisten. Er verstärkt seine Kraft durch die Bindung an Personen, seien es nun Stifterfiguren in einer (fernen) Vergangenheit oder charismatische Persönlichkeiten der Gegenwart, die als Gründerfiguren anerkannt werden und den Mythos in seiner ganzen Ambivalenz wahren. Wenn ihnen das nicht gelingt, verlieren sie ihre Autorität. Der lateinische Begriff der auctoritas enthält beide Elemente: Die anfängliche Autorenschaft und die von der Person des Stifters sich lösende Geltungskraft. So sind Mythos und Gründung miteinander verwandt. Der Mythos gründet eine Auffassung, die bleiben soll und zum Gemeingut werden, also bleiben kann. Erfinder, Inhaber und Hüter des Mythos sind in diesem Sinne Autoritäten: Urheber und anerkennungswürdige Personen. Die Erfindung eines Mythos ist somit ein Gründungsakt, der durch Weiter- und Forterzählung affirmiert und zugleich in Zweifel gezogen wird. In ihm sind zwei an sich widersprüchliche Elemente zusammengeführt: Die revolutionäre Anfangssituation wird auf Dauer gesetzt. Der Mythos bewahrt den Moment seiner Geburt und Erfindung und muss doch zugleich den besonderen geschichtlichen Augenblick, die Situativität und Kontingenz seiner Entstehungsumstände, vergessen machen. Insofern schafft jede Gründung einen Mythos, und jeder Mythos ist eine Gründung.
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3. Anfangenkönnen: Eine Idee des Politischen Ein klassisches Beispiel für einen Gründungsmythos liefert Hector St. John de Crèvecour in seinen »Briefen eines amerikanischen Farmers« (1782), der, aus der Alten Welt kommend, Amerika als Modell sozialer Gleichheit feiert. Er schildert nicht nur die konkreten Verbesserungen, die die aus Europa stammenden Siedler jenseits des Atlantiks eingeführt haben, um mit Privilegien und Hierarchien zu brechen und soziale Gerechtigkeit walten zu lassen, sondern führt seinen Lesern eine regelrechte tabula rasa vor: Die Republik Amerika entsteht im leeren Raum, der nicht nur sozial schrankenlos und geographisch grenzenlos ist, sondern auch ohne Urbevölkerung und importierte Sklaven. Der Gründungsmythos des absoluten Neubeginns in einer Neuen Welt ist von Beginn an kompromittiert durch den Mord an den Indianern und die Ausbeutung der Sklaven, die unsichtbar bleiben, durch alle Raster der kulturellen Sehgewohnheiten fallen und in der amerikanischen Zivilreligion lange irrelevant bleiben. Erst im späten 20. Jahrhundert kommt diese unvollständige Kanonisierung in einer Weise zu Bewusstsein, dass an eine Umgründung der Amerikanischen Republik zu denken ist. Die aktuellen Anerkennungskämpfe der Minderheiten zeugen davon, inklusive der verkrampften Versuche, »politisch korrekt« zu reden oder die Vereinigten Staaten auf eine christlich-europäische Essenz festzulegen. Das Motiv des gottgewollten und vollständigen Neubeginns hat Hannah Arendt in ihrem Werk »On Revolution« (1986) säkularisiert und als Zentralaspekt der Philosophie des Politischen herausgestellt. In den Revolutionen Amerikas und des Kontinents war das »Bewusstsein eines absoluten Novums lebendig«. Das war ein »weihnachtlicher« Grundgedanke der christlichen Zeitauffassung – mit der Geburt Christi als einmaligem, unwiederholbarem Ereignis im Mittelpunkt – im Unterschied zur zyklischen Zeitwahrnehmung der Antike, aber noch ein außer-weltliches Ereignis. Im 18. Jahrhundert setzt sich ein anderer Zeit- und Geschichtsbegriff durch, wonach sich auch »innerhalb der weltlichen Geschichte etwas ganz und gar Neues ereignet, daß eine neue Geschichte anhebt«. Die Einführung neuer, zivilreligiöser Kalender dokumentiert diesen Sinneswandel. Das mit emphatischen Befreiungsvorstellungen verbundene Pathos des Neubeginns, der die homines novi nach vorne bringt und den Wechsel der Generationen vorantreibt, führt Hannah Arendt auf tieferliegende Schichten der menschlichen Existenz zurück: Die Gebürtlichkeit (Natalität) des Menschen, eine existentialphilosophische Idee, die Hannah Arendt schon in ihren frühen Werken thematisiert und bei Vergil und Augustinus entlehnte: »Daß der Mensch für die logisch unlösbare Aufgabe, einen neuen Anfang zu setzen, gleichsam existentiell vorbestimmt ist, insofern er ja selbst einen Anfang darstellt. Insofern der Mensch in eine Welt hineingeboren ist, in ihr als ein ›Neu-
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Diese Kunst versteht Arendt als Wesenszug des Menschen als politischem Lebewesen und damit als Eigenart des Politischen überhaupt, in dem Sinne, »daß Handeln im Sinne des Einen-Anfang-Setzens nur die Gabe eines Wesens sein kann, das selbst ein Anfang ist« (ebd. 276). Sie schließt damit an die aristotelische Unterscheidung der drei menschlichen Grundtätigkeiten an: Arbeiten als antipolitische Existenzsicherung, Herstellen als unpolitische Zweckmäßigkeit und Handeln als eigentlich politische Tätigkeit. »Und da Handeln ferner die politische Tätigkeit par excellence ist, könnte es wohl sein, daß Natalität für politisches Denken ein so entscheidendes, kategorienbildendes Faktum darstellt, wie Sterblichkeit seit eh und je im Abendland zumindest seit Plato der Tatbestand war, an dem metaphysisch-philosophisches Denken sich entzündet« (Arendt 1992: 16).
Bei Augustinus heißt es: »[Initium] ergo ut esset, creatus est homo, ante quem nullus fuit« (damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen, vor dem es niemanden gab). Hannah Arendt säkularisiert diese Formel folgendermaßen: »Wie jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen« (ebd.: 166). Die scheinbar religiöse Rückbindung an den Ursprung zielt in Wirklichkeit auf die vollständige Okkasionalität und Kontingenz der modernen menschlichen Existenz: »Es liegt in der Natur eines jeden Anfangs, daß er, von dem Gewesenen und Geschehenen her gesehen, schlechterdings unerwartet und unerrechenbar in die Welt bricht. Die Unvorhersehbarkeit des Ereignisses ist allen Anfängen und Ursprüngen inhärent« (ebd.).
Neues zu können und in Freiheit zu handeln, ist für Hannah Arendt das Wesen des Politischen schlechthin, das sozusagen säkulare Wunder vollbringt, und es ist das Charakteristische einer »kreativen Demokratie« (John Dewey). »Was den Menschen zu einem politischen Wesen macht, ist seine Fähigkeit zu handeln, sie befähigt ihn, sich mit seinesgleichen zusammenzutun, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen, sich Ziele zu setzen und Unternehmungen zuzuwenden, die ihm nie in den Sinn hätten kommen können, wäre ihm nicht diese Gabe zuteil geworden: etwas Neues zu beginnen. Philosophisch gesprochen ist Handeln die Antwort des Menschen auf das Geborenwerden als eine der Grundbedingungen seiner Existenz: da wir alle durch Geburt, als Neuankömmlinge und
C L AUS L EGGEWIE – D ER M Y THOS DES N EUANFANGS als Neu-Anfänge auf die Welt kommen, sind wir fähig, etwas Neues zu beginnen, ohne die Tatsache der Geburt wüssten wir nicht einmal, was das ist: etwas Neues, alle ›Aktion‹ wäre entweder bloßes Sichverhalten oder Bewahren« (Arendt 1987: 81).
An bloßer Anpassung und Bewahrung, an jeder Art von geschichtlichen oder moralischen Vor- und Letztbegründung, an denen der Soziologie und Sozialphilosophie immer viel gelegen hat, ist das politische Denken nicht interessiert. Denn es würde die Tatsache der menschlichen Pluralität verfehlen und damit das Politische, das auf dieser Vielseitigkeit beruht. Arendt begreift Politik radikal antideterministisch. »Es steht uns frei, die Welt zu verändern und in ihr etwas Neues anzufangen. Ohne die geistige Freiheit, das Wirkliche zu akzeptieren oder zu verwerfen, ja oder nein zu sagen – nicht nur zu Aussagen oder Vorschlägen, um unsere Zustimmung oder Ablehnung zu bekunden, sondern zu Dingen, wie sie sich jenseits von Zustimmung oder Ablehnung unseren Sinnes- und Erkenntnisorganen darbieten –, ohne diese geistige Freiheit wäre Handeln unmöglich. Handeln aber ist das eigentliche Werk der Politik« (Arendt 1987a: 9).
Arendt führt anhand der Gründungsgeschichte der Amerikanischen Republik eine andere Idee des Fortschritts aus, die nicht auf Erzwingung der Gleichheit, sondern auf Verwirklichung der Freiheit zielt – und sich damit in Widerspruch zum Mainstream der europäischen Linken setzt: »Der Fortschrittsgedanke beantworte die höchst unangenehme Frage, die sich jeder neuen Generation stellt: Und was machen wir nun? Auf dem untersten Niveau lautet die Antwort: Laßt uns, was wir haben, verbessern, erweitern, vergrößern, vervielfachen (statt einem Auto pro Familie zwei) […]. Auf dem erheblich weniger primitiven Niveau der Linken gilt es, die der Gegenwart jeweils inhärenten Widersprüche in die auf sie notwendigerweise folgenden Synthesen zu entwickeln. In beiden Fällen meint man, daß etwas ganz und gar Neues und Unvorhersehbares sich nicht ereignen kann, nichts, was nicht ›notwendigerweise‹ aus dem folgt, was wir kennen. Wie beruhigend, wenn man mit Hegel sagen kann: ›Es kommt nichts Anderes heraus, als was schon vorhanden war‹« (Arendt 1987: 32). 5
4. Gewalt statt Gründung Hannah Arendt war sich dessen bewusst, dass das realexistierende Amerika ebenso wenig wie die westlichen Demokratien in Europa dem Ideal 5 | Das ist die Formel, die zur These vom »Ende der Geschichte« geführt hat. Die Ereignisse von 1989 werden schön hegelianisch kalmiert, und wir gedenken sie offenbar in der Weise zu operationalisieren, dass nun auch in Osteuropa jede Familie zwei Autos haben wird (plus eine Milliarde Chinesen) – weil wir nicht wissen, was wir sonst anfangen können.
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des Neuen als eine Art säkulares Wunder entsprachen, und sie hätte sich sicherlich, genau wie für die Pariser Mai-Revolte, für das begeistert, was 1989 unvorhergesehenerweise doch an Wundern eingetreten ist. Für die Zeit nach 1989 scheint indes ihre Befürchtung zuzutreffen, dass, wo so wenig Gründung (und Gründungsvermehrung) ist, die Gewalt blüht und sich an ihre Stelle setzt. Denn sicherlich ist auch eine ganz andere Lesart der Gründungsidee möglich: dass nämlich, wie es ein populäres Diktum besagt, der Krieg der Vater aller, auch der guten, Dinge ist. Nicht Besiedlung, friedliche Übereinkunft, feierlicher Verfassungsvertrag und umsichtige Revision begründen demnach das Gemeinwesen, sondern ein brachialer Akt der Gewalt. Schon Tocqueville stellte die Dichotomie von Kämpfern, die zerstören, und Gesetzgebern, die begründen, auf, und war besorgt, dass der Übergang vom agonalen zum legislativen Modell des Politischen scheitere oder steckenbleibe (ebd.). Postmoderne Denker haben sich auf andere Weise mit dem Ursprungsproblem politischer Gemeinschaften beziehungsweise dem Akt der Gründung auseinandergesetzt. René Girard postuliert aus anthropologischer Sicht, dass jeder Gründungsakt notwendigerweise ein Akt der Gewalt sei (Girard 1992). Jede (archaische) Vergemeinschaftung beruhe auf der Darbietung eines Opfers, das kathartische Funktion hat. Das versöhnende Opfer steht am Ursprung der sozialen Strukturierung; und dermaßen radikale Gründungsgewalt hat die Eigenschaft, dass sie den Teufelskreis der Gewalt beendet und gleichzeitig einen neuen einleitet – Gewalt steht am Ursprung dessen, was zum Wertvollsten der Menschen gehört und was zu bewahren ihnen am meisten am Herzen liegt. Ähnlich hat sich Jacques Derrida zu modernen Unabhängigkeitserklärungen und Verfassungsgebungen geäußert (Derrida 1991). Die Moderne beruht für ihn und andere postmoderne Theoretiker auf einem Akt der Willkür und Gewalt – die gleichmachende kollektive Identität des Wir verschleiert eo ipso das ihm innewohnenden Element der Differenz, das Nicht-Identische, das gewaltsam ausgeschlossen bleibt. Seyla Benhabib folgert daraus, dass »ein jeder Gründungsakt und ein jeder Akt der Konstituierung eines Gemeinwesens […] ein Moment ausschließender Gewalt in sich [birgt], das den Anderen als Anderen konstituiert, definiert und ausschließt« (Benhabib 1993: 104f.), wie zum Beispiel schwarze Sklaven und indianische Ureinwohner, für die die freiheitsstiftende Vereinbarung der weißen Siedler nichts anderes als Zwangsunterwerfung bedeutete. Benhabib schließt deshalb, »daß es keinen Akt republikanischer Gründung gibt, dem nicht eine eigene Gewalt und Exklusion innewohnt« (ebd.). Diese Korrektur des republikanischen Idealismus muss freilich der Arendtschen Gründungsidee nicht widersprechen. Die amerikanische Republik war ja nicht auf eine starre Tradition fixiert, sozusagen auf den Urknall (oder Sündenfall) der Gründung der Republik festgelegt, der folglich als absoluter Dreh- und Angelpunkt kollektiver Identität der politischen Gemeinschaft und als homogene, politisch-religiös fundierte Einheit der Nation gelten dürfte. Vielmehr stellte sich Gründung als
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ein permanenter Prozess der Neu-Gründung vor, wie es für eine »Nation von Einwanderern« (Elschenbroich) ja auch gar nicht anders denkbar ist, die den Anspruch erhob, Menschen verschiedenster Herkunft, Glaubensüberzeugungen und Temperamente zusammenzuschweißen. Gründung ist damit ein über Generationen hinweg kontinuierlich fortlaufender Prozess. Zur Kombination des Gründungsmotivs mit der Generationskategorie war ihr ein Gedanke Thomas Jeffersons hilfreich. Der amerikanische founding father war der Überzeugung, dass man die Republik jede Generation neu, also etwa alle zwanzig Jahre, zur Disposition stellen müsse, damit die Neuankömmlinge, die Nachgeborenen ebenso wie die Neueinwanderer, sich ihr eigenes Bild vom Gemeinwesen machen und es auf ihre Weise wiedergründen können. Jede neue Generation, meinte er, habe das Recht, selbst die Staatsform zu wählen, von der sie sich die beste Beförderung ihres Glücks verspreche. Arendt kommentiert diese ihr etwas phantastisch vorkommende Idee: »Worum es ihm eigentlich ging, war keine wirkliche Veränderung der Staatsform und auch keine verfassungsmäßig festgelegte Bestimmung, die Konstitution ›mit periodischen Revisionen von Generation zu Generation bis zum Ende der Zeiten‹ zu tradieren, sondern Mittel und Wege zu finden, durch die jede Generation ihre Repräsentanten auf einem Konvent versammeln könne, um auf diese Weise den Meinungen des gesamten Volkes immer wieder die Möglichkeit zu verschaffen, ›sich auf faire, gründliche und friedfertige Weise auszudrücken, sie zur Diskussion zu stellen und durch den Gemeinsinn der Gesellschaft entscheiden zu lassen‹. Wie unbeholfen und missverständlich Jefferson sich gelegentlich ausgedrückt haben mag, was er im Sinne hatte, ist klar: Der Gesamtprozeß des revolutionären Handelns sollte wiederholt werden können, und je nachdem wie er sich dieses Handeln vorstellte und die Akzente verteilte, wollte er vor Errichtung der Republik den Befreiungsprozeß in all seiner Gewalttätigkeit und später den Gründungsprozeß wiederholt sehen« (Arendt 1986: 301).
Man kann sich der Suggestion dieser Relektüre Jeffersons durch Hannah Arendt kaum entziehen und muss nun die Frage aufwerfen, wie sich dieses auf dauernde Erneuerung bezogene Gründungsparadigma für die Generationsgenealogie der Bundesrepublik Deutschland fruchtbar machen lässt – für eine Gesellschaft also, die 1949 wie 1989 den Neuanfang unter das Motto der Abwehr totalitärer (und in diesem Sinne: revolutionärer) Herausforderungen stellte. Daraus ergibt sich auch das hier gewählte Periodisierungschema, das die politischen Daten 1949, 1968 und 1989 in den Mittelpunkt rückt.
5. Etappen der Gründung Auch die Geschichte der Bundesrepublik kann man als Kette von Gründungsakten auffassen. In zahlreichen Selbstverständnisdebatten – zum Beispiel in Reden von Politikern, Intellektuellen und Meinungsführern
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zur Lage der Nation – ist versucht worden, diesen permanenten Gründungsprozess zu reflektieren, wobei bis zur 40-Jahr-Feier der Bundesrepublik die Zufriedenheit mit der Dynamik der Entwicklung und der Stabilität des Gemeinwesens eher stieg und sich der fundamentale Dissens immer stärker marginalisierte und verflüchtigte. In 45 Jahren Bundesrepublik scheinen mir unter dem Gesichtspunkt der Gründung drei Daten herauszufallen, von denen sich zwei als Periodisierungs-Marken aufdrängen: erstens das Geburtsjahr der Zweiten Republik 1949 mit der Verkündung des Grundgesetzes, der Wahl des ersten Bundestages und der Entstehung der allermeisten Institutionen des demokratisch-föderativen westdeutschen Staates, sekundiert und konterkariert durch die ganz anders gelagerte, auch nicht durch freie Zustimmung legitimierte Staatsgründung in der DDR; zweitens die Vereinigung von 1989/90, die den ursprünglichen Gründungsakt in vieler Hinsicht mimetisch nachbildete, ihn wiederum nicht durch plebiszitäre Zustimmung untermauerte oder durch einschneidende Verfassungsänderung in seiner Substanz veränderte. Die beiden Eckdaten 1949 und 1989 kann man ohne Zögern als Gründung und Neugründung kennzeichnen, wobei sich als Adjektive verordnete Gründung und verfehlte Neugründung anbieten. Das erste Beiwort deutet, ohne jeden denunziatorischen Beiklang, den Souveränitätsvorbehalt der Bundesrepublik durch die alliierten Mächte an, das zweite reflektiert die Kritik an der Arbeit der Verfassungskommission, die keineswegs nur aus Ostdeutschland, sondern auch aus allen politischen Lagern der »alten« Bundesrepublik kommt, weil die Realisierung der Vereinigung in vielen Punkten unter den Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Zeit geblieben sei. Das dritte Datum, das ich im Gründungsprozess hervorheben möchte, ist sicherlich weit umstrittener: 1968. Diese Jahreszahl ist nicht auf einen markanten staatsrechtlichen oder verfassungsgebenden Vorgang bezogen, sondern bündelt als symbolisches Datum einen längerfristigen politisch-kulturellen Umbruch, der sich zugleich in drastischen, zum Teil eruptiven Protestaktivitäten Bahn brach, die im Sinne ihrer Urheber erstmals und einmalig revolutionäre Umwälzungsansprüche an die Zweite Deutsche Republik richteten. Die Art, wie diese aufgenommen worden sind, gibt Anlass, im Fall des mittleren Zäsurjahres von einer glücklich gescheiterten Umgründung zu sprechen. Alle drei Daten der Periodisierung können mit Fug und Recht bestritten werden, wenn wirtschafts- und sozialhistorische, aber auch außenpolitische Zäsuren in Betracht kommen: Ökonomisch waren die Erhardsche Währungsreform 1948 und die Wirtschaftskrisen von 1966/67, 1973/74 und 1982ff. ohne Zweifel bedeutsamer; sozialpolitisch müsste man die Vollendung der großen Reformen in den 50er Jahren nennen; und außenpolitisch waren gewiss das Jahr 1955 mit Erlangung der Teilsouveränität und der Abschluss der Ostverträge, auch das Scharnierjahr 1963 markantere Einschnitte als die genannten Daten. Doch unter dem Gesichtspunkt der Gründung scheinen mir die Jahresringe 49-68-89 relevanter zu sein,
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wie ich jetzt mit dem fortgesetzten Versuch, uns und anderen unser Land zu erklären,6 belegen möchte – ein Unterfangen, das bei aller selbstaufklärerischen Absicht selbst nah an die »Arbeit am Mythos« heranreicht. Den Gründungsmythos kann man unter folgenden Gesichtpunkten ordnen: • erstens unter dem Gesichtspunkt der Legitimationserzählung, die unter einer Mehrheit der Bevölkerung Zustimmung zu den wesentlichen Institutionen schafft und – in den Begriffen der empirischen PolitischeKultur-Forschung – ein Klima der »Akzeptanz« und der »Demokratiezufriedenheit« entstehen (oder eben vermissen) lässt; • zweitens unter dem Aspekt der Nation beziehungsweise der postnationalen Aufhängung der Bundesrepublik in weltgesellschaftlichen Interdependenzen und Bündnissen; • drittens im Blick auf ihre charismatische Bindung an herausragende Symbolfiguren oder, im Bezug auf den Gründungsaspekt, moderne founding persons, oder, allgemeiner gesprochen, auf die Akteursebene; • viertens in Hinsicht auf die Kehrseiten des Gründungsvorgangs, der jeweils ein non-dit, ein Ungesagtes, enthält und verbirgt und gewissermaßen die Lebenslüge der kollektiven Identität erkennen lässt. Die Kraft eines Gründungs- oder Neugründungsmythos zeigt sich darin. Er soll krisenhafte Übergänge meistern, er soll sozialstrukturelle Verwerfungen überschreiten oder gar heilen, er soll ein Motor der Entwicklung sein, er soll die Geschichte vergessen machen, und, wie noch hinzuzufügen wäre, die durch unterschiedliche Lebens- und Geschichtserfahrung getrennten Generationen der Bevölkerung verbinden. Insofern sind nationale Mythen harmonisierter Widerstreit, und Gründungsmythen verbinden – auf geradezu einzigartige Weise – Bruch und Kontinuität.
II. G RÜNDERJAHRE Die »kalte« Gründungsgeschichte der Bundesrepublik möchte ich jetzt in drei Schritten nachvollziehen und deuten.
1. Verordnete Gründung: 1949 Wenn man die Gründung der Bundesrepublik als »verordnete« bezeichnet, soll dies nicht in nationalistischem Affekt gegen die »Umerziehung« geschehen. Es heißt lediglich nüchtern zu konstatieren, dass die Deut6 | So zwei bedeutende essayistisch-literarische Verständigungsversuche von Peter Brückner, Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären, Berlin 1978; und Hans Magnus Enzensberger, Politische Brosamen, Frankfurt a.M. 1985.
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schen 1945 nicht aus eigener Kraft zur Restitution eines demokratischen Gemeinwesens fähig und dass von da an Entstehung und Ausformung beider deutscher Staaten außenpolitisch bestimmt oder »überdeterminiert« waren. Sie mögen vielleicht dem Willen mancher Deutscher entsprochen haben (es sind gute Existenzgründe und Zielvorstellungen für beide Teilstaaten vorgetragen worden), aber als Folge der totalen militärischen Niederlage, der territorialen Zerstückelung und der praktisch-rechtlichen Beendigung des Deutschen Reiches konnte die doppelte Gründung nicht ihrem eigenen und freien Entschluss entspringen. Die Bundesrepublik stand unter einem Primat der Außenpolitik, auf die sie lange Zeit nur als Juniorpartner Einfluss nehmen konnte und die ihre politischen Akteure deshalb vorrangig als Deutschlandpolitik, als Versuch zur Lösung oder Stabilisierung der »deutschen Frage« betrieben. Beide deutsche Staaten dienten insbesondere der Sicherung der europäischen und globalen Nachkriegsordnung, und vor allem die Bundesrepublik war (und ist) bis in ihre Verfassung hinein ein einzigartig supranational aufgehängtes Gebilde. Auch die raison d’être der DDR war nicht etwa der Aufbau eines sozialistischen Staatswesens, sondern die Sicherung der Ostgrenze gegenüber Polen, und sie diente zugleich als Vorfeld des sowjetischen Imperiums. Die Bundesrepublik verdankte ihre partielle Souveränität der weitreichenden Einbindung in die westlichen Bündnisund Allianzsysteme – Europäische Gemeinschaft und NATO. Zu dieser ökonomisch-politisch-militärischen Westbindung kam die politisch-kulturelle, die jede Rückkehr auf einen abenteuerlichen deutschen Sonderweg verhindern sollte. Vor allem in den ersten Jahren ihrer Existenz fungierte die Bundesrepublik als eine Art antikommunistischer Frontstaat, freilich ohne eigenständige Armee und, nach dem Verbot der Kommunistischen Partei, die als Fünfte Kolonne einer äußeren, feindlichen Macht galt, mit ständig nachlassendem ideologischen Eifer. Die Gründung der Bundesrepublik stand also ganz im Schatten der deutschen Teilung, wobei, von 1989 aus gesehen, strittig wird, ob die Adenauersche Politik der Westintegration diese verantwortlich herbeigeführt oder langfristig überwunden hat. Nicht zufällig ist der 17. Juni 1953, im Westen als emphatische Bekundung des Einheitswillens interpretiert, dort Nationalfeiertag geworden, nicht ein Verfassungstag oder ein anderes symbolisches Datum. Die Gründung der Bundesrepublik steht damit im Auftrag der Heilung der Teilung, doch diese Zukunftsbestimmung: Wiedervereinigung wurde immer unwahrscheinlicher und unglaubwürdiger – bis zu dem Zeitpunkt des Eintretens der alle Welt und auch die Deutschen überraschenden »unerhörten Begebenheit« (Lepenies). Noch immer wird, am Beispiel der Westpolitik Adenauers wie der Ostpolitik Brandts, gestritten, ob sie als Beiträge dazu intendiert, konzipiert und operationalisiert waren – oder als Blockade und Antithese.7 7 | Streitpunkte sind vor allem die Reaktion Adenauers auf die Stalin-Note und andere Angebote, Deutschlands Einheit unter national-neutralistischen Vorzei-
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Die »postnationale« Aufhängung der Bundesrepublik im bipolaren Weltsystem und ihre antikommunistische Destination bestärken ein anderes Identitätsmerkmal der Bundesdeutschen, das in der Folge mit dem sogenannten Wirtschaftswunder bestimmend wurde: Die systemische Rivalität mit dem nach 1945 zunächst in ganz Deutschland und Europa durchaus attraktiven sozialistischen Wirtschaftsmodell animierte zur Herausbildung eines eigenartigen Wirtschaftstyps, der sozialen Marktwirtschaft, die in mancher Hinsicht programmatisch und faktisch durchaus einen »DrittenWeg« darstellt und dank ihres Erfolges das Selbstverständnis der Bundesrepublik als prosperierende Exportarbeitsgemeinschaft ohne politische Ambitionen prägte. Dieser Verzicht auf politisch-militärische Macht entsprach dem Selbstverständnis der überwiegenden Zahl der Nachkriegsdeutschen, bis in die Gegenwart hinein, die als Folge oder auch als Buße für die Verfehlungen des Deutschen Reiches in der Vergangenheit betrachtet wurde. Diese Bezugnahme auf »die« Vergangenheit, vor allem den Holocaust und die Anzettelung des Zweiten Weltkrieges, bildete ein drittes Ferment des ursprünglichen Gründungsmythos der Bundesrepublik, die sich als Nachfolgestaat des Dritten Reiches und ohne radikale Säuberung ihrer Führungseliten zugleich in scharfer moralisch-kultureller Distanz zum Nationalsozialismus positionierte, wobei diese Demarkierung immer Hand in Hand ging und in einem Atemzug genannt wurde mit der Absetzung vom sogenannten »roten Totalitarismus«. Die Gründung der Bundesrepublik war damit ein Akt der geistigen Zerstörung, des intendierten Bruchs, eine »Phönixiade also«, wie Niklas Luhmann sagt, und er fährt fort: »Aber nichts, was bleiben könnte. Auch nichts was zu bewahren sich lohnte« (Luhmann 1990). Diesem Element gesuchter Diskontinuität wird oft der vermeintlich »restaurative Charakter« der Epoche entgegengehalten, wie es bereits unmittelbar nach dem Krieg Walter Dirks (Dirks 1950: 192ff.) formulierte und seither ein starker intellektueller und akademischer Vorbehalt tradiert hat. Gemeint ist damit die von den Westalliierten beförderte Tendenz zur Wiedereinrichtung eines für die nationalsozialistische Diktatur mitverantwortlichen Kapitalismus, wiederum angeblich auf Kosten eines antikapitalistischen und gesamtdeutschen Wiederaufbaus. An diese Deutung der frühen Nachkriegszeit war auch die Sozialdemokratie bis in die 50er Jahre zu glauben bereit. Gewiss sind die frühen antifaschistischen Experimente eines selbstverwalteten Sozialismus abgebrochen worden, übrigens vor allem in der SBZ, und gewiss war der ab 1948 eingeschlagene Weg der sozialen Marktwirtschaft nicht alternativlos chen zu wahren, und die Anerkennungspolitik der sozialliberalen Koalition beziehungsweise sozialdemokratischer Politiker, die zuletzt zur Tolerierung einer eigenständigen DDR-Staatsbürgerschaft reichte und mit dem Staatsbesuch Erich Honeckers in Bonn auch von der Regierung Kohl nachvollzogen worden ist, wobei diese Linie der friedlichen Koexistenz die Bedenken der Bürgerrechtler in Osteuropa und Ostdeutschland »objektiv« zu Störmanövern degradierte.
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oder auch, wenn man sich die Folgen und Kosten von fast 40 Jahren extraordinären Wachstums ansieht, einer Alternative oder Korrektur nicht bedürftig. Aber die Attraktion und Machbarkeit des damals vorgeschlagenen staatswirtschaftlichen Dritten Weges wird nachträglich überschätzt. Mit Restauration ließe sich eher eine soziokulturelle Revision bezeichnen, die sich in der Familienpolitik durchgesetzt und in der Tat dazu geführt hatte, dass die weibliche Beschäftigungsquote in der Bundesrepublik bis zuletzt im internationalen Vergleich relativ niedrig lag. Das für die frühe Bundesrepublik prägende und lange vorhaltende Familienmodell war getragen von der Sehnsucht, den eklatanten »Zivilisationsbruch« zu kitten, den der millionenfache Mord an den Juden und die Verbrechen der SS- und Wehrmachtsangehörigen im Osten als moralische Katastrophe in fast jede Familie hineingebracht hatten. Es sollte zugleich auch Kontinuität herstellen gegenüber den perversen Modernisierungseffekten des Nationalsozialismus, der ja auch ein Programm zur Zerstörung der bürgerlichen Familie und Welt war. Das Odium der verordneten Gründung: Restauration wird man also höchst different betrachten müssen. Die demokratische Linke, die sich in selbstgewählter, pauschaler Distanz zu den »restaurativen« Zügen der Zweiten Republik positioniert hatte, musste dafür den Preis der Isolation und der Verdrängung aus dem politischen Zentrum zahlen.8 Diese grundlegenden Züge der frühen Bundesrepublik – supranationale Westbindung, exportstarke soziale Marktwirtschaft, negative Identifizierung mit dem Nationalsozialismus – bildeten von den 50er Jahren an eine relativ stabile und demokratiefreundliche Identitätsgrundlage der Westdeutschen, die den Mythos der erfolgreichen Gründung (in einer Mischung von »Wir sind noch mal davongekommen« und »Wir sind wieder wer«) aufnahmen und tradierten. Dabei halfen die charismatischen Symbolfiguren der frühen Jahre, die Gerontokraten Adenauer und Heuss und andere Persönlichkeiten, die sich weder mit dem Nationalsozialismus gemein gemacht hatten noch ins Exil gegangen waren. An sie vor allem knüpfte sich die Glaubensbereitschaft, und ihnen gelang es, die zunächst, vor allem in der ersten Legislaturperiode durchaus passive, demokratieskeptische und obrigkeitsstaatliche Stimmung im System der sogenannten Volksparteien zu neutralisieren und in wachsende Zustimmung und zögernde Partizipation umzumünzen – in einem Parteiensystem, aus dem bald alle fundamentale Dissidenz von rechts- und linksaußen eliminiert war, und das in gewisser Hinsicht ebenfalls nach dem konsensorientierten Familienmodell funktionierte. Civic culture in einem anspruchsvollen 8 | Ein Beispiel dafür ist die im Übrigen äußerst kluge und lesenswerte Analyse von Joschka Fischer (1994): Risiko Deutschland. Krise und Zukunft der deutschen Politik, Köln, der zwar den Prozess der Selbstanerkennung bis hin zur völligen Affirmation der Westbindung nachvollzieht, aber weiterhin in der inneren Distanz gegenüber dem »Risiko Deutschland«, also in einer exterritorialen Position des Kritikers verbleibt.
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Sinne war zunächst Fehlanzeige, wie frühe komparative Studien zeigen (dazu die frühen und wiederaufgenommenen Studien von Almond/Verba 1963; dies. 1980; M. Greiffenhagen/S. Greiffenhagen 1979; Fuchs 1991). Auch handfeste Ressentiments gegen die Demokratie und ein zumeist latenter Antisemitismus konnten sich in diesem Klima halten. Fasst man diesen ersten Akt des Gründungsprozesses unter den genannten Leitkriterien zusammen, so beruhte die Inauguration der Bundesrepublik auf einer geliehenen, erst allmählich verinnerlichten Legitimation, wies die kollektive Identität eine post-nationale Rahmung auf, beruhte sie auf der Autorität von (in mancher Hinsicht der rudimentären Zivilgesellschaft entrückten) charismatischen Akteuren und setzte sie das öffentliche »Beschweigen« der NS-Vergangenheit voraus, womit die Integration einer der Demokratie abgeneigten oder entfremdeten Bürgerschaft in das neue Staatswesen gewährleistet werden sollte (und auch wurde). Die Krise des Übergangs von der totalitären Diktatur in eine liberale Demokratie westlichen Typs wurde damit (sozialpsychologisch kostenreich!) gemeistert, die sozialstrukturelle Homogenisierung der alten deutschen Klassengesellschaft konnte halbwegs reibungslos gelingen, die soziale und vor allem ökonomische Modernisierung verlief im Sinne eines Gründungsbooms überaus dynamisch, und der Generationswechsel von den gescheiterten Eliten des Deutschen Reiches zu den unauffälligen Akteuren der »Flakhelfer-Generation« in den »Volksparteien« und Großorganisationen gelang. Die Phönixiade war – unter dem Strich – eine Erfolgsgeschichte.
2. Glücklich gescheiterte Umgründung: 1968 Diese Kehrseiten und ein neuerdings fälliger Generationswechsel ließen den primären Gründungsmythos der Bundesrepublik rasch dahinwelken, als sich Mitte der 60er Jahre das außenpolitische Koordinationssystem veränderte, die Wirtschaft in ungeahnte Rezessionsturbulenzen und Branchenkrisen geriet und sich, als Folge der unterdessen verbreiteten Konsumstandards und des erreichten Lebensniveaus, ein lebensweltlicher Stilwandel einstellte, den man zu Recht als Revolution wahrnehmen konnte. Der kulturelle Umbruch erfasste zwar fast alle westlichen Industriegesellschaften, aber in der Bundesrepublik hatte er besondere Erscheinungsformen und Auswirkungen. Es verbreitete sich, wie es wieder Luhmann ironisch ausgedrückt hat, die »Gewohnheit zu protestieren«. Im Gefolge der Studentenbewegung entwickelte sich eine regelrechte Protestkultur, die den Usancen und »Errungenschaften« der mittlerweile reifer gewordenen Bundesrepublik äußerst skeptisch gegenüberstand. Dass aber auch Luhmann der Neigung zum Dagegensein in einem Kontext funktionierender Demokratie auch einen Frühwarneffekt, vor allem im Bezug auf die Probleme der Ökologie und auf die Themen eines möglichen politischen Widerstandes (sic!) zubilligt und sein wissenschaftlichpolitischer Gegenspieler Habermas, auch er seinerzeit eine Zielscheibe
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radikalen Protestes, den Aktivisten um 1968 bescheinigt, sie hätten à la longue eine »Fundamentalliberalisierung« der Republik bewirkt, die weit in die Reihen der Unionsparteien hineingewirkt habe, deutet die ökumenische Aufnahme des 68er Mythos in den Gründungsmythos der Bundesrepublik an (Leggewie 1988), die von den Ergebnissen der LebensstilForschung bestätigt wird. Die Akteure, die dies wohl als Beweis repressiver Toleranz charakterisiert hätten, wollten zwar etwas ganz anderes, nämlich: die sozialistische Revolution, was ihnen zum Teil bis heute die Verachtung des damaligen Establishments einbrachte. Aber grosso modo hat sich, jedenfalls bis zur vorletzten Gedenkfeier 1988, eine milde Lesart eingebürgert, wonach man die Ereignisse um 1968 als glücklich gescheiterte Umgründung der Republik interpretieren kann. Denn im Zusammenhang mit der neuen, bereits unter der christlich-liberalen Koalition vorbereiteten Ostpolitik, auch mit dem durch den Generationswechsel herbeigeführten wirtschaftlichen und kulturellen Schub und durch die von den sozialliberalen Bundesund Landesregierungen betriebenen inneren Reformen hatte die Studentenrevolte unintendiert, wie durch eine Art List der Geschichte, heilsame Wirkungen für die Stabilität und Dynamik der Zweiten Republik. Sie erlebte eine Art zweiten Frühling. Als paradoxe Folge der gestiegenen Protestbereitschaft und trotz einer zeitweiligen Wiederkehr der extremen Rechten und Linken stiegen generell Zustimmungsbereitschaft, Demokratiezufriedenheit und aktive Beteiligung, auch wenn sich diese nun aus den herkömmlichen intermediären Instanzen (Parteien, Verbände) in (neue) soziale Bewegungen, Bürgerinitiativen und Alternativparteien zu verlagern begann. Hatte die frühe Bundesrepublik einen Schub politischökonomischer Verwestlichung erfahren, erlebte sie jetzt eine Amerikanisierung ihrer politischen Kultur und Lebensstile – und dies ausgerechnet vor dem Hintergrund eines zum Teil extrem aggressiven Antiamerikanismus. So hat letztlich der »heiße« Umgründungsversuch von 1968, der unter anderem den Brandtschen Slogan »Mehr Demokratie wagen« provozierte und nachhaltige Änderungen (in der Familien-, Rechts- und Bildungspolitik) nach sich zog, den »kalten« Gründungsmythos der Bundesrepublik bestätigt. Unter dem Gesichtspunkt der Legitimation trat nun die Aktualisierung der Vorgeschichte der Bundesrepublik in den Vordergrund, das heißt die mit der Entfernung vom Ereignis intensiver werdende »Vergangenheitsbewältigung«, die, nur scheinbar paradox, eine Affirmation und Selbstanerkennung der realexistierenden Bundesrepublik nach sich zog und zu international vergleichsweise hohen Beteiligungsansprüchen führte. Die post-nationale Aufhängung der Zweiten Republik wurde verstärkt, ebenso zivilgesellschaftliche Akteursebenen. Die Kehrseite dieses Prozesses war der gewissermaßen exterritoriale Gestus der Protagonisten, die sich eher um Meinungsführerschaft denn um Regierungskompetenz bemühten und ihr starkes Misstrauen gegenüber der Zweiten Republik nur sehr langsam abbauen wollten.
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Anhand der Umwälzung von 1968 kann man jetzt das erwähnte Konzept Hannah Arendts aufgreifen, die übrigens trotz ihrer konservativen Neigungen mit den 68ern sympathisierte, sofern sie sich gewaltloser Mittel bedienten und von totalitären Ideologien fernhielten: der periodische, nach politischen Generationen ausgelegte Neugründungsprozess. Zwar lässt sich ein solches Verfahren logischerweise nicht vorschreiben oder inszenieren; man kann aber sehr wohl die negativen Folgen eines ausgebliebenen Generationswechsels bestimmen, die zu einer Entfremdung der nachrückenden Generationen führen und damit letztlich zur Erosion der inneren Voraussetzungen liberaler Demokratien. Die Aktivisten von 1967/68 wollten die Republik nicht neugründen, sondern abschaffen; in ihren Leitvorstellungen waren sie sogar noch traditioneller oder hedonistischer als die politische Kultur, die sie anfeindeten. Aber indem sie auf Distanz gingen, bewirkten sie im Endeffekt doch eine Erneuerung und Erweiterung der Demokratie im Verlauf der 70er Jahre. Die paradoxen Wirkungen der glücklich gescheiterten Umgründung sind erstaunlich: Die Thematisierung der Legitimationskrise verschaffte der Zweiten Republik ein höheres Maß an Legitimität. Die massive Konfrontation mit den alten Eliten und die Attraktion kollektivistisch-basisdemokratischer Ideale hinderte nicht das Auftauchen neuer charismatischer Figuren wie Willy Brandt zu Beginn der 70er Jahre, mit dem ein von der äußersten Linken und aus dem Exil kommender Politiker die Bundesrepublik verkörpern konnte, und trotz der zum Teil forciert betriebenen Politik der Zweistaatlichkeit schuf die Öffnung nach Osten à la longue auch die Voraussetzungen der späteren Einigung. So viele ungewollte Effekte und unbeabsichtigte Folgen politischen Handelns lassen freilich auch wieder neue Lebenslügen entstehen: Die 68er Generation verblieb trotz ihrer faktischen Annäherung an die Bundesrepublik zu ihr in ritualisierter Distanz, vor allem zum politischen System im engeren Sinne, was ihr nicht ganz zu Unrecht den Vorwurf der politischen Romantik und der Machtvergessenheit einbrachte. Wenn man in politischen Generationen rechnen will, wäre jetzt eine erneute Neugründung fällig und auch, angesichts des fundamentalen Wandels der Weltgesellschaft seit Mitte der 80er Jahre, überfällig. Die geopolitischen und ökonomischen Voraussetzungen der Bundesrepublik haben sich radikal gewandelt. Der in den 60er Jahren erreichte Primat der Innenpolitik wirkt provinziell und, angesichts der weltgesellschaftlichen Risikolagen, unzeitgemäß. Die wirtschaftliche und staatsrechtliche Vereinigung der beiden Staaten und die reale Existenz eines 80 Millionen Menschen umfassenden deutschen Nationalstaates haben dazu geführt, dass das identitätsstiftende Surrogat der ökonomischen Prosperität seine Wirkung verliert und eine Art Ostverschiebung der politisch-kulturellen Voraussetzungen der Bundesrepublik anstünde, wie sie auch von der Bürgerbewegung der DDR gefordert worden ist. Die Hauptstadtdebatte und die bleibende, sich modifizierende und bisweilen auch radikalisierende Fremdheit zwischen Ost- und Westdeutschen, ferner die fast arkan und
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gewollt ergebnislos betriebene Verfassungsreform (dazu Grimm 1994; Kröger 1993; Frowein u.a. 1990; Blumenwitz 1992; Häberle 1993; Alternativvorschläge von: Guggenberger 1991; Heuer/Riefe 1992; zur Einordnung von 1989 als ›Revolution‹: Hettling 1991) und die nicht zu leugnende Marginalisierung der Bevölkerung Neufünflands zeigen, dass dem nicht so ist: Wir sind immer noch eine Nation, die keine sein will. Zäh hält eine ganz große Koalition von Besitzstandswahrern an den Grundlagen der »alten Bundesrepublik« fest, die auch die neue sein und bleiben soll. Darin vereinen sich Privilegiensicherung, berechtigte Bedenken gegen eine politisch-kulturelle »Veröstlichung« mit der bloßen Angst vor dem Neuen und der politischen Phantasielosigkeit angesichts dramatisch gewandelter Handlungsparameter. Die Altbundesrepublikaner haben den Zeitenwechsel weitgehend als passive Beobachter erlebt und registriert, und wie die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Grundgesetzes 1989 belegen, sah man rundum wenig Anlass zur Änderung, was sich ja auch in der programmatischen Schwäche der Opposition inklusive der als Protestpartei angetretenen Grünen zeigt. Von Bonn aus gesehen bestand kein Grund zur Neugründung. Bewirkt haben den Wechsel – den Fall der Mauer, die rasche Währungsunion und die Vereinigung – die ostdeutschen Akteure, wenngleich auch sie im osteuropäischen Maßstab erst in zweiter Linie und als Nutznießer der Perestrojka und der Bürgerbewegungen in Polen, Ungarn und der CSFR. Sie haben rasch an Elan verloren und in der erweiterten Bundesrepublik keine Hebelwirkung entfalten, keinen Kreativitätsschub und keine Neugründung erzwingen können. Heute wird in Bonn (und Berlin) nicht einmal der symbolische Beitrag der Bürgerbewegung und der Runden Tische anerkannt, so dass ausgerechnet die PDS, die nur dürftig gewandelte Partei des Alten Regimes, die Früchte der Ostalgie und Enttäuschung ernten kann, während im Westen ein aggressiv xenophober Nationalpopulismus vom Vereinigungsfrust profitiert. Zwar ist die Zustimmung zur »neuen« Bundesrepublik hoch und ihre Stabilität im Vergleich zu älteren Nationalstaaten mit einstmals gefestigter nationaler Identität höher, aber es werden doch deutliche Risse im Gebälk des Institutionensystems und seines tragenden sozial-moralischen Milieus sichtbar. Eine Erosion des etablierten, in Deutschland besonders stabilen Parteiensystems wie in anderen westlichen Demokratien ist nicht mehr ausgeschlossen. Zwar ist die nationale Einheit erreicht, aber die kulturelle Binnendistanz wächst, und die Grundlagen des post-nationalen republikanischen Selbstverständnisses werden fragwürdig, damit auch die wünschenswerte Verwestlichung des Nationsverständnisses der nunmehr erweiterten und »normalisierten« Nation als ziviler Staatsbürgergemeinschaft. An charismatischen Persönlichkeiten mangelt es ebenso entschieden, dafür macht sich ein massenmedialer Populismus breit. Und Ost- wie Westdeutsche pflegen massenhaft die Lebenslüge, dass es wohl besser gewesen wäre, 1989ff. hätte gar nicht stattgefunden, und man könnte weiter bequem in den Nischen leben.
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In dieser Situation macht sich, nicht mehr bloß in lunatischen Zirkeln der extremen Rechten, die Illusion breit, man könne die alte Bundesrepublik in radikaler Weise verabschieden und, anstelle des so gescholtenen »Westextremismus« der letzten 40 Jahre, eine deutsche Sonderrolle in der Mitte Europas wiederbeleben (vgl. Zietelmann u.a. 1993). Das Pathos des Neuen, die mobilisierenden Mythen, die für Furore sorgen, jedenfalls im politischen Feuilleton, kommen jetzt von rechts, auch wenn es die verbrauchte Rhetorik der Konservativen Revolution, die autoritäre oder völkische deutsche Staatsrechtslehre und uralte kulturpessimistische Überfremdungsängste sind, an die man anknüpft, und auch wenn die überkommene Rechts-Links-Schematik mit dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung längst ihren Sinn verloren hat. Der Gründungsmythos der Bundesrepublik wird ebenso revidiert wie die ökumenische Interpretation von 1968 in Zweifel gezogen. So, wie die Gründung von 1949 eine schiefe Ebene der »Verdrängung« hatte und der Umgründungsversuch von 1968 mit dem Feuer der totalitären Revolution spielte, ist die Schattenseite der ausstehenden Neugründung von 1989 ein zeitgeschichtlicher Revisionismus und ein völkischer Nationalismus nach ostmitteleuropäischem Muster. Auch die Warnung Arendts: Wo so wenig Gründung ist, blüht die Gewalt, hat ihre Aktualität, selbst wenn man angesichts der Vergleichszahlen fremdenfeindlicher Gewalttaten in klassischen Demokratien, zum Beispiel Großbritannien, nicht von einem deutschen Spezifikum sprechen kann, und die extreme Rechte in Frankreich oder Italien, ganz zu schweigen von osteuropäischen Demokratien, hoffähiger und politisch einflussreicher ist als hierzulande. Nicht die Wiederherstellung des Deutschen Reiches, also die Regression der Bundesrepublik, kann die Leitfigur der ausstehenden Neugründung sein. Wenn heute dem Faktum der »inneren Einwanderung« Rechnung zu tragen ist, dann nicht allein der neuen Generation, die unsere immensen ökologischen Schäden und finanziellen Schulden zu tilgen haben wird (vgl. Leggewie 1995). Zu den Neuen zählen heute auch die »inneren Emigranten« der ehemaligen DDR, die gewissermaßen ausgewandert sind, ohne sich überhaupt von der Stelle bewegt zu haben, indem sie ihrer bisherigen Lebensumstände in einer radikalen Weise entfremdet und bloß ökonomisch kompensiert wurden. Zu den Neuen zählen neben den Neufünfländlern ferner die Millionen tatsächlicher Einwanderer, darunter ethnische Deutsche – die – aus Ost- und Südeuropa und der Dritten Welt kommend – in der Bundesrepublik auf dem Markt und sozialpolitisch recht gut, in ihrer kulturellen Eigenständigkeit leidlich, als Staatbürger aber so gut wie gar nicht anerkannt und integriert sind. Was die Verfassungskommission zur technischen Anpassung des Grundgesetzes minimiert und die politische Klasse bewusst dilatorisch behandelt hat: die Neugründung der Republik im Sinne der Beglaubigung der Geschehnisse und der Bewältigung einer krisenhaften Situation, diese Aufgabe ist unter dem dreifachen Gesichtspunkt des Generationswechsels, der inneren Einheit und der endlichen Anerkennung eines jahrzehntelangen Einwande-
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rungsprozesses von höchster Aktualität. Die Richtung, in die eine Reformulierung des Gründungskonsenses und eine neue Reformpolitik zielen müsste, sind damit auch benannt: Fortsetzung der Europäischen Konföderation, Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes, die Erweiterung des Wirtschafts- und Steuersystems durch ökologische Bilanzierung und die Übernahme internationaler Verantwortung der Bundesrepublik im Rahmen eines reformierten Systems der Vereinten Nationen. Veranschaulicht man sich die Dialektik von intentionalen und nicht-intentionalen Effekten bei den ersten Gründungsetappen und die außerordentliche Stabilität der neuen Bundesrepublik, so ist es keineswegs ausgeschlossen, dass trotz der aufgezeigten Mängel und Beschwerden auch die dritte Etappe »glücklich scheitert«. Allerdings besteht auch die Gefahr, dass die »Berliner Republik« mangels innerer Legitimität, angesichts der Unsicherheit ihrer nationalen Konstruktion, im Blick auf die Marginalisierung wesentlicher Akteursgruppen und fortwuchernder Lebenslügen gerade an ihrer beeindruckenden Hyperstabilität Schaden nimmt.
III. A USBLICK Die einleitenden Bemerkungen zum Mythos der Gründung beziehungsweise zur Gründung als Mythos und die nur grob skizzierten Elemente zu einer Geschichtsschreibung der Bundesrepublik als Abfolge von Gründungsakten möchte ich zu einer ebenso vorläufigen Konklusion bringen, wobei die Bedenken der postmodernen Autoren aufzugreifen sind und das Gründungsparadigma selbst zu relativieren ist. Erstens: Durch die Ereignisse von 1989 erscheint die Geschichte der Bundesrepublik in einem neuen Licht. Sie ist weder materiell umzuschreiben, noch können ihre normativ-institutionellen Voraussetzungen ernsthaft bestritten und als überholt deklariert werden. Besser, als in ganz unsouveräner Manier die »selbstbewusste Nation« (Schacht/Schwilk 1994) zu postulieren, wäre es, die Mehrheit der Deutschen könnte den nationalen Status ihres Gemeinwesens als Selbstverständlichkeit begreifen und zugleich, aus der Einsicht in die Begrenztheit der Funktionen moderner Territorialstaaten, einen grenzüberschreitenden Prozess der Erweiterung und Fundierung der Europäischen Konföderation demokratisch tragen. Vom »Ende« her gedacht – der Wiedervereinigung, der Überwindung der SED-Diktatur von innen, der Überwindung der bipolaren, thermonuklear gesicherten Weltordnung – wird die Historiographie der alten Bundesrepublik jedoch auch andere Akzente setzen. Beispielhaft hat den methodischen Weg der Rekapitulation eine Ausstellung im Museum für Deutsche Geschichte in Berlin über exemplarische Lebensläufe in Ost- und Westdeutschland demonstriert. Nachdem die Besucher der Ausstellung Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Zeit gemeinsam durchschritten hatten, mussten sie sich danach an einem Scheideweg für einen Eingang entscheiden: In der Regel verabschiedeten sich »Ossis« und »Wessis«
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zum getrennten Durchgang durch ihre jeweilige Geschichte, wobei sie unterwegs gelegentlich über den Zaun Einblick in die Geschichte des anderen Teilstaates nehmen konnten. 1990 wurden die Parcours wieder zusammengeführt, und zwar in der Weise, dass die Besucher nunmehr den Verlauf der ihnen unbekannten Teilgeschichte zum Ursprung von 1949 zurückverfolgen konnten. Dieses Prinzip, von 1989 aus auf 1949 (und 1968) zu rekurrieren und dabei auch in politischen Generationen zu denken, könnte auf eine lebendige Geschichtsschreibung der neuen Bundesrepublik übertragen werden. Nicht Dogmatismus und Revision, aber Rekapitulation ist die Devise. Zweitens: Die Fokussierung auf den Gründungs- oder Fundierungsmythos als Schlüssel zur Ergründung kollektiver Identitäts- und Nationsbildung ergibt eine Menge theoretischer Anhaltspunkte und empirischer Hinweise. Allerdings bleibt diese Fixierung auf den republikanischen »Urknall« einseitig, eine vergebliche Suche nach einem absoluten Dreh- und Angelpunkt kollektiver nationaler Identität. Auch in republikanischem Gewand, also unter den Bedingungen einer egalitären Staatsbürgernation, ist damit eine homogene, letztlich politisch-religiös fundierte Einheit postuliert, die dem erreichten Komplexitätsniveau und der multikulturellen Wirklichkeit der heutigen Weltgesellschaft nicht mehr angemessen erscheint. In ihr wird es vielmehr darauf ankommen, ein System egalitärer Rechte zu denken, zu installieren und zu garantieren, das zugleich Differenz oder Fremdheit als Konstitutionsmerkmal zulässt und im pluralistischen Gefüge der Institutionen aufgreift. Der immanente Konservatismus des Gründungsparadigmas, der immer auf die Bekräftigung einer guten alten Ordnung hinausläuft, ist sonst ein Faktor, der die Entfaltung einer »kreativen Demokratie« behindert.
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Nur ein »Mythos« des Neuanfangs? Die Generation ’45 Hans-Ulrich Wehler
Der Blick auf die Gründung der Bundesrepublik enthüllt eine ambivalente Konstellation: Zum einen kam es zu einer unleugbaren Zäsur im politischen System, einem folgenreichen Schwenk hin zu einer liberalen Wirtschaftspolitik, einer Umorientierung der politischen Mentalität vom diskreditierten Nationalismus und Nationalstaat zum unbeschädigten Projekt Europa. Zum anderen blieb es bei einer von vielen kritisierten Kontinuität in der Wirtschaftsverfassung, in der Unternehmerschaft, in den Verwaltungsstäben. Leicht wird angesichts dieser historischen Gemengelage vergessen, dass sich alsbald ein mit der staatlichen Neugründung aufs engste verbundenes Unikat herausschälte: die »Generation ’45«. Darunter wird hier eine spezifische Gruppe in der Alterskohorte der zwischen etwa 1928 und etwa 1941 Geborenen verstanden, die es sowohl zu wissenschaftlichem als auch zu politischem Einfluss brachten. Ihr einzigartiges Merkmal besteht darin, dass es eine solche »Generation ’45« für mehr als ein halbes Jahrhundert nur in der Bundesrepublik, aber nirgendwo sonst gegeben hat. Der Generationsbegriff ist in den letzten Jahren zu einem Passepartout aufgestiegen, mit dem sozial-, mentalitäts- und politikgeschichtliche Probleme insbesondere der Neuzeit entschlüsselt werden sollen. Dieser Trend hat auch die Zeitgeschichte erfasst. Die gängige Kritik, dass es sich um einen vagen Allerweltsbegriff ohne trennscharfe Konturen, erst recht ohne Erklärungskraft handle, trifft allerdings auf gute Gegenargumente. Denn seitdem »Generation« bereits in den 1920er Jahren durch den Soziologen Karl Mannheim thematisiert worden ist, hat sich die Analyse relativ kompakter durch kollektive Erfahrungen verbundener und daher von Vorgängern und Nachfolgern deutlich unterschiedener Alterskohorten als ein nützliches analytisches Instrument erwiesen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Lebensgeschichte, der Denkformen, der Handlungsweisen herauszuarbeiten. Insofern ist die Generationenforschung im Kern auch stets auf den internationalen und intergenerationellen Ver-
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gleich angewiesen. Der Schlüsselbegriff der Generation ist aber nicht nur heuristisch hilfreich. Vielmehr trifft er häufig im Hinblick auf die Erklärungs- und Überzeugungskraft auf keine überlegene Alternative. Man kann im Hinblick auf die deutsche Geschichte mehrere Nachkriegsgenerationen unterscheiden. Da gibt es die Generation der jungen Soldaten in der Wehrmacht und Waffen-SS, die durch die Präsenz des allgegenwärtigen Todes und die unmittelbare Kriegseinwirkung geprägt worden sind. Ob man als Nichttheologe überhaupt von der »Gnade der späten Geburt« sprechen sollte, sei dahingestellt. Aber dass der Zufall der Geburtszeit für die folgende Generation der Flakhelfer eine ausschlaggebende Bedeutung besaß, lässt sich kaum bestreiten. Aus den Überlebenden dieser beiden Generationen der Jungsoldaten und Flakhelfer stammte nach dem Krieg die kleine Minderheit der ersten Studentenpopulation, die unter schwierigen Bedingungen, doch im Frieden studieren konnte. Eine dritte Generation umfasste jene Jahrgänge, die noch die vier Pflichtjahre im »Deutschen Jungvolk« der HJ mitgemacht, dazu Bombenkrieg und Kinderlandverschickung, Evakuierung und Flucht oder Vertreibung erlebt hatten. Eine vierte Generation schließlich bildete sich aus Angehörigen der Jahrgänge 1935/1945 heraus. Viele hatten ihren Vater im Krieg verloren, die Bombardierung der Städte, die Flucht nach Westen unter chaotischen Bedingungen miterlebt. In den Nachrichtendiensten der westlichen Alliierten hat man diese jungdeutschen Generationen für eine politisch hochgefährliche Altersgruppe gehalten, da der Nationalsozialismus während einer besonders aufnahmefähigen Lebensphase in ihre Köpfe eingedrungen sei. Wahrscheinlich brauche man viele Jahre – manche Beobachter hielten die Generationsspanne von dreißig Jahren für unvermeidlich –, bis aus ihnen zuverlässige demokratische Bürger geworden seien. Genau das Gegenteil traf ein. Die Erinnerung an die politische Indoktrination im »Dritten Reich« wurde im Allgemeinen erstaunlich umfassend und so schnell wie nur irgend möglich verdrängt. Eine nostalgische Verklärung der jüngsten Vergangenheit tauchte eigentlich nirgendwo auf, nicht einmal unter den ehemaligen Schülern der »Nationalpolitischen Erziehungsanstalten« und »Adolf-Hitler-Schulen«, auf denen eine braune Elite herausgezüchtet werden sollte. Vielmehr zeigte sich eine lebensgeschichtlich bedingte Immunisierung gegenüber jedweder ideologischen Verheißung. Daher sprach der Soziologe Helmut Schelsky mit seinem Gespür für treffende Formulierungen frühzeitig von der »skeptischen Generation«. Unstreitig hat sich die Majorität dieser vier genannten Generationen, die jeweils nur wenige schmale Alterskohorten umfassten, aber durch schroffe Einschnitte der Erfahrung mit dem Krieg selber oder seinen Folgen voneinander getrennt waren, mit Entschlossenheit auf die berufliche Ausbildung, danach auf den Karriereweg in einer neuartigen Wachstumsgesellschaft, die das Fortkommen auf vielfältige Weise begünstigte, konzentriert. Auf der Basis des antikommunistischen Konsenses, sonst aber strikt abhold jedem ideologischen Entwurf, gehörten sie auch zu jenem
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sozialen Substrat, auf dem sich die Politik der großen Volksparteien dreißig Jahre lang bewegte. Dem nüchternen Interessenkalkül ohne emotionalen Überschwang zu folgen – das drängte sich diesen Generationen als Konsequenz ihrer Lebenserfahrungen auf. Die Älteren waren noch von der Mobilisierung des Leistungsfanatismus beeinflusst worden, den der Nationalismus, nicht zuletzt Hitler selber, mit zielstrebiger Entschiedenheit gefördert hatten. Insofern passten sie in das Wettbewerbssystem der »Sozialen Marktwirtschaft«, zu deren leistungsbereiten und -fähigen Trägerschichten sie sogleich gehörten, während den Jüngeren das Leistungsdenken dort anschaulich vermittelt wurde. Ein auffallend singuläres Phänomen bildet eine Gruppe von Angehörigen dieser Generationen. Im Wesentlichen zwischen 1928 und 1941 geboren, reüssierten sie in unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen, suchten aber gleichzeitig auch das Engagement in der weiteren Öffentlichkeit während der immer wieder aufflackernden politischen Kontroversen oder im zähen Kampf um die Meinungsführerschaft, wenn sie ihr Urteil pointiert verfochten. Diese Bereitschaft, die neue Republik als ganz und gar unerwartete zweite Chance mit prinzipieller Zustimmung, zugleich aber auch mit kritischer Aufmerksamkeit zu begleiten, war offenbar das generationsspezifische Resultat von Diktatur und Kriegserfahrung, Holocaust und Niederlage. Diese prägenden Einflüsse ergaben eine stimulierende Verbindung von eigentümlichen Erfahrungen und Herausforderungen, welche dieser »Generation ’45« trotz aller Meinungsunterschiede im Einzelnen seit der Mitte der 50er Jahre den Charakter einer »strategischen Clique« verliehen. Man denke nur an repräsentative Figuren wie Rainer Lepsius, Jürgen Habermas, Ralf Dahrendorf, Thomas Nipperdey, Wolfgang und Hans Mommsen, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Christian Meier, Jürgen Kocka, Dieter Grimm, Reinhard Rürup, Heinrich August Winkler – sie alle erwarben wissenschaftliches Ansehen, wirkten aber auch immer wieder als politische Publizisten und engagierte Bürger. Eine vergleichbare Gruppe hat es, das sticht sogleich ins Auge, weder in anderen Verliererstaaten des Zweiten Weltkrieges, etwa in Italien, Österreich oder Japan, noch in Siegerstaaten wie England, Frankreich oder den USA, gegeben. In Italien haben sich zwar nicht wenige Intellektuelle an der Auseinandersetzung um das Mussolini-Regime, die Resistenza samt ihrem Mythos und die Rolle der Kommunistischen Partei Italiens beteiligt, in Österreich am Streit um den Klerikofaschismus der 30er Jahre, den »Anschluss« von 1938 und die nationale Identitätskonstruktion der Nachkriegspolitik, in Japan an der kurzlebigen Debatte über die Rolle des Tenno, des Militärs und der pazifischen Expansionspolitik. Doch nirgendwo kam es, soweit ich zu sehen vermag, zu einer kontinuierlichen Teilnahme ein und derselben Gruppe prominenter Wissenschaftler an den öffentlichen Kontroversen über fünf Jahrzehnte hinweg. Das trifft auch auf die Vereinigten Staaten zu, wo die Journalistenzunft ihre Domäne gegen das Eindringen von Außenseitern verbissen und erfolgreich verteidigte und auch auf England, wo nur einige profilierte neo-
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marxistische Wissenschaftler wie Eric Hobsbawm und Edward P. Thompson über längere Zeit hinweg in die öffentliche Diskussion eingriffen. Und in Frankreich wandten sich zwar einige junge Historiker und Sozialwissenschaftler als Reaktion auf die katastrophale Niederlage im Frühjahr 1940 und des Vichy-Regimes parteipolitisch, aber auch publizistisch der Kommunistischen Partei Frankreichs zu, korrigierten aber durchweg alsbald ihre Entscheidung und überließen die im Grunde anstehende Auseinandersetzung mit Vichy und dem französischen Antisemitismus einer Debatte, die erst vierzig Jahre später ernsthaft geführt werden sollte. Im Vergleich sind freilich die prägenden Erfahrungen unschwer zu erkennen, warum die deutschen Sonderbedingungen: die Diktatur des Hitler-Regimes, der Vernichtungskrieg, der Holocaust, die mörderischen Kriegsverluste, die Massenvertreibung von Deutschen als Reaktion auf die barbarische nationalsozialistische »Bevölkerungspolitik« die Mitglieder der »Generation ’45« in ihre Rolle als »Public Intellectuals« gedrängt haben. Für sie bedeutete der Neuanfang von 1949 nicht ein von Mythen umgarntes Unternehmen, sondern die Öffnung sehr konkreter politischer Optionen, die man nutzen konnte. Insofern steht die »Generation ’45« prototypisch für den Aufbruch in eine neue Zeit, die man in kritischer Sympathie begleiten und nach Kräften mitgestalten wollte. Heutzutage sieht es so aus, als ob die »Generation ’45« vor den Erfindungen des gehobenen Feuilletons wie »Generation Golf« oder »Generation Reform« einen deutlich erkennbaren Vorsprung behalten sollte, da ihr Einfluss ungleich tiefer reicht als die Wirkung dieser papierenen Konstruktionen.
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»Anfangen können« oder: Die Kunst des Politischen Albrecht von Lucke
Wie sich einen Text vornehmen, der es ob seiner Dichte gewiss verdient gehabt hätte, jenes bereits geplante Buch zu werden, das dann wohl doch der rasenden Umbruchszeit der 90er-Jahre zum Opfer fiel? Nun könnte man etwa die virtuose Definitionsfähigkeit loben, mit der der Autor 1994 den glücklichen Begriff der »glücklich gescheiterten Revolution« für das Ereignis 1968 erfand, der seither in den Generationsdebatten Schule gemacht hat. Oder man könnte das Gespür des Autors dafür preisen, bereits so früh erkannt zu haben, dass das Primat der Innenpolitik der alten »Bonner Republik« dem der Außenpolitik in der neuen »Berliner Republik« würde weichen müssen – was tatsächlich erst fünf Jahre später, mit der Regierung Schröder/Fischer und dem Beginn des Kosovo-Kriegs offensichtlich wurde und derzeit unter der »Welt- und Gipfel-Kanzlerin« Angela Merkel seine Apotheose erlebt. Widerspruch wäre hingegen aus meiner Sicht ob der Behauptung angesagt, dass »die überkommene Rechts-Links-Schematik mit dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung ihren Sinn verloren hat«. Gewiss, schematisch begriffen mag sich die Unterscheidung erledigt haben; ansonsten scheint es mir weiterhin geboten, mit Norberto Bobbio an rechts und links als der Grunddifferenz politischen Denkens und Streitens festzuhalten. Doch diese Debatten kommen mir im Kontext dieses Artikels tatsächlich eher nebensächlich vor. Stattdessen möchte ich einen Aspekt hervorheben, der, wie mir scheint, den Schlüssel zum Wissenschaftsund Politikverständnis von Claus Leggewie liefert. Im Kern liegt dem Leggewieschen Denken, das zeigt exemplarisch der zu kommentierende Beitrag, ein zutiefst Arendtsches Politikverständnis zugrunde. Hannah Arendt unterscheidet bekanntlich zwischen Arbeiten, Herstellen und Handeln (nach den altgriechischen Begriffen ponos, poiesis und prāxis). Doch nur der prāxis, dem Handeln, kommt bei ihr politische Qualität zu, die gerade darin besteht, zu Neuem aufzubrechen. Handeln, so Arendt, dient als stetiges Beginnen »der Gründung und Erhaltung politischer Ge-
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meinwesen«; es »schafft die Bedingungen für eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte« (Arendt 1981: 15). Handeln ist damit, wie Claus Leggewie Hannah Arendt hier selbst zitiert, »die politische Tätigkeit par excellence«. Was jedoch in diesem Text in erster Linie als beinahe spielerische Rekonstruktion der Arendtschen politischen Theorie erscheint, entpuppt sich an anderer Stelle dezidiert als Claus Leggewies eigene Position. So heißt es in einem weiteren Beitrag aus derselben Zeit explizit und ohne Bezugnahme auf Hannah Arendt: »Doch bleibt aus solchen historischen Momenten der Grundantrieb des Politischen: die Fähigkeit des Menschen, einen neuen Anfang setzen zu können, ein Gemeinwesen zu gründen oder neu zu gestalten« (Leggewie 1995: 277). »Anfangen können«, das ist also offenbar nicht nur »eine Idee des Politischen«, wie in dem zu kommentierenden Beitrag beschrieben, es ist für Claus Leggewie die Idee des Politischen. Hier, in diesem stetigen Impuls zum kreativen Beginnen als der eigentlichen Kunst des Politischen, liegt offenbar der Grundantrieb im politologischen Werk nicht nur von Hannah Arendt, sondern auch in dem des politischen Denkers Claus Leggewie. Insofern mag es kein Zufall sein, dass die Begriffe links und rechts ähnlich wie bei Arendt auch bei Leggewie – trotz seiner intensiven Beschäftigung mit dem Phänomen des Rechtsradikalismus – als politische Kategorien nicht die entscheidende Rolle spielen. Tatsächlich passt auf kaum einen anderen deutschen Politikwissenschaftler so exakt, intellektuell gedeutet, die grüne Gründungsbeschreibung: nicht links oder rechts, sondern vorn. Zu spät geboren, um 1968 ganz richtig »dabei« gewesen zu sein, ist Claus Leggewie der Arendtsche Urgedanke der souveränen Offenheit und schöpferischen Bewegung (orthodoxe Kritiker würden sagen: der Beweglichkeit) stets weit wichtiger als rechthaberische Beharrung, die zur geistigen Erstarrung führen muss. Hinter dem Willen zum Anfangen verbirgt sich erkennbar der Wunsch, etwas gegen diese Erstarrung zu setzen – auch gegen die Erstarrung einer vermeintlich ach-so-bewegten Bewegung, wie in seinem bekannten Artikel mit dem beredten Titel: »Vergesst 68« (Leggewie 1994). O-Ton Leggewie: »An bloßer Anpassung und Bewahrung, an jeder Art von geschichtlichen oder moralischen Vor- und Letztbegründungen, an denen der Soziologie und der Sozialphilosophie immer viel gelegen hat, ist das politische Denken [ jedenfalls das Claus Leggewies, AvL] nicht interessiert. Denn es würde die Tatsche der menschlichen Pluralität verfehlen und damit das Politische, das auf dieser Vielseitigkeit beruht.« Tatsächlich ist mit Pluralismus und Vielseitigkeit die enorme thematische Breite des Werkes von Claus Leggewie wohl am besten markiert, die ja auch in dieser Festschrift zum Ausdruck kommt und wohl nur durch seine enorme intellektuelle Neugier und seinen originär-westlichen Willen zum beharrlichen Anfangen-Können zu erklären ist. Allerdings taucht bei Claus Leggewie – und speziell in dem hier zu kommentierenden Aufsatz – auch ein Problem des Arendtschen Ansatzes
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auf, und zwar durch die Einführung der Generationenkategorie. Zunächst steckt darin eine bemerkenswerte Ambivalenz: Einerseits, könnte man sagen, wird das politische Beginnen von Leggewie (ganz seiner Herkunft entsprechend) klassisch deutsch gedacht, nämlich durch Einführung der Kategorie der »politischen Generation« im Sinne Karl Mannheims. Andererseits wird sie (seiner späteren Entwicklung folgend) mit einem originär angelsächsischen Gedanken kombiniert, nämlich mit der ebenfalls von Hannah Arendt tradierten Überzeugung des amerikanischen founding father Thomas Jefferson, wonach jede Generation das eigene Gemeinwesen alle zwanzig Jahre neu zu begründen habe – woraus sich bei Leggewie der bundesrepublikanische Neu-Gründungs-Dreisprung 1949-1968-1989 legitimiert. Ironischerweise schleicht sich hier aber, trotz oder genauer: wegen des postulierten Prinzips der generationellen Offenheit, unter der Hand ein Determinismus ein. Denn wer wollte behaupten, dass eine derartige generationelle Ablösung politischer Art zwangsläufig vonstatten ginge? Schon Karl Mannheim wusste, dass in der Regel auf eine besonders politische Generation eher eine ästhetisch-apolitische folgt, ganz zu schweigen von den jeweiligen nicht zur Entfaltung kommenden Zwischengenerationen. So wünschenswert also die Ablösung in dem generationellen Muster wäre, das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Leggewie ahnt dies natürlich, kann sich aber, wie er ehrlich zugibt, »der Suggestion dieser Reallektüre Jeffersons durch Hannah Arendt kaum entziehen und muss nun die Frage aufwerfen«, wie es durchaus voluntaristisch heißt (ohne dass man nämlich wirklich wüsste, warum er dies ›muss‹), »wie sich dieses auf dauernde Erneuerung bezogene Gründungsparadigma für die Generationsgenealogie der Bundesrepublik Deutschland fruchtbar machen lässt.« An dieser Stelle wird ganz deutlich, wie der homo politicus Leggewie mit dem homo sociologicus Leggewie in einen Konflikt gerät. Denn so schön die Idee Jeffersons ist: Was geschieht, wenn diese Gründung in der Realität gerade ausbleibt? Dann würde die ersehnte wie betriebene Neugründung selbst zum bloßen Mythos – eine Gefahr, die der Text am Anfang bereits selbst reflektiert. Ganz exemplarisch geschah diese Mythologisierung bei dem zwar nicht von Claus Leggewie erfundenen, aber doch von ihm ausgedeuteten Generationskollektiv der »89er« (der eigentliche Kreator war der »Zeit«Journalist Ulrich Greiner (Leggewie 1995; Greiner 1994)). Offensichtlich wurde Leggewie dabei von dem starken politischen Willen angetrieben, einen von ihm als notwendig erachteten Anfang zu machen – mit neuen politischen Kräften. Damit wurde er zum Pionier all jener Soziologen, Historiker und Politologen, die nach ihm mit diversen anderen Generationsmetaphern versuchten, politisch wirkmächtig zu werden – von der »Generation Berlin« Heinz Budes über die »Generation Reform« Paul Noltes bis zur »Generation global« Ulrich Becks. Heute, gut 15 Jahre später, müssen wir feststellen, dass von der von Claus Leggewie er-deuteten neuen politischen Generation der 89er nicht
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die Rede sein kann. Als 89er firmieren heute eher jene, die als Bürgerbewegte am Fall der Mauer beteiligt waren (darunter ironischerweise viele Ost-68er), oder gar jene, die in dem Jahr des Mauerfalls geboren wurden. Die damals von Leggewie beschriebenen Jahrgangskohorten der Nach68er sind hingegen nicht, wie von ihm erhofft, politisch wirkmächtig geworden. Im Gegenteil: Durchgesetzt und damit als deutungstauglich erwiesen haben sich weit eher die apolitischen Generationsbeschreibungen – von der »Generation Golf« des Florian Illies als der saturierten Generation der späten Kohl-Zeit bis zur ominösen »Generation Praktikum«, die das neue akademische Prekariat charakterisiert. Und so ist es am Ende vielleicht doch nicht verwunderlich, dass der beeindruckende Artikel letztlich nicht zum Buch gerann. Denn in einer letzten, höchst merkwürdigen Volte hinterfragt und bezweifelt der Autor selbst die einseitige »Fixierung auf den republikanischen ›Urknall‹« im Zwanzig-Jahres-Abstand, vermutet er fast melancholisch, dass sich dahinter »eine vergebliche Suche nach einem absoluten Dreh- und Angelpunkt kollektiver nationaler Identität« verbergen könnte. Er sollte mit seiner Ahnung der Vergeblichkeit (leider) recht behalten. Die politische Neugründung der Republik ist 1989 ausgeblieben. Und dennoch fasziniert auch heute der Jefferson-Arendt-Leggewiesche Gedanke einer stetigen generationellen Neugründung und politischen Neuaneignung des Landes, die demnach heute, zwanzig Jahre nach 89, wieder an der Zeit wäre – und er provoziert die Frage, was in den vergangenen zwei Dekaden unserer ziemlich apolitisch gewordenen, von manchen gar bereits als »spätrömisch-dekadent« verächtlich gemachten Republik so alles versäumt wurde.
L ITER ATUR Arendt, Hannah (1981): Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München/ Zürich (3. Aufl.): Piper. Greiner, Ulrich (1994): Die Neunundachtziger. Der Streit über Botho Strauß und die Verrisse seines jüngsten Buches sind Ausdruck eines Machtkampfs. Eine neue Generation tritt gegen die Achtundsechziger an. Die Zeit Nr. 38 v. 16.9.1994. Leggewie, Claus (1994): »Vergesst ’68! Denkt gefährlich«. In: Kursbuch 116, S. 139-148. Leggewie, Claus (1995): Keine Lust auf Politik – oder: Muß die Bundesrepublik neu gegründet werden? – Eine republikanische Animation. In: Peter Buchheim/Manfred Cierpka/Theodor Seifert (Hg.), Lindauer Texte, Berlin, S. 273-286. Leggewie, Claus (1995): Die 89er – Porträt einer Generation, Hamburg: Hoffmann und Campe. Leggewie, Claus (2001): »1968 ist Geschichte«. Aus Politik und Zeitgeschichte, B22-23/2001, S. 3-6.
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Sich ändern können – eine Theorie politischer Demokratie Friedrich Jaeger
Die Idee der Herausgeber dieser Festschrift, Kolleginnen und Kollegen Claus Leggewies zu bitten, sich aus heutiger Perspektive kommentierend auf ältere Publikationen aus seiner Feder zu beziehen, entspricht in hohem Maße seinem eigenen Verständnis von Wissenschaft als interaktivem Prozess. Anlässlich einer Tagung in Paris, die das Kulturwissenschaftliche Institut im Februar 2010 gemeinsam mit dem dort angesiedelten Deutschen Historischen Institut zum Thema Geisteswissenschaften und kulturelles Erbe im digitalen Zeitalter veranstaltet hat, entwickelte er als Teilnehmer einer prominent besetzten Podiumsdiskussion die wissenssoziologische These, dass sich die Geistes- und Kulturwissenschaften der Gegenwart im Zeichen einer zunehmend digitalen Wissenschaftskommunikation dramatisch verändern werden. Es gelte langfristig Abschied zu nehmen vom Ideal und von der Aura des ›Werks‹ als dem erstrebenswerten Ziel wissenschaftlicher Praxis zugunsten eines ›work in progress‹, in dem sich die Wissenschaft im Hin und Her der Argumente, im Wechsel von Rede und Gegenrede und im Lichte sich wandelnder gesellschaftlicher Problemlagen zu einem stets unabgeschlossenen und auch auf Dauer unabschließbaren Reflexionsprozess entwickeln werde. Dieser in sich dynamischen Struktur der Wissenschaftskommunikation entspricht für Claus Leggewie, ins Ontologische gewendet, eine Dynamik des gesellschaftlichen Wandels, womit ich zum Gegenstand meines Kommentars komme: In dem hier zu besprechenden Aufsatz entwickelt er am Beispiel der Geschichte der Bundesrepublik und ihrer Entwicklungsetappen die Idee einer periodischen Neugründung moderner Gesellschaften. Die Bedeutung dieser transformatorischen Gründungsakte, in denen er im Anschluss an Hannah Arendt und ihre Theorie des »Anfangenkönnens« sowohl den Motivationskern politischen Handelns als auch eine wesentliche Legitimitätsgrundlage republikanischer Gemeinwesen verankert, sieht er vor allem darin angelegt, dass sie eine kollektive Identität ihrer Bürger über geschichtlichen Wandel, soziale Gräben und kultu-
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relle Unterschiede hinweg symbolisieren und be-gründen. Leitend ist für ihn dabei die Frage, wie sich in diesen periodisch wiederkehrenden Akten politischer Gründung geschichtlich ›Neues‹ vollzieht, wie sich also diese Gemeinwesen durch die kontinuierliche Praxis innovativer Selbstrevision im Wandel der Zeit zugleich verändern und am Leben erhalten. Dabei operiert er im Anschluss an die pragmatistische Demokratietheorie John Deweys mit einem Konzept der »kreativen Demokratie«, deren Zentrum die Kompetenz zum experimentellen und selbstreflexiven Umgang einer Gesellschaft mit den sich geschichtlich wandelnden Herausforderungen und Orientierungsfragen ihrer Zeit bildet. Nur eine Gesellschaft, die sich in diesen Akten politischer Kreativität periodisch neu gründet, um sich damit der Zustimmung ihrer Bürger stets aufs Neue zu versichern, vermag – für Dewey wie für Leggewie – die Bedingungen ihrer Legitimität dauerhaft zu wahren. Interessanterweise verbindet Claus Leggewie diese Idee politischer Gründung mit einem Thomas Jefferson entlehnten Generationenkonzept geschichtlicher Erneuerung, nach dem sich moderne Republiken im Wechsel der Generationen – also in einem Rhythmus von etwa 20 Jahren – stetig neu be-gründen müssen, um den wechselnden Herausforderungen ihrer Gegenwart und den sich wandelnden Interessen ihrer Bürgerschaft gewachsen zu bleiben – eine Idee, die in vermittelter Form auch in den Amendment-Gedanken der amerikanischen Verfassung eingegangen ist. Auf diesen politiktheoretischen Grundlagen beruht nun Claus Leggewies Interpretation der bundesrepublikanischen Gründungsgeschichte, die er in der politischen Generationenfolge vor allem durch drei Gründungsetappen gekennzeichnet sieht: Der Generation ›Grundgesetz‹ von 1949 folgt 1968 die Generation ›Protest‹ und 1989 die Generation ›Deutsche Einheit‹. Schreibt man Jeffersons Generationenmodell fort (und scheut die damit verbundene Gefahr von Schematisierungen nicht), wäre 2009 – also jetzt! – eine weitere Neugründungssituation gegeben. Erschienen ist der hier behandelte Aufsatz im Jahre 1996, also knapp zur Halbzeit zwischen der seinerzeit letzten Gründungssituation von 1989 und des im Sinne des Generationenmodells aktuell anstehenden Gründungsaktes der nächsten Generation. Und da es in meinem Verständnis zu den Motiven dieser Festschrift gehört, die Publikationen Claus Leggewies als eines politischen Intellektuellen, der der Transformation gesellschaftlicher Problemlagen und Lebenswelten nachspürt (oder besser: vorausspürt), aus der Perspektive aktueller Entwicklungen zu kommentieren und auf ihren zeitdiagnostischen Realitätsgehalt zu testen, ist zu fragen, welche zukünftigen Herausforderungen und Problemlagen sein Aufsatz entfaltet, die sich in unserer Gegenwart zu einer erneut ›kreativen‹ Phase der politischen Neugründung der Bundesrepublik verdichten könnten. Welche Agenda einer neuen politischen Generation, die nach Jeffersons Theorie der inneren Rhythmik republikanischer Gemeinwesen in der Gegenwart ins politische Leben treten müsste, zeichnet sich also für
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Leggewie 1996 in ihrem statu nascendi ab und wird von ihm als kreative Problemkonstellation erkannt? Zumindest stichwortartig seien hier einige Trends genannt, denen nach Leggewie eine besondere Bedeutung für die zukünftig Entwicklung der Bundesrepublik beizumessen ist: Zu ihnen zählen die Herausbildung einer »nachindustriellen Gesellschaft« ebenso wie die Genese einer »Weltgesellschaft« und damit einhergehender neuartiger Risikolagen. Zu ihnen zählt Leggewie ferner die Marginalisierung ostdeutscher Bevölkerungen sowie die damit verbundene Schrumpfung von Städten und Regionen als einem besonderen Problem der deutschen Nacheinheitsgesellschaft. Des Weiteren diagnostiziert er eine Erosion des politischen Parteiensystems sowie eine Zunahme von Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit, der republikanisch zu begegnen sein werde. Hinzu kommen schließlich die Herausforderungen ökologischer Schäden und finanzieller Schulden, die aus Einwanderung und Migration folgenden Integrationsprobleme sowie die Begrenztheit des Territorialstaats und Entstehung einer transnationalen Europäischen Konföderation als weitere Faktoren zukünftiger Entwicklungen, denen Leggewie im Jahre 1996 eine besondere Bedeutung für die Zukunft beigemessen hat. Das zwischen den Religionen vorhandene kulturelle Konfliktpotential taucht in diesem Szenario noch nicht als ein eigenständiger Aspekt auf, wie er nach 1996 die politische und kulturwissenschaftliche Agenda weithin bestimmt hat, insbesondere nach dem Erscheinen von Huntingtons »Clash of Civilizations« (ebenfalls im Jahre 1996) und in dramatischer Zuspitzung durch 9/11. Wird sich aus dieser von Leggewie im Jahre 1996 diagnostizierten Mischung an gesellschaftlichen Problemlagen und geschichtlichen Trends die gegenwärtig ›fällige‹ Neugründungskonstellation der Bundesrepublik herauskristallisieren? In seinem Selbstverständnis dürfte dies, wie seine wissenschaftlichen Arbeiten und politischen Interventionen der jüngsten Zeit zeigen, insbesondere für den Klimawandel gelten, der 1996 noch nicht als eigenständiger Entwicklungsfaktor erkennbar ist, sondern in der eher allgemein gehaltenen Rubrik »ökologischer Schäden« firmiert. Bekanntlich misst ihm Leggewie inzwischen jedoch für die Herausbildung einer postindustriellen Gesellschaft eine exzeptionelle Bedeutung bei, da er aus seiner Sicht das mit der Genese industrieller Gesellschaften im 18. Jahrhundert entstandene Wachstums- und Entwicklungsparadigma frontal in Frage stellt. Dem widerspricht nur auf den ersten Blick seine Einschätzung, dass der Gipfel von Kopenhagen »erfolgreich gescheitert« sei (FAZ vom 22.12.2009). Denn gerade Phänomenen des Scheiterns erkennt Leggewie auf lange Sicht die subversive Kraft zu, Prozesse der Transformation und des Neuanfangs in Gang zu setzen. In diesem Zusammenhang ist vor allem die im Aufsatz von 1996 auftauchende Denkfigur des »glücklichen Scheiterns« bzw. der »glücklich gescheiterten Umgründung« der Bundesrepublik im Rahmen der Studentenbewegung von 1968 aufschlussreich. Sie besagt, dass es gerade die angesichts des weithin sozialistisch geprägten Selbstverständnisses der Studentenbewegung
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nur als eine List der Geschichte und als eine unintendierte Nebenfolge zu begreifende soziokulturelle Fundamentalliberalisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft gewesen sei, die – im Rücken oder sogar gegen den Willen der Akteure – enorme Auswirkungen auf die weitere Entwicklung und demokratische Stabilität des politischen Gemeinwesens besessen habe. Eine ähnliche Dynamik könnte sich daher durchaus auch aus dem vorläufigen Scheitern des Klimaschutzes in Kopenhagen ergeben. Zum Schluss: Nimmt man Jeffersons Generationenmodell politischer Neugründung in republikanischen Gemeinwesen ernst, stünde nach den bisherigen Gründungsetappen eine weitere Neugründungsperiode der Bundesrepublik im Jahre 2029 an. Welche geschichtlichen Entwicklungen werden sie verursachen und welche neuen Konfliktkonstellationen werden sie begleiten? Welche gesellschaftlichen Gruppen werden sie tragen und in welche Richtung wird sich die Bundesrepublik (sofern es sie dann in der uns heute geläufigen national-staatlichen Form noch geben wird) mit dieser neuen Weichenstellung bewegen? – Wenn ich mich nicht völlig täusche, wird Claus Leggewie als politischer Intellektueller im Sinne seines eingangs angesprochenen Verständnisses von Wissenschaft als work in progress auch in den kommenden Jahren zu diesen Fragen prospektiv, praktisch intervenierend und wissenschaftlich riskant Stellung beziehen. Und in der nächsten Festschrift werden dann erneut seine kulturwissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen retrospektiv zu prüfen haben, ob er mit seinen Seismographien gesellschaftlicher Entwicklungen zeitdiagnostisch richtig lag.
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Anhaltende Mythenschwäche So undramatisch wie die Gründung der Bundesrepublik verliefen deren Umgründungen um 1968 und nach 1989 – zum Glück! Norbert Frei
Europa müsse sich neu gründen, meinte Claus Leggewie Mitte der neunziger Jahre in einem Essay über die »Mythen des Neuanfangs«. Aber auch der Bundesrepublik, so durfte man seine programmatische Analyse verstehen, könne dies nicht schaden. Lassen wir, wie seinerzeit der Autor selbst, Europa im Folgenden beiseite und konzentrieren wir uns auf seine damaligen – skeptischen – Hoffnungen hinsichtlich Deutschlands: Haben sie sich nicht doch in vieler Hinsicht erfüllt? Als Leggewie die »Gründungsetappen der Bundesrepublik« vor eineinhalb Jahrzehnten durchmusterte, war die Katerstimmung, die dem Rausch des Einheitsjahres 1989/90 folgte, noch ziemlich manifest. Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit waren so wenig erledigt wie der Hohn auf Helmut Kohls »blühende Landschaften«. Auch die wechselseitige Wahrnehmung von »Ossis« und »Wessi« hatte noch nichts von ihrer Giftigkeit verloren. Im Gegenteil verdüsterten sich die Prognosen auf die »Herstellung« der »inneren Einheit« immer weiter. Statt von Jahren war inzwischen von Jahrzehnten die Rede, und manche wünschten sich sogar die Mauer zurück: sei doch alle Mühe um ein »Zusammenwachsen« von Ost und West vergeblich, weil strukturell aussichtslos. Dann kam, um reichlich eine Dekade verspätet, Rot-Grün im Bund. Aufgehalten durch die »friedliche Revolution« und ihre Folgen – genauer gesagt: durch die damit einhergegangene politische Verstörung der Linken, die in Oskar Lafontaines Fiasko bei der Bundestagswahl vom Dezember 1990 emblematisch geworden war – musste sich das Generationenprojekt der »68er« zu dem »größer gewordenen Deutschland« erst einmal in Beziehung setzen. Doch dafür blieb wenig Zeit. Nach einem stotternden Start im Herbst 1998 und Lafontaines Flucht aus Bonn im
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folgenden Frühjahr sah sich die Regierung Schröder/Fischer rasch vor der Notwendigkeit, Deutschlands Rolle im westlichen Bündnis neu zu definieren: Der Kosovo-Krieg der NATO zwang die Bundesrepublik nun zu Entscheidungen, die ihr seit ihrer Gründung erspart geblieben waren. Nicht mehr dem »Kanzler der Einheit«, sondern ausgerechnet Rot-Grün kam die Aufgabe zu, von jener Souveränität Gebrauch zu machen, die der zweiten deutschen Demokratie im Zuge der Einheit überhaupt erst zugewachsen war. Joschka Fischer stellte jetzt dem »Nie wieder Krieg« das »Nie wieder Auschwitz« entgegen – und besiegelte damit, indem er sich zu ihr bekannte, den Abschied von der außenpolitischen Räson der »alten Bundesrepublik«. Man wird dies ein Stück Umgründung nennen dürfen, und solcher Stücke folgten in den nächsten Jahren weitere. Sie verdichteten sich zu jener »Reformulierung des Gründungskonsenses«, auf den Claus Leggewie 1995 spekuliert hatte. Von seinen damaligen Erwartungen an eine »Reformpolitik« kam unter Rot-Grün vieles tatsächlich in Gang: Europa wurde größer (damit freilich erst einmal auch unbeweglicher); die Bundesrepublik übernahm jenes erhoffte Mehr an »internationaler Verantwortung« (gerade auch durch Schröders Verweigerung gegenüber der »Koalition der Willigen« im Krieg gegen den Irak 2003); ökologische Gesichtspunkte fanden auf etlichen Feldern der Innen-, Wirtschafts- und vor allem der Energiepolitik ihren Niederschlag (wenn auch kaum, wie Leggewie gehofft hatte, in der Steuergesetzgebung). Und das zum 1. Januar 2000 in Kraft getretene neue Staatsbürgerschaftsrecht, dessen Reform unser Autor an die erste Stelle der innenpolitischen Aufgaben gesetzt hatte, zählt zweifellos zu den bleibenden Leistungen der rot-grünen Bundesregierung. Sieht man einmal ab von der Epochenzäsur der Jahre 1989/90, so wird man konstatieren können, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik kaum einen anderen Zeitraum von nur 15 Jahren gegeben hat, in dem sich auf so vielen Feldern so vieles verändert hat wie in den Jahren seit 1995. Das war natürlich keineswegs allein Ergebnis (nationaler) politischer Prozesse, sondern in hohem Maße Folge jenes digitalen Fortschritts, der die Welt samt ihrer Waren-, Kapital- und Ideenströme inzwischen nahezu komplett und in Echtzeit vernetzt hat. Aber richtig ist auch, dass die Bundesrepublik nach dem Ende von Rot-Grün keinen substantiellen politischen Kurswechsel gesehen hat. Vielmehr ging, was als ökonomische und ökologische Modernisierung bezeichnet wird, auch unter Schwarz-Rot im Wesentlichen weiter. Und momentan sieht es nicht einmal danach aus, als würde sich an der Grundrichtung dieser Politik im zweiten Kabinett Merkel allzu viel ändern. Betrachtet man die vergangenen eineinhalb Jahrzehnte im Lichte einer nun mittlerweile sechzigjährigen Geschichte der Bundesrepublik – seit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation hat es kein anderes deutsches Staatsgebilde auf solche Dauer gebracht –, so wird man jene »Hyperstabilität« doch um einiges gelassener sehen, die Richard Löwenthal der zweiten Demokratie vor Jahrzehnten mit einiger Sorge bescheinigt
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und die Claus Leggewie 1995 noch einmal als potentielle Gefahr benannt hat. Nicht zuletzt der Blick auf die oft schnelleren innenpolitischen Veränderungen bei unseren europäischen Nachbarn – man denke nur an die Entfesselung des Marktradikalismus in Großbritannien seit Anfang der achtziger Jahre – spricht eigentlich dafür, im strukturpolitischen Phlegma der Bundesrepublik und in ihren ausgeprägten gesellschaftlichen Beharrungskräften auch ein Positivum zu erkennen: Nämlich eine mutmaßliche Ursache dafür, dass alle inneren Umgründungen bis dato im Ganzen glücklich verlaufen sind. In diesem Sinne erscheint es mir denn auch als eine unnötige Engführung der »Chiffre 68« (Detlev Claussen), wenn Leggewie meint, sie nur im Sinne einer »glücklich gescheiterten Umgründung« in jene Logik der inneren Entwicklung der Bundesrepublik einordnen zu können, an deren Beginn er zu Recht eine »verordnete Gründung« sieht. Gerade weil die westdeutsche Staatswerdung »auf einer geliehenen, erst allmählich verinnerlichten Legitimation« beruhte, wird man die im Modus des Generationenprotests erfolgten inneren Aneignungsprozesse »um 68« kaum überschätzen können. Die oben skizzierten politischen Entwicklungen nach 1989 – genauer: die Veränderungen nach dem Ende der Ära Kohl, in deren Abendlicht Leggewie sein Reformprogramm formulierte – haben dies gegenüber den seinerzeit vielleicht noch etwas voreiligen Zuschreibungen à la Habermas (»Fundamentalliberalisierung«) nur bestätigt. Im Übrigen wurde, was »68« im Westen bewirkt hat, seit 1989 im Osten als ein Überhang politisch-kultureller und mentaler Traditionsbestände ansichtig, als eine strukturelle Schwäche der Zivilgesellschaft, an deren Defiziten wir bis heute laborieren. (Dass sich der noch immer bestehende Nachholbedarf an gesellschaftlicher Liberalität in Ostdeutschland neuerdings mit stupenden Wahlerfolgen der FDP verbindet, ist eine vermutlich vorübergehende Kuriosität am Rande.) Manche Chance, das haben Claus Leggewie und andere in den neunziger Jahren zweifellos zu Recht kritisiert, wurde 1989/90 verpasst. Dass es, entgegen manchen Versuchen, nicht gelang, mit der Einheit einen neuen Mythos zu begründen, erschien mir allerdings schon damals nicht als ein Mangel, zumal diese Ambitionen meist von neurechter Seite oder als aufgestelzte Forderung vorgetragen wurden, Deutschland müsse nun endlich ein »klassischer Nationalstaat« werden. Zwanzig Jahre später jedenfalls (und im Unterschied zu Herfried Münkler, der das Angebot an deutschen Mythen unlängst noch einmal etwas sehnsuchtsvoll durchgemustert hat) kann man den Lauf der Dinge auch anders lesen: Nämlich als ein geglücktes Festhalten an dem vorsichtig-nüchternen Geist, aus dem heraus die Gründung der zweiten deutschen Republik erfolgte – gestützt auf ein paar alte Demokraten aus der Weimarer Zeit, begleitet eher von desillusionierter Skepsis als von hochfliegenden Erwartungen einer postnationalsozialistischen Volksgemeinschaft, und eingehegt von ebenso pragmatischen wie mutig-visionären Alliierten im
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Westen. Deren Bedürfnis nach »deutschen Mythen« war 1945/49 für mindestens den Rest des 20. Jahrhunderts gestillt. Und wenn nicht alle Zeichen trügen, ist die bundesrepublikanische Mythenschwäche auch im 21. Jahrhundert nichts, worin die Welt einen Mangel erkennt. Daran sollten wir uns halten.
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Die Täter sind unter uns Beobachtungen aus der Mitte Deutschlands Jörg Bergmann und Claus Leggewie
»Gehn Sie weiter. Es gibt hier nichts zu sehen.«1 Der Mann im Jogginganzug mustert uns über seinen Gartenzaun. Wir deuten auf das Haus auf der anderen Straßenseite. »Gar nichts!« wiederholt er und schaut weg. Erst wenn man genauer hinschaut, sind an einer Fensterkante des gegenüberliegenden Hauses, auf etwa vier Meter Höhe, Brand- und Verpuffungsspuren zu erkennen. Eine rundliche Frau in bunter Kleidung tritt aus dem Haus und beachtet uns nicht. An einem Herbstabend des Jahres 1991 ist das Nichts gewalttätig geworden. Am 7. Oktober, einem Montag, gegen 21.10 Uhr ruft ein türkisches Mädchen die Polizei an und meldet aufgeregt, im Haus Harmsheimer Straße 37 in Geringshausen sei Feuer gelegt worden. Drüben, vor der Telefonzelle, stünden zwei Männer verdächtig herum. Sofort werden Streifenwagen und Feuerwehr an den Tatort, ein Asylbewerberheim, beordert. Als sie eintreffen, haben sich die Bewohner im Schein der Straßenlaterne versammelt. Bei ihnen ist Pfarrer Matthes von der evangelischen Gemeinde des Ortes, der sich um die gut 40 Asylbewerber kümmert (fast alle sind türkische Kurden). Es herrschen schon herbstliche Temperaturen, knapp über zehn Grad Celsius. Auf der Außenbank des Fensters findet die Spurensicherung braune Glassplitter einer Einwegflasche der hiesigen Pilsmarke. Das Etikett ist verkohlt. Auf dem Gehsteig liegt ein angebrannter Lappen Gardinenstoff – offensichtlich Reste eines »Mollis«. Also Brandstiftung. Und versuchter Mord? In dem Zimmer im Hochparterre, wo der Brandsatz am Fenstersims zerschellte, saß gerade ein Ehepaar auf dem Boden um einen Korb mit Obst. Hätte das Geschoss die dünne, bereits gesprungene Glasscheibe durchschlagen, wäre es mit hoher Wahrscheinlichkeit an den leicht entzündlichen Plastikgardinen vorbei auf das Dop1 | Dieser Text ist eine leicht überarbeitete Fassung des Kursbuch-Aufsatzes von 1993 (vgl. Quellenangabe am Ende des Bandes). Für den Wiederabdruck in diesem Band wurde die Rechtschreibung aktualisiert.
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pelbett gefallen. Die beiden Männer vor der Telefonzelle, zwei Studenten der nahen Universität, waren es nicht. Sie haben aus sicherer Entfernung einen kurzen Feuerschein beobachtet und sind, als am Haus kein Schaden zu entdecken war, fortgegangen. Einen Kilometer weiter, in Richtung Riedrich, nimmt die Polizei derweil einen schweren Unfall auf. Zwei junge Männer haben mit ihrem »Bauern-GTl« in einer langgezogenen Kurve ein entgegenkommendes Fahrzeug gerammt, dessen Fahrerin beim Zusammenstoß leicht verletzt wurde. Die Polizei stellt die Personalien der beiden fest, die wegen ihres Aussehens – Glatze und Springerstiefel – unschwer als Skinheads erkennbar sind: Der Wageninhaber ist Markus Frankenberg, 19 Jahre alt, wohnhaft in Riedrich, sein Beifahrer heißt Stefan Gennrath, wohnt in Harmsheim und ist 18 Jahre alt. Beim Unfallverursacher werden 1,2 Promille festgestellt, der andere hat auch über 0,8 intus. Bei der näheren Inspizierung des auf ein Feld gerutschten Wagens (vermutlich Totalschaden) findet das Unfallkommando, das von dem Anschlag auf die Unterkunft der Kurden informiert ist, in einer Sporttasche auf dem Rücksitz einen Kanister Nitroverdünner, leere Bierflaschen und Stofftücher. Stefan Gennrath gesteht sofort, sein Kamerad bei der späteren Vernehmung. Die beiden werden ins Polizeipräsidium der Kreisstadt gebracht und in U-Haft genommen. »Die schlimmste Nacht meines Lebens«, erinnert sich Gennrath später. Bei der Vernehmung sagt er, auf die möglichen Folgen einer Brandstiftung hingewiesen: »Verluste müssen in Kauf genommen werden.« Der Satz taucht nicht im Vernehmungsprotokoll auf. Ziel des Brandanschlags war das seit dem Frühjahr 1988 in Geringshausen bestehende Heim für Asylbewerber. Ältere Dorfbewohner kennen das Gebäude als »unsere Fabrik«: Bei der Zigarrenfirma »Sinn & Compagnie« haben viele Frauen nach dem Krieg Arbeit gefunden. Doch die Zeit, als hier noch die Schornsteine rauchten, ist lange passé. Das unscheinbare, nicht allzu große Gebäude stand jahrzehntelang leer, bis der Landkreis einen Teil der Asylbewerber dort unterbrachte, zu deren Aufnahme, Beköstigung und Versorgung er gesetzlich verpflichtet ist. Mit diesem Vorgang war Geringshausen (ein Ortsteil der Gemeinde Riederwald, zu der noch die Ortsteile Harmsheim und Riedrich gehören) auf einen Schlag an die transnationalen Flüchtlingsströme angeschlossen, die den Leuten nur noch aus dem Fernsehen und einigen noch aus der Erinnerung an die (eigene) Vertreibung aus dem Osten bekannt waren. Die Kurden waren hier nicht die ersten Fremden. Ausländische Gastarbeiterfamilien, »Mitbürger« genannt, leben seit den 60er Jahren in Geringshausen, ein paar Dutzend Ausländer unter 1611 Einwohnern; durch sie weist das Telefonbuch so exotische Dorfnamen auf wie Fernandez, Özgür und Abdullah. Gegen diese Sorte von Fremden bestehen in der Regel keine großen Einwände, zumal sie sich höchst unauffällig verhalten und deutsche Lebensweisen praktizieren. Doch der Plan der Nutzung der Fabrik für die anderen Fremden stößt auf erhebliche Reserven, auch auf Widerstand. Weder die hessische Landesregierung noch die Gemeindeverwaltung haben große Anstrengungen gemacht, die Geringshäuser auf
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ihre neuen Nachbarn vorzubereiten. Zum damaligen Zeitpunkt näherte sich die Zahl der Asylanträge der magischen Grenze von 100 000. Der Bundestagswahlkampf 1987 hatte dem unliebsamen Thema scharfe demagogische Züge verliehen. Die »Asyldebatte« hob an, und immer häufiger war nun von »Flut« und »Schwemme« die Rede und von »Schmarotzern«, die den Artikel 16 missbrauchten. In Geringshausen zirkuliert im März 1987 die Unterschriftenliste einer anonymen Bürgerinitiative gegen die Errichtung eines Asylbewerberwohnheims. Rund 300 Bürger, etwa ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung des Ortes, sprechen sich dagegen aus, dass in der Harmsheimer Straße eine Flüchtlingsunterkunft entsteht. Aber auch die guten Deutschen melden sich: mit Pfarrer Matthes starten sie, als die Flüchtlinge eingezogen sind, Aktionen der guten Nachbarschaft. Sportfeste sollen die Völker verbinden, und bei einem Brunnenwettbewerb kann das Modell der Asylbewerber Platz zwei erringen. Die Befürworter des Heimes, überwiegend mittelständische Leute, übernehmen Patenschaften, die aber bald abgebrochen werden oder versanden. Während die älteren Asylbewerber nicht viel Kontakt zu Deutschen suchen und die Tage, weil sie nicht arbeiten (dürfen), auf ihren Zimmern, in dem fast idyllischen Garten des Hauses oder in der Gemeinschaftsküche verbringen, gehen die Kinder ihrer Schulpflicht nach und schließen erste Freundschaften mit gleichaltrigen Kindern aus dem Dorf. Manche nehmen Hausaufgabenhilfe in Anspruch, einige machen in Sportvereinen des Dorfes mit. 1990 tauchen Schmierereien an der Hauswand auf und beginnen anonyme Drohanrufe im Heim. Einige Nachbarn der langen Straße, überwiegend Eigenheimbesitzer, beschweren sich über den Lärm der Kurden in ihrem Hof oder darüber, dass Obst aus ihren Gärten gestohlen worden sei. Ende Juni 1991 werden zweimal, vermutlich aus einem vorbeifahrenden Wagen, Steine gegen die Fassade des Hauses geworfen. Eine Scheibe, hinter der ein behinderter junger Mann sitzt, zerspringt. Der Hausverwalter erstattet Anzeige, aber der oder die Täter werden nicht ermittelt. Auch ein nächtlicher Überfall auf zwei Bewohner in der Nähe der Unterkunft durch zwei mit Knüppeln und Messern bewaffnete junge Männer wird nicht aufgeklärt. Der zuständige Polizeipräsident registriert rund ein Dutzend ähnlicher Vorfälle (Parolenschmierereien, Steinwürfe). Im Landkreis gibt es um die 20 »Zweitaufnahmeunterkünfte« des Geringshäuser Typs, in denen Asylbewerber auf das Ende ihrer Verfahren warten oder als anerkannte oder geduldete Personen untergebracht sind. Aufgeschreckt durch die Attacken, über die in der lokalen Presse berichtet wird, stellt der Bürgermeister der Gemeinde heraus, dass das dreijährige Zusammenleben mit den Flüchtlingen durch »vielfältigen Einsatz der Bürgerinnen und Bürger« bestens funktioniert habe. »Umso verwerflicher ist es, wenn einige wenige Wirrköpfe diesen Frieden zerstören.« Es sei ganz unverantwortlich, »unsere ausländischen Mitbewohner wieder in die Ängste zu versetzen, deretwegen sie ihre Heimat verlassen haben«. Der Bürgermeister fordert seine Gemeinde auf, wachsam zu sein, damit
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sich solche Ausschreitungen nicht wiederholten. »Durch ein klares Eintreten für die Einhaltung der Menschenrechte in unserer Gemeinde muß den Tätern und eventuellen Sympathisanten der geistige Nährboden entzogen werden«, wird er in einem Zweispalter der Lokalzeitung zitiert. Markus Frankenberg, der im Nachbarort Riedrich lebt, hat diesen Artikel ausgeschnitten und aufbewahrt. Am Abend der Tat trägt er ihn bei sich: »Zwischenfälle in Geringshausen häufen sich. Unbekannte bedrohen nachts die Asylanten.« Unterstrichen ist darin nichts. Kennen er und sein Freund Gennrath die Bewohner des Hauses? An der schräg gegenüber dem Gebäude stehenden Telefonzelle, die von den Asylbewerbern rege frequentiert wird (im Haus gibt es für sie keine Möglichkeit, Ferngespräche zu führen), ist es mehrfach zu Rangeleien und Belästigungen gekommen. Daran war offenbar auch Stefan Gennrath beteiligt, ohne sich vor Gericht oder uns gegenüber dazu näher auszulassen. Er sagt, er habe sich zu dem Heim »irgendwie geradezu hingezogen gefühlt«, und erweckt den Eindruck, als habe er sich an den Kurden für die Schläge revanchieren wollen, die er von »unseren lieben ausländischen Freunden« (er nennt zwei türkische Namen) bezogen hat, angeblich »seit Jahren«. Diese Klage mündet in ein allgemeines Ressentiment gegen »unseren Scheiß-Beamtenstaat«, der den deutschen Jugendlichen die Dorfdisco schließt, den Asylanten aber alles erlaubt und serviert. Notwehr also. Jedenfalls kennen die beiden Täter einige, etwa gleichaltrige Kurden aus dem Heim von Angesicht. Sie haben eine hinreichend genaue und ausreichend voreingenommene Vorstellung davon, wie die Leute aussehen, die sie zu »erschrecken« gedenken. Fälle wie diesen gibt es mittlerweile Hunderte. Die Kommentatoren und Analytiker des kleinteiligen Massenterrors in der wiedervereinigten Republik sind anhaltend ratlos. Gesucht sind bündige Erklärungen; gefunden werden sie gewöhnlich im individuellen Charakter oder in der sozialen Lage der halbwüchsigen Delinquenten. Die gängigsten Hypothesen: Die Täter seien irgendwie »gestört« oder »asoziale« Angehörige der Unterschicht, die von ihnen selbst erfahrene Gewalt in Familie und Gesellschaft an probaten Sündenböcken ausagierten. Nicht allein in unserem Fall zerbrechen derartige Binsenweisheiten schnell. Weder pathologische Einzelfälle noch eine fehlgegangene, nach rechts verrutschte Arbeitslosenrevolte lassen sich belegen. Vielmehr muss man die auffällige Normalität der Lebensläufe und die Zugehörigkeit der Täter zum gesellschaftsweiten Mittelstand konstatieren. Die meisten Täter stammten »aus gutbürgerlichem Milieu« und seien nie zuvor »aufgefallen«, stellen Kriminologen und Staatsschützer erstaunt fest. Eine abgeklärte, auf schnelle Generalisierung erpichte und damit zur Verharmlosung dienende Soziologie scheitert an diesem Phänomen ebenso wie die aufgeregt staatstragende oder -kritische Perspektive der Extremismusbekämpfung. Wir wollen dagegen einen singulären, in seinem Verlauf quälend unspektakulären Tathergang streng kasuistisch rekonstruieren und in die schier unerklärlichen deutschen Vorgänge einordnen. Was in Geringshausen geschehen konnte, hat dort kaum jemand für möglich gehalten. Nicht einmal die Attentäter selbst.
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W IE MAN IN Z WEI S TUNDEN EIN T ÄTER WIRD Am frühen Morgen des 7. Oktober, gegen vier Uhr, ist der 18-jährige Stefan Gennrath, Bäckerlehrling im dritten Lehrjahr, wie üblich aus der elterlichen Wohnung in Harmsheim ins benachbarte Steinheim zur Arbeit gefahren. Am Arbeitsplatz gibt es keine besonderen Vorkommnisse. Im Lauf des Vormittags trinkt er, wie üblich, zwei Flaschen Bier. Nachmittags gibt es eine Abwechslung. Er fährt mit dem Meister zu einer Bäckereiausstellung nach Frankfurt, von wo er gegen 17.00 Uhr zurückkehrt. Zu Hause nimmt er weiteren Alkohol zu sich. Derweil besucht sein Freund Markus Frankenberg, der in einer Kunststofffirma arbeitet, nach Arbeitsschluss einen Bekannten im Krankenhaus. Auch er »zischt« zwei bis drei große »Fläschchen« und ein paar Kannen Bier plus zwei Apfelwein. Die beiden treffen sich gegen 19.00 Uhr kurz im Bistro, einer unter Jugendlichen beliebten Kneipe in Harmsheim, wo Gennrath nochmal drei halbe Weizenbier nimmt, und dann wieder gegen Viertel nach acht am Kreuz. So heißt ein beliebter Treffpunkt an einer von einem großen Baum überschatteten Straßenkreuzung vor der Kirche in Harmsheim. Das Kreuz ist eigentlich nur eine schmale, dreieckige Verkehrsinsel mit einer Bank, wo sich zur »blauen Stunde« mit Vorliebe rund ein Dutzend Jugendliche aufhalten. Sie hängen ’rum und quatschen, machen sich an und führen ihre Mopeds vor. Dabei trinken sie Bier. Mädchen sind selten dabei. In der Nähe liegt die Glastanzdiele. Auch am Abend des 7. Oktober steht hier ein gutes Dutzend junger Männer. Unter anderem reden sie über Kanacker im Allgemeinen und die »geile Action« im Besonderen, die ein paar Tage zuvor im sächsischen Hoyerswerda abging. Was nun folgt, ist von den beiden Freunden weder strategisch geplant, noch ist es ihnen bloß im Suff unterlaufen. Etwas abseits vom Pulk verständigen sie sich, ganz ohne Worte – »Kameraden verstehen sich blind« –, eine Aktion durchzuführen. Gemeinsam fahren sie in Frankenbergs Wagen zu Gennrath, der im Haus seiner Eltern in Harmsheim wohnt, dem größten Ort der 5200 Einwohner zählenden Gemeinde Riederwald. Gennraths Bruder ist Maler und Lackierer, so dass im Keller des Hauses die (später im Unfallwagen gefundenen) Ingredienzien für zwei Mollis zu vermuten sind. Dazu benutzen sie einen Nitroverdünner, doch hätten sie auch Benzin genommen, wenn welches dagestanden wäre. Wie man einen solchen Cocktail braut, ist mittlerweile eine allgemeine Kulturtechnik, die fast jedes Kind beherrscht. Wie solche Brandsätze wirken, wissen die beiden auch, von Übungswürfen in einem nahegelegenen Steinbruch. Die präparierten Brandsätze packen sie in eine Sporttasche, dazu zwei improvisierte Gesichtsmasken, eine aus Gardinenstoff und eine aus Metall. Gennrath steckt noch seine Browning dazu, eine Schreckschusspistole mit zehn Schuss Munition im Magazin. Er hat sie vor einigen Monaten in einem Waffengeschäft in der nahen Kreisstadt erstanden – um sich verteidigen zu können, wie er sagt (aber gegen wen?). Während Gennrath die Brandsätze in den Händen hält, chauffiert Frankenberg zielstrebig in die
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Nähe des Festplatzes im Nachbardorf Geringshausen. Neben dem Kreuz und einem Jugendtreff der Gemeinde Harmsheim ist dieser Festplatz, ein asphaltiertes Viereck auf freiem Feld außerhalb des Ortes, an dem einmal jährlich die große örtliche Kirmes steigt, der wichtigste Treffpunkt der dörflichen Jugend, vor allem der Kirmesburschen, zu denen auch Frankenberg und Gennrath gehören. Am Festplatz stellen sie den Wagen ab und gehen rund 700 Meter zu Fuß, jeder mit seinem Molotowcocktail bewaffnet, zum Asylbewerberheim in der Harmsheimer Straße Nr. 37. Sie begegnen niemandem. Kurz vor ihrem Ziel setzen sie die Masken auf. Dort angekommen, entzünden beide mit einem Feuerzeug gleichzeitig die Brandflaschen und schleudern sie gegen das Haus. Da sie in einem Abstand von etwa zwölf Metern auf der anderen Straßenseite stehen, müssen sie alle Kraft aufwenden, um zu treffen. Der von Frankenberg geschleuderte Molotowcocktail trifft die Oberkante des erleuchteten Fensters im Hochparterre, hinter dem gerade das obstverzehrende Ehepaar auf dem Boden sitzt. Der Brandsatz zerschlägt die Scheibe nicht und erlischt beim Herunterfallen von selbst. Der von Gennrath steiler nach oben geworfene Brandsatz dringt durch ein schrägstehendes Fenster in den Büroraum des Dachgeschosses. Die Gardine gerät in Brand, erlischt jedoch nach kurzer Zeit von selbst. Pyrotechnisch sind die beiden, gottlob, Nieten. Sie flüchten in großer Eile zu ihrem Auto und brausen in Richtung Riedrich, bis zu der bewussten Kurve, wo sie fast frontal in das entgegenkommende Auto hineinrasen.
H ÜNXER M ODELL Das Szenario kommt einem bekannt vor. Wenige Tage zuvor, am 2. Oktober 1991, dem Vorabend des neuen (und erstmals begangenen) »Tags der deutschen Einheit«, hatten drei 18 und 19 Jahre alte junge Leute namens Volker, Jens und André nach einer feuchtfröhlichen »Vereinigungsfete« mit Mofa-Benzin gefüllte Bierflaschen gegen ein Asylbewerberheim in Hünxe geschleudert. Hünxe ist ein rund 13 000 Einwohner zählender Ort am Niederrhein nördlich von Duisburg, eine aufgeräumte Schlafstätte für Pendler, die mehrfach Preise im Wettbewerb »Unser Dorf soll schöner werden« errang. Eine Benzinbombe durchschlug das Fenster eines Zimmers, in dem vier Kinder der Familie Saado schliefen. Vor allem die achtjährige Zainab erlitt schwerste Verbrennungen am ganzen Körper und schwebte 14 Tage lang in Lebensgefahr. Noch heute ist sie schwer von Brandwunden entstellt und in dauernder ärztlicher Behandlung. Sie ist oft fotografiert und interviewt worden – eine charmante und traurige kleine Berühmtheit des deutschen Herbstes 1992. Auch ihre jüngere Schwester Mokadas erlitt leichtere Verbrennungen am rechten Arm, an der Hand und im Gesicht. Die Familie der aus dem Libanon stammenden Asylbewerber ist nach der Tat von Hünxe nach Duisburg gezogen.
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Die drei Attentäter von Hünxe, die nach ihrem Aussehen oder ihren verballhornten Nachnamen »der Fette«, »Gehle« und »Zitze« gerufen werden, haben sich üblicherweise am Hünxer Marktplatz getroffen oder unter der Betonbrücke eines Industriekanals herumgehangen und gesoffen. Mit ihrem Anschlag wollten sie, wie sie später vor Gericht bekundeten, »Asylanten schocken«. Sie hatten ihn nicht vorbereitet, sondern nach der Fete, »als nichts mehr los war«, in einer Garage Molotow-Cocktails gebastelt und das nächste ihnen bekannte Asylbewerberheim angesteuert. Auch diese drei waren äußerlich mehr oder weniger als Skins zu identifizieren; ihr innerer Zusammenhang als Freundesgruppe war nicht sehr eng. »Der Fette«, ein Kfz-Lehrling, galt als der »Ideologe«; er hatte sich über die idealisierte Person des Großvaters, der im Zweiten Weltkrieg Panzerfahrer war (»Eisernes Kreuz Zweiter Klasse ohne Band an der Kette«), und aus Aversion gegen seine den Grünen nahestehende Geschichtslehrerin die stärksten rechtsradikalen Überzeugungen angeeignet und der nazistischen FAP angenähert. »Gehle«, ein angehender Fliesenleger, begeisterte sich vor allem für Oi-Musik, das doitsche Liedgut der durchs nördliche Ruhrgebiet tourenden Skinbands. »Zitze«, der von allen als klassischer Mitläufer geschildert wird und der mit seinem Molli nicht auf die Hauswand, sondern auf ein abseits geparktes Auto zielte, ist vor allem durch seinen Vater (Jahrgang 1938) bekannt geworden, der NS-Devotionalien sammelte und regelmäßig Hitlers Geburtstag feierte. Der Prozess der Jugendstrafkammer des Landgerichts Duisburg gegen die drei, denen versuchter Mord, schwere menschengefährdende Brandstiftung und Sachbeschädigung zur Last gelegt wurde, endete mit Haftstrafen von drei bzw. fünf Jahren ohne Bewährung. Das Schlusswort von Jens vor Gericht war, dass ihm die Tat »sehr, sehr leid tut«. Den beiden Tätern von Geringshausen war dieser Anschlag, der im Fernsehen und in der Boulevardpresse breit abgehandelt wurde, bekannt. Aber nicht Hünxe war das Fanal. Die hessischen Täter nahmen auf einen anderen Präzedenzfall Bezug, auf den »Erfolg« einer anderen Heldentat: Am 22. September wurden im sächsischen Hoyerswerda, nach tagelangen Attacken von Hunderten von Rechtsradikalen gegen ein Ausländerwohnheim in der dortigen Neustadt, breit unterstützt von den Anwohnern, die Angegriffenen mit Bussen aus der Stadt gebracht, unter dem lauten Jubel der Menge. In Markus Frankenbergs Zimmer findet die Polizei auch einen Zeitungsartikel über diesen regelrechten Volksaufstand, der in der »Szene« weithin als Signal verstanden wird. Stefan Gennrath antwortet in der Vernehmung auf die Frage, ob er Aktionen gegen Ausländer gemacht habe, laut Protokoll: »Ich habe mich zwar an derartigen Aktionen nicht beteiligt. Ich verurteile jedoch auch nicht diese Aktionen. Aufgrund der regelrechten Ausländerschwemme habe ich jedoch einen regelrechten Haß gegen alle Ausländer. Konkrete Gründe hierzu kann ich hier nicht benennen, es ist halt so.« Frankenberg sagt zum selben Thema: »Aus meiner Sicht war es rein zufällig, daß wir zu dem Haus in Geringshausen gegangen sind.«
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Z WISCHEN V ORSAT Z UND O KK ASION Durch die merkwürdig »flachen« Tatmotivationen und die wie zufällig wirkenden Handlungsketten junger Gewalttäter gerät die Soziologie, die sich mit sinnhaftem kollektivem Handeln befasst, in einen erheblichen Erklärungsnotstand. Weder haben die jungen Männer eine klare ZweckMittel-Wahl (a rational choice) getroffen, die von einem strategischen Plan und einem für Außenstehende nachvollziehbaren Um-zu-Motiv bestimmt war, noch haben sie, unter übermäßigem Alkoholeinfluss oder in jugendlichem Leichtsinn, völlig ad hoc und spontan gehandelt, noch auch kann man ihre Tat als eine Variante jener juvenilen Kampfrituale abtun, in denen »Jugendirre« eben immer schon sich gegenseitig die Köpfe eingeschlagen, öffentliche Einrichtungen demoliert und anderer Leuts Fähnlein angezündet haben. Weder Ritual noch Strategie noch Episode – was also dann? Die Suche nach politischen Anstiftern (»Schreibtischtätern«) und Hintermännern (»der braune Sumpf«) beginnt, aber sie geht auch fehl – in diesem wie in den meisten Fällen gleichen Typs. Eine »organisierte Szene«, zum Beispiel eine mittelhessische Wehrsportgruppe, eine NS-Aufbauorganisation oder ältere Hitler-Verehrer, die als geheime Sponsoren auftreten – nichts davon war in diesem deutschen Hinterland aktiv. Eine strategisch planende Verschwörerclique, die die jungen Wilden wie Marionetten geführt hat, mit dem Ziel der Ausländervertreibung oder des nazistischen Coup d’État – was dem versuchten Pogrom wenigstens nachträglich fassbaren Sinn verliehen hätte –, konnten wir ebenso wenig entdecken wie die Polizei, die ermittlungstaktisch von dezentral agierenden, sehr locker vernetzten »rudelhaften Gesellungsformen junger Männer« ausgeht. Kontakte der beiden Täter zu einer größeren und straffer geordneten Skinhead-Gruppe im nahegelegenen Keldenbach, darunter ein »SS-Siggi«, bestanden ebenfalls keine. Aber die beiden gehörten offenbar zur weiteren »Szene«: Gefunden wurde bei Markus Frankenberg ein Aufnäher-Wappen der bei den Skins beliebten (und mittlerweile in Ungnade gefallenen) Kultband Böhse Onkelz und diverse Ausrisse aus SkinheadMagazinen (z.B. Schluß mit dem roten Straßenterror; Anarchos, leckt uns am Arsch …; Wir wünschen unseren ausländischen Mitbürgern einen guten Rückflug und ähnlichen Schlagzeilen), Parteiabzeichen der FAP Rhein-Westfalen und der Nationalistischen Front (Bielefeld) sowie eine Visitenkarte von White Storm Berlin mit Telefonnummer und Postfach. Doch auch zu dieser militanten Subkultur wollen die Angeklagten selbst nicht gerechnet werden. Im Protokoll der Vernehmung von Gennrath heißt es: »Nein, ich bin kein Skinhead. Ich habe zwar die Haare sehr kurz, bin jedoch kein Skinhead.« Vor fünf Monaten, unter dem Einfluss seiner Freundin Stefanie, habe er frühere Kontakte zu Skins abgebrochen. Auch Frankenberg behauptet: »Eine besondere politische Überzeugung habe ich eigentlich nicht. Ich fühle mich eigentlich nicht als rechtsgerichtet. Ich werde zwar gelegentlich auf den ersten Blick als der Skin-Szene zugehörig eingeschätzt, dies trifft jedoch überhaupt nicht zu.« Als Quelle der bei ihm
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gefundenen Aufkleber und Ausrisse nennt er »einen Typen«, der sie ihm im Sommer bei einem Heimspiel der Eintracht Frankfurt in der Halbzeitpause vor dem Klo »in die Hand gedrückt« habe. »Ich habe sie schon gelesen, identifiziere mich aber nicht mit den dort genannten Äußerungen.« Die Jugendgerichtshelfer nehmen ihm das nicht ab: Frankenberg sympathisiere »stärker, als er selber zugibt«, mit rechten Zielen. Die Täter sind weder total ausgerastete, irrationale und amoralische Zombies, die man nur unter pathologischen Aspekten begreifen (und behandeln) kann, noch Zweig einer vielarmigen »rechten RAF«, die den Nationalsozialismus wieder herbeizündeln will. »Zu den eigentlichen Motiven für diese Tat kann ich keine konkreten Angaben machen. Es hat sich halt so ergeben«, bringt Gennrath auf Fragen immer wieder vor. Verstellt er sich, lenkt er damit nur geschickt von seinen »wahren Motiven« ab? Hat ihn sein Rechtsanwalt auf die Masche »dummer Jungen-Streich« gebrieft? Wir müssen in diesen buchstäblich nichtssagenden Fällen wohl mit einer andersartigen Handlungsrationalität rechnen, die zwischen Okkasion und Vorsatz liegt. Sowenig der Gewaltakt vorbedacht und kühl präpariert war (wie es die Verschwörungstheorien suggerieren), so wenig war er bloß (wie Strafverteidiger gern argumentieren) Auswuchs einer unvorhersehbaren Gelegenheit und eines alkoholverstärkten Kontrollverlustes. Um die besondere Logik eines solchen Brandanschlags verstehen zu können, müssen wir beide Erklärungsstränge miteinander verbinden. Denn einerseits setzt sich die Tat in ihrem Gesamtablauf aus Teilhandlungen zusammen, die mit hoher instrumenteller Rationalität ausgeführt werden: Vor der Aktion selbst machen die beiden noch eine Kontrollfahrt vorbei am Zielobjekt, sie stellen die Utensilien für den Brandanschlag zielorientiert im Keller des Hauses von Gennrath zusammen, die mitgebrachten Masken und der Zeitpunkt der Tat (späte Dämmerung) sollen sie vor dem Erkanntwerden schützen. Sie parken das Auto in größerer Entfernung bereits in Fluchtrichtung, sie deponieren ihre Geldbörsen im Handschuhfach, um sie ja nicht bei einer möglichen schnellen Flucht zu verlieren, und sie verstehen es, sachgemäß mit ihren Brandsätzen zu hantieren – keine geringe Leistung, wenn man bedenkt, wie häufig beispielsweise beim Grillen etwas durch den falschen Gebrauch von Brennspiritus in die Luft fliegt. Und gleichwohl ist die Tat eben nicht im Vorhinein abgesprochen, durch spezifische Maßnahmen vorbereitet, in ihren einzelnen Schritten geplant, im Hinblick auf mögliche Unwägbarkeiten durchdacht worden. Hätten sich die beiden nicht zufällig, aber wie immer, am Kreuz getroffen, wäre – zumindest an diesem Abend – nichts geschehen.
E NTHEMMUNG – E NTL ADUNG Doch so zufällig die ganze Geschichte letztlich sein mag, so zwangsläufig musste sie geschehen – hier oder an einem anderen Ort. Denn nicht die Attacke auf das Asylbewerberheim haben die beiden geplant, wohl aber
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haben sie sich selbst systematisch – durch den exzessiven Konsum der Volksdroge Alkohol, mit der sie sich täglich »zuschütten«, durch die gewollte Abschließung in vulgären Männerbünden und durch die allseits abschreckende Kostümierung mit Springerstiefeln, Bomberjacken und Glatzen – in einen Zustand versetzt, aus dem sich Idee und Ausführung der Tat wie von selbst ergaben und der sie zur extremen Tat befähigte. So hält man sich alles und alle vom Leib, die einen korrigieren und zur Vernunft bringen könnten. In einem bewusst auf Verrohung, Enthemmung und Entladung angelegten Kontext setzen sich die rechten Kombattanten in den Stand für folgenreiche Taten, deren tatsächliche Ausführung sie selbst erstaunt, für die sie keine Erklärung haben und deren Konsequenzen ihnen entgleiten. Mehr als die ideologisch zielsichere Propaganda rechter Gruppen, deren Material zu Hause herumliegt, ist es dieses wabernde, in der bornierten Gemeinschaft der Gruppe sich immer erneuernde Klima der Enge, der Häme, der Bosheit und des Grolls, aus dem die Aktion eruptiv hervorbricht. Es ist also nicht primär »Ausländerhass«, der die Täter, wie sie selbst angeben, um- und antreibt. Das wäre bereits ein viel zu klar bestimmtes und in seiner Zielrichtung viel zu eindeutiges Handlungsmotiv. Der Grund, aus dem diese Taten entspringen, ist sehr viel dumpfer, diffuser, unfasslicher – und deshalb keineswegs »harmloser«. Die vorherrschende Affektlage dieser Täter ist das Ressentiment, und was sie als »Hass auf Ausländer« deklarieren, ist bereits die Auflösung einer inneren Spannung, die Formierung und Ausdrucksgestalt eines unbestimmten, schwer an objektiver Benachteiligung festzumachenden Gefühls des Zukurzgekommenseins und der Ohnmacht. Es ist dieses Ressentiment, das bei den Treffen der jungen Männer gepflegt wird und sich in ihrer Brust zur Dauerempörung festsetzt. Und es entspricht dieser Seelenlage, dass der andere, der etwas bekommt (Aufmerksamkeit, eine Wohnung, staatliche Gelder), ohne dafür gearbeitet und es sich richtig verdient zu haben, als Ursache dafür gesehen wird, dass man selbst »nichts« bekommt. Max Scheler hat das die Kausaltäuschung des Ressentiments genannt. Weil das Ressentiment sich von seinem Ursprung gelöst hat und frei flottiert, ist es pures »seelisches Dynamit«. Es genügt eine minimale Erschütterung, eine kurzzeitige Überhitzung der Affekte, eine zufällige Reibung, um eine Explosion auszulösen: um also das Ressentiment in einem verheerenden Hassimpuls sich kristallisieren zu lassen. Haben diese destruktiven Affekte erst einmal einen Adressaten gefunden, so muss man ihnen im Nachhinein fast zwangsläufig das faschistische Label anheften, um ihnen auf diese Weise Sinn zu verleihen. Das ist gewissermaßen die politische »Kultivierung« von Affekten, die ziellos auf die eigene Ohnmacht reagieren und denen in einer Art »éducation ressentimentale« der Boden bereitet wurde. Und diese Gefühlserziehung fällt keineswegs aus dem Rahmen der »Normalbiographien« und des »durchschnittlichen Familienlebens« im Deutschland der 70er und 80er Jahre.
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É DUCATION RESSENTIMENTALE Markus Frankenberg und Stefan Gennrath sind im September 1972 und Mai 1973 geboren worden. Ihre Eltern sind wohlsituierte, angesehene und, wie man in Hessen sagt, brave Leut’: Bundesgrenzschutzbeamter und Bankangestellte, Werkzeugmacher und Apothekenhelferin, so lauten die Berufsangaben in den Gerichtsakten. (Kein Elternpaar ist zum Prozess erschienen.) Frankenberg lebt seit 1976 in Riedrich, wo sich die Eltern, zum Beweis ihres gelungenen sozialen Aufstiegs, ein großzügiges Haus gebaut haben. Gennrath ist im alten Ortskern von Harmsheim geboren und aufgewachsen. Die Eltern haben die dortige Mühle komfortabel und geräumig ausgebaut. Beide Elternpaare sind berufstätig, so dass die Kinder überwiegend von den Großeltern betreut werden. Frankenberg hat einen jüngeren, Gennrath einen älteren Bruder. Die beiden gehen die üblichen Bildungswege: vom Kindergarten und der Grundschule in Harmsheim (wo sich beide kennenlernen) aufs Gymnasium in der Kreisstadt. Dorthin werden alle Kinder geschickt, die es irgendwie packen. Doch die beiden schaffen das angestrebte Abitur nicht. Sie müssen das Gymnasium abbrechen und, was keine kleine Schande ist, »zurück aufs Dorf« – wo sie aber eine Gesamtschule auffängt. Deren Realschulzweig schließt Frankenberg mit der mittleren Reife ab, Gennrath bekommt den erweiterten Hauptschulabschluss. In dieser Phase – es sind die Jahre 1988/89 –, im »schwierigen Alter« um 16, registrieren die Lehrer bei den Jungen, die bisher als unproblematisch gegolten haben, »Auffälligkeiten«: Der eher zurückhaltende Frankenberg verwandelt sich zur »Glatze« und lässt seine Springerstiefel sehen, auch mit den weißen Schnürsenkeln, die aggressive »Einsatzbereitschaft« signalisieren. In der Klasse, in der er bisher normal mitgearbeitet hat, sitzt er unbeteiligt und unansprechbar in der letzten Reihe. Auf Lehrer und Mitschüler wirkt er, als brüte er etwas aus. Gennrath, vom Naturell her vitaler und auch eher geneigt und in der Lage, mal »über die Stränge zu schlagen«, verstärkt seine Eskapaden. Er verstößt mehrfach gegen die Schulordnung und fehlt unentschuldigt. Vor allem verkracht er sich nachhaltig mit seinem Vater, wovon noch die Rede sein wird. Auch das Verhältnis zum Bruder verschlechtert sich, seit sich der Jüngere alle Insignien eines Skins zulegt und lautstark rechte Parolen drischt, obwohl er sich früher linksradikal und punkig gegeben hat. Sein Abschlusszeugnis wird fast eine Katastrophe. Damit tritt er eine Lehrstelle als Koch an, aber er verkracht sich auch mit seinem Vorgesetzten. Statt Koch wird er nun Bäcker – nicht gerade ein Traumberuf, sondern wegen des Arbeitsbeginns in aller Herrgottsfrühe »voll die Härte«. Vor allem in der »actionlosen« Zeit (zwischen zwei und sechs Uhr am Nachmittag) schüttet er das Loch der Langeweile mit Bier und härteren Sachen zu. Auf seine Umgebung wirkt er bisweilen depressiv. Gleichzeitig macht er aber aktiv im selbstorganisierten Jugendtreff in Harmsheim mit und betätigt sich im Jugendrat.
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Markus Frankenberg schreibt zunächst Dutzende von vergeblichen Bewerbungen. Als Grund für die Ablehnung werden ihm seine schlechten Deutschnoten vorgehalten. Er jobbt in einem Brauhaus und findet dann doch, im August 1991, eine Lehrstelle als Kunststoffformgeber. Zum Zeitpunkt der Tat ist er Azubi einer recht angesehenen Firma (Verdienst: 590 DM), wo rund ein Viertel der Belegschaft Ausländer sind.
S CHULD UND S ÜHNE Nach zwei Tagen in nicht-öffentlicher Sitzung befindet das Amtsgericht am 4. Februar 1992, vier Monate nach der Tat, beide Angeklagte der versuchten schweren Brandstiftung, in Tateinheit mit Sachbeschädigung, und eines Verstoßes gegen das Waffengesetz für schuldig. Gegen Stefan Gennrath wird eine Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten verhängt und zur Bewährung ausgesetzt. Markus Frankenberg erhält wegen Trunkenheit im Straßenverkehr in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung und Unfallflucht drei Monate mehr und bekommt für ein Jahr den Führerschein entzogen. Zusätzlich macht die Richterin, die dieses Urteil als vergleichsweise hart ansieht, »empfindliche Bewährungsauflagen«: Die beiden Täter müssen 50 bzw. 80 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten (Gennrath backt z.B. Kuchen für ein Altenheim), die Kosten des Verfahrens tragen, je 500 DM an amnesty international überweisen und einen sozialen Trainingskurs besuchen. Vor allem von diesem Kurs und einer dreijährigen Kontrolle durch einen Bewährungshelfer verspricht sich die Richterin, dass »der Denkprozess, der bei beiden Angeklagten eingesetzt hat, auch fortgeführt wird«, wohl wissend, dass da in den Augen der Täter bloß »gelabert« wird und sie sich brav geben müssen. Frankenberg macht Monate nach der Tat auf die ihn betreuenden Jugendpfleger und Bewährungshelfer den Eindruck, er habe »noch immer nicht verstanden, was hätte passieren können«. Weit mehr als vernünftige Einsicht bewegt beide die Vorstellung, »nach Rockenberg« zu kommen, eine unter hessischen Jugendlichen berüchtigte Jugendstrafanstalt. Die Richterin verhängt dieses Urteil auch, um Nachahmungstäter abzuschrecken. Brandsätze sind seither in der Gegend keine mehr geflogen. Aber wenige Monate nach dem Urteil ist auf ein 30 Kilometer entferntes Asylbewerberheim mit scharfer Munition geschossen worden. Stärker als durch ihre Verurteilung werden die beiden Täter von anderen Reaktionen getroffen. Mit dem Hinweis auf den Brandanschlag verliert Frankenberg nach dem 7. Oktober postwendend seine Lehrstelle. Bei einem Ausländeranteil von über 25 Prozent sieht sich die Firma nicht in der Lage, einen ausgewiesenen Ausländerfeind zu halten. Diese unerwartete Entlassung schockt und empört Frankenberg von allen Folgen seiner Tat am meisten. Es will ihm nicht in den Kopf, dass sein Arbeitgeber ihm gekündigt hat, wo er doch überhaupt nichts gegen seine ausländischen Arbeitskollegen hat, sie im Gegenteil als arbeitsame und nette Kumpel
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schätzt. Völlig verständnislos reagieren Frankenberg und Gennrath auch darauf, dass die Kirmes-Burschenschaft, der beide angehören, sich ebenfalls kurzerhand zum Rausschmiss entschließen konnte. Sie halten das für eine opportunistische Reaktion, die nicht von der Mehrheit der Burschen gebilligt werde, und im Übrigen für »satzungswidrig«. Deshalb hoffen sie auf baldige Rücknahme ihrer plötzlichen Ausstoßung. Dass beide leicht zum Mörder hätten werden können, haben sie weggedrängt – oder nie realisiert. Unsere Frage, ob ihm jemand klar gemacht habe, welche Katastrophe er angerichtet hat, bezieht Gennrath einzig auf sich selbst und findet, dass er noch einigermaßen gut davongekommen sei. Wir insistieren: eine Katastrophe für andere, und halten ihm exemplarisch das Schicksal der kleinen Zainab aus Hünxe vor. Der Versuch, ihm die bleibende Angst der Flüchtlinge in der Harmsheimer Straße klarzumachen, dass es eines Abends wieder klirren und sie verbrennen könnten, scheitert. In eine solche Lage kann er sich nicht hineinversetzen. Ihm ist aber klar, dass die Bewohner des Heimes aus ihrer Heimat geflohen sind und es »schwer haben« – freilich habe er es ja auch nicht gerade leicht. Wir wollen schließlich wissen, ob ihm jemand, vor allem unmittelbar nach der Tat, unverblümt Vorhaltungen gemacht habe, etwa so: Totale Scheiße hast du gebaut, das wird Konsequenzen für dich haben. Er überlegt lange und ernsthaft. »Eigentlich nicht«, sagt er dann. Auch nicht die Mutter, als er aus der Haftzelle nach Hause kam? »Meine Mutter hat gesagt: Ich zahl dir den Rechtsanwalt.« Frankenbergs Mutter soll ähnlich reagiert haben. Sie erklärte sich als erstes bereit, die Reparatur des demolierten Wagens zu übernehmen.
V ERSAGTE E RZIEHUNG Solche mütterlichen Schutzreaktionen und Verdrängungen sind psychologisch leicht nachvollziehbar. Oft ist in den Familien der Täter die Konstellation anzutreffen, dass sich die Väter aus den Angelegenheiten ihrer halbwüchsigen Söhne weitgehend heraushalten (oder physisch abwesend sind). Gennrath ist mit seinem Vater schwer aneinander geraten und hat sich nachhaltig mit ihm verkracht: Er hat einmal die Vereinskasse des Vaters mitgehen lassen und ist damit an die Adria durchgebrannt, um sich »ein paar schöne Tage zu machen«. Auf diesen Affront hat der Vater nicht mit drakonischer Strenge oder nachsichtigem Verständnis reagiert, sondern durch Entzug der Anwesenheit. Mit psychosomatischen Störungen hat er der Mühle in Harmsheim den Rücken gekehrt und die Frau mit den beiden Söhnen zurückgelassen. (An der Klingel und im Telefonbuch taucht sein Name noch unverändert auf.) In einer Unterhaltung sagt Stefan Gennrath in scharfem Tonfall: »Ich habe keinen Vater!« Wie er das meine, fragen wir, in Kenntnis des Vorgangs – ob denn der Vater tot sei? »Für mich ist er gestorben«, antwortet er ebenso apodiktisch.
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Wie in diesem Fall müssen sich die Söhne dann allein auf die überforderten, dem destruktiven Verhalten ihrer Kinder gegenüber meist hilflosen Mütter verlassen und werden zwangsläufig enttäuscht. »In der Adoleszenz …, in der die Auseinandersetzung mit dem realen Vater so wichtig ist, fehlt dieser bzw. wird er als schwach erlebt oder wird er nach extremen Streitereien mit wechselseitigen Abwertungen und Hass fallengelassen«, stellt Anette Streeck-Fischer fest. Das Fehlen der Grenzen setzenden Instanz, die Gennrath schlicht für »gestorben« erklärt, verweist aber jenseits des Einzelfalls darauf, dass die soziale Kontrolle, der die Täter seitens ihrer Umwelt unterliegen und durch die sie sozial eingebunden bleiben, sich an entscheidenden Punkten zurückgezogen und bis zur Unmerklichkeit abgeschwächt hat. So wie sie von niemandem explizit aufgefordert wurden, Asylbewerber zu vertreiben, hat sie auch niemand direkt mit der Schwere ihrer Tat, die einem Mordversuch gleichkommt, konfrontiert. Ob sie überhaupt jemals klar und unmissverständlich gesagt bekamen, wo im Leben die Grenzen verlaufen, deren Überschreitung von der sozialen Gemeinschaft nicht mehr toleriert werden kann, ist fraglich. Grenzen waren gewiss immer da: Beide wissen sehr wohl, dass sie nicht das Unmögliche fordern können. Aber sie wissen nicht annähernd, wo diese Grenze verläuft. Die äußere soziale Kontrolle hat sich voreilig und bequem zugunsten der individuellen Selbstkontrolle, die sich noch gar nicht entwickelte, verabschiedet. In dieser eklatanten Mangelsituation, in der die Ausbildung verantwortlicher Individualität scheitert, haben Gewalthandlungen nicht primär mit dem Wunsch zur Erniedrigung und Vernichtung anderer zu tun, sondern mit dem narzisstischen Streben, die eigenen Fähigkeiten zu testen und Grenzen auszureizen. Bisweilen vergleichen jugendliche Gewalttäter ihr Vorgehen gegen Fremde und Schwache mit einem typischen Spaß der Erlebnisgesellschaft, dem riskanten, aber letztlich unschädlichen BungeeJumping. Sie realisieren nicht, dass im Ernstfall die extreme Dehnung des Seils, an dem sie sich in die Tiefe stürzen, andere strangulieren könnte. Sobald sie dies realisieren, als Folge der mörderischen Tat, suchen sie nach Rationalisierungen im angeblichen common sense, wonach Fremden und Schwachen Mitgefühl im allgemeinen nicht zukomme, weil sie »anders« sind und nicht »hierher« gehören – so wie sich das im jugoslawischen Bürgerkrieg erwiesen habe, dessen Verlauf die deutschen Täter übrigens wie ein Lehrstück mit großer Aufmerksamkeit verfolgen.
T ÄTER UND O PFER Beide Täter zeigten, nachdem sie erwischt worden waren, kaum Zeichen von Scham über ihr Tun. Das liegt zunächst auf der Linie der Strafverteidiger, die Tat zu bagatellisieren: Niemand sollte durch die »entflammbaren Wurfkörper« verletzt werden; beide bestreiten eine Absicht zur Brandstiftung; Sinn der Aktion sei allein gewesen, die Bewohner des Hauses zu er-
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schrecken. Frankenberg selbst spricht im Ermittlungsverfahren von einem »dummen Streich«. Weil sie die Schwere ihres Delikts gering einschätzen, zeigen Frankenberg und Gennrath auch keine Reue. Politiker haben diese schockierende Schamlosigkeit zum Anlass genommen, von einem sittlich-moralischen Verfall der gegenwärtigen Gesellschaft daherzureden und sich an den 68ern auszutoben. Die Gerichtsprotokolle und Interviewnotizen durchzieht ein anderer, leiserer Ton, dem zu entnehmen ist, dass die beiden Täter noch einen anderen Grund hatten, keine Scham zu empfinden: Sie selbst interpretieren ihre Tat allen Ernstes als moralische Handlung. Die beiden wussten genau, dass sie sich juristisch ins Unrecht gesetzt hatten, doch gleichzeitig fühlten sie sich moralisch überlegen. In Bezug auf Ausländer sagte Gennrath in der polizeilichen Vernehmung: »Man hört halt so allgemein Äußerungen wie: ›die nehmen uns die Arbeit weg‹ und ›die nehmen uns den Wohnraum weg‹.« Daraus schließen sie: Alle anderen Deutschen hätten auch etwas gegen die Ausländer, doch niemand würde sich trauen, etwas gegen sie zu unternehmen. Sie kritisierten die Feigheit ihrer Mitbürger, von denen sie sich doch geradezu beauftragt fühlten, endlich etwas gegen offensichtliche Missstände zu tun. Als Pfarrer Matthes, woran ihm persönlich sehr viel liegt, die Attentäter am Vorabend der Gerichtsverhandlung im Asylbewerberheim mit den potentiellen Opfern konfrontiert, empfinden sie das als pure Heuchelei. Drinnen im Heim entschuldigen sie sich, wie gewünscht, vor versammelter Mannschaft, aber sie betonen zugleich ehrlich, ihre Einstellung zu Ausländern nicht geändert zu haben und dafür auch künftig keinen Anlass zu sehen. Diese moralische Sturheit trifft man bei vielen Tätern gleichen Typs an. Selbst nach mehrwöchigen Aufenthalten in der Türkei, wohin einige soziale Trainingskurse und Ferienfreizeiten für rechte Jugendliche verlegt wurden, hat kaum ein Teilnehmer von seinen Aversionen abgelassen. Die Täter von Geringshausen schämten sich weniger für ihre Tat als für die Inszenierung des Täter-Opfer-Ausgleichs, von dem sie inständig hofften, dass er nicht publik gemacht würde. Auch die Versuche kurdischer Jugendlicher, Wochen nach der Tat mit ihnen in einer Disco ins Gespräch zu kommen, empfanden sie als abwegig: mit jemandem, der ihnen das Haus über dem Kopf anzünden wolle, könne man doch aufrichtigerweise nicht das Gespräch suchen.
V ER - RÜCK TE M OR AL Erst nach mehreren vergeblichen Anläufen, fast ein Jahr nach dem Prozess, gab es ein Gespräch mit Gennrath, während sich Frankenberg dem beharrlich verweigerte. Wir hatten diese geringe Bereitschaft der beiden jungen Männer, die von der Richterin als ein generelles Merkmal der Tätergruppe bezeichnet wurde, zunächst als eine methodische Schwierigkeit der »Datenerhebung« aufgefasst und erst später verstanden, dass auch dieses Detail noch auf eine moralische Orientierung verweist. Mehrmals
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machten sich die Täter über ihre Eltern – und allgemein über die Elterngeneration – in dem Sinn lustig, dass diese nur immerzu redeten. Die Eltern würden auf sie einreden, die Lehrer würden auf sie einreden, auch die Vorgesetzten würden auf sie einreden, überhaupt alle würden immer nur reden. Die beiden kritisierten sogar scharf die unverbindlichen Drohungen, denen keine Strafen folgten, die fortwährenden Belehrungen und Ansprüche, für die niemand einstehe. In der Kritik der beiden erscheinen die 40- bis 50-Jährigen, also wir, als eine maßlos diskursiv-geschwätzige Generation, die Probleme ·nicht anpackt, sondern: beredet, ja, die vor lauter Reden nicht zum Leben findet. Sie selbst dagegen, so argumentierten die beiden, hätten nun gehandelt und so mit dem endlosen Gerede aufgehört, und dieser Schritt, in der ausländerfeindlichen Aktion die eigene physische Existenz aufs Spiel zu setzen, war für sie – ein moralischer Akt par excellence. Rechte Gewalttäter halten sich bei der Bewertung ihrer seIbst und ihrer Umwelt in der Regel an dieselben Kriterien, die ihren Mitbürgern als selbstverständlich und gewöhnlich erscheinen. Wie sie zum Beispiel das Verhalten von »Kameraden« beurteilen (und es säuberlich von der geringeren Verlässlichkeit von »Freunden« und »Bekannten« unterscheiden), wie sie Gruppensolidarität, Familienbande, Dorfgemeinschaft, Lehrerverhalten und nicht zuletzt Leistungsdenken und nationale Solidaritätspflichten ansehen, unterscheidet sich wenig von den Werthierarchien und Koordinaten »normaler« Menschen ohne gewalttätige Anwandlungen. In manchen Fällen spürt man bei ihnen sogar eine besonders ausgeprägte Sensibilität für vermeintliche oder tatsächliche Heuchelei und doppelte Moral, für Ungerechtigkeiten und Skrupellosigkeiten. Ebenso wenig wie den Gewalttätern jegliche Ratio abgeht, mangelt es ihnen also gänzlich an Moralität. Ihre »Asozialität« besteht nicht in einer durchgängigen Desensibilisierung, sondern darin, dass es in einer ansonsten durchaus intakten Kette moralischer Überzeugungen zu »fatalen Aussetzern« kommt. Solche Aussetzer kennt jeder: Wir lügen bei Gelegenheit, halten Versprechen nicht ein, vergessen unsere Pflichten und unterlassen Hilfeleistungen. Das unterhöhlt unseren Moralkodex aber nicht so stark, dass wir uns bei der Bewertung einzelner Leute oder Handlungen nurmehr zynisch verhalten könnten. Die Fähigkeit zu moralisch konsistentem Verhalten kommt nicht aus ohne die Fähigkeit, in bestimmten Situationen unter pragmatischen Gesichtspunkten Moral Moral sein zu lassen. Doch diese situative Selektivität der Moral muss eingebettet sein in eine übergreifende Meta-Moral, die regelt, wann und bis zu welchem Grad die moralischen Selbstbindungen zu lockern sind. Was also »fehlt« den beiden Tätern an moralischer Grundausstattung, die Menschen normalerweise daran hindert, anderer Leute Häuser anzuzünden und sie womöglich bei lebendigem Leib zu verbrennen? Was ist es, das diese jungen Männer zu potentiellen Mördern werden ließ? Die einzelnen Glieder ihrer moralischen Weltsicht – Gleichaltrige, Familie, Arbeitswelt, Nation betreffend – sind relativ intakt, doch nicht mitein-
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ander verbunden. »Moral« ist in einzelne Teile zerfallen, die von ihrem Träger nicht mehr zusammengesetzt werden können. Was fehlt, ist also die Fähigkeit, die separierten Stücke der moralischen Weltsicht zu überbrücken und zusammenzufügen. Die missing links werden durch absurde, oftmals geradezu wahnhafte Theorien ersetzt. So behauptete der im Übrigen nicht schlecht informierte Gennrath, die Teilnehmer an den Lichterketten seien überwiegend Ausländer gewesen, und wo dies nicht der Fall war, hätten die Deutschen mit ihren Lichtern dem Feuer der Brandstifter beigepflichtet. Dies ist nicht der einzige Fall von eklatanter Wirklichkeitsverkennung, die nichts mit fehlender Intelligenz oder bodenloser Dummheit zu tun hat. Damit, dass die Leute im Dorf mit Ablehnung auf ihre Tat reagieren würden, hatten sie offenbar nicht im Traum gerechnet, und trotz des Vorfalls in Hünxe verschlossen sie die Augen vor der Möglichkeit, dass aus einem kindlichen »Schreckeinjagen« im Nu ein brutaler Mord werden könnte. Diese bis an die Grenze des Normalen reichenden Wahrnehmungsverzerrungen sind nicht zuletzt in der Struktur der moralischen Kommunikation selbst begründet. Wer moralisiert, übertreibt, um das eigene moralische Engagement zu legitimieren. Moralische Vorwürfe leben von überzogenen Verallgemeinerungen (»Nie räumst du deine Wäsche weg«), Klatschgespräche sind gespickt mit ungerechten, auf die ganze Person zielenden Typisierungen (»Das ist doch ein totaler Fiesling«). Aber Übertreibungen dieser Art bleiben punktuell, sie sind den Beteiligten als situative Übertreibungen erkennbar. Anders ist es dort, wo sich eine Gruppe zur Dauerempörung zusammenfindet. Sie unterliegt der großen Gefahr, die Übertreibung nicht mehr als eine subjektive Konstruktionsleistung zu erkennen, sondern als eine objektive, realistische Beschreibung zu verkennen. Wird aber die skandalisierende Übertreibung als gesichertes Faktum hingenommen, treibt das die Empörung ins Extrem, dessen Dissonanzen zu nochmals gesteigerten Übertreibungen führen. Gruppen, die von Dauerempörung leben, landen leicht bei vollkommen irrealen Wirklichkeitskonstruktionen, die mit absurden Theorien gestützt werden. Hat sich die Moral erst einmal in dieser Weise aufgespalten und in voneinander getrennten Zonen eingerichtet, entsteht eine Situation, in der die großgeschriebene, früher noch religiös imprägnierte Moral nihilistisch geopfert wird und ein trivialisierter Relativismus hervortritt. Kollektive Verbindlichkeiten werden negiert, während zugleich kleingeschriebene Teil- und Milieumoralen um sich greifen und mit absurden Theoriestücken intern und extern stimmig gemacht werden. In diesem disparaten Kontext moralischer Verwirrung gedeiht auch der Ehrenkodex der rechten Szene, einer »Randgruppe mit Stolz«, die sich ihre subkulturellen Nischen mit hohem Moralisierungsaufwand freikämpft.
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D ER S KIN UND DER K OMMISSAR Doch der Zerfallsprozess der Moral setzt sich an den entstandenen Teilmoralen fort. Auch eine deftige Männerkameradschaft ist alles andere als unverbrüchlich. Frankenberg und Gennrath, die sich seit der Grundschulzeit kennen und angeben, seit zwei Jahren eng miteinander befreundet zu sein, haben sich bei der Polizei und vor Gericht gegenseitig in die Pfanne zu hauen versucht. Im Vernehmungszimmer und vor dem Kadi (ausgerechnet eine Richterin!) ist es aus mit der doitschen Treue. Beim Verhör sagt Frankenberg, die Sache sei ein »dummer Streich« gewesen, zu dem ihn der Gennrath überredet habe. Dieser beharrt, beide hätten sich die Sache von Beginn an gemeinsam ausgedacht und ausgeführt. Als er merkt, dass der Kamerad falsch spielt, unterschiebt er ihm ein ausgewachsenes Schurkenstück – er redet davon, dass sein Portemonnaie auf mysteriöse Weise in den Vorgarten neben dem Asylbewerberheim geraten sei, was wohl nur durch Verrat erklärt werden könne. Zu einem Treffen mit uns in einer Pizzeria hat sich Gennrath schon einen neuen »Kameraden« mitgebracht. An entscheidenden Stellen fragt er ihn, ob »das so stimmt«, und auch, ob man sich wieder verabreden dürfe. Der Begleiter, ein schmächtiger junger Mann, der neben dem bulligen Skin wie ein Hänfling wirkt, ist deutlich der Stärkere. Die ganze Zeit beobachtet er uns mit verächtlicher Miene, manchmal stößt er einen Seufzer über so viel linken Unverstand aus. Aber ihn macht auch die Naivität seines Kameraden nervös. Er ist der Aufpasser, eine »Bewährungshilfe« von der anderen Seite. Gennrath, der Täter und Märtyrer, zieht keine Bewunderung auf sich. Wer erwartet hat, die Gewalttäter seien nach ihren Anschlägen die local heroes ihrer Szene geworden, irrt sich wohl. Sie stehen vielmehr unter strenger Kuratel, hier unter der Fuchtel eines Angebers mit Parteibuch, dem wegen Zugehörigkeit zu einer rechtsextremistischen Organisation der Dienst bei der Bundeswehr verboten worden ist (dem verurteilten Gennrath nicht). Kamerad X gibt sich auf Nachfrage als Mitglied »der Partei« zu erkennen, worunter er unter anderem die NF, die nach dem Möllner Anschlag verbotene »Nationalistische Front« aufzählt. Jetzt sei er einstweilen in keiner Partei – und eine Art Wachhund und Über-Ich von Gennrath. Er ist der Chef und Pionier. Der Wessi arbeitet neuerdings bei einer KFZ-Zulassungsstelle in »Mitteldeutschland« – »da bekommt man nicht immer die Schnauze voll, sondern kann auch mal selber austeilen«, beschreibt er sein neues Betätigungsfeld. Der stramme, eiskalt wirkende Scheiteltyp hat für Gennrath die Rolle des Polit-Kommissars übernommen. Gleich bei unserem (leicht verspäteten) Erscheinen sagt er spitz: »Wir waren pünktlich!« Überhaupt sind die beiden reizend gut erzogen: Sie warten brav mit ihrer Zigarette, bis alle aufgegessen haben. Wir sind geradezu erleichtert, als Gennrath zwischendurch mit einem verbalen Rülpser – »Ich hab nicht so viel Zeit, ich muss noch meine Frau besteigen« – den brutalen Macker heraushängen lässt. Dem Kommissar ist Gennraths devotes Gerede nicht stramm genug, viel
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zu unpolitisch. Einer müsse mal das Übel an der Wurzel packen, meint er, und bezeichnet sich und seinesgleichen als »Deutschlands rechte Polizei«, die Bonn noch auf den richtigen Weg bringen werde. »Es geht ja voran«, spielt er auf den Asylkompromiss der Bonner Parteien an, der gerade in der Mache ist. »Wir heizen dem Kohl ein.« Und beim nächsten Mal? »Machen wir es anders und klüger.« Er wirft einen zweifelnden Blick auf seinen Nachbarn. Und der wiederholt ganz unvermittelt, nachdem er eben noch fast kläglich gejammert hat, er habe Schiss vor der Bewährung und noch mal U-Haft oder gar Knast, den Satz aus dem Polizeiverhör: Verluste müssen in Kauf genommen werden. Und lächelt, sozusagen zur Erinnerung, womit wir es hier zu tun haben, in sich hinein.
L ANGE WEILE IN DER E RLEBNISGESELLSCHAF T Dass wir Gennrath auf seinen Alkoholkonsum ansprechen, ist ihm unangenehm. Er beginnt, sich zu rechtfertigen: Der Suff hänge auch damit zusammen, dass er nachmittags nichts mit sich anzufangen wisse und Langeweile habe. Fernsehen sei nichts für ihn, es müsse richtig was los sein – und hier sei eben nicht viel los. In diesem Kaff? Nein, Harmsheim findet er schwer in Ordnung. Wie also die Zeit totschlagen? Langeweile als Gewaltmotiv war auch in krasseren Fällen anzutreffen. Als in SachsenAnhalt, in der Nähe von Halle, junge Männer in eine Unterkunft von Ausländern eindrangen, gesellten sich zwei erlebnishungrige junge Mädchen zu ihnen. Sogar der versuchten Vergewaltigung zweier vietnamesischer Frauen, die sich nur mit knapper Mühe retten konnten, wohnten sie ohne Bedenken bei. »Endlich war mal was los«, gaben die beiden 14-Jährigen zur Begründung an. Niemals ist in Halle und Umgebung so viel passiert wie seit 1989, und auch im Leben der Schülerinnen dürften ganz erhebliche Veränderungen eingetreten sein. Es gibt unendlich viel zu tun. Aber ihre Wahrnehmung ist anders. Auch die Männer-Gruppe am Kreuz empfand oft große Langeweile. Die Zusammenkünfte dort oder auf einem großen, asphaltierten Parkplatz vor dem Gemeinschaftshaus verjagten nicht das bleierne Gefühl. Nicht, dass die Gemeinde keine Zerstreuungen für ihren Nachwuchs organisiert hätte. Ab vier Uhr nachmittags ist ein Jugendtreff geöffnet, den die Benutzer, überwiegend Jungen, in eigener Regie renoviert haben. Seit 1989 gibt es in Harmsheim einen bezahlten Jugendpfleger. Überdies bieten die lokalen Sportvereine die landesüblichen Leibesübungen an, vor allem Fußball, Handball und Motocross. Frankenberg ist aktiver Fußballfan. Er gehört aber nicht zu den Sportskanonen, die von Klassenhöheren und finanzstärkeren Vereinen der Umgebung abgeworben werden. Ein wichtiger Teil jugendlicher Geselligkeit ist traditionsbewusst und selbstorganisiert: Frohsinn & Immergrün heißen die Burschenschaften, die zusammen rund 80 junge Männer stark sind. Außerdem gibt es die Kirmesburschen, die die lokalen Kirmesfeste ausrichten. Sie tagen in Knei-
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pen wie der Germania, veranstalten Grillfeste und Frühschoppen und machen einen Stand am Weihnachtsmarkt. Es gibt ordentliche Vorstände, geschriebene Satzungen und regelrechte Mitgliederversammlungen. Die um die Jahrhundertwende gegründeten Burschenschaften haben nichts mit den studentischen Verbindungszirkeln gleichen Namens zu tun. Gerade die nach Höherem strebende akademische Jugend hält sich von dieser bodenständigen und trinkfreudigen Tradition fern. Doch für die anderen bestimmen die Burschenschaften immer noch das Leben zwischen Konfirmation und Hochzeit maßgeblich, zumal es den sonst üblichen Schützenverein hier nicht mehr gibt. Auch für Frankenberg und Gennrath bedeutete die Burschenschaft viel, und sie hoffen darauf, dass ihr Ausschluss – nach einer Schamfrist – wieder rückgängig gemacht wird. Doch all diese Angebote genügten nicht, das Bedürfnis der beiden nach »action« zu befriedigen. Die einigermaßen unumgängliche Zugehörigkeit zur Freiwilligen Feuerwehr genügt da nicht. Der Naturschutzund Wanderverein, der örtliche, für die meisten zu schicke oder zu teure Tennis- oder Reitverein oder der Deutsch-Französische Verein, der sich der regen und reiseintensiven Kontaktpflege mit einer Partnerstadt bei Avignon verschrieben hat, sind Betätigungsfelder für die späten Jahre. Für die Gruppe am Kreuz dagegen muss sich echt was rühren, muss wirklich was los sein. Unter »action« versteht Erving Goffman Handlungen, die folgenreich und ungewiss sind und um ihrer selbst willen unternommen werden. Glücksspiele, Wettkämpfe, Autorennen sind einige der geläufigen Formen, in denen sich das Bedürfnis nach »action« realisieren kann. In welcher Spielart auch immer jemand das Risiko sucht, es kommt für ihn alles darauf an, angesichts plötzlichen Drucks und großer Ungewissheit korrekt und standhaft zu bleiben, »Charakter« zu zeigen. »Action« scheint in unserer westlichen Kultur zum Kult der Maskulinität zu gehören. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass im Hintergrund der Tat von Frankenberg und Gennrath auch die Suche nach »action« und Bewährung in riskanten Situationen stand. Ihre Blindheit für die möglichen Folgen ihres Tuns verweist jedenfalls darauf, dass sie die Aktion auch um ihrer selbst willen, also als »action« unternahmen.
D IE H EIMAT UND DIE F REMDEN »Das waren keine Riederwälder!« lautet der spontane Kommentar des Bürgermeisters, als er telefonisch über den Anschlag informiert wird. Am nächsten Morgen bereits ist er eines Besseren belehrt. Auch der Ersatzgedanke, die Täter könnten keine guten Riederwälder gewesen sein, hält nicht lange. Frankenberg und Gennrath fühlen sich wohl am unteren Felskopf, dem Hausberg, der mit seiner Burgruine die Riederwälder Ortsteile beherrscht. Sie sind heimatverbundene Lokalpatrioten und denken nicht im Traum daran, von hier fortzugehen. Auch die Kirmesburschen
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hatten nicht gedacht, »dass welche von uns so etwas tun würden«. Die Kunde, dass es sich bei den Brandstiftern um den jungen Gennrath aus Harmsheim und den jungen Frankenberg aus Riedrich gehandelt habe, verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Ein Dorf empört sich. In der Harmsheimer Straße 37 versammeln sich über drei Wochen hinweg Gemeindemitglieder zu Nachtwachen mit den Kurden. »Tolle Gespräche« seien da zustande gekommen. Auch wenn diese parteiübergreifende Solidarität, die privaten Klüngel und politischen Fraktionen nicht hat durchmischen können. Auch die Nachbarn schauen vorbei und verwerfen die Tat: »Die Kurden haben doch niemandem etwas getan.« Reporter kommen und schnüffeln herum, es erscheinen schlecht recherchierte Berichte. Der Ruf von Riederwald droht Schaden zu nehmen. Die Verurteilung der Tat ist also ziemlich einhellig. Aber die Brandstifter haben Signale aus ihrer heimischen Umgebung empfangen, viele versteckte Aufmunterungen und nur diffuse Entmutigungen, auch nach dem Anschlag. Aus den Gesprächen zu Hause, in den Läden und Gaststätten wussten sie, dass die Einrichtung des Asylbewerberheims nicht gut gelitten war. Sie hörten die Milchmädchenrechnungen der Bewohner, wonach jede Mark, die für die »Asylanten« draufging, uns, den Einheimischen fehle. Vor allem sahen sie die bitteren Gesichter, wenn solche Sätze fielen. Sie spürten die Entschlossenheit der Unterschriftenaktion gegen die Unterkunft und die Ressentiments, die dahinter lauerten – auch gegen die Befürworter der Flüchtlinge im Dorf und später gegen die Nachtwachen, die leicht als Nestbeschmutzung aufgefasst wurden. Eine schwelende Wut schien sich ein Ventil zu suchen. Entmutigt wurden sie weniger. Niemand scherte sich um ihr Äußeres, auch nicht die Mütter, die das horrende Outfit ihrer Söhne – Gennraths Körper ist mit Tätowierungen übersät – als eine jugendliche Marotte abtaten. Keiner fragte sie, was die Jungen im Sinn hatten, warum sie soviel tranken, was sie von den Fremden hielten und wie sie mit den neuen Zeiten zurecht kamen. So lebten sie in den Tag, in einen deutschen Herbst hinein, in dem sich mühsam gezügelter Hass und erlebnisgeiler Unernst zu einem brisanten Gemisch verdichteten. Die Balkenüberschriften der Boulevardpresse, die oberflächliche Thematisierung der vermeintlichen Fremden-Invasion im Fernsehen und nicht zuletzt die lässlichen Redensarten Bonner und lokaler Politiker bestärken die Täter in ihrem Gefühl, »etwas« tun zu sollen und dabei auf Unterstützung rechnen zu dürfen. Rechte Gewalttäter verüben ihre Taten, wie es im Kriminaljargon heißt, in der Regel »im engeren Umfeld«, also zumeist in der eigenen (ländlichen) Gemeinde oder ihrer unmittelbaren Umgebung. Frankenberg und Gennrath haben sich zwar nicht das nächstliegende Asylbewerberheim in Harmsheim selbst ausgesucht, in dem zunächst deutschstämmige Aussiedler untergebracht waren. Aber sie sind nur ein Dorf weiter aktiv geworden, wo sie ebenfalls gut bekannt sind und ihr Festplatz liegt. Diese »Heimatverbundenheit« unterscheidet sie von den anonymen Desperados der Linken, die aus dem Untergrund heraus Staat und Schwei-
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nesystem kaputtbomben wollten – und sich selbst ins Bewusstsein eines Volkes, das ihnen jegliche Gefolgschaft verweigerte und nur marginale Sympathie schenkte. Die Glatzköpfe der Rechten fühlen sich dagegen fast wie »Fische im Wasser«. Ihre Taten sollen im gestörten heimischen Milieu wirken, und sie selbst möchten damit unverbrüchlich Teil ihrer Gemeinschaft bleiben. Die Beziehungsstörung folgt erst nach der Tat, sie ist ihr nicht vorausgegangen. Gefragt, ob er alle Ausländer hasse, verneint Gennrath ganz entschieden. Es geht ihm erstens um solche, die »nix schaffen«, speziell um solche, die in seinem Alter sind. Genau in dem Moment tritt Tonio ein, ein Wirt des benachbarten Bistro, auch einer beliebten Kneipe der Jugendlichen in Harmsheim. Wie er den finde? Der sei »total in Ordnung«, meint er treuherzig und begrüßt ihn wie einen guten alten Bekannten. Auch der italienische Kellner der Pizzeria, der uns mit Gleichmut bedient und ein »Weizen« nach dem anderen bringen muss, geht ohne Beanstandung durch. Welche Ausländer sind dann also Objekt des Hasses? »Alle zwischen 14 und 25«, schlägt Gennrath vor. Tonio, der am Nachbartisch mit seiner blonden deutschen Freundin tafelt, wird von uns nach seinem Alter gefragt. Er ist 23. Also wieder Pech – eine Welt voller kognitiver Dissonanzen. Gennrath ist in einiger Verlegenheit und verlegt sich mit seinem haltlosen Ressentiment schließlich auf »Kriminelle und Scheinasylanten«. Und was die kosten, könne man jedes Mal auf dem Lohnzettel feststellen. Später stellt er sie, als bedrohliche Störenfriede, mit den Türken auf eine Stufe, die er in der Fußgängerzone der Stadt oder auf dem Schulweg trifft. Mit denen habe es »ständig Randale« gegeben. Er möchte uns endlich die Augen öffnen über die wirklichen Zustände in Deutschland.
H EIMSUCHUNG – ZUR D IALEK TIK DER A NSTIF TUNG Verfolgt man die »Spirale der Gewalt« von den Einzeltätern über ihre Szene und die schweigende Mehrheit der Stammtische bis zu den angeblichen Bonner »Skins im Nadelstreifenanzug« und vermeintlichen »Schreibtischtätern«, so lassen sich in der öffentlichen Debatte zwei Beziehungsmuster ausmachen, die jeweils eine Kausalkette insinuieren: das Muster der Provokation, wonach sich die etablierte Exekutive zur Novellierung des Asylrechts von rechten Provos unter Druck setzen ließ, und das umgekehrte Muster der Delegation, nach dem die Streetfighter als fremdgesteuerte Akteure exekutieren, was der gemeine Mann oder »Bonn« anstreben, aber in eigener Regie nicht verwirklichen können, nämlich ein Programm ethnischer Säuberung in Deutschland. Einmal gelten Skins als Antreiber des Volkswillens, das andere Mal als seine Vollstrecker. So kurzschlüssige Verschwörungs- und Manipulationstheorien werden der Komplexität sozialen Handelns nicht gerecht. Provokation und Delegation bei jugendlichen Gewalttätern müssen als vermittelte Prozesse angesehen werden. Diese Dialektik hat eine alte
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Tradition, auf die uns dankenswerterweise eine Formulierung unseres historisch gebildeten Kanzlers gebracht hat. Die Mordbrennerei von Solingen bezeichnete er in der Tagesschau vom 2. Juni 1993 als »wieder eine schreckliche Heimsuchung«. Dieses Bild war von Helmut Kohl wohl eher biblisch gemeint, in der Weise, dass Gott den Ungläubigen und Verzagten eine Plage herabschickt und sie auf die Probe stellt. In volkskundlichen Untersuchungen (und für unseren Zusammenhang ganz einschlägig) wird »Heimsuchung« als »Eindringen in Haus und Hof mit bewaffneter Hand in böswilliger Absicht« definiert. Es handelt sich dabei um einen jahrhundertelang praktizierten Vergeltungs- oder Rügebrauch, der in der Volkskunde als Charivari, Katzenmusik oder »rough music« bekannt ist. Inhaltlich geht es immer darum, dass die moralische oder sittliche Verfehlung eines einzelnen durch die soziale Gemeinschaft missbilligt wird und der Betroffene diese Missbilligung durch die jungen Männer des Dorfes über eine Reihe symbolischer Akte oder realer Schädigungen auf recht drastische Weise erfährt. Die jungen Männer verhelfen also dem Volkswillen, der nie offen artikuliert wurde, zur Geltung. Die Attacke von Gennrath und Frankenberg auf das Asylbewerberheim hat unverkennbar gewisse Elemente mit solchen Rügebräuchen gemeinsam: die moralische Entrüstung über einen »Gast, der heute kommt und morgen bleibt« (Georg Simmel); das vorgetragene Motiv, den Fremden einen Schrecken einzujagen; das Gefühl, von der sozialen Gemeinschaft aufgefordert und gedeckt zu sein. Doch könnten sich die beiden zur Rechtfertigung ihrer Tat nicht einfach auf die Tradition eines Brauchs berufen. Gerade die Rügebräuche im traditionellen Sinn sind in einer mehr und mehr verrechtlichten Gesellschaft weitgehend ausgestorben oder nur mehr als Schwundformen präsent. Wie die neuere Volkskunde gezeigt hat, sind sie fast nur noch im Rahmen von Fasnachtsveranstaltungen, also rituell entschärft, lebendig. Außerhalb dieses Rahmens ist die Tradition der Rügebräuche zu Ende. Aber Frankenberg und Gennrath handelten so, als würden sie an diese Tradition anknüpfen. Wie ist das zu erklären? Der Ethnologe Lloyd Peters hat das entsprechende Verhalten einer Gruppe junger Männer in einem walisischen Dorf der sechziger Jahre zu interpretieren versucht. Die jungen Männer hingen den Abend und die Wochenenden über in einer Autowerkstatt herum, tranken Alkohol, rauchten, redeten, quatschten Mädchen an und fielen dadurch auf, dass sie einzelnen Mitgliedern der Dorfgemeinschaft, die moralische Regeln verletzt hatten, mehr oder weniger übel mitspielten. Peters argumentiert nun, dass das Alter der Gruppenmitglieder, die in der Regel zwischen 20 und 29 Jahre alt waren, insofern eine zentrale Rolle spielte, als diese jungen Männer, selbst wenn sie bereits über 30 waren, im Dorf immer noch als Burschen oder Knaben (›lads‹) galten – Bezeichnungen, mit denen sich die Vorstellung von Unschuld verband. Diese Kategorisierungen machten es möglich, die Akteure ihrem kulturellen Alter nach weit unter ihrem biologischen Alter einzustufen, mit der Konsequenz, sie für nicht (voll) verantwortlich zu erklären und ihre Taten als bloße dumme ›Jungen‹-
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Streiche abzutun. Da aber diese Streiche ein sehr intimes Wissen über moralische Verfehlungen einzelner Dorfbewohner voraussetzten, mussten die jungen Männer von den übrigen Bewohnern mit Informationen gefüttert worden sein. Peter schließt daraus: Wenn die Gruppe zur Tat schritt, tat sie das in strikter Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung des Dorfes. Indem die »Erwachsenen« die Verantwortung an eine Gruppe von Burschen weiterleiteten, die nicht als (voll) verantwortlich für ihre Taten galten, schafften sie es, ihre eigene Integrität zu wahren. Junge Männer sind somit aus strukturellen Gründen prädestiniert für die stellvertretende Erledigung von Aufgaben, die die Integrität der Erwachsenen bedrohen: Sie sind als Männer – nach der traditionellen Rollenverteilung der Geschlechter – auf »action« orientiert, und sie lassen aufgrund ihres Alters die Möglichkeit offen, von den Erwachsenen nicht für ihre Taten verantwortlich gemacht zu werden. Es geht dabei also um einen unausgesprochenen Handel zwischen den Jungmännern und den Erwachsenen: Erledige du für mich diese Sache, dann sorgen wir dafür, dass du für dein Tun nicht belangt wirst. So betrachtet, verwundert es nicht, dass Frankenberg und Gennrath sich selbst weniger als Täter denn als Opfer einer unverdienten Isolation und Stigmatisierung wähnten. Für die Tradition der Vergeltungs- und Rügebräuche war diese wechselseitige soziale Bindung konstitutiv. Doch diese Tradition ist heute – auch im dörflichen Leben – nicht mehr lebendig. Damit aber sind alle diejenigen nicht mehr durch den Verhaltenskanon des Brauchs gebunden, die ihre moralische Entrüstung und Empörung über einen Mitmenschen direkt zum Ausdruck bringen wollen. Die Kommunikation von Rüge und Vergeltung, die keine durch Brauch und Tradition vermittelten Formen und Beschränkungen mehr kennt, kann eskalieren. Jetzt fliegen Brandbomben, es brennt – und die Täter wollen das ganze noch immer als symbolische Handlung verstanden wissen.
R ECHTSE X TREMISMUS – DIE NEUESTE SOZIALE B E WEGUNG? Die Befunde unseres Einzelfalles decken sich weitgehend mit den Ergebnissen einer repräsentativ angelegten Studie, die im Auftrag der Bundesjugendministerin entstanden ist. Die Auswertung der Gerichts- und Ermittlungsakten von über 1400 Fällen belegt die Jugendlichkeit der (fast ausschließlich männlichen) Täter, von denen nur acht Prozent älter als 25 und drei Prozent sogar unter 15 Jahre alt waren. Mädchen und »Reenies« kommen vor allem in ihrer klassischen Helferinnen-Rolle zum Zuge. Fast alle Tatverdächtigen stammen aus der unmittelbaren oder näheren Umgebung der Opfer – kaum einer begibt sich als »reisender Krawallmacher« über weite Strecken in unbekanntes Terrain. Die größte Gruppe (rund 40 Prozent) gehört der Skinhead-Szene an, ein Viertel macht in rechtsextremen und nazistischen Parteien und Gruppen mit, was in den wenigsten Fällen disziplinierte und kontinuierliche Parteiarbeit bedeutet.
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Die meisten haben niedrige formale Bildungsabschlüsse (überwiegend Hauptschule), aber die wenigsten waren zur Tatzeit arbeitslos. Auch die als erste Ursache vermutete »Asozialität« ist nur bei sehr wenigen feststellbar. Die meisten aktenkundig gewordenen Fälle sind Auszubildende und Facharbeiter, Schüler und Wehrpflichtige, die sich am Wochenende und nach Feierabend in ihrer Nachbarschaft betätigten und auf Befragen »als Avantgarde einer breiteren Bewegung« ansehen. Familienkatastrophen, durch problematische Trennung der Eltern oder Alleinerziehung indiziert, sind bei den Tätern nicht überproportional anzutreffen. Die von den Autoren vertretene, gegen ein vermeintliches Rollback gerichtete These, »antiautoritäre Strukturen« (und nicht pseudo-liberales Laissez-faire) seien der ausschlaggebende Erziehungsstil gewesen, lässt sich mit reiner Aktenauswertung kaum schlüssig belegen; so müssen die Verfasser auch den Umstand der »Verwahrlosung« in Rechnung stellen, die weniger antiautoritären Experimenten als »kalter« oder gänzlich fehlender Erziehung geschuldet sein dürfte. Weder Einzeltäter noch organisierte Gruppen – dieser breit belegte Befund stellt noch einmal die Frage nach dem sozialen Handlungsmuster, das der Mordbrennerei zugrunde liegt, die seit Jahren von den ostdeutschen Banlieues über die westdeutschen Dörfer in die Metropolen grassiert. Zu fragen ist also nach dem kollektiven Akteur, zu dem nicht allein die aktiven Gewalttäter, sondern auch ihre Inspirateure, Claqueure und klammheimlichen Unterstützer zählen. Die Frage nach dem kollektiven Akteur ist soziologiegeschichtlich die nach der »socialen Bewegung«, Proteste, Aufstände, Rebellionen werden in dieser Tradition vornehmlich von links unten gedacht als Befreiung von ungerechter Herrschaft und Vorwegnahme besserer Zustände. In dieses Schema passt der rechte Massenprotest ursprünglich nicht. Doch hat auch die konservative und faschistische Reaktion nolens volens Bewegungsform angenommen, gerade, wo sie sich namens der alten Ordnung oder einer konservativen Revolution sozialem Wandel und politischer Umwälzung entgegenstemmte. Erst recht gilt dies in der heutigen »Bewegungsgesellschaft«, in die sich auch rechtsextreme Führer- und Kaderparteien »hineinsozialisieren« müssen. Verfassungsschützer wissen ein Lied davon zu singen, wie sehr sich die lose vernetzte rechte Szene nach dem Exempel der neuen sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre enthierarchisiert und dezentralisiert hat – und wie sehr sie zugleich doch, anders als ihre negativen Vorbilder, im Alltagsbewusstsein »der Leute« verankert ist. Die rechte Szene agiert weithin ohne Leader, ohne Programm, ohne Meinungsführer und ohne Zentrale, aber doch nicht ziel- und richtungslos und auch nicht ohne gemeinsames Bewusstsein. Sie ist nicht mehr extreme Partei, aber doch mehr als episodische Gewalt – ein Spezialfall sozialer Bewegung also, nämlich eine Anti-Bewegungs-Bewegung. Sie mobilisiert rechte »Postmaterialisten«, die von sich meinen, im allgemeinen Gefühl geglückten kulturellen Umbruchs zu kurz gekommen zu sein. Als Verteidiger der überfremdeten Nation passen auch sie ins
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Bild einer auf Identitätsfragen orientierten Bewegungsgesellschaft. Diese Strömung reicht von den militanten, locker organisierten Gelegenheitsaktivisten der Straße und den ideologisch formierten, straffer geführten NSZirkeln über die legalen politischen Anti-Immigrations-Parteien (Reps, DVU, NPD) und die breit gestreuten Vereine und Lesezirkel bis zum nur vage demoskopisch zu ermessenden Sympathisantenstamm im Reservoir der großen Volksparteien sowie in der rasant anwachsenden »Partei der Nichtwähler«. Verbunden sind sie durch kollektive Deutungsmuster der sozialen Wirklichkeit, deren gemeinsamer Nenner und Stabilisator ein defensiver ethnischer Nationalismus, aber auch die konfrontative Interaktion mit dem »ökopazifistisch« getönten Zeitgeist ist. Dieser bestimmt durchaus noch das herrschende Klima im »Bewegungssektor« zwischen Staatsparteien und Alltagsbewusstsein. Die zur verbalen und physischen Gewalt tendierende Bewegung plebejischer Jungmänner steht in scharfem Kontrast zu der Szene, die sie zu beerben und abzulösen trachtet: zu der nicht nur am Rande von weiblichen Werten und Akteuren getragenen, explizit gewaltfreien und akademisierten Öko-Pax-Bewegung. Von dieser übernimmt sie die Virulenz der »Identitätsfrage«, die Nutzung der Massenmedien als Mittel der Erzwingung öffentlicher Aufmerksamkeit und die Ablösung sozialstruktureller durch kulturelle und altersspezifische Milieubildung. Je mehr sich die nonkonformistischen Außenseiter nach 1968 institutionalisierten – vor allem in Gestalt der Grünen, aber auch innerhalb der großen Parteien bis hin zum »Feminismus der CDU« (Barbara Sichtermann) – und nicht unwesentlich zum guten Ton der Republik beitrugen, erwuchs eine konformistische Rebellion der Jungen, die sich im Klima einer generellen Stigmatisierung der deutsch-nationalen Rechten auf die verkappte Unterstützung der »kleinen Leute« verlassen und auch auf Opportunisten aller Niveaus rechnen darf, aber (bislang) der intellektuellen Fürsprache weitgehend entraten kann. »Konforme Rebellen« nennen wir sie, weil sie sich nicht avantgardistisch vom Werterepertoire des Mainstreams abheben, sondern seine Geltung wieder mit Macht herbeiführen wollen – gegen die multikulturelle Unübersichtlichkeit und die sozialen Anomien einer kraftlos gewordenen Konsumgesellschaft. Selbst die scheinbar so abstoßende und ausgestoßene Subkultur der rechten Skinheads, die die meisten Deutschen auf Befragen noch weniger leiden können als Zigeuner, Türken oder Asoziale, verkörpert diese Paradoxie konformen Rebellentums. Sosehr sie sich in Erscheinung, Habitus und Aktion von den »Spießern« unterscheiden, so sehr verteidigen sie als »Randgruppe mit Stolz« deutsche Normalität gegen alle von außen kommenden Abweichungen. Ihre scheinbar so außergewöhnlichen Vorlieben – überreichlicher Bierkonsum, rohe Sexualität, Fußballfanatismus und Fun »bis zum Abwinken« – teilen sie ihrer Meinung nach mit jenem bedrohten Milieu, das sie wieder in die Mitte der übermäßig pädagogisierten und intellektualisierten Gesellschaft rücken möchten: den »kleinen« Leuten und »ehrlichen« deutschen Arbeitnehmern. Deren Ethos – Leistung, Disziplin, Nation – haben sie verinner-
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licht und verteidigen es gegen die Alternativkultur der Werteumstürzer, die – wie auch im Hünxer Fall – am authentischsten durch die »grüne Lehrerin« verkörpert und durch den soldatischen Großvater konterkariert wird. In diesem Rahmen – mit der Verbreitung kollektiver Deutungs- und Skandalisierungsmuster und in einer günstigen politischen Gelegenheitsstruktur – kommen die beiden Dimensionen von Provokation und Delegation zur Deckung. Die soziale Bewegung schließt die Lücke zwischen der »Mikroebene« individueller Unzufriedenheiten und der »Makroebene« des Zeitenwandels, der nationalistische Agitation und ethnische Konflikte überall auf die Tagesordnung gesetzt hat. Selten zuvor war eine soziale Bewegung so jung und so bereit zur Gewalt, die sie allerdings weniger erfunden als in allen Ecken des sozialen Verkehrs vorgefunden hat. Insofern stellt sich die Frage, ob auch diese jungen Wilden, wie ihre verhassten Vorgänger der 60er Jahre, nicht etwa Nachzügler, sondern Avantgarden des Generationswechsels sein könnten. Diese bange Spekulation führt uns noch einmal zurück ins heutige Riederwald. Zwei Jahre nach dem Brandanschlag verläuft das Leben von Markus Frankenberg und Stefan Gennrath wieder in gewohnten Bahnen. Beide haben brav die lästigen Bewährungsauflagen erfüllt. Auf Fragen, die sie an ihre Tat erinnern, reagieren sie nicht. Frankenberg, der in seinen Augen doppelt Vorbestrafte, hat über die Vermittlung seiner Eltern, die am Morgen nach der Tat beim Arbeitgeber eine Krankmeldung einreichten (diese Notlüge war dann der arbeitsrechtlich offizielle Kündigungsgrund), nach wenigen Wochen eine neue Ausbildungsstelle als Zentralheizungsund Lüftungsbauer bekommen. Da seine Leistungen in der Berufsschule ausreichen, wird er wohl im nächsten Jahr Geselle sein. Dazu braucht er unbedingt den Führerschein zurück, den ihm der TÜV bisher, mangels Abstinenz, beharrlich verweigert. Den Rat, eine Alkoholikergruppe aufzusuchen, weist er von sich: Sein Konsum halte sich völlig in normalen Grenzen. Dass er, wie im Dorf erzählt wird, mit anderen durchs nächtliche Harmsheim gezogen sei und Nazi-Lieder gegrölt habe, ließ sich nicht erhärten. Die Haare trägt er mal kürzer und mal länger. Er hat eine neue Freundin (kein Reenie) und lebt, wie aus seiner Umgebung zu hören ist, nun »ein anderes Leben«. Stefan Gennrath hat das dritte Lehrjahr (mit 650 DM Salär) in seiner Bäckerei ohne Beanstandung fortgesetzt und zum Abschluss gebracht. Auch sein »Alkoholproblem« ist nicht behoben. Inzwischen ist er zur Bundeswehr gegangen und will sich für vier Jahre verpflichten. Seine Haare musste er dafür wachsen lassen; die Bundeswehr möchte keinesfalls in Verdacht geraten, rechtsextremen Skinheads Raum zu geben. Er behauptet, der Wehrdienst mache ihm großen Spaß. Das Wochenende verbringt er zu Hause, mit Stefanie und hin und wieder beim Fußballturnier. Das Dorf, das von den Nachstellungen der Medien und einem Hünxer Stigma verschont blieb, hat seine beiden Söhne in Gnaden wieder aufgenommen. Und noch eines geht jetzt seinen normalen Gang: Mit
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Änderung des Asylartikels werden die Belegschaften der Zweitaufnahmeunterkünfte, sofern sie aus »sicheren Herkunftsländern« stammen, zur Ausreise aufgefordert, im Fall der Weigerung in Abschiebehaft genommen und zurückgeschafft. Die Kurden von Geringshausen werden sich nach einer anderen Bleibe umsehen müssen. Namen von Orten und Personen sind verändert worden. Die Rekonstruktion des authentischen Falles beruht auf Gerichtsakten, Interviews und Ortsterminen. Mit ihren wichtigen Anstößen und akribischen Recherchen haben uns Studenten eines Lehrforschungsprojektes der Gießener Universität sehr geholfen. Dafür möchten wir uns vor allem bei Saskia Döhner, Siegfried Gröf, Katrin Haas, Thomas Ramge, Mathias Rohrmann. Katja Storch, Georg Wagner und Thorsten Winter bedanken. Fehldeutungen gehen allein auf unsere Kappe.
Wenn es brennt Barbara Sichtermann
Schwere Jugendkriminalität der (scheinbar) sinnlos-brutalen, menschenverachtenden Art, gern gerichtet gegen Außenseiter, gibt es einst wie heute. Sie ist eine unerfreuliche Begleiterscheinung des Heranwachsens einer neuen Generation, und sie versetzt naturgemäß die Älteren, die Mütter und Väter, in Alarmbereitschaft und recherchierende Anstrengung: Wie konnte es dazu kommen? Wo liegen die Ursachen? Jörg Bergmann und Claus Leggewie wollten sich mit den Erklärungen, die Anfang der 1990er Jahre (und weiter bis heute) im Schwange waren (und sind) und die jedes Mal hervorgezogen werden, wenn’s brennt, nicht zufrieden geben. Weder mochten sie glauben, dass die Täter (nur) vom Rand der Gesellschaft stammten und/oder von rechtsradikalen Rädelsführern aufgehetzt worden seien, noch dass sie als grenzdebil eingestuft oder durch seelische Vernachlässigung in der Kindheit zu gefühlskalten Monstern hatten werden müssen. Sie wollten es genauer wissen. Und so machten sie sich daran, den Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim am 7.10.1991 in Geringshausen akribisch zu untersuchen. Sie antworteten auf das schwer Erklärbare und das so oft lückenhaft Erklärte mit neuartigen Ermittlungen von Seiten ihrer Wissenschaft. Zwei junge Männer begingen die Tat, Gennrath und Frankenberg werden sie im Artikel genannt. Die beiden, 18 und 19 Jahre alt, suchten den Schutz der Dämmerung, maskierten sich und warfen jeder einen Brandsatz auf das Asylantenheim, die ihre Ziele jedoch verfehlten und nur geringen Schaden anrichteten. Zuvor hatten sie sich betrunken und mit anderen Jungs ihrer Clique in Stimmung gebracht. Was die Recherche von Bergmann und Leggewie, die auch mit den Jugendlichen sprechen konnten, zutage förderte, ist ein Bild, das umso flimmernder und vieldeutiger wird, je mehr man darin einträgt. Die gängigen Erklärungsmuster versagen bald, die Situation ist verzwickt, und man muss aufpassen, dass Klischees und Vereinfachungen nicht in die Unwahrheit umkippen. Sogar offene Widersprüche ergeben sich häufig und müssen kognitiv ausgehalten werden. Beispielsweise ist die Tat von Gennrath und Frankenberg weder aus einer bloßen Laune heraus began-
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gen noch von langer Hand geplant worden. Die beiden gehen durchaus überlegt vor, wären aber ohne das vorherige Herumhängen mit den Kumpels und die dabei stets fällige Alkoholisierung wohl kaum zum Tatort gefahren. Ferner wollen die Jungen sich keineswegs zur rechten Szene zählen lassen, sie bevorzugen aber das entsprechende Outfit (Glatze, Stiefel), auch findet sich einschlägiges Material (Aufnäher, Visitenkarten) unter ihren Sachen. Und was die Einzelgänger- und Ausgrenzungsthese betrifft, die die Haltlosigkeit und Gewaltbereitschaft so mancher »loser« begründen soll, so ist sie für diesen Fall auch nicht recht zuständig. Die Brandstifter hatten Freunde, zumindest Saufkumpane. Gennrath war Bäckerlehrling, Frankenberg Arbeiter in einer Kunststofffirma. Die Eltern waren »brave Leut’«, es gab zwar Krach, aber soweit man weiß, keine Gewalt in den Familien. Gennrath machte beim Jugendtreff Hermsheim mit, Frankenberg kam auf seiner Lehrstelle als Kunststoffformer mit den vielen ausländischen Kollegen offenbar gut zurecht. So schlechte Karten hatten sie gar nicht, die Täter. Woher also der Hass, die Gewaltbereitschaft? Bergmann und Leggewie verabschieden sich von einer »abgeklärten, auf schnelle Generalisierung erpichten Soziologie«. Denn diese »scheitert an (dem eben vorgestellten) Phänomen ebenso wie die aufgeregt staatstragende oder -kritische Perspektive der Extremismus-Bekämpfung.« Stattdessen analysieren sie einen »singulären, in seinem Verlauf quälend unspektakulären Tathergang« und zeigen, dass diese geduldige induktive Vorgehensweise, die nichts vorher weiß oder vorschnell einordnet, zu interessanten Ergebnissen gelangt. Zufall und Zwangsläufigkeit, so Bergmann und Leggewie, schließen sich gar nicht aus. So wie die beiden Täter gestimmt waren, nach einer »éducation ressentimentale« mit dem stets wabernden, wenn auch oft unausgesprochenen Ausländerhass selbst unter den »braven Leut’«, musste »es« irgendwann passieren – ohne Plan, aber mit (plötzlich hochtauchender, jedoch lange schon gehegter) Absicht. Die jungen Täter nehmen den Anschlag auf ihre eigene Kappe – gleichwohl sehen sie sich doch auch als Vollstrecker oder Beauftragte einer großen Unzufriedenheit mit Verhältnissen, an deren Armseligkeit die Ausländer ihrer Meinung nach jedenfalls einen Teil der Schuld tragen. So verteilen die Autoren die Verantwortung für den Anschlag auch auf Eltern, Nachbarschaft, Ortschaft, soziales Klima – alles wirkt mit, bevor und während die Jungs zur Tat schreiten. Bergmann/Leggewie erinnern an mittelalterliche »Rügebräuche«, in denen abweichendes oder schuldhaftes Verhalten von einzelnen durch Jugendtrupps, die von der Dorfgemeinschaft beauftragt werden oder sich so fühlen, in einer Art Dorfjustiz geahndet werden. Subjektiv im Sinne von ›für sich selbst‹ gehen die Brandstifter von Geringshausen noch weiter. Sie erachten sich für moralisch überlegen, da sie mutig das ausführen, von dem die anderen und die Älteren immer nur reden. »Dieser Schritt, in der ausländerfeindlichen Aktion die eigene physische Existenz aufs Spiel zu setzen, war für sie ein moralischer Akt par excellence«. Auch nach der Verbüßung ihrer Strafe (15 und 18 Monate auf Bewährung) sehen
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die Jungs die Dinge immer noch so. Das Ressentiment (gegen Ausländer), das Klima der Fremdenfeindlichkeit haben im Verein mit Trunkenheit und Erlebnishunger (nicht immer nur reden) zu einem Anschlag geführt, der mit den gängigen Mustern nur wegerklärt, aber nicht verstanden oder nachvollzogen wird. Die induktive Einzelfallanalyse von Bergmann/Leggewie verändert die Fragestellung. Aus der Frage nach dem Grund, der dann mit rechtsradikalen Umtrieben oder psychologischen Defiziten bereitgestellt wird, wird die Frage nach dem Sinn – aus der Sicht der Täter und aus der Sicht der Rechercheure sowie »der Gesellschaft«. Die Antwort ist nicht eindeutig, der »Sinn« nicht widerspruchsfrei. Man muss sich mit Bruchstücken begnügen. Und noch eine – unbefriedigende und trotzdem zutreffende – Antwort lässt sich herleiten: Menschen begehen sinnlose Taten. In einem Punkt müssen wir wohl heute, fast 17 Jahre nach Erscheinen des »Kursbuches« mit der Expertise von Bergmann und Leggewie, anders gewichten. Die Überschrift ihrer Arbeit, die von »Tätern unter uns« spricht und den Untertitel: »Beobachtungen aus der Mitte Deutschlands« trägt, suggeriert, dass es sich bei Jugendgewalt vom Typus Gennrath/Frankenberg, die wir ja weiterhin und zwar oft mit viel schlimmeren Folgen, zu gewärtigen haben, um Taten bzw. Täter handelt, die einem bürgerlichen Milieu entstammen. Aber schon der Fall Gehringshausen führt Täter vor, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als Verlierer fühlten. Der Bäckerlehrling und der Kunststoffformer, denen für ihre Freizeit wenig anderes als Biertrinken einfällt, sind keine Figuren aus der »Mitte Deutschlands«, wenn diese Formel, wie angenommen werden darf, eine soziale und keine topografische Konnotation herstellen will. Heute würde man statt von »Mitte« eher von bildungsfernen Schichten sprechen, und die Angehörigen dieser Schichten fühlen sich beim Rattenrennen um Arbeitsstellen oder gar Posten und Einfluss in wachsender Zahl brutal abgehängt. Die Angst vorm Abstieg aus dem immerhin noch gemütlichen Kleinbürgertum, dem Gennrath und Frankenberg entstammen mögen, ins »Prekariat«, das es der Sache nach damals auch gab, kann 1991 schon durchaus fühlbar gewesen sein und das Ressentiment verstärkt, wenn nicht ausgelöst haben. Die Autoren klammern die Schichtenfrage weitgehend aus. Sie nehmen für ihre Protagonisten ein intaktes Umfeld in Anspruch, wodurch ihr kleines Forschungsunternehmen natürlich umso brisanter wird. Jedoch: »Brave Leut’« hin oder her, bei diesen beiden Jugendlichen ist wohl, und wenn Mutti noch so lieb war, mehr schief gelaufen, als man es für die »Mitte« im Sinne von mainstream und Mehrheit, voraussetzen darf. Eigentlich war ihr Standort eher Rand als Mitte, und ihre Karten waren denn doch ziemlich mies. Die Autoren haben also ein bisschen gemogelt. Inzwischen ist unsere Gesellschaft noch tiefer zerklüftet. Die neoliberale Ideologie hat voll durchgeschlagen. Solidarität gilt praktisch als Unwort, der Wettbewerb um Arbeit, Ansehen und Aufstieg verschärft sich weiter mit unabsehbaren Auswirkungen auf die Psyche junger Schulversager
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auch aus kleinbürgerlichen Milieus. Sie werden nicht alle zu Brandstiftern. Aber manche suchen nach Schuldigen an ihrer Misere außerhalb der eigenen Zuständigkeit und finden – wie üblich – die noch schwächeren Migranten. Und sie suchen ebenfalls instinktiv nach Bündnispartnern, die ihnen den Auftrag für die Neubelebung des »Rügebrauchs« erteilen könnten. Diese Jugendlichen kommen nicht aus der Mitte Deutschland; das ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil diese Mitte schrumpft. Es wäre gleichwohl die Aufgabe, ja die Pflicht der Mitte – als Lehrer, Politiker, Bildungsforscher – dem Erlebnishunger der jungen loser aus dem wachsenden Prekariat andere Ziele zu stecken als den Angriff auf noch stärker Benachteiligte.
Exemplarisches Lernen aus dem Einzelfall Detlev Claussen
Der Wissenschaftler Claus Leggewie sucht die Öffentlichkeit, der Autor Claus Leggewie weiß sie zu finden. Das verschafft ihm viele Neider unter den Kollegen, Konkurrenten unter den Autoren. Souverän hat er sich aber auf beiden Ebenen, in der institutionalisierten Wissenschaft sowie in den öffentlichkeitswirksamen Medien, durchgesetzt – und das ist auch gut so. Aus seinem 1993 im »Kursbuch« veröffentlichten, mit Jörg Bergmann gemeinsam verfassten Aufsatz »Die Täter sind unter uns« spricht Neugier – eine Eigenschaft, die in Deutschland zur Zeit des Epochenwechsels gar nicht hoch geschätzt wurde. Das merkt man schon an der im Jahr 1989 dominant gewordenen Vokabel »Wiedervereinigung«, die das Neue, das aus dem historisch einmaligen Zusammenschluss zweier unterschiedlicher Gesellschaftssysteme hervorging, ausschloss. Die einen wollten das glücklichste Volk der Welt gesehen haben, während die anderen auf die Wiederkehr der immergleichen braunen Flut warteten. Für die einen, die kompakte Majorität, kam die »Wiedervereinigung« mit einem nationalen Erweckungsgeläut einher, einem antiintellektuellen, antiutopischen bias – eine damals vom Hitlerbiographen Joachim Fest in der »FAZ« angeführte Phalanx von Feuilletonredakteuren hat bis heute zu siegen nicht aufgehört. Sie erzeugen in edler Koalition mit »BILD« und »BamS« ein Klima der Verleugnung, das den antifaschistischen Alarmismus des buntscheckigen Haufens, der sich in eifersüchtiger Konkurrenz der Grüppchen untereinander »Linke« nennt, im Keim ersticken soll. Diese politisch-publizistische Wetterlage ist bis heute aktuell geblieben. Bei jeder furchtbaren rechten Tat fühlt sich die lokale Politik als Opfer einer sensationsgeilen Medienmeute und schwingt sich zur Apologie des ganz normalen alltäglichen Rassismus auf, während die Aktivisten, bei denen sich oft gute Absichten mit fatalen Gewissheiten mischen, sich in ihrem Weltbild einer ewigen braunen Gefahr bestätigt finden. Der hier zu kommentierende Text stammt aus einer Zeit, in der nur wenige es vorzogen, sich das Neue – und gar nicht immer nur Schöne – genau anzuschauen, ohne es gleich in alte Schemata einzuordnen. Das macht diese Arbeit auch heute noch lesenswert. Das »Kursbuch« ist wie
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auch der Autor Claus Leggewie aus dem linken Spektrum der alten bundesrepublikanischen Öffentlichkeit hervorgegangen. Noch in den 80er Jahren wäre niemand – außer der publizistischen Rechten – auf die Idee gekommen, die »Süddeutsche Zeitung« oder die »ZEIT« als links zu bezeichnen – so weit haben sich die Koordinaten inzwischen nach rechts verschoben. In dem publizistischen Milieu, in dem auch die »taz« entstanden ist, wurde schon länger über das Aufkommen einer Neuen Rechten diskutiert – schon vor dem Zusammenbruch der realsozialistischen Welt wurden im Westen die »Asylanten« als besondere Art von Fremden zu wehrlosen Objekten populistischer Kampagnen gemacht, als deren Erbe später ein gewisser Roland Koch seine Karriere antrat. Die Verbindung des von Leggewie und Bergmann untersuchten Einzelfalls mit der bundesdeutschen Asyldebatte, die mit einer reaktionären Revision des alten Verfassungsparagraphen endete, macht die eigentliche Pointe des Artikels aus. Für die Apologeten des neuen Deutschland bestehen alle xenophoben Gewalttaten seit 1989 aus »Einzelfällen«, die nicht überbewertet werden sollten. Diesen Abwehrmechanismus unterläuft der Artikel subtil, indem ganz konkret ein Einzelfall untersucht wird, der aber beunruhigende gedankliche Konsequenzen nahelegt. Inzwischen hat der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer aus der Kombination von Einzelfallstudien und Einstellungsbefragungen eine Institution gemacht, die als periodisch veröffentlichte Suhrkampbände unter dem Titel »Deutsche Zustände« nützliche Nachschlagewerke geworden sind. Einen ersten genauen Blick auf die deutschen Zustände nach 1989 erlaubt dieser Kursbuchaufsatz. Keineswegs ist die xenophobe Gewalttat ein Privileg des Ostens. Die unsinnigen Erklärungsversuche, im Osten habe man eben noch keine Erfahrung mit »Fremden«, zerstieben, wenn man sich diesen Einzelfall ansieht. Die Erinnerung an die Antiasylantenpropaganda der 80er Jahre (»Scheinasylanten«, »Wirtschaftsflüchtlinge«) ist längst aus dem Gedächtnis der Öffentlichkeit verschwunden; inzwischen stehen ganz abstrakt Migranten, ihre Kinder und Kindeskinder (»Migrationshintergrund«) in Verdacht, eine »fremde Kultur« zu verkörpern. Bei den hier untersuchten Tätern ist noch der dörfliche Konkretismus vorherrschend, der »unsere« geflohenen Kurden, die man kennt, aus der »Ausländerschwemme« herausnimmt. Der gerichtlich angeordnete TäterOpfer-Ausgleich, von dem man en passant im Text erfährt, kann strukturell gar nicht gelingen, weil er persönliches Kennenlernen und menschliche Nähe als Erfolgsrezept gegen fremdenfeindliche Gewalt in der Form einer Strafe für eine »konformistische Rebellion« verabreicht. Die Kategorie der »konformistischen Rebellion« wird von den Autoren produktiv verwandt, um aus dem Einzelfall doch noch analytische Schlussfolgerungen ziehen zu können, und das erfreut mein Autorenherz. Hatte ich doch selbst am 11. September 1992 in einem ZEIT-Artikel unter dem Titel »Rache an der neuen Welt« die Vorgänge in Rostock-Lichtenhagen als eine solche interpretiert. Die Einzelfallstudie von Bergmann und Leggewie belegt eindringlich, dass bei dieser Gewalttat in Hessen eine konsis-
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tente rechtsradikale Ideologie keine entscheidende oder gar motivierende Rolle spielt. Als nachträgliche Rechtfertigung dienen Versatzstücke aus konventioneller Moral, xenophoben Wirklichkeitsverzerrungen und publizistischen Übertreibungen – die Grenze zwischen normal und radikal wird verwischt. Die Kategorie der »konformistischen Rebellion« stammt aus der Analyse des Antisemitismus. Ehre, wem Ehre gebührt: Der Grundgedanke wurde von Otto Fenichel entwickelt, der auf einem inzwischen legendär gewordenen Kongress in San Francisco 1944 einen Vortrag mit dem Titel »Elemente einer psychoanalytischen Theorie des Antisemitismus« hielt. Um 1990 kannten diesen nur wenige; durch den Abdruck in meiner kommentierten Materialsammlung »Vom Judenhass zum Antisemitismus« (1987) konnte ich etwas zur Verbreitung dieses beispielhaften Textes über die Grenzen der Fachwissenschaft hinaus beitragen. Inzwischen sind alle Vorträge des kalifornischen Symposions auf deutsch erschienen – der Herausgeber der amerikanischen Ausgabe war der emigrierte Psychoanalytiker Ernst Simmel gewesen, der seine Fachkollegen mit Soziologen wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zusammenbrachte. Dieser lange vergessene Meilenstein psychoanalytisch informierter Sozialforschung, der sich vom konformistischen Psychologismus wohltuend abhebt, ist also wieder freigelegt. Der Artikel von Bergmann und Leggewie hütet sich vor den Fallstricken des Psychologismus, sondern zeichnet individualgeschichtlich eine »éducation ressentimentale« – eine beneidenswert prägnante Formulierung – nach, die gerade in ihrer Normalität erschreckend wirkt. Was in den Befragungen der Täter deutlich wird, habe ich versucht mit der Kategorie der »Alltagsreligion« in ein theoretisches Konzept zu bringen. Die gesellschaftliche Normalität im außergewöhnlich Scheinenden zu erkennen und im normalen Alltagsverlauf die potentielle Monstrosität zu sehen – das macht eine durch die »Dialektik der Aufklärung« und die »Banalität des Bösen« geschulte Wahrnehmung aus. Der Artikel von Bergmann und Leggewie zeugt von diesem geschulten Blick. Die bewundernswerte Formulierung vom Fremden als einem Menschen, der »heute kommt und morgen bleibt«, stammt von Georg Simmel (1858-1918). Er beschäftigte sich mit dem Fremden auf dem wirtschaftlichen und intellektuellen Höhepunkt des Kaiserreichs (1908), als die Soziologie noch kein etabliertes Universitätsfach war. Sein Exkurs in der »Formalen Soziologie« wirft ein Licht auf die Gesellschaftskonstitution, auf die Genese der Moderne. Die Genese einer neuen Gesellschaft in Deutschland nach 1990 wiederum wurde dann begleitet von einer Serie xenophober Gewalttaten in Ost und West: Rostock, Hünxe, Hoyerswerda, Mölln, Solingen … gefolgt von Verharmlosung und Alarmismus als öffentlichen Reaktionsweisen. Fremdenfeindlichkeit ist ein fester Bestandteil des Alltagslebens geworden; die affektive Abwehr gegen eine multiethnische Realität der Gesellschaft wird täglich geschürt, das politisch-publizistische Klima durch populistische Anleihen vergiftet. Es gab in der alten Bundesrepublik ein
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Widerspruchspotenzial gegen diese Tendenzen, vom neudeutschen Feuilleton mit Verachtung als ständig protestierendes »Unterschriftenkartell« gestraft. Solche Menschen wurden nach 1989 rufmörderisch als »Gutmenschen« dequalifiziert – eine Technik, die inzwischen zum angesagten guten Ton in Deutschland ebenso gehört wie ein völlig unberechtigtes Überlegenheitsgefühl gegenüber Ansprüchen einer political correctness. Eine neudeutsche Chimäre der letzten 20 Jahre ist nämlich die angebliche publizistische Herrschaft der Alt-68er, gegen die sich eine unerschrockene, mutige Avantgarde ganz und gar aufgeklärter, vor schmerzhaften Einsichten nicht zurückschreckender jüngerer Publizisten immer wieder von Neuem behaupten muss. Kronzeugen aus der älteren Generation sind publizistische Helden wie Götz Aly und Peter Schneider, mit denen die Umwertung der Werte als Rolle rückwärts aufgeführt werden kann. Die Wertediskussion selbst gehört zum wiederkehrenden Arsenal des backlash. So sollten die Gewalttaten nach 1989 auf den allgemeinen Sittenverfall einer permissiven Gesellschaft, hervorgerufen durch eine flächendeckend durchgeführte antiautoritäre Erziehung, zurückgeführt werden. Einer empirischen Überprüfung hält diese Legende nicht stand; auch in der Geschichte von Bergmann und Leggewie kommen keine genuinen Rebellen zu Wort, sondern vorgebracht werden Versatzstücke einer konventionellen Moral, die weder in einen intakten traditionellen dörflichen noch in einen bürgerlich-urbanen Zusammenhang eingebettet ist. Im Rückblick von 20 Jahren auf den Kursbuchaufsatz, der herausarbeitet, dass der dörfliche Zusammenhang, in dem die Katzenmusikpraktiken entstanden sind, aufgelöst ist, wird ex negativo deutlich, dass die heute beschworene neue Bürgerlichkeit der Berliner Republik auch nicht mehr als ein publizistisches Gerücht ist. Die alten Werte hängen wie leere Drohungen in der Luft. Gerade aus diesem Widerspruch zwischen einer propagierten, teutonisch sich gebenden Bürgerlichkeit und einer Schnäppchen- und Eventmentalität speist sich der soziologische Wunderglaube ethnozentrischer Provokateure, die zugleich sich als Vollstrecker einer Mehrheitsmeinung und als auserkorene Mitglieder einer besonders tatorientierten Gruppierung fühlen möchten. Die Sprachlosigkeit ihrer Taten ruft die terribles simplificateurs jeglicher Couleur auf den Plan. Ihnen allen fährt dieser fast 20 Jahre alte Aufsatz von Bergmann und Leggewie unaufgeregt in die Parade.
L ITER ATUR Claussen, Detlev (Hg.) (1987): Vom Judenhaß zum Antisemitismus. Materialien einer verleugneten Geschichte, Darmstadt: Luchterhand. Simmel, Georg (1908/1992): Exkurs über den Fremden. In: Ramstedt, Otheim (Hg.): Georg Simmel: Gesamtausgabe, Band 11, Frankfurt: Suhrkamp, S. 764-771.
Die Bundesrepublik, das Ressentiment und ihre konformistischen Rebellen Micha Brumlik
Claus Leggewies gemeinsam mit Jörg Bergmann verfasster Text »Die Täter sind unter uns« stellt auch mehr als 15 Jahre nach seinem Erscheinen ein Glanzstück dar. Indem dieser Text die dichte Beschreibung eines Milieus mit einer bestens recherchierten politischen Reportage verbindet, indem er biographische Analyse mit scharfsinniger Essayistik und leichthin, aber dennoch profund angesetzter Sozialanalyse zum Schnitt bringt, wird er exemplarisch bleiben – nicht nur für das Genre der politisch und soziologisch sensiblen Gegenwartsdiagnose, sondern auch dafür, dass soziologische Erkenntnis im weitesten Sinne in der narrativen Sprache der Reportage eher zur Sache kommt als in terminologisch entfremdeten Fachbeiträgen. Der Text widmet sich einem damals höchst aktuellen Thema: der auch in Westdeutschland virulent werdenden Feindlichkeit gegen Asylbewerber, die schließlich in der faktisch weitgehenden Aufhebung des Asylparagraphen im Grundgesetz mündete. Bei alledem ist Leggewie/Bergmanns Beitrag ganz und gar ein Kind seiner Zeit, einer Zeit, in der die deutsche Vereinigung gerade vier Jahre zurücklag und die wesentlichen Debatten zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bereits geführt, wenn auch nicht abgeschlossen waren. Beginnend mit dem Frankfurter Auschwitzprozess in den frühen 1960er Jahren, fortgeführt über die landesweite Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie »Holocaust« in den 1970er Jahren und endlich in der Auseinandersetzung um Bundeskanzler Kohls und Präsident Reagans Beuch auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, gefolgt von der Frankfurter Fassbinderkontroverse, schließlich durch Präsident Weizsäckers Rede zum 8. Mai 1945, waren so gut wie alle Aspekte der Ausdrucksweisen und des Fortlebens nationalsozialistischer, antisemitischer Traditionen in der deutschen Gesellschaft erörtert. Wie ernst waren vor dem Hintergrund so grundsätzlicher Erwägungen empirische Phänomene wie gelegentliche Wahlerfolge rechtextremistischer oder neonazistischer Parteien zu bewer-
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ten, wie beunruhigend Häufigkeit und Schwere der von Rechtsextremisten verübten Straftaten? Die politische Kultur sowie die soziologische, politologische Wissenschaft der Bundesrepublik kannten und kennen dazu zwei idealtypische, polar einander entgegengesetzte Perspektiven: Während die eine Perspektive alle im weitesten Sinne nationalsozialistischen Äußerungen als Symptome einer nach wie vor in ihrer Tiefe vom Nationalsozialismus mindestens geprägten, wenn nicht gar bestimmten politischen Kultur der deutschen Gesellschaft ansieht, geht die andere Perspektive von einer grundsätzlich neuen, mindestens formal demokratischen und in den Eliten fest verankerten politischen Kultur aus und sieht somit »rechte« Ausdrucks- und Verhaltensweisen als gezielte Provokationen von Personen, vornehmlich von Jugendlichen, die durch unterschiedliche Ursachen mit der gegenwärtigen Gesellschaft in Konflikt geraten sind und sich nationalsozialistischer Ausdrucksweisen nicht aus sachlicher Überzeugung, sondern aus – bewusst oder unbewusst – instrumentellen Gründen bedienen. Es versteht sich von selbst, dass zwischen diesen beiden, polar einander entgegengesetzten Perspektiven beliebige Mischungsverhältnisse möglich sind, infrage steht jetzt, an welcher Stelle und mit welchem spezifischen Akzent Bergmann/Leggewies Beitrag zu verorten ist. Bergmann/Leggewie sehen die »Täter« grundsätzlich als Symptome oder Ausdrucksweisen der eigenständigen, von ihnen keineswegs emphatisch bejubelten politischen Kultur der Bundesrepublik und verstehen ihre Taten somit nicht als Ausdrucksweisen einer spezifischen Jugendkultur, sondern als Ausdrucksformen einer rechten Jugend-Sub-Kultur. Damit ist jedoch die Frage, was die Existenz einer solchen rechtsextremistischen Jugend-Sub-Kultur für das Gefüge der politischen Kultur im Ganzen bedeutet, noch nicht beantwortet. Bei diesem Stand der Analyse lassen sich idealtypisch mehrere Perspektivenverschränkungen erörtern: eine – stets bezogen auf die nationalsozialistische Vergangenheit – starke Kontinuitäts-/Diskontinuitätshese für Gesellschaft und politische Kultur sowie eine Kontinuitäts-/Diskontinuitätsthese für den spezifischen Bereich der Jugend-Sub-Kultur. Demnach könnte grundsätzlich eine Kontinuität der politischen Kultur bestehen, der jugendliche Rechtsextremismus hingegen aus völlig anderen Quellen gespeist sein. Zweitens könnte eine Kongruenz der Kontinuität zwischen politischer Kultur hier und jugendlichem Rechtsextremismus herrschen, während man drittens davon ausgehen könnte, dass im Bereich der Gesellschaft und ihrer politischen Kultur von einer radikalen Diskontinuität auszugehen ist, im Bereich ausgerechnet der Jugend hingegen von einer Kontinuität. Schließlich könnte in beiden Bereichen Diskontinuität herrschen: Auch die rechtsextremistische Jugendkultur hätte demnach keinerlei Wurzeln im historischen Nationalsozialismus. Wenn nicht alles täuscht, vertreten Bergmann/Leggewie die vierte Perspektive: Weder stehen Gesellschaft und politische Kultur der Bundesrepublik in direkter oder auch nur indirekter Kontinuität mit der NS Zeit
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noch hat die rechtsextreme Jugendkultur derartige Wurzeln: Jugendlicher Rechtsextremismus stellt somit eine strukturell kontinuitätslose Neuerfindung mit Masken aus dem Fundus der deutschen Geschichte dar. Dabei muss gar nicht bestritten werden, dass jugendliche Rechtsextremisten Rassisten, Ethno- oder radikale Nationalisten sind, sondern lediglich, dass ihnen diese Haltungen und Überzeugungen aus einer wenn auch subkutan wirkenden, so doch noch mindestens familial gepflegten nationalsozialistischen Tradition überkommen sind. Das sind schließlich empirische Fragen, auf die auch Bergmann/Leggewies Beitrag die eine oder andere Antwort zu geben scheint – zu fragen ist freilich, welches Gewicht die in ihrem Aufsatz bemühten empirischen Beispiele haben. Leggewie/Bergmanns Analyse einer fremdenfeindlichen Tat im eher ländlich geprägten Nordhessen will die ihrer Auffassung nach bisher fruchtlose Suche nach den wahren Ursachen des »kleinteiligen Massenterrors in der wiedervereinigten Republik« durch einen neuen, einen sozialpsychologischen und auch erziehungstheoretischen Zugang anreichern. So sei sowohl die Suche nach politischen Anstiftern als auch einer geplanten Verschwörung müßig. Ursache der Stimmung, aus der heraus derartige Taten generationentypisch von jüngeren Männern begangen würden, sei das, was seit Nietzsche und Scheler als »Ressentiment« bezeichnet wird, in den Worten der Autoren »seelisches Dynamit«, das bei der kleinsten Erschütterung explodieren könne. Erst im Nachhinein werde den dadurch motivierten Gewalttaten dann ein »faschistischer« Sinn zugesprochen. Eine intentional motivierte Handlungsrationalität wird damit auf der Täterseite ausgeschlossen. Als ein bedeutendes Element behaupten Leggewie/Bergmann weiterhin einen Mangel an väterlicher Erziehung, der sich als Abwesenheit oder Entzug des Vaters bei Konflikten äußert und die Wahrnehmung elterlicher Fürsorge weitgehend hilflosen Müttern überlässt. Damit stehen sie in unausgesprochener Kontimuität mit Alexander Mitscherlichs These von der »vaterlosen Gesellschaft«. Eine tiefenpsychologische Kurzdiagnose der Autoren kommt endlich zu dem Schluss, dass »Gewalthandlungen« nicht primär mit dem Wunsch zur Erniedrigung und Vernichtung anderer zu tun haben, sondern mit dem narzisstischen Streben, die eigenen Fähigkeiten zu testen und Grenzen auszureizen. An dieser Stelle darf man Leggewie/Bergmann durchaus eine gewisse, unbegründete Kühnheit vorhalten – die Jahre später von Ferdinand Sutterlüty publizierten Studien zu derartigen Delinquenten haben das genaue Gegenteil ergeben – Jan Philipp Reemtsma hat noch später in theoretischen Analysen klargemacht, dass »autotelische Gewalt« ihren narzisstischen Gewinn gerade aus der Erniedrigung und dem Leiden von Schwächeren und Wehrlosen zieht. Die von Leggewie/Bergmann befragten Täter geben endlich vor – und die Autoren übernehmen diese Deutung weitestgehend –, dass es ein Mangel an Konsequenz und Härte, eine Pädagogik des bloßen Redens sei, die den öffentlichen Diskurs präge. Hier wird man fragen dürfen, ob es wirklich zwingend ist, dieser Selbstaussage zu folgen oder ob nicht
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genauso gut anzunehmen wäre, dass es sich hierbei um eine salvatorische Behauptung der Täter handelt. Die Analyse gipfelt in der These, dass derartigen Tätern »die Fähigkeit« fehle, »die separierten Stücke der moralischen Weltsicht zu überbrücken und zusammenzufügen.« Ursache dieses spezifischen Defizits aber sei die (herrschende) Struktur moralischer Kommunikation selbst, die in einem – so muss man Leggewie/Bergmann verstehen – übertriebenen öffentlichen Moralisieren bei derartigen Themen bestehe: »Kollektive Verbindlichkeiten werden negiert, während zugleich kleingeschriebene Teil- und Milieumoralen um sich greifen und mit absurden Theoriestücken intern und extern stimmig gemacht werden.« Die zusammenfassende Erklärung benennt dann ein vielschichtiges Ursachenbündel von jugendtypischen, durch Langeweile motivierten Neigungen bis hin zum zumal mit Alkohol befeuerten Exzess, prekären Berufs- und Bildungsbiographien sowie einer Art verschwiegener Delegation aus einem ach zu normalen Umfeld: »[D]ie Brandstifter haben Signale aus ihrer heimischen Umgebung empfangen, viele versteckte Aufmunterungen und nur diffuse Entmutigungen«. Am Ende soll eine komplexe Dialektik von Provokation und Delegation diese Art von Gewalttaten erklären. Derlei Gewalttaten schienen damals – hat sich das Phänomen eigentlich bis heute erhalten? – Ausdruck einer »konformistischen Rebellion der Jungen« zu sein. Leggwie/Bergmanns besorgte, abschließend gestellte Frage, ob nicht die Verbindung der Makroebene nationalistischer Schließung und der Mikroebene jugendlicher, sozialer Unzufriedenheit diese gewalttätigen, konformistischen Rebellen »Avantgarden des Generationswechsels« mache. Die in die Form einer Frage gekleidete Hypothese hat sich in Deutschland glücklicherweise – im Unterschied etwa zu Österreich, der Schweiz, anders in Frankreich, aber auch in Italien – nicht bewahrheitet. Zwar haben die Forschungen Wilhelm Heitmeyers kontinuierlich erhärtet, dass Verarmungstendenzen und das Auseinanderklaffen der deutschen Gesellschaft durch Arbeitslosigkeit und wachsende, subjektiv wahrgenommene Chancenlosigkeit auch in den Mittelschichten zu einem stetigen Anwachsen »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« geführt hat, doch ist es dem politischen System in Deutschland aus mindestens zwei Gründen bisher gelungen, das Entstehen einer solchen »Avantgarde« zu verhindern. Dabei ist zunächst der damals nicht absehbare große Erfolg erst der PDS, dann der WASG und schließlich der Partei »Die Linke« zu nennen, die mit ihrem zum Teil linkspopulistischen Auftreten einen nicht geringen Teil des Ressentiments auf ihre Mühlen gelenkt und somit neutralisiert hat. Zweitens aber, last but not least, ist es doch die durch die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nach wie vor geprägte politische Kultur der Bundesrepublik, die einen Immunschutz gegen das Auftreten offen rechtsextremistischer Bewegungen vorhält. Gegenüber dieser so belehrten und geprägten politischen Kultur erweist sich der ansonsten brillante Ansatz Leggewie/Bergmanns als eigentüm-
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lich verkürzt. Als Politologen, Soziologen und Sozialpsychologen, die sie sind, interessiert sie die historische Tiefe ihres Milieus nicht im Geringsten. Dass hier freilich bemerkenswerte Dispositionen vorliegen, haben die Arbeiten von Harald Welzer gezeigt, dass die Affinität zum historischen Nationalsozialismus evtl. doch stärker ist als vermutet, die empirischen Milieustudien von Hajo Funke. So verwundert es doch, dass und wie zwei so präzise und aufs Detail versessene Autoren die zwei, drei Generationen zurückliegende Familiengeschichte der von ihnen so eindringlich untersuchten Täter nicht erhoben haben, vor allem aber, dass sie den Blick vom gegenwärtigen Milieu in den gesellschaftsgeschichtlichen Abgrund nicht gewagt haben: Immerhin war die Region, in der sie recherchiert haben, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Geburtsstätte des modernen Antisemitismus in Deutschland und in den 1920er und 1930er Jahren eine Hochburg der NSDAP. Derlei Konstellationen determinieren gewiss nichts – aber dass sie ein wesentlicher Faktor im komplexen Ursachenbündel rechtsextremistischer Jugendgewalt sind, wäre doch mindestens einer Erwähnung wert gewesen.
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»IHR KOMMT NICHT MIT BEI UNSEREN ÄNDERUNGEN!« Die 89er – Generation ohne Eigenschaften? 1 Claus Leggewie
1. D IE H YPOTHESE : 1989 ALS WELTGESELLSCHAF TLICHE Z ÄSUR 1989 ist eine Welt untergegangen. Die Alte Welt, ideologisch-militärisch in West und Ost geteilt und ökonomisch-politisch in Nord und Süd gespalten, besteht nicht mehr. Wie die »Neue Weltordnung« aussehen wird, liegt im Dunkeln. Eine Welt, im Übergang. Derartige historische Brüche und Zäsuren sind, der Theorie nach, »generationsträchtig«. Aufgrund der Erfahrungen mit der Herausbildung von Generationen im 20. Jahrhundert darf man annehmen, dass Kriege, Revolutionen oder weniger markante Umbrüche wie in den 60er Jahren die davon besonders erfassten und beeindruckten Alterskohorten auch subjektiv zusammenballen. »1968«, das Symboljahr der »Kulturrevolution« der Babyboomer von Berkeley bis Warschau und weit darüber hinaus, war schon in den Augen der meisten Zeitgenossen würdig, Generationseinheit herzustellen. Der durch wenige, eher marginale Akteure (die soixantehuitards oder 68er) eingeleitete Umbruch verallgemeinerte sich in generative Gemeinsamkeiten (68er Generation), die dann gesellschaftsweite Wirkungen (Wertewandel) aus1 | Der Titel des Aufsatzes nimmt einen Song der Neuen Deutschen Welle aus den 70er Jahren auf. Für Anregungen und Kritik danke ich meinen Doktoranden in Gießen und New York , meinem Kollegen Adalbert Evers und Henning Gutmann, mit dem ich im März 1996 ein hochinteressantes Treffen deutscher und amerikanischer Twentysomethings im New Yorker Goethe-Haus organisiert habe, und den vielen Jungen, mit denen ich die Thesen meines Buches (s. Anm. 2) lebhaft diskutieren konnte. Für den Wiederabdruck in diesem Band wurde die Rechtschreibung aktualisiert sowie Querweise auf andere Beiträge der Transit-Ausgabe Nr. 11 entfernt.
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übten. Der kulturelle Entwurf einer Minderheit vermochte sich auszubreiten, und seither begleiten seine typischen Weltbilder und Wahrnehmungsmuster die zentrale Altersgruppe lebenslang. Genau nach diesem Muster prägen sich Generationen aus. »1989« wirkt, im Vergleich dazu, seltsam »objektiv«. Fast scheint es, als seien das (doch ohne Zweifel dramatische!?) Ende der ein ganzes Jahrhundert dominierenden Bipolarität und der Zusammenbruch einer totalitären Herrschaftsform historische Petitessen gewesen, oder bestenfalls provinzielle Ereignisse, die allein Ostmitteleuropa betreffen. Und selbst dort wird die tiefe politisch-ökonomische Zäsur nun zumeist passiv konsumiert und zynisch kommentiert. Umbruch vielleicht – aber als »Aufbruch« wird 1989 nicht empfunden. Dass Millionen Menschen frei geworden sind, schrumpft in Moskau, Budapest oder Berlin-Mitte auf die klägliche Feststellung zusammen, dass Millionen, der trügerischen Gleichheit eines zutiefst falschen und korrupten Systems verlustig gegangen, »freigesetzt« werden. Mein Vorschlag, die Generations-Chance von 1989 auszuloten und den Potenzen der 89er hypothetisch nachzugehen,2 ist bei vielen Kritikern auf polemische Ablehnung gestoßen. 1989 war eine Zäsur ohne Passion und Pathos. Und in der Tat: Der auch im Westen fällige politische Generationswechsel ist verpasst und verpatzt worden. In den Vereinigten Staaten schickt sich nach dem Scheitern des Babyboomers Bill Clinton ein 72-Jähriger, dessen prägendes Generationserlebnis und traumatischer Fixpunkt seine Verwundung im Zweiten Weltkrieg war, an, Präsident zu werden; während in den meisten ostmitteleuropäischen Staaten und Russland die alten Eliten zurück an die Macht drängen. Wenn das allein die Folgen von »1989« wären, hätten die Skeptiker recht, die im Westen wie im Osten nichts Neues unter der Sonne entdecken können (oder wollen). Aber sie haben unrecht. Gewiss entfalten die Revolutionen von 1989 wenig Glanz, weil sie anders als die bürgerlichen, sozialistischen und postmodernen Revolutionen von 1789, 1917 und 1968 eher restaurativ, also auf Wiederherstellung früherer Zustände erpicht waren. Dennoch waren sie mehr als Flurbegradigungen in zurückgebliebenen Provinzen. Das »Neue« an 1989 erschöpft sich nicht in der Transformation der osteuropäischen Volkswirtschaften und politischen Systeme. 1989 ist viel2 | Claus Leggewie, Die 89er. Portrait einer Generation, Hamburg 1995. Ich mag Rezensenten, ehrlich, aber ich hätte mir gewünscht, dass mancher Verriss auf etwas mehr beruht hätte als der Lektüre des Klappentextes oder der Betrachtung des Buchumschlags. Andernorts gibt die historische Darstellung einer Nation in politischen Generationen zu denken, vgl. etwa William Strauss/Neil Howe (1991): Generations: The History on America’s Future. 1584 to 2069. New York; dies. (Hg.) (1993): 13th Generation: Abort, Retry, Ignore, Fail? New York. Ein Versuch, »1989« historisch einzuordnen ist Leggewie, Claus (1996): Erneuter Griff nach der Notbremse, oder: Revolution als Restauration. In: Segers, Rien T./Viehoff, R. (Hg.): Kulturelle Identität in Europa. Regionale, nationale und europäische Perspektiven. Frankfurt a.M. S. 180-200.
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mehr das Symbol und in vieler Hinsicht auch der Startpunkt für die Herstellung der wirklichen Weltgesellschaft, deren Ankunft und Aussichten neuerdings mit dem Stichwort »Globalisierung« bezeichnet werden. Das Medium der Globalisierung, das Internet (um ein anderes Zauberwort aufzugreifen), d.h. grenzenlose, computervermittelte Kommunikation, wird die politisch-ideologische Geographie des 20. Jahrhunderts mit ihren Ost-West und Nord-Süd-Gegensätzen obsolet machen. Dass dieser chaotisch wuchernde Marktplatz überhaupt zugänglich ist, ist auch eine direkte Folge von 1989: Denn erst mit dem Ende der Sowjetunion ist die ursprünglich rein militärisch genutzte Technologie für die zivile Nutzung frei (bzw. von Hackern freigekämpft worden). Das sagt an sich wenig über die mit 1989 heraufziehenden Generationsgestalten. Selbst Bob Dole erweist dem Internet rhetorische Reverenz. Man darf allerdings nicht vergessen, dass die Installierung weltweiter Kommunikationsnetze eine wissenssoziologische Pointe hat: Das Internet ist, wie der kometenhafte Take-off junger Unternehmer im Kommunikationssektor zeigt, ein Instrument der Twentysomethings, die es als einzige mit routinierter Kompetenz zu bedienen und auszugestalten verstehen. Und, mehr als das: Die sogenannte Generation X, deren prägende Eindrücke in die Zeit um 1989 fallen, experimentiert in ihren jugend- und subkulturellen Nischen mit weiter reichenden Innovationen, die wiederum mit digitalen Technologien im Zusammenhang stehen und der nach 1945 dominanten populären Kultur eine andere Richtung weisen. Schon diese Pop-Kultur war international, d.h. auch die 68er Generation war von Beginn an transkulturell geprägt, mit der anglo-amerikanischen Kulturindustrie als Quelle und Anker. Der Zeitgeist der Postmoderne hat diesen Euro-Atlantik-Zentrismus erschüttert. Die neuen »Past-Post«-Kulturen der 90er, obwohl wiederum vom amerikanischen Zentrum der Weltgesellschaft inszeniert, setzen diese Diversifizierung fort. Das hat Konsequenzen für aktuelle Generationsbildungen, die a priori global sind, aber Spiel lassen für lokale, regionale und neotribale Kommunikation. Rätoromanisch (zum Beispiel) wird vermutlich eher dank Internet denn in Folkloregruppen überleben.3
2. D AS K ONZEP T : G ENER ATIONS -E IGENSCHAF TEN Das Konzept Generation beschreibt, wie aus Gleichaltrigen Gleichartige werden. Diese Gemeinsamkeit, behauptet die Generations-Hypothese, setzt Status-, Geschlechts-, Weltanschauungs- und Herkunftsdifferenzen, also die sonstigen Schichtkriterien, nicht außer Kraft, sich aber gelegentlich über sie hinweg. Das unterscheidet Generationen von exklusiven 3 | Vgl. dazu die »Message 33« von Nicolas Negroponte, dem MIT-Guru und Verfasser von Being Digital, New York (1995): Pluralistic, Not Imperialistic. In: Wired 4.03, März 1995, S.216.
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Subkulturen und allumfassenden Alterskohorten.4 Einem Jahrgang anzugehören ist zunächst bloß ein biologisch-biographischer Zufall, der an sich soziologisch wenig spannend ist. Allerdings beobachtet die Soziologie aufmerksam, wie sich Personen gleichen Alters einander zuordnen, miteinander auf besondere Weise kommunizieren, eine soziale Gruppe von Peers bilden. Anscheinend stiftet die Koinzidenz gemeinsamen In-dieWelt-Getreten-Seins mikro- wie makrosoziale Vergemeinschaftungen und Bewusstseinslagen, die unter Umständen ebenso relevant sein können wie Klassenbewußtsein, Geschlechtsidentität, sozialer Status, Ethnizität und Weltanschauung. Generation ist eine Variante kollektiver Identität, die das personale Ich-Gefühl prägt und soziale Interaktionen bestimmt. Zwei quasi-natürliche Dispositionen lassen uns in Generationskontexten denken: die biologische Generationentriade (Eltern, Kinder, Großeltern) typischer bürgerlicher Kleinfamilien und die ausgeprägte Neigung Jugendlicher, in einer bestimmten Phase der Entwicklung des personalen Ichs besonders intensive Peer-Gruppen-Beziehungen aufzunehmen und in »Cliquen« mit Gleichaltrigen zu verkehren. Ob das familiale Muster der Selbsteinordnung noch relevant sei, wird derzeit häufig bestritten. Es ist vom Zerfall der bürgerlichen Familie die Rede und allgemeiner von Individualisierungstendenzen in postmodernen Gesellschaften. In der Tat ist das klassische Familienmuster z.B. durch hohe Scheidungsraten, späte Elternschaft und noch zu erörternde Phänomene wie das Zerschellen der klassischen Individualbiographie stark erschüttert, d.h. das jeweilige Altersbewusstsein hat sich vom biologischen Prozess des Alterns gelöst und ist mehr als früher von altersindifferenten Gestaltungen der Lebenswelt geprägt:5 Man ist gewissermaßen so alt, wie man sich »macht« (oder gemacht wird). Ein keineswegs extremes Beispiel zeigt das: Ein 60-Jähriger Mann, der bereits zwei erwachsene Kinder hat, heiratet eine 25-Jährige Frau und bekommt mit ihr ein weiteres Kind, das so alt ist wie seine Enkel. Das gab es natürlich zu allen Zeiten, aber heute sind das Alterspuzzle und die darauf beruhenden Komposit-Familien keine absoluten Ausnahmeerscheinungen mehr. Gleichwohl ist zu beobachten, dass die klassische 4 | S. dazu Julian Marias (1970): Generations: A Historical Method. Birmingham/ Alabama; und Esler, Anthony (1984): The Truest Community: Social generations as collective mentalities. In: Journal of Political and Military Sociology, 12/1984. S.99ff; sowie Schuman, Howard/Scort, Jacqueline (1989): Generations and Collective Memories. In: American Sociological Review, 54/1989, 359ff; zum folgenden Mannheim, Karl (1928): Das Problem der Generationen. In: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, 7, 157ff; Eisenstadt, Shmuel N. (1956): From Generation to Generation, Age Groups and Social Structure; Fogt, Helmut (1982): Politische Generationen. Empirische Bedeutung und theoretisches Modell. Opladen. 5 | Vgl. dazu die Beiträge in Binstock, Robert H./Shanas, Ethel (Hg.) (1985): Handbook of Aging and the Social Sciences. New York; Chudacoff, Howard P. (1989): How Old Are You? Age Consciousness in American Culture, Princeton/N.J.
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Triade Kind-Eltern-Großeltern sich dann in solcherart »neuen« Familien reproduziert und weiterhin als Orientierungsmuster dient. Zudem haben Umgestaltungen der Familie die Neigung Adoleszenter bestärkt, sich an ihrer Peer-Gruppe zu orientieren, d.h, gerade aufgrund der feststellbaren Individualisierung sind derartige Gleichaltrigen-Gruppen überlebensfähig und konsistent. Sie kompensieren die Desintegration der herkömmlichen Familienstruktur, das Verschwinden traditioneller Schulklassenverbände und Vereinsgeselligkeiten und auch die vielbeklagten Wirkungen des isolierten Lebens vor Bildschirmen. Diese mikrosozialen Regelmäßigkeiten haben makrosoziale Konsequenzen. Eisenstadt, der in diesem Heft auf seine klassische Studie aus den 50er Jahren zurückkommt, hat Peer-Gruppen wesentliche Reproduktionsfunktionen zugewiesen: Da sich in dynamisch wandelnden Gesellschaften Traditionen, d.h. Lebensbewältigungstechniken, nicht mehr auf »natürliche« Weise (von den Eltern auf die Kinder) übertragen können, treten Gleichaltrige als Agenturen der Sozialisation und Enkulturation an ihre Stelle. Peer-Gruppen bilden auch das Fundament von Generationslagerungen, wie sie ein anderer herausragender Soziologe der Generationen, Karl Mannheim, beschrieben hat. Nicht alle Alterskohorten prägen eine (per definitionem lebenslange) Generationsidentität aus. Damit, im Sinne Mannheims, aus »objektiven« Generationslagerungen auch subjektiv wahrgenommene und verstärkte Generationszusammenhänge werden können, müssen günstige Bedingungen gegeben sein: Der jugendliche ,Gruppenzusammenhang muss stark genug sein, er muss sich in geeigneten Institutionen entwickeln können und es muss ein markantes historisches Ereignis eintreten, um das herum Wir-Gefühle plausibel generiert werden können. Wie diese Elemente zusammenwirken, zeigt die (wie manche offenbar dekretieren wollen: letzte) erfolgreiche Generationsbildung der 68er Generation. Sie wuchs heran, als es erstens aufgrund der demographischen Entwicklung (Babyboom 1946-1965) besonders viele Jugendliche gab und zweitens das Merkmal Jugendlichkeit (auch in seinen rebellischen und devianten Formen) besonders attraktiv wirkte. Zugleich stand als Folge der damaligen Bildungsinvestitionen ein sozialer Raum, nämlich Schulen und Universitäten, zur Verfügung, in denen sich im weiteren politisch-soziale Umbrüche auf besonders intensive und auch innovative Weise kommunizieren und inszenieren ließen. Alles zusammen ließ ein »Zeitgefühl« wachsen, das Generationskontexte begünstigte und den aktivistischen Kerngruppen der 68er Bewegung entwuchs. So wurden die 68er, trotz ihrer anfangs exzentrischen Lage als »kleine radikale Minderheit« Motor, Symbol und Träger sozialen Wandels, dessen Wirkungen weit über die reichen Industriemetropolen hinausreichten und auf die Länder des »realexistierenden Sozialismus« und die Dritte Welt ausstrahlten.6 6 | Eine weitere interessante Perspektive bietet Siemons, Mark (1995): Achtundsechziger werden immer gebraucht. Die Generationen der DDR und das neue Deutschland. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Bilder und Zeiten, 25.11.1995.
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Zusammenfassend kann man das Konzept der Generation als eine besondere Modalität kollektiven Bewusstseins fassen, also als spezielle Variante in der Familie der Wir-Gefühle. Diese kann ähnlich bindungsstark und wirksam sein wie andere Kollektividentitäten: ethnische Herkunft, Nationalgefühl, Klassenbewusstsein, Lebensstil, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft. In pluralistischen und polykulturellen Gesellschaften nimmt sie von all diesen Angeboten etwas auf und prägt sie auf besondere Weise. Individualisierung und Pluralisierung sind deswegen keineswegs Gegensätze zur Generationsbildung – im Gegenteil: Je mehr sich Klassen- und Schichtungsdifferenzen (die ja »objektiv« keineswegs verschwunden sind, sondern wieder intensiver werden) in der Wahrnehmung verflüssigen und Nationen (ungeachtet des überall erstarkenden Nationalismus) als imaginierte Gemeinschaften zerbrechen, desto wahrscheinlicher werden Generationsbildungen als spezifische Weisen, kulturelle Komplexität zu reduzieren und »Sinn« zu stiften. Auch die Ablösung des Altersbewußtseins von seinem biologischen Substrat begünstigt Generationsbewusstsein, das keine angeborene, sondern eine zu erwerbende Eigenschaft ist, also eine kulturelle Option im Repertoire der Lebensstile. Generation ist eine relativ lose Koppelung von Individuen. Sie kann weder von stabilen räumlichen Gegebenheiten noch von überzeitlichen Gemeinsamkeiten ausgehen (was Ethnos und Nation zu tun vorgeben) noch auf ein prästabiles Interesse setzen (wie es Klassen oder Berufsgruppen tun). Generation ist immer ein Entwurf, der scheitern kann und, aufgrund ihrer Bindung an bestimmte historische Ereignisse und Epochen, eine temporalisierte Sozialstruktur. So ist und bleibt sie ein fakultatives Periodisierungskriterium, das unter günstigen Umständen hohe alltagsweltliche Bedeutung annimmt. Das Beispiel der 68er soll nicht als »Modell« von Generationsbildung überstrapaziert werden. Vielmehr muß die historische Soziologie, die Generationen als Akteure sozialen Wandels in Betracht zieht, ebenso einbeziehen, dass sich mit eben diesem sozialen Wandel auch die Modalitäten der Generationsbildung selbst verschieben können. Das bedeutet: Die »Objektivität« der historischen Zäsur von 1989 zieht nicht automatisch eine 89er Generation nach sich, und, sollte sie gleichwohl einen neuen Generationsbildungsprozess begünstigen, so vollzieht sich dieser möglicherweise auf neue Weise. Dazu muss man auf die Quellen zurückgreifen, die die »Generation X« anbietet, und ernsthaft das kulturelle Unterscheidungspotential analysieren, das diese bereits akkumuliert hat.
3. D IE J UGEND VON HEUTE – EINE U N -G ENER ATION ? »Die« Jugend gibt es nicht, behauptet die Jugendsoziologie zu Recht. Historisch ist »Jugend« als eigenständige Lebensphase eine relativ neue Erscheinung des 20. Jahrhunderts. Schon die Grenzen dieser Lebensphase sind umstritten und variabel: Heute neigt man aufgrund der früheren
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Reifung und des länger dauernden »Moratoriums« der Post-Adoleszenten dazu, 13- bis 30-Jährige als »jugendlich« zu bezeichnen. Die jugendsoziologische Forschung kann weiterhin zeigen, dass sich Jugendliche der Jahrgänge 1966-1983 (die nach konventioneller Rechnung schon einen Generationsunterschied enthalten) in ihren Merkmalen, Vorlieben und Orientierungen erheblich von der »Jugend von gestern« unterscheiden, wobei offenbar die Pluralisierung der Lebensstile eine große innere Heterogenität jugendlicher Teilkulturen erzeugt hat. Auch hat sich die Relation der heutigen Jugendlichen zu anderen Alterskohorten durch das Umkippen der Alterspyramide in den reichen Industriegesellschaften beachtlich gewandelt. Jugendliche sind, anders als vor dem »Pillenknick« der 60er Jahre, zahlenmäßig zur Rarität geworden. Das Durchschnittsalter der reichen Gesellschaften wird sich in den nächsten Jahrzehnten drastisch erhöhen.7 Parallel zu dieser demographischen Ratifizierung wird aber das kulturelle Merkmal »Jugendlichkeit« geradezu ubiquitär, und das Postulat des forever young in modernen »Freizeitgesellschaften« imperativ. Altersbewusstsein löst sich von seinen biologischen Grundlagen, es wird (in bestimmten Grenzen) relativ und damit hochgradig inklusiv. Das kompliziert die Generationsbildung, macht sie aber eigentlich noch plausibler: Je indifferenter »biologisches Alter« durch den Zugriff auf den frei flottierenden Mythos »Jugendlichkeit« wird, desto mehr bietet sich als Strategie der sozialen Schließung das exklusive Merkmal »Generation« an, zu der eben nicht alle beliebigen Geburtsjahrgänge zählen können. In dieser Weise dürfte sich der für die 68er Generation noch markante Generationskonflikt in einen Anerkennungskonflikt verschieben, der überdies, wie zu zeigen sein wird, einen sozialpolitischen Interessenkonflikt zwischen Alten und Jungen nach sich ziehen kann. Die 89er (wenn es denn eine solche Generation jemals geben wird) bilden sich auf andere Weise als die 68er (oder dazwischenliegende Generationen). Das Profil des Jugendalters ist diffus geworden, die Räume zur Selbstinszenierung haben sich verlagert, und das historische Zentralereignis, die »Wende« von 1989, bietet wenig Stoff zur Mobilisierung. »Ost« und »West«, obwohl sie sich als politische Blöcke aufgelöst haben, blei7 | S. dazu de Jouvenel, Hugues (1989): Europe’s Ageing Population. Trends and Challenges to 2025. Guildford; diverse OECD Surveys (referiert im EconomistSurvey »All our tomorrows« vom 27.1.1996) und World Bank (Hg.) (1994): Averting the Old Age Crisis. Oxford. Die daraus resultierenden Belastungen (Defizite in den Pensionskassen, Pflegeversicherungskosten etc.) werden übrigens auf ironische Weise die alte Verteilung der Generationen wiederherstellen: Post-Adoleszente werden früher als Beitragszahler benötigt, Früh-Pensionäre müssen länger arbeiten. Vgl. auch Göckenjahn, Gerd (1993): Alter – Ruhestand – Generationsvertrag? Zum Altersdiskurs aus historisch-struktureller Perspektive. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B17/1993, S. 3ff; zu den ethischen Dimensionen Moody, Harry R. (1993): Ethics in an Aging Society, London.
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ben als mentale Spaltungslinie virulent. Überdies sind Merkmale der Geschlechterdifferenz und der ethnischen Schichtung seit den 60er Jahren bedeutender geworden. Männliche Wahrnehmungsmuster stehen nicht mehr im Vordergrund, und die Angehörigen der zweiten und dritten Einwanderungsgeneration entwickeln eigensinnige Strategien der Inklusion und Exklusion. Diese zusätzliche Pluralität führt, wie gesagt, nicht notwendig dazu, dass Generationsbildung ausgeschlossen ist. Eine Generation bildet sich nicht durch gemeinsame Überzeugungen, sondern durch eine – übereinstimmende oder kontroverse – Fokussierung auf zentrale Ereignisse. Die entscheidende Frage ist also, ob die »Ereignisse« von 1989 und deren Folgen ins Zentrum der Kommunikation der heutigen Twentysomethings getreten sind. Gewiss nicht in direkter Weise. Auch noch auf den zweiten Blick ist die relevante Altersgruppe »unpolitisch«. Dies tritt umso klarer hervor, wenn man ihre Themen und Betrachtungsweisen mit der explizit »politischen Generation« der 60er Jahre kontrastiert, die voll der Klagen über das Desinteresse ihrer Kinder, Schüler und Nachfahren an Politik ist. Daran und an den klassischen Kriterien politischer Kulturforschung gemessen, ist die Altersgruppe der 16- bis 25-Jährigen in der Tat schwächer politisch interessiert, organisiert (sowohl in Parteien wie sozialen Bewegungen) und beteiligt (an Wahlen wie an Demonstrationen und ähnlichem). Die dezidiert »progressive« Positionierung der 68er im alteuropäischen Rechts-Links-Schema, aber auch in der amerikanischen Bewegungskultur scheint passé zu sein, auch wenn sich in Mitteleuropa das Gros der unter 30-Jährigen noch überwiegend im links-liberalen bzw. ökologischen Spektrum verortet (in Frankreich und in den meisten ostmitteleuropäischen Ländern ist das nicht der Fall, in den Vereinigten Staaten gibt es einen deutlichen, aber bislang wenig erfolgreichen Trend zu »third parties«). Im großen und ganzen besteht eine erhebliche Distanz gegenüber der etablierten Politik schlechthin. Aus all dem allerdings auf eine »unpolitische« Generation zu schließen, wäre verfrüht – die entsprechenden Fehlprognosen der frühen 60erJahre sollten noch nicht vergessen sein. Die Hemmungen, sich nach Art der Nachkriegsgeneration (wie die deutschen »Flakhelfer«) in den Parteienbetrieb zu stürzen oder nach Art der 68er eine juvenile Bewegungsavantgarde zu rekonstruieren, erscheinen als durchaus rationale und abgeklärte Reaktionen auf das Scheitern dieser Initiativen, deren politisches Engagement noch ganz dem Paradigma der Industriegesellschaft bzw. den Frontstellungen des ideologischen Bürgerkriegs verhaftet waren. Beider Prägekraft ist erloschen; 1989 hat die bereits seit langem andauernde Verschiebung des politischen Koordinatensystems verstärkt. Wenn sich Jugendliche politisch artikulieren, geschieht dies eher in Kontexten lebensweltlicher »Subpolitik« (Ulrich Beck), die von herkömmlichen Großorganisationen (wie Parteien, Verbände, Gewerkschaften etc.) nicht mehr eingefangen werden kann. Die Organisationsweisen der Jungen sind eher informell. Selbst ein extremes Beispiel wie die durchkommerzialisierten
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Love Parades, die in Europa Hunderttausende unter dem treuherzigselbstironischen Motto »Friede, Freude, Eierkuchen« auf die Straße bringen, zeigt wie rasch vermeintliche politische Apathie umschlagen kann: Als der Berliner Senat die 1995er Love Parade nicht mehr als Demonstration einstufen wollte, drohten die Veranstalter, sie explizit zu politisieren – was sogleich zur behördlichen Anerkennung des Kommerzevents als politischer Demonstration führte. Anders war der Konnex zwischen Vergnügungslust und politischem Anspruch bei den Wandervögeln oder in den 60er Jahren auch nicht. Die Bewegungsforschung muss sich also auf neue kulturelle Gegebenheiten einstellen; die sich daraus ergebende Paradoxie kann man vorläufig mit dem Begriff der »informellen Organisation« und der »individualisierten Bewegung« umschreiben. Es wird überdies zu beobachten sein, welche politischen Elemente die Kommunikation im Internet mit sich bringt. Insofern scheint es plausibel, die Ansprüche der neuen Generation zunächst in der kulturellen Sphäre zu untersuchen, die ja auch schon für die 68er von zentraler Bedeutung war. Dort können sich neue Sprachen der politischen Kultur entwickeln, die man in den literarischen, filmischen, musikalischen und sonstigen Ausdrucksformen der »Generation X« (Hip Hop; Grunge, Techno, Rap) finden kann.8 Deren Neuerungspotential kommt nicht mehr via »Schock und Schöpfung« zur Geltung, dem für frühere Jugendavantgarden typischen Muster, sondern als Kollektivprodukt anonymer Sampler und Collagisten. Dieses Prinzip lässt sich sehr gut in der aktuellen Musikszene beobachten, die alle möglichen Bruchstücke früherer jugendkultureller Strömungen und des Mainstreams wiederverwertet und neu arrangiert. Das deutet ferner darauf hin, dass sich die heutige Jugendkultur auch nicht im Sinne eines scharf akzentuierten Generationskonflikts, von den Ä1teren abgrenzt und zur Mehrheitskultur auf Distanz geht, sondern beiden gegenüber ein ironisch-distanziertes Verhältnis einnimmt. (Exemplarisch dafür sind die Romane von Douglas Coupland »Generation X« und »Shampoo Planet«).
8 | Als Fallstudie vgl. Rose, Tricia (1994): Black Noise: Rap Music and Black Culture in Contemporary America, Hannover; dies./Ross, Andrew (1994): Microphone Fiends: Youth Music and Youth Culture. New York; Breuer, Henning (1995): Techno Tekkno Textasy. Köln; Anz, Philipp/Walder, Patrick (1995): Techno. Zürich. Die AG SPoKK der Universität Gießen und ein Graduiertenkolleg bereiten dazu weitere Fallstudien vor (vgl. www.spokk.de). Interessante Selbstdarstellungen geben Kursbuch 121 (1995): Der Generationenbruch. Berlin; Liu, Eric (Hg.) (1994): Next: Young American Writers on the Next Generation. New York; Miller, Jayne (1995): VOXpop: The New Generation X speaks. London; sowie Leggewie (Anm. 2). Das World Wide Web dient längst als Selbstverständigungsmedium der neuen Generation. Einen guten Einstieg in die virtuelle Szene gibt: http:// en.wikipedia.org/wiki/Generation_X/
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4. P OST -A DOLESZENTE UND F RÜH -P ENSIONÄRE : E IN NEUER »V ERTR AG DER G ENER ATIONEN «? Zwei soziale Gruppen haben das soziale Spektrum postindustrieller Gesellschaften in letzter Zeit bereichert: junge Müßiggänger, die das von ihren Eltern und Großeltern akkumulierte Vermögen verzehren, ohne noch irgendeiner »ordentlichen« Beschäftigung nachzugehen, und Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger, die nach herkömmlichen Kriterien »in der Blüte ihrer Jahre« sind, aber am Rande des sozialen Abgrunds stehen. Beide sind »vor der Zeit« Rentiers – die einen schneiden Coupons, die anderen warten auf die Wohlfahrtsschecks. Beide Fälle demonstrieren drastisch das Ende der industriegesellschaftlichen Normalbiographie, die in Wahrheit nur während einer kurzen Zeitspanne der Industriegesellschaft Geltung hatte: während der Boom-Periode nach dem Zweiten Weltkrieg, die die Illusion immerwährenden Wachstums erzeugte. Immer noch suggerieren die gebräuchlichen statistischen Nomenklaturen, dass Personen zwischen 15 und 65 im »erwerbsfähigen« Alter seien, obwohl Erwerbstätigkeit nicht mehr selbstverständlich ist und sich sowohl der Eintritt ins Berufsleben, sofern er überhaupt noch in der gedachten Weise erfolgen kann, für die meisten weit nach hinten verschoben hat, als auch der Zeitpunkt der Verrentung bzw. Pensionierung für viele weit früher ansteht als mit 65. Die geschilderten Fälle in den obersten und unteren Etagen werden in der heutigen Sozialpyramide der postindustriellen Gesellschaften von Post-Adoleszenten und Früh-Pensionären ergänzt, die die Fiktion eines normalen, um die Erwerbstätigkeit herum gruppierten »Arbeitslebens« Lügen strafen. Es war immer ein gegen die asketische Arbeitsmoral aufbegehrender Traum der Menschheit, dass man nicht lebt, um zu arbeiten, sondern arbeitet, um gut leben zu können. Warum sich also nicht bis 30, 35 »ausleben«, und dann ein paar Jahre arbeiten; bis 50, 55? Allerdings geht dieser Traum postindustrieller Muße nicht für alle so schön in Erfüllung wie für die jugendliche leisure class. Die Senkung der durchschnittlichen Wochen-, Jahres- und Lebensarbeitszeit, seit 1945 durch ständige Produktivitätsfortschritte ermöglicht, kaschiert eine zunehmend ungleichere und ungerechtere Verteilung zwischen Beschäftigten und Beschäftigungslosen; den geschützten und ungeschützten Segmenten des Arbeitsmarktes und folglich zwischen Armen und Reichen. Für das Verhältnis zwischen den Generationen und die Situation der unter 30-Jährigen auf den Arbeitsmärkten hat das Umkippen der Alterspyramide einschneidende, vielleicht dramatische Folgen. Es ist, trotz Immigration und aller möglichen Anreize, die Geburtenrate wieder zu steigern, irreversibel, daß nach der Jahrtausendwende in fast allen OECD-Staaten eine schrumpfende Zahl »erwerbsfähiger« Personen, d.h. die heutigen Twentysomethings und ihre Nachfolger, eine rasant steigende Zahl von »Ruheständlern« zu versorgen haben wird. Der »Vertrag zwischen den Generationen« mag eine ideologische Konstruktion sein, die die nüch-
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terne sozialpolitische Realität verschleiert, und es erscheint übertrieben, den »Krieg der Alten gegen die Jungen«, d.h. einen dramatischen Verteilungskonflikt an die Wand zu malen. Aber die Fundamente des westlichen Wohlfahrtsstaates sind nachhaltig in Frage gestellt.9 Es sei hier nur hingewiesen auf die Perspektive der Jüngeren in einem radikal umgewälzten Arbeitsmarkt. Die Glücklicheren, die materiell gesichert sind und die notwendigen Bildungspatente erworben haben, können sich gewissermaßen ein Arbeitsleben à la carte ausmalen, das dem Marxschen Reich der Freiheit nahekommt, in dem Arbeit, geistige Anstrengung und Muße harmonisiert sind. Doch die vielen weniger glücklichen haben bereits jetzt das Problem, dass sie erstens frühzeitig (und oft trotz hoher Qualifikation) aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, dass sie zweitens wegen der für Altersvorsorge und -fürsorge benötigten Mittel um knapper werdende sozialpolitische Ressourcen kämpfen müssen und dass sie drittens selbst einem unsicheren »dritten Alter« entgegensehen. Demographische und gesundheitspolitische Trends (namentlich niedrige Fertilität und längere Lebenserwartung), die daraus folgende Finanzkrise der Wohlfahrtsstaaten, die Entwicklung der Produktivität und der Arbeitsmärkte im Rahmen der Globalisierung und das wachsende Gewicht der älteren Bevölkerung als Wähler und pressure groups im politischen System schaffen ungünstige Voraussetzungen für die Jüngeren. Gleiches gilt im übrigen, trotz des dort sehr viel jüngeren Durchschnittsalters, für die unterentwickelten Länder. Neulinge im Berufsleben sind mit der Entwertung ihrer Abschlüsse im Ausbildungssystem konfrontiert und mit zusätzlichen Lasten, die mit der Reparatur der Folgen einer über hundertjährigen, ökologisch verheerenden Produktion anfallen werden. Die Twentysomethings, um es pathetisch auszudrücken, sind die erste Generation »nach dem Ozonloch«. Diese Perspektiven müssen nicht in ein Horrorszenario münden, wie es allenthalben entworfen wird, wenn soziale Gruppen ihre Forderungen anmelden. Längst haben clevere Vertreter der jungen Generation »Nischen« im Arbeitsmarkt aufgetan, die, jenseits der untergehenden Lohnarbeiter- und Angestelltenexistenz und einer oftmals prekären »neuen Selbständigkeit« schon bald im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen können. Genau hier könnte das von mir vermutete »neue kulturelle Modell« seine ökonomischen und auch seine politischen Potenzen entfalten. Rhetorisch haben sich die reichen Demokratien schon auf den »Zukunftsdiskurs« eingestellt, doch verbirgt sich dahinter oftmals nur eine große Koalition der älteren und mittleren Generation, die ihre Be9 | S. ferner MacManus, Susan A. (1996): Young vs. Old. Boulder/Co.; Bengtson, Vern. L./Achenbaum, W.A. (Hg.) (1993): The Changing Contract Across Generations. New York; und Laslett, Peter/Fishkin, James S. (Hg.) (1992): Justice Between Age Groups and Generations. New Haven. Vgl auch die einschlägigen Artikel von Peterson, Peter G., zuletzt: Will America Grow up before It Grows Old? In: The Atlantic Monthly, 5/1996.
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sitzstände ins nächste Jahrtausend retten wollen, was logischerweise auf Kosten der nächsten Generation gehen würde. Während sich die Alten eine sozialpolitische Lobby geschaffen haben, werden die Ansprüche der Jüngeren nur am Rande bedacht. Insofern ist die Idee eines »neuen Generationenvertrages« vielleicht doch nicht fehl am Platze. Die älteren Generationen – in Deutschland die »Flakhelfer« und die 68er – sollten ihre Versorgungsansprüche im Blick auf die Zukunft ihrer Enkel und Kinder weniger egoistisch im Auge behalten, die Jüngeren sollten, im Blick auf ihr eigenes Alter, der Versuchung widerstehen, die Alten als lästige Kostgänger abzuschieben.
5. B IO -P OLITIK : A LTER , S OZIALSTRUK TUR UND POLITISCHE K ONFLIK TLINIE Der Gesellschaftstheorie ist es in der Regel gleichgültig, wie »alt« eine Gesellschaft ist. Ihre Hauptrichtungen, universalistisch bzw. individualistisch gesonnen, sehen vom Alter der Gesellschaftsmitglieder ab, die sie als Akteure sozialer Kollektive bzw. als rational ihren Nutzen maximierende Individuen betrachten. Diese abstrakte Vorstellung wird mit wachsendem Durchschnittsalter der Gesellschaften, die diesen Theorien zugrundeliegen, erschüttert. Man darf nicht übersehen, daß Weltbilder, Präferenzen, Wertorientierungen, Kommunikationsformen usw. altersabhängig sind, d.h. durch die biophysischen Kapazitäten und die Erinnerung und Erfahrung der Individuen bestimmt werden – man vergleiche nur idealtypisch die Kommunikation in einem »Seniorenheim« mit einer Studenten-WG, und wird feststellen, daß immer noch Welten zwischen Alt und Jung liegen. Auch in Entscheidungssituationen, ob im Alltagsleben, in Führungspositionen oder in Risikolagen, ist die »Rationalität« der jeweiligen Dezisionen grundverschieden. Es macht einen Unterschied, wie alt man ist. Die Indifferenz, vielleicht auch Ignoranz der Gesellschaftstheorie gegenüber diesem Unterschied hat nicht nur mit der Abstraktheit ihrer Modelle zu tun, die eine Erbschaft des politischen und ökonomischen Liberalismus sind: Sie hängt auch mit der Erkenntnis zusammen, dass »Alter« keine rein biophysische Angelegenheit, sondern sozial konstruiert, also sozialhistorisch variabel ist. »Alter« bedeutete in traditionalen Stände- und Patrimonialgesellschaften etwas ganz anderes als in modernen »Leistungsgesellschaften«. Der in diesen erreichte Wohlstand und die Zunahme der Optionen haben die Ablösung des Altersbewusstseins von der biophysischen Konstitution wie von einem gerontophilen Ehrenkodex (»Ehre das Alter!«) ermöglicht. Man ist damit immer so alt, wie man sich fühlt oder wie man gemacht wird. Die oben zitierten Beispiele der PostAdoleszenten und Früh-Pensionäre sind Beispiele für die Möglichkeiten freiwillig-unfreiwilliger Alterskonstrukte. 14-jährige Kindereltern, die in der amerikanischen Wertedebatte eine große Bedeutung bekommen haben, oder späte Elternschaft (inklusive der 60-Jährigen, die die Segnun-
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gen der Reproduktionstechnologie nützt und Mutter wird), sind andere Beispiele, die durch die altersindifferenten Strategien der Modebranche und der populären Kultur verstärkt werden. Das »Jugend-Moratorium«, eine Grundlage der Generationsbildung junger Peer-Gruppen, ist damit entzaubert, während über 60-Jährige, die heute noch eine jahrzehntelange Lebenserwartung haben, unter dem Postulat eines hyperaktiven »UnRuhestandes« stehen. Diese Tendenz, eine letztlich biologisch fundierte soziale Kategorie, das »Alter«, als Merkmal sozialer Schichtung aufzuwerten und zugleich zu verflüssigen, provoziert den liberalistischen Diskurs. Dies war schon mit der Berücksichtigung von Geschlechtsdifferenzen (gender and sex) der Fall und ebenso mit dem Bedeutungszuwachs von Herkunfts- und Zugehörigkeitsmerkmalen wie race und ethnicity. Analog dazu ist auch age (oder aging) eine solche Kategorie der Differenz, die das abstrakte Verständnis sozialer Gleichheit irritiert. Herkunft, Abstammung, Geschlecht und Alter wirken wie Relikte vormoderner Gemeinschaften, in denen derartige Zuschreibungen soziale Positionen und Hierarchien »von Geburt an« festlegten. Heute erscheinen sie überdies als Ausdruck einer »biopolitischen« Wende, mit der biologische Kategorien politisiert werden. In der Tat stellt »Alter«, gegebenenfalls auch das Generationenverhältnis, eine soziale Spaltungs- und eine politische Konfliktlinie dar, die unter den erwähnten sozialpolitischen Prämissen eine gewisse Brisanz annehmen kann. Es haben sich bereits Interessengruppen und Parteien der Alten herausgebildet, die allmählich und mit wachsendem Erfolg am sozialpolitischen Wettbewerb teilnehmen. Weniger erfolgreich verlief die Gründung einer entsprechenden »Partei der Jungen«. Dazu trägt die bereits erwähnte Distanz der jüngeren Altersgruppen zum politischen Betrieb bei, aber auch, dass »Jugend« an sich politisch schwer aggregationsfähig ist. Das Beispiel der deutschen Grünen zeigt allerdings, wie sich ein lockerer Generationskontext (hier die heute zwischen 35- und 45-Jährigen, zum Teil identisch mit der Zwischengeneration der sog. 78er) politisieren lässt, wenn er mit brachliegenden und mobilisierungsstarken issues verbunden ist und durch neue soziale Bewegungen gestützt wird. Insofern läßt sich eine wenigstens indirekte Politisierung der Altersdifferenz und eine Aggregation politischer Interessengruppen nach Alterskriterien prognostizieren. Helmut Kohl hat vor seiner letzten Wiederwahl in einem Fernsehinterview treuherzig bekundet, dass die unter 35-Jährigen, die ihn überwiegend nicht wählen würden, ihm keine sonderlichen Sorgen bereiten – er könne auch ohne sie regieren. Nach der Wahl ernannte er eine 28-Jährige zur Jugendministerin, wobei fraglich ist, ob er mit einer erzkatholischen Abtreibungsgegnerin sein Manko unter den Jungwählern wettmachen kann. Auf den ersten Blick hat das politische Establishment in den reichen Industrieländern die nächste Generation nicht zu fürchten – sie ist zahlenmäßig schwach und politisch gering organisiert. Doch zeigt sich unter amerikanischen Jungwählern eine wachsende Neigung, das von
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Republikanern und Demokraten beherrschte Terrain zu verlassen. Auch wenn die von ihnen bevorzugten third parties, Libertäre und Grüne, oder der aus Protest in Betracht gezogene Unabhängige Ross Perot das Spiel nicht gewinnen können, bildet das alternative Votum eine beachtliche Blockademacht, die Wahlen verloren gehen lassen kann, z.B. in Kalifornien. Den verschiedenen politischen Kulturen der liberalen Demokratien ist gemeinsam, dass sich Jungwähler vom traditionellen politischen Lagerdenken am weitesten entfernt haben, dass sie am stärksten auf einen grundlegenden politischen Wandel (und Generationswechsel) drängen, und dass sie am meisten darauf achten, dass die schrumpfenden Ressourcen der öffentlichen Hände nicht einseitig für Alterssicherung und Sicherheitsbedürfnisse der älteren Generationen verwendet und die neuerdings unter »Zukunftssicherung« zusammengefassten Aufgaben (Bildungsinvestitionen, Förderung neuer Technologien, ökologische Politik etc.) vernachlässigt werden. Für die Regierungskoalitionen, die nach den entscheidenden Wahlen in den USA, Großbritannien und Deutschland von 1996-98 gebildet werden, ist also entscheidend, ob sie sich als Besitzstandswahrer der Pensionäre von heute und morgen oder als Interessenvertreter der heutigen Twentysomethings begreifen werden.10 »1989« bot Anlass für einen politischen Generationenwechsel. Doch im Osten wurden die Akteure der »samtenen Revolution« verdrängt, im Westen blieben die alten Eliten am Platz. Aber auf dem Arbeitsmarkt, in den Neuen Medien, in der populären Kultur tun sich interessante Perspektiven auf, die mittelfristig ihre politische Wirkung nicht verfehlen werden. Die nächste Generation kommt gewissermaßen durch die Hintertür. Jenseits ihrer immer flacher werdenden medialen Präsentation ist sie ein faszinierendes Studienobjekt. Die Sozialforschung, die schon die Zäsur von 1989 verschlafen hat, sollte sich auf das Thema der Generation einstellen, ebenso das politische Establishment. Das Label »X«, das eine unbekannte Größe anzeigt, ist ein geradezu ingeniöses Selbstetikett: Als No-Name-Produkt zwischen präpotenter Exhibition und aufgeschobenem Coming out, ist Generation X ein raffinierter Modus der Selbst-Generierung, der die Bemühungen der »Fremdgeneratoren« (Werbung, Mode etc.) fallweise einbezieht und sich ihnen auch immer wieder entzieht. Im Kampf um Anerkennung vergrößert sich im übrigen die kulturelle Kluft zu den Älteren. Denn vergessen wir nicht, was der eigentliche Sinn von Generationsbildung ist, nämlich zu demonstrieren: Wir sind nicht so wie Ihr. Und Ihr kommt nicht mit bei unseren Änderungen.
10 | VgI. das Dossier »Die 89er« in der Wochenpost 43/1995 und Mitchell, Michele (1996): A New Kind of Party AnimaI. In: New York Times vom 20.1.1996 sowie die Kolumne des Wired-Journalisten John Heilemann »It’s the New Economy, Stupid.« In: Wired, 3/1996, S. 67ff.
Die Söhne Mannheims Erik Meyer
»Ihr kommt nicht mit bei unseren Änderungen!« Der Titel des Aufsatzes, der als executive summary des monografischen Generationenportraits »Die 89er« (Leggewie 1995) gelesen werden kann, nimmt – wie der Autor ohne weitere Details zu nennen in einer Fußnote anmerkt – einen Song der Neuen Deutschen Welle auf. Dabei handelt es sich um den Titel »Abenteuer & Freiheit« der Formation »Fehlfarben«; die B-Seite der Single, mit der sich die Band Ende 1979 konstituiert. Dieses Zitat artikuliert ein zentrales Motiv des Generationendiskurses, nämlich die Kombination von Affirmation und Antagonismus: Veränderungen (historische, gesellschaftliche, politische etc.) werden nicht passiv erlitten, sondern – zumindest der selbstermächtigenden Behauptung nach – als Änderungen von einer qua geringem Alter ausgezeichneten Avantgarde aktiv ausgeführt. So wie Fehlfarben wenig später proklamieren: »Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran!« Dies wird aber nicht nur konstatiert, sondern damit ein gesellschaftliches Gegenüber konfrontiert. Und die Akteure dieser Aussage sind schließlich keine Individuen, sondern artikulieren sich als Kollektivsubjekte. Mit dieser sowohl sozialen als auch konstruktivistischen Konstellation lässt sich die Grundstruktur des auch für Leggewie maßgeblichen wissenssoziologischen Generationenverständnisses, wie es Karl Mannheim elaboriert hat, skizzieren.
D IE 89 ER Von Mannheims Konzeption ausgehend verfolgt Leggewie die Hypothese, dass die weltgesellschaftliche Zäsur von 1989 – der Theorie nach – »generationsträchtig« sein müsste. In dieser Versuchsanordnung manifestiert sich das Interesse am (Gedanken-)Experiment wie einer im besten Sinne emphatischen sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnose. Insofern ist auch der Erscheinungsort des Aufsatzes mehr als einschlägig: Transit, die Europäische Revue, wird seit 1990 am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien herausgegeben; ein kosmopolitischer think tank an der
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Schnittstelle von Mittel- und Osteuropa. Und so sind das Publikationsorgan und sein regelmäßiger Autor nachhaltiger von 1989 geprägt als etwa die mittelhessische Justus-Liebig-Universität in Gießen, an der Leggewie damals als Professor antritt. In dieser Zeit beginnen dort auch einige Postadoleszente ihr Studium der Politikwissenschaft, die sich später als AG für »Symbolische Politik, Kultur & Kommunikation« (SPoKK) konstituieren. Institutioneller Bezugspunkt der studentischen Selbsthilfegruppe ist Leggewies Professur, gemeinsames Ziel die Erweiterung des Kanons. Leggewie selbst stellt im Rückblick fest, dass sein Portrait der 89er »eindeutig spokkistische Tendenzen aufweist« (Leggewie 2003: 9). Dies betrifft weniger das framing als die empirischen Phänomene der Jugend- und Popkultur, an der sich SPoKK akribisch abarbeitet. Denn die mittlerweile zu Doktorvater und Doktoranden mutierten Sozialforscher konkurrieren in sportlichem Sinne um das korrekte Generationsprofil: Leggewie hält dabei an der Notwendigkeit eines markanten historischen Datums fest und postuliert: »Die entscheidende Frage ist also, ob die ›Ereignisse‹ von 1989 und deren Folgen ins Zentrum der Kommunikation der heutigen Twentysomethings getreten sind.« Da sind diese skeptisch und fordern »Diskurskorrekturen an der Generationenbörse« (SPoKK 1998): Die durch Digitalisierung charakterisierte differente Mediennutzung sei ausreichend fundamental, um eine aktuelle Generationsbildung zu markieren, so die These. Folgt man dieser Fährte und sucht die portraitierte Generation im Netz, dann findet sich prominent platziert ein Video bei YouTube, ein Eintrag bei Wikipedia und ein Profil bei MySpace: alle drei handeln von den deutschen DanceProduzenten »89ers« mit ihrem Titel »The 89ers Boy«.
G ENER ATION OHNE E IGENSCHAF TEN ? Der Vorschlag, »die Generations-Chance von 1989 auszuloten«, kam zumindest im Feuilleton nicht so gut an, was wiederum an der prekären Kombination von Affirmation und Antagonismus liegt: Denn gerade den Zeitgenossen, die als potenzielle Gegner der 89er in Frage kamen, war die neue Situation, die Leggewie benevolent umarmte, wenn nicht ein Graus, dann zumindest suspekt. Auch wollten sie weiter die Spielregeln der Generationsbildung diktieren und ihre eigene Generationsgestalt dabei zum Maßstab erheben. Andere riefen gerade das Ende der Jugendkultur im »Mainstream der Minderheiten« (Holert/Terkessidis 1996) aus, und auch aus dieser Perspektive schien die Genese einer Generation unplausibel. Trotzdem erlebt der Generationsbegriff in der Folge eine Renaissance: Nach einer inflationären Prägung der Generationsetiketten von Berlin bis Benedikt, reüssiert er inzwischen wieder im akademischen Kontext: Er fungiert vor dem Hintergrund des kulturwissenschaftlichen memory boom als historische Deutungskategorie und dient zur Bezeichnung empirischer Erinnerungsgemeinschaften. Ein Sammelband erhebt Generation
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gar zum wissenschaftlichen Grundbegriff und lotet ganz unbescheiden die Potenziale der Kategorie für eine moderne Sozialwissenschaft des 21. Jahrhunderts aus (Jureit/Wildt 2005). Und auch die Suche nach einer Generation als politisch handlungsfähigem Subjekt scheint erst kürzlich von Erfolg gekrönt: In der Auseinandersetzung um das Gesetz zur Bekämpfung der Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen erkannten Beobachter den Ausdruck eines Generationenkonflikts. Die Piratenpartei als (noch) außerparlamentarischer Arm einer postheroischen Generation von digital natives (vgl. Palfrey/Gasser 2008), das wäre zum 30. Geburtstag der Grünen eine pointenreiche Provokation der 68er.
L ITER ATUR Jureit, Ulrike/Wildt, Michael (Hg.) (2005): Generationen: Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg: Hamburger Edition. Holert, Tom/Terkessidis, Mark (Hg.) (1996): Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Berlin/Amsterdam: Edition IDArchiv. Leggewie, Claus (1995): Die 89er – Portrait einer Generation, Hamburg: Hoffmann und Campe. Leggewie, Claus (2003): Agenda 93/03. In: SPoKK (Hg.): Jugend, Medien, Popkultur: Ein Sammelalbum. Berlin: Archiv der Jugendkulturen. S. 7-10. Palfrey, John/Gasser, Urs (2008): Generation Internet. Die Digital Natives: Wie sie leben – Was sie denken – Wie sie arbeiten, München: Hanser. SPoKK (1998): Aktie X – Diskurskorrekturen an der Generationenbörse. In: Büchergilde Gutenberg (Hg.): Jugend, Politik, (Sub)Kultur: Eine große Weigerung? Frankfurt a.M./Wien. S. 51-73.
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Das war vor Jahren Nach dem Nicht-mehr-Mitkommen Diedrich Diederichsen
»Der Titel des Aufsatzes nimmt einen Song der Neuen deutschen Welle aus den 70er Jahren auf«, heißt es in der Fußnote Nr. 1 von Claus Leggewies 1996 veröffentlichen Text »Ihr kommt nicht mit bei unseren Änderungen«. Ohne dafür explizit in Anspruch genommen zu werden, scheint die Zeile einen frühen Beleg für einen Gedanken dieses Essays zu liefern – die These nämlich, dass die Diversifizierungen und Differenzierungen jugendkultureller Ausdrucks- und Erlebnisformen im Laufe der 90er Jahre keineswegs im Gegensatz stehen zur Generationenbildung. Denn der, der da spricht, sagt zwar, dass »wir«, die Angesprochenen, hilflos vor einer unübersichtlichen Vielfalt von schnell sich ändernden heterogenen Jugendkulturen stehen (und stehen sollen), dass die aber indem sie dennoch so ein klares Gegenüber finden können, dessen Ratlosigkeit Sinn der ödipalen Kultur-Guerrilla ist, doch etwas gemeinsam haben. Gerade in ihrer ins Entropische tendierenden Vielfalt ist Jugendkultur demnach Generationenkultur, die sich auf fest gefügte Vorstellungen von »Ihr« und »Wir« bezieht. Damit nimmt Leggewie 1996 etwas von dem vorweg, was bald nicht nur soziologischer und zeitgeschichtlicher Beobachtung auffallen wird, sondern vor allem den Betroffenen selbst. Die zahllosen Generationen, die seit Beginn des während der Niederschrift dieser Zeilen auslaufenden ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends ausgerufen worden sind, scheinen davon Zeugnis abzulegen. Ihre verschiedenen Beschreibungen konvergieren meist in der Einsicht, dass man außer der gemeinsamen Generationszugehörigkeit nichts anderes gemein habe, dass in den Mittelpunkt einer Mobilisierung von Gemeinsamkeiten sich rücken ließe, außer zur selben Zeit auf die Welt gekommen zu sein. Daher müssen nahezu kontingente Erfahrungen mit Produkten und Fernsehserien herhalten, um an die Stelle dessen zu treten, was einst kulturelle Brüche oder welthistorischer Wandel war. Die Jugendlichen, die sich später zu den Generationen X, Y, Zff. zählen werden, sind also mithin selber restlos
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verwirrt, von dem was sie kulturell so treiben und suchen letzte Sicherheit darin, dass sie wenigstens als Generation noch eine – weitgehend entleerte – Einheit bilden. Doch ausgerechnet mit einem, in diesem Selbstgefühl komplett abwesenden, großhistorischen Einschnitt stellt Leggewie eine Verbindung zu den unübersichtlichen Jugendlichen her, nämlich zum Ende des real existierenden Sozialismus, des Falls der Mauer und der anderen Umstürze, für die das Jahr 1989 in ähnlicher Weise steht wie 1968 für die Kulturrevolution, vor allem auf dem Territorium des Westens. Gerade weil dem großen Ereignis nicht die Bewegungseinheit oder die Tendenzwende gegenübersteht, sondern die unübersichtliche Vielfalt der Lebensstile, allemal bei den für die Generationsbildung entscheidenden Jugendlichen, wird es in diesem Zusammenhang relevant. Natürlich gibt es mit ’89 locker verbundene Rahmenbedingungen, die auch die in den 80ern schon weit gediehene Diversifizierung weiter beförderten: in den 90er Jahren haben z.B. auf der Linken Ökologie, Feminismus, Anti-Rassismus den klassischen binären Ordnungsrahmen des Klassenkampfes beerbt. Kulturelle Orientierungen haben sich in so genannten Kulturkämpfen, zumal in den USA aber auch in Mittel- und Westeuropa, vor die traditionellen politischen Orientierungen geschoben oder sich schieben lassen und das Feld für metonymisch verschobene Stellvertretungskämpfe eröffnet. Doch jenseits von solchen objektiven Bedingungen, wäre das Selbstverständnis der Beteiligten zu nennen, nicht mehr als Vertreter großer gesellschaftlicher Gruppen gelten zu wollen, sondern als Gesandte von Mikrokulturen oder als überhaupt unbestimmte Wesen. Nun haben das Jugendliche bis zu einem gewissen Grade schon immer vertreten. Die Einsortierung durch Zeitdiagnose, Soziologie und die üblichen Krisenbefunde standen schon immer quer zur ödipalen Dynamik von Individuation und Selbstbehauptung. Doch diese Behauptung eines historischen Kerns und das Beharren auf dessen spezifischer Differenz war zugleich eine wertvolle Quelle sowohl intra- wie intergenerationaler Verständigung. Das Nichtaufgehen historisch spezifischer Rebellion in den entmündigenden Kategorien anthropologischer Konstanten oder soziologischer Globaldiagnosen wurde besonders in dem Moment offensichtlich, wo es um Rebellion schon gar nicht mehr geht, wo nicht mehr ein sich langsam zum Manne mauserndes Jung-Macho-Ego irgendwelche Ketten sprengt, sondern das Neue einer Generation gerade darin besteht, dass sie dieser routinierten Aufführung kein Material mehr bietet. Florian Illies, einschlägig als Erfinder von Generationen, war unlängst in der »Zeit« ganz verzweifelt, dass keine Vatermorde mehr begangen werden.1 Dabei stimmt auch hier, was Leggewie schon 1996 schrieb, dass kooperative Produktionsformen, Künste, die auf Konnektivität, Remixen und Gruppenausstellungen ohne individuelle Künstlernamensschilder seit den frühen 90ern ohnehin ohne die Egos und zugehörigen Expressionis1 | Illies, Florian (2010): Aufruf zum Vatermord. In: Die Zeit, 28.1.2010.
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men auskommen, die sich über Väter und deren Ermordung definierten, sondern vor allem anti-subjektive Künste vorantrieben: die Technokultur zum Beispiel. Gleichwohl gab es in diesen Bewegungen durchaus generationale Zusammengehörigkeit jenseits verzweifelter Bezugspunktsuche; z.B. im Zunehmen queerer und post-machistischer Lebensstile, zunehmender künstlerischer und nichtkünstlerischer Kooperativität und einem selbstverständlichen Umgang mit digitaler Technologie. Natürlich war dies um 1989 noch nicht soweit. Vielleicht ist ’89 also eher so etwas wie ein Beginn neuer Voraussetzungen, die Phänomene möglich werden ließen, die erst heute flächendeckend zu beobachten sind. Es wäre also eher ein Datum wie ’45 oder ’48 (Nachkriegszeit/Kalter Krieg), dessen Generationskultur sich auch nicht an wenigen Jahrgängen festmachen lässt. 1993 und das World Wide Web wäre ebenso zu nennen, aber es stimmt natürlich, dass dieses dem Ende des Kalten Krieges und der nun ungehemmten kapitalistischen Globalisierung seine Existenz verdankt.
D ER P OP -S ONG ALS M EDIUM DES G ENER ATIONENKRIEGS Dennoch interessiert mich natürlich vor allem, wie und ob man diese Generation noch durch Pop-Songs zum Sprechen bringen kann. Zunächst ist es ja ein angemessener Kunstgriff, einen Pop-Song sprechen zu lassen, wenn man sozusagen den historischen Moment selbst zu Wort kommen lassen will. Der Pop-Song gehört ja weniger seinen Urhebern, die irgendwie speziell sind und für irgendwelche Sonderbedingungen stehen, die man aus Künstlerbiographien kennt. Dies gilt nur für die wenigen Ausnahmen, bei denen ein Song eng mit einem bestimmten Interpreten, einem bestimmten, den Rezipienten bekannten Bild verbunden ist. In der Regel spricht der Pop-Song, so meinen zumindest implizit diejenigen, die ihn als Stimme einer Zeit zitieren, das aus, was alle die ohne zu protestieren oder sich abzuwenden, seine Präsenz in einer Zeit geduldet haben und zugelassen haben, dass er sich in der kollektiven Erinnerung niedergelassen hat. Eine andere heute weit verbreitete Diagnose, die Leggewie relativ früh in seinem ’96er Aufsatz stellt, ist die von einem sich anbahnenden Generationenkonflikt, der nicht mehr um Orientierungen und Werte ausgetragen wird, sondern um Versorgung und Vorsorge entlang des so genannten Generationenvertrages. Von dieser Krise ist, wie man fünfzehn Jahre später einigermaßen gesichert hinzufügen kann, sehr viel geredet worden, sie hat Büchern, Leitartikeln und Talk-Shows als Gegenstand gedient und sozialpolitische Debatten geprägt. Doch unter allem, was im deutschsprachigen Raum in den letzten fünfzehn Jahren geredet worden ist, dürfte diese Problemstellung als so ziemlich einzige es nicht geschafft haben, je Eingang in einen Pop-Song gefunden zu haben. Bildungspolitik, Überziehungskredite, Wohnungsnot, Gentrifizierung, Bundesbahn-
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privatisierung und Kommerzialisierung des Breitensports – sie alle sind in irgendeiner Form besungen worden. Pop-Musik ist auch im InternetZeitalter eine lebendige Zeitung, nur von Generationengerechtigkeit hat sie noch nie geredet. So hat also ein Aspekt und nicht irgendeiner, sondern der am engsten mit Generationenschicksalen verbundene Aspekt heutiger Generationenpolitik es nicht in das zentrale Medium der Generationenkriege geschafft, den Pop-Song. Das könnte daran liegen, dass Pop-Songs diese Rolle nicht mehr spielen oder es könnte daran liegen, dass die Generationendifferenzen und die dazu gehörige Selbstwahrnehmung an anderen Frontlinien entlang verlaufen. Es könnte aber auch damit zu tun haben, dass PopSongs und vergleichbare Formate, ganz wie von Illies und anderen Nostalgikern befürchtet, gar nicht mehr mit den Vätern reden wollen: nicht aus Enttäuschung, Verbitterung und Gesprächsunfähigkeit. Sie wissen sehr gut, dass Väter, denen man noch erklären musste, dass sie nicht mitkommen, nicht mehr von Belang sind.
R EFERENZEN , ODER : W ER KOMMT NOCH MIT ? Der Song, der dem fraglichen Aufsatz seinen Namen gegeben hat, stammt anders als in den Fußnoten angegeben, nicht aus den 70er Jahren, sondern von 1980. Er erschien zunächst als B-Seite einer Single der Band Fehlfarben auf deren eigenem Label.2 Fehlfarben waren zunächst ein Seitenprojekt der Band Mittagspause, die wiederum so etwas wie eine führende Kraft der ersten so genannten Neuen Deutschen Welle waren, also der ersten Welle einer deutschsprachigen Punk-Bewegung.3 Mit diesem Seitenprojekt wollten die Fehlfarben halb scherzhaft, halb begeistert sich auf das so genannte Ska-Revival beziehen, das damals in Großbritannien stattfand. Ska, die erste jamaikanische Pop-Musik, die mit der afrokaribischen Migration in den späten 50er und frühen 60er Jahren in Großbritannien bekannt wurde, hatte bald, vor allem ab etwa 1965 in ihren nun entwickelten Stadien Bluebeat und Rock Steady sowohl ein Publikum aus der ersten Generation der Kinder der karibischen Einwanderung, als auch ein Publikum aus britischen Arbeiterjugendlichen gewonnen, die in Abgrenzung von den langhaarigen Bürgerkindern extrem kurze Haare trugen. Man nannte sie Skinheads. Die schwarzen Rude Boys und die weißen, oft rassistischen Skinheads pflegten trotz vieler Spannungen eine Weile eine Form von Kohabitation, 2 | Welt Rekord wurde kurze Zeit darauf von der EMI erworben, die auch die erste LP der Fehlfarben veröffentlichten. 3 | Später wird dieser Begriff eher im Zusammenhang mit neuer deutschsprachiger Pop-Musik verwendet, die sich gerade nicht aggressiv, sondern im besten Falle postmodern, im schlimmsten opportunistisch auf Traditionen der Unterhaltungsmusik berief, besonders gerne der Vorkriegszeit.
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die zu vielen staunenden Berichten und Untersuchungen von Jugendsoziologen und Jugendkulturforschern geführt hat. Auf diese seit den frühen 70ern verebbte und vergessene Subkultur bezogen sich im Jahre 1979 gleich drei Bands aus Coventry: die Specials, Madness und Selecter. Specials und Selecter waren ebenfalls gemischte Bands. Ende der 70er gab es in der Punk-Kultur antirassistische Linke, pseudorassistische Provokateure, rassistische Skinheads und schwarze Dreadlockträger, die mit Teilen der Punk-Kultur verbunden waren. In dieser Gemengelage waren die genannten Bands, die zunächst alle auf dem Two-Tone-Label erschienen, dessen Name und gewürfelte Schwarz-weiß-Ästhetik (auf Covern, Badges, Flyern, Logos) programmatisch war, die ersten, die innerhalb der Gemengelage des Punk-Rock als schwarz-weiße Kollaborationen sichtbar wurden. Darüber hinaus waren sie Ende 1979, Anfang 1980 der letzte Schrei. Die Fehlfarben waren nicht die einzige deutsche Reaktion auf diese Mode, als auch sie mit den schwarzen Lederhütchen der Rude Boys zu sehen waren. Viele jamaikanische Ska-Klassiker der mittleren 60er Jahre waren Versionen von globalen Mainstream-Hits wie »I Should Have Known Better« von den Beatles oder Filmsoundtracks, darunter dem von John Sturges’ »The Magnificent Seven«, dessen Thema später von der Marlboro-Werbung aufgegriffen und noch bekannter gemacht wurde. Auf diesen Umstand reagieren die Fehlfarben, wenn sie auf der B-Seite ihrer ersten Single, den Song, aus dem die Zeile stammt, die den Leggewie-Aufsatz überschreibt, nicht nur mit der Fanfare der Cowboy-Zigaretten-Werbung von Elmar Bernstein beginnen lassen, sondern diesen auch »Abenteuer & Freiheit« nennen. Dann heißt es »Es ist zu spät für die alten Bewegungen/Was heute zählt, ist Sauberkeit/Ihr kommt nicht mit bei unseren Änderungen/Für uns seid ihr noch nicht reif/Wir sind noch wenig, doch wir haben uns gefunden/Wir stehen im Dunkel bereit//Wir wollen nur unseren Spaß haben und tanzen/Was steht ihr so doof rum?//Wenn wir euch sehen können wir nur noch ablachen/Hey Mann, hüpf mich nicht um/Nimm deine Pfoten von meinem Anzug/Guck dich doch mal selbst im Spiegel an«. Das ist der ganze Text.
D ER G ENER ATIONENKONFLIK T SPRICHT VON SEINER V ER ABSCHIEDUNG Dieser kleine Exkurs zur Geschichte des hier zitierten Songs war nötig, um die Breite seines Referenzpanoramas aufzuspannen – er kann sie nur noch zusammenhalten, indem er sich eine gewisse Abstraktheit erlaubt. Was hier vorgeführt wird, sind alle Formeln, mit denen sich in dieser Zeit der zersplitternden Subkulturen, der auf aufkommenden Style Wars von einander abgrenzen. Der Saubere, der sich die Pfoten auf dem Anzug verbittet, könnte ein Popper sein, der einen Punk zurückweist, der ihn umzuhüpfen droht; dass die alten Bewegungen erledigt sind, könnte er einem
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der Anarchos zurufen, die mit Punks, Rude Boys, Skins und alten Hippies damals die wenigen Jugendlokale der Republik in der Regel noch gemeinsam bevölkerten. Zugleich könnte sich das Ablachen über komisch aussehende Leute auch auf die neu uniformierten und komischen Ska-Fans und Rudies beziehen. Überhaupt lässt sich der Song als Dialog ebenso verstehen, wie als eine Ansprache, die eine Truppe von Coolen an einen Saal von Uncoolen richtet. Dass Peter Hein, Sänger und Texter der Fehlfarben, der mit Mittagspause eher Standpunkte der radikalen Linken eingenommen hat, sich mit den Poppern gemein macht, war aber sozusagen per Kontext ausgeschlossen, eher schon mit einer Kritik an einer alt gewordenen älteren linken Generation, die nichts mit jungen hedonistischen Linken (und Nichtlinken) anfangen konnte – das war eine damals recht häufige Auseinandersetzung im Alltag des Nachtlebens. Doch auch dafür ist die Allgemeinheit der gegen einander aufgefahrenen Floskeln zu betont. Hier ist jemand bereits auf der Suche nach der allgemeinen Form von Auseinandersetzungen; jemand, der zugleich noch verwickelt und aufgedreht genug ist, sie noch mit emotionalen Leben zu füllen – einer Gefühlswelt, die schon dabei ist zu vergessen, wovon sie handelt, deren abstrakte, immer noch aufgeladene, aber inhaltlich stumpf gewordene Formen umgeschmiedet werden für andere Nutzungen. Denn die Style Wars der 80er, die noch vieles von sozialen Fraktionierungen wussten und symbolisierten, und die Kulturkämpfe der 90er Jahre, die immer noch einen Bezug zumindest zum Streit der Ideologien hatten, kündigen sich hier zwar an; man ahnt aber auch schon die kulturell ausgetragenen heutigen sozialen Differenzierungen, die oft nur noch Reflexe von Verteilungskämpfen, städtischen Vertreibungen und alltäglichen Konkurrenzen um knappe Arbeitsplätze und Lebensressourcen sind. Was Peter Hein hier zum Ausdruck bringt, ist nicht so sehr die Ahnung der viel beschworenen Vereinnahmungen, von denen Alternativ-Kulturen so viel quengeln, sondern das Gefühl, dass das ganz eigene Terrain von Punks als besonders hingebungsvollen Generationskämpfern gerade durch seine formvollendete Beherrschung durch die Punk-Generation als Schablone und Werkzeugkasten der Coolness-Beschämung bald, in sagen wir einem Jahrzehnt, jeder Debatte, jedem Konflikt, den kulturellen Überbau-Gefechten wie den fiesesten existenziellen Nuancen ganz primärer Konkurrenzkämpfe zur Verfügung stehen könnte. Insofern spricht hier schon nicht mehr eine Generation, sondern der Generationenkonflikt selbst spricht von seiner Verabschiedung, davon, dass niemand mehr bei ihm mitkommen wird, der ihn noch suchen wird: keine ältere, keine jüngere Generation; denn er wird sich auf der Ebene der Phänomene kaum noch unterscheiden lassen von den anderen symbolischen Zerwürfnissen. Im besten Falle hat die gezielte Verweigerung dieses Konfliktes in einigen Künsten einige neuartige Ergebnisse hervorgebracht, bei denen viele nicht mitkommen – aber das ist auch keine Frage des Alters.
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Multipolare Welt Generationsbildung in einer Welt ohne Zentrum Svenja Falk
D IE W ELT NACH 1989 Am 2. Januar 2010 überfiel ein 28-jähriger Mann aus Somalia den dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard in seinem Haus in dem kleinen Grenzstädtchen Aarhus. Presseberichten zufolge soll der junge Mann den 74-Jährigen mit Axt und Messer bedroht und dabei lauthals »Blut« und »Rache« gebrüllt haben. Westergaard konnte in letzter Minute Hilfe herbeirufen und sich gerade noch rechtzeitig mit seiner fünfjährigen Enkelin im Badezimmer einschließen.1 Zum Hintergrund: bereits im Jahr 2005 hatte Westergaard in der Tageszeitung »Jyllands-Posten« eine Mohammed-Karikatur veröffentlicht, die den Propheten mit einem Turban in Form einer Bombe zeigte. Die Karikatur hat bei Muslimen weltweit zu Protesten geführt, mehr als 100 Tote und lang anhaltende diplomatische Verstimmungen zwischen Dänemark und der arabischen Welt waren die Folge. Westergaard steht seitdem unter ständigem Polizeischutz. Ein gezeichnetes Bild, gedruckt in einer Zeitung mit einer täglichen Auflage von 120.000 Exemplaren in einem der kleinsten Länder der Welt hat vor 5 Jahren eine Kettenreaktion ausgelöst, die nicht nur das Leben eines alten Mannes in Dänemark für immer verändert hat, sondern auch eine weltweite Debatte zur Meinungsfreiheit, dem Islambild des »Westens« und dem »Kampf der Kulturen« ausgelöst. Dieses martialische Ereignis in einer bis dato eher unbekannten dänischen Kleinstadt symbolisiert Aspekte der Globalisierung, die sich in eigentümlicher Weise über das Potential einer politischen Identitätsbildung der Ereignisse von 1989 gelegt hat. Der Mauerfall leitete eine qualitativ neue Phase der Globali-
1 | Vgl. Spiegel online: www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,669857,00. html, zuletzt aufgerufen am 30.01.2010.
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sierung ein, neue ökonomische, soziale und kulturelle Verknüpfungen wurden möglich. Warum also wurden die »89er« nie zu einer sozio-kulturellen Generation wie die »68er«? Die »68er« haben in Deutschland (und anderswo) spaß-orientiert, aktionistisch und polarisierend viele Themen auf die Agenda gebracht wie die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, die »Geschlechterverhältnisse«, Fragen der Erziehung etc., die bis heute den politischen Diskurs in der Bundesrepublik nachhaltig prägen.2 Die »89er« hingegen sind bis dato höchstens rudimentär als politische Generation in Erscheinung getreten. Im folgenden möchte ich in einer als Skizze zu verstehenden Replik auf Claus Leggewies Aufsatz versuchen zu zeigen, wie der generationsbildende Impetus der Revolution von ’89 durch eine von ihr initiierte neue Form der Globalisierung überlagert wurde. Die mentale Landkarte der Identitätsbildung wird multipolar und verlagert sich zunehmend aus dem »Container des Nationalstaats« (Ulrich Beck) in transnationale Räume. Heute ist eine Gemengelage lokaler und globaler Dynamiken entstanden, die den Erfahrungsraum von Generationen definiert, vermittelt über in globale Kommunikatonskanäle eingespeiste Bilder, virtuelle Formen einer entgrenzten sozialen Vergemeinschaftung sowie einer zunehmend globalen Arbeitsteilung. Identitätsbildung, Beziehungen und auch Konfliktlinien haben sich globalisiert, der Bezugsrahmen hat sich dabei kulturalisiert und ökonomisiert. Das Monopol des »Westens« als Motor der Globalisierung, kultureller Impulsgeber und Definitionsmacht von Modernisierung ist zunehmend erodiert. Die Folge ist eine politische und ökonomische Entgrenzung, die für viele Individuen in prekären Lebenslagen resultierte und zunächst keinen »Stoff« für politische Vergemeinschaftung mehr bot.
D ER M AUERFALL UND DIE F OLGEN Der Zerfall der Sowjetunition und die sich damit auflösende Bipolarität löste eine Reihe von Freiheitsbewegungen unterschiedlichster Couleur aus, die nicht immer glücklich ausgingen. Der Studentenaufstand auf dem chinesischen »Platz des himmlischen Friedens« fand im Juni 1989 ein blutiges Ende, in Somalia und Tschetschenien finden blutige Bürgerkriege statt. Dennoch – 1989 war in jedweder Hinsicht eine »Zeitenwende« – mit der Unabhängigkeit Namibias 1990 ist die Dekolonialisierung Afrikas abgeschlossen, die ersten freien Wahlen beenden 1994 das Apartheitssystem in Südafrika und in vielen Länden des ehemaligen Ostblocks finden freie und demokratische Wahlen statt. Die Dynamik der politischen Ereignisse und das scheinbare »Ende der Geschichte« (Francis Fu2 | Vgl. Bundeszentrale für Politische Bildung. Die 68er Bewegung, http:// www1.bpb.de/themen/FM65S2,0,Die_68er%3A_politische_Verirrungen_und_ gesellschaftliche_Ver%E4nderungen.html; zuletzt aufgerufen am 22.02.2010.
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kuyama) ließ so manche Zeitdiagnose voller Emphase daneben greifen. Der Pulitzer-Preisträger Charles Krauthammer sah nun das Zeitalter der unipolaren Weltherrschaft der Vereinigten Staaten gekommen: »On Dec 26, 1991, the Soviet Union died and something new was born, something utterly new – a unipolar world dominated by a single superpower unchecked by any rival and with decisive reach in every corner of the globe. This is a staggering development in history, not seen since the fall of Rome«. (Krauthammer 2004) Die 2008 einsetzende Weltwirtschaftskrise verpasste diesem Selbstbewusstein einen kräftigen Dämpfer. Begonnen hatte es mit der Immobilienfinanzierungskrise in den Vereinigten Staaten, aus der eine Bankenkrise, dann eine Liquiditätskrise und schließlich eine umfassende Wirtschaftskrise wurde. Nach Einschätzungen der Bank of England in ihrem im Oktober 2008 vorgelegten Financial Stability Report haben Finanzinstitutionen weltweit bis dato 2,8 Trillionen US-Dollar verloren3. Rund um den Globus sind Regierungen in die Bresche gesprungen, um Unternehmen vor der Pleite zu retten und damit den Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Nach Angaben des IWF sind bereits über zwei Trillionen US-Dollar aus den Regierungskassen als bailouts oder Investitionen geflossen. Die USA allein investieren ca. eine Trillion US-Dollar in den Aufschwung, die EU will insgesamt 250 Milliarden US-Dollar investieren und China die Wirtschaft vor allem über Investitionen in Höhe von rund 600 Milliarden USDollar ankurbeln. Deutschland wird insgesamt 80 Milliarden Euro für die Entlastung von Bürgern und Unternehmen sowie für Zukunftsinvestitionen aufbringen und erhofft sich – gut keynesianisch – eine Erhöhung des Konsums. Dessen ungeachtet entlassen Unternehmen in großem Maße – und das nach wie vor. Als Wachstumsmotoren blieben die sogenannten Emerging Powers wie Indien und China, denen selbst zu Zeiten größten statistischen Pessimismus Wachstumsraten von 5 bzw. 7 Prozent zugetraut wurden. Nicht nur das – mit den chinesischen 400 Milliarden US-Dollar Währungsreserven, davon etwa ein Drittel in US-Staatsanleihen – steht und fällt die Stabiltät des internationalen Finanzsystems, schon die bloße Ankündigung eines Verkaufs würde zu einem sofortigen Kurseinbruch der US-Staatsanleihen führen – und weltweit eine Inflation auslösen. China wird mehr und mehr zur Konkurrenz für den Internationalen Währungsfonds, der Kredite mit finanzpolitischen Auflagen belegt – Argentinien, Weißrussland, Hongkong, Indonesien, Malaysia und Südkorea hat China bereits mit Währungssicherungsabkommen unter die Arme gegriffen. Die wachsende Bedeutung der Schwellenländer ließ sich – sofern man denn an die politische Geographie von Sitzordnungen glaubt – an der protokallarischen Rangordnung der Platzvergaben am Vorabend des ersten G20-Gipfels in Washington 2008 ablesen. Im State Dining Room 3 | Der Bericht und weitere Hintergrundinformationen finden sich unter: www.bankofengland.co.uk/publications/fsr/index.htm (zuletzt aufgerufen am 21.01.2009).
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des Weißen Hauses tafelten auf Einladung des scheidenden Präsidenten George Bush 26 geladene Gäste, 24 Männer und zwei Frauen, um bei auf Obstholz geräucherter Wachtel über die Krise zu reden. Zu seiner Rechten hat der Hausherr den Präsidenten Brasiliens, Luiz Inácio Lula da Silva. Zur Linken Bushs sitzt Hu Jintao, der Präsident Chinas. Die Europäer müssen sich mit Stühlen am Ende des ovalen Tisches begnügen, Italiens Silvio Berlusconi neben dem Briten Gordon Brown und Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Mitte. Mancher sieht allein in der Sitzordnung ein überdeutliches Signal für den symbolischen Abstieg Europas und die zunehmende Bedeutung der Emerging Powers (Busse 2009). Es sind die aufstrebenden Schwellenländer, nicht die Alteingesessenen des exklusiven Clubs der G8, die die besseren Plätze bekommen.
»THE R ISE OF THE R EST« Die Perspektive des sogenannten Westens auf die aufstrebenden Nationen in Asien, Lateinamerika und dem Mittleren Osten war bis dato durch einen fast naiv zu nennenden Tunnelblick bestimmt. So war China die Fabrik, Indien das Backoffice, Mexiko der Lieferant billiger Saisonarbeiter und der Mittlere Osten der Kapitalgeber und/oder Energielieferant. Der Ansatz war: wie können wir die intelligentesten Köpfe und vielen Hände, die natürlichen Ressourcen, die weniger regulierten Arbeitsmärkte und das Vorhandensein von Kapital und natürlichen Ressourcen in unsere Wertschöpfungsketten zum größtmöglichen Vorteil integrieren? Die seit 2008 andauernde Krise und die zunehmende politische Schwerkraft der Emerging Powers hat diese unidirektionale Perspektive relativiert und die Tatsache wieder ins Bewusstsein gerückt, dass ökonomische Stärke mittelfristig für umfassendere politische, militärische und kulturelle Zwecke eingesetzt wird (Kennedy 1987; Jacques 2009). Nur noch eine kleine Zahl von Autoren von Autoren geht heute davon aus, dass die gute alte Zeit wieder zurück kommen wird (Brooks/Wohlfohrt 2009). Manche Beobachter glauben, dass die Emerging Powers zwar stärker bei der internationalen Politikformulierung mitreden werden, sich aber eher bedeckt halten, wenn es um Fragen des internationalen Terrorismus oder den Klimawandel geht (vgl. National Intelligence Council 2008). Insgesamt aber sind sich die Autoren einig, das sich die globale »Power-Map« mittel- und langfristig signifikant ändern wird. Es sind vor allem zwei Perspektiven, die die Debatte um das zukünftige politische Gravitationsfeld bestimmen: eine Gruppe von Autoren sieht starke Indizien für einen »Power-Shift«, über den die USA ihre hegemoniale Stellung an jemand anderes verliert. Die zweite Gruppe argumentiert für eine multipolare Kräftekonstellation ohne Vormachtstellung einer Zentralmacht. Zakaria (2008) proklamiert die »Post-American World« und Mahbubani (2008) diagnostiziert »the end of western dominance«. Beide Autoren
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sehen Asien in einer Führungsrolle, Jacques (2009) identifiziert China als zukünftiges Zentrum der Weltherrschaft. Die Befürworter der These einer mutipolaren Kräftekonstellation gehen davon aus, dass zuküftig verkoppelte nationale und internationale staatliche und nicht-staatliche Akteure wie Nichtregierungsorganisation oder Unternehmen die Geschicke der Welt bestimmen. In dieser Gruppe lassen sich drei Varianten unterscheiden: 1. Einige Autoren gehen davon aus, dass über multipolare Kräftekonstellationen neue Formen von Wettbewerb und Innovation enstehen, die neue Dynamiken, Chancen und Herausforderungen mit sich bringen (vgl. Accenture 2009). 2. Andere befürchten eine wachsende politische Instabilität und sehen zunehmend volatile Märkte voraus (vgl. Stiglitz 2009). 3. Eine dritte Gruppe schließlich sieht ein Wiedererstarken von Staaten, in denen protektionistische und isolationistische Motive dominieren (vgl. Bremmer 2009). Dieser »rise of the rest« hat aber mehr als nur eine geostrategische Bedeutung. Das Auflösen der Machtblöcke und die Dynamik der ökonomischen Globalisierung veränderte neben den politischen Kräftekonstellationen zeitlich versetzt auch die Referenzrahmen von Identitäten. Neues Selbstbewusstein hier und gefühlte Kränkungen dort und manchmal eben auch beides zusammen. Neue Interpretationen und Verknüpfungen entstehen und bilden eine »Vielfalt der Moderne« (Eisenstadt 2000). Viel stärker als zur Jahrtausendwende, als entgegen jeder Befürchtung nicht einmal die Computer streikten, fühlen Generationen den Zeitenwandel.
»W OVON LEBST D U EIGENTLICH ?« G ENER ATIONEN Z WISCHEN G IESSEN UND G UJAR AT Welche Auswirkungen hat die Zunahme der ökonomischen, sozialen und kulturellen Komplexität auf die Einstellungen von jungen Menschen zu Politik, Wirtschaft und Demokratie?4 Das Global Attitudes Projekt des Pew Center (Pew 2009) hat in einer 20 Jahre nach dem Mauerfall vorgelegten Studie die Einstellung von Europäern unterschiedlicher Generationen dies- und jenseits des ehemaligen »eisernen Vorhangs« zu Demokratie und Kapitalismus untersucht.5 Die Vergleichsdaten von 1991 und 2009 enthalten die Geschichte einer erkaltenden revolutionären Leidenschaft 4 | Es gibt unterschiedliche Definitionen des Lebensabschnitts Jugend, meist wird von der Lebensphase zwischen 15 und 25 ausgegangen. Die Shell-Jugendstudie 2010 geht von der Phase zwischen 12 und 25 Jahren aus. 5 | Befragung in Ungarn, Bulgarien, Ukraine, Lettland, Russland, Czechische Republik, Slowakei, Polen, Deutschland, Frankreich, UK, USA.
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und einer enttäuschten Liebe zur Demokratie. Zwar schätzen die neuen Europäer die Errungenschaften der Demokratie nach wie vor – Wohlstand allerdings steht weiter oben auf der Werteskala als demokratische Prinzipien. Mehr noch, eine starke Wirtschaft wird höher geschätzt als eine gute Demokratie. Der Anteil derjenigen, die eine starke Führung demokratischen Verfahrensregeln bevorzugen, ist seit 1991 signifikant gestiegen, in Lettland und der Ukraine um stramme 37 Prozent. Große Enttäuschung überall? Keineswegs. Die Konfliklinien verlaufen zwischen Stadt und Land sowie zwischen jung und alt. Die jungen Städter sind pragmatischer und ausgewogener in ihrem Urteil. Dabei unterscheiden sie sich in keinster Weise von jungen Inderinnen und Indern, die ähnlich unaufgeregt auf die sie umgebende, immer komplexere Welt schauen (deSouza et al. 2009). Dies sind keineswegs Betrachtungen einer unpolitischen Generation – im Gegenteil, das Interesse an politischer Partizipation ist ausgesprochen hoch, allerdings nicht in ihren traditionellen Formen, immer an konkreten Themen und vor allem nicht ideologisch aufgeladen. Dieses soziologische Phänomen findet sich zwischen mittlerweile auf der ganzen Welt und lässt so machen von der guten alten Zeit träumen, in der »them and us« in weltanschaulicher Hinsicht klar auszumachen waren und zudem Gewürz für ein verdammt gutes Lebensgefühl. »Woran kann ich noch glauben«, titelte etwa im Juni 2009 melanchonisch das zur ZEITGruppe zählende Magazin Campus. Die »Generation Global« (Beck 2007) lebt das »Dogma des Undogmatischen« denn ausschlaggebender als die ideologische Heimat ist die Gestaltung der Zukunft im Hier und Jetzt. Das an der Universtät Bamberg angesiedelte Projekt »Globalife« hat Lebensläufe Jugendlicher im Globalisierungsprozess untersucht. Über Generationen hinweg wurden die Auswirkungen des Globalisierungsprozesses auf individuelle Lebensverläufe in insgesamt 17 Ländern vergleichend untersucht (Blossfeld et al. 2005). Die Quintessenz: der Prozess der Globalisierung ist in den untersuchten Ländern mit einer Verstärkung sozialer Ungleichheit einhergegangen. Die immer stärker abnehmende Vorhersagbarkeit von ökonomischen und sozialen Entwicklungen führt zu einer zunehmenden allgemeinen Unsicherheit (Blossfeld et al. 2005). Die daraus resultierenden prekären Lebenskonstellationen fordern kurzfristige Planung, Kreativität und die Akzeptanz von Ambiguität. Die Frage »Wovon lebst Du eigentlich?« (vgl. Morisse/Engler 2007) steht für eine neue Lebenslage, die sich eben nur partiell in dem Gefühl der Freiheit ästhetisieren lässt.
D AS E NDE DER GROSSEN E RZ ÄHLUNG Ist das Zeitalter soziokultureller Vergemeinschaftung von Generationen parallel mit den großen Ideologien und der westlichen Hegemonie zu Ende gegangen? Hält uns das Prekäre von den großen Entwürfen ab? Ist der homo oeconomicus der Bürger der Zukunft? Die Pressimisten und
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Weltuntergangsbeschwörer unter uns werden dieses Szenario sicher mögen – allerdings kann alles auch ganz anders kommen. Der Trendforscher David Bosshart vom Züricher Gottlieb Duttweiler Institut ortet in der Gesellschaft das »dumpfe Bewußtsein, das es so nicht weitergehen kann«.6 Werfen wir noch einmal einen Blick in aktuelle Jugendstudien aus zwei verschiedenen Ländern, Deutschland und Indien. Hier wie dort lassen sich zwei große Themen ausmachen: eine zunehmende Politisierung, ausgelöst durch Verteilungskämpfe um Zugang zu Bildung, Jobs und Zukunft7, die aber eher in einer Protestkultur denn in einem Parteibeitritt resultiert. Dieses Moment hat ein hohes Konfliktpotential und entlädt sich hier wie dort beizeiten gewalttätig. Ebenso diagnostizieren lässt sich eine zunehmende »Sorge um die Welt« (Hannah Arendt). Hier wie dort steht als Thema Nr.1 die Armut auf der Rangliste der großen Bedrohungen.8 Der besonnene und nachhaltige Umgang mit der Welt: Umwelt- und Klimasschutz, der Zugang zu Wasser und gesunden (und bezahlbaren) Lebensmitteln wird ebenso als wichtig angesehen. Jugendliche engagieren sich in Vereinen, Verbänden, in NGOs, in den Schulen und in der Nachbarschaft.9 Unabhängig von den unterschiedlichen sozio-ökonomischen und kulturellen Kontexten haben die »Millennials« in Asien und Europa eines gemein; sie halten Twittern und Texten, Facebook und YouTube nicht mehr für bemerkenswerte Errungenschaften des digitalen Zeitalters, sondern für einen normalen Bestandteil ihres kommunikativen Horizionts. Es gibt mittlerweile eine Reihe transnationaler, virtueller Protestbewegungen10, die online mobilisieren und organisieren. Hier liegt der Ort für eine potentielle Vergemeinschaftung der »Generation Global«. Heute lässt sich in Echtzeit über das Internet mobilisieren und Protest organisieren – for the good, the bad and the ugly.
6 | Bilanz, Die neuen Helfer, 18. Dezember 2009, Seite 75 7 | DeSouza 2009; Shell-Jugendstudie 2010: Die Jugend wird wieder politischer, in Zeit online. www.zeit.de/gesellschaft/generationen/2009-12/interviewhurrelmann-shell-studie-2010?page-all, zuletzt aufgerufen am 21.02.2010. 8 | Roxxo (2009): Was bewegt die Jugend wirklich?, www.jugendmarketing. de/2009/08/studie-was-bewegt-die-jugend-wirklich/; zuletzt aufgerufen am 21.02.2010. 9 | Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999-2004: Repräsentativerhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement; www.bmfsfj.de/ Redak tionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/PRM-24454-SR-Band194.1,property-pdf.pdf; zuletzt aufgerufen am 21.02.2010. 10 | Vgl. das von Sigrid Baringhorst an der Universität Siegen geleitete Projekt »Protest- und Medienkulturen im Umbruch. Transnationale Corporate Campaigns im Zeichen digitaler Kommunikation«, das eine Reihe von Fallstudien bereithält: www.protest-cultures.uni-siegen.de; zuletzt aufgerufen am 21.02.2010.
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Was ist aus der Generation der 89er geworden? Heinz Bude
Renate Mayntz1 hat zwei Arten von Fragen unterschieden, die Sozialwissenschaftler an die Wirklichkeit stellen: Man kann entweder Aussagen über die Beschaffenheit von ausgesuchten Phänomenen oder Aussagen über die Wirkungszusammenhänge ihres Auftretens anstreben. Im ersten Fall folgt man dem Ideal deskriptiver Präzision, im zweiten dem kausaler Reduktion. Diese Unterscheidung ist deshalb so wichtig, weil Erklärungen oft so banal und Beschreibungen nicht weniger oft so beliebig sind. Man braucht schon klare Vorstellungen von dem, was man in seinen Abhängigkeiten verfolgt, oder wie Veränderungen in einem Gegenstandsbereich zustande kommen. Sonst stochert man nur blind herum oder kommt aus dem Staunen nicht heraus. Noch gibt es keine bewährte Theorie über das Auftreten von Generationen, die erklären würde, unter welchen Bedingungen eine »Generation an sich« zu einer »Generation für sich« wird. Oder in der berühmten Begrifflichkeit von Karl Mannheim, wie eine kohortenanalytisch identifizierbare »Generationslage« sich in einen sozialisierenden »Generationszusammenhang« mit seinen strategisch und polar gegeneinander aufgestellten »Generationseinheiten« übersetzt. Der Begriff der Übersetzung ist an dieser Stelle wichtig, weil es sich nicht um ein Verhältnis von »Basis und Überbau« handelt, sondern um einen gesellschaftsgeschichtlich situierten Artikulationszusammenhang, der von »Widerspruch und Überdeterminierung« beherrscht ist. Dabei ist die Notwendigkeit, wie Louis Althusser mustergültig vorgeführt hat, in den Zufällen selbst begründet.2 In diesem Sinne sucht Claus Leggewie die Beschaffenheit eines Phänomens zu erkunden, das sich aber durch sein Nicht-Erscheinen aus1 | Mayntz, Renate (2009): Sozialwissenschaftliches Erklären. Probleme der Theoriebildung und Methodologie, Frankfurt a.M./New York: Campus. 2 | Althusser, Louis (1968): Für Marx, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 90.
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zeichnet. Er sieht die »Generations-Chance von 1989«, kann jedoch bei den Twentysomethings von 1989, die den Untergang einer Welt erlebt haben, keine prägnante Generationsgestalt erkennen. Jedenfalls dann nicht, wenn man Kriterien des politischen Ausdrucks, der sozialen Privilegierung und des kulturellen Bruchs anlegt. Die 89er sind für ihn Resultat einer weltgeschichtlichen Zäsur »ohne Passion und Pathos«. Aber es kann doch nicht sein, hört man den Mittvierziger fragen, dass eine Welt zusammenbricht und dies bei jenen, die sich in der »formativen Phase« ihrer Selbstbildung befinden, keine Spuren hinterlässt. Sollte für die seinerzeit Zwanzigjährigen 1989 kein gemeinsamer Raum der historischen Partizipation und der sozialen Verständigung darstellen? Claus Leggewie macht die falsche Brille dafür verantwortlich, dass wir nichts sehen. Keine Eigenschaften zu beanspruchen, wird für ihn zur Eigenschaft dieser Generation. Das Prinzip der Collage, die Methode des Samplings wird für ihn zum Merkmal einer neuer Welt-, Kultur- und Lebensordnung, die das Bemühen um scharfe Differenz, exemplarische Bedeutung und intensive Überhöhung hinter sich gelassen hat. »Bio-Politik« lautet das Stichwort für eine andere, dem eigentümlichen Gegenstand angemessene Wahrnehmung der Änderungen in der Selbstauffassung und Kollektivdarstellung. Es geht darum, wie Alter in einer Gesellschaft, die sich dem Ideal der Alterslosigkeit unterstellt, sich zur Geltung bringt. Hier liegt für Leggewie der Ansatzpunkt für eine Beschreibung der Differenzen, die eine Differenz machen: »Es macht einen Unterschied«, so der apodiktische Satz, »wie alt man ist.« Diese Erkenntnis, so soll man glauben, entbehrt für die Generation von 1989 jeder Dramatik, sie zeigt nur den Weg, wie man jenseits eines schroffen Altersrassismus das Gemeinsame einer Lebenslage kenntlich macht. Es geht nämlich um ein neues Bewusstsein der Kontingenz. Es ist das bloße Alter, das bestimmt, wie ich auf Arbeitsmärkten unterkomme, welche Medien ich bevorzuge und welchen Pop ich goutiere. Nichts sonst! Vor allem keine Überzeugung, keine Erinnerung und keine Begeisterung. Wenn es so wäre, hätten wir mit der Generation von 1989 die Avantgarde eines stillen Existentialismus vor Augen, die dem »Zeitalter der Extreme« entsprungen ist. Aber vielleicht fällt nur der Rückschluss von Zeichen auf Autoren schwer. Jacques Derrida hat den Begriff der Spur eingeführt3, die den Zusammenhang von Sozialstruktur und Semantik sprengt. Spuren kommen von Umwegen, Verzögerungen, Aufschüben und Reserven. Sie zeigen, dass es keine schnelle, direkte und erschöpfende Relation von einer lebendigen Gegenwart zu einem signifikanten Ausdruck gibt. In dieser Sichtweise bezeichnet »1989« einen Raum voller Phänomene, für die ein Ursprung nicht namhaft gemacht werden kann.
3 | Etwa Derrida, Jacques (1976): Randgänge der Philosophie, Frankfurt a.M./ Berlin/Wien: Ullstein.
Wissenschaftskulturen
Brüder im Geiste Kleine Soziologie wissenschaftlicher Kollegenschaft Claus Leggewie
Wer lange genug in akademischen Kreisen, genauer: unter Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen an Universitäten und Forschungseinrichtungen tätig war, weiß, wie selten sich in diesem Milieu Freundschaften entwickeln und halten. ›Freund‹ muss natürlich näher qualifiziert werden: Oft wird ein Kollege ›mein Freund X‹ tituliert ohne jene vertraute Zuneigung, die Freunden üblicherweise zukommt. Jedenfalls im deutschen Sprachgebrauch: In den USA, wo die sozial-räumliche Mobilität höher ist, zählt man durchschnittlich mehr Menschen als ›friends‹, gerade im akademischen Milieu, wo auch entfernte Kollegen okkasionell Freunde genannt werden und der Umgangston unter ›Peers‹ (auf den ersten Blick!) lockerer ist. Um diese Unschärferelation zwischen Kollegialität und Freundschaft soll es im Folgenden gehen, und zwar weniger aus philosophischer Perspektive – wie bereits gründlich geschehen (vgl. Helm 2005) als in wissen(schafts)soziologischer Hinsicht, wo dem Phänomen der Kollegialität überraschend wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Im ersten Teil möchte ich einige Aspekte wissenschaftlicher Kooperation erörtern1 , die im zweiten Teil von anderen Phänomenen der Freundschaft (Liebe, Verwandtschaft, Bruderschaft, Genossenschaft, Kameradschaft etc.) abgehoben werden sollen. Im dritten Teil komme ich auf einen Klassiker der Wissenschaftskommunikation, Diana Cranes ›Invisible College‹, zurück, jene informelle Wissenschaftskommunikation unter Abwesenden, die nunmehr durch Internationalisierung, Interdisziplinarität und ›Cyberscience‹ neu herausgefordert wird.
1 | Im systematisierenden Rückgriff auf Leggewie/Mühlleitner (2007).
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I. Am Beginn wissenschaftlicher Erkenntnis steht oft eine Unterscheidung, die Modalitäten von Inklusion bzw. Exklusion anzeigt. Worin unterscheidet sich ein Freund (und eine Freundin, was ebenfalls einen erheblichen Unterschied machen kann) von Verwandten, Kameraden, Genossen, einer Liebesbeziehung? Man kann solche Distinktionen an Idealtypen studieren, welche die jeweilige Differenz in besonderem Maße herausstellen, hilfsweise mit Fällen, wo die Überlappung distinkter Rollen im akademischen Bereich zu einem gehörigen ›Kuddelmuddel‹ führt. Ein gutes Beispiel dafür sind Akademikerpaare, die an der gleichen Universität, womöglich gar am selben Fachbereich um Anstellung nachsuchen. In Deutschland gilt dies selbst bei beiderseitiger Qualifikation als unschicklich (während in den USA die Unterbringung des Partners über Annahme oder Ablehnung einer Berufung entscheiden kann). Ein anderes Beispiel für unerwünschte Rollenkonfusion ist die Vermengung wissenschaftlicher Ziele mit politischer Ambition oder die Vererbung einer akademischen Investitur vom Vater auf Sohn und Söhne, die in bestimmten Gelehrtenfamilien bis ins 20. Jahrhundert durchaus vorkam. Das Institut der ›akademischen Selbstverwaltung‹ ist ein (in vieler Hinsicht missratener) Versuch, derartige personale Beziehungen und Abhängigkeiten zu neutralisieren, wissenschaftliche Kommunikation mithin auf ihren sachlichen Kern zu reduzieren. ›Freundlwirtschaft‹ in jeder Form ist verpönt, da man sie für eine dem Wissens- und Erkenntnisprozess unzuträgliche Verquickung von Handlungsmotiven begreift und als Übergriff unsauberer Interessen in eine als ›interesselos‹ gedachte Sphäre kollegialer, herrschaftsfreier Kommunikation. Vor diesem Hintergrund kann man Kollegialität als spezifische Form der Gemeinschaft einführen, die primär argumentativer und deliberativer Natur ist: Im wechselseitigen Respekt werden satisfaktionsfähige, durch akademische Initiation und Übung garantierte Argumente zusammengetragen und zur Wahrheitsfindung abgewogen. Die Peers, die in diesem Prozess involviert sind, begegnen sich als Gleiche. Der andere Aspekt von Kollegialität ist die kooperative Leitung von Ausbildungsinstitutionen wie der Universität oder generell einer Schule; entschieden wird – unter der idealiter wieder aus der Mitte der Peers gewählten Leitung – im Kollegium, das seine Herrschafts- und Selektionsbefugnis mit dem Bildungsauftrag und einem szientifischen Wahrheitskriterium legitimieren muss. Das heißt: Auch wenn in Kollegenkreisen selbstverständlich gefeilscht und ausgehandelt wird, und obwohl ein Kollegium selbstredend Herrschaft ausübt, darf hier nicht systematisch (wie in patrimonialen und aristokratischen Zusammenhängen) Willkür herrschen, sondern stets ein durch Argumentation erzielbarer Konsens. Meritokratie wird jene Form von Bestenauslese genannt, die sich strikt an eigenen, also nicht durch Protektion verschafften Meriten im akademischen Betrieb orientiert und auf dieser Grundlage arbeitsrechtlich begrenz-
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te Herrschaftsausübung über Personen (etwa in einem Institut) legitimiert. Die Wirklichkeit des Forschungsbetriebs ist davon bekanntlich weit entfernt: Akademische Spitzenposten werden elitensoziologischer Evidenz zufolge weiterhin vornehmlich durch Elternhaus und soziale Herkunft vorbestimmt. Das Wissenschaftssystem hält gleichwohl – und mit guten Gründen! – am Leistungsmythos fest und unterfüttert ihn durch einen seit Jahrhunderten bestehenden ›cursus honorum‹, der im professoralen Bereich von den zäh verteidigten akademischen Qualifikationsleistungen Promotion und Habilitation über den ›Ruf‹ und die Schulenbildung bis zur Festschrift und anderen kumulativen Bezeugungen eines Lebenswerks oder ›Oeuvres‹ reicht. Das Kollegium, das ebenso ehrwürdigen akademischen Hochschultraditionen religiös-klerikaler Natur (der römischen Priesterschaft) entstammt, ist idealtypisch die Versammlung der Peers, von Berufsgenossen, die neben nachprüfbaren und/oder zugeschriebenen Kompetenzen Ziele (wissenschaftliche Wahrheitsfindung), Jargon und Rituale verbinden. Unter ›Peers‹ (ursprünglich der englische Hochadel) verdankt sich Ebenbürtigkeit allein egalitärer Kommunikation: Man unterstellt eine ausgeglichene Verteilung von Kompetenz und einen gemeinsamen, selbstverständlich voraussetzbaren Wissensfundus, die nicht (mehr) hinterfragt werden. Das zeigt sich in salvatorischen Klauseln vom Typ ›Wie Sie wissen …‹, mit denen Vortragende partielle Unkenntnisse der Zuhörerschaft elegant überspielen. An dem kleinen Beispiel zeigt sich schon, wozu das ›Peer‹-System gut ist: Es ist ein lockeres Netzwerk der Selbstbeobachtung wissenschaftlicher Kommunikation. In einer so nur unter Gleichen möglichen Serie formeller und informeller Interaktionen lässt sich testen, ›was geht‹. Das betrifft sowohl den akademischen ›Comment‹ der Kollegien, die nach Fakultäten, Regionen und Zeiten stark differieren, als auch die tastende Wahrheitssuche, bei der Kollaboration und Konkurrenz in einem systemisch einzigartigen Verhältnis stehen. Es zeigt sich in Probekommunikationen wie Workshops, Pre-Prints, Probevorträgen, Rezensionen sowie im institutionalisierten Verfahren des Peer Review, das Wissenschaftsautonomie, also Unabhängigkeit von herrschaftlicher Zensur und staatlicher Kontrolle signalisiert. ›Peer Reviews‹ sind formalisierte Verfahren kollaborativer wissenschaftlicher Selbstkritik unter Kollegen, an deren Neutralität und Objektivität immer wieder berechtigte Zweifel aufkommen. Gleichrangige Kollegen sollen sine ira et studio die Qualität einer wissenschaftlichen Arbeit beurteilen – eine Dissertation, einen Zeitschriftenartikel, ein Forschungsprojekt oder einen ganzen Projektverbund. ›Doppelte Blindheit‹, die wechselseitige Anonymität der Prüfer wie der Geprüften, sollen den Blick exklusiv auf die Validität der vorgetragene Argumente und Annahmen lenken, Vorprüfungen durch neutrale Instanzen sollen dafür sorgen, dass die Parteien wissenschaftlich nicht ›verbandelt‹ oder verfeindet sind, die Teilnahme ist Ehrensache und nur schwer unter Verweis auf ander-
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weitige Belastungen abzuweisen, in der Regel auch trotz des erheblichen Zeitaufwandes unentgeltlich. Jüngere, computergestützte Praktiken wie ›File Sharing‹ und ›Grid Computing‹ unterstreichen noch einmal, wie Kollegialität idealtypisch gedacht ist: ›P2P-Kommunikation‹ (›peer to peer‹) kommt ohne eine zentrale, womöglich nur restriktiv nutzbare Datenbank aus, jeder Rechner(bediener) stellt Informationen selbstverständlich zur Verfügung, kein Peer hat den Gesamtüberblick und kein Oberkommando steuert den Ablauf der wissenschaftlichen Interaktion. Kollegialität beruht somit, als erstes Fazit, idealiter auf dem wechselseitigen und uneigennützigen Austausch von Wissen, der zugleich egoistische Motive zulässt. Diese Verschränkung charakterisiert den ›Beruf zur Wissenschaft‹ (Weber) und unterscheidet ihn maßgeblich von anderen Formen des Broterwerbs oder unentgeltlicher Tätigkeit. Eine typische Verkehrsform dieser Kollaboration ist die etymologisch aus dem Labor hergeleitete Arbeitsgemeinschaft, die als Autorenteam meist auch gemeinsam publiziert. Von dieser Sozialform kooperativer Wahrheitssuche sollen Synergieeffekte ausgehen, die beim elektronischen Lernen (›E-learning‹) und im kollaborativem Wissensmanagement zunehmend physisch Abwesende einbeziehen. Nicht-hierarchische Lehr- und Lernumgebungen sind oft auch von der Idee allgemeiner Zugänglichkeit (›open access‹) bestimmt sind. Robert K. Merton hat Wissenschaft einmal als Gut bezeichnet, das sich bei wachsendem Gebrauch nicht abnutzt; Wissenschaftler pflegen demnach im Austausch von Wissen ein Kollektivgut, ohne damit – bei Wahrung der Spielregeln genauen Zitierens und der korrekten Kennzeichnung von Autorenschaft – individuellen Verzicht üben zu müssen – sie behalten ja ihr Wissen. Und der Gewinn der kollektiven Wissenskommunikation besteht in der symbolischen Anerkennung, ein respektiertes Mitglied der ›scientific community‹ zu sein. Teamwork stellt auf emergente Gemeinschaftsleistungen ab, also darauf, dass die Summe eines Gemeinschaftswerks erwartbar mehr sein wird als die Addition der von Individuen geleisteten Einzelarbeiten. Unter Naturwissenschaftlern, die bisweilen in Mannschaftsstärke publizieren und zum Nachweis individuell zurechenbarer Leistungen nicht-alphabetische Reihenfolgen und Rotationssysteme heranziehen, sind Autoren-Kollektive die Regel. Ob Teamwork allerdings in jedem Fall Synergieeffekte hervorbringt, ist vor allem bei Geisteswissenschaftlern fraglich, wo Sonderforschungsbereiche diesen Nutzen nicht systematisch unter Beweis stellen konnten. Die wesentlichen wissenschaftlichen Kommunikationsformen sind das Buch, der Artikel, der Briefwechsel, der Vortrag, neuerdings auch die elektronische Publikation, die Kollegen unterschiedlich adressieren. Eine spezielle Variante ist die Kontroverse, in der wiederum Kollaboration und Konkurrenz auf singuläre Weise kombiniert sind. Mehr als in wirtschaftlichen oder politischen Positionskämpfen geht es um ein ›Gesamtinteresse‹, das ein unbeschädigtes Überleben der Konkurrenten erfordert. Nicht
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Polemik und Verriss verstoßen gegen Spielregeln wissenschaftlicher Kommunikation, sondern Fälschung und Plagiat, deren Vorkommen Kollegialität stark auf die Probe stellt. Vor diesem Hintergrund leuchtet ein, dass Klatsch und Gerüchte, auch Intrige und Mobbing im akademischen Betrieb ganz besonders blühen. Auf diese Weise sind Orte wie der Campus und Veranstaltungen wie die Konferenz in Campus-Romanen und -Dramen literaturfähig geworden.
II. In welcher Weise prägt sich nun in der öffentlichen Kommunikation des Wissenschaftssystems eine private und ›intime‹ Sozialbeziehung aus, die Freundschaft exemplarisch darstellt? Der Einbruch von Privatheit erfolgt zum Beispiel, wenn ein Kollege beim Vortrag als langjähriger Freund und Mitstreiter vorgestellt wird, dem Publikum also eine Beziehung jenseits der üblichen Kollegialität mitgeteilt wird – die offenbar latent vorhanden ist, da sie sonst auf Unverständnis stoßen würde. Man weiß ja, dass im Wissenschaftsbetrieb personale und ganz idiosynkratische Sympathien bestehen und dass diese Teamwork nicht unerheblich motivieren, gar konstituieren können: Man kennt angenehme Partner und sucht ein zu ihnen passendes Thema. Die Eifersucht der vom Freundschaftsbund Ausgeschlossenen spielt in den Fortgang der Arbeitsgemeinschaft dann ebenso hinein wie die Psychodynamik einer Zweier- oder Gruppenbeziehung, die von schwärmerischer Verehrung über enttäuschte Liebe bis zu rachsüchtiger Nachstellung führen kann. Offenbar weist Kollegialität einen ganzen Hof von solchen ›Reserven‹ auf, die Georg Simmel im sozialen Umfeld von Freundschaft ausgemacht hat: Freundschaft beruht bei aller Vertrautheit stets darauf, dass ihr Grenzen gesteckt werden, die andererseits – das ist die Pointe – zur Disposition gestellt werden können und genau auf diese Weise Freundschaft auffrischen und am Leben halten. Kollegialität weist zahlreiche Überschneidungen mit Freundschaft auf, angefangen mit dem Gemeinsamkeitsglauben, der Kollegen auch dann beflügelt, wenn sie einer anonymen und arbeitsteiligen Großorganisation angehören wie einem Fachbereich, einer Universität oder einem Fachverband. Die spezielle ›Reserve‹ der Kollegialität liegt nun darin, dass der Gemeinschaftsaspekt unaufdringlich gehalten werden muss, um sich entfalten zu können: In eben diesem Respekt kommt dann das Potenzial von Intimität in der ›objektiven‹ Arbeitsbeziehung zur Geltung. Anders formuliert: In der engeren Kollegenbeziehung vermischen sich ›universalistische Rationalität‹, die definitionsgemäß von Personen absieht, und ›partikulare Zuneigung‹, die naturgemäß auf eine konkrete, nicht austauschbare Person abzielt. Die nutzenorientierte Tauschbeziehung in Arbeitsgemeinschaften wird ›aufgeladen‹ durch Momente (verhaltener!) Freundschaft – Gefühle gegenseitigen Verstehens, unbedingten
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Wohlwollens und reziproker Fürsorge. Vor diesem Hintergrund kann man Kollegialität nun mit Formen der Freundschaft abgleichen, von denen sie sich unterscheidet und zugleich immer einen Aspekt aufnimmt. Weit entfernt scheint die ›dyadische Liebesbeziehung‹, doch übernimmt Kollegialität von ihr die ganz auf ein äußeres Erkenntnisobjekt verschobene Libido, die in männer- oder frauenbündischen Zirkeln einen unverkennbar homoerotischen Abglanz hat. Michel Foucault hat als das wirklich Verstörende an Homosexualität die ›homosexuelle Lebensweise‹ herausgearbeitet, wenn also ›jene Individuen sich zu lieben beginnen‹, ohne zu einer institutionalisierten Beziehung wie Sexualität oder Ehe gelangen zu müssen. ›Schwul‹ sein heißt nicht, sich mit den psychologischen Zügen und den auffälligen Masken des Homosexuellen zu identifizieren, sondern heißt, eine Lebensweise zu bestimmen und zu entwickeln versuchen (vgl. Foucault 1986: 89). Intimität, die in der (Post-)Moderne für die heterosexuelle Liebe reserviert wurde (als »interpersonale Interpenetration« bei Luhmann 1998), weist noch auf einen breiteren Horizont zurück, den Freundschaft im 18. Jahrhundert klassisch ausgebreitet hat, etwa im Freundschaftstempel Johann Wilhelm Ludwig Gleims (Manger/ Pott 2007). Eine ähnliche Struktur bilden ›schreibende Paare‹ (Marko 1995), womit nicht die Beziehung zwischen Akademikern (sie Kinderpsychoanalytikerin, er Juraprofessor) oder Intellektuellen (Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir) gemeint ist, sondern die echte Arbeitsgemeinschaft (wie bei den Physikern Marie und Paul Curie), die eine Liebesbeziehung und in der Regel eine familiäre Konstellation beinhaltet. Der überaus seltene Fall einer ›vollinklusiven‹ Kollegialität besteht folglich, wenn Liebespaare auch gemeinsam im Labor tätig sind, als Koautoren auftreten und neben Arbeitstisch und Bett eventuell auch noch zusammen politisch-weltanschauliche Ziele teilen. Dieser Fall interessiert hier vor allem aus heuristischen Gründen. Denn definiert man Liebe als gering institutionalisierte und zugleich intensivste Form der Freundschaft, entfaltet sich daraus ein Kontinuum zunehmend formalisierter sozialer Freundschaftsverhältnisse, das in der Kollegialität – als der am stärksten formalisierten und am wenigsten intensiven Wechselwirkung – an Sozialverhältnisse grenzt, in denen Freundschaft endet und Arbeitsteilung, mechanische Solidarität und Zweckrationalität vorherrschen. Die Zahl der Kontakte nimmt auf diesem Kontinuum zu, zugleich nimmt ihre ›Intimität‹ ab, ohne indessen völlig zu versiegen.
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Schaubild: Dimensionen der Freundschaft als Sozialverhältnis
Auf dem dargelegten Kontinuum sind freundschaftliche Wechselwirkungen angesiedelt, von denen man Kollegialität unterscheiden kann, zu denen zugleich aber auch Überschneidungen bestehen: Im Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede interessant sind die Bruderschaften – virtuelle Seelen-Verwandtschaften, die nicht auf Blutsverwandtschaft beruhen und nicht vornehmlich bio-sozialen Reproduktionszielen dienen und deren (in der Regel männerbündischen) Formen vom gelegentlichen ›Saufgelage‹ bis zu spirituellen Glaubensgemeinschaften und weltanschaulichen Kampfgruppen reichen. Fraternitäten (oder analog Schwestern-Gemeinschaften) weisen in unterschiedlichem Maß Aspekte von Kollegialität auf, wenn sie beispielsweise in Klöstern gemeinsam theologisch-wissenschaftlichen Aktivitäten nachgehen oder als Gewerkschaftsbrüder kompensatorisch Lern-Gemeinschaften (›Wissen ist Macht‹) bilden. Der Genosse steht zum Kollegen in einem ähnlichen Verhältnis von Distanz und Übereinstimmung. Genossenschaft vereint Aspekte der Freundschaft mit Zügen der Kollegialität und entdifferenziert zugleich die in arbeitsteiligen Gesellschaften ausgebildeten Rollen, indem sie der intimen Relation der Freundschaft extrinsische Ziele setzt und zugleich die darauf gerichtete Kooperation politisch zuspitzt. Von der Freundschaft übernimmt der Genosse die Verbindlichkeit (und Empfindsamkeit), von der Kollegialität die instrumentelle Orientierung, wobei diese unterlegt ist durch Ansprüche solidarischen Handelns aus der Tradition der Arbeiter-Genossenschaften. Genossen pflegen üblicherweise Subkulturen, die in den 1960er Jahren, als die akademische Jugend den Genossen-Status relativ breit anstrebte, aus der anglo-amerikanischen Rock- und Modeszene kam, heftigen Zigaretten- und Alkoholkonsum und die gelegentliche Einnahme ›bewusstseinserweiternder Drogen‹ beinhaltete und auch einer (meist vage bleibenden) Vorstellung freier Sexualität anhing. Kneipen, al-
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ternative Kulturzentren und Wohngemeinschaften waren Knotenpunkte und Palaverstätten, wo auch sporadische Kontakte mit Lehrlingen und jüngeren Arbeitern zu knüpfen waren. In Genossenkreisen ging es meist noch eher konventionell zu, bis die forcierte Lockerheit der Subkultur eine (rasch gesellschaftsweit verinnerlichte) Lockerung der Sitten erlaubte und exzentrische Selbstbeschreibungen Alltag werden konnten. Bemerkenswert an diesem Konglomerat ist die (im besten und schlimmsten Sinne) hybride Energie, die bei vielen Generationsgenossen einen prometheischen Schaffens- und Veränderungsdrang auslöste und unter dem Signum der ›Politischen Universität‹ politische und wissenschaftliche Zielsetzungen auf meist untunliche und bisweilen verhängnisvolle Weise amalgamierte. Zusammenfassend kann man Kollegialität im Vergleich zu anderen Varianten der Freundschaft als stark formalisierte, auf institutionelle Strukturen bezogene und instrumentellen Kollektivnutzen anstrebende Arbeitsgemeinschaft bezeichnen, die die Intimität informeller, identitäts- und imaginationsbezogener Beziehungen latent hält, aber von ihnen zehrt, ohne diese Anleihe explizieren zu können.
III. Mit dieser eigenartigen Latenz ist man beim Begriff des ›Invisible College‹ (IC), der im 17. Jahrhundert bei der Gründung der Londoner ›Royal Society of Scientists‹ aufkam, die gemeinsame wissenschaftliche Interessen in räumlicher Nähe auf der Grundlage regelmäßiger Treffen verfolgte. Anders als bei der Konzentration von Forschern in sichtbaren Kollegien, stehen in einem unsichtbaren Kollegium solche impliziten Kommunikationsfunktionen im Vordergrund. In der Wissenschaftssoziologie wurde der Terminus von Price (1963) eingeführt, der IC als avancierte, räumlich verstreute, mit rund hundert Personen (gerade noch) überschaubaren Wissenschaftler-Gemeinschaften verstand, die über den regelmäßigen Austausch von Informationen den wissenschaftlichen Fortschritt auf ihrem jeweiligen Fachgebiet überwachen. Im Mittelpunkt stehen informelle Kontakte unter Forschern, die (anders als Künstler) auf die ständige Anerkennung durch Peers angewiesen sind. Ein wichtiges Medium dieser Alltagskommunikation sind ›pre-prints‹, Resultate der Forschung, die bereits vor der üblichen Veröffentlichung in wissenschaftlichen Kommunikationsmedien zirkulieren und Peers als privilegierte Leser zu kritischen Kommentaren animieren. Eine ähnlich informelle Kommunikationschance ergibt sich bei der Begegnung in Forschungszentren, ›Sommerschulen‹ und dergleichen, die eine durch Elemente der Gastlichkeit, Ferienstimmung und sonstige Wohlfühlfaktoren aufgelockerte Konversation über brandheiße Forschungsgegenstände erlauben. IC bilden sich sowohl auf Initiative interessierter Wissenschaftler als auch auf äußeren Anstoß hin, etwa wenn Drittmittelfinanzierung ein bestimmtes Maß an interregionaler Kooperation vorschreibt. IC als »a small
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group of researchers that regularly exchange information about the newest progress on the ›research front‹« (Crane 1972) unterscheidet sich von formalen Mitgliederorganisationen ebenso wie von lokalen Arbeitsteams. IC arbeiten an relativ konkreten Problemen, aber über die herkömmlichen Instituts-, Länder- und womöglich auch Fachgrenzen hinaus. Informelle Kommunikation wird hier ein Motor der Kollaboration und Medium der Distribution und Bearbeitung von Wissen, und es geht nicht primär um den Output gemeinsamer Publikation, also die typischen formalen Strukturen, sondern stärker um den sozial-kommunikativen Prozess selbst, der diesen Strukturen ›unsichtbar‹ zugrunde liegt (Lievrouw 1990: 66). Erkennbar werden Wissenschaftler-Netzwerke durch biblio- und soziometrische Verfahren, wechselseitige Zitation und Danksagung machen den ›verborgenen‹ Prozess sichtbar, ebenso ethnographische Verfahren. Die diversen Freundschaftsaspekte von Kollegialität erhellen wissenschaftliche Kooperationsstrukturen und belegen ihre meist unterschätzte Bedeutung für den Wissenschaftsbetrieb. Dieser läuft offenbar besonders gut, wenn nicht nur eine attraktive Fachspezialisierung und eine geeignete Informations-Infrastruktur vorliegen, sondern informelle Kommunikation die Motivation fördert. Vor diesem Hintergrund möchte ich abschließend drei Faktoren behandeln, welche die Dynamik und Resultate von Kollegialität erheblich beeinflussen können: (1) die aus internen wissenschaftlichen Entwicklungen oder durch externe Anstöße aus der Wissenschaftspolitik sich ergebende Aufforderung, interdisziplinär zu arbeiten; (2) die wachsende Internationalisierung des Wissenschaftsbetriebs und (3) Modifikationen der Informationsinfrastruktur durch digitale Medien (›Cyberscience‹). Diese Entwicklungen sind geeignet, Reichweiten und Infrastrukturen des unsichtbaren Kollegs erheblich zu verändern und die sozial-kommunikative Dimension der Kollegenschaft weiter zu ›virtualisieren‹, möglicherweise aber auch der Fremdsteuerung zu unterwerfen. Interdisziplinarität, die Verbindung von Ansätzen und Methoden diverser Einzel-Fachgebiete, ist heute ein ›Mantra‹ der Wissenschaftsförderung, die quer durch die Disziplinen verlaufende Cluster-Bildung jedenfalls rhetorisch prämiert. Forschungspraktisch lassen sich solche Ambitionen nicht leicht verwirklichen, und es gibt zunehmend Klagen über kurzlebige Schnell- und Kurzschlüsse ohne solide fachliche Grundlagen. Auch im ›Peer Review‹ sind interdisziplinäre Forschungsdesigns nicht immer gut angesehen. Am Fall der Gedächtnis- oder Klimaforschung kann man indessen beobachten, wann Interdisziplinarität in der Tat geboten ist, und zwar unter Einschluss sozial- und kulturwissenschaftlicher Ansätze. Ein Austausch zwischen den Disziplinen funktioniert pragmatisch, in der Bestimmung eines Gegenstandsbereichs, einer präzisen Fragestellung und in der Abstimmung der Instrumente und Methoden. Ein erfreulicher Nebeneffekt sind die reflexiven Meta-Effekte, wenn man fremden Peers Annahmen, Begriffe und Konzepte erklären soll und dabei nicht zuletzt die Begrenztheit der eigenen Perspektive lernt.
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Wenn Interdisziplinarität die »Erfassung und Erklärung der Verzahnung und Verwobenheit dieser Aspekte im Prozess und deren symbolische Repräsentation in einem theoretischen Modell« ist (Elias 2001: 249), hat das erhebliche Konsequenzen für Wissenschaftskommunikation, als deren Basis in der bisherigen IC-Forschung die enge Fachspezialisierung galt. In interdisziplinären Kontexten müssen folglich andere Kristallisationspunkte gefunden werden und es qualifizieren sich für die Teilnahme womöglich weniger die Koryphäen eines Faches als solche Personen, die besonders begabte Netzwerker und Projektmanager sind und besondere sozial-kommunikative Kompetenzen besitzen. Von Wissenschaftlern (mehr) Internationalisierung zu verlangen heißt, Eulen nach Athen tragen. Wer etwas auf sich hält, weiß selbst am besten, wo in der Welt interessante und fähige Kollegen tätig sind, die man selbstverständlich liest und kritisiert und mit denen man Korrespondenzen und Kontroversen führt, was per E-Mail und elektronische Publikation leichter denn je ist. Wissenschaftliche Gemeinschaften sind ihrer Natur nach nomadisch und transnational. Die famose ›Gelehrtenrepublik‹ stieß sich an den nationalkulturellen Grenzen, welche Nationalstaaten seit dem 18. Jahrhundert aufgerichtet hatten. Erst als auf diesem Wege Pfründe verteilt und führende Köpfe für die Stiftung nationaler Identität eingespannt wurden, änderte sich das, wobei Forschungsgegenstände, Fächerkanon und Standards weiter grenzüberschreitend verbindlich blieben und nationale Schwerpunkte, Milieus, Schreibstile und Vortragsweisen den kleinen und großen Grenzverkehr nur noch beflügelten. Man publiziert in anderen Sprachen, begegnet ausländischen Kollegen auf Konferenzen, verfolgt multinationale Projekte und ist Mitglied internationaler Vereinigungen. Und diskutiert in Englisch, der ›lingua franca‹ der Weltwissenschaft. Wer dennoch »mehr Internationalisierung« reklamiert und derart etikettierte Aktivitäten prämiert, verdient also erst einmal Skepsis. Auslandsaufenthalte und fremdsprachige Publikationen dienen ungeachtet ihres Ertrags und ihrer Qualität im Einzelnen oft nur als Währung in einem sinnentleerten Exzellenzwettbewerb. Eine gute, am besten wildwüchsige Praxis internationaler und transkultureller Kontakte wird dann zur lästigen Formalität. Kooperation ist oft mehr mechanisches Pensum der Antragstellung – mit hohen Transaktionskosten und geringem Erkenntnisgewinn. Viele EU-Projekte, die internationale Kontakte obligatorisch machen, sind mit viel ›Tamtam‹ und ›PR‹ begleitete ›Potemkinsche Dörfer‹, deren Besuch nur den Kerosinverbrauch erhöht. Hier wird der Kontakt nach Stanford oder die trickreich eingeheimste Einladung nach Shanghai leicht zu einem Fetisch und ersetzt nicht selten die tatsächliche Forschungsleistung. Eindeutig kontraproduktiv wird der Internationalisierungsimperativ, wenn das Zusammenstückeln von Anträgen mehr Zeit verschlingt als die Abfassung eines grundlegenden Buches oder Artikels. Endgültig widersinnig wird das Internationalitätsgebot, wenn es nicht mehr Wissenschaftlern aller Nationen die Welt öffnet, sondern abgewanderte Deutsche an den »Standort« zurückholen oder ausländische Forscher abwerben soll.
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Im Standortwettbewerb um Exzellenzen und Nobelpreiskandidaten zeigt sich die Reibung zwischen wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Rationalität, die kollegialen Prozessen womöglich eher schadet als nützt. Wissen ist, wie oben dargestellt, kein Gut, das sich verbraucht, indem es in Umlauf kommt, und wenn die wissenschaftliche Gemeinschaft nach eigenen Regeln offenen Zugangs funktioniert, verbreitet es sich von allein; erst kurzsichtige Verwertungszwänge machen daraus ein knappes Gut, dem man ein ›Made in …‹ mit Preisschild anheften kann. Unter diesem Druck stehen auch und gerade Geisteswissenschaftler, die ihre Nützlichkeit erweisen wollen. Wenn Interdisziplinarität und Internationalisierung als womöglich hinderliche Materialisierungen ›unsichtbarer‹ Kollegialität identifiziert werden können, scheinen neue Informations- und Kommunikationstechnologien, die im akademisch-universitären Bereich entwickelt wurden, informelle Wissenschaftskommunikation zu unterstützen. Wissenschaftler aller Disziplinen nutzen diese Ressource mit großer Routine und wachsender Selbstverständlichkeit. E-Mail-Kommunikation, individuelle und institutionelle Webseiten, digitale Präsentationen, elektronische Newsletter und virtuelle Diskussionsforen, neuerdings auch Fach-Weblogs und kollaborative (Wiki-)Formate gehören für Wissenschaftler aller Disziplinen mittlerweile zur Grundausstattung. Damit affizieren ›neue Medien‹ sämtliche Bereiche und Phasen des Erkenntnisprozesses von der Generierung über die Primärverteilung, Bearbeitung und Publikation bis hin zur Archivierung wissenschaftlichen Wissens. Im Blick auf die IC-Strukturen und Prozesse ist vor allem zu fragen, wie sich die kollaborative Dimension wissenschaftlicher Binnenkommunikation entwickelt. Während in den letzten Jahren vor allem die Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse an Dritte (Politik, Wirtschaft, Medien, Öffentlichkeit) bzw. im Lehrzusammenhang (›E-Learning‹) untersucht wurde, hat man Kommunikation mittels neuer Medien unter Peers (also die kollegiale Diskussion und Kritik) bisher weniger beachtet. ›Cyberscience‹ eröffnet auf jeden Fall neue Möglichkeiten: Mit der Digitalisierung übernimmt die Wissenschaftskommunikation jene Eigenschaften, die der Online-Kommunikation generell zugeschrieben werden: Sie erlaubt eine Beschleunigung des Verbreitungstempos klassischer Medien wie Buch und Zeitschrift, sie ist internationaler und multimodal, insofern neben dem klassischen Text weitere auditive und visuelle Kommunikationsmodi eingesetzt werden. Wesentliches Merkmal ist die Interaktivität, die die dialogischen Potentiale in allen Phasen der Wissenschaftskommunikation weckt, darunter die Offenheit und Reformulierbarkeit von Beiträgen sowie deren leichtere Archivierbarkeit, neue Möglichkeiten des Zugangs (›Accessability‹) und der wechselseitigen Bezugnahme. Für IC-Strukturen wären zwei Umstellungen bedeutsam, die den Kern wissenschaftlicher Kommunikation betreffen: (a) die Unterstützung des Prozesscharakters wissenschaftlicher Forschung (im Vergleich zu einer exklusiven Output-Orientierung, die den ›Stand der Forschung‹, eine ›herr-
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schende Meinung‹ und dergleichen dokumentiert), und (b) die Enthierarchisierung des Forschungsprozesses, in dem Rückkoppelungschancen und partielle Anonymisierung mehr Durchlässigkeit in hierarchisch strukturierten Wissenschaftsorganisationen schaffen können. Dazu können FachWeblogs und Wiki-Formate beitragen: In kollaborativen Verfahren werden variable Inhalte erstellt, breit und (der Tendenz nach) ohne Ansehen der jeweiligen Autoren-Person erörtert sowie in einem andauernden Revisionsprozess weiterentwickelt. Beide Formate sind umstritten und werden von Kritikern als organisierte Mediokrität bewertet, wenn nicht sogar als Plattformen für Unsinn oder Vandalismus. Gleichwohl sind seriöse Wikis und Fachblogs für die wissenschaftliche Fachinformation längst als Herausforderung angenommen worden, die Umstellung der Brockhaus Enzyklopädie ist ein wichtiger Indikator des Medienwandels im Wissenschaftsbetrieb. Die bislang kaum systematisch ausgeschöpften Potenziale interaktiver Medien betreffen im Übrigen nicht nur die Herstellung von Wissenschaft, sondern auch ihre Darstellung, also eine performative Dimension wissenschaftlicher Tätigkeit, die von den ergebnisorientierten Akteuren häufig als sekundär betrachtet wird, indessen als »theatre of proof« (etwa im Experiment oder bei »bildgebenden Verfahren«) eine kaum zu überschätzende Bedeutung für den Erkenntnisprozess besitzt. In Interactive Science könnten also technische Potenziale unter günstigen Rahmenbedingungen in soziale Reorganisationen münden. Die kollaborativen und performativen Züge wissenschaftlicher Arbeit träten dann deutlicher hervor und bestärkten sich gegenseitig. Die Kehrseiten sind freilich nicht zu übersehen: Auch kollaborationsorientierte Wissensordnungen sind keineswegs hierarchiefrei – es bildet sich eine Art ›digitale Elite‹ heraus, die im akademischen Generationenkonflikt eine Rolle spielt. Als (nicht für ›neue Medien‹ allein typische, aber an diesen immer wieder demonstrierte) Begleiterscheinung von Medialisierungsschüben sind ferner unerwartete Kosten zu veranschlagen, die vor allem das individuelle Zeit-Budget der Nutzer betreffen. Wie man im Bereich elektronischer Publikationen gut beobachten kann, geht mit der Erleichterung des Zugangs eine Entdifferenzierung des Rollensets einher: Bisher arbeitsteilig ausgeführte Kommunikationsakte werden nunmehr durch eine Person getätigt, auch das Postulat »permanenter Erreichbarkeit« (via E-Mail) deutet auf einen regelrechten Kommunikationszwang hin. Der (wenn vielleicht auch nur »gefühlte«) Mehraufwand technisierter Kommunikation und die Trägheit institutioneller und mentaler Anpassungen mögen erklären, warum die Chancen individualisierter Breitenkommunikation in den IC-Prozessen bislang hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist. Ungeachtet dessen hat sich die kollegiale Kommunikation durch Digitalisierung intensiviert, »verweiblicht« und in Habitus und Stil gelockert; sie hat sich womöglich auch demokratisiert, nicht zuletzt dadurch, dass ›Laien‹ leichteren Zugang zur wissenschaftlichen Insider-Zirkeln bekommen. Für die lieben KollegInnen ist das ein zweischneidiges Schwert, mit dem sie hantieren lernen müssen.
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Zur Soziologie wissenschaftlicher Kommunikation im Fach Politikwissenschaft Klaus von Beyme
Claus Leggewie gab wertvolle Anstöße zur Erforschung der Soziologie wissenschaftlicher Kommunikation. Er hat gleichsam von überwiegend psychologischer Warte über die Subjekte der Interaktion die Kommunikationsformen und Barrieren im Wissenschaftsbetrieb gekonnt aufs Korn genommen. Ich würde gern die Wirkungsmechanismen in verschiedenen Entwicklungsphasen unseres Faches beleuchten, die unabhängig von persönlichen Kontakten der Wissenschaftler von Bedeutung sind. Die informelle Wissenschaftskommunikation durch Interdisziplinarität und Internationalisierung verdient im Zeitalter des Exzellenz-Rummels an deutschen Universitäten besondere Aufmerksamkeit. Die Suche nach dem Movens der politischen Theoriebildung in Deutschland wird nicht bei der Klage über Missbräuche von Interdisziplinarität und Internationalismus stehen bleiben. Sie muss die Pfadabhängigkeit der Politikwissenschaft in ihren historischen Stadien und auf verschiedenen Ebenen ins Blickfeld rücken. Der politische Impetus bei der Entstehung eines neuen Faches galt vielfach als anrüchig. Die historisch-vergleichende Wissenschaftsgeschichte hat jedoch gezeigt, dass die Politikwissenschaft keinen einmaligen Fall darstellte. Selbst Naturwissenschaften wie die Agrarbiologie sind durch politisch motivierte Förderungsschübe durchgesetzt worden. In einem Fach, das wie die Politikwissenschaft aus mehreren Wissenschaften ausdifferenziert wurde, lässt sich allerdings nicht, wie in der Agrarchemie, ein einzelner Forscher – wie Justus Liebig – nennen, der den Prozess in Gang brachte und hochschulpolitisch durchsetzte. Die allgemeine Dynamik der Entwicklung von wissenschaftlichen Disziplinen ist auf wenige Stadien reduziert worden: Experimenteller Empirismus, mit dem Vorrang der Entdeckung vor der Erklärung, die Phase der Konzeptualisierungsstrategie, in der Typologien und Modellbildungen überwiegen, die Phase der großen theoretischen Erklärungsversuche, die
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Entwicklung zur »normal science« bei Festigung eines Paradigmas, das nur noch gelegentlich modifiziert wird, und schließlich die Periode der Finalisierung der Wissenschaft, welche die von außen definierten Problemfelder auf der Basis allgemein anerkannter Theorien als Forschungsgebiet akzeptiert (van den Daele/Weingart 1976: 253). Es ist nicht einfach, die Politikwissenschaft heute in eines der Stadien zu pressen. Die Linnésche Klassifikationswut, die anfangs in der vergleichenden Regierungslehre herrschte, ist sicher überwunden, und der Standort könnte zwischen dem dritten und vierten Stadium angesetzt werden. Aber es bleibt zweifelhaft, ob der Schritt von der vierten auf die fünfte Stufe zwingend ist. Es bestand eine Weile ohnehin die Gefahr, dass ›normal science‹ allzu sehr mit den Maßstäben eines von Popper geprägten theoretischen Bilderverbots definiert wurde, das ganz auf »Stückwerktechnologie« geeicht schien. Andererseits wird das Finalisierungskonzept eher von normativ-kritischen Forschern angenommen werden als vom Mainstream der Empiriker, für die der Kritische Rationalismus wenigstens implizit als gesunkenes Kulturgut forschungsanleitend geworden ist. Gibt es überhaupt einen generalisierbaren Ablauf von Wissenschaftsentwicklung? Auch andere Disziplinen, die längst ›normal science‹ geworden zu sein schienen, wie Anthropologie und Soziologie, haben Renaissancen der großen Theorie erlebt. Kaum ein anderes Fach ist so stark hin und her gerissen zwischen den langfristigen Determinanten der Wissenschaftsorganisation und Denktradition eines Landes einerseits und den mittel- und kurzfristigen Wirkungen politischer Entwicklungen auf das Fach andererseits wie die Politikwissenschaft. Daher schwankten die Interpretationen der Geschichte der Disziplin zwischen den Extremen der langfristigen Erklärung sozial bedingter und politisch stabilisierter Denktraditionen und der kurzfristigen von singulären politischen Umständen. Erst der transnationale Theorievergleich konnte zeigen, was die spezifisch deutsche Entwicklung war und welche Trends der Entwicklung der Disziplin zugrunde lagen. Die Geschichte des Faches war widersprüchlich, wie die Geschichte Westdeutschlands selbst. Lang-, mittel- und kurzfristige Wirkungen haben das Bild der jungen Disziplin geformt. Generationen können diesen Wandel allenfalls exemplifizieren, nicht jedoch erklären. Als geschlossene Akteure traten die Generationen zudem nicht auf, weil die polarisierende Wirkung, etwa der Studentenrevolte, die zweite Generation von Politikwissenschaftlern – manchmal innerhalb der gleichen Schule – stark polarisierte, so dass wenigstens zeitweilig schwer nachzuvollziehen schien, dass Krippendorff wie Steffani Fraenkel-Schüler, Sontheimer wie Maier Bergstraesser-Schüler, Bermbach wie Domes Sternberger-Schü1er waren. Gegen die Debatten dieser zweiten Generation, die in seltsamer Zeitzündung sogar die Einheit der wissenschaftlichen Vereinigung spalteten, haben sich Debatten der Gründergeneration zwischen Fraenkel und Abendroth friedlich wie eine Familiengeburtstagsfeier ausgenommen. Die Suche nach dem Movens der Entwicklung in der Disziplin wird mehrere Ebenen der Einwirkung unterscheiden müssen:
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Langfristige Wirkungen gingen von Wissenschaftstraditionen und Denkstilen aus, die durch frühe Weichenstellungen im deutschen Universitätssystem geformt worden sind. Mittelfristige Wirkungen lagen in der Abgrenzung und Durchsetzung eines neuen Faches im Kreise der etablierten Nachbarwissenschaften und in der dominierenden Rolle der amerikanischen Politikwissenschaft. Kurzfristige Wirkungen schließlich sind bei aktualitätsbezogenen Sozialwissenschaften vom politischen System, seinen Anforderungen, seinen Eingriffen in das Universitätssystem und von intellektuellen Moden und Tendenzwenden ausgegangen. (1) Für den ersten Ansatz, der Erklärung von Disziplingeschichte aus langfristigen, nahezu unwandelbaren intellektuellen Traditionen und Denkstilen, hat Galtung (1983) ein möglicherweise nicht ganz ernstgemeintes Beispiel gegeben. In seiner Idealtypenkonstruktion ist der teutonische intellektuelle Stil – mit Zentrum an den kleineren deutschen Traditionsuniversitäten wie Marburg, Heidelberg oder Tübingen – durch die Neigung zu starker Theoriebildung bei schwacher Daten- und Thesenproduktion herausgebildet worden. Der Stil der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen wird – vor allem im Vergleich zum angelsächsischen Stil – als autoritär, darwinistisch, gesprächsunbereit und lernunfähig charakterisiert. Die Entstehung eines weltweiten intellektuellen Stils wurde noch in Abrede gestellt. Aber, wo Computer vordringen, dringt auch der datenreiche und theoriearme Wissenschaftsstil der Angelsachsen vor. Wenn diese Typologie mehr als eine geistreiche Spielerei auf der unhistorischen Basis der Annahme ewiger Nationalcharaktere sein soll, müssen die sozialen Bedingungen der Entstehung und des Fortlebens solcher intellektueller Traditionen analysiert werden. Die deutsche Universität war gekennzeichnet durch den Primat der Philosophie. Als Deutungswissenschaften haben die in der Philosophischen Fakultät zusammengeschlossenen Fächer in Deutschland eine Rolle gespielt, die weder in der angelsächsischen noch in der französischen mehr denkbar war. Die deutsche Universität wurde nach 1945 nicht grundlegend reformiert. Die Theorielastigkeit des teutonischen Denkstils blieb in vielen Geistes- und Sozialwissenschaften erhalten. Kein Wunder, dass sie in einem neuen Fach, das gerade die normativ räsonierenden Köpfe vieler Nachbardisziplinen anzog, besonders stark erschien. Die Bedingungen dieser deutschen Sonderentwicklung – die ungewöhnlich starke Ausdifferenzierung von Geist und Macht, das unpolitische Verständnis des deutschen Bildungsbürgertums, die Nichtakzeptanz der Sozialwissenschaften in Beratungsverhältnissen für die Machthaber – all dies ließ sich nicht sofort abbauen. Aber diese langfristigen Wirkungskräfte verlieren im Zeitalter der Globalisierung an Gewicht. (2) Mittelfristige Wirkungen gingen vor allem von der Umstrukturierung der Fächer nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Die Abgrenzung der neuen Disziplin und der Einfluss der dominanten amerikanischen Politikwissenschaft mit ihrer standardisierenden Wirkung waren wichtige Faktoren. Die Abgrenzung der Politikwissenschaft von den Nachbar-
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disziplinen absorbierte einen Teil der Kräfte der Theoriebildung in der Nachkriegszeit. Das schlichte Denken in Wirklichkeitssegmenten – Gesellschaftliches gehört der Soziologie, Politisches der Politik – ließ sich in diesem Falle kaum durchhalten. Im Gegensatz zu anderen Ländern war die Hierarchie der Orientierungs- und Deutungswissenschaften in Deutschland stärker durcheinander geraten, zumal einige Fächer sich vor 1945 stärker ideologisch einspannen ließen als andere. Kompetenz- und Grenzstreitigkeiten wurden daher mit größerer Härte ausgetragen. Da die Politikwissenschaft weder eine eigene Theorie noch eine eigene Methode mitbrachte und ihre Grenzen umstritten waren, hat ihr Bemühen um Partialtheorien angesichts des überzogenen Theorieanspruchs, der die Schattenseite der Humboldtschen Universität schon immer gewesen ist, auf die Nachbardisziplinen wenig Eindruck gemacht. Das Bemühen um Partialtheorien hat in der Politikwissenschaft die professionellen Sozialphilosophen in der Frühphase der Politikwissenschaft nicht überzeugt. Eine Theorie des politischen Handelns auf die Beine zu stellen, misslang. Dieser Vorwurf war gewichtiger als die übliche Kritik an dem neuen Fach, das in den Kreis der etablierten Disziplinen drängte, dass es weder einen eigenen Gegenstand, noch eine eigene Methode vorweisen könne. Lepsius (1961: 79) hatte diese Annahme bereits mit der Feststellung relativiert, dass die Politikwissenschaft, wenn sie den Charakter einer enzyklopädischen Wissenschaft, die nach Erklärung der sozialen Totalität strebt, aufgäbe, zwar das Erfahrungsobjekt, nicht aber das Erkenntnisobjekt mit anderen Wissenschaften teile. Das Denken in ontisch gegebenen Fächergrenzen hat schon immer verkannt, dass die gleichen Vorwürfe der etablierten Wissenschaften im 19. Jahrhundert gegen die Nationalökonomie gerichtet wurden. Suspekt blieb an dem Fach Politikwissenschaft, dass seine Vertreter in der Methode vorwiegend zwischen Zeitgeschichte und Soziologie optierten, wobei diese Optionen sich keineswegs eindeutig den meta-theoretischen Positionen zuordnen ließen. Neomarxisten und die sogenannten Normativisten waren einiger in der Notwendigkeit historischer Analysen als jede der beiden Richtungen mit dem empirisch-analytischen Mainstream, der weitgehend die Soziologie methodisch und theoretisch als Vorbild ansah. Ganz gleich, wie man in der Frage der Methoden und der Theoriebildung jedoch optierte, blieb die Soziologie Hauptlieferant angesichts des von fast allen Politologen beklagten Theoriedefizits. Dies führte jedoch nicht zu einer Etablierung der politischen Soziologie als Brückenschlag, wie sie noch Stammer in Berlin vorgeschwebt hatte. Zu stark hatten sich die Fächer in ihren Institutionen ausdifferenziert und waren vielfach mit der Auflösung der alten Fakultäten oft nicht einmal im gleichen Fachbereich angesiedelt. Auf manchen politikwissenschaftlich relevanten Gebieten wie der Wahlforschung kam es zu so enger Kooperation, dass einzelne Beteiligte der Köln-Mannheimer Schule die Frage, ob sie sich als Soziologen oder Politologen fühlen, vermutlich für irrelevant erklären würden. Doch machte sich auch in diesem Bereich ein Übergewicht der Soziologen be-
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merkbar. Die mangelnde Kooperation von inner- und außeruniversitärer Surveyforschung, die schon in den USA beklagt wurde, reproduzierte sich in der Bundesrepublik. Der Konflikt zwischen Soziologie und Politikwissenschaft der in einer normativ gestimmten »Wissenschaft von der Politik« vor allem in Süddeutschland einst tobte, ist heute bedeutungslos, obwohl der geringere Rang in den theoretischen Möglichkeiten im Vergleich zur Soziologie immer wieder einmal bestätigt wurde, weil die Politikwissenschaft moralisch-praktische Fragen der Legitimität aus der wissenschaftlichen Betrachtung ausschließe oder als »deskriptiv zu erfassenden Legitimitätsglauben« behandele (Habermas 1981: 18). Sie befindet sich jedoch damit in guter Gesellschaft, etwa mit der Ökonomie, welche den alten Impetus der frühbürgerlichen politischen Ökonomie verloren hat. Die professionalisierte, sich in Bindestrichsoziologien ausdifferenzierende Soziologie des empiristischen Mainstreams ist vermutlich überwiegend bereit, sich gegen Habermas’ Verdikt mit der Politikwissenschaft zu solidarisieren und keine Deutungskompetenz in Legitimitäts- und Rationalitätsfragen zu beanspruchen. Ein Deutungsmonopol wäre für die Sozialwissenschaften schon deshalb unhaltbar, weil sie sich selbst weiter ausdifferenzieren, wie Lepsius (1961: 23) schon früh voraussagte. Im Bereich der Verwaltungs- und Politikfeldstudien und in der Internationalen Politik und Friedensforschung hat dieser Prozess in der Politikwissenschaft bereits eingesetzt. Die Ausdifferenzierung der Internationalen Politik, die in Amerika schon weit fortgeschritten ist, ist durch die »Einmauerung« der Friedensforschung in Deutschland wieder gebremst worden. Trotz des interdisziplinären Anspruches gelang es der Politikwissenschaft, in den meisten Friedensforschungsinstituten die Federführung zu übernehmen, ohne dass sich die Ausdifferenzierung eines neuen Faches ereignete. Gegen die Aufdröselung der Disziplin in diverse Policy-Bereiche (Rühle/Veen 1982: 8) ist der Widerstand in Deutschland schwächer, weil dieser Bereich technokratisch für die unterschiedlichsten politischen Richtungen relativ gut nutzbar ist. Den Ruf nach Internationalisierung hat Leggewie für »Eulen nach Athen tragen« erklärt. Es handelt sich jedoch eher um Eulen nach New York tragen. Internationalisierung heißt weitgehend Amerikanisierung. Eine wichtige mittelfristige Wirkung auf die Theoriemoden ging vom Einfluss der dominanten amerikanischen Politikwissenschaft aus. Selbst Normativisten wie Hannah Arendt, Dolf Sternberger und die Voegelin-Schule haben sich gelegentlich an einem geschönten Bild Amerikas inspiriert, etwa wenn enge Bindungen zwischen der amerikanischen Polity und der Politikauffassung der griechischen Antike gesehen und die Verdrängung des Impetus der politischen Revolution Amerikas zugunsten der Credos aus den sozial-klassengebundenen Revolutionen Europas beklagt wurde. Das Pathos für die amerikanische Demokratie war stark, auch bei vielen Rückkehrern aus Amerika. Carl J. Friedrich, der sich nie als Emigrant fühlte, hatte vergleichsweise noch das entspannteste Verhältnis zum Vor-
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bild Amerika. Politikwissenschaftler der zweiten Generation, die in ihren Dissertationen noch mit einer scharfen Kritik der ahistorischen amerikanischen Sozialwissenschaften begonnen hatten, haben später vieles vom amerikanischen Credo lautlos übernommen, wie Oberndörfer, oder sich in seltsam gemischten Gefühlen von der amerikanischen Politikwissenschaft auch weiterhin distanziert. Oder sie hielten den »American creed in den USA für lageadäquat« lehnten ihn aber für Europa ab (Arndt 1978: 291). Deutsche Normativisten haben aus der Abhängigkeit Deutschlands heraus niemals mit der Bissigkeit eines Bernard Crick (1967: 247) in der Frühphase kritisiert: »The givenness of American life can no longer be taken for granted, and neither can it be rescued by an intellectually empty citizenship training«. Vehemente Kritik an dem Mainstream kam vor allem aus Frankreich. wo in einem repräsentativen Handbuch (mit Übertreibungen) kritisiert wurde, dass 90 % aller Politologen der Welt Amerikaner seien und von diesen 90 % sich ausschließlich mit Amerika befassten, das nur einen der interessanten Gegenstände im Fach darstelle (Grawitz/Leca 1985: XIV). Das Dilemma der Politikwissenschaft, sich als Demokratiewissenschaft zu verstehen, und zwischen den wissenschaftlichen Techniken und den demokratischen Idealen hin- und hergerissen zu sein, ist sogar in Amerika dramatisierend zur Tragödie erklärt worden (Ricci 1984: 24). Dieses Dilemma verstärkte sich bei der Rezeption der amerikanischen Political Science in Deutschland, die demokratisches Credo und wissenschaftliche Technik zugleich zu vermitteln suchte. Mit der starken Anlehnung an die amerikanische Wissenschaft stand die neue Disziplin nicht allein. Auch die Soziologie, die vor 1933 eine unverwechselbare nationale, überwiegend historisch-philosophisch orientierte Tradition besaß und sich zum »Sonderweg der deutschen Kultur emphatisch bekannt hatte« (Tenbruck 1984: 176ff.) übernahm mit den modernen Methoden vielfach auch das amerikanische Gesellschaftsbild. Bei Dahrendorf (1968: 18) schien dies wie eine Chance, die Soziologie in der Gesellschaft aufzuwerten, denn »es besteht eine merkwürdig enge, wiewohl keineswegs spannungslose Affinität zwischen Amerikanern und Soziologen«. Für die Politikwissenschaft ohne gefestigte Tradition, aber mit dem festen Entschluss, die eher vordemokratischen Traditionen der älteren deutschen Staatslehre zu überwinden, lag die amerikanische Option noch näher, weil sie hin zur politischen Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft und weg von der normativen Staatswissenschaft führte. Das empirisch-analytische Mittelfeld der Politikwissenschaft hatte die geringsten Probleme mit der amerikanischen Hegemonie. Die Vorbildrolle Amerikas ist seit langem umstritten gewesen. Von Tocqueville bis Bryce haben Europäer immer wieder gefragt, ob bestimmte Modernisierungsschübe von Amerika im Wege der Diffusion ausgingen, oder ob sich auch ohne amerikanische Vorreiterrolle überall funktionale Äquivalente herausbilden würden. Empirisch-analytische Wissenschaftler würden die zweite Deutung für richtig halten und es aufgrund ihres Wissenschaftsverständnisses ganz normal finden, dass man an den Universitäten von
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Michigan oder Mannheim zu äquivalenten Ergebnissen kommt. Es ist kein Zufall, dass die Berichte über die empirische Sozialforschung am wenigsten scharfe Grenzen zwischen den Nationalitäten der behandelten Forscher ziehen (Inglehart 1983: 429ff). Selbst wo Empiriker eine gewisse »sprachgeschützte Innerlichkeit« am amerikanischen Vorbild monierten, wurde diese noch immer für weniger gefährlich gehalten als der politikwissenschaftliche Provinzialismus der Bundesrepublik (Falter, 1982: 3). Auch dieser Seitenhieb ist zu relativieren. Trotz der deutschen Lust am Leiden an der Theorielosigkeit ist der Provinzialismus im Ganzen noch gemäßigter als bei anderen Europäern, von den kleineren Ländern in Nordeuropa und den Niederlanden einmal abgesehen. Der Schreckensruf: »In ganz Deutschland lehren weniger Politologen als in Berkeley« (zit. Merkl 1977: 1097) ist überholt. Westdeutsche Politikwissenschaftler lagen seit den 70er Jahren auf der Ebene der »International Political Science Association« nach den USA und Kanada, – vielfach vor Großbritannien und Frankreich – an dritter oder vierter Stelle in der Partizipation, obwohl sie nicht das Privileg genossen, eine zugelassene »Verhandlungssprache« der Weltvereinigung zu sprechen. Indikatoren dafür sind die Teilnahme an Kongressen, die man vielleicht noch mit dem deutschen Hang zum Tourismus abwerten könnte. Aber auch gewichtigere Anzeichen, wie Initiativfunktionen, Beiträge zu internationalen Zeitschriften und Round Tables lassen sich zugunsten der deutschen Wissenschaftscommunity in der Politikwissenschaft anführen. Ein Problem der Naturwissenschaften greift auf die Sozialwissenschaften über: »wer nicht englisch publiziert, hat gar nicht publiziert« lautet eine schöne Übertreibung (Leggewie/Mühlleitner 2007: 146). Das Gros der Schriften von deutschen Politologen wird immer noch auf Deutsch publiziert. Als ich einst Stein Rokkan fragte, ob ein vorgestelltes Projekt als Buch erscheinen werde, antwortete er indigniert: »Oh, I never publish a book – only rarely a text book in Norwegian for my students«. Ein kleines Land wie Norwegen muss englisch publizieren, aber der deutsche Sprachbereich ist noch zu groß, um diesem Zwang voll zu unterliegen. Die Forderung nach Internationalisierung lastet gleichwohl schwer auf der jüngeren Generation. Es blieb jedoch ein Rest an Regionalismus erhalten Wenn die Vertreter der jungen Generation jahrelang in Amerika gearbeitet und nur englisch publiziert haben, wachsen ihre Chancen bei deutschen Berufungskommissionen erfahrungsgemäß keineswegs. Aufstrebende Wissenschaftler versuchen in die angelsächsischen Zeitschriften zu kommen. Aber es zeigt sich, dass sie dort für den Peer reviewing process nicht den richtigen Stil und die Argumentationsusancen treffen und daher vielfach scheitern. Daher weichen viele doch wieder auf ihre Sprache aus, zumal die englischen Texte einer intensiven Bearbeitung eines native speakers bedürfen. Ich bekam einmal eine Nachricht über die Annahme eines Artikels: »we further anglicized your manuscript« – das war die gute Nachricht! Nicht jeder im Fach setzt sich ihr aus. Die Zirkulation von »unrefereed material« im Internet tritt auch bei Angelsachsen
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vielfach als zweite Kommunikationswelt auf. Es ist zudem immer eine Minderheit, die das Gros der Papers schreibt. Nach amerikanischen Studien in mehreren Geistes- und Naturwissenschaften waren es keine 10 Prozent der Professoren (Crane 1972: 121, 123). Deutschland liegt in der Internationalisierung keineswegs an unbedeutender Stelle. In der umfangreichen Bestandsaufnahme der »American Political Science Association« (Finifter, 1983: 595ff.) waren deutsche Politikwissenschaftler die am häufigsten genannte Gruppe aus dem nicht-amerikanischen Ausland, auch wenn die Auswahl überwiegend auf die empirisch-analytische Kernmannschaft beschränkt wurde. Die »Amerikanisierung« – wie das Resultat dieser internationalen Kooperation vereinfachend genannt wird – ist gleichwohl in Deutschland stärker fortgeschritten als in Ländern vergleichbarer Größe wie Frankreich und Großbritannien mit älteren Traditionen einer institutionell verselbständigten Politikwissenschaft, als sie Deutschland besitzt. (3) Kurzfristige Wirkungen gingen vor allem von der Anpassung des Faches an die politischen Strömungen in der Bundesrepublik, vom Wandel der Beratungskonjunkturen, des Fächerprestiges und der Arbeitsmarktlage aus. Schon Thomas Kuhn (1969) stellte fest, dass die Wissenschaft zunehmend ihre Geschichte vergesse, während die Kunst sich an ihrer Geschichte weiter inspiriert. Ein großer Innovator wie Picasso hat sich nicht gescheut, ganze Bildserien im Anklang an Cranach oder Goya zu gestalten. Seit zehn Jahren hat der Bologna-Prozess von außen Anstöße zur hektischen Veränderung der deutschen Wissenschaftskultur geliefert. Die Wiedervereinigung brachte einen singulären Impetus in der »Kommission für den sozialen und politischen Wandel« (KSPW), die für viele Politikwissenschaftler einen jahrelangen Schwerpunkt der Tätigkeit nach sich zog. Die wissenschaftlichen Moden kamen und gingen von der Totalitarismusforschung über die Modernisierungsforschung, die Policy-Forschung, die Transformationsforschung und schließlich die Terrorismus-Forschung. Der Anspruch auf Sondermittel und Sonderforschungsbereiche ließ sich gelegentlich realisieren, um nach einigen Jahren zu »normal science« zurück zu führen. Neuerdings ist das Fach Politikwissenschaft von einer doppelten gegenläufigen Tendenz in seiner Entwicklung behindert: durch die Konzentrierung der Förderung von unmittelbar als nützlich angesehenen Fächern und durch einen Nachfrageschwund, je stärker sich die Demokratie gefestigt hat (Günther 1985: 73). Für das Demokratiepathos der frühen Jahre besteht heute kaum noch Bedarf. Die Professionalisierung der Disziplin lässt auch das Angebot an solchem Demokratiepathos zunehmend schrumpfen. Auch in anderen Ländern gab es solche Entwicklungen, die für Frankreich als Entwicklung zur ›hypernormalen‹ Wissenschaft beschrieben worden ist (Lemaine 1980). Manchem mag der Gegensatz zwischen »weimarabhängigen« und »bonnabhängigen« Orientierungen etwas dramatisiert erscheinen, weil es neben diesen, an wissenschaftlichen
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Programmreden der beiden wissenschaftlichen Vereinigungen ablesbaren Orientierungen in beiden Lagern sehr viel »normale Wissenschaft« gibt. Ganze Teilbereiche des Faches, die sich nicht mit stabilitätsrelevanten Fragen der deutschen Politik befassten, wie die vergleichende Politikwissenschaft – seit sie das Imitationspathos abgelegt hat, das sie seit Fraenkel, Hermens oder Sternberger gelegentlich noch hatte – oder die Internationale Politik, waren immer stärker »normal science« in diesem Sinne. Die Politikwissenschaft ist eine »normale Wissenschaft« geworden, die weitgehend für einen wissenschaftlichen Binnenmarkt produziert und mit dem Aufgeben des demokratischen Belehrungspathos zunehmend weniger abhängig von direkten politischen Einflüssen zu sein scheint, andererseits aber die Finalität des wissenschaftlichen Tuns weniger verkrampft akzeptiert als in der Gründungsphase der neuen Disziplin. Leggewie beschreibt zutreffend, dass interdisziplinäre Projekte bei den Gutachtern im Peer Review nicht immer gut angesehen sind. Sie sind in manchen Feldern sinnvoll bis unerlässlich, weil die Spezialisierung der jungen Wissenschaftler wächst. Eine Institution oder ein Politikfeld wird von den meisten aufstrebenden Wissenschaftlern der Disziplin jahrein jahraus behandelt. Unlängst bekam ich den Brief eines Kollegen, in dem erklärt wurde, ich hätte sein erstes Buch besprochen, er wünsche sich nach seiner Pensionierung, dass ich auch sein letztes Buch rezensiere – das Thema war identisch, nur der Fokus hatte sich internationalisiert. Das Epitheton »Generalist« droht fast zu einem Schimpfwort zu werden, das nur noch für komparative Lehrbücher gefragt ist. Wer würde heute noch wagen ein Buch über »Man and his Government« (1963) zu schreiben, wie ein Altmeister unserer Zunft Carl Joachim Friedrich? Das ist allenfalls erlaubt, wenn man einen neuen Ansatz wie »Konkordanzdemokratie« oder »Konsolidierung der Demokratie« einführt und diesen Ansatz in immer neuen Büchern ausdifferenziert und »up to date« bringt. Der Zerfall des Kommunismus machte ganze Bibliotheken zu Makulatur. Mich überraschte er auf einer Tagung der Ostforscher in Australien: »wir sind ruiniert«, jammerten einige Kollegen, »wir müssen jetzt um Asyl im History Department nachsuchen«. Einige Ostforscher wurden selbst zu Historikern (wie Archie Brown) die einst durch Innovationen glänzten wie der Einführung des Begriffes »politische Kultur« in die Ostforschung, die es erlaubte, von der ewigen Variation von Totalitarismustheorien abzurücken. Brown (2009) schrieb inzwischen ein repräsentatives Buch über die Geschichte des sowjetischen Kommunismus. Nur wenigen der älteren Generation gelang es noch, Anschluss an die Transformationsforschung gewinnen. Sie mussten erkennen, dass ihre spezifischen Skills wie Sprach-, Kultur- und Area-Kenntnisse weniger gefragt waren. Umfrageforscher wie Richard Rose, Kitschelt oder Klingemann waren erfolgreich in der Organisation transnationaler Surveys in Osteuropa, unter Kooperation mit einheimischen native speakers, die ihnen die Fragebögen systemgerecht redigierten.
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Nicht in allen Bereichen wirkte der berühmte Federstrich des Gesetzgebers, der ganze Bibliotheken wertlos macht, den die Juristen so fürchten, wie in der Kommunismusforschung. Aber der Wandel der Paradigmen und theoretischen Moden kann ähnliches bewirken. In den 80er Jahren musste ein Buch für seinen Erfolg den Begriff »Korporatismus« enthalten – in den 90er Jahren wirkten Korporatismus-Titel schon irgendwie obsolet und wurden von den Verlagen abgelehnt. Seit den 90er Jahren empfahl es sich Schlagworte wie »Vetogruppen« governance« oder »Globalisierung« und »Nachhaltigkeit« im Titel unterzubringen. Das Dümmste, was man in der Parlamentarismusforschung machen konnte, war seine quantitative Analyse des Gesetzgebungsoutput von 12 Bundestagen unter dem altmodischen Terminus »Der Gesetzgeber« firmieren zu lassen (v. Beyme 1997). Erst spät bemerkten Kollegen, dass es sich nicht um eine juristisch-normative Studie, sondern um zeitgemäße Empirie mit Massen von selbst erhobenen Daten handelte. Unter Begriffen »Interessengruppen« und »pressure groups« in Verbindung mit parlamentarischen Parteien wurde schon ziemlich Ähnliches abgehandelt, aber Tsebelis’ (2002) »Vetogruppen« fehlen heute in kaum einer Studie. Die erste Nachkriegsgeneration deutscher Politikwissenschaftler hat die wachsende Verengung der Blickpunkte erlebt und rief nach Interdiszplinarität. Das Scheitern vieler Pläne durch Zerfleddern der Gesichtspunkte, die schließlich in Sammelbänden doch wieder zu einem bloßen Nebeneinander führen, war vielfach vorprogrammiert. Der enorme Zeitaufwand für die Koordinationsarbeit und das Schreiben von Anträgen beeinträchtigt vielfach die Kreativität. Viele herausragende Wissenschaftler wurden in Forschungsinstitute berufen, aber nur wenige, wie Fritz Scharpf oder Wolfgang Streeck, wurden nicht durch ihre periodisch erscheinenden Sammelbände an der Publikation eigener Monographien gehindert. Wettbewerb heißt das Zauberwort im Zeitalter der Globalisierung. »Ranking« ist zunehmend zum Instrument des Wettbewerbs geworden. Seit Somit/Tanenhaus (1967) und den Rankings der DVPW von Klingemann kennen wir die Problematik von Rankings. Rangfolgen werden mit einem time lag der Entwicklung wahrgenommen – wie die Spitzenreiter in Amerika von V.O. Key bis Carl J. Friedrich zeigten. Autoren großer Lehrbücher werden eher benannt als Autoren von tüfteligen Innovationen. Ganze Teilbereiche – wie die Internationale Politik – schneiden in den Rankings zu schlecht ab, weil nur eine Minderheit der Stimmberechtigten in diesem Gebiet arbeitet. »Comparative Politics« schneidet von den Teilbereichen meist am besten ab. Autoren von reißerischen Übertreibungen werden selbst in einer professoralen Gemeinschaft zu gut beurteilt, wie Huntington auf Platz 1 in Deutschland demonstrierte (vgl. die Gegenüberstellung bei v. Beyme 2008: 33). Das internationale Ranking von ganzen Universitäten muss zu Ungerechtigkeiten führen. Welcher amerikanische Wissenschaftler kann wissen, ob die FU oder die HU in Berlin würdiger ist, einen Spitzenplatz einzunehmen? Selbst einheimische Gelehrte wer-
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den das wohl eher nach dem Kriterium ihrer Arbeitskontakte statt nach objektiven Gesichtspunkten entscheiden. Ranking wurde zum »infotainment« der gehobenen Zeitschriften, die keine Horoskope bringen, wie treffend bemerkt worden ist (Leggewie/Mühlleitner 2007: 219). Der Bologna-Prozess hat die Wissenschaftskultur nicht nur positiv beeinflusst. Verkürzung der Studienzeiten und Verringerung der Abbrecherquoten waren intendiert und im Prinzip eine richtige Idee. Beides ist aber bisher nicht eingetreten wegen einer Überladung der Curricula. Wieder einmal führte Internationalität zu falschen Übernahmen. Man kopierte die amerikanischen Abschlüsse ohne die intensive Betreuung von Tutoren und Professoren in kleinen Gruppen. Der amerikanische Bachelor im normalen College führt kaum weiter als zum Äquivalent eines deutschen Abiturs und hat meist Curricula, die den Stoff eher selektiv-exemplarisch auswählen. Er wird vielfach als Vorstudium mit Sozialwissenschaften oder Liberal Arts benutzt, ehe man das ernsthafte Brotstudium in einer Law School oder einer Medical School antritt. Es wird in Deutschland gegen lächerliche 500 Euro Semestergebühren gestreikt, aber in allen wissenschaftlich relevanten Ländern werden ca. 3000 Euro pro Jahr erhoben. Wir wünschen uns nicht 35.000 Dollar, wie in den amerikanischen Spitzenuniversitäten. Diese aber können dann 30 % des Geldes in Stipendien für bedürftige Begabte stecken, während wir versuchen, von den Steuern der Niedrigeinkommen auch die Bürgersöhne gratis studieren zu lassen. Man muss zudem der Bologna-Entwicklung eine gewisse Umstellungsfrist gewähren: Auch die einstige Einführung des Magister war von negativen Kommentaren begleitet. Heute ist der Magister Gegenstand der Nostalgie von den durch das Master-Curriculum Gestressten. Exzellenz heißt ein weiteres Schlüsselwort im europäischen Wettbewerb. Die Antragshektik der Wissenschaft im neuen Exzellenz-Rummel verführt zur raschen Verbreitung von theoretischen Moden. Statt theoretischer Durchdringung bieten viele Anträge vor allem »streamlining« von Ideen durch gängige Modebegriffe. Plastikwörter wie Mobilität, Flexibilität, Praxisbezug oder Wettbewerb halten Einzug. Der deutsche Professor wurde nach neuem Wunschbild in schöner Übertreibung schon »ein apparatschikhaft vernetzter Großorganisator von Studiengängen und Sonderforschungsbereichen« genannt (Soboczynski 2009: 57). An die Stelle einer Argumentationskultur ist eine Antragskultur getreten, in der Zweifel oder gar Fehler auf keinen Fall zugegeben werden dürfen (Schmoll 2009: 1). Es kam nicht selten zur Konstruktion einer »Phrasendreschmaschine«, deren Vokabeln zur Einwerbung von Forschungsgeldern benutzt wurden (Leggewie/ Mühlleitner 2007: 149). Interdisziplinarität und Internationalismus sind im Zeitalter der Globalisierung offenbar der Versuch, der Isolierung in einer sich immer mehr fragmentierenden Wissenschaftslandschaft vorzubeugen – bislang mit mäßigem Erfolg. Die Internationalisierung ist nicht aufzuhalten, aber wir müssen entschieden eingreifen, um die trivialisierenden Nebenfolgen des Prozesses zu vermeiden.
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Paradoxien des Kollegialitätshabitus Jörg Bergmann
Jeder, der längere Zeit an einer Universität verbracht hat und als Student, Assistent, Professor, Dekan, Kommissionsvorsitzender oder in einer der vielen anderen akademischen Rollen tätig war, weiß: Die Universität ist ein Soziotop eigener Art – ein Soziotop, dem neben besonderen Erziehungsprinzipien, Verhaltens- und Überlebensregeln, kulturellen Praktiken, Beeindruckungstechniken, Ritualmustern, Hitparaden, Zirkulationsmärkten und Zuweisungssystemen für Reputation auch ein spezifischer Kollegialitätshabitus eigen ist. Dieser Habitus ist der Gegenstand von Claus Leggewies Analyse. Bei der Lektüre dieses Textes ist unverkennbar, dass hier ein Ethnograph am Werk war. Denn nur wer über Jahre und Jahrzehnte in Universitätsgremien, Fachbereichssitzungen und Prüfungsausschüssen, als Studiengangsbeauftragter oder stellvertretender Institutssprecher an den oft quälend langen und fruchtlosen Diskussionen über Fachbereichsneugliederung und Bachelorreform, über Scheinäquivalenzanerkennung und erfolgsgestützte Mittelverteilung teilgenommen hat, ist in der Lage, dieses Milieu einer solchen Analyse aus der Innenperspektive zu unterziehen. Leggewie war also in seiner bisherigen akademischen Tätigkeit immer auch als verdeckter teilnehmender Beobachter unterwegs, und man darf vermuten, dass ihm durch diese reflexive Distanzierung die oftmals dröge Arbeit erträglicher wurde und sein Text auch die sublimierende Verarbeitung einer langjährigen Frustrationserfahrung ist. Weil innovative Ideen immer auch ein Element von Spinnerei enthalten, zeichnet sich das akademische Soziotop nicht zuletzt dadurch aus, dass darin Verrücktheiten gepflegt und Obsessionen verfolgt werden dürfen, die außerhalb des universitären Handlungsraums die Polizei oder den Psychiater auf den Plan rufen würden. Das erzeugt dann seine eigene Komik und Tragik und bringt nicht selten ganz besondere Charakterköpfe mit ihren liebenswürdigen oder nervigen Marotten hervor. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass das akademische Soziotop oftmals als Szenerie für erzählerische Darstellungen dient und in Gestalt des anglo-amerikanischen Universitätsromans gar zum Topos einer eigenen literarischen Untergattung wurde (vgl. Weiß 1988). So sehr jedoch in diesen fikti-
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ven Texten auch der akademische Kollegialitätshabitus aufgespießt und dramaturgisch bis zum Klamauk überhöht wird (man erinnere sich an Schwanitz’ »Der Campus«, 1994), so wenig wird darin erkennbar, welche wichtige Funktion er für die Wissenschaft spielt. Kollegenschaft gibt es natürlich auch in Krankenhäusern und Finanzverwaltungen, in Banken und Unternehmen, doch nur im Soziotop der Wissenschaftler ist der Kollegialitätshabitus eine Strukturvoraussetzung für die Ausdifferenzierung eines Sozialsystems. Wissenschaft ist ein in hohem Maß von Paradoxien gekennzeichnetes Geschäft. Sie kultiviert den systematischen Zweifel, fordert die rücksichtsund interessenlose Aufdeckung von Irrtümern und Widersprüchlichkeiten und prämiert den Konflikt in Gestalt von Diskussion und Kontroverse. Kritik ist ein zentrales Format wissenschaftlicher Arbeit und ist in vielfacher Weise – etwa in so unterschiedlichen Ansätzen wie dem »Kritischen« Rationalismus oder der »Kritischen« Theorie – zum Signum von Wissenschaft überhaupt geworden. Für diejenigen, die in das Wissenschaftssystem sozialisiert sind, sind Kritik und Explikationszwang als Bestandteile ihrer täglichen Arbeit eine Selbstverständlichkeit. Doch muss man sich vor Augen führen, dass eine solche auf Nachprüfung, Kritik und Widerlegung eingestellte Haltung im Alltag völlig undenkbar ist. Für das Funktionieren von Alltagskommunikation sind Vertrauen, Hintergrunderwartungen, die Unterstellung von geteiltem Alltagswissen, »Konsensfiktionen« (Hahn 1989) und ökonomisierende Hermeneutiken unabdingbar. »Was würde das für ein Gerede in der Welt geben, wenn man durchaus die Namen der Dinge in Definitionen verwandeln wollte!« schrieb Lichtenberg (1983: 450) einmal in seinen Sudelbüchern. Wer im Alltag wissenschaftliche Präzision haben will und alle Äußerungen seines Gegenübers immer erst einmal kritisch abklopft und hinterfragt, verletzt Grundmaximen menschlicher Sozialität. Er verweigert sich dem, was Erving Goffman (1959: 10) als den »working consensus« der sozialen Interaktion bezeichnet hat und was im Wesentlichen das gemeinsame Bemühen impliziert, wechselseitig das Image des jeweils Anderen zu schützen und nicht zu gefährden. Kritik am Anderen, an seinem Verhalten oder seinen Ansichten, ist in der Alltagskommunikation ein gesichtsbedrohender Akt, der dispräferiert ist und bei seiner Realisierung erhebliche Absicherungs- und Kompensationsmaßnahmen erforderlich macht. Wie kann das im Alltag so adversative Handlungsformat der Kritik ein zentraler Bestandteil wissenschaftlicher Kommunikation sein? Auch im Soziotop der Wissenschaft lässt sich die Sozialdimension der Kritik nicht einfach ignorieren. So sehr Kritik das Format ist, in dem Wissenschaft betrieben wird, so sehr muss sie kontinuierlich durch entsprechende Aktivitäten kommunikativ neutralisiert werden. Die wissenschaftliche Kommunikation findet statt unter dem Diktat der Versachlichung, sie muss entpersönlichen und entmoralisieren; gesprochen wird im pluralis modestiae, Kritik darf nicht ad personam erfolgen. Man kann das sehr gut auch an der Euphemisierung des wissenschaftlichen Stils
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(Bourdieu 1988: 372f.) und allgemein an der Hypertrophie der akademischen Höflichkeit (Steinfeld 1991) beobachten. Die Verschriftlichung der Kommunikation und die Textkonventionen der Wissenschaftsprosa tun ein Übriges, um sicherzustellen, dass niemand persönlich wird und niemand persönlich gemeint ist. Der wissenschaftliche Diskurs hat mit der Individualität derer, die ihn führen, idealiter gar nichts mehr zu tun; er schottet sich durch verschiedene sprachliche und textliche Vorkehrungen, in denen der Kollegialitätshabitus seinen Ausdruck findet, gleichsam von seinen Betreibern ab, die sich damit ohne unmittelbare Gefahr für ihre persönliche Identität an diesem konfliktreichen und riskanten Geschäft beteiligen können. Der wissenschaftliche Kollegialitätshabitus erfüllt damit eine höchst paradoxe Funktion: Er ist die soziale Vorkehrung dafür, dass Kritik im akademischen Soziotop nicht in der Sozialdimension, sondern ausschließlich in der Sachdimension – als spezifisch auf Wahrheit bezogene Kommunikation (so Luhmann 1992) – realisiert und verstanden wird. Der wissenschaftliche Kollegialitätshabitus ist die soziale Einrichtung zur Ausblendung des Sozialen im akademischen Betrieb. Allerdings hat der Kollegialitätshabitus mit seinen Versachlichungsund Neutralisierungsmaximen seine Kehrseite: Wissenschaftler sind ja nicht die körperlos-ätherischen Wesen, zu denen sie durch die Teilnahme an dem wissenschaftlichen Diskurs der Idee nach werden. In ihren Texten sind sie unvermeidlich als Individuen mit ihren Eigenarten und Besonderheiten präsent. Es kommt hinzu, dass kaum ein Wissenschaftler in der Lage sein dürfte, wie gefordert die sozialen Anteile der wissenschaftlichen Kommunikation restlos zu unterdrücken. Auch wenn man theoretisch einsieht, dass die Kritik eines Kollegen, wenn sie den Erkenntnisfortschritt voranbringt, erwünscht und lobenswert ist, bleibt doch unvermeidlich ein Rest von Kränkung, wenn man derjenige ist, dessen Argument kritisiert wurde. Schließlich ist noch darauf zu verweisen, dass der Kollegialitätshabitus, der doch auf Tilgung der Sozialdimension angelegt ist, paradoxerweise selbst wieder eine soziale Dynamik erzeugt: Wissenschaftler sind untereinander verbunden als Mitglieder der »scientific community«, denen ein Professionsethos gemeinsam ist. Diese Zugehörigkeit zu einer Kollegenschaft muss zwar weitgehend invisibilisiert werden – Leggewie nimmt hier zu Recht Bezug auf Diana Cranes »Invisible College«. Doch ganz unsichtbar kann diese Kollegenschaft nicht gehalten werden, sie bedarf immer wieder der kommunikativen Absicherung und Bestätigung. Das kann natürlich nicht das Hauptgeschäft der wissenschaftlichen Kommunikation sein, doch an deren Rändern finden sich vielfältige Elemente und Formate, in denen sich diese eigentlich ausgeschlossenen sozialen Anteile der Kollegenschaft niederschlagen. Zu denken ist hier etwa an Widmungen, Danksagungen oder andere marginalisierte Weisen der Mitteilung von kollegialer Verbundenheit. Das zweifellos größte Format, in dem die Paradoxien des Kollegialitätshabitus ihren Ausdruck finden,
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bildet die »Festschrift«. Sie ist der Ort, an dem soziale Anteile der wissenschaftlichen Kommunikation am sichtbarsten getilgt und zugleich gewürdigt werden.
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Cyberwissenschaft? Ein virtueller Dialog Claus Leggewie/Christoph Bieber
Christoph Bieber: Verraten wir, dass unser Gespräch nicht »von Angesicht zu Angesicht« geführt wurde? Claus Leggewie: Warum nicht? Schon aus klimapolitischen Gesichtspunkten bin ich dafür, sich nicht so häufig zu Besprechungen zu treffen, sondern das wissenschaftliche Alltagsgeschäft so weit wie möglich telekommunikativ abzuwickeln, auch wenn das natürlich ebenfalls einen nicht unerheblichen carbon footprint hinterlässt. Aber natürlich verändert sich, wenn wir hin- und hermailen, das Endprodukt gegenüber dem Transkript eines herkömmlichen Gesprächs.
V ON DER S CHREIBMASCHINE ZUM N OTEBOOK CB: Du schätzt die »neuen Wissenschaftsmedien«? CL: Ich gehörte, weil ich seinerzeit an einer amerikanischen Universität tätig war, zu den early adopters, weiß aber (obwohl in einem Forschungsbetrieb groß geworden, in dem es nicht einmal elektrische Schreibmaschinen und Kopierer gab), dass die Digitalisierung nicht nur Vorteile hatte: Ich muss mich täglich durch Berge von Mails, vornehmlich cc gesetzt, durcharbeiten, ich editiere ein Manuskript von der ersten Gedankenskizze bis zur letzten Druckvorlage selbst, und verliere bei der Online-Recherche echte Trouvaillen aus dem Auge. Und ich werde, obwohl älter, oberflächlicher und hektischer. CB: Vielleicht sollte man nach zwanzig Jahren einen Schritt zurücktreten und fragen, welche Bereiche der Wissensproduktion überhaupt beeinflusst werden?
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CL: Bevor man die Hypothese der grundlegenden Veränderung von Wissenschaft in digitalen Medien prüft, sollte man noch die Probandengruppe klären. Ob sich Wissenschaft mit dem oder im Internet verändert hat, ist für Wissenschaftler, die später als 1970 geboren sind, gar keine Frage, weil ihnen wissenschaftliches Arbeiten wenigstens teilweise internetförmig nahegebracht wurde und sie als Wissenschaftler bereits im und durch das Internet sozialisiert worden sind. CB: …im und durch das Internet sozialisiert – was soll ich bloß dazu sagen ;-) Ein Vorher/Nachher gibt es für solche »Nutzer« gar nicht. CL: Was nicht ausschließt, dass es weiterhin Wissenschaftler gibt, die gar keine »Nutzer« sind, weil sie noch mit der Hand schreiben (das geht!), Bibliotheken und Archive aufsuchen, händisch Sachkataloge durchblättern, Ziffern und Zitate aus Büchern und Zeitschriften exzerpieren, Monate lang über die daraus folgenden Schlüsse nachdenken, sich darüber mit Freunden und Kolleginnen in Briefen und bei längeren Spaziergängen, vielleicht auch in der Teeküche eines Instituts austauschen, erste Ergebnisse in Kolloquien mündlich vortragen und das ganze am Ende mit einer alten Schreibmaschine zu Papier bringen und das Manuskript per Post an einen Verlag schicken, dessen Lektoren das Konvolut lesen, handschriftliche Annotationen an den Rand schreiben, stundenlang mit der Autorin über Formulierungen brüten und feilschen. Oder das gleiche mit der Redaktion einer Zeitschrift erleben. Und am Ende geht das Ganze in den Satz, erscheint als Buch oder Artikel, die in Buchhandlungen ausgeliefert und in Bibliotheken ausgelegt und von dem einen oder der anderen gelesen werden, die sich dann ans Exzerpieren und Nachdenken machen und so weiter … CB: Gute alte Zeiten? CL: Medienwandel war immer ein Ansatzpunkt für weinerliche Kulturkritik, die an Veränderungen kultureller Praxen kein gutes Haar lässt und jede Etappe der medialen Entwicklung begleitet hat. Aber ähnlich wie bei der Buchrevolution dürfte es Verluste von Qualität gegeben haben, die man natürlich einkalkulieren muss. Die klügeren Kommentatoren auf John Brockmans Akademie-Frage, ob das Internet das Denken verändert hat,1 meinten, es sei für eine abschließende Antwort noch zu früh. Nur wenige fühlten sich aber selbst angesprochen und reflektierten die Ver1 | Das von Brockman eingerichtete World Question Center stellt ausgewählten Persönlichkeiten einmal jährliche eine Frage und versammelt die Antworten auf der Website www.edge.org. Die Frage des Jahres 2010 lautete: »How is the Internet changing the way you think?« Eine der o.g. Ausnahmen machte der Psychologe Arnold Trehub, seine Antwort findet sich unter www.edge.org/q2010/q10_8. html
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änderung der eigenen Praxis als Wissenschaftler, Künstler, Kurator etc. Wissenschaftsethnographisch fehlt die teilnehmende Beobachtung des eigenen Tuns (und Lassens), vermutlich ist es leichter, über die Cyberwelt zu räsonieren, als sie »dicht« zu beschreiben. CB: Wie ist es bei dir? CL: Ich sitze eindeutig zu viel vor meinem Laptop und brauche eine Diät. Großenteils benutze ich Computer ganz altmodisch als Fortsetzung der ersten elektrischen Schreibmaschine, die zirka 1973 ins Haus kam, also zur Textproduktion. Noch stärker als früher ist dies aber ein work in progress, das heißt: ich arbeite ständig an Um- und Ausformulierungen der Dateien, die ich ziemlich chaotisch in meinem Rechner abgelegt habe. Und ich kann unterwegs arbeiten, zum Beispiel auf Zugreisen, in Kaffeehäusern, bei Sitzungen, die nicht meine ungeteilte Aufmerksamkeit verlangen. Handschriftlich male ich nur noch Gliederungsskizzen und Mindmaps, die Außenstehende kaum verstehen können, und Wikipedia ist für mich ein guter Stichwortgeber. Ich verlasse mich nicht drauf, lasse mich aber inspirieren. CB: Manche behaupten, Wissenschaftler wüssten heute weniger als früher, dafür aber mehr, wo man etwas finden kann. CL: Das habe ich aber schon im ersten Semester verinnerlicht, dass es nicht um den Nürnberger Trichter geht. Ich glaube, dass sich mein Gedächtnis durch das Internet sogar verbessert hat. Was ich hier an Autonomie gewinne, verliere ich aber durch die permanente Verbundenheit via E-Mail und durch die Diktatur eines Online-Terminkalenders, die mich in eine ständige Alarmbereitschaft versetzen und meinen Tag stärker strukturieren, als gut tut. Was ich ebenfalls einschränken sollte, ist der Gebrauch von Suchmaschinen, deren Resultate mich fast immer enttäuschen. Das sind Maschinen für Einheitsdenke, nur wenn ich genau weiß, was ich haben will, komme ich weiter. Hingegen schätze ich die Verfügbarkeit von Datenbanken, vernetzten Bibliographien, PDF-Downloads unterwegs und daheim, für deren Recherche und Besorgung ich früher Wochen gebraucht hätte. CB: Das klingt alles nach »Einsamkeit und Freiheit«, nach armchair science. CL: Weil ich den Anschluss an die »sozialen Medien« völlig verpasst habe, die interessieren mich nur als Forschungsobjekt und Beispiel virtueller Identitäten und Gemeinschaften. Meine »community« sitzt am Dienstag Vormittag im Institut, oder in Arbeitsgruppen, Workshops und so weiter und den Leuten in Berkeley oder Bamako schreibe ich Mails.
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CB: Auf der Software-Seite reizt dich das Web 2.0 also weniger – wie sieht es denn mit der Hardware aus? Notebooks und Netbooks sind längst in Seminaren, Vorlesungen oder bei Konferenzen präsent, Smartphones sind ein Standard-Werkzeug – zumindest für die Studierenden. CL: Natürlich habe ich ein Notebook für unterwegs, und – leider – bin ich damit auch fast überall online. Der nächste große Sprung im Wissenschaftsbereich dürfte im Zuge der massenhaften Verbreitung von E-Books oder Tablet-PCs anstehen. Plakativ zuspitzen ließe sich diese Entwicklung mit der Frage, ob das E-Book die »Wissenschaftsindustrie« in ähnlicher Weise verändern könnte, wie der iPod die Musikindustrie. CB: Ist das nur mein Eindruck, oder versperren sich gerade die deutschsprachigen Sozial- und Kulturwissenschaften der Digitalisierung? Spezialisierte Social Network Sites wie ResearchGATE oder scholarz.net arbeiten längst am Aufbau wissenschaftlicher Netzwerkumgebungen, sind aber viel stärker auf die Technik- und Naturwissenschaften ausgerichtet. Die Biologen scheinen zum Beispiel besonders begeisterte Blogger zu sein.2 CL: Glaube ich nicht, es ist eher der geringe Gebrauchswert und eine Alters- oder Stilfrage. Ich blogge nicht, ich twittere nicht3, ich exhibitioniere mich nicht in Facebook. Meine Homepage ist notorisch veraltet, so gesehen verhalte ich mich asozial gegenüber Leuten, die an meinen Papers interessiert sein könnten. Das hat aber wenig mit Prinzipien zu tun – ich komme schlicht nicht dazu. CB: Eine Nebenlinie dieser Diskussion ist ohnehin die Frage, wieviel »Privatheit« die öffentliche Kommunikation im Netz verträgt, und ob dies zu einem Konflikt mit der »seriösen« Wissenschafts-Persona führt. CL: Persönliches von mir halte ich für völlig uninteressant, und vieles an den sozialen Medien grenzt in meiner Sicht an Profiling. Ich verstehe auch nicht, wieso man in Zeiten verschärfter Profilbildung, in denen 2 | Vgl. Schmirmund, Jan (2009): Bloggen Biologen mehr? In: WissensLogs: Interactive Science, 12.8.2009. Online unter www.wissenslogs.de/wblogs/ blog/interactive-science/teilprojekt-i-kollaboratives-wissensmanagement-unddemokratisierung-von-wissenschaft/2009-08-12/bloggen-biologen-mehr. Zuletzt aufgerufen am 13.3.2010. 3 | In der Tat, Claus Leggewie twittert (noch) nicht selbst. Allerdings nutzt eines seiner Bücher den Microblogging-Dienst und macht sich stellvertretend für den Autor bemerkbar. Unter dem Twitter-Profil @apo_changeagent finden sich Einträge zum Buch »Das Ende der Welt«, das in Co-Autorenschaft mit Harald Welzer 2009 im S. Fischer Verlag erschienen ist (vgl. http://twitter.com/apo_change agent). Der zweite Gesprächspartner ist dagegen mit dem persönlichen Profil @ drbieber vertreten (http://twitter.com/drbieber).
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es auf allerwinzigste Alleinstellungsmerkmale ankommen soll, ohne Not so viel von sich preisgibt. Kürzlich hatte ich europäische NachwuchswissenschaftlerInnen der Exzellenzklasse zu begutachten, deren CV’s sich glichen wie ein Ei dem anderen – keine Devianz, keine Eskapaden, selbst die eingebauten Schrulligkeiten waren wie aus dem Katalog. CB: An dieser Stelle einmal zusammengefasst: wie fällt denn jetzt die Bilanz des Internetnutzers aus? CL: Für mich ist es ein fast autistisches one-to-one-Medium, eine Auslagerung meines Denkens, und müsste ich Wissenschaft nicht auch managen und organisieren, würde ich gerne zwei Mal im Jahr längere Lesepausen in (m)einer Bibliothek einlegen. Mit Internetfeindlichkeit hat das nichts zu tun, ich glaube nur immer noch, dass Verfechter wie Verächter das Internet total überschätzen – ein Medium ist ein Medium. Nur wer sich seine Zeitsouveränität nehmen lässt, seinen Eigensinn nicht behält und die anderen Gehirnteile nicht trainiert, kann darin untergehen.
K ERNPROBLEME INTER AK TIVER W ISSENSCHAF T CB: So, jetzt hole ich mir mal einen Textbaustein von der Festplatte: »Publikation, Rezeption und Kritik gelten als zentrale Funktionsprofile von Wissenschaft und für sämtliche Bereiche sind die Auswirkungen digitaler Mediennutzung unstrittig« – so hatten wir das ja für unser Verbundprojekt »Interactive Science« formuliert.4 Blickt man heute ins Netz, dann ist Online-Kommunikation als Schlüsselqualifikation für den Elfenbeinturm also schon fest verankert – aber handelt es sich dabei nur um einen inkrementellen Wandel oder einen echten qualitativen Sprung? CL: Genau: Hat die digitale Wissenschaftskommunikation nur begleitenden Charakter, dient sie als Marketing-Instrument oder greift die Online-Nutzung substanziell in den wissenschaftlichen Arbeitsprozess ein? Die wichtigste Frage bei der Bewertung scheint mir die nach der »Produktionsrelevanz« digitaler Medien, das heißt: wird Wissenschaft bzw. werden wissenschaftliche Erzeugnisse durch Online-Kommunikation tatsächlich »besser«?
4 | Nachfolgend nimmt das Gespräch Bezug auf die Arbeiten im Forschungsverbund »Interactive Science – Interne Wissenschaftskommunikation über digitale Medien«. Das Projekt wird der von der VW-Stiftung gefördert, das Organisationszentrum der dezentralen Verbundstruktur ist am Gießener Zentrum für Medien und Interaktivität lokalisiert. Weitere Informationen finden sich auf der Website des Forschungsverbundes unter www.wissenschaftskommunikation.info.
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CB: Um so etwas »messen« zu können, müsste sich vermutlich erst einmal so etwas wie eine Qualitätskontrolle für Online-Inhalte etablieren … CL: … das ist eine Leitidee von Interactive Science. CB: Inzwischen haben erste Untersuchungen und Umfragen im Projekt gezeigt, dass die digitale Wissenschaftslandschaft völlig uneinheitlich ist – in manchen Disziplinen haben sich Online-Publikationen längst etabliert, in anderen darf sich nicht mal als Blogger outen. Fachübergreifend gibt es aber schon die Tendenz, dass die digitalen Medien die Kommunikation im Kollegenkreis verstärken. Mit Sicherheit lässt sich dadurch die Verbreitung und Rezeption neuer Forschungsergebnisse beschleunigen – aber ob so auch die Wahrscheinlichkeit für Kooperationen und neue Projekte wächst, muss sich erst noch zeigen. CL: In puncto Ergebnissicherung sind die Archiv- und Datenbankfunktionen des Internet natürlich sehr hilfreich. Die wissenschaftlichen Bibliotheken haben hier längst vieles geleistet, aber ich bin mir nicht sicher, ob und inwiefern Angebote wie »Virtuelle Fachbibliotheken« oder Repositorien tatsächlich genutzt werden. Auch akademische Arbeitsroutinen sind eben nur das, was sie sind – zur Gewohnheit gewordene Handlungsabfolgen zur Auffindung und Verarbeitung von Informationen, vorzugsweise von Texten. CB: Aber dann bräuchte es einen tipping point, an dem die Entwicklung der digitalen Wissenschaftskommunikation tatsächlich auf breiter Front den Durchbruch erlebt. Vor der Frage nach den Auswirkungen der Online-Nutzung auf das Denken steht aber doch zuerst einmal der Blick auf den ungeheuren Text-Berg, der uns täglich aus dem Netz entgegenschwappt – bereits die Systematisierung wird immer schwieriger: von Zettel- oder Karteikästen redet fast keiner mehr5, und die paar Lücken in Deweys Dezimalklassifikation wird es wohl auch nicht mehr lange geben. Bibliothekserweiterungen oder -neubauten zielen schon lange nicht mehr auf zusätzliche Regalmeter oder weitläufige Archivbunker. Genügend Serverkapazität, viele Bildschirmarbeitsplätze, schnelle Internet-Verbindungen und ein belastbares W-LAN sind wichtigere Ressourcen. Worauf ich hinaus will: digitale Wissenschaftskommunikation produziert erstmal nicht mehr Wissen, sondern nur mehr Texte und weniger Ordnung. CL: Warum soll es den Bibliotheken anders gehen als mir im Kampf mit meiner armen Festplatte? Neben den klassischen Textbeiträgen entstehen
5 | Eine solche Ausnahme ist Köhler, Benedikt (2010): Luhmanns Zettelkasten. In: Slow Media Blog, 8.1.2010. Online unter www.slow-media.net/luhmannszettelkasten (zuletzt aufgerufen am 13.3.2010).
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ja auch neue »Textsorten«, wie etwa wären PowerPoint-Präsentationen als wissenschaftliches Genre einzuordnen? CB: Schon die Frage lässt erkennen, dass Du die von nicht wenigen Kollegen in Feuilleton und Elfenbeinturm geführte Diskussion um den Untergang des Abendlandes durch PowerPoint ähnlich absurd findest wie ich.6 In der Tat bin ich der Meinung, dass computergestützte Präsentationen bei akkurater Ausführung tatsächlich als wissenschaftliche Publikation verstanden werden können.7 In der öffentlichen Wahrnehmung dominiert das »Vortrags-Erlebnis«, in den allerwenigsten wird ein genaueres Auge auf den eigentlichen Text hinter der Präsentation geworfen. Auf (und von) PowerPoint-Folien lässt sich nicht nur exakt zitieren, gerade mit einer Annotation aus weiterführenden Hinweisen, Kommentaren und Materialien im nicht sichtbaren Bereich »hinter der Folie« können ppt-Dateien zu einer wertvollen wissenschaftlichen Ressource werden. CL: Zwischen Sagen und Zeigen, Sehen und Hören steckt viel.8 Exzellente PowerPoint-Präsentationen können einen ähnlichen Ertrag haben wie die berühmten Tafelanschriebe von Joseph Beuys. Wer ihm oder einem anderen begnadeten Lehrer gelauscht hat, weiß doch, dass alles Wissen eine performative Seite hat, also nicht nur entstehen, sondern auch wirken muss. Deshalb ist die Trennung von Forschung und Lehre an unseren Exzellenz-Clustern so misslich. Was hältst Du denn von Twitter? CB: Der Microblogging-Dienst setzt an einer ganz anderen Stelle an – oder besser gesagt, an verschiedenen anderen Stellen. Es wird gerne vergessen, dass es keine wirkliche »Betriebsanleitung« gibt – Twitter ist das, was man daraus macht. Natürlich ist es schwer, sich auf 140 Zeichen in einem akademischen Disput substanzielle Argumente um die Ohren zu hauen. Eine große Chance ist aber die Vernetzung von verschiedenen Materialien, Personen und Ereignissen, online wie offline. Zunächst einmal ist es spannend zu sehen, wer überhaupt twittert und zu welchen Anläs6 | Mathias Mertens/Claus Leggewie (2004): Technologisches Kokain. Ein Software-Produkt wird gescholten oder: Wie aus billiger Kulturkritik wertvolle Medienkunde wird, Freitag 28.05.2004. Online unter www.freitag.de/2004/ 23/04231601.php (zuletzt aufgerufen am 13.3.2010). 7 | Bieber, Christoph (2009): Ist PowerPoint böse? Öffentliche Debatten um PowerPoint in Deutschland und in den USA, in Wolfgang Coy/Claus Pias (Hg.): PowerPoint. Macht und Einfluss eines Präsentationsprogramms. Frankfurt a.M.: Fischer. S. 125-145. 8 | Vgl. dazu Peters, Sibylle (2009): Wir Schauspieler. In: Süddeutsche Zeitung, 28.12.2009 sowie den zugehörigen Blogeintrag der Autorin unter www.wissens logs.de/wblogs/blog/interactive-science/teilprojekt-iii-der-wissenschaftlichevor trag-und-seine-digitale-dokumentation-und-distribution/2009-12-30/ performance-des-wissens-neuer-beitrag-zur-powerpoint-debatte.
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sen dieses Instrument eingesetzt wird: im Augenblick scheint es vor allem bei »Echtzeit«-Aktivitäten wie Vorträgen, Vorlesungen oder Konferenzen zum Einsatz zu kommen, als unmittelbarer Rückkanal mit Fragen, Kommentaren oder Ergänzungen zum gerade Gehörten.9 CL: Jetzt gibt es schon Twitter-Umfragen, -Sprechstunden und natürlich Marketing-Aktionen, z.B. im Umfeld von Buchpublikationen … CB: In der richtigen Konfiguration könnte Twitter auch eine Alternative für dein Suchmaschinen-Problem sein. Mit der Beobachtung ausgewählter Scientwists10 und der Zusammenstellung thematischer Twitter-Listen kann man sich schon ganz gut über verschiedene Fachgebiete informieren – bislang allerdings nur in den USA, denn die deutsche Professorenschaft twittert nicht. CL: Die ältere jedenfalls. Wichtiger ist mir, dass durch die verschiedenen Online-Formate immer größere Teile des bis dahin verborgenen Wissenschaftsprozesses öffentlich sichtbar werden, unser geschätzter Kollege Michael Nentwich sieht damit »neue Fenster im Elfenbeinturm« geöffnet. Früher war es doch so: Forscher forschten »in Einsamkeit und Freiheit« (immer eine gelinde Stilisierung) in ihren Labors und Schreibstuben, feilten an ersten bis x-ten Entwürfen – und dann waren der große Artikel und die dicke Monographie »draußen«, den Rezensenten, Lesern und Bibliotheken zur Ausschlachtung und Weiterverarbeitung überlassen. Unter heutigen Bedingungen verändert sich das Verhältnis von »interner« und »externer« Wissenschaftskommunikation, und wir vermuten mit guten Gründen, dass die dauernde Einsehbarkeit von digitalen Kommunikationsformaten den Forschungsprozess beeinflusst, so oder so. CB: Dabei bin ich durchaus der Meinung, dass eine Wechselbeziehung besteht zwischen gängigen Formaten der Online-Kommunikation und dem »Öffentlichkeitsgrad« wissenschaftlichen Arbeitens. Einige Fenster sind einfach neu, manche stehen sperrangelweit offen, andere nur ein bisschen, und wieder andere sind aus undurchsichtigem, doppelwandigem Sicherheitsglas. Für eine digitale »Ver-Öffentlichung« von Wissenschaftskommunikation gibt es zahlreiche Beispiele. Während Twitter als »offenes« Echtzeit-Angebot nur einen Teil des akademischen Spektrums beeinflusst, sind Wissenschafts-Blogs und Soziale Netzwerke eher langsa9 | Hier hat der eigene Projektverbund die Gesprächspartner bereits überholt, vgl. den Bericht »Microblogging ind er Wissenschaft. Das Beispiel Twitter.« (Online unter http://epub.oeaw.ac.at/ita/ita-projektberichte/d2-2a52-4.pdf). 10 | Vgl. dazu vor allem Bradley, David (2009): Scientwists. In: Sciencebase, 8.1.2009. Online unter www.sciencebase.com/science-blog/scientwists.html (zuletzt aufgerufen am 01.09. 2009). Ausführlicher vorgestellt wird die wissenschaftliche Twitter-Nutzung im nachfolgenden Beitrag von Michael Nentwich.
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me Plattformen, die einen verzögerten Austausch in thematisch kohärenteren Gruppen ermöglichen – im Vergleich zum üblichen akademischen Konversations-Tempo aber ultraschnell funktionieren. Und die Beschleunigung boomt – denn eher »geschlossene« Formate wie Mailinglisten oder proprietäre Lehr-/Lernplattformen wie Ilias oder Stud.IP scheinen im Augenblick an Popularität zu verlieren. CL: Beschleunigungsbooms sind mir suspekt. Aber etwas anderes finde ich interessant: Wenn Produktion und Rezeption verschwimmen oder ineinander laufen, stellt sich die Frage, wem ich im Netz vertrauen darf bzw. wie Vertrauen in der digitalen Interaktion konstruiert und beglaubigt wird. Herkömmlich garantierten das Verlage und Lektoren, Zeitschriftenredaktionen, kundige Fachleute in Uni-Bibliotheken, Lexikon-Herausgeber und so weiter. Wikipedia ist nun ein ganz unwahrscheinliches Beispiel dafür, wie jedenfalls bei der Verbreitung von Wissen für Kooperation weniger Hierarchie, Eigennutz oder Organisation ausschlaggebend sind als Sozialkapital und Respekt. Autorität lässt sich also auch auf andere, egalitäre Weise erzeugen.
K OOPER ATION , Q UALITÄT UND D EMOKR ATIE CB: Ein viel diskutierter Aspekt digitaler Wissenschaftskommunikation ist die Eingliederung des individuellen Autors in kollaborative (und kompetitive) Netzwerke und die Inklusion kleiner Datenbanken in das unüberschaubare Datenmeer des Netzwerks der Netzwerke. CL: Eine echte Zäsur stellt wohl dar, wenn klassische, gedruckte Enzyklopädien, einst schwergewichtige Garanten einer autoritativen Kanonisierung des wissenschaftlich-kulturellen Erbes, das für eine längere Periode Bestand hatte, nun zum einen online gehen, das heißt portabel werden und vor allem für ständige Aktualisierung offen sind, zum anderen durch Wiki-Formate, allen voran die Wikimedia-Familie, herausgefordert werden, bei denen nicht länger eine professionelle Redaktion gegen Honorar ausgewiesene Expertise heranzieht, also den durch renommierte Fachleute beglaubigten state of the art abbildet, sondern eine riesige Zahl anonymer, unbezahlter Mitarbeiter kontinuierlich revidierte Lemmata prozessiert, die kaum einer anderen Qualitätskontrolle unterliegen als der Weisheit der Massen, in der blutige Laien ebenso unterwegs sind wie hochkarätige Spezialisten. CB: Nach diesem Endlos-Satz nehme ich dir deine Beschleunigungs-Vorbehalte nicht mehr so ganz ab. CL: Ich bin noch gar nicht fertig – dieses Mitmachlexikon ist, da es massenhaft und auch von gestandenen Wissenschaftlern zumindest einstiegswei-
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se frequentiert wird, ein öffentliches Gut, dessen Entstehung man vor der Internetära für ganz ausgeschlossen gehalten hätte und dessen Überleben in der Internetökonomie man ebenfalls für ein Wunder halten muss. CB: Offenbar hat die libertäre Uridee der graswurzeligen Schwarmintelligenz aber mittlerweile ausgedient, denn das Kontroll- und Bewertungssystem der Wikipedia ist differenzierter geworden.11 Hierarchische Tendenzen machen sich bemerkbar, ohne dass damit bereits kommerzielle Gewinne verbunden sind. Ein kleiner Zirkel von Administratoren hat sich durch besonderen Fleiß und Kooptierung das Recht erworben, Artikel ganz zu löschen und Benutzerprofile zu sperren. CL: Soziologisch betrachtet kommt hier, ähnlich wie bei der Ablösung basisdemokratischer Utopien bei den Grünen, das eherne Gesetz der Oligarchie zur Geltung, das Produktrationalität und Effizienz über egalitäre Prinzipien sieht. Das ändert nichts an der Attraktivität von Wikipedia, das im wissenschaftlichen Alltag zur (meist uneingestandenen) Gewohnheit geworden ist; doch auch ein noch so guter Wikipedia-Eintrag wird kaum einmal in einer ordentlichen Literaturliste auftauchen, womit Online-Enzyklopädien kein Ort für wissenschaftliche Forschung im engeren Sinne werden, auch wenn die Trennung artifiziell ist. Wenn das Internet eines lehrt, dann dass es keine geniale individuelle Urheberschaft gibt, sondern man Teil eines kollektiven, ganz oft unbewussten Nachdenkens der Menschheit seit Jahrtausenden, das im Internet sichtbarer wird. CB: Auch im »Rationalisierungsprozess« der Wikipedia spielen Vertrauen und Ansehen eine wichtige Rolle – eine ähnliche Frage hatten wir ja vorhin schon mit Blick auf Qualitätskontrolle im digitalen Wissenschaftsbereich angesprochen. Müssen sich im Netz nicht ganz neue Mechanismen zur Qualitätssicherung ausbilden? CL: Reputation bleibt nach wie vor stärker durch real-institutionelle Aspekte bestimmt – welchen Rang nimmt eine Person in welcher Traditionslinie an welchem Institut ein? Wie viele Aufsätze sind in welchen Journalen erschienen, wie viele Rezensionen hat es gegeben etc. Aber da kommen heute wohl mehr oder weniger selbst bestimmte Zusatzinformationen hinzu, mit den »sozialen Medien«. CB: Das Feld der Reputationsbildung durch Online-Kommunikation ist eng verbunden mit den Fragen zur digitalen Vertrauensbildung, jedoch weniger auf die Ebene der individuell Kommunizierenden ausgerichtet, sondern eher auf die nächstgrößere Einheit bzw. auf spezifische Formate: Mailing-Listen, Gruppenblogs, Blogportale, science communities wie Rese11 | Stegbauer, Christian (2009): Wikipedia. Über das Rätsel der Kooperation. Wiesbaden.
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archGATE oder scholarz.net, E-Journals, Datenbank-Publikationen, PrePrints, Repositorien etc. Anschließend an Georg Franck12 ließe sich eine »Neue Aufmerksamkeitsökonomie der Wissenschaft« skizzieren. CL: Dabei ist schon abzusehen, dass in naher Zukunft einige Forscher mit der traditionellen Wissenschaftsinstitution (Hochschule, MPG, DFG, Stiftungen etc.) in Konflikt geraten werden, da eine Kontrolle über die Kommunikation (von Daten, Methoden, Ergebnissen) nach außen nicht mehr möglich sein wird. CB: Wenige Spitzenforscher könnten als akademische »Ich-AGs« funktionieren, wenn sie ausreichend Vertrauen und Reputation generieren (und sich dann als scientific celebrities verselbstständigen). Für die meisten (besonders aber für jüngere Wissenschaftler) wird es jedoch Probleme geben: dürfen Teil-Ergebnisse evtl. nicht (z.B. in Blogs oder innerhalb von Social Network Sites) publiziert werden, weil dann zum Beispiel die Institution, an der eine Doktorandin oder ein Nachwuchswissenschaftler angestellt ist, nichts davon hat? Bestimmte Mechanismen von Reputationsgewinnung im Netz würden dann nicht mehr funktionieren und könnten sich negativ auf Karriereverläufe oder Karriereentscheidungen auswirken. CL: Es stellt sich eben auch im Wissenschaftsbetrieb die Machtfrage … CB: Verbunden damit ist die Frage, ob die Bologna-Orientierung im Wissenschaftsbetrieb nicht zwangsläufig dazu führt, dass Hochschulen in Zukunft ähnliche Probleme mit der Kontrollier- und Steuerbarkeit von Online-Kommunikation haben werden wie sich das schon jetzt im Unternehmensbereich abzeichnet. Strategien zum Umgang mit der Diversifizierung und »Zerfaserung« der Firmenkommunikation sind auch dort bisher alles andere als klar. CL: Im Rahmen der Hochschulproteste hat man zumindest schon am Beispiel der Studierenden gesehen, wie Online-Kanäle die Streikkommunikation beeinflussen können – als Wortführer waren hier nämlich nicht die ordentlichen Studierendenvertretungen am Start, sondern die, die ein Blog betreuen, einen Twitter-Account aufsetzen oder einen Livestream realisieren konnten. Doch bei aller Sympathie: Die echten Veränderungen müssen nun in den herkömmlichen Gremien herbei geführt werden und da kommt es wieder auf eine Verschränkung von digitaler Empörungsund analoger Entscheidungskommunikation an.
12 | Mit Gewinn neu lesen lässt sich hier das aufschlussreiche Kapitel »Das aufmerksame Dasein und das Geschäft der Wissenschaft« über die Funktionsmechanismen des Wissenschaftsbetriebs. Franck, Georg (1998): Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München. S. 25-48.
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CB: Das kommt mir irgendwie bekannt vor …13 Eine letzte Frage betrifft die Debatte ums Urheberrecht, die jetzt von Google angestoßen worden ist. Deine letzte Kalifornien-Reise ist nicht so lange her – warst du am Googleplex in Mountain View und hast dich über das ungefragte Einscannen deiner Werke beschwert? CL: In Fragen meines geistigen Eigentums bin ich lax, und als geborener Eklektiker bediene ich mich selbst, natürlich unter Angabe der Quelle, wo immer ich kann. Was mich am Netz fasziniert, ist genau der erwähnte semi-öffentliche Produktionsvorgang von Erkenntnis, der einen frei nach Kleist bei der allmählichen Verfertigung von Gedanken zuschauen lässt. Copyright interessiert mich nur, wo jemand ungefragt mit meinen Schriften und Ideen Geld machen will, und an der Macht von Google stört mich vor allem diese selbst. Und mich verwundert die Nonchalance gegenüber diesem Monopolisten bei Internet-Aktivisten und Netzpolitikern, die sich (zu Recht) über Staatseingriffe aufregen, bevor sie überhaupt stattgefunden haben, aber Privates und Intimes bedenkenlos ins Netz stellen. Ein Unterzeichner des komplett verstaubten Heidelberger Appells werde ich damit natürlich nicht, mit öffentlichen Mitteln geförderte Forschungsergebnisse gehören nach meinem Dafürhalten kostenlos oder kostengünstig an die Öffentlichkeit zurück, am besten leicht auffindbar und gut aufbereitet ins Netz gestellt. Also: Open Access, wo immer es geht, Creative Commons als Regel, und gegen alle Monopolisierung für die globale Wissensallmende kämpfen. Wie immer sind wir damit wohl auf verlorenem Posten.
13 | Vgl. dazu das Kapitel über Netzkulturen in diesem Band.
Neue Fenster im Elfenbeinturm? Wissenschaftskommunikation und Web 2.0 Michael Nentwich
Der »virtuelle Dialog« zwischen dem Jubilar und einem der Herausgeber dieses Bandes zum Thema Cyberwissenschaft deckt weite Teile eines Phänomens ab, das als Trend schon seit den späten 1990er-Jahre analysiert wird (Nentwich 2003) und im Lichte des Web 2.0 neuerdings in den Fokus geraten ist (Nentwich 2009): Textproduktion am mobilen Computer; das Internet als ständige Arbeitsumgebung für Kommunikation, Recherche und Download von Texten etc.; die Konsultation und kooperative Erstellung von Wissensressourcen wie zum Beispiel bei Wikipedia; soziale Medien, die auch von WissenschafterInnen genutzt werden (wie etwa Netzwerkdienste oder Twitter). Leggewie und Bieber streifen auch viele mit dieser Entwicklung verbundene relevante Themen: die Herausbildung neuartiger Online-Identitäten und die damit verbundene Problematik der Vermischung von privaten und beruflichen Aspekten; die Frage, ob diese neuen Formen des Interagierens zwischen WissenschaftlerInnen, aber auch zwischen diesen und Forschungsdaten, die Qualität der Forschungsergebnisse beeinflusst; die mögliche Etablierung neuer wissenschaftlicher Publikationsformen (etwa Blogs, Präsentationen mit PowerPoint); die Frage, ob und wie sich das wissenschaftliche Arbeiten unter den Bedingungen der Cyberwissenschaft beschleunigt und welche Bedeutung das hat; das Verschwimmen von Textkonsumation und Textproduktion in einem Medium (etwa bei Wikipedia) und die Folgen dieses Phänomens für die Autorschaft; die Frage des Vertrauens in die Qualität der Online-Inhalte und wie unter diesen Bedingungen Reputationsmanagement betrieben wird; und – schließlich kommunizierten hier Politologen miteinander – die »Machtfrage« in Bezug auf die Kontrolle der Weitergabe von Forschungsergebnissen im Web 2.0. Hier werde ich einen Aspekt etwas vertiefen, der auch von den beiden Dialogpartnern mehrfach angesprochen wurde: das sich wandelnde Verhältnis zwischen »interner« und »externer« Wissenschaftskommunikation.
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I NTERNE UND E X TERNE W ISSENSCHAF TSKOMMUNIK ATION Es handelt sich um kein völlig neues Phänomen: Selbst als das heute allgegenwärtige Web 2.0 noch in den Kinderschuhen steckte, war schon offensichtlich, dass die neuen Medien in der Wissenschaft das Potenzial haben, gleichsam neue Fenster in den Elfenbeinturm einzuschneiden und damit zur Auflösung der bis dahin strikten Grenzziehung zwischen wissenschaftsinterner und -externer Kommunikation beizutragen (Nentwich 2003, S. 458f.). ForscherInnen präsentieren sich auf öffentlich zugänglichen Homepages; viele Publikationen, insbesondere die sogenannten Arbeitspapiere, sind nicht mehr nur für die WissenschafterInnen selbst, sondern für alle InternetnutzerInnen gleichermaßen zugänglich; ja selbst die Archive der zahllosen wissenschaftlichen Diskussionsforen sind zumeist frei lesbar. Es stand zu erwarten, dass das Wissenschaftssystem in gewisser Weise für die externe Welt transparenter würde. Diese damals weitgehend spekulative Entwicklung hat mit dem Aufkommen der Web 2.0-Dienste entschieden an Dynamik gewonnen. Es bietet sich daher an zu fragen, welches (neue) Potenzial und welchen (spezifischen) Einfluss die neuen Web 2.0-Dienste auf diesen Aspekt der Wissenschaft haben werden.1 Die mit dem Web 2.0 entstandenen Internet-basierten Dienste, die in zunehmendem Maße auch von WissenschafterInnen genutzt werden, haben eines gemeinsam: Sie sind darauf ausgerichtet, NutzerInnen zu vernetzen und deren virtuellen Austausch zu unterstützen, und daher ist die über diese Medien erfolgende Kommunikation in der Regel öffentlich oder zumindest semi-öffentlich. Man kann zwar die Kommunikation auch auf einen eingeschränkten Kreis oder im Einzelfall sogar auf einzelne PartnerInnen beschränken, doch bei den meisten Anwendungen muss dies bewusst herbeigeführt werden, da sie standardmäßig auf »öffentlich« eingestellt sind. Bisweilen ist der Zugang zu dieser öffentlichen Kommunikation noch vom Anlegen eines eigenen Accounts abhängig, aber selbst das ist nicht überall der Fall. Blogs sind völlig öffentliche Schreibumgebungen; die sogenannte Twitter-Timeline, also die chronologisch geordnete Liste aller Meldungen, ist ebenfalls für alle InternetuserInnen einsehbar; die von anderen vergebenen Tags (Stichworte) auf Plattformen wie Zotero oder Delicious sind nicht privater Natur und das Freischalten der eigenen Bookmarks oder Literaturzitate für andere ist ganz einfach und daher auch häufig; schließlich sind die Profile auf den sogenannten Sozialen Plattformen, auch den wissenschaftsspezifischen, ebenso sichtbar wie die öffentlichen Kommentare in den diversen Foren (außer man verhindert dies absichtlich – was aber deren eigentlichen Zweck konterkariert). Mit anderen Worten: Was im Web 2.0 passiert, ist zumindest potenziell »für die ganze Welt« sichtbar, wobei dies kein Nebeneffekt, sondern der eigent1 | Siehe dazu den von der VW-Stiftung aktuell geförderten Projektverbund »Interactive Science« (www.wissenschaftskommunikation.info).
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liche Zweck ist – Blogger wollen ja gerade gelesen werden; jemand, der sein Profil ins Netz stellt, hofft darauf, dass andere sie oder ihn zur Kontaktaufnahme finden; Scientwists, also WissenschafterInnen, die Twitter nutzen, wollen Öffentlichkeit und sind daran interessiert, dass andere sie wahrnehmen. Primär ist in diesem Zusammenhang damit natürlich eine berufliche, also wissenschaftliche Öffentlichkeit gemeint. Es geht um Kontaktaufnahme im Hinblick auf potenzielle Kooperationen, um den Erwerb von Reputation, um das Teilen von Informationen im Hinblick darauf, dass man ebenfalls davon profitiert. Auf einer zweiten Ebene ist freilich zu konstatieren, dass sich diese Aktivitäten publizistischer und selbstdarstellerischer Natur nicht auf ein wissenschaftsinternes Publikum beschränken (lassen), sondern vielmehr potenziell auch ein externes Publikum erreichen. Das war – wie oben bereits angedeutet – auch bereits in gewisser Weise vor dem Aufkommen des Web 2.0 der Fall, doch lässt sich hier aufgrund der zunehmenden Vernetzung zwischen den verschiedenen Wissenssphären (Wissenschaft und Medien, insbesondere durch Verweise von letzteren auf wissenschaftliche Quellen) und dem »Verschwimmen« der Grenze zwischen privaten, semi-privaten und wissenschaftsinternen Inhalten (insbesondere bei Blogging und Microblogging) vermuten, dass der Trend verstärkt wird. Dieser Hypothese soll im Folgenden nachgegangen werden.
W EB 2.0-P OTENZIALE Zunächst sei ein systematischer Blick auf diese neuen Fenster im Elfenbeinturm geworfen: Nicht wenige WissenschafterInnen sind in den sogenannten Sozialen Netzwerkplattformen wie Facebook, Xing oder LinkedIn vertreten; dazu kommen in jüngster Zeit ähnlich funktionierende Plattformen, die sich auf die Zielgruppe Wissenschaft spezialisieren, z.B. ResearchGATE, Academia.edu oder Mendeley. Die dort angelegten Profile und sonstigen Inhalte sind zum Teil öffentlich einsehbar oder zumindest für jene, die im jeweiligen Netzwerk einen eigenen Account angelegt haben. Mit Blick auf die Sichtbarkeit in der breiteren Öffentlichkeit mögen sogar die allgemeinen, nicht wissenschaftsspezifischen Netzwerke bedeutender sein, erreichen sie doch nicht nur WissenschafterInnen. Allerdings sind die meisten Profile potenziell auch über allgemeine Suchmaschinen auffindbar. Sollten sich die wissenschaftsspezifischen Netzwerke durchsetzen, würde die gezielte Suche innerhalb solcher Plattformen nach ForscherInnen, deren Publikationen und Arbeitsschwerpunkten auch für die Öffentlichkeit weiter vereinfacht. Virtuelle Welten wie insbesondere Second Life werden zwar bei weitem nicht nur von WissenschafterInnen besiedelt, doch sind viele Forschungsinstitutionen dort vertreten, um sich dem »virtuellen Volk« zu
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präsentieren (König/Nentwich 2008). Weiters bietet es neue performative Möglichkeiten zur Präsentation und Repräsentation, etwa zur Veranschaulichung wissenschaftlicher Erkenntnisse für Laien in Form virtueller Museen. Im Gegensatz zu den »flachen« konventionellen Homepages sind diese multimedialen und -dimensionalen Darstellungen von Wissenschaft vermutlich attraktiver – so zumindest die Hoffnung der hier repräsentierten Institutionen. Öffentliche Wikis sind als Kollaborationstool auch in der Wissenschaft schon länger ein Begriff. Insbesondere Wikipedia, die freie Internet-Enzyklopädie, ist zum Modell der gemeinschaftlichen, weltweiten Koproduktion eines Wissensspeichers geworden, an der auch professionelle WissenschafterInnen teilnehmen. Eine Untersuchung der Wikimedia-Projekte in Hinblick auf deren wissenschaftliches Potenzial (König/ Nentwich 2009), kommt zur Einschätzung, dass Wikipedia einerseits über große öffentliche und wachsende akademische Relevanz verfügt und andererseits in vielen Gebieten von wissenschaftlicher Expertise abhängig ist, um qualitativ befriedigend zu sein. Wissenschaft stellt sich also auch über diesen Kanal dar. Viele WissenschafterInnen bloggen. Wissenschaftliche Blogs erfüllen unterschiedliche Funktionen (Kommentierung, Diskussionsforum, Publikationsform, Informationssammeltool usw.); insbesondere sind Blogs ein Beitrag zur externen Wissenschaftskommunikation, wenn sie Erkenntnisse einer breiteren (Internet-)Öffentlichkeit vorstellen. Sie könnten auch explizit als Medium zur Förderung von »public understanding of science« verwendet werden. Dies gilt gleichermaßen für ForscherInnen wie auch für wissenschaftliche Institutionen. Der Linguist Anatol Stefanowitsch (2009) etwa nennt seinen eigenen Blog »populärwissenschaftlich« und beschreibt die Inhalte als »wissenschaftsinspirierte Alltagsbeobachtungen«. Ähnlich wie Blogging stellt auch Microblogging (z.B. in Form sogenannter Statusmeldungen innerhalb von sozialen Netzwerkdiensten oder auf speziellen Plattformen wie etwa Twitter) einen qualitativ neuen Kommunikationskanal der Wissenschaft dar: viele »Cyberscientists« (Thagard 1997) wurden bereits zu »Scientwists« (Bradley 2009). Eine der offensichtlichen Nutzungsarten ist der Kanal für Wissenschaftsmarketing und -kommunikation (Herwig et al. 2009): Nicht nur Individuen, die im Wissenschaftsbetrieb verankert sind, sondern auch Forschungseinrichtungen und sogar wissenschaftliche Journale nutzen Twitter dazu, kurze Informationen zur eigenen Arbeit (meist mit dem Hinweis, wo weiterführende Informationen im Internet zu finden sind) über diesen Kommunikationskanal an Interessierte zu verteilen. Damit kann vermutlich im Sinne von Wissenschaftsmarketing eine andere Zielgruppe erreicht werden als über Presseaussendungen, Newsletter oder Massen-E-Mails. Die Öffnung des wissenschaftlichen Qualitätssicherungsprozesses in Form des »open peer review«, »rating« oder »commenting« (Nentwich/ König 2010) markiert einen möglichen Kulturwandel in der Wissenschaft.
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Potenziell könnten an diesen offenen Formen der Begutachtung auch Nicht-WissenschafterInnen teilnehmen. Ob dies erwünscht sein (etwa im Rahmen von transdisziplinärer Forschung) oder langfristig verhindert werden wird, wird sich noch zeigen. Schließlich könnten zukünftig auch die sogenannten Tagging- und Sharing-Plattformen (Delicious, Zotero, Slideshare), die zunehmend auch von WissenschafterInnen genutzt werden, einen öffentlichen Blick auf wissenschaftliche Prozesse (nämlich des Sammelns und Bewertens von Informationen) geben.
D AS V ERSCHWIMMEN DER G RENZE Dass also potenziell mehr als früher aus der wissenschaftlichen Sphäre nach außen an die Öffentlichkeit dringt, scheint angesichts der beschriebenen, sehr offenen, wenig bis gar nicht abgeschirmten Kommunikationsmodi und der bereits nachweisbaren Nutzung dieser Kanäle durch die Wissenschaft (und umgekehrt der Medien) außer Frage. Man kann jedoch über diese Feststellung hinausgehend fragen: Wird die Grenze zwischen interner und externer Wissenschaftskommunikation, also von Binnenkommunikation zwischen ForscherInnen auf der einen Seite und der Kommunikation der WissenschafterInnen mit der Gesellschaft, den Medien oder der Politik auf der anderen, zunehmend aufgehoben und welche Folgen ergeben sich hieraus? Zunächst lässt sich beobachten, dass beispielsweise bloggende oder twitternde WissenschafterInnen sowohl (Semi-)Privates als auch Berufliches schreiben, ebenso sind ihre Profile auf den Sozialen Plattformen teilweise von gemischtem Inhalt. Auch wenn die einzelnen Kommunikationsakte noch klassifizierbar sein dürften, ist deren Mischung in denselben Medien ein erster Hinweis darauf, dass die (wissenschaftsinternen und -externen) Sphären (in Zukunft) weniger strikt getrennt sein dürften. Geht man noch einen Schritt weiter, kann man die Frage stellen, ob die »neuen Fenster im Elfenbeinturm« (oder: die »Gucklöcher der Black Box«, Schmirmund 2009), die das Web 2.0 gleichsam eingebaut hat, sozusagen nicht einseitig verspiegelt sind. Dringt also nicht nur etwas mehr als früher nach außen, sondern gibt es gleichsam auch einen Rückkanal? Günther (2009a) nennt das potenzielle (Langzeit-)Ergebnis der angestoßenen Entwicklung »internetöffentliche Netzwerkwissenschaft«. So wie sich die Akteure einer Politik, die durch Talkshows und Nachrichtensendungen im TV öffentlich(er) geworden ist, an eben dieser Öffentlichkeit orientieren, entsteht durch die Beobachtung der Wissenschaft von außen möglicherweise auch eine (zunächst informelle) Verpflichtung der WissenschafterInnen, diesen Kanal kontinuierlich zu bedienen (Günther 2009b). Die Aufbereitung auch von wissenschaftlichen Webinhalten für Google, Wikipedia etc., um in der immer wichtiger werdenden Online-
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Welt wahrnehmbar zu bleiben, ist bereits beobachtbar. Dabei geht es, so die Hypothese, nicht mehr nur um innerwissenschaftliches Ranking, sondern gerade um öffentliche Wahrnehmung. Was für einen Einfluss wird es haben, dass außerwissenschaftliche LeserInnen die wissenschaftlichen Web 2.0-Seiten ebenso kommentieren und die Informationen weiterverbreiten können, wie die WissenschaftlerInnen selbst? Eine Möglichkeit wäre, dass die Wissenschaft dieses Feedback zur Kenntnis nimmt und darauf reagiert. Im Sinne transdisziplinärer Ansätze könnten etwa von außen gestellte Fragen aufgegriffen werden. König (2009) gibt dazu ein Beispiel im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Untersuchung des Einsturzes des World Trade Centers in New York, wo die im Internet diskutierte so genannte Sprengungshypothese mit untersucht wurde. Eine andere Möglichkeit wäre die methodisch-systematische Einbeziehung gerade dieses Feedbacks in die laufende Forschungsarbeit, etwa im Sinne partizipativer Verfahren via Internet. Noch spekulativer: Sind möglicherweise sogar Vorwirkungen des (Kommunikations-)Formats (»shadow of the format«, wie von diesem Autor 2003, S. 453ff. in Hinblick auf Hypertext und Co. postuliert) auf den eigentlichen Forschungsprozess zu erwarten? Wenn es üblich wird, über die eigene Forschungsarbeit zu bloggen, könnte diese (spätere) öffentliche Berichterstattung eventuell bereits in der Forschung mitgedacht werden oder hätte einen (unbewussten) Einfluss auf diese? Eine andere mögliche Folge dieses Verschwimmens der Grenzen kann im Zusammenhang mit dem Anreizsystem für die Nutzung von Web 2.0 durch WissenschafterInnen gesehen werden. Es gibt zwar bislang keine formellen Incentives, sich im Web 2.0 aktiv zu präsentieren, sehr wohl aber indirekte, nämlich die Chance, individuell Renommee aufzubauen. Der durch das Web 2.0 verstärkte allgemeine Trend zur Präsentation von Wissenschaft könnte einhergehen mit einer zunehmenden Tendenz zur Instrumentalisierung dieser Darstellung: Zuerst zu nennen ist die öffentlichkeitswirksame Darstellung von Wissenschaft, um Themen in der öffentlichen (politischen) Arena zu platzieren, Forschungsagenden zu beeinflussen oder Ressourcen zu lukrieren. Blogs stellen aber auch eine attraktive Möglichkeit zur persönlichen Etablierung sowohl in der innerwissenschaftlichen als auch in der externen Öffentlichkeit dar. Insbesondere NachwuchswissenschafterInnen, aber auch periphere Forschungseinrichtungen haben damit eine Chance, zur Kenntnis genommen zu werden, mit anderen Worten: sich selbst zu vermarkten. Angesichts des frühen Zeitpunkts in der Entwicklung und der Liste von Zweifeln bezüglich der Funktionsadäquatheit (Nentwich 2009) muss hier noch offen bleiben, ob das Potenzial des Web 2.0 tatsächlich realisiert werden wird. Dass sich der in der Wissenschaft schon länger abzeichnende Trend des Verschwimmens der Grenze zwischen interner und externer Wissenschaftskommunikation verstärken dürfte, scheint hingegen offensichtlich, auch wenn die meisten WissenschafterInnen mit dem Web 2.0 bislang nur passiv in Berührung gekommen sind. Aber wenn das beschrie-
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bene Potenzial realisiert wird – und erste Anzeichen dafür gibt es bereits – dann wird sich Wissenschaftskommunikation neu darstellen und untersuchenswerte Rückwirkungen auf die Wissenschaft selbst haben. Gerade unser Jubilar – als möglicherweise bekanntester medienöffentlicher Politologe – war und ist ein Grenzgänger zwischen den Welten der Wissenschaft und der Öffentlichkeit. Es würde mich überraschen, wenn nicht auch er noch zum Web 2.0-Profi (also Scientwist oder Blogger) wird – ist er doch bereits ständig online und mit dem Web 1.0 vertraut wie sonst kaum jemand, also ein typischer Vertreter der Spezies »Cyberscientist«.
L ITER ATUR Bradley, David (2009): Scientwists. Sciencebase, 8.1.2009. Online unter www.sciencebase.com/science-blog/scientwists.html (zuletzt aufgerufen am 14.03.2010). Günther, Tina (2009a): Internetöffentliche Netzwerkwissenschaft und Vertrauen. Kommunikationsformate und ihre Dynamik in der digitalen Wissenschaftskommunikation. Vortrag auf der Meilensteintagung des Forschungsverbundes Interactive Science 9.-11.9., Rauischholzhausen. Online unter: www.slideshare.net/sozlog/internetffentliche-netzwerkwissenschaft-vertrauen09 (zuletzt aufgerufen am 12.03.2010). Günther, Tina (2009b): Was bedeutet »Internetöffentliche Netzwerkwissenschaft«? Ein Brainstorming. sozlog. Online unter http://sozlog. wordpress.com/2009/05/03/internetoeffentliche-netzwerkwissenschaft/ (zuletzt aufgerufen am 08.03.2010). Herwig, Jana/Kittenberger, Axel/Nentwich, Michael/Schmirmund, Jan (2009): Twitter und die Wissenschaft. Steckbrief 4 im Rahmen des Projekts »Interactive Science«. ITA-Reports, Nr. a52-4 hg. v. Institut für Technikfolgen-Abschätzung, Wien: ITA. Online unter http://epub. oeaw.ac.at/ita/ita-projektberichte/d2-2a52-4.pdf (zuletzt aufgerufen am 15.3.2010). König, René (2009): Eine Bewegung für die Wahrheit? Gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion in Wikipedia am Beispiel alternativer Deutungen des 11. September 2001. Diplomarbeit, Universität Bielefeld. König, René/Nentwich, Michael (2008): Wissenschaft in »Second Life«. Steckbrief 1 im Rahmen des Projekts Interactive Science. ITA-Reports, Nr. a52-1 hg. v. Institut für Technikfolgen-Abschätzung (ITA), Wien: ITA. Online unter http://epub.oeaw.ac.at/ita/ita-projektberichte/d22a52-1.pdf (zuletzt aufgerufen am 12.3.2010). König, René/Nentwich, Michael (2009): Wissenschaft in Wikipedia und anderen Wikimedia-Projekten. Steckbrief 2 im Rahmen des Projekts Interactive Science. ITA-Reports, Nr. a52-2 hg. v. Institut für Technikfolgen-Abschätzung (ITA), Wien: ITA. Online unter http://epub.oeaw. ac.at/ita/ita-projektberichte/d2-2a52-2.pdf (zuletzt aufgerufen am 11.3.2010).
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Nentwich, Michael (2003): Cyberscience: Research in the Age of the Internet, Wien: Austrian Academy of Sciences Press. Online unter http:// hw.oeaw.ac.at/3188-7 (zuletzt aufgerufen am 11.3.2010). Nentwich, Michael (2009): Cyberscience 2.0 oder 1.2? Das Web 2.0 und die Zukunft der Wissenschaft. ITA manu:scripts, Nr. ITA-09-02 hg. v. Institut für Technikfolgen-Abschätzung. Online unter http://epub. oeaw.ac.at/ita/ita-manuscript/ita_09_02.pdf (zuletzt aufgerufen am 11.3.2010). Nentwich, Michael/König, René (2010): Peer Review 2.0: Herausforderungen und Chancen der wissenschaftlichen Qualitätskontrolle im Zeitalter der Cyber-Wissenschaft. In: Martin Gasteiner/Peter Haber (Hg.): Digitale Arbeitstechniken in den Geisteswissenschaften, Wien: Böhlau, S. 143-163. Schmirmund, Jan (2009): Wissenschaftskommunikation 2.0 oder: Black Box mit Gucklöchern. schmirblog, Online unter http://schmirblog.info/?p-357 (zuletzt aufgerufen am 11.3.2010). Stefanowitsch, Anatol (2009): Blog-Kommunikation in der Wissenschaft am Beispiel des Bremer Sprachblogs, Kommunikationsformate und ihre Dynamik in der digitalen Wissenschaftskommunikation. Vortrag auf der Meilensteintagung des Forschungsverbundes Interactive Science 9.-11.9., Rauischolzhausen. Thagard, Paul (1997): Internet Epistemology: Contributions of New Information Technologies to Scientific Research. Online unter http:// cogprints.org/674/ (zuletzt aufgerufen am 11.3.2010).
Von der Natur- zur sozialen Katastrophe Wo bleibt der Beitrag der Kulturwissenschaften zur Klima-Debatte? Ein Aufruf Ludger Heidbrink, Claus Leggewie und Harald Welzer
Sich abfinden und auf Wasser sehen, gab Gottfried Benn als Parole aus, als die politische Katastrophe des Nationalsozialismus zu bewältigen war. Benn’sche Abgeklärtheit ist wieder en vogue, nur hat, wenn man nicht gerade an einem abendstillen See in Mecklenburg sitzt, der Blick auf Wassermassen nichts Beruhigendes mehr. 2005 stand die Millionenstadt New Orleans bis zu 7,60 Meter im Wasser. Die Katastrophenhelfer waren völlig überfordert, obwohl der Scientific American das Desaster vier Jahre zuvor recht plastisch ausgemalt hatte. Seit Katrina sieht die Welt anders aus, aber das Zäsur-Ereignis als »Naturkatastrophe« zu deklarieren wäre fahrlässig: Die Natur ist kein Subjekt und erlebt folglich keine Katastrophe. Sie bringt allerdings Ereignisse hervor, die für Menschen katastrophal sind, also soziale Folgen haben, die Erwartungen und Vorkehrungen übersteigen. Der Beinahuntergang von New Orleans legte die Hinterbühne der Gesellschaft frei: Die Folgen von »Extremwetter« decken nicht nur unzulänglichen Katastrophenschutz auf, sie zeichnen soziale Ungleichheiten und eine politische Anarchie vor, auf die auch gelassene Akteure kaum eingestellt sind. Der Klimawandel wird ohne Zweifel zu einer Häufung sozialer Katastrophen führen. Für die temporären oder dauerhaften Formationen von Gesellschaften, die das hervorbringen könnte, hat man sich bislang wenig interessiert. Die Klimaforscher kann man dafür nicht verantwortlich machen, es sind, bis auf wenige Ausnahmen, die Sozial- und Kulturwissenschaften, die dem Geschehen normalitätsfixiert und katastrophenblind zuschauen. Schwere Verwerfungen, die vom Klimakrieg in Darfur bis zum Verlust der Überlebensräume der Inuit reichen, demonstrieren die Körper- und Raumlosigkeit sozial- und kulturwissenschaftlicher Theorien; es ist Zeit, dass sie aus der Welt der Diskurse und Systeme zurückfinden zu den Handlungen und Strategien, mit denen soziale Wesen ihr Dasein zu bewältigen suchen.
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Das deutsche Komplementärereignis zu Katrina war Kyrill im Jahr 2007. Der Orkan realisierte sozusagen die Projektionen des Weltklimarats und die Szenarien von Sir Nicholas Stern und verankerte den Klimawandel als vom Menschen gemacht im Massenbewusstsein. Aber er traf auch auf erstmals selbst für den Arbeitsmarkt günstige Konjunkturberichte, sodass sich eine hierzulande ungewohnte can do-Mentalität breitmachte: Wir drehen die Klimachose noch um und verdienen sogar daran. Und weil Angela Merkel und Sigmar Gabriel so gut drauf waren, nahmen sie gleich noch Afrika mit ins Boot, das exemplarisch steht für die Gerechtigkeitslücke zwischen Nord und Süd, die sich mit dem Klimawandel noch weiter öffnen wird. Die aufgescheuchten Konsumenten legten die Ratgeber vom Typ 50 Ways to Save the Planet zur Seite, und während die Grünen partout nicht zum Kerngeschäft zurückfanden, ergrünte eine Gesellschaft von Klimaschützern.
D AS Z AUBERWORT HEISST A NPASSUNG . W IE DAS AUSSEHEN SOLL , WEISS NIEMAND Niemand kann etwas dagegen haben, wenn die politische Führung die Ärmel hochkrempelt und die Bevölkerung anpackt, bevor Sandsäcke ausgegeben werden. Aber die Verbindung protestantischer Gewissensethik mit deutscher Ingenieurkunst suggeriert, der Klimawandel sei abzuwenden und die Katastrophe zu verhindern, indem man an den richtigen Stellschrauben politischer Technologie dreht. Das dürfte ein kapitaler Denkfehler sein: Statt den Klimawandel als abhängige Variable politisch-technischer Strategien und Verhaltensweisen aufzufassen, begreift man ihn besser als unabhängige Variable, die den Individuen und Gesellschaften immense kulturelle Anpassungsleistungen abverlangen wird. »Adaptation«, Anpassung an das Unvermeidliche, ist deshalb das Zauberwort aller nationalen und europäischen Forschungsprogramme. Wie das aussehen könnte, weiß bisher kaum jemand. Aber man kann fragen: Welcher Sozialtypus ist geeignet, sich auf kumulierte Risiken (jedenfalls für Zeitgenossen) »unbekannter« Art einzustellen? Wie ist zu verhindern, dass sich realen Problemen überflüssige »Aufregungsschäden« (Niklas Luhmann) hinzugesellen? Die Fixierung auf ein Klima-Armageddon führt in die Irre, eher hat man es fürs erste mit einer Dauerirritation zu tun. Auf Katrina und Kyrill folgten weniger einschneidende, jedoch nicht minder besorgnisauslösende Phänomene wie zum Beispiel das mysteriöse Bienensterben und die Blauzungenseuche. Letztere könnte klimatisch bedingt sein, die jüngsten Überschwemmungen in Afrika wohl nicht. Oder doch? Und ist Biogas die Lösung – oder das neue Problem? Derartige Sucheinträge im Klimatagebuch, garniert durch Gewinnmeldungen der Biobranche und beflissene Konversionsabsichten der Automobil- und Energieriesen, zeigen die Unsicherheit bei der Benennung der kulturellen Dimension von Klimawandel. Man weiß nur, was er alles nicht ist: nicht Krieg und nicht Super-GAU, nicht Bankenkrise oder Big Bang
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und auch nicht Pandemie. Aber er hat von allem etwas und ist stets mit dem Menetekel versehen, die durch Klimawandel aufgeworfenen Probleme könnten in massive Gewalt umschlagen. In New Orleans erwog man die Ausrufung des Kriegszustands und die Verhängung des Kriegsrechts. Was macht Menschen krisenresistent, überlebensfähig, abgeklärt gegenüber solchen Schreckensszenarien? Wie lernen sie, die technischnaturwissenschaftliche Risikoexpertise kritisch zu lesen, wie übersetzt man kosmische Gefahren in regionale und lebensweltliche Parameter? Und wie begegnet man den üblichen Strategien der Risikoabwälzung und dem pseudorationalen Verhalten derjenigen, die immer erst mal andere handeln lassen? Ohne dabei in Resignation zu verfallen und ohne, im Sinne einer ökologischen Tugenddiktatur, demokratische Errungenschaften und Liberalität aufs Spiel zu setzen? Ansätze »von unten«, wie das famose Klimabündnis US-amerikanischer Städte, treffen hier auf supra- und transnationale Kyoto-Regime, die, was sonst, zunächst das Sankt-FloriansPrinzip auf Weltniveau heben. Man stelle sich aber vor, fünf Millionen Menschen würden künftig zum Beispiel auf die Ruhr schauen und sich nicht abfinden. Offenbar muss sich die Klimaforschung erneuern und erweitern. Das Gros der Auseinandersetzungen mit den Phänomenen und Folgen des Klimawandels sind naturwissenschaftliche Modellrechnungen und Prognosen, angesichts deren Evidenz die Sozial- und Kulturwissenschaften in Schweigen oder Gleichmut verharren, als fielen Eventualitäten wie Gesellschaftszusammenbrüche und Ressourcenkonflikte, Massenmigrationen, Klimakriege und Gewaltökonomien nicht in ihre Zuständigkeit. Zum Glück mehren sich die Verfechter einer transdisziplinären Klimaforschung, die Demokratietheoretiker, Sozialpsychologen, Mentalitätshistoriker, Kulturphilosophen, Geografen, Anthropologen, Künstler, Schriftsteller, Evolutionsbiologen und Religionswissenschaftler einbezieht. Klimaforschung wird also zu einem Schlüsselthema der Kulturwissenschaft. Zu ihren Aufgaben zählen der Rückblick auf die Katastrophengeschichte der Menschheit und eine nüchterne Bilanz ihrer an Natur- und Sozialkatastrophen gewachsenen Evolutionspotenziale, eine aufmerksame Zeitdiagnose und die genaue Observation mikrosozialen Verhaltens, das zum Beispiel aus einer Unzahl positiver oder negativer Kauf- und Konsumentscheidungen, von Aushandlungsprozessen in Haushalten und Büros besteht, deren Routine durch immer neue Katrina-Schocks unterbrochen wird.
D IE F OLGEN DES K LIMAWANDELS SIND SOZIAL UND KULTURELL , NICHTS ANDERES Auf diesen Feldern können Kulturwissenschaftler ihre Fähigkeiten zur Geltung bringen. Naturwissenschaftler sind gewiss mit Komplexität vertraut, aber wenig mit den Deutungs- und Konstruktionsprozessen von
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Wirklichkeit, die Menschen in normalen wie außergewöhnlichen Zeiten vornehmen. Von der Rolle, die unterschiedliche Gestalten von Kultur für die Wahrnehmung von Problemen und Lösungen spielen, weiß die herkömmliche Klimaforschung professionell wenig, das erwartet auch niemand von ihr. Aber Natur- und Technikwissenschaftlern ist in der Regel sogar der Gedanke fremd, Menschen könnten Situationen hervorbringen, in denen nichts mehr getan werden kann und Gesellschaften scheitern; und es fehlen ihnen meist auch die Vorstellungen darüber, wie unterschiedliche Handlungsebenen, wie kollektive Vernunft und individuelle Unvernunft zusammenhängen oder wie Gefühle in vernunftgeleitete Handlungsabsichten eingreifen, wie also soziale Handlungen entstehen, die kein einzelner Beteiligter je im Sinn hatte und die gleichwohl Bestandteile von Wirklichkeiten bilden und damit wiederum neue Handlungsprobleme aufwerfen. Die meisten Klimaforschungsprojekte setzen weiter allein auf Hightech oder befragen den Verbraucher, als hätten sie von Wertewandel, Lebensstilanalysen und Konsumentenmacht noch nie etwas gehört. Tim Flannerys exzellentes Buch Wir Wettermacher ist ein Beispiel für diesen Kontrast zwischen der Schärfe der Analysen und dem Fatalismus der Fakten – und der Niedlichkeit der Vorschläge zur Problemlösung, wenn gegen Ende nur empfohlen wird, kleinere Autos zu kaufen und beim Heimwerken statt der Schlagbohrmaschine wieder den handbetriebenen Drillbohrer hervorzukramen. Flannery ist zuständig für die Dimensionierung der physikalischen Aspekte des Problems, nicht der sozialen. Der Klimawandel ist hinsichtlich seiner Genese und der möglichen Projektionen ein Gegenstand der Naturwissenschaften, aber hinsichtlich der Folgen ein Gegenstand der Sozial- und Kulturwissenschaften. Denn seine Folgen sind sozial und kulturell, nichts anderes. Es sind also nicht allein erneuerbare Energien und nachhaltige Umweltpolitiken gefragt, sondern vor allem kluge Einsichten über Charaktere und soziale Netze, die unangenehme Überraschungen einkalkulieren und Rückschläge verdauen können. Die (mit Gottfried Benn) Unabänderliches zur Kenntnis nehmen und sich auf Unangenehmes einstellen, ohne das Angenehme zu übersehen (vielleicht erst zu entdecken) und das Abänderliche in Angriff nehmen.
Die synchronisierte Wissenschaftsrevolution Hans Joachim Schellnhuber
All das ist der Klimawandel nicht: globale Wirtschaftskrise, Pandemie, Weltkrieg, Apokalypse. Er ist zunächst nicht mehr und nicht weniger als ein wissenschaftlich hochinteressanter, vom Menschen (durch den Ausstoß klimawirksamer Treibhausgase) ausgelöster Prozess in unserem Erdsystem, der bei ungebremstem Fortschreiten unseren Planeten innerhalb eines Jahrhunderts von einer Warmzeit in eine Heißzeit versetzen könnte. Die meisten Forschungsergebnisse deuten allerdings darauf hin, dass dieser neue Umweltzustand kaum ein erträgliches Leben für neun Milliarden Menschen zulassen würde; tiefe ökonomische Krisen, invasive Infektionskrankheiten und ubiquitäre Konflikte wären wohl die Begleiterscheinungen der ungezügelten Erderwärmung. Ob dies eine »apokalyptische« Entwicklung genannt werden dürfte, müssen die Theologen klären, da sich der bewusste Begriff der Bearbeitung durch die messende und rechnende Wissenschaft entzieht. Der Klimawandel ist auch mehr als ein physikalisches Großexperiment, in dem der Zusammenhang zwischen der Kumulation von Treibhausgasen in unserer Atmosphäre und dem Anstieg der globalen Mitteltemperatur möglichst präzise bestimmt werden soll. Der Klimawandel wäre die mutwillige bzw. fahrlässige Beendigung des Holozäns, also jenes bemerkenswert stabilen Umweltzustands seit dem Ende der letzten Eiszeit (vor ca. 15.000 Jahren), welcher zuerst die neolithische Revolution und später die Entwicklung einer technischen Hochzivilisation ermöglicht hat. Eine abwartende oder gar resignative Haltung, wie die von Gottfried Benn angesichts der Grausamkeiten des Nationalsozialismus reflektierte Attitüde, trägt ebenso wenig zum Verständnis und zur Lösung des Klimaproblems bei wie eine simplifizierende Aufsplitterung des Problems in Angenehmes, Unangenehmes oder Unabänderliches. Die von Gottfried Benn genutzte Metapher des Wassers erscheint im 21. Jahrhundert sogar als schiere Ironie – angesichts des steigenden Meeresspiegels und der Bedrohung ganzer Inselstaaten wie Tuvalu oder Mikronesien. Kürzlich
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haben mir Augenzeugen geschildert, dass auf den Friedhöfen der pazifischen Insel Kiribati nur noch die Grabkreuze aus den Fluten ragen … Es besteht ein breiter wissenschaftlicher Konsens, dass die Beachtung der 2-Grad-Celsius-Leitplanke, also die Begrenzung der globalen Erwärmung gegenüber dem vorindustriellen Niveau auf maximal 2°C, eine Mindestvorsorgemaßnahme zur Vermeidung nicht beherrschbarer Klimafolgen darstellt. Um diese Linie überhaupt noch mit einer soliden Wahrscheinlichkeit (von 67 Prozent) halten zu können, sind eine globale Emissionsbegrenzung auf ein Budget von höchstens 750 Gigatonnen Kohlendioxid bis zur Mitte des Jahrhunderts und ein weltweiter Handel mit Emissionszertifikaten unabdingbare Voraussetzungen. Die jüngere naturwissenschaftliche Klimaforschung hat zahlreiche sogenannte »Kippelemente« in unserem Erdsystem identifiziert und deren Aktivierbarkeit durch eine steigende globale Mitteltemperatur untersucht. In dieser Hinsicht lauern jenseits der Zwei-Grad-Erwärmung signifikante Risiken: Würden auch nur wenige dieser Elemente (wie beispielsweise der Grönländische Eisschild, dessen vollständiges Abschmelzen zu einem Meeresspiegelanstieg von etwa sieben Metern führen würde) »kippen«, dann wären die Auswirkungen auch im Weltmaßstab gravierend bzw. verheerend. Aber selbst bei Ausbleiben solch singulärer, hochgradig nichtlinearer Ereignisse wären sicherlich schon die »gewöhnlichen« Auswirkungen einer Erderwärmung um mehr als 2°C schwerwiegend. Aufgrund sich verändernder Niederschlagsmuster könnten sich beispielsweise Wasserüberfluss in Form von Überschwemmungen und Wassermangel in Form von Dürren für viele ohnehin krisengeplagte Regionen oder Staaten als existenzbedrohend erweisen. Insofern würde es sich hier um Kippvorgänge zweiter Ordnung handeln, wo selbst kontinuierliche Veränderungen der Umweltbedingungen zu disruptiven Konsequenzen für die betroffenen gesellschaftlichen Systeme führten. Ein direkt an die Naturwissenschaften angelehntes Forschungsziel der Kultur- und Sozialwissenschaften könnte es daher sein, zivilisatorische Kippelemente – also besonders fragile Bestandteile und Kulturen der Weltgemeinschaft – zu identifizieren, um dem Kippen dieser Elemente der Anthroposphäre (etwa durch Ressourcenkonflikte oder Kollaps institutioneller Strukturen) vorzubeugen. Politik- und Sozialwissenschaftlern käme etwa die Aufgabe zu, angesichts steigender Zahlen von Klimaflüchtlingen eine signifikante Modernisierung und Erweiterung der Genfer Flüchtlingskonvention zu diskutieren. Es könnte das Ziel von Kommunikationsund Medienwissenschaftlern sein aufzuklären, warum wissenschaftliche Erkenntnisse zum Klimawandel noch immer nicht überall Verbreitung und Gehör in der Gesellschaft und in den Medien finden. Es bedarf kluger Kulturwissenschaftler und Sozialpsychologen um herauszufinden, warum Individuen und Gruppen wider besseres Wissen um die Gefahren des Klimawandels nur zögerlich oder gar nicht handeln. Die Menschen lernen offenbar wenig aus der Vergangenheit, und hier geht es sogar da-
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rum, aus der Zukunft zu lernen! Letzteres ist kaum vorstellbar, wenn Peter Sloterdijk Recht hat und die Menschen tatsächlich »Zukunftsatheisten« sind bzw. bleiben. Bei der Prävention sozialer Kippereignisse geht es aber auch darum, Machtgefüge in Politikprozessen auf nationaler und internationaler Ebene noch besser zu verstehen, um das bisherige Handlungsdefizit angesichts der Herausforderungen des Klimawandels zu deuten und überwinden zu helfen. Auch sollten Vorschläge und Strategien entwickelt werden, wie das Gemeinwohl heutiger und künftiger Erdenbürger besser gegenüber machtvollen Einzelinteressen Gehör und Geltung auf der Weltbühne finden kann. Da die gegenwärtige Erderwärmung anthropogen, also ein vom Menschen verursachter Prozess ist, können und müssen verschiedene Wissenschaftsdisziplinen zur Ursachen- und Folgenforschung beitragen. Die Geschichte der Industrialisierung, in deren Verlauf enorme Mengen Kohlendioxid durch die Nutzung fossiler Brennstoffe in die Atmosphäre gelangten und die Wohlstand und Reichtum für die nun industrialisierten Nationen brachte, ist auch eine Geschichte der Globalisierung. Und sie ist die Geschichte des Klimawandels. Die Energiequelle der Industrie des 18. Jahrhunderts, das Wasserrad, wurde abgelöst von der Kohle. Dampfkraft wurde für Werk- und Antriebsmaschinen genutzt, die wiederum ihre Anwendung in der Lokomotive fanden. Und so revolutionierte der Fortschritt in der Industrie auch das Transportwesen und die Mobilität. Nun wurden nicht mehr nur Kohle und Erze, sondern auch andere Waren und nicht zuletzt Menschen über größere Strecken transportiert. Die neuen Formen der Mobilität durch den Eisenbahnverkehr zogen zunächst die Aufeinanderabstimmung von technischen Einheiten – der Züge und der Schienensysteme – nach sich, dann aber sogar die Synchronisation der (lokalen) Zeit(en) zu einer gesellschaftlichen Universalie, denn ein geregelter und effizienter Verkehr erforderte die vereinheitlichte »Chrono-Logik« als gesellschaftlichen Taktgeber. Um gefährlichen Klimawandel zu vermeiden, sind heute eine grundlegende Änderung unserer Wirtschafts- und Lebensweisen und – als eine conditio sine qua non – die Synchronisation der unterschiedlichen Wissenschaftszweige erforderlich. Insbesondere gilt es »integrierte« Szenarien für zukünftige Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle zu entwerfen und valide Analysen der möglichen Formen von »Industrialisierung« zu erstellen, damit die sich entwickelnden Länder nicht die Fehler der entwickelten Nationen wiederholen und ihren Wohlstand einzig durch den Verbrauch fossiler Brennstoffe zu erreichen suchen. Ebenso unerlässlich ist es, einschlägige Diskurse in politischer Philosophie und Ethik neu zu entfachen, denn die Lösung des Klimaproblems ist gleichermaßen eine universale Gerechtigkeitsfrage. Die Naturwissenschaft hat bereits überzeugende Lösungsansätze erarbeitet und zum Beispiel die mit den jeweils gewählten Wahrscheinlichkeiten zur Wahrung des 2°C-Ziels verträglichen globalen Emissionsbudgets berechnet. Es verbleibt jedoch die ethische Kernfrage, wie diese zulässigen Gesamtmengen an Treibhausgasen gerecht auf die einzelnen Menschen oder Nationen
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der Welt aufgeteilt werden sollten, um den Wohlstand der einen in der Substanz zu bewahren, ohne die Wachstumsbestrebungen zum Erlangen von Wohlstand bei den anderen zu beschneiden. Wie kann man dabei den unterschiedlichen Lebensstilprämissen der unterschiedlichen Kulturen gerecht werden? Beschränkte man sich bei dieser Frage einzig auf utilitaristische Prinzipien, die bei der Bewertung des menschlichen Wohls an westlichen Glücksdefinitionen ausgerichtet sind und auf die Maximierung eines so bestimmten Nutzens abzielen, dann wären Widersprüchlichkeiten, ja Antagonismen vorprogrammiert: Kann es gerecht sein, die Maximierung des Nutzens im Sinne des Zivilisationsverständnisses der Industrienationen mit den Fortschrittsaspirationen der Schwellenländern gleichzusetzen? Bei der Festlegung auf einen bestimmten Nutzenbegriff werden die unterschiedlichen soziokulturellen Prägungen ausgeblendet. Und welche Rolle können die Menschenrechte bei der Festlegung verbindlicher Klimaziele spielen? Können sie – müssen sie nicht sogar – zentraler Bezugspunkt bei einem Diskurs über globale Probleme werden? Bereits die juristische Klage der Inuit gegen die Vereinigten Staaten von Amerika, die als weltweit größte Emittenten von Treibhausgasen das Voranschreiten des Klimawandels stark begünstigen oder zumindest nicht eindämmen, und so nach Ansicht der Inuit deren Lebensgrundlage und Heimat zerstören, zeigt eine interessante Weiterentwicklung des Menschenrechtsbegriffs. Die umfassenden Dimensionen der Menschenrechte, ihr Anspruch auf Universalität, Gleichheit, Freiheit, Partizipation und Solidarität könnten eine tragfähige ethische Basis für eine nachhaltige und gerechte Klimapolitik darstellen. Eine Veränderung unserer Umwelt zieht zwangsläufig eine Veränderung unseres Gemeinwesens nach sich. Aufgabe der Wissenschaft ist es dabei nicht nur, die Menschen auf krisenhafte Situationen vorzubereiten, sondern auch, sie mit dem verfügbaren Wissen entscheidungsfähig zu machen. Dem unübersichtlichen Ursachen-Folgen-Knäuel des Klimawandels ist es geschuldet, dass es hier keine strikte Zuordnung von »Zuständigkeiten« der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen geben kann. Die Herausforderung ist nicht nur inter-, sondern im Grunde transdisziplinär. Der Transfer von Wissen, nicht nur zwischen den einzelnen Wissenschaftszweigen, sondern darüber hinaus über den vertraulichen und öffentlichen Dialog in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, spielt eine bedeutsame Rolle. Und so scheint eine klar abgegrenzte Arbeitsteilung, nach der die Naturwissenschaften für die Erforschung des Ursprungs und die Erstellung von Klimaprognosen und die Geisteswissenschaften »lediglich« für die Bewältigung des Klimawandels zuständig wären, der Komplexität der Aufgabenstellung nicht gerecht zu werden. Vielmehr ist ein Ineinandergreifen der Disziplinen wie Zahnräder, ihre Synchronisation ähnlich der von Schiene und Zug und schließlich der verschiedenen Ortszeiten des 19. Jahrhunderts notwendig. Als Metapher für das Zusammenspiel von Natur- und Gesellschaftswissenschaften bieten sich deshalb die Zeiger einer Uhr an: Beide müssen in perfekter Abstimmung, aber unterschied-
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lich angetrieben werden. Nur aus ihrem Größenvergleich ergibt sich eine Bestimmung des absoluten Zeitverlaufs (da der kleinere Zeiger die größeren Einheiten zählt). Und nur aus ihrer Doppelkonstellation lässt sich ablesen, was die Stunde wirklich geschlagen hat. Das Klimaproblem ist lösbar, ja es muss gelöst werden! Um mit Gottfried Benn zu sprechen: »Pessimismus – das ist der Strandkorb der Unproduktiven«. Es sind Einfallsreichtum und Engagement aller Disziplinen gefragt, deren Interesse und Ziel es sein muss, die bislang größte Aufgabe der Menschheit doch noch zu bewältigen – auch wenn beide Zeiger der Wissenschaftsuhr synchron und unerbittlich vorrücken.
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Wider das Diktat der Kurzfristigkeit Klaus Töpfer
1. Eine Werkschau – eine kommentierende Analyse der Beiträge, die ein herausragender Wissenschaftler erarbeitet, geleistet hat: Eine großartige Geschenkidee zum 60. Geburtstag! Herzlichen Glückwunsch! Eben nicht eine Würdigung des »Lebenswerkes«, das ja mit großer Dynamik weiter gestaltet wird. Sondern: über eine Werkschau Einblicke in die Denkansätze dieses Gelehrten zu finden, den Denkwegen nachzuspüren – das ermöglicht auch Hinweise auf die Perspektiven, auf das, was in Zukunft von diesem Gelehrten noch erwartet werden darf, ja: was von ihm abgefordert werden muss als Beitrag für das tiefere Verständnis gesellschaftlicher Strukturen und Entwicklungen, zur Gestaltung einer friedlichen, globalisierten Welt, zu »Wissenschaftskulturen«. In dieser Werkschau eines großen Wissenschaftlers – ein breites Œuvre – herausragende wissenschaftliche Analysen. Und mitten darin: ein »Aufruf«. In der Wochenzeitung »Die Zeit«, im November 2007. Die Dramatik der Finanz- und Wirtschaftskrise wetterleuchtete bereits am Horizont – bis zum Zusammenbruch von Lehman Brothers keine zwölf Monate mehr. Kein Frühwarnsystem der Wirtschafts – und Sozialwissenschaften signalisierte diese Krise wirksam, eine dramatische Krise, die die Welt in den Abgrund sehen ließ und die noch lange nicht »überstanden«, geschweige denn bewältigt ist. Eine solche Krise, die sich als »Offenbarungseid der Kurzfristigkeit« erwies – die kurzfristig eingedämmt wurde durch einen zuvor für unmöglich erachteten Verschuldungsexzess der Staaten rund um den Erdball. Eine Krise, deren Kosten insbesondere auf die Ärmsten der Armen in den Industrieländern, vor allem aber auch in den Entwicklungsländern abgewälzt werden. Langfristige Kollateralschäden des Diktats der Kurzfristigkeit in den modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften – als Konsequenz massiver zeitlicher und räumlicher Verschiebung insbesondere ökologischer und sozialer Folgekosten: eine »soziale Katastrophe«.
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2. Im engen zeitlichen Vorfeld dieser Krise also der »Aufruf«: »Von der Natur- zur sozialen Katastrophe«, verfasst von Claus Leggewie, Ludger Heidbrink und Harald Welzer. Eine Herausforderung für die eigene Disziplin, ein Aufruf zur Überwindung der »normalitätsfixierten und katastrophenblinden« Perspektive, aus der die Kultur- und Sozialwissenschaften dem Geschehen zuschauen. Eine Selbstkritik also, ein Aufruf zur Veränderung der Blickrichtung auf die Realitäten unserer Zeit. Da wird die Lücke, die weitgehend fehlende Dialogbereitschaft und -fähigkeit zwischen naturwissenschaftlichen Nachweisen des Klimawandels einerseits und der Ursächlichkeit gesellschaftlicher Wert- und Verhaltensstrukturen für diesen Klimawandel anderseits konstatiert. Es wird ein drastisches Gefälle analysiert zwischen der naturwissenschaftlichen Arbeit, die »den Klimawandel als vom Menschen gemacht im Massenbewusstsein« bereits verankert hat – ohne dass Kulturwissenschaften und Sozialwissenschaften insgesamt sich dieser Veränderung gewidmet hätten. Es wird aufgezeigt, dass die Kulturwissenschaften die Fragen nach der Disposition, nach der Robustheit einer gesellschaftlichen Struktur mit Blick auf die Anpassung an die klimatischen Veränderungen keineswegs zu ihrem Forschungsgegenstand gemacht haben. Dass man »suggerierte, der Klimawandel sei abzuwenden und die Katastrophe zu verhindern, indem man an den richtigen Stellschrauben politischer Technologie dreht«, so die Autoren. Es wird mit großer Dringlichkeit und zu Recht herausgearbeitet, dass man den Klimawandel »besser als unabhängige Variable, die den Individuen und Gesellschaften immense kulturelle Anpassungsleistungen abverlangen wird«, zu verstehen hat und damit zu einer entscheidenden Rückfrage an die Leistungsfähigkeit von Kultur- und Sozialwissenschaften wird. Es wird erahnbar, dass die Gefahren von Verstärkungsmechanismen aus den Verhaltensweisen von Menschen und ganzen Gesellschaften auf die klimatischen und umweltbezogenen Veränderungen soziale Konsequenzen von großem Ausmaß mit sich bringen – Kollateralschäden wiederum.
3. Dieser Argumentation ist zuzustimmen, in ihren einzelnen Schritten verlangt sie indes eine Klarstellung. Die vom Menschen verstärkten »Naturkatastrophen« wie die Orkane »Katrina« und »Kyrill« sind nicht, wie dies der Aufruf tut, rundweg als die Realisierung der »Projektionen des Weltklimarats und [der] Szenarien von Sir Nicolas Stern« zu benennen. Projektionen kommt grundsätzlich keine Beweiskraft zu. Die beste Projektion ist die, die – weil sie ernst genommen wird – nicht eintrifft. Schon Karl Popper hat uns gelehrt, dass Wissenschaft in der gezielten Bemü-
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hung zur Falsifizierung vorhandenen Wissens besteht. Er hat die Bemühung um die Verifizierung als »Beweis« stets als Ideologie gebrandmarkt. Ob Klimawandel »ohne Zweifel«, wie die Autoren unbarmherzig und fatalistisch schreiben, zu sozialen Katastrophen führen wird, liegt allerdings auch in der Gestaltungskraft von Kulturen und Gesellschaften. Hier müssten die Kulturwissenschaften ansetzen und Lösungen aufzeigen, soziale Katastrophen zu vermeiden.
4. Interdisziplinarität wird eingefordert in diesem Aufruf. Sollte nicht damit der Nachweis sinnvoll verbunden werden, dass die soziale Katastrophe des Finanz- und Wirtschaftskollapses die gleichen Wurzeln hat wie die Umweltkrise, insbesondere die absehbare Klimakrise? Die Ursächlichkeiten liegen gemeinsam in der Disposition moderner Gesellschaften, auf eine Kurzfristigkeit der Entscheidungsabläufe ausgelegt vor dem Hintergrund einer Welt, die durch immer weitreichende Einblicke der Wissenschaft in die Bausteine von Natur und Leben in besonderer Weise auf die Beachtung der mittel- und langfristigen Konsequenzen des Handelns hingeführt werden muss. Die Frage ist also, wie diese Gesellschaften mit den Nebenfolgen wirtschaftlicher Wachstumsprozesse und technologischer Veränderungen umgeht. Das Nobelpreisträger-Symposium »Global Sustainability – A Nobel Cause« weist in dem »Potsdam Memorandum« zurecht darauf hin, dass der Mensch bereits zu einer »quasi geologischen Kraft« geworden ist. Der große Nobelpreisträger Paul Crutzen hat in einem Beitrag in »NATURE« unter dem Titel »Geology of mankind« geschrieben: »It seems appropriate to assign the term ›Anthropocene‹ to the present, in many ways humandominated, geological epoch, supplementing the Holocene«. (Crutzen 2002: 23) In einer Welt, die in der kurzen Zeitspanne bis 2050 auf mehr als neun Milliarden Menschen anwachsen wird, in einer Welt in der dieser Zuwachs vornehmlich in Afrika und auf dem indischen Subkontinent konzentriert stattfinden wird, also in den durch massive Armut gekennzeichneten Regionen dieser Welt – in Kenntnis der bereits in Rio de Janeiro 1992 festgeschriebenen Verpflichtung, dass allen Menschen das »Recht auf Entwicklung« (Prinicple 3, Rio Declaration) zusteht – in dieser Welt ist zwingend zu erforschen, welche Lebensstile und Gesellschaftsstrukturen in Einklang zu bringen sind mit einer Stabilität der natürlichen Kreisläufe und der Leistungsfähigkeit der großen Ökosysteme. In den Blick rückt damit die zentrale Frage, ob nicht das »Diktat des wirtschaftlichen Wachstums« grundsätzlich überprüft, überarbeitet werden muss.
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5. Der französische Staatspräsident Sarkozy hat eine hochrangige Arbeitsgruppe unter der Leitung der Professoren Joseph Stiglitz, Amartya Sen und Jean-Paul Fitoussi einberufen. Er hat diese Arbeitsgruppe gebeten, genau diese grundsätzliche Frage nach den richtigen Zielgrößen für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung einer Gesellschaft zu erörtern und Antworten zu finden. Sie sollen also fragen, inwieweit das Bruttosozialprodukt noch die Rolle dieses zentralen Indikators für gesellschaftlichen Fortschritt übernehmen kann – in Kenntnis der Tatsache, dass es entscheidend beeinflusst wird von dem Ausmaß der abgewälzten Kosten auf Umwelt und Gesellschaft, auf soziale Stabilität. Immer intensiver wird weltweit, so zum Beispiel auch in China, die Frage nach dem »Green GDP« gestellt – nach der Wachstumsrate also, die sich unter Beachtung der bisher in das Bruttoinlandsprodukt nicht einkalkulierten Abschreibungen auf das Naturkapital ergäbe. Daran schließt sich die notwendige Konsequenz an zu klären, welche Beiträge Kultur- und Sozialwissenschaften leisten können, um das »Changing of Consumption Pattern« einzuleiten oder zu begleiten, das in den Papieren von Rio de Janeiro über Rio+10 in Johannesburg bis zum heutigen Tag immer und immer wieder eingefordert wird, nirgends aber wirklich in Angriff genommen worden ist. Eben nicht nur darauf zu setzen, dass die »Verbindung protestantischer Gewissensethik mit deutscher Ingenieurkunst« der Umwelt- und Klimaveränderungen schon Herr werden wird.
6. Die Auswirkungen menschlicher Entscheidungen, von Werten und Verhaltensmustern in der Gesellschaft treten damit in den Vordergrund auch der umwelt- und klimapolitischen Handlungsparameter. In den Vordergrund tritt die Frage, wie die Organisation von Gesellschaften, wie in einer offenen, pluralen und demokratischen Gesellschaft Entscheidungen ermöglicht werden können, die langfristig Notwendiges frühzeitig mehrheitsfähig machen, auch in dem Falle, in dem dies mit kurzfristigen Nachteilen verbunden sein sollte – oder diese Nachteile zumindest glaubwürdig und populistisch suggeriert werden können.
7. Hans Jonas, der große Philosoph des Prinzips Verantwortung, hat 1992 in seiner Dankesrede für die Ehrenpromotion an der FU Berlin, bezeichnender Weise unter der Überschrift »Fatalismus wäre Todsünde«, auf diese Befürchtungen, auf diese Besorgnisse hingewiesen. Er unterstreicht »die
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Befürchtung oder den Verdacht einer Vergeblichkeit des Wortes, selbst des wahren Wortes, wenn es zu sehr in Widerspruch gerät mit den Zwängen, den Nöten, den Interessen, den Mächten des Augenblicks und wenn es zu weit in die Zukunft greift – dass es dann ohnmächtig wird für die Gegenwart.« (Jonas 2005: 54) Rückfragen an Kultur- und Sozialwissenschaften von außerordentlich weitreichender Bedeutung dahingehend, dass diese Aufgabe bewältigt werden muss, »ohne dabei in Resignation zu verfallen und ohne, im Sinne einer ökologischen Tugenddiktatur, demokratische Errungenschaften und Liberalität aufs Spiel zu setzen«.
8. Der Erfolg eines Aufrufs wird in der Regel gemessen an der Aufmerksamkeit, die dieser Aufruf auslöst in der breiteren Öffentlichkeit oder zumindest in der betroffenen Fachöffentlichkeit. Ein Aufruf wird aber vor allem in seiner Wirkung gemessen an den Konsequenzen, die von den Aufgerufenen aus dieser Analyse gezogen werden. Sicherlich ist dies im hier vorliegenden Fall schwer quantitativ zu fassen. Sicherlich ist auch zu bedenken, dass die dramatische Aufmerksamkeitskonzentration der breiten Öffentlichkeit auf die Konsequenzen der Finanz- und Wirtschaftskrise einen Aufruf etwas in den Hintergrund treten lassen könnten, der sich mit den darüber hinausreichenden, langfristigen Notwendigkeiten gesellschaftlicher Neuorientierung beschäftigt. Sicher ist aber auch richtig, dass einer Forderung der Autoren durchaus sehr viel Beachtung geschenkt worden ist, dass nämlich statt Fokussierungen auf Extremereignisse und Katastrophen ein langfristiger Wandel zu risikobewussten, anpassungsund lernfähigen Umgangsweisen und Lebensformen zwingend und dringend angeraten sei. Verbale Abrüstung in der Auseinandersetzung – dringend von Nöten.
9. Fragt man sich abschließend, welcher Aufruf aus der Zusammenschau der gekennzeichneten krisenhaften Entwicklungen der Gesellschaft gegenwärtig erforderlich wäre, so wird man sicherlich einen Aufruf »Wider das Diktat der Kurzfristigkeit« einfordern. Man muss sich dabei auf die durchaus auch wissenschaftlich zu bearbeitende Frage konzentrieren, welche institutionellen Entwicklungen und Änderungen für eine derartige Überwindung kurzfristiger Entscheidungsmuster im nationalen, vor allem aber auch im globalen Rahmen notwendig sind. Zwischenzeitlich hieße es glücklicherweise, Eulen nach Athen zu tragen, wenn man darauf aufmerksam macht, dass nicht nur die Interdisziplinarität von Bedeutung ist, sondern dass die transdiziplinäre Forschung voran gebracht werden muss. Das Herausfordernde dabei ist, welche neu-
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en Verfahren die Wissenschaft entwickelt, um die fachliche und wissenschaftliche Qualität ihrer Ergebnisse zu sichern, wenn Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisationen, Wirtschafts- und Sozialpartner und, wie in dem »Aufruf« eingefordert, Künstler und Schriftsteller zum Teil einer wissenschaftlich fundierten und demokratisch legitimierten Veränderungsdynamik werden sollen. Dieser Prozess wird auch Auswirkungen auf die Wissenschaft haben.
L ITER ATUR Crutzen, Paul (2002): Geology of mankind. Nature 415/6867, S. 23. Jonas, Hans (2005): Fatalismus wäre die eine Todsünde des Augenblicks. In: Dietrich Böhler (Hg.): Fatalismus wäre Todsünde. Gespräche über Ethik und Mitverantwortung im dritten Jahrtausend, Münster: Lit Verlag. S. 53-55.
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Sozialwissenschaftliche Klimaforschung – Gedankenfetzen Dirk Messner
Claus Leggewie, Ludger Heidbrink und Harald Welzer liegen sicher richtig. Der Klimawandel und seine umfassenden Auswirkungen auf unsere Gesellschaften sind zu einem Schlüsselthema der Kultur- und Sozialwissenschaften geworden. Diese sind zudem aufgefordert, die Interaktionen zwischen globaler Erwärmung und sozialen Systemen nicht nur klug zu beschreiben und zu kategorisieren, sondern sich »Handlungen und Strategien [zuzuwenden], mit denen soziale Wesen ihr Dasein zu bewältigen versuchen«, wie die drei Autoren schreiben. Um gefährlichen Klimawandel zu vermeiden, ist eine große globale Transformation notwendig, deren Umrisse wie folgt beschrieben werden können: Zwischen 2015 und 2020 müssen die globalen Emissionen ihren Höhepunkt überschritten haben und dann jährlich um 5-8 Prozent sinken, um noch eine realistische Chance zu haben, die globale Erwärmung bei etwa 2° Celsius zu stabilisieren. Die Treibhausgasemissionen pro Kopf müssen bis zur Mitte des Jahrhunderts weltweit auf etwa eine Tonne reduziert werden, was dem heutigen Emissionsniveau Indiens und Nikaraguas entspricht. Damit dies gelingt, muss die Weltwirtschaft weitgehend dekarbonisiert werden, aus der fossilen globalen Ökonomie muss eine im wesentlichen auf erneuerbaren Energiequellen basierende Weltwirtschaft werden. Möglich ist ein solcher Umbau nur, wenn ab 2010 75-80 Prozent der weltweiten Investitionen in die Energiesysteme in nicht-fossile Energieträger fließen. Ein solcher Umbruch wird mit umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen einhergehen müssen: Konsummuster, Wachstumspfade, Regulationsregime, Wohlfahrtskonzepte, Infrastrukturen, Ausbildungssysteme stehen unter Anpassungsdruck, wenn die Bedrohungen durch den Klimawandel ernst genommen werden. Zwischen reichen und armen Ländern müssen Ausgleichs- und Kooperationsmechanismen etabliert werden, um eine weltweite Entkopplung von sozioökonomischem Fortschritt and Emissionen zu erreichen.
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Man ahnt, was all dies bedeutet. Für den Übergang zu einer globalen klimaverträglichen Gesellschaft gilt, was Heinrich August Winkler (2009: 259) in seinem Monumentalwerk zur »Geschichte des Westens« über die industrielle Revolution schreibt: »In der Weltgeschichte gibt es wohl nur eine gesellschaftliche Umwälzung, die einen derart tief einschneidenden Charakter hatte wie die Industrielle Revolution: Es war der Übergang von den Jägerkulturen zu sesshaften bäuerlichen Gesellschaften in der jüngeren Steinzeit, dem Neolithikum, vor etwa 10.000 Jahren.« Der Übergang zu einer klimaverträglichen Weltwirtschaft, weltweiten Produktions- und Konsummustern, politischen Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Leitbildern, die die Grenzen des Erdsystems akzeptieren, stellte also den dritten großen Zivilisationsschub in der Geschichte der Menschheit dar. Dieses Panorama ist offensichtlich zu übermächtig, um es umfassend in einem kurzen Essay zu behandeln. Stattdessen skizziere ich im folgenden einige Gedankenfetzen, die natürlich nur kleine Bruchstücke der großen Transformation reflektieren. Claus Leggewie wird sich nicht wundern, dass ihm die gedanklichen Versatzstücke allesamt bekannt vorkommen, denn wir zerbrechen uns seit geraumer Zeit gemeinsam die Köpfe darüber, welche Wissenskulturen eigentlich zusammengeführt werden müssten, um den Umbruch zu einer letztlich emissionsfreien globalen Ökonomie bewerkstelligen zu können. »Das Ende der Welt, wie wir sie kannten«, haben Claus Leggewie und Harald Welzer bereits 2009 beschrieben. Doch wie sieht die neue Welt aus, welche Wege führen dorthin, welche Blockaden erschweren die Transformation? Dazu drei Überlegungen.
A UFKL ÄRUNG 2.0 »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«, schreibt Kant 1784 in seinem Aufsatz »Was ist Aufklärung«. Und er fährt fort: »Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bemühen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« Wir wissen wahrlich genug über den Klimawandel, um daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Doch die Klimakrise fordert von uns Menschen, dass wir uns unseres Verstandes in einer besonders schwierigen Situation zu bedienen haben, um Schlimmeres zu verhindern. Um eine gefährliche globale Erwärmung zu vermeiden, müssten wir auf der Grundlage der Erkenntnisse der Wissenschaften unsere Gesellschaften und Wirtschaften umsteuern, lange bevor der Klimawandel in den kommenden Dekaden sein tatsächlich zerstörerisches Potential entfaltet.
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Historische Erfahrungen zeigen, dass grundlegendere Veränderungen in der Regel durch Krisen und realen Problemdruck ausgelöst werden. Pfadabhängigkeiten prägen das Handeln von Individuen und die Dynamiken sozialer Systeme. Eine »Aufklärung 2.0« wäre also notwendig: Bediene Dich Deines Verstandes nicht nur zum eigenen Wohle oder zum Wohle Deiner Generation, sondern zugleich auch zum Wohle der kommenden Generationen.
D ER M ENSCH IST, WAS ER IST, WEIL ER KOOPERIERT Der moderne Mensch teilt mit dem Schimpansen ungefähr 99 Prozent des genetischen Materials. Wie also lässt sich die evolutionäre Entwicklung des Menschen erklären, der wie keine andere Spezies enorme kognitive Fertigkeiten und die Fähigkeit zur Transformation des gesamten Planeten Erde unter Beweis gestellt hat? Michael Tomasello (2006: 1517) argumentiert, dass der Mensch schneller lernt aufgrund einer einzigartigen Weise kultureller Weitergabe bereits vorhandenen Wissens. Menschen sind in der Lage, »ihre Artgenossen als ähnliche Wesen zu verstehen, die ein intentionales und geistiges Leben haben wie er selbst. […] Kulturelle Lernprozesse [sind] Prozesse der Sozialgenese, durch welche mehrere Individuen etwas zusammen hervorbringen, was kein Individuum hätte allein schaffen können.« Der Mensch lernt also auf einer um »viele Größenordnungen schnelleren Zeitskala« als andere Lebewesen, weil er soziale Kompetenz besitzt, sich in andere hineinzuversetzen und auf dieser Grundlage zur Kooperation fähig ist. Tomasello nennt das »Wir-Intentionalität«. Damit ist nicht gesagt, dass der Mensch nicht auch egoistisch, selbstsüchtig, gierig und zerstörerisch sein kann – unzählige Kriege und die Geschichte der Gewalt zeugen davon. Aber seine kulturelle Lernfähigkeit, die ihn zu einer besonderen Spezies macht, basiert darauf, mit anderen zu kommunizieren, gemeinsam zu handeln und so einen »kulturellen Wagenhebereffekt« zu schaffen, der einzigartige Lernprozesse und soziale Veränderungsprozesse erlaubt, die schneller verlaufen als die organische Evolution. Der Mensch ist also, was er ist, weil er zur Kooperation fähig ist – nicht nur, aber auch. Tomasello verweist darauf, dass sich diese sozialen Fähigkeiten in kleinen Gruppen herausgebildet hätten. Erst diese kulturelle Evolution habe die neolithische Revolution, sesshafte Kulturen, Ackerbau und dann später den Aufbau von Städten, Industrien und Staaten ermöglicht. Die Arbeiten von Tomasello machen Mut, denn ohne Kooperation wird der Klimawandel sicher nicht zu bewältigen sein. Doch sind die Menschen in der Lage, globale Kooperation in einer interdependenten Welt zu organisieren? Tomasello mag keine definitive Antwort auf diese Frage geben. Die Zivilisationsleistung bestünde darin, die »Gruppe«, in der Menschen sich austauschen, lernen und gemeinsam handeln, neu zu definieren: Die Gruppe, in der der Mensch zukünftig »Wir-Identitäten und -Intentionalitäten« entwickeln
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muss, um gemeinsam lernen und kooperieren zu können, ist nicht weniger als die Menschheit.
V ON DEN BEHAVIOR AL ECONOMICS FÜR DEN P OST -K OPENHAGEN -P ROZESS LERNEN Ein nicht-intendiertes Ergebnis des Scheiterns der Klimakonferenz in Kopenhagen ist der »Kopenhagen-Akkord«. Statt sich auf ein umfassendes Klimaregime und Regeln für Emissionsreduzierungen zu einigen, sollen die Staaten nun den Vereinten Nationen zunächst freiwillige Minderungen von Treibhausgasemissionen melden. Diese werden veröffentlicht, um so möglichst einen »race to the top« auszulösen. Kann dieses »Klingelbeutelprinzip« (John Schellnhuber) wirklich funktionieren? Akerlof und Shiller (2009: 45-46) skizzieren ein Experiment der beiden Verhaltensökonomen Ernst Fehr und Simon Gächter, das den Prinzipien des »Kopenhagen-Akkord« erstaunlich ähnelt. Dieses Spiel sieht vor, dass die Teilnehmer einen beliebigen Geldbetrag in einen Topf legen, dieser dann aufgestockt und unter allen Mitgliedern der Gruppe aufgeteilt wird. Handeln die Teilnehmer kooperativ, so erzielt die gesamte Gruppe den größten Ertrag. Aber es gibt einen Anreiz zu egoistischem Verhalten. Jeder Einzelne erzielt für sich selbst das beste Ergebnis, wenn alle anderen ihre Beiträge leisten und er selbst egoistisch agiert und sich kaum oder gar nicht beteiligt. In der Regel verlaufen solche Experimente zunächst kooperativ. Wenn das Spiel aber einige Male wiederholt wird, stellen die Teilnehmer fest, dass andere Mitspieler sich egoistisch verhalten, indem sie nichts oder wenig einzahlen. Wird das Spiel oft wiederholt, verhalten sich am Ende die meisten oder gar alle Spieler egoistisch; die zunächst kooperativen Spieler wollen nicht als »die Dummen« dastehen. Den »Kopenhagen-Akkord« könnte ein ähnliches Schicksal ereilen. Weil viele Staaten sich gar nicht oder nur mit nicht signifikanten Reduktionsangeboten an dem »Klimaexperiment« beteiligen, werden Anreize für egoistisches Verhalten verstärkt. Fehr und Gächter haben eine Lösung für ihre Spielanordnung gefunden, um kooperatives Verhalten zu erzeugen. Wenn die Teilnehmer die Möglichkeit bekommen, nicht-kooperative Mitspieler zu bestrafen, reduzieren sich Fälle egoistischen Verhaltens nachhaltig. Der »Kopenhagen-Akkord« braucht also »Zähne«, Regeln, Sanktionsmechanismen, damit kooperatives Verhalten nicht unterminiert wird. Das wären dann doch erste Schritte zu einem ernsthaften Klimaabkommen.
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L ITER ATUR Akerlof, George/Shiller, Robert (2009): Animal Spirits. Wie Wirtschaft wirklich funktioniert, Frankfurt a.M./New York: Campus. Leggewie, Claus/Harld Welzer (2009): Der Ende der Welt, wie wir sie kannten, Frankfurt a.M: S. Fischer. Tomasello, Michael (2006): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Frankfurt a.M. Winkler, Heinrich August (2009): Geschichte des Westens, München: Beck.
Einmischungskultur
Radio Days – oder: Vier Jahrzehnte Zeitdiagnosen Eine Archivrecherche Wolfgang Stenke
»Und sie bewegt sich doch. Gemeint ist die kommunistische Partei Frankreichs, deren Mobilisierung seit einigen Jahren allerdings nicht geradlinig voranschreitet, sondern in einer Art Echternacher Springprozession, drei Schritte vorwärts, zwei zurück. Dies zeigt wieder die jüngste Auseinandersetzung zwischen Parteiintellektuellen und Parteiführung, konkret die Kontroverse zwischen Pierre Daix, dem ehemaligen Chefredakteur der eingestellten Parteizeitschrift Lettres Françaises und Roland Leroy, Mitglied des Sekretariats der KPF und Patron der kommunistischen Intellektuellen. Daix hatte im Juli als Quintessenz seiner Tätigkeit bei Lettres Françaises und als intellektuelle Autobiographie ein Buch mit dem Titel »Was ich von Solschenyzin weiß« und ergänzende Interviews veröffentlicht, in dem der russische Autor als Katalysator einer Kritik am Stalinismus fungiert. Daix argumentiert dabei nicht von der Position des Renegaten aus, sondern in der Haltung solidarischer, an der Partei orientierter Selbstkritik. Er attackiert die schlechte Aufhebung der Stalin-Ära und das Abgleiten in den Neostalinismus seit den Prozessen gegen Sinjawskij und Daniel. In Frankreich äußerte sich dieser Rückfall in der parteiadministrativen Liquidation der Lettres Françaises, die Daix zusammen mit Aragon seit 1968 zu einem Forum der inneren Opposition gemacht hatte. An Solschenyzin interessiert Daix, wie schon Georg Lukács, die eminent politische Funktion. Die von ihm ins Französische übersetzte Novelle »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« war die Ouvertüre zur literarischen Verarbeitung der Bürokratisierung der Sowjet-Gesellschaft. Dagegen stellt die parteioffizielle Kulturpropaganda die Dissidenten gewöhnlich als notorische Einzelgänger hin. Für Daix eröffnet die Beschäftigung mit dem Exempel Solschenyzin dagegen Impulse zur Wiederherstellung der sozialistischen Moral, die damit beginnt, die Wahrheit nicht mehr zu verschweigen. Zitat: »Ich glaube, dass die Wahrheit revolutionär ist und das beginnt mit der Wahrheit über die Revolution. Darüber die Unwahrheit zu sagen, ist die schlimmste politische Lüge, denn sie greift das Ideal selbst an und belastet die Zukunft.« Und so rollt Daix die Frage der sowjetischen Okkupation in Prag wieder auf, die ihn zu einer entschiedenen
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E INMISCHUNGSKULTUR Ablehnung des sowjetischen Unfehlbarkeits- und Führungsanspruches gebracht hat. Mit dem Satz »zur Zeit Chruschtschows hielt ich die Sowjetunion für identisch mit der Zukunft des Sozialismus schlechthin, das glaube ich heute nicht mehr« beschreibt er den typischen Erkenntnisprozess zahlreicher Parteiintellektueller, denen das Verhältnis zum sogenannten realen Sozialismus immer problematischer wird. Daix hat damit die Wellen wieder aufgerührt, die sich nach dem Ausschluss Garaudys aus der Partei wieder zu glätten begonnen hatten. Roland Leroy wies als Spekulationen der Bourgeoisie zurück, dass es einen Fall Daix geben werde, wie es einen Fall Garaudy 1970 geben konnte. Aber er spricht Daix das Recht ab, mit seinen Ansichten noch als Kommunist gelten zu können, das heißt, er negiert immer noch die Berechtigung innerparteilicher Opposition. Er rügt, dass Daix seine Kritik in der bürgerlichen Presse veröffentlicht hat, womit er die Politique Hebdo und den Nouvel Observateur meint, die er als Organe des Antikommunismus denunziert, auch wenn sie bekanntlich eher links als rechts von L’Humanité stehen. Aber auch dieses bereits im Fall Garaudy bemängelte Faktum fällt eher auf die Partei zurück, die lange Zeit Widerspruch nicht geduldet hat und, wie man jetzt sieht, immer noch nicht duldet, mit dem Argument, dass Beifall auch von der falschen Seite tönt. Interessant ist die Kontroverse übrigens auch deshalb, weil sie in der Bundesrepublik nicht stattfindet. Bis auf den Kollektivaustritt der Butzbacher Parteizelle werden aus der DKP keine Dissidenten gemeldet. Nicht nur in Sachen Solschenyzin, und bei der demagogischen Verwendung des Begriffs linker Antikommunismus erweist man hierzulande den Ratgebergenossen noch vollste Ergebenheit.« (Claus Leggewie: Was ich von Solschenyzin weiß … WDR 3, Kritisches Tagebuch, 04.08.1973)
Rückblende auf die späten 1960er und frühen 1970er Jahre in Köln: Die Universität war nicht gerade die Zentrale des Studentenprotests in der Bundesrepublik, aber einen Hauch von Pariser Mai-Atmosphäre gab es auch am Rhein – und zwar gleich mehrfach: mit Rektoratsbesetzung, militanten Vietnam-Demos und polizeilichen Prügelorgien, z.B. bei dem Versuch rebellischer Studenten, den universitären Auftritt eines griechischen Jura-Professors zu verhindern, der zu den Unterstützern der Athener Militärdiktatur zählte. Dazu Undergroundkino von der Filminitiative X-Screen, Politaktivitäten zum Kölner Kunstmarkt, schräges Kabarett von »Floh de Cologne« und und und … Also jede Menge Debattierstoff bei der Abfütterung in der Mensa oder einem Espresso im legendären Eis-Café Campi auf der Hohen Straße: die Fluxus-Plastik »ruhender Verkehr« – ein von Wolf Vostell einbetonierter Opel Kapitän –, Frantz Fanons Manifest »Die Verdammten dieser Erde«, die Filme von Faßbinder, Praunheim und Godard. Gespräche, fortgesetzt in Kneipen auf der Zülpicher Straße und Studentenbuden am Ubierring oder in Lindenthal: Dritte Welt, NS-System, Franco-Diktatur, Archipel Gulag. Dazu disparate Lesefrüchte von Sartre, Gide, Camus oder aus dem Nachrichtenmagazin Nouvel Observateur. Dort schrieben Michel Bosquet, Jean Daniel und Gérard Sandoz über die französische Linke. Auf dem Phi-
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lips-Tonbandgerät liefen Bänder mit den Songs von Cream, Biermann, Brassens, Barbara oder die »Canciones de los Brigadas Internacionales«. Jon Hisemans Colosseum, Stones und Kinks natürlich auch. Damals redeten Studenten übers Radio – konkret: über das Kritische Tagebuch von WDR 3, kurz KT. Das war gewissermaßen die tägliche Dosis Aufklärung, geliefert vom Kulturprogramm des Westdeutschen Rundfunks. Im Umfeld von Beethoven-Sinfonien, Hörspielen, Features und Experimentalmusik à la Stockhausen – öffentlich-rechtlicher Rundfunk als Mäzen für Hochkultur klassischer wie avantgardistischer Provenienz – setzte die Sendung schräge politische Akzente. 1967 ins Programm gehoben noch unter der Ägide des linkskatholischen Adenauer-Gegners Walter Dirks, der von den Frankfurter Heften als Kulturchef zum Westdeutschen Rundfunk kam, war das Kritische Tagebuch Stein des Anstoßes für konservative Mitglieder des Rundfunkrates. Marianne Lienau, Hanno Reuther und Wolfgang Korruhn, die ersten »Redakteure am Mikrophon«, mussten des Öfteren beim Intendanten antreten, um sich für bissige Moderationsund Autorentexte zu rechtfertigen. Klaus von Bismarck bürstete seine Redakteure ab, bewies aber Rückgrat nach Attacken, die oft aus der klerikalen Ecke kamen, und sagte: »Das verrechnen wir mit der Morgenandacht!« Der WDR – und ganz besonders das KT – stand unter »Rotfunkverdacht«. Für die entsprechenden Anlässe sorgten kritische Journalisten wie Jean Améry, Walter Boehlich, Hanno Kühnert, Henryk M. Broder, Claudia Wolff, Otto Köhler oder Alice Schwarzer – mit Beiträgen gegen alte und neue Nazis, Paragraph 218, Berufsverbote oder Vorhaben wie die Einführung der Vorbeugehaft. In diesem Kritischen Tagebuch von WDR 3, da musste auftreten, wer in jenen Tagen als Student die Idee eines aufklärerischen, widerständigen Journalismus im Kopf hatte! Die KT-Redaktion residierte Anfang der 1970er Jahre im ReichardHaus, einem heruntergekommenen neogotischen Altbau, der den Bombenkrieg überstanden hatte. Verwinkelte Gänge verbanden dieses Gebäude mit dem Funkhaus am Kölner Wallrafplatz. Das Treppenhaus war gezeichnet von den Spuren etlicher Rohrbrüche. Im Parterre, in den plüschigen Räumen des Café Reichard, konnte man damals Willy Millowitsch – trotz offensichtlichen Bluthochdrucks – bei Kaffee, Cognac und Crèmeschnittchen antreffen. In den oberen Etagen hockte ein gutes Dutzend von Funkredakteuren, redigierte Manuskripte, warf ab und an einen Blick auf den Dom, nicht ohne sich in Permanenz über die immensen Mengen an Taubenscheiße auf den Fensterbänken zu ärgern. Und wenn man auf dem Weg in die Redaktion einen guten Tag erwischte, dann begegnete einem auf den Gängen ein kleiner Mann mit zerfurchtem Gesicht: Das war Jean Améry, der jüdische Widerständler und KZ-Überlebende, der aus dem Brüsseler Exil ins Land der Täter reiste, um beim WDR über Folter oder den RAF-Terrorismus zu debattieren. Den bewunderten Autor von »Jenseits von Schuld und Sühne« anzusprechen, das hat man sich als Student und journalistischer Novize damals nicht getraut.
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So war das Ambiente, das sich in den frühen 1970er Jahren bot, wenn man zum KT ging. Diese Bastion des gesellschaftskritischen Journalismus zu schleifen, dafür hat der WDR Jahre später ein paar sogenannte »Programmreformen« gebraucht, die auf den Umbau des 3. Programms zu einem Formatradio hinausliefen. Der zum Markenzeichen gewordene Titel Kritisches Tagebuch wurde abgeschafft, die Sendezeit reduziert auf 15 Minuten täglich, ein – mit Verlaub – ziemlich inhaltsleerer Titel eingeführt: »Tageszeichen«. 2008 war endgültig Schluss mit dieser Sendung auf WDR 3. Ein Autor namens Claus Leggewie gehört zu den Journalisten, die das KT und die Nachfolgesendung Tageszeichen geprägt haben – bis zur letzten Sendewoche. Eine kräftige Polemik gegen »Putin-Versteher« à la façon de Gerhard Schröder ärgerte während des Konflikts um Georgien nicht wenige Hörer (WDR 3, Tageszeichen, 28.08.2008; auch: Kölner Stadt-Anzeiger, 31.08.2008). Was Leggewie 1973 im KT von Solschenizyn wußte, das hat ihn 35 Jahre später zu einer publizistischen Intervention bewogen, die vor allem die antitotalitären und menschenrechtlichen Aspekte ins Zentrum seines Kommentars rückte. Kann man von den ersten journalistischen Beiträgen eines 23jährigen Studenten Linien ziehen zu den Interessen- und Arbeitsschwerpunkten eines publizistisch versierten Sozialwissenschaftlers? Offensichtlich, wenn es sich um Claus Leggewie handelt. Verfolgen wir die »French Connection« weiter, die sich im eingangs abgedruckten Radio-Kommentar über den Eurokommunisten und antitotalitären Linken Pierre Daix abzeichnet, so kommen wir zu einem ganzen Bouquet von Themen, die Leggewie in gut vier Jahrzehnten bearbeitet hat, wissenschaftlich und publizistisch. Das Spektrum reicht von dem, was heute Geschichtspolitik heißt, über die Ökologie, die Probleme der Migration und des Multikulturalismus bis zur Globalisierung. Inbegriffen sind die Dekolonisation und ihre Folgen, Religionssoziologie und -kritik (nicht nur am Beispiel des Islam!), die Auseinandersetzung mit der populistischen Rechten und der kritische Blick auf eine Linke, die nach Wegen sucht, mit dem Wandel der Arbeitsgesellschaft Schritt zu halten. Viele der Zeitdiagnosen, die Claus Leggewie in diesem Spannungsfeld gestellt hat, haben ihre Wurzeln in einer kritisch gewendeten Frankophilie. »Der amerikanische Freund«, so Leggewies spielerische Anverwandlung eines Titels von Highsmith/ Wenders (Frankfurter Rundschau, 25.9.1982), kommt auch noch hinzu. Das verweist auf die beträchtliche Weltläufigkeit dieses Autors, einen Kosmopolitismus, der freilich Sympathie für den Eigensinn der Provinz nicht ausschließt. Diese Haltung dokumentiert beispielhaft ein Taschenbuch mit dem doppeldeutigen Titel »Der Wahlfisch« (Leggewie/de Miller 1978). Zwei Jahre vor der Gründung der Bundespartei »Die Grünen« in Karlsruhe (1980) zeigt es mittlerweile verschüttete Facetten der damals avantgardistischen französischen Ökobewegung als Reflex auf die »›Modernisierung‹ und Amerikanisierung Frankreichs […], mit der das französische Kapital ein noch atypisch behäbiges und petit-bourgeoises Land einem unifor-
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men transnationalen Kapitalismus stromlinienenförmig anzupassen« im Begriff war. Der Kampf gegen die Betonierung des Elsass wird dort ebenso gewürdigt wie lokale Anti-AKW-Initiativen oder die Affäre um die giftigen Industrieschlämme, die der Konzern Montedison vor Korsika verklappte. In den Blick kommen aber auch die etablierten Parteien und die Gewerkschaften in ihrem Verhältnis zur ökologischen Herausforderung. Beispiel: die linke, aus der katholischen Arbeiterbewegung hervorgegangene Gewerkschaft CFDT (Confédération Française Démocratique du Travail). »Zur gleichen Zeit, in der in der BRD Gewerkschafter in Bussen massenhaft zur Pro-AKW-Demonstration gekarrt wurden, veranstaltete die CFDT […] ein Kolloquium ›Energie und Entwicklungsmodell‹. Bei dieser Veranstaltung traten Arbeiter der AKW-Zentralen und der Wiederaufbereitungsanlage von La Hague auf, die die extremen Sicherheits- und Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz beschrieben und den Bluff von La Hague ans Licht brachten: einer Anlage auf die halb Europa setzt, und die keine der zugesagten Aufgaben hinreichend übernehmen kann.« (Leggewie/de Miller 1978: 19) In demselben Taschenbuch übrigens, das Leggewie und de Miller herausgegeben haben, plädiert André Gorz für ein neues Verständnis der Politik und der Parteien. Das, was in Deutschland »Politikverdrossenheit« heißt, leitet er ab aus der Abstraktheit jener »makropolitischen Globallösungen«, die die etablierten Parteien anbieten. Gorz konstatiert, ausgehend von der Gleichheit der Geschlechter, den Ansprüchen ethnischer Minderheiten und dem Ruf nach Sinn der Arbeit: »Vor allem ist es nicht selbstverständlich, daß unsere tiefgreifenden Erwartungen durch die Etablierung einer neuen, in ihrer Gestalt vorherzubestimmenden Makrostruktur erfüllt werden können. Es scheint eher so, daß sie zu allererst eine Nicht-Ordnung und ein Nicht-System erfordern, d.h. eine Pluralität von Teilstrukturen, die in dauernder Entwicklung stehen und nur aufgrund von Experimenten die Grundlage eines neuen Typs von sozialer Kohäsion entwerfen können. Kurz gesagt, die Zukunft der Politik liegt heute nicht in der Politik; sie liegt in dem, wo sie angezweifelt, überschritten wird und wo in diesem Prozeß das Terrain ihrer Wiedergeburt entstehen könnte.« (Gorz 1978: 75) Damit hat Gorz eine Position beschrieben, die am Anfang jener »großen Transformation« steht, für die Claus Leggewie und Harald Welzer mehr als drei Jahrzehnte später in ihren Überlegungen über »Das Ende der Welt, wie wir sie kannten« eintreten. Überhaupt André Gorz, alias Michel Bosquet. Auch er war eine »French Connection« von Claus Leggewie. Geboren 1923 in Wien als Gerhard Hirsch, flüchtete er unter dem unverfänglichen Namen Gerhard Horst vor dem antisemitischen Furor der Nazis zum Studium in die Schweiz. Nach 1945 wählte er Frankreich zu seiner intellektuellen Heimat. Genauer: die Universalität der französischen Kultur. Der auf Sartres Existenzialphilosophie aufbauende Vordenker eines libertären Sozialismus war in der Linken einflussreich auch als stellvertretender Chefredakteur des Polit-Magazins »Nouvel Observateur«, wo er unter dem »nom de plu-
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me« Michel Bosquet schrieb. Claus Leggewie hat den Autor der »Wege ins Paradies«, zugleich ein heftiger Kritiker prosowjetischer Einäugigkeit der bundesdeutschen Friedensbewegung, in einem Radio-Feature des Westdeutschen Rundfunks porträtiert (Leggewie 1986). Es dürfte im Herbst 1985 gewesen sein, als Claus Leggewie zu einem Interview in das Dörfchen Vosnon in der Champagne fuhr, wo Gorz mit seiner Frau Dorine lebte. Im Kofferraum ein Bandgerät der Marke »Nagra« aus WDR-Beständen – Schweizer Präzisionstechnik, die einen superben Ton macht, zu jener Zeit gewissermaßen die Braut des Reporters. Bei der Grenzkontrolle – trotz EWG herrschten strenge Sitten – verlangte der französische Zöllner eine offizielle Ausfuhrbescheinigung für die »Nagra«. Es entspann sich eine kurze Debatte über Sinn und Unsinn derart bürokratischer Prozeduren, die mit dem klaren Verdikt des Grenzers endete: »Vous êtes refoulé, Monsieur!« (Sie werden abgewiesen, mein Herr). Der unerwünschte Ausländer, schon damals Spezialist für Probleme der Migration, wendete am Schlagbaum, konsultierte die Straßenkarte und überquerte nach ein paar Kilometern auf einer kleinen Landstraße die grüne Grenze nach Frankreich unkontrolliert. Dem Interview mit Gorz, Grundlage des Radio-Features, standen etatistische Ansprüche der République Française nicht mehr im Wege … Ein wenig erinnert dieser trickreiche Umgang mit der Staatsmacht an die Praxis jener »Kofferträger«, die während des Algerienkrieges die Widerständler der Front de Libération Nationale (FLN) unterstützten (Leggewie 1984). Auch hier gehört ein Radio-Feature, in dem etliche Recherchen und Interviews gebündelt sind, zu den Schätzen, die sich aus dem Schallarchiv des WDR heben lassen (Leggewie 1983). Wer diese Sendung jemals gehört hat, der wird den rheinischen Singsang der Kölner Putzmacherin Leni Niclas so schnell nicht aus den Ohren kriegen: »Ich hatte damals drei Hutjeschäfte, und das eine war in Nippes, und da hat sich alles abjspielt, da hatten wir hinten im Laden noch ein jroßes Zimmer, und da sind die dann immer hinjekommen.« »Die«, das waren Kuriere mit Geld, Dokumenten und Propagandamaterial der FLN, die den Laden des trotzkistischen Ehepaares Jungclas als Anlaufstelle nutzten. Die Geschichte dieser Kofferträger ist zum einen ein veritabler PolitThriller mit Waffenhändlern, Attentaten und Auto-Verfolgungsjagden. Zum anderen führt sie (Originalton Leggewie) »in paläontologische Schichten des Internationalismus« und erklärt z.B. wie ein sozialdemokratischer Politiker namens Hans Jürgen Wischnewski schon in jungen Jahren zu seinen erstklassigen Verbindungen in die arabische Welt kam – nämlich als Unterstützer der algerischen Befreiungsfront. Ein Stück Zeitgeschichte, reportagehaft beschrieben. Bei seinen Grenzgängen jenseits des Rheins ist Claus Leggewie den Spuren des Besatzungsregimes der Wehrmacht nachgegangen. Sowohl die deutschen als auch die französischen Anteile an Kollaboration und Judenverfolgung hat er einem deutschen Publikum erklärt. Die allmähliche Selbstaufklärung der Franzosen über die »années noires« – sie begann
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mit einer Studie des US-Historikers Robert O. Paxton –, führt gegen Ende der Ära Mitterand zur Entmythisierung der Résistance. An diesem Thema lässt sich schon früh Leggewies geschichtspolitisches Interesse ablesen, das in Rundfunk- und Zeitungsbeiträgen Niederschlag fand. Wie der Prozess gegen Klaus Barbie, den Gestapo-Chef von Lyon, in den 1980er Jahren die französische Republik entzweite, die heute die Erinnerung an den Holocaust zur Staatsangelegenheit gemacht hat, steht in Leggewies »Zeit«-Artikel »Bruder Barbie« – samt einem Interview mit Jacques Vergès, dem umstrittenen Barbie-Verteidiger, der dieses Verfahren auch dazu benutzen wollte, Frankreichs dubiose kolonialpolitische Vergangenheit anzuprangern (Die Zeit, 22.07.1983). Auch zu diesem schwierigen Themenkomplex gibt es eine schräge Anekdote aus dem journalistischen Alltag: Am Vorabend des Barbie-Prozesses, der am 11. Mai 1987 begann, war im Pariser ORTF-Gebäude eine Diskussionsrunde für den Südwestfunk angesetzt, die von Gustav Stern – im Nouvel Observateur schrieb er unter dem Namen Gérard Sandoz –, dem Historiker Joseph Rovan, Claus Leggewie und mir bestritten werden sollte. Rovan war in diesem Panel die Rolle des advocatus diaboli zugedacht. Der ehemalige Résistant und KZ-Häftling, geboren als Joseph Rosenthal in München, hatte sich vehement gegen das Verfahren ausgesprochen, da er fürchtete, der Prozess werde wegen der Thematisierung der Kollaboration das Bild des widerständigen Frankreich beschädigen. – Schon die Anreise zu diesem Debattentermin war mühsam – Air France wurde mal wieder bestreikt – und anstelle des Pariser SWF-Korrespondenten, bei dem mittags eine Vorbesprechung stattfinden sollte, öffnete (und schloß) eine attraktive junge Dame im Négligé die Wohnungstür. Sie beschied uns kurz, ihr Freund sei wegen des Streiks in Nizza hängengeblieben. Im Eilmarsch – Taxi war nicht zu kriegen – erreichten wir den Rundbau der ORTF am anderen Seine-Ufer. Ein Tontechniker war erstmal nicht zur Stelle. Als er endlich kam, fehlte Joseph Rovan, der dann am Telefon behauptete, man sei erst für den folgenden Tag verabredet. Wir hingen wie die Glocken, lieferten aber im Dreierpack eine nach Aussage des Redakteurs achtbare Diskussion. Hernach gab Rovan zu, er habe den Termin schlicht vergessen. C’est la vie. Wovon noch zu reden wäre, das sind die mittlerweile zahllosen publizistischen Interventionen von Claus Leggewie in Multikulti-, Moscheeund Islamdebatten, die kontroversen Beiträge zur Hochschul- und Wissenschaftspolitik, dazu sein Interesse an den neuen elektronischen Medien und politischer Vernetzung via Internet. Oder die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, etwa am Beispiel seines akademischen Lehrers, des Kölner Historikers Theodor Schieder, und am Fall des Aachener Germanistik-Professors Schwerte, der als SS-Mann noch Schneider hieß. Auch im »Kursbuch«, diesem seismographischen Periodikum der Bundesrepublik, hat Claus Leggewie seine Spuren hinterlassen. Der seltene Fall eines Wissenschaftlers, der auch journalistisch denken kann, seinem Publikum Forschungsergebnisse übersetzt und eine menschenfreundli-
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che Prosa schreibt: Bücher, Rundfunk-, Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge, allesamt dokumentiert im WDR-Archiv. Fazit: Es ist spannend, einem Zeitgenossen zu folgen, der allzeit wach und gesprächsbereit auf die laufenden Ereignisse blickt – von Obama bis zur »Ruhr 2010« und den Resultaten des 1. FC Köln. In diesem Sinne und in alter Freundschaft: ad multas emissiones, ad multos annos!
L ITER ATUR Gorz, André (1978): Die Politik ist nicht mehr in der Politik. In: Claus Leggewie/Roland de Miller (Hg.), Der Wahlfisch. Ökologiebewegungen in Frankreich, Berlin: Merve Verlag, S. 72-76. Leggewie, Claus (1986): »Die ich wählte, wiesen mich ab; die ich abwies, wählten mich …« Die Geschichte des André Gorz zwischen Österreich, Frankreich und Deutschland«. WDR 3, 20.02.1986; Red.: Lothar Fend. Leggewie, Claus (1983): Geheime Treffs im Hutgeschäft. Wie in den 50er Jahren von der Bundesrepublik aus der Befreiungskampf der Algerier unterstützt wurde. WDR 3, 20.01.1983; Red. Lothar Fend. Leggewie, Claus (1984): Kofferträger. Das Algerien-Projekt der Linken im Adenauer-Deutschland, Berlin: Rotbuch Verlag. Leggewie, Claus/de Miller, Roland (Hg.) (1978): Der Wahlfisch. Ökologiebewegungen in Frankreich, Berlin: Merve-Verlag.
P UBLIK ATIONSNACHWEISE ZU DEN TE X TEN VON C L AUS L EGGE WIE Für den Wiederabdruck haben wir die Rechtschreibung an heutige Konventionen angepasst, die Zitierweise an das Format des vorliegenden Bandes angeglichen und Schreibfehler überarbeitet.
Erinnerungskulturen Leggewie, Claus (2009): Schlachtfeld Europa. Transnationale Erinnerung und europäische Identität. Blätter für deutsche und internationale Politik 2, S. 81-93. Leggewie, Claus (2005): Amerika und Europa: Zwei Wege zu Gott? In: Hermann Strasser/Gerd Nollmann (Hg.), Endstation Amerika, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 185-201. Leggewie, Claus (2007): »Meine Bilder sind klüger als ich«. Gerhard Richter und die deutsche Erinnerungskultur. In: Irmgard Bohunovsky-Bärnthaler (Hg.), Kunst ist gestaltete Zeit. Über das Altern, Klagenfurt: Ritter Verlag, S. 242-256.
Demokratiekulturen Leggewie, Claus/Meier, Horst (1995): Republikschutz. Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie. Reinbek: Rowohlt, S. 341-350. Leggewie, Claus (neu): Gibt es ein Leben nach der Demokratie? Herausforderungen des Westens durch eine Naturgefahr. Leggewie, Claus (1997): Netizens oder: Der gut informierte Bürger heute. Transit 13, S. 3-25.
Multikultur Leggewie, Claus/Stemmler, Susanne [Interview] (i.V.): Blick zurück nach vorn: Begriffsgeschichte Multikulturalismus. In: Susanne Stemmler (Hg.), Beyond Multiculturalism. Fragen an die Einwanderungsgesellschaft, ersch. 2010. Leggewie, Claus (1994): Das Ende der Lebenslügen: Plädoyer für eine neue Einwanderungspolitik. In: Klaus J.Bade (Hg.), Das Manifest der 60. Deutschland und die Einwanderung, München: C.H. Beck. S. 5560.
Generationenkonflikte Leggewie, Claus (1996): Der Mythos des Neuanfangs – Gründungsetappen der Bundesrepublik Deutschland: 1949-1968-1989. In: Helmut Berding (Hg.), Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des
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kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 3, Frankfurt a.M.: suhrkamp, S. 275-30. Bergmann, Jörg/Leggewie, Claus (1993): Die Täter sind unter uns. Beobachtungen aus der Mitte Deutschlands. Kursbuch 113, S. 7-37. Leggewie, Claus (1996): »Ihr kommt nicht mit bei unseren Änderungen!« Die 89er – Generation ohne Eigenschaften? Transit 11, S. 3-17.
Wissenschaftskulturen Leggewie, Claus (2008): Die lieben Kollegen/Brüder im Geiste. Kleine Soziologie wissenschaftlicher Kollegenschaft. In: K. Junge, D. Suber, G. Gerber (Hg.), Festschrift für Bernhard Giesen: Erleben, Erleiden, Erfahren: Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft, Bielfeld: transcript, S. 215-228. Bieber, Christoph/Leggewie, Claus [Interview] (neu): Cyberwissenschaft? Ein virtueller Dialog. Heidbrink, Ludger/Leggewie, Claus/Welzer, Harald (2007): Von der Natur- zur sozialen Katastrophe. Wo bleibt der Beitrag der Kulturwissenschaften zur Klimadebatte? Ein Aufruf. In: Die Zeit 45 (1. November).
Für die Bereitstellung der Originaltexte von Claus Leggewie danken wir den jeweiligen Verlagen.
A UTORINNEN UND A UTOREN Benjamin R. Barber, Ph.D., Präsident von CivWorld bei Demos in New York und em. Professor für Politikwissenschaft an der Rutgers University (New Jersey). Sigrid Baringhorst, Dr. phil., Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Siegen. Marcel Baumgartner, Dr. phil., Professor für Kunstgeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ulrich Beck, Dr. phil., em. Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, ist British Journal of Sociology Visiting Centennial Professor an der London School of Economics and Political Science und Senior Research Fellow an der Harvard University. Klaus von Beyme, Dr. phil., em. Professor und Ordinarius am Institut für politische Wissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Jörg R. Bergmann, Dr. rer. soc., Professor für Qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung an der Universität Bielefeld. Christoph Bieber, Dr. rer. soc., Wissenschaftlicher Assistent an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Georg Bollenbeck, Dr. phil., Professor für Germanistische Literaturwissenschaft/Kulturwissenschaft an der Universität Siegen. Micha Brumlik, Dr. phil., Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. Brun-Otto Bryde, Dr. iur., Richter des Bundesverfassungsgerichts und Professor für Öffentliches Recht und Wissenschaft von der Politik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Heinz Bude, Dr. phil., Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Detlev Claussen, Dr. phil., Professor für Gesellschaftstheorie, Kulturund Wissenschaftssoziologie der Leibniz Universität Hannover. Diedrich Diederichsen, Professor für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst an der Akademie der bildenden Künste Wien.
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Dan Diner, Dr. phil., Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig und Professor am Historischen Seminar. Benjamin Drechsel, Dr. rer. soc., Politikwissenschaftler. Adalbert Evers, Dr. rer. pol., Professor für Vergleichende Gesundheitsund Sozialpolitik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Svenja Falk, Dr. rer. soc., Partner bei Accenture, lebt in Bangalore. Norbert Frei, Dr. phil., Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Leiter des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Günter Frankenberg, Dr. phil., Dr. jur., Professor für Öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. Alfred Grosser, Dr. phil., Publizist und em. Professor am Institut d’études politiques (Sciences Po) in Paris; Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 1975. Ludger Heidbrink, Dr. phil., Professor für Corporate Responsibility und Corporate Citizenship an der Universität Witten/Herdecke sowie Direktor des Center for Responsibility Research (CRR) am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Friedrich Jaeger, Dr. phil., apl. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Witten/Herdecke. Eckhard Jesse, Dr. phil., Professor für politische Systeme, Politische Institutionen der TU Chemnitz und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft 2007-2009. Otto Kallscheuer, Dr. phil. habil., Philosoph, Politologe und derzeit Professor für politische Theorie an der Universität Sassari. Siobhan Kattago, Dr. phil., Dozentin für politische Philosophie an der Universität Tallinn. Navid Kermani, Dr. phil., Orientalist und Schriftsteller; Senior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Karen Körber, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Transnationale Familiarität« an der Philipps-Universität Marburg.
A UTORINNEN UND A UTOREN
Andrian Kreye hat von 1988 bis 2006 in den USA gelebt und gearbeitet. Seit 2007 ist er einer der beiden Leiter des Feuilletons der Süddeutschen Zeitung. Anne-Katrin Lang, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Geert Lovink, Ph.D., Medientheoretiker und -aktivist, als Direktor leitet er das Institute of Network Cultures in Amsterdam. Albrecht von Lucke, Jurist und Politikwissenschaftler, Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik (www.blaetter.de). Franz Mauelshagen, Dr. phil., Research Fellow und Koordinator des Forschungsschwerpunkts KlimaKultur am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Horst Meier, geb. 1954, Dr. jur., Autor, lebt in Kassel (www.horst-meierautor.de). Dirk Messner, Dr. rer. pol., Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). Erik Meyer, Dr. rer. soc., Politikwissenschaftler. Weitere Informationen finden sich in seinem Weblog unter www.memorama.de. Sighard Neckel, Dr. phil., Professor für Allgemeine Soziologie und Analyse der Gegenwartsgesellschaft an der Universität Wien. Michael Nentwich, Dr. jur., Leiter des Instituts für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Hans Joachim Schellnhuber CBE, Dr. rer. nat., Direktor des PotsdamInstituts für Klimafolgenforschung und Professor für Theoretische Physik an der Universität Potsdam. Wolfgang Schmale, Dr. phil., o. Univ.-Professor für Geschichte der Neuzeit. Barbara Sichtermann, Journalistin und Schriftstellerin. Susanne Stemmler, Dr. phil., Leiterin des Bereichs Literatur, Wissenschaft und Gesellschaft am Haus der Kulturen in Berlin.
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Rita Süssmuth, Dr. Dr. h.c. mult., Bundestagspräsidentin a.D. und Präsidentin des deutschen Hochschulkonsortiums der Deutsch-Türkischen Universität (DTU); seit 2003 Honorarprofessorin am Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen. Bernd Sommer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Wolfgang Stenke, freier Rundfunkjournalist, arbeitet für Kulturprogramme von WDR, DLF, SWR sowie andere Sender der ARD. Klaus Töpfer, Dr. Dr. h.c. mult., Exekutivdirektor des Institute for Advanced Sustainability Studies e.V. (IASS, Potsdam), ehem. Executive Director des United Nations Environment Programme (UNEP) in Nairobi und Professor für Umwelt und nachhaltige Entwicklung an der TongjiUniversität in Shanghai. Stefan Troebst, Dr. phil., Historiker, Professor für Kulturstudien Ostmitteleuropa an der Universität Leipzig und stv. Direktor des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), ebenfalls in Leipzig. Heidemarie Uhl, Dr. phil., Univ.-Dozentin für Zeitgeschichte und Mitarbeiterin des Forschungsprogramms Orte des Gedächtnisses an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Hans-Ulrich Wehler, Dr. phil., em. Professor für Allgemeine Geschichte der Universität Bielefeld. Harald Welzer, Dr. phil., Professor für Sozialpsychologie an den Universität Hannover und Witten/Herdecke sowie Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research (CMR) am Kulturwissenschaftlich Institut Essen (KWI). Michael Werz, Dr. phil., Senior Fellow am Center for American Progress und Adjunct Professor für German and European Studies der Georgetown University (Washington D.C.). Dariuš Zifonun, Dr. rer. soc., Professor für Soziologie an der Alice Salomon Hochschule Berlin.
D ANK Auf dem Umschlag dieses Bandes stehen die Namen dreier HerausgeberInnen. Doch wäre die Publikation nicht ohne die tatkräftige Unterstützung einiger Kolleginnen und Kollegen möglich gewesen. An dieser Stelle soll daher insbesondere Maria Klauwer, Norbert Jegelka, Eva Schwab sowie Susanne Beer, Armin Flender, Jens Kroh, Marcel Siepmann, Bernd Sommer und zahlreichen anderen KollegInnen am Kulturwissenschaftlichen Institutes Essen (KWI) für wichtige und kluge Hinweise sowie ihren unermüdlichen Einsatz gedankt werden. Ein ebenso herzlicher Dank gebührt Almut Gehebe-Gernhardt, die die Verwendung der Zeichnung ermöglicht hat. Das Portrait ist während des Fellowships am Wissenschaftskolleg zu Berlin entstanden, welches Robert Gernhardt und Claus Leggewie im akademischen Jahr 1999/2000 gemeinsam absolviert haben.
Edition Kulturwissenschaft Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Das Prinzip »Osten« Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums November 2010, 180 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1564-7
Roland Innerhofer, Katja Rothe, Karin Harrasser (Hg.) Das Mögliche regieren Gouvernementalität in der Literaturund Kulturanalyse Dezember 2010, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1474-9
Claus Leggewie, Anne-Katrin Lang, Darius Zifonun (Hg.) Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften April 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1327-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de