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German Pages 684 [689] Year 2020
JUS PRIVATUM Beiträge zum Privatrecht Band 86
Ina Ebert
Pönale Elemente im deutschen Privatrecht Von der Renaissance der Privatstrafe im deutschen Recht
M o h r Siebeck
Ina Ebert, geboren 1964 in Berlin; 1983-1988 Studium der Rechtswissenschaft und Geschichte an der Freien Universität Berlin; 1988 Referendarexamen; 1988-1991 Referendariat; 1989-1997 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Rechtsgeschichte des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin; 1991 Assessorexamen; 1995 Promotion; 1997-2003 Wissenschaftliche Assistentin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel; 2002 Habilitation; SS 2003 Lehrstuhlvertretung an der Juristischen Fakultät der RuprechtKarls-Universität Heidelberg; WS 2003/2004 Lehrstuhlvertretung am Institut für Rechtsgeschichte der Juristischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der V G Wort.
978-3-16-157943-1 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019 I S B N 3-16-148174-7 ISSN 0940-9610 Qus Privatum)
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2004 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Guide Druck in Tübingen aus der Garamond belichtet, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Prof. Dr. Manfred Hinz (1936-2001)
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel im Dezember 2002 als Habilitationsschrift angenommen. Nach diesem Zeitpunkt erschienene Literatur und Rechtsprechung konnte zum Teil noch bis August 2003 eingearbeitet werden. Unberücksichtigt bleiben musste jedoch die Anfang 2002 fertiggestellte, aber bislang noch unveröffentlichte Habilitationsschrift von Ute Walter zur Geschichte des Schmerzensgeldes sowie die 2003 erschienene Habilitationsschrift von Nils Jansen zur Struktur des Haftungsrechts. Mein herzlicher Dank gilt in erster Linie und vor allem Prof. Dr. Jörn Eckert für die jahrelange vorbildliche Unterstützung, Fürsorge und Förderung, mit der er meine Arbeit von der Themenfindung bis zum Habilitationsverfahren und darüber hinaus begleitet hat, für sein Vertrauen, seine stete Bereitschaft zu kritischer Auseinandersetzung und seine Geduld. Von ihm habe ich viel gelernt und auf ihn gehen zahlreiche wertvolle Anregungen zurück, die in die Arbeit eingeflossen sind. Zudem bot mir die Beschäftigung an seinem Lehrstuhl in jeder Hinsicht die optimalen Voraussetzungen für die Anfertigung dieser Arbeit, zu der es anderenfalls sicher nicht gekommen wäre. Zu danken habe ich ferner der VG Wort für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses und dem Mohr Siebeck Verlag für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Jus Privatum. Prof. Dr. Rudolf Meyer-Pritzl danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens und die Unterstützung im Habilitationsverfahren. Kiel, im Herbst 2003
Ina Ebert
Inhaltsübersicht Abkürzungsverzeichnis A. Einleitung
XIX 1
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland
I.
vor dem BGB
13
Das deutsche Recht bis zur Rezeption
14
II. Das Zeitalter des Usus modernus
50
III. Die Gesetzgebung in den deutschen Partikularstaaten
103
IV. Das späte gemeine Recht
188
V. Die Reichsgesetzgebung vor dem BGB
204
VI. Reformbestrebungen im Vorfeld des BGB
230
C. Pönale Elemente der Privatrechtsordnung unter dem BGB . . 247 I.
Die Ausgangsposition des Gesetzgebers
248
II. Regelungen mit vorrangig oder ausschließlich pönaler Zielsetzung . . . .
252
III. Sonstige Regelungen mit pönalem Einschlag außerhalb des Deliktsrechts
366
IV. Pönale Elemente im Deliktsrecht
409
V. Pönale Elemente und die Vereinheitlichung des europäischen Deliktsrechts
567
D. Ergebnisse
573
Literaturverzeichnis
579
Sachverzeichnis
651
Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis A. Einleitung B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB I. Das deutsche Recht bis zur Rezeption 1. Täter-Opfer-Ausgleich bis zum Hochmittelalter a) Rechtsbruch als Störung der Friedensordnung b) Fehde und Sühnevertrag c) Das Bußensystem der fränkischen Zeit und des frühen Mittelalters aa) Die Bestandteile der Buße bb) Höhe und Festsetzung der Bußleistung cc) Scheinbußen dd) Bußzahlungspflicht und Zahlungsunfähigkeit d) Prozessrecht im Früh- und Hochmittelalter aa) Anklageprozess und Parteibetrieb bb) Einzelne Klagearten bei Rechtsbrüchen (1) Das Handhaftverfahren (2) Die Anefangsklage 2. Die Entstehung des modernen Strafrechts a) Die Einflüsse von Christentum und Kirchenrecht aa) Täterorientierung des Strafrechts bb) Kanonistische Schuldlehre b) Mittelalterliche Massenkriminalität und ihre Bekämpfung . . . . c) Gottes- und Landfriedensbewegung d) Die Ausbreitung der peinlichen Strafe e) Das Wergeid im Hoch- und Spätmittelalter 3. Die Entstehung des Schadensersatzrechts a) Deliktsrecht im römischen Recht bis Justinian aa) Die actio legis Aquiliae bb) Die actio iniuriarum cc) Konkurrenzen
XIX 1
13 14 15 15 16 17 17 18 20 21 21 21 22 22 23 25 25 25 26 27 28 30 31 32 34 35 37 42
XII
Inhaltsverzeichnis dd) Ergebnis b) Deliktsrecht im sächsischen Rechtskreis c) Deliktsrecht im fränkischen Rechtskreis
II. Das Zeitalter des Usus modernus 1. Pönale Elemente im Privatrecht des 16. bis 18. Jahrhunderts a) Der Grenzbereich zwischen Privat- und Strafrecht b) Einflüsse des kanonischen Rechts 2. Der Ersatz von Vermögensschäden: Die actio legis Aquiliae a) Die U m f o r m u n g der actio legis Aquiliae durch die Glossatoren und Konsiliatoren b) Die Weiterentwicklung der aquilischen Haftung durch den U s u s modernus aa) Anwendungsbereich und Tatbestandsvoraussetzungen . . . . bb) Die Entpönalisierung der aquilischen Haftung (1) Die Rückrechnung bei der Ermittlung der Höhe des Schadensersatzes (2) Die Litiskreszenz (3) Die kumulative Haftung mehrerer Schädiger (4) Die passive Unvererblichkeit 3. Nichtvermögensschäden und andere Persönlichkeitsrechtsverletzungen a) Die Injurienklage aa) Der Anwendungsbereich der Injurienklage (1) Haftungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen der actio iniuriarum (2) Verhältnis der Injurienklage zum Strafrecht und zur actio legis Aquiliae bb) Die Kritik der Rechtswissenschaft an der Injurienklage . . . cc) Die Rechtsnatur der Injurienklage dd) Die Injurienklage und die Partikulargesetzgebung b) Die Klage auf Ehrenerklärung, Abbitte oder Widerruf aa) Mittelalterliche Wurzeln und Vorläufer bb) Die Ausgestaltung in gemeinrechtlicher Zeit cc) Rechtsnatur und Verhältnis zur actio iniuriarum c) Die Entschädigung von Nichtvermögensschäden aa) Die Anerkennung von Entschädigungsansprüchen wegen Nichtvermögensschäden (1) Schmerzensgeld (2) Entschädigung für Narben und Verstümmelungen . . . . (3) Der Dotationsanspruch (4) Trostgeld für seelischen Schmerz bb) Rechtsgrund und Rechtsnatur
43 43 46 50 50 50 52 56 56 57 57 58 59 60 60 61 62 64 65 65 67 70 72 75 76 77 78 81 82 82 83 85 86 86 87
Inhaltsverzeichnis 4. Besonderheiten des sächsischen Rechts a) Das Wergeid aa) Anwendungsbereich im 16.-18. Jahrhundert bb) Rechtsnatur b) Die Sachsenbuße 5. Naturrechtliche Einflüsse III. Die Gesetzgebung in den deutschen Partikularstaaten
XIII 90 93 96 97 98 99 103
1. Der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis a) Die Trennung von Privat- und Strafrecht b) Das Schadensersatzrecht c) Die privatrechtlichen Folgen von Injurien aa) Die actio iniuriarum aestimatoria bb) Widerruf, Abbitte und Ehrenerklärung cc) Die Rechtsnatur der Rechtsbehelfe gegen Injurien nach dem C M B C 2. Preußen a) Das Schadensersatzrecht des A L R aa) Schadensersatz für Vermögensschäden bb) Schmerzensgeld und Verunstaltungsentschädigung b) Die Rechtsfolgen von Injurien aa) Schadensersatz bb) Privatgenugtuung
103 104 105 107 109 110
3. Der französische Rechtskreis in Deutschland a) Der C o d e civil und die französische Rechtspraxis im 19. Jahrhundert b) Baden aa) Die A n w e n d u n g der schadensersatzrechtlichen Generalklausel bb) Die Wiedereinführung von Privatstrafen für Injurien cc) Schadensersatz bei Körperverletzungen und Ehrkränkungen c) Die Behandlung von Nichtvermögensschäden in den übrigen Rheinlanden 4. Das österreichische A B G B a) Schadensersatz für Vermögensschäden b) Nichtvermögensschäden aa) Schmerzensgeld bb) Verunstaltung cc) Freiheitsentziehung dd) Ehrverletzungen ee) Verführung und Vergewaltigung ff) Sondergesetze
126
111 111 111 112 117 121 122 122
127 129 129 131 133 135 138 139 143 151 155 157 159 161 163
XIV
Inhaltsverzeichnis
5. Das Sächsische BGB a) Vermögensschäden b) Nichtvermögensschäden aa) Schmerzensgeld und Schädengeld bb) Die Sachsenbuße cc) Der Dotationsanspruch 6. Privatgenugtuung und Injurienklage in der Gesetzgebung der Einzelstaaten a) Preußen b) Die Injurienklage in der Gesetzgebung der übrigen deutschen Staaten IV. Das späte gemeine Recht 1. Vermögensschäden 2. Nichtvermögensschäden und andere Persönlichkeitsrechtsverletzungen a) Das Schmerzensgeld b) Die Injurienklage V. Die Reichsgesetzgebung vor dem BGB 1. Das Ende der Injurienklage 2. Die Geldbußen a) Die Ausgestaltung der Geldbuße im StGB aa) Voraussetzungen bb) Rechtsfolgen cc) Rechtsnatur und praktische Bedeutung b) Geldbußen als Mittel zum Immaterialgüterschutz 3. Die Veröffentlichung des Strafurteils als Form der Privatgenugtuung 4. Das Adhäsionsverfahren VI. Reformbestrebungen im Vorfeld des BGB 1. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht 2. Die Abstufung der Haftung bei Vermögensschäden nach dem Verschuldensgrad
C. Pönale Elemente der Privatrechtsordnung unter dem BGB . . . . I. Die Ausgangsposition des Gesetzgebers II. Regelungen mit vorrangig oder ausschließlich pönaler Zielsetzung . . . 1. Die „Strafen" des Privatrechts a) Vertragsstrafen aa) Die Vertragsstrafe der §§339ff. BGB
166 167 167 168 173 173 175 176 182 188 189 192 192 197 204 204 207 208 208 214 216 221 224 228 230 230 240
247 248 252 252 254 254
Inhaltsverzeichnis
XV
bb) D u r c h Gesetze oder Rechtsverordnungen angeordnete Vertragsstrafen cc) Vertragsstrafenähnliche Rechtsinstitute (1) § 6 5 4 B G B
258 260 260
(2) D i e Leistungsfreiheit des Versicherers bei Obliegenheitsverletzungen b) Vereinsstrafen
265 276
aa) Rechtsnatur
277
(1) D i e Auffassung des B G H
278
(2) D i e Auffassung der herrschenden Lehre
281
(3) D i e Auffassung Reuters
283
(4) Stellungnahme
285
b b ) Die Vereinsstrafe als pönales Element des deutschen Privatrechts
290
c) Betriebsbußen
292
aa) Zielsetzung und Rechtsnatur
295
bb) D i e rechtliche Grundlage der Betriebsbuße
298
(1) Hintergrund der dogmatischen Einordnungsprobleme (2) Ansätze zur Begründung der Betriebsstrafenlehre . . . .
298 304
(a) Ältere Begründungsansätze
304
(b) D e r Tarifvertrag
306
(c) Betriebsgemeinschaft und Betriebsautonomie
306
(d) § § 8 7 , 88 B e t r V G
308
(e) Die Strafgewalt der Betriebspartner als Gewohnheitsrecht (aa) Betriebsjustiz als lang anhaltende Ü b u n g . . . .
310 310
(bb) D e r Rechtsgeltungswille der Beteiligten bis 1945
311
(cc) D i e Strafgewalt der Betriebspartner nach 1945
312
(dd) D i e Strafgewalt der Betriebspartner und das Grundgesetz
320
(ee) Rechtspolitische Bedeutung als Hindernis gewohnheitsrechtlicher Geltung? (3) Betriebsbußen und Vertragsstrafen (a) Die Vertragsstrafenlehre
325 326 326
(b) Die Zulässigkeit von Vertragsstrafen im R a h m e n von Arbeitsverhältnissen (c) Betriebsbußen als Vertragsstrafen?
326 329
(d) Abgrenzung von Betriebsbußen und Vertragsstrafen im Arbeitsrecht
330
XVI
Inhaltsverzeichnis
cc) Die Betriebsbuße als pönales Element des deutschen Privatrechts 2. §890 Z P O 3. §611 a BGB und der Schutz vor Diskriminierung a) Gesetzgebungsgeschichte bis 1998 b) §611 aBGBi.d.F. von 1998 aa) Umfang, Höhe und Rechtsnatur des Entschädigungsanspruchs (1) Vermögensschäden (2) Nichtvermögensschäden (3) Strafaufschläge zur Erhöhung der Abschreckungswirkung (4) Besonderheiten der Entschädigung gemäß §611 a III BGB (5) Rechtsnatur bb) Die Anspruchsberechtigung „professioneller Diskriminierungskläger" cc) Das Diskriminierungsverbot und die deutsche Privatrechtsordnung
331 332 335 336 344 346 347 349 350 352 353 355 359
III. Sonstige Regelungen mit pönalem Einschlag außerhalb des Deliktsrechts 1. Regelungen zur Risikoverteilung nach Billigkeit a) §817 S.2 BGB aa) Rechtsnatur bb) §817 S.2 BGB und Anspruchsgrundlagen außerhalb des Bereicherungsrechts b) Das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion c) Die Behandlung der Wucherfälle d) §241 a BGB e) Die Handelndenhaftung im Gesellschaftsrecht 2. Gesetzliche Vermutungen a) Ausschluss des Anspruchs auf Finderlohn b) Die Befugnis zur Entziehung des Pflichtteils c) Erbunwürdigkeit d) Inventaruntreue e) §288 BGB 3. Pönale Elemente im Familienrecht
374 376 379 389 391 393 393 395 397 401 403 404
IV. Pönale Elemente im Deliktsrecht 1. Die Funktionen des Deliktsrechts 2. Pönale Aspekte bei der Bestimmung des Haftungsumfangs a) §826 BGB b) Verschuldensabhängige Abstufungen beim Schmerzensgeld . . .
409 409 414 414 415
366 368 368 369
Inhaltsverzeichnis c) Der Streit um die Einführung einer allgemeinen Haftungsabstufung aa) Reformansätze während der NS-Zeit bb) Reformbestrebungen nach 1945 d) Die Haftung des Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber 3. Pönale Aspekte bei der Berechnung der Höhe von Vermögensschäden 4. Das BGB und die Entschädigung für Persönlichkeitsrechtsverletzungen a) Das Schmerzensgeld aa) Das Konzept des BGB-Gesetzgebers bb) § 847 BGB a.F. in der Praxis cc) Die Neuregelung des Schmerzensgeldanspruchs 2002 dd) Die Rechtsnatur des Schmerzensgeldes - Stellungnahme . . b) Von der „weiblichen Geschlechtsehre" zur sexuellen Selbstbestimmung aa) Das Konzept des BGB zum Schutz der „weiblichen Geschlechtsehre" bb) Die Rechtsnatur der Ansprüche cc) Die Reformen von 1998/2002 c) Die Geldentschädigung für Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aa) Das Konzept des BGB-Gesetzgebers bb) Der Persönlichkeitsrechtsschutz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts cc) Persönlichkeitsrechtsschutz unter dem G G (1) Die Rechtsprechung des B G H (2) Reaktionen der Rechtswissenschaft und unterinstanzlichen Gerichte (3) Das Bundesverfassungsgericht (4) Der Gesetzgeber (5) Neuere Reformpläne dd) Stellungnahme
XVII
417 419 423 436 442 446 448 448 452 462 464 469 470 474 477 478 482 485 488 491 498 502 506 511 514
5. Punitive damages und deutsches Recht
525
6. Die Reprivatisierung des Strafrechts a) Das Adhäsionsverfahren b) Das Ende der Bußen des StGB und der Nebengesetze aa) §231 StGB a.E bb) §188 StGB a.F. cc) Die Bußen des Immaterialgüterrechts und ihre Nachfolger
531 532 534 534 536 544
XVIII
Inhaltsverzeichnis (1) Das Ende der Entschädigungsbußen im Immaterialgüterrecht (2) Die dreifache Schadensberechnung (3) Die doppelte Lizenzgebühr c) Täter-Opfer-Ausgleich d) Die Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz e) Die privatrechtlichen Rechtsfolgen von Ladendiebstählen . . . .
V. Pönale Elemente und die Vereinheitlichung des Deliktsrechts Europas
544 544 545 548 557 560 567
D. Ergebnisse
573
Literaturverzeichnis
579
I. Ungedruckte Quellen II. Gedruckte Quellen
579 579
III. Literatur
584
Sachverzeichnis
651
Abkürzungsverzeichnis (Ergänzend
ABGB abl. Abtlg. AE AG AGB AGO ALR AOG AT Bl. Cap. Cc CCC C.C.M.
CMBC Cod. DBE dies. Dig. DiskE DJT DKK EBV ErfK FKHES GbR GK GoA GS
zu den Abkürzungen
in H. Kirchner, Abkürzungsverzeichnis 4. Auflage, Berlin 1993)
der
Rechtssprache,
Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch ablehnend Abteilung Alternativ-Entwurf Amtsgericht Appellationsgericht Allgemeines Gesetzbuch Allgemeine Geschäftsbedingungen Allgemeine Gerichtsordnung Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten Gesetz zur Organisation der nationalen Arbeit Allgemeiner Teil Blatt Caput Code civil Constitutio Criminalis Carolina Corpus constitutionum Marchicarum oder Königl.-Preuß. und Churfürstl.-Brandenburgische in der Chur- und Marek-Brandenburg auch incorporirten Landen publicirte und ergangene Ordnungen, Edicta, Mandata, Rescripta, Berlin 1744-1751. Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis Codex Deutsche Bibliographische Enzyklopädie, 10 Bde, München u.a. 1999. dieselbe(n) Digesten Diskussionsentwurf Deutscher Juristentag W. Däubler/M. Kittner/Th. Klebe (Hg.), BetrVG, Kommentar für die Praxis, 6. Auflage 1998. Eigentümer-Besitzer-Verhältnis Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, hg. Th. Dieterich u.a., 2. Auflage, München 2001. K. Fitting/H. Kaiser/F. Heither/G. Engels/I. Schmidt (Hg.), Betriebsverfassungsgesetz, 20. Auflage, München 2000. Gesellschaft bürgerlichen Rechts Gemeinschaftskommentar, hg. von F. Fabricius, A. Kraft, G. Wiese, P. Kreutz, H. Oetker, 6. Auflage, Neuwied/Kriftel 1998. Geschäftsführung ohne Auftrag Gesetzessammlung
XX Hk HRG Inst. JB1 jew. Kap. KK LandR LexMA Üb. Mot. n. N.C.C.M.
a.F. NS
OAG OGH OR öst. preuß. Prot. QRefE RKGO röm. RPO sächs. SAT SBT SchuldR Slg. Ssp StrafR T. Th. Tit. TOA ZGB
Abkürzungsverzeichnis Handkommentar Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 5 Bde, hg. von A. Erler u. E. Kaufmann, Berlin 1971-1998. Institutionen Juristische Blätter jeweils Kapitel Karlsruher Kommentar zur Strafprozeßordnung, hg. von G. Pfeiffer, 4. Auflage, München 1999. Landrecht Lexikon des Mittelalters, 9 Bde, Stuttgart/Weimar 1977ff. über Motive nota Novum corpus constitutionum Prussico-Brandenburgensium praecipue Marchicarum, oder Neue Sammlung Königlich-Preußischer, sonderlich in der Chur- und Marek-Brandenburg, wie auch andern Provinzien, publicirten und ergangenen Ordnungen, Edicten, Mandaten, Rescripten, Berlin 1756-1822. neue(r) Fassung nationalsozialistische(r) Neue und vollständigere Sammlung der Reichsabschiede, Teil I-IV, Frankfurt a.M. 1747. Oberappellationsgericht Oberster Gerichtshof Obligationenrecht österreichische(r) preußische(r) Protokolle Quaestio Referentenentwurf Reichskammergerichtsordnung römische(s) Reichspoüzeiordnung sächsische(r) Schuldrecht Allgemeiner Teil Schuldrecht Besonderer Teil Schuldrecht Sammlung Sachsenspiegel Strafrecht Teil Theil Titel Titulus Täter-Opfer-Ausgleich Zivilgesetzbuch
A . Einleitung Über weite Teile des 20. Jahrhunderts hinweg gehörte die im BGB vollzogene scharfe Grenzziehung zwischen Privat- und Strafrecht zu den unumstößlichen Dogmen des deutschen Rechts. In Ubereinstimmung hiermit leitete Dieter Medicus sein Lehrbuch zum Allgemeinen Teil des BGB noch 2002 mit der Feststellung ein: „Für die folgende Erörterung [des Privatrechts im Rahmen der Rechtsordnung] kann das Strafrecht jedoch beiseite gelassen werden. Denn es unterscheidet sich so deutlich vom Privatrecht, dass keine ernsthaften Abgrenzungsprobleme entstehen"1. Mit dem Privatrecht pönale Ziele verfolgen zu wollen oder auch nur pönale Nebenwirkungen hervorzurufen, galt geradezu als Tabubruch, als „Rückschritt gegenüber dem in Jahrhunderten mühsam erarbeiteten Trennungsprozeß" 2 , Privatstrafen als „die Saurier der Rechtsgeschichte"3. Auch wenn der Glaube an das wertneutrale „Rechnen mit Begriffen" der Begriffsjurisprudenz längst überwunden war, herrschte doch noch immer die Auffassung vor, es sei möglich, privatrechtliche Wertungen frei von pönalen Aspekten zu halten. Das Privatrecht sollte allein strafrechtsfremden Zielen wie dem Interessenausgleich zwischen Vertragsparteien oder dem Schadensausgleich zwischen Schädiger und Geschädigtem dienen. Anzeichen für das Gegenteil wurden umgedeutet oder verleugnet. „Pönal" galt als gleichbedeutend mit „zivilrechtsfremd" 4 , die entsprechende Bewertung einer Regelung, Auslegung oder Argumentation führte zu deren Ablehnung, ohne dass es dafür einer weiteren Begründung bedurft hätte5: Was nicht sein darf, das nicht sein kann.
D. Medicus, BGB-AT, Rn. 1. H. Lange, Schadensersatzrecht, S. 12; ähnlich E. Bötticher, Wesen, S. 6. 3 So die von Gegnern der Privatstrafe gern zitierte (zuletzt etwa wieder von S. Klumpp, Privatstrafe, S. 13) Formel von Ph. Heck, Grundriß, § 145, S. 437, der selbst allerdings fortfährt, eine solche Gleichsetzung „würde hinken. Denn die Bedeutung der Privatdelikte für unser heutiges Rechtsleben ist noch immer eine weit höhere als sie den Nachkommen der Saurier in der heutigen Lebewelt zukommt". 4 Vgl. nur: z.B. BGHZ 118, S.312ff., 344 (4.6. 1991 - „punitive damages"); Staudinger/Lorraz, BGB, §817, Rn.5; SoergeM Raab, BGB, §611 a, Rn.53;£>. Reuter/M. Martinek, Bereicherung, §6 V, S.204; W. Flume, BGB-AT, S.390; H. Honseil, Rückabwicklung, S.58; ders., §817 Satz 2 BGB, S. 479; M. Casper, Zusendung, S. 1606; ähnlich noch 2002: S. Klumpp, Privatstrafe, S. 186; Ch. Kister, Entschädigung, S.243. 5 Typisch hierfür z.B.: P. Bufe, § 817 Satz 2 BGB, S. 253 („In Wahrheit kann dem § 817 Satz 2 BGB ein Strafgedanke überhaupt nicht innewohnen; denn im bürgerlichen Recht ist die Idee der Privatstrafe nicht mehr bekannt"); ähnlich M. Casper, Zusendung, S. 1606 (bezogen auf §241 a BGB); vgl. daneben auch: W. Flume, BGB-AT, S.390; SoergelAR^, BGB, §611 a, Rn.53. 1
2
2
A.
Einleitung
Die meisten Bereiche des Privatrechts lassen sich mit diesem Denkansatz leidlich in Einklang bringen. Selbst im Deliktsrecht, das naturgemäß die stärksten Berührungspunkte zum Strafrecht aufweist, ist die Aufgabenverteilung zwischen beiden Rechtsgebieten auf den ersten Blick unschwer nachzuvollziehen: Wer einem anderen rechtswidrig Schaden zufügt, muss diesen nach den Grundsätzen des Privatrechts ausgleichen. Daneben kann je nach Fallgestaltung und Verschuldensgrad die Verhängung einer (öffentlichrechtlichen) Strafe gegen den Schädiger in Betracht kommen. Insoweit mag daher zwar die Parallelität zweier Gerichtsverfahren vom Laien als unbefriedigend empfunden werden, zumal wenn beide zu abweichenden Bewertungen des selben Verhaltens führen, dogmatisch aber ergeben sich keine Probleme. Schon schwieriger wird die Begrenzung des Deliktsrechts auf die Ausgleichsfunktion allerdings, wenn sich die Höhe des Schadens nicht exakt ermitteln lässt, also vor allem bei Nichtvermögensschäden. Erst recht muss ein entpönalisiertes Privatrechtssystem versagen, wenn lediglich eine Rechtsverletzung nachweisbar ist, nicht jedoch ein eindeutig einem bestimmten Rechtsträger zuzuordnender Schaden: Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche bieten nur Schutz für die Zukunft, die §§ 823ff. B G B setzen die Existenz eines Schadens, das Bereicherungsrecht einen Vermögensvorteil beim Anspruchsgegner voraus. Zumindest im Hinblick auf solche Persönlichkeitsrechtsverletzungen, bei denen die privatrechtlichen Rechtsfolgen nicht von hinreichend effektiven strafrechtlichen Sanktionen flankiert werden, wie etwa bei Ehrkränkungen, weist das vom Wortlaut des B G B vorgesehene Rechtsfolgeninstrumentarium daher erhebliche Rechtsschutzlücken auf. Diese lösten schon zur Zeit der Entstehung des B G B heftige Kritik aus. Endgültig unerträglich wurden sie, nachdem die Ausgestaltung der deutschen Privatrechtsordnung den zwingenden Vorgaben der Grundrechte (Art. 1 III G G ) sowie eines immer engermaschiger werdenden Netzes europarechtlicher Richtlinien unterstellt wurde, da diese ohne einen Ausbau des privatrechtlichen Rechtsschutzkonzeptes zu bloßen Programmsätzen zu verkommen drohten. Als geeignetes Mittel zur privatrechtlichen Absicherung der vom BGB-Gesetzgeber noch bewusst weitgehend ohne rechtsförmigen Schutz belassenen ideellen Rechtsgüter empfahl Bernhard Großfeld bereits 1961 die Wiederbelebung der Privatstrafe6. Offiziell ist das deutsche Privatrecht diesem Vorschlag bis heute nicht gefolgt, sondern hält an der vermeintlich klaren Funktionsteilung zwischen Privatund Strafrecht von 1900 fest. Gerade eben erst - bei der Schadensersatzrechtsreform von 2002 - hat der deutsche Gesetzgeber wieder einmal bewiesen, dass er sich insofern nach wie vor auf der „Flucht ... aus der politischen Verantwortung im Zivilrecht" befindet7: Trotz einer Überarbeitung der §§253, 847 B G B wurde auf eine Regelung der Rechtsfolgen von Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts 6 Vgl. B. Großfeld, Die Privatstrafe. Ein Beitrag zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (1961); aus strafrechtlicher Sicht im Ergebnis ähnlich (1966): /. Hellmer, Bedeutung, S.672ff. 7 So der Titel eines Vortrags von Uwe Diederichsen vor der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe vom 12.11. 1973 (gedruckt Karlsruhe 1974).
A.
Einleitung
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verzichtet. Einzige eindeutige Privatstrafennorm des B G B bleibt damit zumindest bis zur in Kürze fälligen Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien 8 einstweilen weiterhin der 1998 unter dem Druck der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eingeführte §611 a III B G B . Selbst diese Regelung wurde allerdings vom deutschen Gesetzgeber als Entschädigungsnorm getarnt. Demgegenüber bekennt sich die Rechtsprechung, der es wegen der nachhaltigen Untätigkeit des Gesetzgebers überlassen blieb, die somit verbleibenden Rechtsschutzlücken durch rechtsschöpferische Rechtsfortbildung zu schließen, mittlerweile wenigstens zur Abschreckungsfunktion der Geldentschädigung bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen, die nicht zuletzt durch eine mittelbare Gewinnabschöpfung erfüllt werden soll 9 . Durch die Anbindung dieser „Entschädigung" an den Schadensersatzanspruch des §823 B G B hat aber auch die Rechtsprechung den offenen Bruch mit dem Dogma des entpönalisierten Privatrechts bislang vermieden. Immerhin bewirkten diese ersten Ansätze einer Renaissance der Privatstrafe in der deutschen Rechtspraxis in den letzten Jahren jedoch eine Belebung der zeitweise nahezu zum Versiegen gekommenen Diskussion darüber, inwieweit pönale Elemente im deutschen Privatrecht existent, berechtigt, erforderlich und erstrebenswert sind. Die meisten größeren Veröffentlichungen zu diesem Thema lassen sich nach ihrem methodischen Ansatz einer von vier Kategorien zuordnen: Untersuchungen der ersten Gruppe konzentrieren sich auf die Behandlung der Rechtsnatur eines oder weniger verwandter Rechtsinstitute. Im Vordergrund stand dabei nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes zunächst die Frage, ob ältere, nicht oder nur ansatzweise kodifizierte Formen der privaten Strafgewalt 10 , wie die Betriebsbuße oder Vereinsstrafe, mit dessen Vorgaben in Einklang zu bringen waren. Spätere Abhandlungen, wie die von Kernn und Nehlsen-v. Stryk12, behandelten auf der Basis der Grundsatzentscheidung des Großen Zivilsenats des B G H von 1955 13 die Rechtsnatur des Schmerzensgeldes und seiner Genugtuungsfunktion, Hess befasste sich mit den Unterschieden zwischen Vertragsstrafen und Privatstrafen 14 . In den letzten Jahren dominierten in diesem Bereich Arbeiten, die sich vorrangig mit pönalen Aspekten des Immaterialgüterrechts befassen, wie zum Beispiel die Habilitationsschrift von Dreier15, oder mit der Rechtsnatur der de lege lata vorhandenen oder de lege ferenda anzustrebenden Geldentschädigung bei Verletzungen des allgemeinen Persönlich-
8 Richtlinie zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, RiLi 2000/43/EG v. 29.6. 2000, ABL. E G Nr. L 180, S. 22ff.; Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, RiLi 2000/78/EG v. 27.11. 2000, A B L . E G Nr. L 303, S. 16ff. 9 Grundlegend hierfür: B G H Z 128, S.lff., 15f. (15.11. 1994 - „Caroline I"). 10 J.-M. Friedrich, Die private Strafgewalt (1972); K. Merkel, Verfassungsrechtliche Aspekte der privaten Strafgewalt (1974). 11 B.-R. Kern, Genugtuungsfunktion, S. 247ff. 12 K. Nehlsen-v. Stryk, Schmerzensgeld, S. 119ff. 13 B G H Z (GS) 18, S. 149ff. (6.7. 1955). 14 C. Hess, Die Vertragsstrafe. Ein unerkanntes Mittel privater Genugtuung (1993). 15 Th. Dreier, Kompensation und Prävention (2002).
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keitsrechts, wie die Dissertationen von Funkel, v. Holleben und Hoppe, die Untersuchung von Beuthien und Schmölz oder die Abhandlung von Siemes16, bzw. bei geschlechtsbedingter Diskriminierung im Arbeitsleben, wie die Arbeit von Kister17. Eine solche Vorgehensweise ermöglicht zwar eine vertiefte Durchdringung der Rechtsnatur des jeweils untersuchten Rechtsinstituts, birgt aber zugleich die Gefahr in sich, dass festgestellte pönale Elemente als nicht verallgemeinerungsfähige Ausnahmen wahrgenommen werden. Die der zweiten Kategorie zuzuordnenden Verfasser näherten sich der Frage nach pönalen Elementen im deutschen Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht. Anfangs bezweckte der Nachweis eines umfassenderen Schutzes ideeller Rechtsgüter in anderen Rechtsordnungen dabei vor allem die Rechtfertigung der Gewährung einer Geldentschädigung bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen, so zum Beispiel in den Arbeiten von Stollw, Großfeld19 und v. Bar20. Später stand die Vereinbarkeit von USamerikanischen punitive damages mit dem deutschen ordre public im Mittelpunkt, wie etwa in den Dissertationen von Brockmeier, Burst, Herrmann, Merkt, MörsdorfSchulte und Rosengarten21. Auch diese Arbeiten beschränkten sich also durchweg auf das Delikts- oder Haftungsrecht, wobei nicht selten zu Gunsten einer umfassenden Darstellung der ausländischen Rechtskreise auf eine intensivere Auseinandersetzung mit dem deutschen Recht weitgehend verzichtet wurde. Zudem ist eine rechtsvergleichende Argumentation weniger geeignet, um den seit der Zeit der Entstehung des B G B regelmäßig bemühten Einwand zu entkräften, pönale privatrechtliche Regelungen widersprächen gerade der spezifisch deutschen Rechtstradition. Die dritte Gruppe erfasst die strafrechtliche Literatur zum Täter-Opfer-Ausgleich. Obwohl sich diese Abhandlungen zum Teil auch allgemein mit der Funktionsteilung zwischen Privat- und Strafrecht beschäftigen, wie zum Beispiel die Habilitationsschriften von Frehsee22, Brauns23 und Walther24, handelt es sich letztlich doch 16 V. Beuthien/A. S. Schmölz, Persönlichkeitsschutz durch Persönlichkeitsgüterrechte (1999); Th. Funkel, Schutz der Persönlichkeit durch Ersatz immaterieller Schäden in Geld (2001); K. v. Hollehen, Geldersatz bei Persönlichkeitsverletzungen durch die Medien (1999); T. Hoppe, Persönlichkeitsschutz durch Haftungsrecht (2001); Ch. Siemes, Gewinnabschöpfung, S.202ff. 17 Ch. Kister, Entschädigung und geschlechtsbedingte Diskriminierung bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses (2000). 18 H. Stoll, Neuregelung, S. 1 ff.; vgl. daneben auch: ders., Haftungsfolgen im bürgerlichen Recht (1993), v.a. S. 55 ff. 19 B. Großfeld, Die Privatstrafe (1961). 2 0 Vgl. insbesondere Ch. v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht I (1996), II (1999). 21 So v.a. D. Brockmeier, Punitive damages, multiple damages und deutscher ordre public (1999); D. Herrmann, Die Anerkennung US-amerikanischer Urteile in Deutschland unter Berücksichtigung des ordre public (2000); H. Merkt, Abwehr der Zustellung von „punitive damages"-Klagen (1995); ]. Mörsdorf-Schulte, Funktion und Dogmatik US-amerikanischer punitive damages (1999); / . Rosengarten, Punitive damages und ihre Anerkennung und Vollstreckung in der Bundesrepublik Deutschland (1994); S. Burst, Pönale Momente im ausländischen Privatrecht und deutscher ordre public (1994). 22 D. Frehsee, Schadenswiedergutmachung als Instrument strafrechtlicher Sozialkontrolle (1987). 23 U. Brauns, Die Wiedergutmachung der Folgen der Straftat durch den Täter (1996). 24 S. Walther, Vom Rechtsbruch zum Realkonflikt (2000).
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um Arbeiten, die nicht eine vorhandene oder anzustrebende Pönalisierung des Privatrechts untersuchen, sondern den Möglichkeiten einer Reprivatisierung des Strafrechts gewidmet sind. Sie tragen daher zwar zur Uberwindung der starren Grenzziehung zwischen Privat- und Strafrecht bei, provozieren aber eher eine Behandlung dieser Frage aus privatrechtlicher Sicht, als dass sie diese entbehrlich machen. Die vierte Kategorie schließlich bilden mit den Arbeiten von Bentert, ler, Fort und Klumpp2'*
Löwe,
Mül-
Dissertationen, die sich mit der Vereinbarkeit von Privatstra-
fen mit den Grundsätzen des deutschen Privatrechtssystems befassen. Ausgangspunkt ist dabei entweder die widersprüchliche Rechtsprechung des Sechsten 2 6 und Neunten 2 7 B G H - Z i v i l s e n a t s zur Bedeutung der negativen Prävention für das deutsche Deliktsrecht (so vor allem Löwe, schon Bentert)
Müller
und Klumpp,
ansatzweise aber auch
oder die Möglichkeit einer Ausweitung des Anwendungsbereichs
der weitgehend unbestritten pönal-präventiven Regelungen des Immaterialgüterrechts (so insbesondere Fort und Dreier29).
Abgesehen von der weitgehenden K o n -
zentration der Autoren auf das Schadensersatzrecht erscheint der dabei durchweg gewählte Begründungsansatz allerdings aus zwei Gründen bedenklich: Zum einen wird regelmäßig schon allein aus der präventiven Zielsetzung eines Rechtsinstituts auf dessen pönale Rechtsnatur geschlossen. Wie etwa die durch das Gewaltschutzgesetz 2 9 in das B G B aufgenommenen Maßnahmen oder § 2 4 1 a B G B n.F. 3 0 belegen, sind aber durchaus privatrechtliche Bestimmungen denkbar, die zwar eindeutig der Verhaltenssteuerung und Prävention dienen, nicht jedoch zugleich vergangenes Fehlverhalten bestrafen wollen. Z u m anderen verführt die auf eine einzige Fragestellung zugespitzte Aufgabenstellung dieser Untersuchungen offenbar dazu, im Interesse des befürworteten Ergebnisses die Rechtsnatur von Rechtsinstituten und die Zielrichtung von Entscheidungsbegründungen tendenziös-ergebnisorientiert zu interpretieren, wodurch die jeweilige Argumentation unnötig an Überzeugungskraft verliert. Insgesamt zeichnet sich damit sowohl in der Rechtsprechung als auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur, zumindest unter den jüngeren Autoren 3 1 , eine 25 H. Bentert, Das pönale Element - ein Fremdkörper im deutschen Zivilrecht ? (1996); H. Löwe, Der Gedanke der Prävention im deutschen Schadensersatzrecht (2000); P. Müller, Punitive Damages und deutsches Schadensersatzrecht (2000); ähnlich wie diese auch: M. Körner, Aufgabe, S. 241 ff.; P. Fort, Strafelemente im deutschen, amerikanischen und österreichischen Schadensersatzrecht unter besonderer Berücksichtigung des gewerblichen Rechtsschutzes und Urheberrechts (2001); S. Klumpp, Die Privatstrafe - eine Untersuchung privater Strafzwecke (2002). 26 Vgl. nur B G H Z 128, S. 1 ff., 15f. (15.11. 1994 - „Caroline I"). 27 B G H Z 118, S.312ff., 344 (4.6. 1991 - „punitive damages"). 28 Th. Dreier, Kompensation (vgl. oben, F N 15), S. 515ff. 29 Gewaltschutzgesetz vom 11.12.2001, BGBl 12001, S.3513ff., vgl. zu dessen Zielen die Begründung in: BT-Drucks. 14/5429. 30 §241 a B G B , eingeführt durch das Fernabsatzgesetz vom 27.6.2000, BGBl 12000, S. 897ff., vgl. zu den mit dieser Regelung verfolgten Zielen die Begründung in BT-Drucks. 14/3195, S. 32, und BTDrucks. 14/2658, S.46. 31 So bewertet etwa von den hier der vierten Kategorie zugeordneten Verfassern (vgl. oben, Fn. 25) lediglich Klumpp Privatstrafen noch als „Fremdkörper" im deutschen Zivilrecht (S. Klumpp,
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der A k z e p t a n z p ö n a l e r E l e m e n t e i m P r i v a t r e c h t z u n e h m e n d a u f g e s c h l o s s e n g e g e n ü b e r s t e h e n d e G r u n d s t r ö m u n g ab. B e f ö r d e r t w i r d dieser M e i n u n g s u m s c h w u n g i m P r i v a t r e c h t d u r c h n e u e r e E n t w i c k l u n g e n i m B e r e i c h des S t r a f r e c h t s : D o r t e r s t a r k t das L a g e r d e r j e n i g e n , die z w a r anders als auf d e m H ö h e p u n k t der a b o l i t i o n i s t i s c h e n T e n d e n z e n der S i e b z i g e r J a h r e n i c h t m e h r f ü r eine A b s c h a f f u n g des S t r a f r e c h t s p l ä d i e r e n 3 2 , w o h l a b e r i m Z u g e der R ü c k b e s i n n u n g auf die u l t i m a - r a t i o - F u n k t i o n der K r i m i n a l s t r a f e für eine Teilverlag e r u n g der d e r z e i t d e m S t r a f r e c h t z u g e w i e s e n e n A u f g a b e n ins P r i v a t r e c h t e i n t r e t e n 3 3 . V e r s t ä r k t w i r d diese E n t w i c k l u n g d u r c h das z u n e h m e n d e B e s t r e b e n des G e s e t z g e b e r s , o h n e R ü c k s i c h t auf die a l t h e r g e b r a c h t e F u n k t i o n s v e r t e i l u n g z w i s c h e n d e n R e c h t s g e b i e t e n die j e w e i l i g e n r e c h t l i c h e n G e s t a l t u n g s m i t t e l f ü r e i n e n e f f e k t i v e n R e c h t s s c h u t z n u t z b a r z u m a c h e n . B e i s p i e l h a f t h i e r f ü r sind die M a ß n a h m e n des G e w a l t s c h u t z g e s e t z e s , die das P r i v a t r e c h t b e w u s s t als M i t t e l z u r V e r m e i d u n g k ü n f t i g e r Rechtsverletzungen instrumentalisieren. A b e r a u c h die v o n den V e r t r e t e r n der ö k o n o m i s c h e n A n a l y s e des R e c h t s e n t w i k k e l t e n I d e e n 3 4 , die eine m ö g l i c h s t k o s t e n e f f i z i e n t e S c h a d e n s v e r m e i d u n g e r m ö g l i c h e n sollen, h a b e n t r o t z i h r e r e h e r z u r ü c k h a l t e n d e n N u t z u n g d u r c h die d e u t s c h e R e c h t s p r a x i s 3 5 d a z u b e i g e t r a g e n , dass sich die V e r f o l g u n g p r ä v e n t i v e r Z i e l e w i e d e r als eine der H a u p t f u n k t i o n e n des P r i v a t r e c h t s etablieren k o n n t e 3 6 . D e n n o c h lassen Privatstrafen, S. 186; ähnlich wie dieser auch von den hier der ersten Kategorie zugeordneten Verfassern Ch. Kister, Entschädigung, S. 243), während sich alle anderen Autoren für die Beibehaltung bzw. die Ausweitung der vorhandenen pönalen Elemente aussprechen. Zur wachsenden praktischen Bedeutung der Privatstrafe vgl. auch C. Roxin, StrafR-AT, Rn. 60. 32 So etwa A. Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts (1974); vgl. dazu auch noch: K. Läderssen, Abschaffen des Strafens? (1995); ders., Strafrecht, S.877ff.; ders., Alternativen, S.487ff.; Th. Vogler, Möglichkeiten, S. 132 ff. 33 Vgl. zu dieser Entwicklung, insbesondere auch zur Tendenz zu einem „Vikariieren von staatlichem und privaten Strafrecht": W. Naucke, Sozialphilosophie, S.24f.; umfassend zu den Möglichkeiten einer Entkriminalisierung des Strafrechts auch die Empfehlungen der Niedersächsischen Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts von 1992: Strafrecht - ultima ratio, vgl. v.a. S.29ff. 34 Zur ökonomischen Analyse des Rechts und den danach vom Haftungsrecht anzustrebenden Zielen u.a.: A. Endres, Ökonomische Grundlagen des Haftungsrechts (1991); H. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1995); H.-B. Schäfer/C. Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 3. Aufl. (2000); dies., Schmerzensgeld, S. 563ff.; C. Ott (Hg.), Die Präventivwirkung zivilund strafrechtlicher Sanktionen (1999);/. Müller, Ökonomische Grundlagen der Generalprävention (1996); M. Adam, Ökonomische Theorie des Rechts (2002); G. Thüsing, Schadensberechnung, S.334ff.; U. Magnus, Schaden, S.24ff.;/. Köndgen, Aspekte, S. lff.;/. Taupitz, Analyse, S. 114ff.; A. Schulz, Überlegungen, S. 608ff.; N. Horn, Rationalität, S.307ff.; A. Schulz, Überlegungen, S.608ff. Zur Abgrenzung der Ziele der ökonomischen Analyse von denen der Befürworter von Privatstrafen vgl. J. Köndgen, Immaterialschadenersatz, S. 697ff. 3 5 Vgl. zur eher geringen Bedeutung der ökonomischen Analyse für die deutsche Deliktsrechtsdogmatik nur MünchKomm/Oet&er, B G B (Bd.II a), §249, Rn. 12; MünchKomm/Grundmann, B G B (Bd. II a), §276, Rn.8; Staudinger/Schiemann, BGB, Vor §249, Rn.40; G. Thüsing, Schadensberechnung, S. 340f.; U. Magnus, Schaden, S.24. 36 Zur (in den letzten Jahren wieder stärker gewordenen) Bedeutung der Generalprävention für das Privatrecht, insbesondere das Haftungsrecht, zuletzt umfassend: Th. Dreier, Kompensation und Prävention (2002); vgl. daneben auch: K. Larenz/C.-W. Canaris, SchuldR II/2, §68 III 3, S. 164; C.-
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sich die Erkenntnisse der ökonomischen Analyse gerade für die Bereiche des D e liktsrechts, die traditionell in besonderem Maße von pönalen Regelungen geprägt werden, also insbesondere für die Rechtsfolgen von Persönlichkeitsrechtsverletzungen, nur eingeschränkt nutzbar machen 3 7 : Wer vorsätzlich eine Körperverletzung begeht oder einen anderen beleidigt handelt selten, wer vergewaltigt oder ein Kind sexuell missbraucht nie rational oder mit Gewinnerzielungsabsicht. Damit sind jedoch die beiden Grundprämissen der ökonomischen Analyse im Hinblick auf die das menschliche Verhalten steuernden Faktoren 3 8 widerlegt 3 9 : Es gibt eben auch eine „äußerste normative G r e n z e des Effizienzprinzips" 4 0 , schutzbedürftige Werte, die sich jedem Nutzenkalkül entziehen. Anders verhält es sich lediglich bei solchen Persönlichkeitsrechtsverletzungen, die allein oder doch zumindest vorrangig auf der Grundlage einer wirtschaftlichen Kalkulation erfolgen: Bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch Massenmedien oder bei (vor allem vorsätzlichen) Verletzungen von Immaterialgüterrechten erscheint es aussichtsreich, durch abschreckend hohe Privatstrafen oder pönale Entschädigungen einen wirksamen finanziellen Anreiz für die Unterlassung von Rechtsbrüchen zu schaffen. Insbesondere erübrigt sich in diesen Fällen der wichtigste Einwand, der in neuerer Zeit im Strafrecht gegen die negative Prävention durch die Verhängung von Strafen erhoben zu werden pflegt 4 1 : Anders als bei Straftaten ist bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch Massenmedien wegen der v o m Täter gerade beabsichtigten Öffentlichkeit der Rechtsverletzung die Aufklärung der Tat uneingeschränkt gewährleistet. D i e Abschreckungswirkung der angedrohten Strafe kann also nicht daran scheitern, dass der Täter darauf hofft, der Tat nicht überführt zu werden. W. Canaris, Gewinnabschöpfung, S. 105ff.; E. Deutsch, Zwecke, S.246ff.; H. Kötz, Ziele, S. 645ff.; G. Brüggemeier, S.3ff.; D. Grimm, Anmerkungen, S.38ff.; P. Hay, Entschädigung, S. 521 ff.; G. Thüsing, Schadensberechnung, S.16ff.; M. Körner, Aufgabe, S.241 ff.; C. Schäfer, Strafe, S.399ff.;/. Rosengarten, Präventionsgedanke, S. 1935ff.;//./. Bunte, Gedanke, S.55ff.; H. Löwe, Der Gedanke der Prävention im deutschen Schadensersatzrecht (2000); krit. hierzu: P. Marburger, Grundsatzfragen, S.30f.;/. Schmidt, Prävention, S. 83ff. 3 7 Zur Abgrenzung der Privatstrafe von den Zielen der ökonomischen Analyse des Rechts vgl. H. Bentert, Elemente, S. 30ff. 38 Ein aktueller Uberblick über diese findet sich bei: G. Thüsing, Schadensberechnung, S. 350ff.; ausführlicher hierzu: H.-B. Schäfer/C. Ott, Lehrbuch, S.50ff., 95ff.; H. Eidenmüller, Effizienz, S. 21 ff. 3 9 Daran ändert sich auch bei einer eher opferorientierten Sichtweise nichts (zu diesem Ansatz der ökonomischen Analyse vgl. etwa U. Magnus, Schaden, S. 25): Zumindest einige Menschen würden sich auch heute bestimmte Rechtsgüter für keinen Preis abkaufen lassen. Diese haben daher nicht nur keinen Marktwert, sondern es lassen sich hierfür auch keine „opportunity costs" (i.S.d. Preises, für den sich der Rechtsinhaber von dem Gut trennen würde) ermitteln, sondern sie entziehen sich von vornherein jeder ökonomischen Betrachtungsweise. 40 So F. Kübler, Effizienz, S.702. 41 Vgl. hierzu statt aller: C. Roxin, StrafR- AT, §3 I, Rn. 18ff., 32; G. Jakobs, Strafrecht AT, Abschnitt 1, Rn.29f.; K. Lüderssen, Funktion, S. 54ff.; J. Hauschild, Generalprävention, S. 38f.; F. Streng, Öffnung, S. 111; dagegen trotz allem für die Generalprävention als vorrangigen Strafzweck: Eh. Schmidhäuser, Strafmaßnahme, S.455ff.; ausführlich zum Zusammenhang von Aufklärungswahrscheinlichkeit und generalpräventiver Wirkung: H. Curti, Strafe, S. 234ff.
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Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, auf dieser Grundlage den Kreislauf von den pönalen Entschädigungen des frühen deutschen Privatrechts, über das allmähliche Zurückdrängen pönaler Elemente und das vermeintlich vollständig entpönalisierte BGB von 1900, bis hin zur Wiederkehr der Rechtsfigur der Privatstrafe 42 im ausgehenden 20. Jahrhundert nachzuzeichnen. Dabei soll insbesondere aufgezeigt werden, welche Funktionen pönale Elemente des Privatrechts in den einzelnen Phasen der deutschen Rechtsentwicklung jeweils erfüllten, warum es zu einer Beseitigung oder Wiedereinführung pönaler Rechtsinstitute kam sowie welche Bedeutung Privatstrafen und pönalen Entschädigungen im heutigen Privatrecht zukommt oder in absehbarer Zukunft zukommen könnte. Auf diffizile eigene Versuche, die Voraussetzungen für die Pönalität einer privatrechtlichen Regelung zu definieren, soll hier bewusst verzichtet werden 4 3 : Angestrebt wird nicht der ergebnisorientierte Nachweis einer möglichst geringen oder intensiven Pönalität des deutschen Privatrechts, sondern eine ergebnisoffen ermittelte Bestandsaufnahme, aus der sich Lösungsvorschläge für gegenwärtige oder künftige Rechtsfragen ableiten lassen. Pönal im Sinne dieser Untersuchung ist daher in Ubereinstimmung mit den gängigen Abgrenzungskriterien jede Rechtsfolge, durch die jemand unabhängig von einer von ihm zuvor eingegangenen Verpflichtung zur Ahndung eines rechtlich missbilligten Verhaltens einen Nachteil erleidet, der über den bloßen Ausgleich eines etwa vorhandenen Schadens hinausgeht. Es muss sich also um eine nicht nur präventiv, sondern auch repressiv wirkende Sanktion handeln. Dem schillernden Rechtsinstitut der Genugtuung, das sich in den meisten privatrechtlichen Kodifikationen des deutschsprachigen Raums in wechselhafter Ausgestaltung findet 44 , kommt daher nur dann eine (auch) pönale Funktion zu, wenn es sich dabei nicht lediglich um eine opferorientiert bemessene Zahlung zum Ausgleich der durch die Rechtsverletzung hervorgerufenen emotionalen Beeinträchtigungen oder sonstigen Nichtvermögensschäden handelt, sondern um einen jedenfalls auch vom Verschuldensgrad oder den Vermögensverhältnissen des Täters abhängigen Aufschlag zur vollständigen Entschädigung des Opfers. U m dieses Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, müssen viele interessante und eng mit dem Untersuchungsgegenstand verbundene Aspekte unberücksichtigt bleiben oder können allenfalls ganz summarisch abgehandelt werden. Dies gilt zunächst für die Frage, ob und in welchem Umfang außerdeutsche Privatrechtsordnungen pö42 Vgl. zur Wiederkehr von Rechtsfiguren in der deutschen Rechtsgeschichte, insbesondere auch pönaler Elemente des Privatrechts (bezogen auf die Abstufung des Haftungsumfangs nach dem Verschuldensgrad): Th. Mayer-Maly, Wiederkehr, S.2f. 43 Ausführlich zur Definition der Privatstrafe und der Pönalität privatrechtlicher Rechtsinstitute z.B.: B. Großfeld, Privatstrafe, S.9ff.; S. Klumpp, Privatstrafe, S. 16ff.; H. Bentert, Element, S.4ff.; C. Hess, Vertragsstrafe, S. 182ff.; D. Brockmeier, Punitive damages, S. 41 ff.; Th. Dreier, Kompensation, S. 515ff.; vgl. auch schon Ph. Heck, Ausdehnung, S. 55, nach dem eine Privatstrafe jedenfalls darauf zielt, eine Vermehrung des Vermögens des Empfängers „über den status quo ante hinaus" herbeizuführen. 44 So v.a. in § 130 I 6, §§584ff. II 20 ALR; § 1323 ABGB; Art. 47,49 OR i.d.F. v. 1911; zur Genugtuung als Teil des Schmerzensgeldes nach §847 BGB a.F. vgl. BGHZ (GS) 18, S. 149ff. (6.7. 1955).
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nale Elemente aufweisen: Zum einen existieren rechtsvergleichende Arbeiten zu diesem Thema in großer Zahl 4 5 . Neue oder originelle Erkenntnisse stünden daher kaum zu erwarten. Vielmehr dürfte das Wissen um die in anderen Rechtsordnungen gegebene Möglichkeit zur Verhängung von Privatstrafen oder pönalen Entschädigungen, am bekanntesten in Gestalt der US-amerikanischen punitive damages oder der englischen exemplary damages, heute zum Allgemeingut gehören und allen auch nur entfernt mit haftungsrechtlichen Problemen befassten deutschen Juristen bekannt sein. Zum anderen erscheint der Vergleich fremder Rechtsordnungen mit der eigenen nur sinnvoll, wenn man sich zuvor über die Grundlagen des heimischen Rechts klar geworden ist. In gewisser Weise ist die rechtshistorische Auseinandersetzung mit dem eigenen Recht somit notwendige Vorstufe zur rechtsvergleichenden Forschung. Allein die Unausrottbarkeit des Arguments, die Unterbindung pönaler Elemente im Privatrecht beruhe auf alten Traditionen gerade des deutschen Rechts, deutet dabei darauf hin, dass bereits auf dieser Ebene noch Aufklärungsbedarf besteht. Es erscheint daher dringender, hier realitätsferne Berührungsängste abzubauen, als einen erneuten Uberblick über andere Rechtssysteme zu bieten. Zurückhaltung erscheint aber auch im Hinblick auf die Behandlung des Rechts der D D R geboten oder doch zumindest vertretbar: Bei den für sozialistische Rechtsordnungen typischen, Recht und Moral vermengenden Regelungen des D D R - P r i vatrechts handelte es sich um ein kurzes Zwischenspiel in der deutschen Rechtsgeschichte, das für das heutige (gesamt-)deutsche Privatrecht ohne Folgen geblieben ist und, soweit absehbar, wohl auch keine Auswirkungen auf die künftige Rechtsentwicklung haben wird. Dies gilt in besonderem Maße für die Bereiche, in denen gegenwärtig die Einführung bzw. der Ausbau pönaler Elemente erwogen wird: Das Bemühen um eine effektive Umsetzung von Grundrechten gehörte nicht gerade zu den prägenden Merkmalen der DDR-Rechtsordnung. Schließlich kann an dieser Stelle auch weder eine generelle Untersuchung des Grenzverlaufs zwischen Privat- und Strafrecht noch eine Geschichte des Deliktsrechts oder eine umfassende Darstellung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder gar des gesamten Immaterialgüterrechts geboten werden: Einerseits ist auch hierüber schon viel geschrieben worden 4 6 , andererseits würde dies zwangsläufig den 4 5 Ein kurzer Uberblick über das Verhältnis zwischen Deliktsrecht und Strafrecht in den europäischen Rechtsordnungen, die pönalen Elemente der jeweiligen deliktsrechtlichen Regelungen und die Literatur hierzu bei: Ch. v. Bar, Deliktsrecht I, §6, Rn.600ff. 4 6 Zur Geschichte des Deliktsrechts vgl. v. a. K. Irmscher, Der privatrechtliche Schutz der Persönlichkeit in der Praxis des gemeinen und der partikularen Rechte des 19. Jahrhunderts (1953); H. Lange, Schadensersatz und Privatstrafe in der mittelalterlichen Rechtstheorie (1955); H. Kaufmann, Rezeption und usus modernus der actio legis Aquiliae (1958); M. Herrmann, Der Schutz der Persönlichkeit in der Rechtslehre des 16.-18. Jahrhunderts (1968); H.J. Wieling, Interesse und Privatstrafe vom Mittelalter bis zum Bürgerlichen Gesetzbuch (1970); R. Bilstein, Das deliktische Schadensersatzrecht der lex Aquilia in der Rechtsprechung des Reichsgerichts (1994); zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht noch immer grundlegend: H. Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. (1968); vgl. daneben u.a.: D. Leuze, Die Entwicklung des Persönlichkeitsrechts im 19. Jahrhundert (1962); E. Helle, Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. (1969); P. Schwerdtner, Das Persönlichkeitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordnung
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Einleitung
Rahmen jeder einzelnen und somit auch dieser Arbeit sprengen. Nicht unmittelbar auf die pönalen Elemente einzelner Rechtsinstitute bezogene Ausführungen beschränken sich daher auf solche Angaben, die zum Verständnis von deren Rechtsnatur oder zur Einschätzung ihrer praktischen Bedeutung zwingend erforderlich erscheinen. Zudem müssen pönale Regelungen, die nicht unmittelbar den Kern des im B G B normierten Privatrechts betreffen, wie vor allem die zahlreichen pönalen Elemente des Urheberrechts, weitgehend unberücksichtigt bleiben47: Die Renaissance der Privatstrafe im deutschen Recht lässt sich nicht durch den Nachweis pönaler Aspekte einzelner privatrechtlicher Sondergebiete mit traditionell pönaler Einfärbung belegen, sondern nur, indem aufgezeigt wird, dass pönale Rechtsinstitute längst auch Eingang in zentrale Bereiche des B G B gefunden haben. Damit ergibt sich für den Gang der Untersuchung folgender Ablauf: Der erste Hauptteil (B.) ist der Privatrechtsordnung vor dem BGB gewidmet. Ziel ist es zu zeigen, wie und warum es einerseits ganz überwiegend zur Aufspaltung des ursprünglich im Bereich der Rechtsfolgen von Unrechtstaten dominierenden Privatstrafenrechts in ein zunehmend entpönalisiertes Privatrecht und ein öffentliches Strafrecht kam, während andererseits in einigen Teilbereichen der Rechtsordnung bis zuletzt Privatstrafen oder pönale Entschädigungsregelungen beibehalten wurden. Die Beschränkung auf das Deliktsrecht hat dabei vor allem zwei Gründe: Zum einen ist das (privatrechtliche) Deliktsrecht die Keimzelle und Grundlage nahezu jeder Rechtsordnung. Dies führte in einigen deutschen Rechtskreisen dazu, dass noch bis ins Spätmittelalter hinein nahezu jede Klage als Schadensersatzklage behandelt wurde, da der Kläger mit der Erhebung der Klage ja behauptete, der Beklagte habe ihn in seinen Rechten verletzt, indem er ihm eine Leistung verweigerte, zu deren Erbringung er von Rechts wegen verpflichtet sei. Das Deliktsrecht eignet sich daher in besonderem Maße für eine längsschnittartige Darstellung, da trotz aller Diskontinuitäten in der deutschen Rechtsgeschichte wenigstens ein bestimmter Kernbereich von Rechtsfragen auf diesem Gebiet von jeder der zahlreichen Rechtsordnungen umfassend geregelt wurde. Zum anderen setzen zumindest die beiden wichtigsten Formen pönaler Elemente des Privatrechts, die Privatstrafe und der pönale Schadensersatz, zwingend (auch) die Begehung eines Delikts voraus, weshalb das Deliktsrecht stets der Bereich der Rechtsordnung bleiben wird, der am ehesten für die Aufnahme oder Beibehaltung pönaler Elemente empfänglich ist. Auf den ersten Blick überraschen mag die Behandlung des römischen Rechts nicht am Anfang, sondern erst im Vorfeld der Rezeption. Diese Einordnung folgt jedoch zwingend aus dem schon im Titel dieser Untersuchung zum Ausdruck kommenden hier gewählten Ansatz, der Frage nach der Existenz und Berechtigung pönaler Elemente im Privatrecht aus der Perspektive des deutschen Rechts nachzugehen: Die Darstellung anderer Rechtsord(1977); H. Eichler, Personenrecht (1983); H.-P. Gotting, Persönlichkeitsrechte als Vermögensrechte (1995); St. Gottwald, Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (1996); M. Baston-Vogt, Der sachliche Schutzbereich des zivilrechtlichen allgemeinen Persönlichkeitsrechts (1997). 4 7 Hierzu jetzt umfassend die Habilitationsschrift von Th. Dreier, Kompensation und Prävention (2002); kurz zu den pönalen Elementen des Immaterialgüterrechts unten, S. 544ff.
A.
Einleitung
11
nungen ist daher nie Selbstzweck, sondern hat immer nur eine dienende Funktion. Sie wird deshalb erst erforderlich und sinnvoll, sobald und soweit diese Rechtsordnungen Einfluss auf das deutsche Recht erlangten oder sogar unmittelbar in Deutschland Anwendung fanden. Der zweite Hauptteil (C.) behandelt die Privatrechtsordnung unter dem BGB. Ausgehend von den ausdrücklich so benannten „Strafen" des Privatrechts werden dabei zunächst der Reihe nach die vermeintlich oder tatsächlich (auch) pönalen Rechtsinstitute außerhalb des Deliktsrechts auf ihre Zielsetzung und Rechtsnatur hin untersucht (C.I.-III.). Anschließend (C.IV.) wird der Frage nachgegangen, inwieweit die Ansprüche des Deliktsrechts nach den Intentionen des BGB-Gesetzgebers oder ihrer Ausgestaltung durch die Rechtspraxis pönale Züge aufweisen oder aufweisen sollten. Im Vordergrund stehen dabei verschuldensabhängige Abstufungen des Haftungsumfangs sowie die Rechtsnatur des Schmerzensgeldes und der Geldentschädigung für Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Den Abschluss bilden eine Ubersicht über die Wiederannäherungsversuche des öffentlichen Strafrechts an das private Deliktsrecht und ein Ausblick auf die Bemühungen zur Vereinheitlichung des Deliktsrechts innerhalb der europäischen Gemeinschaft. Der letzte Teil (D.) fasst die wichtigsten zuvor gewonnenen Ergebnisse zusammen.
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
I. Das deutsche Recht bis zur Rezeption Eine Abgrenzung des Privatrechts vom Strafrecht setzt zwingend die Existenz beider Rechtsgebiete voraus. Ansätze zu einem Strafrecht im modernen Sinne, also zur Sanktionierung bestimmter Verhaltensweisen durch die Gemeinschaft, zu Gunsten der Gemeinschaft und aus eigenem Recht der Gemeinschaft 1 , lassen sich im deutschen Rechtskreis aber erst etwa seit dem 13./14. Jahrhundert kontinuierlich feststellen. Zuvor fehlte es nicht nur weitgehend an einem Staat und der damit verbundenen, für die Verhängung und Durchsetzung von öffentlich-rechtlichen Sanktionen erforderlichen Staatsmacht. Vielmehr war auch das Bewusstsein, durch die Verletzung der Rechte eines Einzelnen werde nicht nur dieser, sondern auch die Allgemeinheit angegriffen, dem germanisch-fränkischen wie auch dem frühmittelalterlichen Denken jedenfalls bei den meisten Arten von Rechtsverstößen noch weitgehend fremd 2 . Eine Ausnahme hiervon bildete lediglich die Verfolgung bestimmter allgemeinschädlicher Delikte, die zumindest in Zeiten eines stärkeren Großkönigtums oft schon in merowingischer Zeit zu Körper- und Todesstrafen und damit typischen obrigkeitlich-strafrechtlichen Reaktionen führen konnten 3 . Zwar verhängten Könige und andere Herrscher daneben auch wegen solcher Delikte, die sich unmittelbar gegen ihre eigene Person richteten, verschiedentlich schon früh peinliche Strafen 4 . Diese Form des formalisierten Racherechts ähnelt allerdings weniger dem staatlichen Strafrecht im modernen Sinne, als dem sippeninternen Sanktionensystem, das schon wegen der Unsinnigkeit von wirtschaftlichen Sühneleistungen innerhalb des Sippenverbandes stets auf Körperstrafen basierte 5 . Auf der sippenübergreifenden Ebene sind Unrechtsfolgen in dieser frühen Zeit hingegen nach heutigem Rechtsverständnis fast ausnahmslos dem Privatrecht zuzuordnen. Dieses wies allerdings ausgeprägte pönale Aspekte auf: Die Privatstrafe oder 1 Zum Begriff der Strafe in der Vor- und Frühzeit eines (öffentlichen) Strafrechts: J. Weitzel, Strafe, S.66f.; den., Vorverständnisse, S. 541 ff.; K.S. Bader, Unrechtsausgleich, S. 14ff.; H. Hattenhauer, Buße, S. 66f.; H. Holzhauer, Strafgedanken, S. 179ff. 2 Zur allmählichen Durchsetzung dieses Gedankens im Hochmittelalter vgl. H. Fehr, Rechtsgeschichte, S. 166f. 3 Umfassend hierzu: H. Nehlsen, Sklavenrecht, S. 140ff., 220ff., 319ff.; ders., Entstehung, S. 5ff.;/. Weitzel, Strafe, S. 82ff.; ders., Vorverständnisse, S. 542ff. 4 Nachweise b e i : J . Weitzel, Strafe, S.73ff., 138ff. 5 P.C. Tacitus, Germania, Kap. 19, 25.; vgl. zum sippeninternen Strafrecht daneben statt aller: H. Conrad, Rechtsgeschichte I, S.46; G. Radbruch, U r s p r u n g , S. 1; W. Sellert/H. Rüping, Studien- und Quellenbuch I, S. 52; K. S. Bader, Unrechtsausgleich, S. 20ff.; H. Holzhauer, Strafgedanken, S. 184f.; ders., Geburt, S.8.
I. Das deutsche Recht bis zur Rezeption
15
pönale Entschädigung war nicht nur eine von verschiedenen möglichen Folgen eines Fehlverhaltens, sondern die klassische deutschrechtliche Reaktion auf einen R e c h t s bruch überhaupt 6 . Ihr Ziel war es, neben der Sühne des begangenen Unrechts, immer auch, Rache und Fehde zu vermeiden, um so das Leben der Angehörigen beider beteiligter Sippen zu schützen 7 .
1. Täter-Opfer-Ausgleich bis zum Hochmittelalter a) Rechtsbmch
als Störung der
Friedensordnung
Die Beurteilung von Missetaten in germanisch-fränkischer Zeit erfolgte allein im Hinblick auf die äußerlich feststellbaren Folgen der Tat. Rechtsbrüche wurden als Störung der natürlichen, göttlich gestifteten Friedensordnung angesehen, an der alle freien Germanen auf G r u n d der ihnen eigenen Mannheiligkeit teilhatten 8 . Folge dieser Sichtweise war eine nahezu reine Erfolgshaftung, die ein fehlendes Verschulden des Täters ebenso unberücksichtigt ließ wie den bloßen Versuch einer Unrechtstat („Die T h a t tödtet den M a n n " 9 ) 1 0 . Allerdings wurde schon früh die Haftung für zufällig oder auf bestimmte Weise fahrlässig herbeigeführte sogenannte Ungefährwerke eingeschränkt 1 1 . F ü r die Taten von Kindern, Geisteskranken und Tieren musste sich das zuständige Sippenoberhaupt verantworten 1 2 . Ziel jeder Unrechtsfolge war die Wiederherstellung der sakralen Ordnung, nicht die sittliche Bewertung der Tat und damit auch nicht die Bestrafung des Täters 1 3 .
E. Kaufmann, Fehde, Sp. 1084; ders., Sühne, Sp.73ff. E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 135; ders., Fehde, Sp. 1086f.; H. Brunner, Sippe, S. 1. 8 H. Rüping, Grundriß (3. Auflage), Rn. 16; H. Hattenhauer, Bedeutung, S. 19; C. v. Schwerin, Rechtsgeschichte, S.40; K. Bindtng, Entstehung, S.14; W.E. Wilda, Strafrecht, S.225; H. Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 48. Einschränkend hierzu: H. Eehr, Rechtsgeschichte, S. 18f., nach dem in germanischer Zeit lediglich die Vorstellung von einzelnen Sonderfrieden, nicht jedoch die von einem generellen Gemeinfrieden herrschte, weswegen nur die Strafe beim Bruch eines Sonderfriedens auf einen sakralen Ursprung zurückgeführt werden könne. 9 Mittelalterliches Rechtssprichwort, vgl. die Nachweise bei: R. Schmidt-Wiegand, Rechtsregeln, S. 315f.; zur Bedeutung dieser Redewendung auch: C. v. Schwerin, Rechtsgeschichte, S.41. 10 H. Rüping, Grundriß (3. Auflage), Rn. 13; W. Ogris, Schadensersatz, Sp. 1337; Eb. Schmidt, Einführung, S. 31 ff.;//. Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 49; KS. Bader, Unrechtsausgleich, S.8; einschränkend: W. Sellert/H. Rüping, Studien- und Quellenbuch I, S. 58ff.; dagegen: E. Kaufmann, Erfolgshaftung, Sp.990ff. (Berücksichtigung des verbrecherischen Willens auch schon in fränkischer Zeit). 11 Noch immer grundlegend hierzu: H. Brunner, Rechtsgeschichte I, S.214ff.; vgl. daneben auch: E. Kaufmann, Fahrlässigkeit, Sp. 1046; ders., Erfolgshaftung, Sp.990ff.; W. Sellert/H. Rüping, Studien- und Quellenbuch I, S.59ff.; R. Schröder/Eb. Frhr. v. Künßberg, Lehrbuch, S. 378. 12 R. His, Strafrecht I, S.62; H. Rüping, Grundriß (3. Auflage), Rn. 15. 13 H. Hattenhauer, Bedeutung, S.20f.; W. Sellert/H. Rüping, Quellen- und Studienbuch I, S.62; V. Achter, Geburt, S.13ff. 6 7
16
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
b) Fehde und
Sühnevertrag
Schwerste Verstöße gegen die Interessen der Allgemeinheit führten auch schon in germanischer Zeit zur T ö t u n g des Friedensbrechers 1 4 . Bei diesen Sakralstrafen handelte es sich jedoch um rituelle O p f e r an die Götter, die versöhnt werden mussten, um eine Wiederherstellung der O r d n u n g zu ermöglichen, nicht um staatliche Todesstrafen im modernen Sinne 1 5 . Wurde hingegen ein Einzelner in seiner Mannheiligkeit angegriffen, löste dies zunächst zwingend die Blutrache der verletzten Sippe aus. Diese bezeichnete man in ihrer späteren, organisierteren F o r m , insbesondere in Fällen der ritterlichen Selbsthilfe, auch als Fehde 1 6 . Derartige Friedensbrüche waren allerdings sühnbar, d.h. die Friedensordnung konnte auch durch die Vereinbarung bestimmter Sühneleistungen zwischen den beiden beteiligten Sippen wiederhergestellt werden 1 7 . Solche Sühneverträge handelten die Parteien oder von diesen gewählte Schiedsleute in der Regel ohne Mitwirkung der Gemeinschaft aus. Bei der Aufbringung der vereinbarten Sühneleistung waren die Angehörigen der Sippe des Täters zur Mithilfe verpflichtet 1 8 . E b e n s o partizipierten die Angehörigen des Opfers in gleicher Weise an diesen Leistungen, wie sie auch zur Mitwirkung an der Fehde verpflichtet gewesen wären 1 9 , ursprünglich also nur die männlichen Familienmitglieder. Teilweise konnte oder musste beim Abschluss eines Sühnevertrages aber auch ein Gericht herangezogen werden 2 0 . Dies diente entweder lediglich der Beurkundung der Vereinbarung oder nahm auch direkt Einfluss auf deren Inhalt 2 1 . War ein Gericht am Abschluss des Sühnevertrages beteiligt, gebührte ihm ein Teil der Sühneleistung 2 2 . Daneben stand eventuell ein weiterer Teil der Gemeinschaft zu 2 3 . Wegen leichterer Friedensstörungen erfolgte keine Fehde, sondern der Täter hatte eine bestimmte, meist allgemein festgelegte B u ß e an den Verletzten zu leisten 2 4 . 14 Vgl. bereits P. C. Tacitus, Germania, Kap. 12: „proditores et transfugas arboribus suspendunt, ignavos et imbelles et corpore infames caeno ac palude, iniecta insuper crate, mergunt" -„Verräter und Uberläufer hängt man an Bäumen auf; Feiglinge und Kriegsscheue und Unzüchtige versenkt man in Sumpf und Morast, wobei man noch Flechtwerk darüber wirft". 15 Umfassend hierzu: K. v. Amira, Die germanischen Todesstrafen (1922); G. Radbruch, Ursprung, S. 4; E. Kaufmann, Sakralstrafe, Sp. 1260f.; H. Rüping, Grundriß (3. Auflage), Rn. 18. 16 Zu Fehde u. Blutrache in germanisch-fränkischer Zeit vgl. E. Kaufmann, Friede, Sp. 1278ff.; ders., Fehde, Sp. 1083ff.;KS. Bader, Unrechtsausgleich, S. 1 Off.; allgemein zur mittelalterlichen Fehde: H.-R. Hagemann, Verbrechenskatalog, S.4ff.; G. Radbruch, Ursprung, S. 1 ff.; R. His, Strafrecht I, S.263ff.; E. Osenbrüggen, Strafrecht, S.23ff. 17 G. Radbruch, Ursprung, S. 1; H. Brunner, Sippe, S. 1 ff.; E. Kaufmann, Sühne, Sp. 72ff.; H. Rüping, Grundriß (3. Auflage), Rn. 20ff.; A. B. Schmidt, Grundsätze, S. 12. Vgl. auch schon die Andeutungen hierzu bei P.C. Tacitus, Germania, Kap. 12 a.E. 18 R. His, Strafrecht I, S.646ff.; W. Schild, Wergeid, Sp. 1269f. 19 R. His, Strafrecht I, S.267, 646, 665ff. 20 K.S. Bader, Unrechtsausgleich, S. 40. 21 R. His, Strafrecht I, S.307ff.; Eb. Schmidt, Einführung, S.55ff.; E. Kaufmann, Sühne, Sp. 74; vgl. zur Beweiserleichterung beim Sühneschluss vor Gericht auch noch: Ssp LandR I 8 §3. 22 E. Kaufmann, Sühne, Sp. 74; KS. Bader, Unrechtsausgleich, S.40. 23 Vgl. P.C. Tacitus, Germania, Kap. 12. 24 P. C. Tacitus, Germania, Kap. 12; typisch auch etwa Lex Thuringorum 51: „Quicquid homo al-
I. Das deutsche Recht bis zur Rezeption
c) Das Bußensystem
der fränkischen
Zeit und des frühen
17
Mittelalters
aa) D i e B e s t a n d t e i l e der B u ß e D i e v o m M i s s e t ä t e r u n d seiner S i p p e z u e r b r i n g e n d e n S ü h n e l e i s t u n g e n lassen sich in v e r s c h i e d e n e E i n z e l p o s t e n aufteilen, die jeweils u n t e r s c h i e d l i c h e n Z w e c k e n d i e n t e n 2 5 : D i e B u ß e , als die G e s a m t h e i t der Z a h l u n g e n des T ä t e r s an das O p f e r , k o n n t e sich z u s a m m e n s e t z e n
aus e i n e m A u s g l e i c h f ü r den erlittenen S c h a d e n ,
einem
S c h m e r z e n s g e l d u n d einer Privatstrafe, die der v e r l e t z t e n Sippe G e n u g t u u n g v e r s c h a f f e n sollte u n d d e r e n H ö h e häufig an die H ö h e des S c h a d e n s g e k o p p e l t w a r 2 6 . E i n e b e s o n d e r e B e d e u t u n g im R a h m e n der B u ß z a h l u n g e n k a m d e m W e r g e i d 2 7 zu, d e m S ü h n e g e l d für die T ö t u n g eines f r e i e n G e r m a n e n . A u s dessen H ö h e w u r d e h ä u fig a u c h die B u ß h ö h e f ü r geringere F r i e d e n s b r ü c h e h e r g e l e i t e t 2 8 . D i e Z a h l u n g e n an das G e r i c h t b z w . die G e m e i n s c h a f t w u r d e n m e i s t B r ü c h e o d e r G e w e t t e g e n a n n t . D a n e b e n f i n d e n sich a b e r a u c h eine V i e l z a h l a n d e r e r B e z e i c h n u n gen, die v o n der j e w e i l i g e n M i s s e t a t abgeleitet w u r d e n 2 9 . E n g m i t der B r ü c h e v e r b u n den w a r die U n g e h o r s a m s s t r a f e bei N i c h t b e a c h t u n g eines k o n k r e t e n G e b o t s ( B a n n u s ) 3 0 u n d das F r i e d e n s g e l d ( F r e d u s ) 3 1 , das f ü r die W i e d e r a u f n a h m e in den a l l g e m e i n e n F r i e d e n zu e n t r i c h t e n war. B e i d e v e r s c h m o l z e n z u den im M i t t e l a l t e r festgelegten B r ü c h e b e t r ä g e n . D e r A n t e i l dieser an die A l l g e m e i n h e i t zu z a h l e n d e n L e i s t u n gen an der i n s g e s a m t v o m T ä t e r a u f z u b r i n g e n d e n S u m m e stieg i m L a u f der Z e i t k o n tinuierlich. D a b e i w a n d e l t e sich ihr C h a r a k t e r z u n e h m e n d zu d e m einer G e l d strafe 3 2 .
teri fecerit, quod iniustum factum dicatur, X solidis conponat aut cum V iuret" - „Was auch immer ein Mann einem anderen antut, das unrechte Tat genannt wird, büße er mit 10 Schillingen oder schwöre mit 5" (K.A. Eckhardt, Gesetze Karolingerreiches III, S.44f.); vgl. hierzu auch: H. Rüping, Grundriß (3. Auflage), Rn.23;/. Gernhuber, Landfriedensbewegung, S.lOff. 25 Eine detaillierte Ubersicht über die einzelnen Bestandteile der Sühneleistungen findet sich bei: J. Grimm, Rechtsaltertümer II, S.210ff.; kürzer dazu: E. Kaufmann, Buße, Sp. 575ff. 26 Vgl. nur: A.B. Schmidt, Grundsätze, S. Iff.; C. v. Schwerin, Rechtsgeschichte, S.21 Of.; H. Rüping, Geldstrafe, S. 674; R. His, Strafrecht I, S. 594ff.; E. Kaufmann, Buße, Sp. 576; demnächst hierzu umfassend die Habilitationsschrift von E. Schumann, Unrechtsausgleich im Frühmittelalter (fertiggestellt 2003). 27 Hierzu umfassend: A B. Schmidt, Grundsätze, S. 13 ff.;/. Grimm, Rechtsaltertümer II, S. 229ff.; H. Brunner, Sippe, S. Iff.; R. His, Strafrecht I, S.586ff.; W. Schild, Wergeid, Sp. 1268ff.; K.S. Bader, Unrechtsausgleich, S. 59ff.; E. Osenbrüggen, Strafrecht, S. 71 ff.; W.E. Wilda, Strafrecht, S. 366ff. 28 Vgl. nur Ssp LandR II 16 §§5f.; weitere Nachweise bei: J. Grimm, Rechtsaltertümer II, S. 230ff.; R. His, Strafrecht I, S.594f., 600ff.; W. Schild, Wergeid, Sp. 1269f.; K. O. Scherner, Kompositionensystem, Sp. 996. 29 Nachweise hierfür bei: J. Grimm, Rechtsaltertümer II, S. 225; R. His, Strafrecht I, S. 608ff.; H.R. Hagemann, Gewette, Sp. 1674f.; E. Kaufmann, Buße, Sp.575. 30 H. Fehr, Rechtsgeschichte, S. 57; H. Rüping, Geldstrafe, S. 675;/. Grimm, Rechtsaltertümer II, S.224f. 31 /. Grimm, Rechtsaltertümer II, S.223f.; H. Rüping, Geldstrafe, S. 674f.; E. Kaufmann, Friedensgeld, Sp. 1296f. 32 H. Rüping, Geldstrafe, S.674ff.; ders., Grundriß (3. Auflage), Rn.22; H.-R. Hagemann, Gewette, Sp. 1674; E. Kaufmann, Friedensgeld, Sp. 1297.
18
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
b b ) H ö h e und Festsetzung der Bußleistung F ü r die F e s t s e t z u n g d e r H ö h e d e r an d e n V e r l e t z t e n z u e n t r i c h t e n d e n B u ß e s a h e n die fränkisch-frühmittelalterlichen
Quellen verschiedene Berechnungsmethoden
vor.
I n s b e s o n d e r e die V o l k s r e c h t e e n t h i e l t e n t e i l w e i s e u m f a n g r e i c h e k a s u i s t i s c h e R e g e l u n g e n , die f ü r j e d e d e n k b a r e V e r l e t z u n g o d e r s o n s t i g e S c h ä d i g u n g e i n e g e n a u b e s t i m m t e B u ß e v o r s a h e n 3 3 . S o v a r i i e r t e e t w a die d e m B e l e i d i g t e n z u z a h l e n d e B u ß e , j e n a c h d e m , welches S c h i m p f w o r t der Beleidiger b e n u t z t hatte, nach der L e x Salica z w i s c h e n 3 u n d 4 5 S c h i l l i n g e n 3 4 . N e b e n d e r S c h w e r e des S c h a d e n s k o n n t e n f ü r d e r e n H ö h e Stand, Alter35 u n d G e s c h l e c h t 3 6 v o n T ä t e r u n d O p f e r entscheidend sein37. D i e s w a r v o r a l l e m d a n n d e r F a l l , w e n n s i c h die H ö h e des B u ß g e l d e s aus e i n e m B r u c h t e i l des W e r g e i d e s e r g a b , d a z u m i n d e s t dieses n i e e i n e m E i n h e i t s w e r t e n t s p r a c h , s o n d e r n stets v o n d e r P e r s o n des G e s c h ä d i g t e n a b h i n g 3 8 . D i e H ö h e des W e r geides ( b z w . d e r T ö t u n g s b u ß e ) w a r e r h e b l i c h u n d z u m i n d e s t in f r ä n k i s c h e r Z e i t d u r c h a u s g e e i g n e t , die g e s a m t e F a m i l i e des T ä t e r s bis an die G r e n z e n i h r e r w i r t schaftlichen Leistungsfähigkeit zu fordern39: S o betrug etwa nach der L e x S a x o n u m ( 8 0 2 / 8 0 3 ) die B u ß e f ü r die T ö t u n g o d e r s c h w e r e V e r s t ü m m e l u n g e i n e r a d l i g e n F r a u i m g e b ä r f ä h i g e n A l t e r 2 . 8 8 0 S c h i l l i n g e , h a n d e l t e es s i c h b e i d e m O p f e r u m e i n e n männlichen Adligen, w a r e n 1.440 Schillinge zu zahlen und selbst bei einem H a l b f r e i e n i m m e r h i n n o c h 1 2 0 S c h i l l i n g e , w o b e i ein S c h i l l i n g m i n d e s t e n s m i t d e m W e r t eines einjährigen Rindes gleichgesetzt wurde40.
33 Typisch hierfür ist etwa der Bußenkatalog in der Lex Frisionum 22, der allein für Körperverletzungen 89 unterschiedliche Bußbeträge regelte, die für Adlige jeweils um 1/3 zu erhöhen, für Halbfreie um 1/2 zu senken waren (K.A. Eckhardt, Gesetze Karolingerreiches III, S.92ff.). 34 Lex Salica 49 (K.A. Eckhardt, Gesetze Karolingerreiches I, S. 58ff.), ähnlich bereits Pactus legis Salicae 30, K.A. Eckhardt, Gesetze Merowingerreiches I, S 94ff.), wobei für die Bezeichnung als „Hase", „Füchslein" oder „Scheißkerl" 3 Schillinge zu zahlen waren, für „Buhlknabe", „Hundsfott" oder „Fälscher" 15 Schillinge und für „Hure" 45 Schillinge. 35 Dabei konnte die Buße für Säuglinge deutlich niedriger sein (vgl. z.B. Pactus legis Salicae 24 § 6, K.A. Eckhardt, Gesetze Merowingerreiches I, S. 74f.), bei Frauen differenzierten die Volksrechte zwischen der besonders hohen Buße für Gebärfähige und der niedrigeren Buße für Mädchen und ältere Frauen (Pactus legis Salicae 24 § 8f., ebenda, S. 74ff.; Lex Salica 32,33, ders., Gesetze Karolingerreiches I, S.48f.; ähnlich auch Lex Saxonum 14, ders., a.a.O. III, S.20f.) oder zwischen Jungfrauen und Ehefrauen (Lex Alamannorum 56, ders., Gesetze Merowingerreiches II, S.52); vgl. hierzu: E. Osenhrüggen, Strafrecht, S. 69f. 36 So entsprach nach älterem sächsischen Recht die Tötungsbuße für Männer der für nicht mehr gebärfähige Frauen, während für Frauen im gebärfähigen Alter die doppelte Buße zu zahlen war (Lex Saxonum 14, 15, K.A. Eckhardt, Gesetze Karolingerreiches III, S.20f.). Nach dem Sachsenspiegel betrug dagegen die Buße für Frauen einheitlich die Hälfte der Buße von Männern desselben Standes, vgl. Ssp LandR III 45 §2 („Itslich wip hat ires mannes halbe wergelt unde buze"), nach der Lex Alamannorum war es umgekehrt (Lex Alamannorum 59 §2, K.A. Eckhardt, Gesetze Merowingerreiches II, S. 57: „Diese ganze Buße, die wir Männern zusprechen, werde bei ihren Frauen [wenn es geschieht] sämtlich doppelt gebüßt"). 37 Nachweise bei: ]. Grimm, Rechtsaltertümer II, S.226ff.; R. His, Strafrecht I, S. 589ff. 38 R. His, Strafrecht I, S.594. 39 Beispiele bei: K. Binding, Entstehung, S. 26. 40 Vgl. Lex Saxonum 11, 14, 15, 16, 66 (K.A. Eckhardt, Gesetze Karolingerreiches III, S.18ff.); ähnlich die Berechnungen von H. Rüping, Grundriß (3. Auflage), Rn. 21, auf der Grundlage der Re-
I. Das deutsche
Recht bis zur
Rezeption
19
Stand dem Verletzten nicht eine der Höhe nach festgelegte Pauschalbuße für seinen Schaden zu, sondern wurden getrennte Beträge für Buße i.e.S. (Privatstrafe), Schadensausgleich und Schmerzensgeld 41 ausgeworfen, war die Höhe der Buße oft von der Schadenshöhe abhängig, entsprach also meist einem Vielfachen des Schadens 42 . Im Mittelalter setzte sich dagegen insbesondere bei leichteren Delikten (z.B. Holzfrevel 4 3 ) die Androhung einer für alle einheitlichen Buße gegenüber dem komplizierten Bußensystem der fränkischen Zeit durch 44 . Die Höhe der zu entrichtenden Brüche bzw. des Gewettes war meist an die Schwere der Tat geknüpft, wobei aber oft nur wenige verschiedene Beträge zur Verfügung standen. Diese konnten allerdings durch Vervielfachung oder Teilung variiert werden 4 5 . Sofern die Höhe der an die öffentliche Gewalt zu entrichtenden Strafe an die Stellung des Richters gebunden war 46 , stand dies hierzu nicht im Widerspruch, da über ernstere Missetaten in aller Regel auch ein höherrangiges Gericht zu entscheiden hatte. Ahnlich verhielt es sich bei der auf den älteren Bannus zurückzuführenden Verbindung der Höhe der Brüche mit der Stellung desjenigen, dessen Gebot mißachtet wurde 4 7 . Da mit der Zahlung der Brüche ursprünglich meist eine ansonsten fällige Körperstrafe abgewendet wurde, orientierte sich ihre Höhe daneben verschiedentlich auch an festen Hals- oder Handlösetaxen 48 . Anders als in älterer Zeit sahen mittelalterliche Rechte aber für Rechtsbrecher oft auch nur die Pflicht zur Zahlung einer willkürlichen Brüche vor, deren Höhe daher ganz oder weitgehend dem Ermessen des Richters überlassen blieb 49 . Während in fränkischer Zeit Buße wie Gewette oft (auch) in Naturalien erbracht werden konnten 50 , war dies im Mittelalter bereits eher die Ausnahme. Allerdings hielt sich in ländlichen Gegenden noch länger die Gewohnheit, zumindest bei bestimmten Vergehen originär Naturalleistungen an die Gemeinschaft oder das Gericht als Sanktion vorzusehen 51 . Soweit die Rechtsordnungen des Mittelalters bestimmte Fristen festlegten, innerhalb derer Buße und Gewette vom Täter zu erbringen waren, findet sich sowohl eine gelbuße für die Tötung eines Freien in fränkischer Zeit von 200 Schillingen (vgl. z.B. Lex Salica 69 §1, abgedruckt bei: ders., a.a.O. I, S.72f.). 41 Zur Abgeltung auch immaterieller Nachteile durch die Bußen: E. Kaufmann, Buße, Sp. 576; W. Ogris, Schadensersatz, Sp. 1339. 42 R. His, Strafrecht I, S. 597f. 43 Ssp LandR II 28 (3 Schillinge). 44 R. His, Strafrecht I, S. 598. 45 Vgl. z.B. Lex Salica 69 (K.A. Eckhardt, Gesetze Karolingerreiches I, S. 72f.); Lex Baiuvariorum IV 11 (ders., a.a.O. II, S. 104f.); weitere Nachweise bei: R. His, Strafrecht I, S.597f.; K.O. Scherner, Kompositionensystem, Sp.996. 46 Beispiele hierfür bei: R. His, Strafrecht I, S. 614ff. 47 H. Holzhauer, Geldstrafe, Sp.1467. 48 R. His, Strafrecht I, S.626ff.; H. Holzhauer, Geldstrafe, Sp. 1468. 49 Eh. Schmidt, Einführung, S. 56f.; G. Gudian, Geldstrafrecht, S. 275. 50 H. Holzhauer, Geldstrafe, Sp. 1467; zur Leistung in Naturalien in germanischer Zeit vgl. auch schon P. C. Tacitus, Germania, Kap. 12. 51 K. v. Amira, Grundriss, S. 150; ders., Recht II, 141f.
20
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
Bevorzugung der „privatrechtlichen" Buße (z.B. Schwabenspiegel 52 ) als auch eine grundsätzliche Vorrangstellung für das „strafrechtliche" Gewette (z.B. Sachsenspiegel53)cc) Scheinbußen Bestimmte als unehrlich und damit als nur eingeschränkt rechtsfähig oder als rechtsunfähig geltende Personengruppen 54 hatten bis weit in das Mittelalter hinein nur sehr geringe, wenn nicht gar nur völlig wertlose Bußzahlungsansprüche 55 . Typisch hierfür ist etwa die vom Sachsenspiegel festgesetzte Buße des Schattens eines Mannes für Spielleute und Leibeigene oder das Blinken eines Kampfschildes in der Sonne für Lohnkämpfer und ihre Kinder 5 6 . Teilweise kam diesen Scheinbußen sogar noch eine das Opfer verhöhnende Wirkung zu. So wenn demjenigen, der sein Recht durch Diebstahl o.ä. verwirkt hatte, Besen und Schere, also die Zeichen seiner Bestrafung zu Haut und Haar 5 7 , als Buße zugesprochen wurde 58 . Als Erklärung für die Festsetzung solcher Spottbußen wurde angeführt, dass es dem mittelalterlichen Gerechtigkeitssinn widerstrebt hätte, für eine bußwürdige Tat keine Buße festzusetzen 59 . Uberzeugender erscheint hingegen die auch in den Quellen selbst gelegentlich anzutreffende Begründung 60 , bei einem Verzicht auf jegliche Buße hätte auch die diese zwingend voraussetzende Zahlung des Gewettes an den Richter entfallen müssen, was in dessen Interesse vermieden werden sollte 61 . Mit dem Aufkommen der peinlichen Strafe in den Landfrieden verlor die aus diesen Scheinbußen folgende weitgehende Sühnelosigkeit von Straftaten zu Lasten Rechtsunfähiger dann allerdings weitgehend an Bedeutung, da der „strafrechtliche" Schutz des Friedensrechts sich uneingeschränkt auch auf diese erstreckte 62 .
52 Art. 110 Schwsp („vnd wie vil richter dar nach ist vnd ob er den allen puet die weil der clager vngestillet ist so hilft ez nicht wie vil er den richtern puzet"), zur Stärkung der Rechtsstellung des Geschädigten gegenüber dem Richter vgl. daneben auch Art. 98a Schwsp (hier zit. nach: K.A. Eckhardt, Schwabenspiegel, Langform M, S. 195). 53 Ssp LandR II 5 § 2 S. 1: „... sal man ... gelden... gewette ubir sechz wochen, buze nach deme gewette ubir vierzchenacht. Gewinnet abir der man sine buze er deme gewette, man sal se leisten ubir sechz wochen unde daz gewette dar nach ubir vierzchenacht"; zur Fälligkeit des Wergeides vgl. Ssp LandR I 65 §4 S. 1 (12 Wochen nach Verurteilung). 54 Vgl. nur etwa die Zusammenstellung in: Ssp LandR I 38. Näheres hierzu bei: K. v. Amira, Grundriss, S.91f.; ders., Recht II, S.40. . 55 Vgl. hierzu die Nachweise bei: R. His, Strafrecht I, S. 607f.; D. Munzel, Schattenbuße, Sp. 1359f. 56 Ssp LandR III 45 §9, S.2f. 57 Ssp LandR II 13 §1 S.3; 28 §3 S.2 (jeweils minderschwerer Diebstahl). 58 Ssp LandR III 45 § 9 S.4. 59 So z.B. R. His, Strafrecht I, S.608. 60 So etwa Ssp LandR III 45 § 10. 61 D. Munzel, Schattenbuße, Sp. 1359; H. Brunner, Sippe, S. 6;/. Weiske, Wergeid, S.95. 62 Vgl. z.B. Ssp LandR III 45 §11.
I. Das deutsche Recht bis zur
Rezeption
21
dd) Bußzahlungspflicht und Zahlungsunfähigkeit W a r d e r T ä t e r s e l b s t n i c h t in d e r L a g e , die v e r e i n b a r t e S ü h n e l e i s t u n g a u f z u b r i n g e n , w a r z u n ä c h s t seine Sippe aufgerufen, ihn hierbei zu unterstützen63. D a b e i handelte es s i c h teils u m e i n e n u r m o r a l i s c h e 6 4 , teils a b e r a u c h u m e i n e r e c h t l i c h e P f l i c h t 6 5 . K o n n t e o d e r w o l l t e die S i p p e des T ä t e r s d i e s e m n i c h t h e l f e n , e r w a c h t e die d u r c h d e n Sühnevertrag unterdrückte Pflicht zur R a c h e erneut. D e r T ä t e r wurde friedlos, k o n n t e also bußlos getötet werden66. D i e F o l g e n der Friedlosigkeit trafen auch denjenigen, der sich nicht durch Z a h l u n g des F r e d u s w i e d e r in d e n F r i e d e n e i n k a u f e n k o n n t e : W e r s e i n e H a n d , s e i n e n H a l s o d e r s e i n e H a u t n i c h t z u l ö s e n v e r m o c h t e , erlitt die u r s p r ü n g l i c h v o r g e s e h e n e Körper- oder Todesstrafe67.
d) Prozessrecht
im Früh- und
Hochmittelalter
aa) A n k l a g e p r o z e s s u n d P a r t e i b e t r i e b D e r f r ü h e d e u t s c h r e c h t l i c h e P r o z e s s b a s i e r t e a u c h b e i s c h w e r e n M i s s e t a t e n allein a u f d e r A n k l a g e d u r c h d e n p r i v a t e n K l ä g e r , also d e n d u r c h die T a t V e r l e t z t e n o d e r s e i n e A n g e h ö r i g e n 6 8 . Z i e l des s t r e n g n a c h d e n R e g e l n des P a r t e i b e t r i e b s d u r c h g e f ü h r t e n V e r f a h r e n s w a r n i c h t die K l ä r u n g v o n T ä t e r s c h a f t u n d S c h u l d , s o n d e r n allein, u n t e r E i n h a l t u n g s t r i k t e r F o r m a l i e n , die A u s s ö h n u n g d e r b e t e i l i g t e n S i p p e n herbeizuführen und damit den Frieden wiederherzustellen69. Verfahren von A m t s
63 Zu dem dabei einzuhaltenden Verfahren am Beispiel der Lex Salica: H. Brunner, Sippe, S. 37ff.; weitere Beispiele bei R. His, Strafrecht I, S.648ff.; W. Schild, Wergeid, Sp. 1269. 64 So v.a. nach der im Lauf des Mittelalters zunehmend verbreiteten ausdrücklichen Abschaffung der Hilfspflicht, vgl. hierzu die Nachweise bei R. His, Strafrecht I, S.662ff. 65 Zahlreiche Quellennachweise hierfür bei: R. His, Strafrecht I, S.649ff., v.a. S.649, F N 1. 66 H. Brunner, Sippe, S. 37,42; K. v. Amira, Grundriss, S. 145ff.; ders., Recht II, S. 134ff. O b es dagegen üblich war, wie z.B. noch E. Kaufmann, Fehde, Sp. 1087, unter Berufung auf Lex Salica 100 § 5 (K.A. Eckhardt, Gesetze Karolingerreiches I, S. 102f.) unterstellt, dass in diesem Fall derTäter durch seine Sippe an die des Opfers ausgeliefert wurde, gehörte in den letzten Jahren, wie auch die sonstigen näheren Umstände der Friedlosigkeit und die Entstehung der peinliche Strafe, zu den umstrittensten Aspekten der Strafrechtsgeschichte, wobei die Ergebnisse der strafrechtsgeschichtlichen Forschung des 19. Jahrhunderts z.T. grundlegend in Frage gestellt wurden. Da sich aus diesem Meinungsstreit jedoch für den Gang dieser Untersuchung kaum maßgebliche Erkenntnisse ableiten lassen, kann dies hier nicht vertieft werden. Vgl. zur Kritik an der strafrechtsgeschichtlichen Forschung im 19. Jahrhundert und zu den neueren Forschungsergebnissen auf diesem Gebiet nur: O. Hein, Vom Rohen zum Hohen (2001), v.a. S.203ff.; zum derzeitigen Stand der strafrechtsgeschichlichen Forschung vgl. daneben: J. Weitzel, Vorverständnisse, S.539ff.; G. Jerouschek, Geburt, S.497ff. 67 W. Ogris, Lösung, Sp.55f.; E. Kaufmann, Strafe, Sp.2012. 68 Zum mittelalterlichen Verfahrensrecht vgl. nur:/. W. Planck, Gerichtsverfahren I, S. 155ff., II, S. 285ff.; Eh. Schmidt, Einführung, S. 37ff., 76ff.; H. Rüping, Grundriß (3. Auflage), Rn. 34; H. Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 146ff. 69 J. Gernhuber, Landfriedensbewegung, S. 11; W. Sellert/H. Rüping, Studien- und Quellenbuch I, S. 57.
22
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
wegen gab es dagegen nur ganz vereinzelt und nur für wenige, besondere Arten von Rechtsbrüchen 7 0 . b b ) Einzelne Klagearten bei Rechtsbrüchen D i e fließenden Ubergänge zwischen Zivil- und Strafrecht im älteren deutschen R e c h t zeigen sich gerade bei einer Betrachtung der einzelnen Klagearten besonders deutlich. Exemplarische Bedeutung sowohl für die ursprüngliche Verbindung wie auch die spätere Trennung beider Prozessarten k o m m t dabei einerseits dem H a n d haftverfahren, andererseits der Anefangsklage zu. (1) Das Handhaftverfahren Das Handhaftverfahren 7 1 entwickelte sich aus dem in germanischer Zeit anerkannten R e c h t , denjenigen bußlos zu töten, den man auf frischer Tat bei der Begehung eines Friedensbruchs antraf, so dass dem Täter also gewissermaßen noch die Spuren seiner Tat an den Händen hafteten 7 2 . Dieses Recht zur sofortigen, an keine weiteren Formvorschriften gebundenen T ö t u n g wurde in fränkischer Zeit auf wenige, in den Volksrechten im Einzelnen aufgezählte Delikte ( z . B . nächtlicher Diebstahl, Brandstiftung mit Todesfolge, Ehebruch) sowie auf Fälle beschränkt, in denen sich der T ä ter der Festnahme widersetzte oder zu fliehen versuchte 7 3 . Selbst bei diesen Delikten wurde der Geschädigte darüber hinaus aber, zumindest in späterer Zeit, verpflichtet, nach der T ö t u n g des Täters dessen Tat durch eine „Klage gegen den toten M a n n " 7 4 zu verklaren, wollte er nicht seinerseits bußpflichtig werden 7 5 . Bei allen übrigen Delikten sowie immer dann, wenn der T ä t e r nicht sofort, sondern erst nach Verfolgung oder Spurfolge, allerdings noch unter Einhaltung der zum Handhaftverfahren berechtigenden Formalien (Erhebung des Gerüftes, Anwesenheit von Schreimannen, Stellen des Täters innerhalb der meist dreitägigen Spurfolgefrist) 7 6 , ergriffen wurde, musste nunmehr stets ein gerichtsförmliches Verfahren eingeleitet werden 7 7 . Dieses begünstigte allerdings den Kläger im Vergleich zur einfa70 Vgl. zu dieser Entwicklung statt aller: H. Rüping, Grundriß (3. Auflage), Rn.37; Eb. Schmidt, Einführung, S. 38ff.; R. Schröder/Eh. Frhr. v. Künßherg, Lehrbuch, S. 79. 71 Vgl. z.B. Ssp LandR II 35; dazu: J.W. Planck, Gerichtsverfahren I, S.819ff.; D. Werkmüller, Handhafte Tat, Sp. 1965ff.; H. Meyer, Gerüft, S.382ff.; H. Brunner/C. Frhr. v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S.626ff.; Eb. Schmidt, Einführung, S.40,81 ff.;//. Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 149f.;/. Gernhuber, Landfriedensbewegung, S. 153ff.; F. Ehel/G. Thielmann, Rechtsgeschichte, Rn.416. 72 H. Brunner/C. Frhr. v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 627; D. Werkmüller, Handhafte Tat, Sp. 1966. 73 Vgl. z.B. Lex Frisionum 5 § 1 (K.A. Eckhardt, Gesetze Karolingerreiches III, S. 74f.); Lex Saxonum32 (ders., a.a.O. III, S.22f.); weitere Nachweise bei:D. Werkmüller, Handhafte Tat, Sp. 1967;//. Brunner/C. Frhr. v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S.631. 74 Zu dieser: D. Werkmüller, Klage, Sp. 845ff.; ders., Handhafte Tat, Sp. 1970. 75 Ssp LandR II 14. 76 Vgl. z.B. Ssp LandR I 62. 77 D. Werkmüller, Handhafte Tat, Sp. 1970;//. Brunner/C. Frhr. v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 630ff.
I. Das deutsche Recht bis zur Rezeption
23
chen Klage um Ungericht in hohem Maße, indem es die Verteidigungsrechte des B e klagten erheblich beschnitt oder ihm sogar vollständig entzog und ihn zum bloßen O b j e k t des Verfahrens degradierte 7 8 . Wichtigste Folge hiervon war die Unzulässigkeit des Reinigungseides 7 9 , mit der ein Beklagter sich im regulären Verfahren jeder Sanktion zu entziehen vermochte 8 0 . Im Handhaftverfahren konnte der Kläger den Beklagten dagegen übersiebnen 8 1 , d.h. mit sechs Eidhelfern überschwören, woraufhin gegen diesen zwingend die - nicht ablösbare - Todesstrafe zu verhängen war. Allenfalls der flüchtige Täter, der sich freiwillig und ohne zuvor auf Betreiben des Klägers verfestigt worden zu sein, dem Gericht stellte, konnte zum qualifizierten Reinigungseid (mit Eidhelfern) oder zum Zweikampf zugelassen werden 8 2 . D i e enge Verflechtung von Straf- und Zivilrecht zeigte sich beim Handhaftverfahren vor allem an zweierlei: Zum einen war der Verletzte die treibende Kraft des Verfahrens, während sich die Mitwirkung des Gerichts auf die Überwachung der E i n haltung der Formvorschriften und die Vollstreckung der Todesstrafe beschränkte 8 3 . Zum anderen zielte das Verfahren in den (häufigen) Fällen, in denen der Kläger dem Beklagten R a u b oder Diebstahl vorwarf, nicht nur auf dessen Tötung, sondern immer auch gleichermaßen auf die Rückerlangung der entwendeten Gegenstände 8 4 . A n Bedeutung verlor das Handhaftverfahren erst mit dem A u f k o m m e n des Inquisitionsprozesses. A b der Carolina von 1532, die ein solches vereinfachtes Verfahren nicht mehr erwähnte, spielte es in der deutschen Rechtspraxis dann endgültig keine Rolle mehr 8 5 . (2) D i e Anefangsklage Eng mit dem Handhaftverfahren verwandt war die Anefangsklage 8 6 . Hierbei handelte es sich um den klassischen Fall einer Verfahrensart, die aus heutiger Sicht zivilund strafrechtliche K o m p o n e n t e n miteinander gleichrangig verband. Vorrangiges Ziel der seit germanischer Zeit überlieferten 8 7 Anefangsklage war es, demjenigen, D. Werkmüller, Handhafte Tat, Sp. 1969. D. Werkmüller, Handhafte Tat, Sp. 1971; H. Brunner/C. Frhr. v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S.634; zum Reinigungseid vgl. E. Kaufmann, Reinigungseid, Sp. 837ff. 80 H. Brunner/C. Frhr. v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S.634 (mit Nachweisen hierzu aus den Volksrechten). 81 Ssp LandR I 66 §1. 82 D. Werkmüller, Handhafte Tat, Sp. 1971. 83 D. Werkmüller, Handhafte Tat, Sp. 1969; H. Brunner/C. Frhr. v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 633 ff. 84 H. Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 149. 85 D. Werkmüller, Handhafte Tat, Sp. 1973. 86 Vgl. hierzu: J.W. Planck, Gerichtsverfahren I, S.824ff.; P. Lahand, Klagen, S.90ff.; D. Werkmüller, Anefang, Sp. 159ff.; H. Meyer, Gerüft, S. 382ff.; H. Brunner/C. Frhr. v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S.645ff.; ein Uberblick über den bis ins 20. Jahrhundert hinein anhaltenden Streit über die Funktion der Anefangsklage findet sich bei: A. Schultze, Bedeutung, S. 759ff.; Beispiele für die Anefangsklage aus dem Magdeburger Rechtskreis bei: /i Ebel, Rechte Weg I, B 51, D 25, D 56, G 17, ebenda, II, P 67, T 17, T 75, T 76, V 74, V 84, V 86. 87 D. Werkmüller, Anefang, Sp. 159; zahlreiche Nachweise bei: A. Schultze, Bedeutung, S. 763ff. 78 79
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B. Die Grenze zwischen
Privat-
und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
dem in seiner Gewere befindliche bewegliche Sachen, Tiere oder Unfreie abhanden gekommen waren, diese wieder zu verschaffen. Zugleich enthielt die Erhebung der Anefangsklage, die durch ein bestimmtes, formalisiertes Anfassen der Sache beim Beklagten außergerichtlich eingeleitet wurde 8 8 , den bedingten Vorwurf des Diebstahls oder Raubes 89 . Stellte sich im Verlauf des Verfahrens heraus, wer die Sache gestohlen oder geraubt hatte, endete der Prozess daher nicht mit der Verurteilung des unrechtmäßigen Besitzers zur Herausgabe der Sache, sondern mündete unmittelbar in ein Verfahren wegen der begangenen Missetat, das seinen Abschluss in einer Verurteilung des Täters zur Bußzahlung fand 90 . Für den Kläger bot die Anefangsklage mehrere Vorteile, deren Berechtigung sich aus der Offenkundigkeit des Vorhandenseins der Sache beim Beklagten ergab: Hatte der jetzige Inhaber der Gewere über die Sache diese nicht entwendet, sondern gelang ihm die Entlastung durch den Zug auf seinen Gewähren, also denjenigen, von dem er die Sache erhalten hatte, wurde der Anefangskläger, anders als bei einer normalen Ungerichtsklage 9 1 , nicht wegen Falschbeschuldigung bußpflichtig. Vielmehr schied der erste Beklagte lediglich aus dem Verfahren aus, in das dafür sein Gewährsmann in vollem Umfang eintrat 92 . Eine Bußpflicht des Klägers kam daher allenfalls bei endgültigem Scheitern seiner Klage in Betracht, also wenn sich herausstellte, dass sich die von ihm herausgeforderte Sache nie in seiner Gewere befunden hatte oder ihm jedenfalls nicht abhanden gekommen war 9 3 . Zugleich hatte die Anefangsklage gegenüber dem Handhaftverfahren den Vorteil, nicht wie dieses zwingend an einen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Begehen der Tat und der Ergreifung des Täters geknüpft zu sein. Umgekehrt beschnitt das Anefangsverfahren die Verteidigungsrechte des Beklagten allerdings auch nicht in annähernd gleicher Weise wie das Handhaftverfahren. Im Gegensatz zum Handhaftverfahren, das im Verlauf des Mittelalters maßgeblich zur Entwicklung eines Strafverfahrens i.e.S. beitrug, verstärkten sich bei der Anefangsklage in seiner Endphase zunehmend die zivilrechtlichen Aspekte 94 . So konnte sie im späteren Mittelalter nicht nur bei gestohlenen oder geraubten Sachen erhoben werden, sondern bei jedwedem unfreiwilligen Gewereverlust 95 . Außerdem 88 Typisch die Formel des Magdeburger Weistums für Breslau von 1295, § 6: „Sprichet ein man sin gut an... daz ime abegestolen oder geroubet si, da sal he sich zu zen mit sin eines hant unde sal sweren uf den heiligen, daz iz to sin were unde noch sin si..." (hier zitiert nach: F. Ebel, Magdeburger Recht II/l, Nr.2). Besonders aufwendige Formalien galten oft für den Anefang eines Pferdes, vgl. ebenda, §7. Ahnlich auch schon die Anefangsklage des Sachsenspiegels: Ssp LandR II 36, III 5. 89 D. Werkmüller, Anefang, Sp. 160; P. Laband, Klagen, S. 104, 93f.;/. W. Planck, Gerichtsverfahren I, S. 824. 90 P. Laband, Klagen, S.99; D. Werkmüller, Sp. 161f. 91 ]. W. Planck, Gerichtsverfahren II, S.234. 92 D. Werkmüller, Anefang, Sp. 161 f. 93 Ssp LandR II 36 §5. Zu den möglichen Einwänden des Beklagten im Anefangsverfahren mit zahlreichen Quellennachweisen: P. Laband, Klagen, S.95ff.; vgl. daneben: D. Werkmüller, Anefang, Sp. 162. 94 ]. W. Planck, Gerichtsverfahren I, S. 835ff. 95 J. W. Planck, Gerichtsverfahren I, S.838; R. Hübner, Grundzüge, S.442.
I. Das deutsche Recht bis zur
Rezeption
25
wurden die Möglichkeiten des Beklagten erweitert, auch ohne die Stellung eines Gewähren den Vorwurf des Gewerebruchs abzuwehren, insbesondere in Fällen des Kaufs auf freiem Markt oder bei über See eingeführten Sachen96. In seiner Spätform glich die Anefangsklage damit weitgehend einer auf §1007 Abs. 2 BGB gestützten Herausgabeklage 97 .
2. Die Entstehung des modernen Strafrechts Auch für das hohe und späte Mittelalter lässt sich noch keine eindeutige Trennung von Zivil- und Strafrecht feststellen. Dafür gewann parallel zur Entstehung und Ausbreitung der peinlichen Strafen die Unterscheidung von Prozessarten, die peinlich waren oder werden konnten 98 und solchen, bei denen dies nicht der Fall war, an Bedeutung 99 . Da peinliche Strafen stets von den Gerichten der in dieser Zeit erstarkenden territorialen Herrscher verhängt und vollstreckt wurden sowie in aller Regel die zusätzliche Festsetzung von Privatstrafen ausschlössen („Wor der dudische man sinen lip adir sine hant verwerkit mit ungerichte, her lose sie adir en tu, her en darf da gewette noch buze geben"100), mündete diese Entwicklung schließlich in die heute übliche Aufteilung der Rechtsfolgen einer rechtswidrigen Handlung: „Strafrecht und Zivilrecht trennten sich allmählich und begannen eigene Wege zu gehen" 101 . a) Die Einflüsse von Christentum
und
Kirchenrecht
Die in ihrer Bedeutung für die mittelalterliche Rechtsordnung kaum zu überschätzende Kirche blieb auch auf die Ausbildung des Strafrechts nicht ohne Einfluss 102 . Außer an der Gottesfriedensbewegung 103 wird dies vor allem an zwei Punkten deutlich: zum einen an der Täterorientierung des Strafrechts, die im Laufe des Mittelalters das zuvor vorherrschende tatorientierte Erfolgsstrafrecht ablöste, zum anderen an der Herausbildung des kanonischen Schuldbegriffs. aa) Täterorientierung des Strafrechts Mit der Ausbreitung der christlichen Ethik trat die Persönlichkeit des Einzelnen gegenüber den Personalverbänden der früheren Zeit zunehmend in den Vorder96
D. Werkmüller, Anefang, Sp. 163. D. Werkmüller, Anefang, Sp. 163. 98 Z u r U n t e r s c h e i d u n g zwischen bürgerlichen, peinlichen u n d gemischten Klagen: W. Sellen, Borgerlike, pinlike u n d misschede klage, S. 321 ff. 99 Ein umfassender Uberblick über die Klagearten des Mittelalters, gestützt auf zahlreiche Beispiele aus d e m sächsischen Rechtskreis bei: P. Laband, Die vermögensrechtlichen Klagen (1869). 100 So z.B. Ssp L a n d R III 50. 101 W. Sellert/H. Rüping, Studien- u n d Q u e l l e n b u c h I, S. 99; zur Frühphase des öffentlichen Strafrechts vgl. die Beiträge in: D. Willoweit (Hg.), Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts (1999). 102 Vgl. hierzu aus neuerer Zeit R. Sprandel, Punkte, S. 192ff., 206f.; W.M. Plöchl, Geschichte II, S.384ff. 103 Zu diesen unten, B.1.2.c). 97
26
B. Die Grenze zwischen
Privat-
und, Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
grund 104 : Nicht wie nach germanisch-fränkischem Rechtsdenken der herbeigeführte Erfolg, sondern der Täter wurde ausschlaggebend für die Beurteilung einer rechtswidrigen Handlung 1 0 5 . Delikte waren damit nicht mehr nur bloße Störungen der überlieferten Ordnung, sondern Sünde desjenigen, der sie beging. Eine solche Sünde berechtigte und verpflichtete aber nicht nur den jeweils unmittelbar Verletzten, sondern die Rechtsgemeinschaft als Ganzes, ohne Rücksicht auf die Stellung des Täters gegen diesen vorzugehen 1 0 6 . Diese gewandelte Sichtweise führte zunächst zu einer Rationalisierung des Prozessrechts, da die für eine Beurteilung des Täters unverzichtbare Suche nach der Wahrheit es nicht länger dem Willen des privaten Klägers oder anderen Zufälligkeiten überlassen konnte, wie ein Gerichtsverfahren endete 107 . Zum anderen musste das fortan mit einer Verurteilung verknüpfte Unwerturteil über den Angeklagten zwingend auf dessen Schuld beruhen, die es daher zu ermitteln galt 108 . bb) Kanonistische Schuldlehre Die nach älterem deutschen Recht bestehende Haftung für jeden herbeigeführten Erfolg, unabhängig von der Frage des Verschuldens, ließ sich mit der spätmittelalterlichen Einordnung der Missetaten als Sünde des Täters nicht mehr vereinbaren und wurde daher zunehmend eingeschränkt 109 . Allerdings geschah dies zunächst lediglich durch die kasuistische Regelung bestimmter Fallgruppen, bei denen üblicherweise kein Vorsatz anzunehmen war (z.B. Erschlagen beim Fällen eines Baumes, Jagdunfälle) 1 1 0 . Maßgeblich für die ersten Ansätze zur Herausbildung eines Fahrlässigkeitsbegriffes wurde dabei die kanonistische Lehre vom versari in re illicita 111 . Danach haftete ein Täter für zufällig herbeigeführte Erfolge, wenn seine Vorhandlung verboten war, stets, im übrigen hingegen nur, wenn ihm Fahrlässigkeit vorzuwerfen war (also jedenfalls entgegen früherer Gewohnheit nicht für Zufall) 112 . WähW. Sellen/H. Rüping, Studien- und Quellenbuch I, S.96. H. Fehr, Rechtsgeschichte, S. 167f.; C. v. Schwerin, Rechtsgeschichte, S.207; W. Ogris, Unerlaubte Handlung, Sp.460; F. Grunert, Theologien, S.320f. 106 W.M. Plöchl, Geschichte II, S.387; W. Sellen/H. Rüping, Studien- und Quellenbuch I, S.96. 107 Eb. Schmidt, Strafrechtspflege, S.234; H. Hattenhauer, Bedeutung, S.46ff.; W.M. Plöchl, Geschichte II, S.387. 108 W.M. Plöchl, Geschichte II, S.383ff.; H.-P. Benöhr, Haftung, S.693; W. Ogris, Unerlaubte Handlung, S.460. 109 ^ Sellert/H. Rüping, Studien- und Quellenbuch I, S.96; zum Einfluss des kanonischen Rechts auf die sich allmählich ausbildenden Ansätze eines Verschuldensprinzips auch: J. Weitzel, Vorverständnisse, S. 552ff. 110 Beispiele hierfür bei: H. Brunner, Rechtsgeschichte I, S.214ff.; E. Kaufmann, Fahrlässigkeit, Sp. 1046; ders., Erfolgshaftung, Sp.990ff.; W. Sellert/H. Rüping, Studien- und Quellenbuch I, S. 59ff.; R. His, Strafrecht I, S. 86ff.; speziell zur Haftung für die Tötung beim Baumfällen: H. Hattenhauer, De arbore, S. 11 ff. 111 Vgl. zu dieser: S. Kuttner, Schuldlehre, S.200ff.; H. Rüping/G. Jerouschek, Grundriß, Rn.33; W.M. Plöchl, Geschichte V, S.62f.; F. Ebel/G. Thielmann, Rechtsgeschichte, Rn.429, 440; E. Kaufmann, Fahrlässigkeit, Sp.1048. 112 S. Kuttner, Schuldlehre, S.201 ff.; H. Rüping/G. Jerouschek, Grundriß, Rn.33. 104
105
I. Das deutsche
Recht bis zur Rezeption
27
rend Vorsatztaten nunmehr in aller Regel zur peinlichen Bestrafung des Täters führten, sofern diese nicht abgelöst werden konnte, beschränkten sich die Folgen der meisten Fahrlässigkeitstaten weiterhin auf die Pflicht zur Zahlung des Wergeides oder auch sogar nur auf die Pflicht zum Schadensausgleich 113 . Der eindeutig strafrechtlichen Verfolgung bei grobem Verschulden stand also die überwiegend zivilrechtliche Ahndung leichter Schuld gegenüber. Die letztgenannte Gruppe umfaßt auch die Fälle des nach wie vor verschuldensunabhängigen Eintretenmüssens des Familienoberhaupts für die Missetaten der unter seiner Aufsicht stehenden Kinder und Geisteskranken 114 . Allerdings wurde diese Haftung teilweise auf das Vermögen des Täters beschränkt 115 . b) Mittelalterliche
Massenkriminalität
und ihre
Bekämpfung
Die gesellschaftlichen Umwälzungen, von denen Zentraleuropa während des Hochmittelalters erschüttert wurde, bewirkten neben einer Schwächung der weltlichen Obrigkeit als Folge des Investiturstreits auch eine gesteigerte Mobilität der Bevölkerung. Diese war nicht nur Vorbedingung für die Kreuzzüge dieser Zeit, sondern vor allem auch für das Aufblühen des Fernhandels und das Fortschreiten der deutschen Ostkolonisation. Zugleich löste die einsetzende geistige Revolution, die letztlich den Weg für die spätere Rezeption des römischen Rechts ebnete, eine „Entheiligung des alten Rechts" 1 1 6 und damit auch den Beginn der Säkularisierung des Strafrechts aus. Die Konsequenz dieser Entwicklung war die Herausbildung des bis dahin nahezu unbekannten Phänomens der allgegenwärtigen Massenkriminalität, die Ende des 12. Jahrhunderts Walter von der Vogelweide zu seiner berühmten Schilderung der Zustände im Reich veranlasste: „untriuwe ist in der säze, gewalt vert uf der sträze: fride unde reht sint sere wunt" 1 1 7 . Die Straftäter dieser Epoche rekrutierten sich überwiegend aus dem fahrenden Volk, den sogenannten landschädlichen Leuten 1 1 8 . Gegen diese mittellosen und nicht durch ihre religiösen Bindungen zur Wahrheit verpflichteten Täter war das alte deutsche Prozessrecht mit Privatklage, Reinigungseid und Kompositionensystem weitgehend machtlos 119 . Gleichzeitig beförderte die von diesen Berufskriminellen ausgehende Bedrohung die Uberzeugung, dass sich hiergegen nicht mehr der Einzelne, sondern nur noch die Gemeinschaft als Ganzes erfolgreich zur Wehr setzen könne 1 2 0 . Dies bewirkte eine Rationalisierung des VerE. Kaufmann, Fahrlässigkeit, Sp. 1046. Ssp LandR II 65 § 1 S.2. 115 So z.B. durch Ssp LandR II 65 §1 S.3. 116 H. Hattenhauer, Bedeutung, S.95. 117 Walter v. d. Vogelweide, Sprüche 2, S. 10. Ahnlich noch ein halbes Jahrhundert später die Schilderung durch Thomas v. Aquin (1225/26-1274), vgl. dazu die Nachweise bei: H. Fehr, Rechtsgeschichte, S. 107. 1 1 8 Zudiesen:D. Werkmüller, Handhafte Tat, Sp. 1972; H. Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 390; Eb. Schmidt, Einführung, S. 82ff. 119 H. Rüping, Grundriß (3. Auflage), R n . 8 2 . 120 ]. Gernhuber, Landfriedensbewegung, S. 119ff., 143ff.; W. Sellert/H. Rüping, Studien- und Quellenbuch I, S.49; R. Sprandel, Punkte, S. 196ff. 113
114
28
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
fahrensrechts durch an bestimmte Indizien geknüpfte Schuldvermutungen, eine Zurückdrängung der Möglichkeit zur Leistung des Reinigungseides durch den Angeklagten und die Ausweitung des aus dem Handhaftverfahren bekannten Ubersiebnens auch auf andere Prozesse und bereitete damit den Weg für die Ausformung des neuzeitlichen Strafverfahrens 121 . Daneben führte die auf Grund der Zahlungsunfähigkeit dieser Täter bestehende Notwendigkeit, statt finanzieller Sanktionen Körperstrafen oder Landesverweisungen zu verhängen 122 , zu einem Bedeutungsverlust der aus heutiger Sicht privatrechtlichen Elemente der mittelalterlichen Rechtsfolgen von Unrechtstaten.
c) Gottes- und
Landfriedensbewegung
Die vor dem Hintergrund des Zerfalls des Karolingerreiches gedeihende Kriminalität, bei gleichzeitig stetig nachlassender Durchsetzungsfähigkeit der traditionellen Gerichtsgewalten, beförderte spätestens ab dem 11. Jahrhundert auch in Deutschland ein Ausufern von Selbsthilfemaßnahmen all derer, die dazu in der Lage waren. Der häufige Missbrauch insbesondere der ritterlichen Fehde 1 2 3 mit seinen verheerenden Folgen für die Landbevölkerung sowie den Fernhandel weckte aber auch schon früh das Bedürfnis nach einer Beschränkung dieser Selbstjustiz. Zum einen bemühte man sich daher, die streitenden Parteien zum Abschluss eines Sühnevertrages zu zwingen, um so den Ausbruch von Fehdehandlungen von vornherein zu vermeiden 124 . Zum anderen wurde die Durchführung einer rechtlich geduldeten Fehde, wenn sie sich schon nicht vermeiden ließ, zumindest an umfassende Formvorschriften geknüpft 125 . So mussten etwa Fehdehandlungen rechtzeitig und in bestimmter Form angekündigt werden 126 . Außerdem setzte die Zulässigkeit der Fehde voraus, dass eine gerichtliche Durchsetzung des Anspruchs nicht möglich war 127 . Wegen der Schwäche der weltlichen Herrschaft dieser Zeit ging der Kampf gegen den Fehdemissbrauch anfangs vornehmlich von der Kirche als der einzigen noch existierenden Institution aus, die mit der Exkommunikation über ein effektives und überregionales Vollstreckungsmittel verfügte 128 . Die Kirche bediente sich dabei ab H. Rüping, Grundriß (3. Auflage), Rn.86ff.; Eh. Schmidt, Einführung, S.Blff. G. Radbruch, Ursprung, S. 1 ff.; R. Sprandel, Punkte, S.190ff., 206; H. Rüping, Geldstrafe, S.676. 123 Vgl. E. Kaufmann, Fehde, Sp. 1090ff.; ders., Landfrieden, Sp. 1457ff.; ausführlich zur spätmittelalterlichen Fehde auch: M.G. Fischer, Rechtscharakter, S. 123ff. 124 H. Holzhauer, Geldstrafe, Sp. 1469f.; E. Kaufmann, Strafe, Sp.2012f.; ders., Fehde, Sp. 1088; ders., Erfolgshaftung, Sp.993;/. Gernhuber, Landfriedensbewegung, S.13ff. 125 Vgl. die Nachweise hierfür bei; W. Sellert/H. Rüping, Studien- und Quellenbuch I, S. 97ff.;/. Gernhuber, Landfriedensbewegung, S. 174ff.; M.G. Fischer, Rechtscharakter, S. 135ff.; A. Buschmann, Landfriede, S. lOOff. 126 Typisch hierfür etwa Art. 6 des Mainzer Reichslandfriedens von 1235 (abgedruckt bei: A. Buschmann, Kaiser, S. 86). 127 So etwa in Art. 5 des Mainzer Reichslandfriedens von 1235 (abgedruckt bei: A. Buschmann, Kaiser, S.85). 128 Vgl. F. Elsener, Exkommunikation, S. 152ff.; E. Kaufmann, Landfrieden, Sp. 1458. 121 122
I. Das deutsche Recht bis zur
Rezeption
29
dem späten 10. Jahrhundert zunächst in Südfrankreich, einige Jahrzehnte danach aber auch in Deutschland sogenannter Gottesfrieden 129 , um weltlichen Missetaten wie Mord oder Raub (auch) mit kirchlichen Sanktionen entgegenzutreten. Gerade in Deutschland wurde die Grundidee der Gottesfrieden, das althergebrachte Kompositionensystem durch andersartige, härtere und dadurch effektivere Sanktionen zu ergänzen, allerdings bereits im 11. Jahrhundert von den weltlichen Gewalten aufgegriffen: Die Landfrieden 130 , bei denen es sich zu Beginn um beschworene Satzungen, später um Gesetze handelte 131 , übernahmen die Schutzbestimmungen der Gottesfrieden. Als Sanktion für Verletzungen des von ihnen angeordneten Friedens sahen sie, wie in Deutschland zum Teil auch schon die Gottesfrieden 132 , peinliche Strafen vor, meist Enthauptung und Handverlust 133 . Diese Rechtsfolgen trafen auch in der Zeit der Landfriedenssatzungen keineswegs nur den Schwörenden als Konsequenz seines Schwurbruchs, sondern jeden, der den Landfrieden brach 134 . Zweck des Schwörens durch die Landesherren war es lediglich, diese in besonderem Maße zur Bekämpfung der Fehde und sonstigen Kriminalität in ihrem Zuständigkeitsbereich anzuhalten 135 . Vom Schutz der Gottes- und Landfrieden wurden einerseits bestimmte Personengruppen (z.B. Bauern, Kaufleute, Frauen, Geistliche) oder Orte (v.a. Kirchen), andererseits bestimmte Zeiten (Feiertage, Adventszeit, einzelne Wochentage) erfasst (pax bzw. treuga) 136 . Die zunächst meist engen Grenzen unterliegende Geltungsdauer der Landfrieden wurde im Verlauf der Landfriedensgesetzgebung immer weiter ausge129 Zu diesen vgl.: / . Gernhuber, Landfriedensbewegung, S.41 ff.; H. Hattenhauer, Bedeutung, S. 115ff.; R. His, Strafrecht I, S. 3ff.; V. Achter, Ü b e r den U r s p r u n g der Gottesfrieden (1955); ders., Gottesfrieden, Sp. 1762ff.; H. Hoffmann, Gottesfriede u n d Treuga Dei (1964); E. Kaufmann, Landfrieden, Sp. 1457ff.; H.-W. Goetz, Gottesfriedensbewegung, S. 31 ff.; K. Richter, Wibald, S.25f. 130 Vgl. hierzu: ]. Gernhuber, Landfriedensbewegung, S.60ff.; E. Kaufmann, Landfrieden, Sp. 1451 ff.; H. Holzhauer, Landfrieden, Sp. 1465ff.; H. Hattenhauer, Bedeutung, S. 131ff.; R. His, Strafrecht I, S.6ff.; E. Schuhen, Landfrieden, S. 123ff.; E. Wadle, Landfriedensrecht, S.73ff.; A Buschmann, Landfriede, S.95ff.; K. Richter, Wibald, S.26ff.; Eb. Schmidt, Strafrechtspflege, S.236ff.; ders., E i n f ü h r u n g , S. 57ff.; H. Rüping/G. Jerouschek, G r u n d r i ß , R n . 4 8 f f . 131 W. Ebel, Geschichte Gesetzgebung, S.46ff.; R. His, Strafrecht I, S. 7ff. 132 So etwa schon der Sächsische Gottesfrieden von 1084 (vgl. den Textauszug bei: W. Sellert/H. Rüping, Studien- und Quellenbuch I, S. 114, N r . 1 b): „Wer sich das herausnimmt - ganz gleich, welchen Standes er ist - , der soll seinen Kopf verlieren"; noch verbreiteter waren in den deutschen G o t tesfrieden peinliche Strafen f ü r Unfreie, vgl. die Nachweise bei V. Achter, U r s p r u n g , S.23. 133 Vgl. die Quellennachweise bei W. Sellert/H. Rüping, Studien- u n d Q u e l l e n b u c h I, S. 118ff., Nr. 9 a, 9 c, 10 a, 11, 14 a, 14 b; Ssp L a n d R II 13 §5; eingehend zur Bestrafung des Friedensbrechers nach d e m Sachsenspiegel: R. His, Strafrecht I, S. 241 ff. 134 D e n n o c h w u r d e d u r c h königliche G e b o t e u n d die Verpflichtung der Eidgenossen, Eidverweigerer wie Eidbrecher zu strafen, zumindest in der Frühphase der Landfriedensbewegung versucht, einen möglichst großen Anteil der Bevölkerung zur Eidesleistung zu zwingen, vgl. W. Ebel, Geschichte Gesetzgebung, S.47f.; H. Hattenhauer, Bedeutung, S. 136f.; R. His, Strafrecht I, S. l l f . ; E. Schubert, Landfrieden, S. 133ff.; in einzelnen Fällen w u r d e n zunächst aber auch n u r die Schwörenden als Friedensbrecher behandelt, vgl. hierzu die Nachweise bei H. Holzhauer, Landfrieden, Sp. 1470f. 135 R. His, Strafrecht I, S . l l . 136 So etwa in: Ssp L a n d R II 66; weitere Quellennachweise bei W. Sellert/H. Rüping, Studien-und Q u e l l e n b u c h I, S. 113ff., N r . 1 a, 1 b, 2, 3 a; vgl. hierzu auch H. Holzhauer, Landfrieden, Sp. 1467.
30
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
dehnt 1 3 7 . Schließlich entfiel die Befristung ganz, spätestens mit dem Ewigen Landfrieden von 1495 1 3 8 . Allerdings konnte schon seit dem Mainzer Reichslandfrieden von 1235 1 3 9 auf eine Aufnahme der einzelnen Strafbestimmungen in die Landfrieden regelmäßig verzichtet werden, da diese gemeines Recht geworden waren 1 4 0 . Tatsächlich ließ sich jedoch das mit den Landfrieden angestrebte G e w a l t m o n o p o l des Staates erst wesentlich später, weit nach der Carolina von 1532 1 4 1 , in den absolutistischen Territorialstaaten auch nur annähernd verwirklichen 1 4 2 . D u r c h die in den Landfrieden vorgesehene Ahndung einer Vielzahl von Delikten mit peinlichen und damit öffentlich-rechtlichen Strafen verlor das ältere Bußensystem an Bedeutung, da nach verbreiteter Ansicht eine peinliche Strafe die zusätzliche Verhängung von privatrechtlichen Sanktionen ausschloss 1 4 3 . Bei diesem Bedeutungsverlust blieb es auch in den Fällen, in denen es dem Täter gelang, den Vollzug der peinlichen Strafe durch Ablösezahlungen abzuwenden, da diese stets an den G e richtsherren und nicht etwa an den Geschädigten erfolgten 1 4 4 .
d) Die Ausbreitung
der peinlichen
Strafe
Wie und wann es im Verlauf des Mittelalters zur Durchsetzung der peinlichen Strafe kam, ist nach wie vor unklar und in vielerlei Hinsicht umstritten. Wenn auch vielleicht nicht von der „Geburt der Strafe" (V. Achter) 1 4 5 , so kann aber doch wohl jedenfalls vom Beginn der Entstehung eines umfassenden öffentlichen (peinlichen) Strafrechts erst im späten 12. Jahrhundert ausgegangen werden 1 4 6 . Ermöglicht wurden die damit verbundenen grundlegenden Umwälzungen, die das frühmittelalterliche Kompositionensystem zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert in ein öffentlich-
137
Vgl. zu dieser Entwicklung die Nachweise bei:J. Gernhuher, Landfriedensbewegung, S. 60ff.,
173 ff. 138 §§1, 12 des Ewigen Landfriedens vom 7.8. 1495, abgedruckt bei: A. Buschmann, Kaiser, S.157ff. 139 Mainzer Reichslandfriede vom 15./21.8. 1235, abgedruckt bei: A. Buschmann, Kaiser, S. 80ff. 140 R. His, Strafrecht I, S. 14. 141 Vgl. daher dort noch die Differenzierung zwischen rechtmäßiger und widerrechtlicher Fehde in Art. 129 CCC; dazu: H. Holzhauer, Landfrieden, Sp. 1480. 142 E. Kaufmann, Fehde, Sp. 1092; ders., Landfrieden, Sp. 1462. 143 Vgl. z.B. Ssp LandR III 50; Text oben, bei Fn. 100. 144 H. Brunner/C. Frhr. v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 799. 145 So aber: V. Achter, Geburt der Strafe (1951); hinsichtlich der zentralen Aussage zustimmend: E. Wadle, Strafe, S.233f. 146 Mit Rücksicht auf ältere Formen eines peinlichen Strafrechts seit der Wende von der Antike zum Mittelalter, die sich allerdings noch nicht dauerhaft durchsetzen konnten, in neuerer Zeit gegen Achters These von der „Geburt der Strafe" (erst) im 12. Jahrhundert: J. Weitzel, Strafe, S. 73ff., 138ff.; ders., Vorverständnisse, S. 545ff.; H. Holzhauer, Geburt, S. 3ff.; ders., Strafgedanken, S. 179ff.; ähnlich auch schon H. Nehlsen, Entstehung, S.5ff. H. Rüping (Grundriß, 3. Auflage, Rn. 82) und G. Jerouschek (Geburt, S. 509) bezeichnen die im 12. Jahrhundert einsetzende Entwicklung daher als „Wiedergeburt", H. Holzhauer verortet im 12. Jahrhundert lediglich die „Geburt des Strafrechts" (a.a.O., S.4) sowie die „Geburt der peinlichen Strafe" (a.a.O., S.14), Ch. Gellinek schließlich bewertet den Vorgang sogar nur als „Nachgeburt" (Was heißt strafen, S. 386).
I. Das deutsche
Recht bis zur
Rezeption
31
rechtliches Strafrecht verwandelten, durch das Zusammenwirken von mindestens fünf verschiedenen Entwicklungen, die gemeinsam den Nährboden für die Ausbreitung und Durchsetzung des peinlichen Strafrechts bereiteten 147 : durch die zunehmende Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Handhaftverfahrens, das stets auf die Verhängung der Todesstrafe gerichtet war, auf übernächtige Taten' 48 ; durch die Verarmung weiter Bevölkerungskreise, die auf die Zahlung von Geld gerichtete Sanktionen sinnlos werden ließ und daher dazu zwang, die zuvor weitgehend Unfreien vorbehaltenen Körperstrafen auch gegenüber Freien zu verhängen (sog. Nivellierungstheorie) 149 ; durch die von der Christianisierung ausgelöste Individualisierung des Menschenbildes, die zur Verbindung von Strafe und Schuld und damit zur Forderung nach gleichen Strafen für gleiche Schuld, unabhängig von der Person und dem Vermögen des Täters führte, wofür nur peinliche Strafen in Betracht kamen 150 ; durch das von der wachsenden Bedrohung durch Berufskriminelle wie auch den gemeinsamen christlichen Glauben ausgelöste stärkere Wir-Gefühl der Bevölkerung, das erstmals eine Übertragung der Strafgewalt auf die ab Ende des Mittelalters an Bedeutung gewinnenden Territorialherren zuließ (sog. Theorie vom öffentlich-rechtlichen Denken) 151 und schließlich durch die Erstreckung der peinlichen Strafen der Landfrieden für Friedensbrüche auch auf andere sanktionswürdige Taten 152 .
e) Das Wergeid im Hoch- und
Spätmittelalter
Auch nachdem sich im Hoch- und Spätmittelalter die peinlichen Strafen als originäre Sanktion für kriminelles Unrecht durchgesetzt hatten, sahen die meisten Rechtsordnungen für bestimmte Tötungsdelikte nach wie vor die Pflicht zur Zahlung des Wergeides vor 153 . Allerdings beschränkte sich dessen Anwendungsbereich nunmehr auf Fälle fehlender oder geringer Schuld des Täters (z.B. wegen kindlichem Alter 154 , Geisteskrankheit 155 oder leichter Fahrlässigkeit 156 ) sowie auf solche Delikte mit ToVgl. die Übersicht zu den Wurzeln der peinlichen Strafe bei: E. Wadle, Strafe, S.239. Zu dieser Entwicklung: Eh. Schmidt, Einführung, S. 81 ff.;/. Gernhuber, Landfriedensbewegung, S. 153 ff. 149 So v.a. G. Radbruch, Ursprung, S. 1 ff.; R. Sprandel, Punkte, S. 190ff., 206; H. Rüping, Geldstrafe, S. 676; H. Holzhauer, Geburt, S. 16; umfassend zur Bestrafung Unfreier im Mittelalter: G. Meyer, Gerichtsbarkeit, ZRG GA 2 (1881), S. 83 ff., ZRG GA 3 (1882), S. 102ff.; ein kurzer Überblick auch bei: E. Kaufmann, Leibesstrafe, Sp. 1779ff. 150 H. Rüping, Grundriß (3. Auflage), Rn. 106. 151 Vgl. zu dieser „Aktivierung der Masse": ]. Gernhuber, Landfriedensbewegung, S. 119ff., 143 ff.; W. Sellert/H. Rüping, Studien- und Quellenbuch I, S.49. 152 Diesen Aspekt betonend u.a.: W. Ebel, Geschichte Gesetzgebung, S. 46f.; H. Hattenhauer, Bedeutung, S. 190ff.;/. Gernhuber, Landfriedensbewegung, S. 166ff. M.L. Klementowski, Entstehung, S.217ff. 153 So z.B. Ssp LandR III 45. 154 Ssp LandR II 65 § 1: „Kein kint mag binnen sinen iaren geton, da ez sinen lip mete verwerken muge. Slet ez einen man adir belemet ez in, sin Vormunde sal ez besseren mit ienis wergelde". 155 Ssp LandR III 3: „Ubir rechte thoren unde sinnelosen man en sal man ouch nicht richten. Wenne se abir schaden thon, ir Vormunde sal ez gelden". 156 Ssp LandR II 38: „Ein man sal gelden den schaden, der von siner verwarlosunge geschit ande147 148
32
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
desfolge, bei denen die Schuldfrage typischerweise nicht hinreichend aufgeklärt werden konnte (Tötung im Verlauf eines Raufhandels 157 , wegen des unterbliebenen Verfahrens gegen den toten Mann zweifelhafte Notwehrfälle 1 5 8 ).
3. Die Entstehung des Schadensersatzrechts Unter der Herrschaft des frühmittelalterlichen Kompositionensystems genügte ein einheitliches, gemischt zivil- und strafrechtliches Verfahren, um sowohl dem durch ein Delikt Geschädigten Genugtuung zu verschaffen als auch die Tat der Gemeinschaft bzw. dem Gerichtsherrn gegenüber zu sühnen. Dies änderte sich jedoch mit der zunehmenden Verlagerung der Strafgewalt vom Einzelnen auf die Obrigkeit, die sich im Hochmittelalter im Gefolge der Ausbreitung der peinlichen Strafen durchsetzte. Zwar traf die volle Härte des peinlichen Strafrechts im Gegensatz zur späteren Zeit noch bis ins 16. Jahrhundert hinein außer bei schwersten Delikten meist nur Ortsfremde, gemeinschädliche oder völlig mittellose Täter 1 5 9 , da alle anderen die peinlichen Strafen in aller Regel durch Geldzahlungen ablösen konnten 1 6 0 . Dies beruhte zum einen auf der nach wie vor geringen Verrechtlichung des mittelalterlichen Strafrechts, die dem Richter, vor allem wenn es zum „Richten nach Gnade" 1 6 1 kam, einen weiten Ermessensspielraum beließ, den er auch zur Berücksichtigung fiskalischer und polizeilicher Aspekte nutzen konnte 1 6 2 . Zum anderen wirkte das fehlende Recht der niederrangigen Gerichte zur Ausübung der Blutgerichtsbarkeit der Neigung entgegen, peinliche Strafen zu vollstrecken oder auch nur zu verhängen, da man keine Kompetenzen an höhere Instanzen abgeben wollte. Hinzu kam, dass es sich bei den Ablösezahlungen um eine wichtige Einnahmequelle für den Gerichtsherrn handelte 163 . Aber auch der deutliche Bevölkerungsrückgang zwischen der ren luten, ez si von brande ader von burnen, de man nicht bewirkit eines kniez hoch boben der erden, adir ab her schusit adir wirft einen man adir ein vie, alse her ramet eines vogeles. Hir umme verteilet man im nicht sinen lip noch sin gesunt, ab der man wol stirbit. Wen her muz gelden, alse sin wergelt stet"; Näheres hierzu bei: H.-P. Benöhr, Erfolgshaftung, S. 192. 157 So noch die Kursächsischen Konstitutionen v. 1572, Konst. IV., Const. VII: „Wann ihrer viele, einen, im Aufflauff und Hader, zu tode schlagen, wie es mit der Straff zu halten? ... So sollen sie alle, im Zweiffei, mit der Tortur nicht beleget, noch auch am Leben gestraffet, sondern in willkührliche Geld-Buß, Gefängniß oder Verweisung, neben Erlegung des Wehr-Geldes und Erstattung derer Gerichts-Kosten, verurtheilet werden ..." (Codex Augusteus, T. 1, Sp. 119). 158 Ssp LandR II 14; zu den einzuhaltenden Formalien, damit eine Notwehrtötung sanktionslos blieb, vgl. R. Hts, Strafrecht I, S. 196ff. 159 G. Gudian, Geldstrafrecht, S.282; W. Ogris, Lösung, Sp.55f.; E. Kaufmann, Strafe, Sp.2012. 160 W. Ogris, Lösung, Sp.55f.; E. Kaufmann, Strafe, Sp.2012; R. Sprandel, Punkte, S. 191. Umfassende Nachweise hierzu aus dem fränkischen Rechtskreis bei: G. Gudian, Geldstrafrecht, S. 277ff. 161 Hierzu: R. His, Strafrecht I, S. 350ff.; M. Neidert/W. Sellen, Richten nach Gnade, in: H R G IV, Sp. 1030ff.; Eb. Schmidt, Einführung, S. 69f.; E. Osenbrüggen, Strafrecht, S. 179ff. 162 G. Gudian, Geldstrafrecht, S. 286; H.-R. Hagemann, Gewette, Sp. 1674; H. Holzhauer, Geldstrafe, Sp. 1468ff. 163 G. Gudian, Geldstrafrecht, S.278ff. m.w.N.; H. Holzhauer, Geldstrafe, Sp. 1469ff.
I. Das deutsche Recht bis zur
Rezeption
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Mitte des 14. und der des 15. Jahrhunderts 1 6 4 schützte den sozial integrierten, wohlsituierten Straftäter vor der Hinrichtung: Kein Landesherr hat je gerne Steuerzahler verloren 165 . Empfänger dieser die peinlichen Strafen ablösenden Geldzahlungen war allerdings nunmehr in aller Regel ausschließlich der Gerichtsherr, nicht mehr (überwiegend) der Geschädigte 166 . An die Stelle der frühmittelalterlichen Buße war also eine von der Obrigkeit und zu Gunsten der Obrigkeit verhängte öffentlich-rechtliche Geldstrafe im modernen Sinne getreten 167 . Damit entstand das Bedürfnis, dem Verletzten einen zusätzlichen, „zivilrechtlichen" Rechtsweg zu eröffnen, der es ihm ermöglichte, Ersatz für den von ihm erlittenen Schaden zu erlangen. Erst diese N o t wendigkeit führte im deutschen Rechtskreis zur Ausbildung eines zunehmend ausgleichsorientierten Schadensersatzrechts, zur ,„Entpönalisierung' der Deliktsobligation" 1 6 8 , die damit zur gemeinsamen Wurzel des modernen Straf- und Haftungsrechts wurde: Auch die „Geburt des Schadensersatzrechts" im heutigen Sinne erfolgte also nicht vor dem ausgehenden 12. Jahrhundert, als Konsequenz der zeitgleichen „Geburt der Strafe" 1 6 9 . Dabei ist zu beachten, dass dem (deliktischen) Schadensersatzrecht in allen mittelalterlichen Rechtsordnungen eine ungleich größere Bedeutung zukam als dem heutigen Deliktsrecht. So wurde insbesondere im fränkischen Rechtskreis - abgesehen allenfalls von bloßen Feststellungsbegehren - jedes eine Klage begründende Geschehen als Delikt bewertet. Alle nicht peinlichen Klagen waren daher zumindest subsidiär Schadensklagen, unabhängig davon, ob sie auf einer Vertragsverletzung oder einem Delikt des Beklagten im heutigen Sinne beruhten 170 . Dies galt wegen der Schwierigkeiten, andere als Geldforderungen im Wege der Zwangsvollstreckung durchzusetzen, selbst dann, wenn primäres Ziel der Klage keine Geldzahlung des Beklagten, sondern die Herausgabe einer Sache oder der Widerruf einer ehrenrührigen Behauptung war 171 . Die Frühphase der Entwicklung dieses neuen Schadensersatzrechts verlief in den einzelnen Rechtskreisen Deutschlands sehr unterschiedlich 172 . Gemeinsames Kenn-
164 Vgl. die Nachweise hierzu bei: G. Franz, Geschichte, S. 120f.; G. Gudian, Geldstrafrecht, S.280. 165 Vgl. zum mäßigenden Einfluss der Bevölkerungsknappheit auf die Strafpraxis: G. Gudian, Ingelheimer Recht, S.346; ders., Geldstrafrecht, S.280 ff. 166 G. Gudian, Geldstrafrecht, S.278. 167 Zu dieser Entwicklung vgl. H. Rüping, Geldstrafe, S. 676ff. 168 So E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 136. 169 Zu den Anfängen des Schadensersatzrechts: A.B. Schmidt, Die Grundsätze über den Schadensersatz in den Volksrechten (1885); G. Gudian, Klage, S. 142. 170 G. Gudian, Ingelheimer Recht, S.339f.; ders., Klage, S. 121 ff., 129; D. Munzel, Schadensklage, Sp. 1340. 171 G. Gudian, Ingelheimer Recht, S.339; ders., Klage, S. 148. 172 Vgl. den Uberblick über diese Entwicklung bei: E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 93 ff.; O. Hammer, Die Lehre vom Schadensersatze nach dem Sachsenspiegel und den verwandten Rechtsquellen (1885); W. Ogris, Schadensersatz, Sp. 1335ff.; K. Nehlsen-v. Stryk, Schadenersatz, Sp. 1431 f.; H. Conrad, Rechtsgeschichte I, S. 425ff.
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
zeichen aller Rechtsordnungen war jedoch das beharrliche Festhalten an der traditionellen deutschrechtlichen Uberzeugung, ein Delikt müsse neben dem Schadensausgleich und einer etwaigen öffentlichen Strafe jedenfalls auch eine dem Verletzten zugute kommende Privatstrafe nach sich ziehen 1 7 3 . D i e Langlebigkeit dieser Auffassung wurde durch die insofern gleichartigen Vorstellungen begünstigt, die den römischen Rechtsinstituten zu G r u n d e lagen, die im 14./15. Jahrhundert zunehmend von der deutschen Rechtspraxis übernommen wurden 1 7 4 , wobei für das Spannungsverhältnis zwischen Schadensausgleich und Privatstrafe vor allem die sukzessive Ü b e r nahme der actio iniuriarum 1 7 5 und der Klagen aus der lex Aquilia 1 7 6 Bedeutung erlangten. Wesentliche Divergenzen ergaben sich zwischen den deutschen Rechtsordnungen dagegen hinsichtlich der Frage, wie der Betrag zu ermitteln war, den der Beklagte dem Verletzten als Entschädigung zu zahlen hatte. Dabei bildeten sich vor allem zwei gegensätzliche Methoden heraus, die daher hier stellvertretend für alle deutschen Rechtssysteme dieser Zeit stehen sollen: Im sächsischen Rechtskreis behielt man zunächst noch lange die seit den Volksrechten bekannten festen Bußsätze bei, um dann relativ früh das römische Recht zu übernehmen, wobei allerdings an die Stelle der Schadensschätzung durch den Richter in der Regel der Würderungseid des Beklagten trat 1 7 7 . Im Gebiet des fränkischen Rechts blieb es dagegen teilweise bis ins 15. Jahrhundert hinein beim freien Schadenaufmessen durch den Kläger 1 7 8 .
a) Deliktsrecht im römischen Recht bis Justinian Auch nach dem klassischen römischen R e c h t war die öffentlich-rechtliche Strafverfolgung zunächst auf einige wenige, besonders schwerwiegende oder gemeinschädliche Verbrechen beschränkt 1 7 9 . D i e Ahndung aller übrigen Delikte blieb dagegen dem Verletzten bzw. seiner Familie überlassen 1 8 0 . Hierfür standen drei Arten von Klagen zur Verfügung: die rein pönalen, allein auf die Verurteilung zu einer B u ß e abE. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S.96f., 136f. Umfassend hierzu u.a. H. Kaufmann, Rezeption und usus modernus der actio legis Aquiliae (1958); E.-G. Fröhel, Schadensersatzrecht, S.8ff.; E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 93ff. 175 Vgl. E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S.93ff.; zur actio iniuriarum im einzelnen unten, B.I.3. a) bb). 176 Zu dieser unten, B.I.3. a) aa). 177 Hierzu unten, B.I.3. b). 178 G. Gudian, Ingelheimer Recht, S.229ff.; ders., Klage, S.147; D. Munzel, Schadensklage, Sp. 1341. 179 Th. Mommsen, Strafrecht, S.59ff.; umfassend zur Strafverfolgung nach römischem Recht die Forschungen von W. Kunkel, vgl. v.a. ders., Untersuchungen zur Entwicklung des römischen Kriminalverfahrens in vorsullanischer Zeit (1962); vgl. auch aus neuester Zeit: J. Ermann, Strafprozess, öffentliches Interesse und private Strafverfolgung, Untersuchungen zum Strafrecht der römischen Republik (2000). 180 F. Wieacker, Wiedergutmachung, S.29; M. Käser, Rom. Privatrecht I, S.609; G. Dulckeit/F. Schwarz/W. Waldstein, Rechtsgeschichte, S.66ff.; D. Liebs, Rom. Recht, S. 188f.; zum öffentlichen Strafrecht dieser Zeit vgl. Th. Mommsen, Strafrecht, S.59f., 490ff.; W . Kunkel/M. Schermaier, Rechtsgeschichte, S. 81 ff. 173 174
I. Das deutsche
Recht bis zur
Rezeption
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zielenden, wie etwa die actio furti gegen den Dieb 181 , die lediglich den Ausgleich eines Vermögensschadens bezweckenden sachverfolgenden, wie die rei vindicatio (Herausgabeklage) 182 , sowie gemischte Klagen, die gleichermaßen auf Bestrafung des Täters und Schadensausgleich für das Opfer gerichtet waren 183 . Ziel aller Klagen, die auf einem Delikt beruhten, war stets die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung eines Geldbetrages 184 . Einen Anspruch auf Naturalrestitution kannte das klassische römische Recht demgegenüber allenfalls in einzelnen Ausnahmefällen 1 8 5 . aa) Die actio legis Aquiliae Das für die spätere deutsche Rechtsentwicklung wichtigste Beispiel für eine gemischte Klage war die actio legis Aquiliae 1 8 6 . Diese gewährte nach der im 3. Jahrhundert v. Chr. entstandenen lex Aquilia ursprünglich lediglich eng begrenzte Schadensersatzansprüche für die Tötung fremder Sklaven oder vierfüßiger Herdentiere durch unmittelbare Einwirkung auf diese (1. Kapitel) sowie für Schäden durch unrechtmäßiges Brennen, Brechen oder Verstümmeln (3. Kapitel). Alsbald begann jedoch die stetige Ausweitung der eine Haftung auf Grund dieses Gesetzes (bzw. einer actio in factum oder actio utilis 187 ) auslösenden Tatbestände 188 . Bereits in klassischer Zeit diente die actio legis Aquiliae daher der Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen in nahezu allen Fällen von rechtswidriger, schuldhafter Sachbeschädigung oder Verletzung eines Tieres bzw. Unfreien 1 8 9 . Sie setzte jedoch stets einen Vermögensschaden des Klägers (damnum iniuria datum) voraus 190 . Ansprüche aus der Klage, die aktiv vererbbar war 1 9 1 , standen neben dem Eigentümer auch anderen - insbeson-
181 Zur actio furti vgl.: H. Hausmaninger, Rom. Privatrecht, S.355ff.; H. Honseil, Rom. Recht, S. 151 ff.; M. Käser, Rom. Privatrecht II, S.433ff.; D. Liebs, Klagenkonkurrenz, S.94ff. 182 Zur rei vindicatio vgl. zuletzt umfassend: M. Wimmer, Besitz und Haftung des Vindikationsbeklagten (1995). 183 Zur Unterscheidung der Klagearten: Inst. 4.6.16ff. Vgl. daneben auch D. Liebs, Klagenkonkurrenz, S. 53 ff. 184 M. Käser, Privatrecht I, S.610. 185 So v.a. bei der Wiedereindämmung überfluteten Wassers, vgl. Cod. 3.35.2. 186 Inst. 4.6.19. Zur actio legis Aquiliae vgl. nur: Dig. 9.2; H. Hausmaninger, Schadenersatzrecht; H. Honseil, Rom. Recht, S. 154ff.; M. Käser, Rom. Privatrecht I, S. 161 f., 619ff.; O. Behrends, Exegese, S.878ff.; ders., Gesetz, S.241 ff.; A. Bürge, Privatrecht, S.18ff.; U. v. Lübtow, Untersuchungen zur lex Aquilia de damno iniuria dato (1971); B. Winiger, La responsabilité aquilienne romaine (1997). 187 Zur Schwierigkeit einer klaren Grenzziehung zwischen beiden Abarten der actio legis Aquiliae (directum), die insbesondere einer Erweiterung der aquilischen Haftung auf die Fälle einer bloß mittelbaren Schädigung und einer fehlenden Substanzverletzung sowie der Ausdehnung der Aktivlegitimation auf andere Berechtigte als den Eigentümer bezweckten, ausführlich: U. v. Lübtow, Untersuchungen, S. 135ff.; W. Frhr. Raitz v. Frentz, Lex Aquilia, S. 55ff.; H. Honsell/Th. Mayer-Maly/ W. Selb, Rom. Recht, S.366f.; B. Winiger, resonsabilité I, S. 154ff. 188 H. Hausmaninger, Schadenersatzrecht, S.31; M. Käser, Rom. Privatrecht II, S.437. 189 Vgl. Zu dieser Entwicklung nur: M. Käser, Röm. Privatrecht II, S.437f. 190 Dig. 9.2.27.17. Vgl. dazu statt aller: M. Käser, Röm. Privatrecht II, S.438. 191 Dig. 9.2.23.8.
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B. Die Grenze zwischen
Privat-
und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
dere dinglich - Berechtigten zu 192 . Bei der Tötung eines Sklaven oder Tieres richtete sich die Höhe des Schadensersatzes nach dem Höchstwert des Getöteten im vorangegangenen Jahr 193 . Wie der vom Schädiger zu ersetzende Betrag bei der Körperverletzung eines Sklaven oder einer Sachbeschädigung zu ermitteln war, ist im einzelnen umstritten 194 . Jedenfalls war aber dem Geschädigten die durch das schädigende Ereignis eingetretene Wertdifferenz auszugleichen, einschließlich eventueller Heilbehandlungskosten oder des entgangenen Arbeitslohns 195 . Für deren Ermittlung war jedoch nicht der Höchstwert des Sklaven oder der Sache im vergangenen Jahr, sondern die Wertdifferenz innerhalb einer 30-Tages-Frist ausschlaggebend 196 . Inwieweit die Verletzung eines Freien schon in klassischer Zeit einen Schadensersatzanspruch aus der lex Aquilia begründen konnte, ist nicht vollständig geklärt 197 . Ursprünglich stand dem der Grundsatz entgegen, dass der Wert des Körpers eines Freien nicht in Geld ausgedrückt werden könne (liberum corpus nullam recipit aestimationem) 198 . Von dieser Regel wurden aber zumindest bei der Verletzung von Scheinsklaven oder (freien) Haussöhnen auch in klassischer Zeit bereits Ausnahmen zugelassen 199 . Wichtig war dies vor allem für die Haftung wegen fahrlässiger Körperverletzungen, da bei vorsätzlichen Körperverletzungen ohnehin die actio iniuriarum zur Verfügung stand. Bei der Zielsetzung der actio legis Aquiliae überwog in klassischer Zeit, trotz der strafrechtlichen Wurzeln des Gesetzes 200 , schon klar der Aspekt des Schadensausgleichs 201 . Dennoch lassen sich bei der Klage auch eindeutig pönale Elemente ausma192 Nachweise hierfür bei: U. v. Lühtow, Untersuchungen, S. 169ff.; H. Hausmaninger, Schadenersatzrecht, S. 33f.; W. Frhr. Kaitz v. Frentz, Lex Aquilia, S. 57; H. Honseil/ Th. Mayer-Maly/W. Selb, Rom. Recht, S.367; M. Käser, Rom. Privatrecht I, S. 622. 193 Dig. 9.2.2 pr. 194 Ein Uberblick über den Streitstand bei: H. Hausmaninger, Schadenersatzrecht, S. 29ff.; umfassend hierzu: B. Schebitz, Berechnung, S. 165ff.; A. v. Tuhr, Schätzung, S. 1 ff.; B. Winiger, resonsabilite I, S. 139ff. Zur allmählichen Durchsetzung des Interesseprinzips: Th.]. Gerke, Entwicklung, S.63ff. (vgl. auch Dig. 9.2.21.2). 195 H. Hausmaninger, Schadenersatzrecht, S. 30; vgl. auch Dig. 9.2.27.17 u. 9.2.7 pr. 196 Ob diese — wie die Jahresfrist bei der Zerstörung oder Tötung — durch Rückrechnung zu ermitteln war oder ob die Frist durch das schädigende Ereignis ausgelöst wurde, ist nach wie vor umstritten, für eine Rückrechnung u.a. Th. Mommsen, Strafrecht, S. 832; A. v. Tuhr, Schätzung, S. 1; D. Liebs, Rom. Recht, S. 205; M. Käser, Rom. Privatrecht I, S. 620,161; O. Behrends, Exegese, S. 881; für die Maßgeblichkeit einer 30-Tages-Frist ab dem schädigenden Ereignis z.B.: H. Hausmaninger, Schadenersatzrecht, S.29 m.w.N.; H. Honseil, Rom. Recht, S. 156; dersJ Th. Mayer-Maly/W. Selb, Rom. Recht, S.365f. 197 Vgl. hierzu umfassend: R. Wittmann, Körperverletzung, S.37ff., 98ff.; daneben dazu u.a. Schadenersatzauch: H. Honseil/ Th. Mayer-Maly/W. Selb, Rom. Recht, S. 367; H. Hausmaninger, recht, S. 31 f.; Th.J. Gerke, Entwicklung, S. 100; M. Käser, Rom. Privatrecht II, S.438. 198 Dig. 9.3.7 (a.E.); ähnlich Dig. 9.1.3. 199 Dig. 9.2.13 pr.; Dig. 9.2.5.3; vgl. hierzu: R. Wittmann, Körperverletzung, S.75ff., 82ff.; H. Hausmaninger, Schadenersatzrecht, S. 32. 200 Zur Abspaltung der aquilischen Haftung aus der Injurienordnung der Zwölf Tafeln: R. Maschke, Persönlichkeitsrechte, S.28ff. 201 A. v. Tuhr, Schätzung, S. 4; einschränkend (primär Pönalklage, aber Vorrang des Schadensausgleichs vor der Bestrafung): H. Hausmaninger, Schadenersatzrecht, S. 34.
I. Das deutsche
Recht bis zur Rezeption
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chen 202 . So vor allem die Litiskreszenz, d.h. die Verdopplung des vom Beklagten zu leistenden Schadensersatzes bei (erfolglosem) Bestreiten der klägerischen Forderung vor dem Prätor oder Richter 203 . Neben der Noxalhaftung des pater familias 204 weist aber auch die Schadensberechnung auf der Grundlage des Höchstwertes innerhalb eines Jahres bzw. innerhalb von 30 Tagen pönale Züge auf, da sie dazu führen konnte, dass dem Kläger eine den tatsächlichen Schaden übersteigende Entschädigungssumme zugesprochen wurde 2 0 5 . Folge der auch (privat-)strafrechtlichen Funktionen der aquilischen Haftung in klassischer Zeit war die kumulative Haftung mehrerer Schädiger 206 sowie die passive Unvererblichkeit der Klage jedenfalls bis zum Zeitpunkt ihrer Anhängigkeit vor Gericht, wenn und soweit die Erben des Schädigers durch die Tat nicht noch bereichert waren 207 : Die von einer Verurteilung (auch) ausgehende Straffunktion sollte allein den schuldigen Täter treffen, nicht auch seine Erben. bb) Die actio iniuriarum Neben der aquilischen Haftung erwies sich langfristig die actio iniuriarum 2 0 8 als besonders geeignet, in das deutsche Recht integriert zu werden und ältere deutsche Rechtsgedanken in die Nachrezeptionszeit hinüberzuretten 209 . Vor allem bot sie gegenüber anderen Klagen den Vorteil, ein weites Einfallstor für die deutschrechtlicher Tradition entsprechende Verhängung von Privatstrafen und pönalen Entschädigungen zu eröffnen und auch die Sühnung von Ehrkränkungen (Verbalinjurien, Schmähungen) und Körperverletzungen (Realinjurien), die zu keinem materiellen Schaden beim Verletzten geführt hatten, zu ermöglichen 210 . 202 Nachweise hierfür bei: H. Hausmaninger, Schadenersatzrecht, S.28, 34f.; E. Levy, Privatstrafe, S. 148ff.; U. v. Lühtow, Untersuchungen, S.36ff.; O. Behrends, Exegese, S.881; ders., Gesetz, S. 242 ff. 203 H. Hausmaninger, Schadenersatzrecht, S. 35; M. Käser, Rom. Privatrecht II, S. 439. 204 Vgl. zu dieser als „sicheres Kennzeichen einer actio poenalis": U. v. Lübtow, Untersuchungen, S. 41 ff. 205 Vgl. nur H. Hausmaninger, Schadenersatzrecht, S. 28; E. Levy, Privatstrafe, S. 148; U. v. Lübtow, Untersuchungen, S. 40; ebenso auch schon: Inst. 4.3.9; einschränkend dagegen (wegen der alleinigen Abhängigkeit von tatunabhängigen Faktoren lediglich pönale Reflexwirkung): A. v. Tuhr, Schätzung, S. 1, 4. 206 Dig. 9.2.11.2; vgl. hierzu: E. Levy, Konkurrenz I, S.484; ders., Privatstrafe, S. 148; U. v. Lübtow, Untersuchungen, S. 57f. 207 Dig. 9.2.23.8. 208 Dig. 47.10; Inst. 4. 4; zu dieser Klage von ihren Anfängen bis zum Corpus iuris zuletzt umfassend: M. Hagemann, Iniuria (1998); A. Völkl, Die Verfolgung der Körperverletzung im frühen Römischen Recht (1984); H. Walter, Actio iniuriarum, S.42ff.; M. Käser, Rom. Privatrecht I, S. 623ff.; U. v. Lübtow, Injurienrecht, S. 131 ff.; R. Mainzer, Injurienklage, S. 1 ff.; R. Maschke, Die Persönlichkeitsrechte insbesondere im bürgerlichen Recht, auf der Grundlage des Injuriensystems, 1. Theil (1902); E Raber, Grundlagen klassischer Injurienansprüche (1969); R. Wittmann, Entwicklungslinien, S.285ff. 209 Vgl. dazu E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 96ff. 210 E. Kaufmann, Körperverletzung, Sp. 1161, dessen Fazit zur Rezeption der Injurienklage daher lautete: „Durch die Rezeption der actio iniuriarum wurde also ein Wandel der heimischen
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B. Die Grenze zwischen
Privat-
und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
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Eine erste schriftliche Fixierung 211 der Urform der Injurienklage findet sich schon in den Zwölf Tafeln, die Bußzahlungen an das Opfer von Körperverletzungen vorsahen 212 . Deren Höhe bestimmte sich bei Verstümmelungen nach dem Ermessen des Verletzten, da der Täter nur durch Abschluss eines Sühnepaktes mit diesem der Talion entgehen konnte: „Si membrum rup(s)it, ni cum eo pacit, talio esto" - „Wenn jemand (einem anderen) ein Glied verstümmelt, soll (der Täter) das Gleiche erleiden, wenn er sich nicht (mit dem Verletzten) gütlich einigt" 213 . Für mittelschwere Verletzungen waren feste Bußtaxen festgelegt 214 , leichtere wurden nach einer generalklauselartigen Regelung 2 1 5 mit einer Einheitsbuße von 25 As geahndet 216 . Verstümmelungsstrafen galten in der späteren Republik und der Prinzipatszeit zunehmend als unmenschlich und wurden daher unüblich 217 . Gleichzeitig bewirkte der Geldwertverlust, dass die festgeschriebenen Bußtaxen geradezu lächerlich gering erschienen, weshalb von ihnen keinerlei abschreckende Wirkung mehr ausging 218 . Dieser Mißstand wurde durch das edictum de iniuriis aestimandis beseitigt, das einen weiten richterlichen Ermessensspielraum bei der Festsetzung der für Injurien fälligen Bußen einführte, wodurch die Höhe dem jeweiligen Einzelfall und einer etwaigen weiteren Geldentwertung individuell angepasst werden konnte 219 . Außerdem wurde der Injurienbegriff zunehmend ausgeweitet und die in den Zwölf Tafeln noch kasuistisch aufgezählten Haftungsgründe unter dem allgemeinen Oberbegriff iniuria zusammengefasst 220 . Zunächst setzte das Vorliegen einer iniuria dabei allerdings noch die unmittelbare Einwirkung auf den Körper des Opfers oder einen EinRechtsauffassung nicht herbeigeführt, vielmehr wurde durch die Umwandlung der actio iniuriarum zu einer allgemeinen privatrechtlichen Deliktsklage die deutsche ältere Rechtsauffassung im römischen Gewände bewahrt" (Schadensersatzrecht, S.137). 211 Zur gewohnheitsrechtlichen Anerkennung der Injurienklage vor den Zwölf Tafeln: E. Pölay, Iniuria-Tatbestände, S. 144. 212 VIII.2^, abgedruckt bei: R. Düll, Zwölftafelgesetz, S. 46ff.; vgl. hierzu: M. Hagemann, Iniuria, S. 1 ff.; A. Völkl, Verfolgung, S.40ff.; H. Honseil, Rom. Recht, S. 160; M. Käser, Privatrecht I, S. 156f.; U. v. Lübtow, Injurienrecht, S. 131 ff.; E. Pölay, Iniuria-Tatbestände, S. 144ff.; R. Maschke, Persönlichkeitsrechte, S. 1 ff., Th. Mommsen, Strafrecht, S. 62. 213 VIII. 2 (R. Düll, Zwölftafelgesetz, S.46f.). 214 VIII. 3.: 150 für die Sklaven, 300 As für Freie, vgl. dazu: A. Völkl, Verfolgung, S. 144ff. 215 Zum Verhältnis der VIII. 2-A untereinander: A. Völkl, Verfolgung, S. 199ff. 216 VIII. 4.; zum Streit über den Inhalt dieser Regelung vgl. M. Hagemann, Iniuria, S. 12ff.; A. Völkl, Verfolgung, S. 176ff. 217 M. Käser, Rom. Privatrecht I, S.623; U. v. Lübtow, Injurienrecht, S. 137ff.; Th. Mommsen, Strafrecht, S.802; H. Walter, Actio iniuriarum, S.44. 218 H. Honsel!, Rom. Recht, S. 160; M. Käser, Rom. Privatrecht I, S.623; vgl. hierzu auch die vielzitierte Anekdote des Gellius über den reichen Jüngling Veratius, der sich einen Spaß daraus machte, Passanten auf der Straße zu ohrfeigen, um ihnen dann durch einen Sklaven die 25 As auszahlen zu lassen, ausführlich wiedergegeben und kommentiert bei: P. Birks, Lucius Veratius, S. 39ff.; M. Hagemann, Iniuria, S. 53; U. v. Lübtow, Injurienrecht, S. 133f.; E. Pölay, Iniuria-Tatbestände, S. 161 f.; H. Walter, Actio iniuriarum, S. 45. 219 Vgl. zu diesem: M. Hagemann, Iniuria, S.52ff.; M. Käser, Rom. Privatrecht I, S.623f.; U. v. Lübtow, Injurienrecht, S. 139; H. Walter, Actio iniuriarum, S.45f. 220 Hierzu vgl.: M. Käser, Rom. Privatrecht I, S. 623ff.; R. Wittmann, Entwicklungslinien, S. 346ff.; insbesondere zu den ursprünglichen Tatbestandsvarianten der iniuria: F. Raher, Grundlagen, S. 22ff.
I. Das deutsche Recht bis zur Rezeption
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griff in dessen Hausgewalt ( z . B . durch Hausfriedensbruch, Verletzung eines Sklaven oder Hauskindes) voraus 2 2 1 . D e m entsprachen auch noch die in der ca. 81 v.Chr. in der lex Cornelia geregelten Fälle der iniuria 222 . Öffentliche, gegen die guten Sitten verstoßende Schmähungen, Verleumdungen oder Angriffe auf den sittlichen R u f ehrbarer Frauen oder Jugendlicher waren jedoch bereits zuvor durch prätorische Einzeledikte als Sondertatbestände der iniuria festgelegt worden und führten ebenfalls zur Bußzahlungspflicht 2 2 3 . In klassischer Zeit umfaßte der iniuria-Begriff dann bereits jedes Verhalten, das eine bewusste Missachtung der fremden Persönlichkeit durch Worte oder Taten ausdrückte („generaliter iniuria dicitur omne quod non iure fit: specialiter alias contumelia" - „ M i t , U n r e c h t ' [iniuria] wird im allgemeinen alles bezeichnet, was nicht rechtmäßig geschieht. Im besonderen bezeichnet man damit bald die contumelia, die Mißachtung einer Person ...") 2 2 4 . Aus Tradition und zur Vermeidung von Unklarheiten wurden die einzelnen Spezialtatbestände der nunmehr sog. actio iniuriarum aber bei der Klageerhebung dennoch meist weiterhin aufgeführt 2 2 5 . D i e Klage war auf ein J a h r befristet 2 2 6 und wegen ihres höchstpersönlichen Charakters sowie der hohen Bedeutung der ihr zukommenden Straf- und G e nugtuungsfunktion 2 2 7 bis zur Anhängigkeit der Klage passiv wie aktiv unvererblich 2 2 8 . Folge einer Verurteilung auf G r u n d der actio iniuriarum war die Infamie 2 2 9 , also vor allem der Ausschluss von allen öffentlichen Ämtern und die erhebliche E i n schränkung des Rechtsschutzes des Verurteilten 2 3 0 . Mit der zunehmenden öffentlich-rechtlichen Bestrafung schwererer Angriffe gegen die Person, insbesondere von Körperverletzungen 2 3 1 , verlagerte sich in der späteren klassischen und nachklassischen Zeit die Bedeutung der actio iniuriarum. Statt der Verfolgung von Körperverletzungsdelikten rückte nunmehr die Bekämpfung von ehrverletzenden Delikten in den Vordergrund 2 3 2 , da bei diesen dem O p f e r meist M. Käser, Rom. Privatrecht I, S. 623; E. Pólay, Iniuria-Tatbestände, S.188. Dig. 47.10.5 pr. Zur lex Cornelia de iniuriis vgl. nur: M. Hagemann, Iniuria, S. 62ff.; U. v. Lübtow, Injurienrecht, S. 157ff.; R. Mainzer, Injurienklage, S. 7ff.;A. Völkl, Verfahren, S. 561 ff.;/. Ehrmann, Strafprozess, S. 77ff. 223 Edictum de convicio (Dig. 47.10.15.2), edictum de adtemptata pudicita, edictum ne quid infamandi causa fiat (Dig. 47.10.15.25), edictum de iniuriis quae servis fiunt, zu diesen: M. Hagemann, Iniuria, S. 58ff., 68ff.; U. v. Liibtow, Injurienrecht, S. 152ff.; H. Walter, Actio iniuriarum, S.47ff. 224 Inst. 4.4 pr., Übersetzung zit. nach: O. Behrends/R. Knütel/B. Kupisch/H.H. Seiler, Corpus Iuris, Institutionen, S.214; dazu: M. Käser, Rom. Privatrecht I, S.623f. 225 M. Käser, Rom. Privatrecht I, S.624. 226 Cod. 9.35.5; M. Käser, Rom. Privatrecht I, S.625. 227 M. Hagemann, Iniuria, S.239f. 228 Dig. 47.10.28; dazu: H. Hansell, Rom. Recht, S. 160; M. Käser, Rom. Privatrecht I, S. 625; H. Walter, Actio iniuriarum, S. 56. 229 Inst. 4.16.2. 230 Vgl. dazu im einzelnen: M. Käser, Infamia, S.220ff.; ders., Rom. Privatrecht I, S.274f.; U. v. Lübtow, Injurienrecht, S. 143; H. Walter, Actio iniuriarum, S.56; E. Levy, Infamie, S. 77ff.; Th. Mommsen, Strafrecht, S. 805. 231 M. Hagemann, Iniuria, S.225; E. Levy, Vulgarrecht, S.326; A. Völkl, Verfolgung, S.217ff.; H. Walter, Actio iniuriarum, S. 58. 232 M. Hagemann, Iniuria, S.64f. 221
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
weiterhin ein Wahlrecht zwischen privater und öffentlicher Strafverfolgung des T ä ters zugebilligt wurde 2 3 3 . Diese Entwicklung ging so weit, dass im 4. und frühen 5. Jahrhundert die Anwendung der privaten actio iniuriarum nur noch in einzelnen, durchweg leichteren Fällen nachweisbar ist 2 3 4 . Erst Justinian knüpfte dann wieder an die Tradition der Klassiker an 2 3 5 : Das C o r p u s iuris sah die private actio iniuriarum in ihrem früheren U m f a n g 2 3 6 als gleichberechtigte, alternativ zur öffentlich-rechtlichen Strafklage zu erhebende Klage vor 2 3 7 , ergänzt um einige der Tatbestandsausweitungen der nachklassischen Zeit 2 3 8 . Als Folge dieses Bedeutungswechsels gewannen drei Wesensmerkmale der Injurienklage an Gewicht, denen zuvor allenfalls im R a h m e n der die Ehrverletzungen regelnden Spezialedikte ein größerer Stellenwert zukam: die seit L a b e o 2 3 9 allgemein anerkannte Gleichsetzung der für diese Klage erforderlichen iniuria mit einer contumelia 2 4 0 , also der Missachtung eines anderen bei gleichzeitiger „ U b e r h e b u n g " der eigenen Person über diese 2 4 1 , der Verstoß des klagebegründenden Verhaltens gegen die guten Sitten (boni mores) 2 4 2 und der zwar nicht bei allen, aber doch bei einem immer größeren Anteil der Injurienfälle vorausgesetzte, über den normalen Vorsatz hinausgehende Beleidigungsvorsatz (animus iniurandi) 2 4 3 . Hiermit war der Grundstein für die Umwandlung der Injurienklage hin zur nahezu reinen Beleidigungsschutzklage während und nach der Rezeption gelegt. Wichtig für die Ermittlung der H ö h e der dem Geschädigten für körper- oder ehrverletzende Delikte zu leistenden B u ß e n war deren Festlegung durch den Richter (aestimatio) 2 4 4 je nach Angemessenheit im Einzelfall ( „ b o n u m et a e q u u m " ) 2 4 5 . A u c h bei Verletzungen der Ehre (existimatio) lautete das Urteil dabei stets auf einen be-
M. Käser, Rom. Privatrecht II, S.426; U. v. Lübtow, Injurienrecht, S. 158f. M. Hagemann, Iniuria, S. 198ff., 214; E. Levy, Vulgarrecht, S. 327; H. Walter, Actio iniuriarum, S. 58. 235 M. Hagemann, Iniuria, S.215ff.; H. Walter, Actio iniuriarum, S.59. 236 M. Käser, Rom. Privatrecht II, S.439; E. Pölay, Iniuria-Tatbestände, S. 193ff. 237 Inst. 4.4.10: „In summa sciendum est de omni iniuria eum qui passus est posse vel criminaliter agere vel civiliter" - „Schließlich muß man wissen, daß bei jeder Verletzung der Person das Opfer entweder strafrechtlich oder zivilrechtlich klagen kann" (Ubersetzung zit. nach: O. Behrends/R. Knütel/B. Kupisch/H.H. Seiler, Corpus Iuris, Institutionen, S.217); vgl. dazu M. Käser, Rom. Privatrecht II, S.439. 238 Beispiele hierfür bei: M. Hagemann, Iniuria, S. 216ff.; ausführlich zu den einzelnen Tatbestandsvarianten: F. Raber, Grundlagen, S. 23 ff. 239 M. Antistius Labeo (27 v.Chr.-14 n.Chr.), vgl. zu diesem: M. Stolleis (Hg.), Juristen, S.365f. (B. Kupisch)\ zu dessen Gleichsetzung von iniuria und contumelia: Dig. 47.10,15.46 und Dig. 47.10.13.4. 240 So deutlich in Dig. 47.10.1 pr.; vgl. hierzu auch: M. Hagemann, Iniuria, S.65ff.; R. Wittmann, Entwicklungslinien, S.289ff.; R. Maschke, Persönlichkeitsrechte, S. 82ff. 241 Vgl. nur: Inst. 4.4 pr.; M. Hagemann, Iniuria, S.65; H. Walter, Actio iniuriarum, S. 51 f. 242 R. Mainzer, Injurienklage, S. 13; H. Walter, Actio iniuriarum, S. 52. 243 M. Hagemann, Iniuria, S. 100ff.; F. Raber, Grundlagen, S. 107ff.; H. Walter, Actio iniuriarum, S. 52ff. 244 M. Käser, Röm. Privatrecht I, S.623. 245 H. Walter, Actio iniuriarum, S. 45. 233 234
/. Das deutsche Recht bis zur Rezeption
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stimmten Geldbetrag 2 4 6 . D i e Verpflichtung, die ehrkränkende Behauptung zu widerrufen, war im klassischen römischen Recht hingegen, anders als im deutschen Privatrecht, nicht vorgesehen 2 4 7 . D e r Richter war an den Antrag des Klägers, in dem dieser die angemessene B u ß s u m m e schätzte, insofern gebunden, dass er zwar hinter diesem zurückbleiben (moderatio), nicht jedoch über den vom Kläger festgelegten Höchstbetrag (taxatio) hinausgehen durfte 2 4 8 . Die Rechtsnatur der actio iniuriarum war nach allgemeiner Ansicht zunächst ausschließlich, später jedenfalls noch ganz überwiegend pönal 2 4 9 . E b e n s o eindeutig zielte die Injurienklage nicht auf den Ausgleich eines Vermögensschadens, dessen Vorliegen ohnehin nicht zu den Tatbestandsvoraussetzungen der Klage gehörte 2 5 0 . U n klar und umstritten ist hingegen, o b und gegebenenfalls inwieweit die actio iniuriarum zumindest ab der Klassik neben der Bestrafung des Täters auch der Genugtuung des Opfers dienen sollte 2 5 1 sowie o b eine etwaige Genugtuungsfunktion der Klage dogmatisch als Variante der Ersatzfunktion im weiteren Sinne oder als ein selbständig neben Ersatz- und Straffunktion stehendes tertium 2 5 2 einzuordnen ist. F ü r die frühzeitige Berücksichtigung des Genugtuungsgedankens bei der actio iniuriarum spricht dabei zunächst, dass diese wie alle anderen Privatklagen im G e gensatz zur öffentlichen Strafe nicht nur zu einem Nachteil für den Täter, sondern immer auch zu einem materiellen Vorteil für das O p f e r führte. In diesem Vermögensvorteil des Opfers auch eine F o r m der Genugtuung für den erlittenen Angriff zu sehen, liegt insbesondere bei den in dieser Zeit bereits dominierenden Injurienfällen der Ehrverletzungen so nahe, dass es unwahrscheinlich erscheint, die überaus praxisnah argumentierenden klassischen Juristen könnten diesen Aspekt übersehen haben 2 5 3 . D a r ü b e r hinaus unterschieden die Klassiker bereits deutlich zwischen der actio iniuriarum und anderen Privatstrafenklagen wie z . B . der actio furti 2 5 4 , hinsichtlich derer eine Genugtuungsfunktion meist allenfalls für die nachklassische Zeit angenommen wird 2 5 5 . Weitere Indizien dafür, wie sehr die Genugtuungsfunktion der Injurienklage gegenüber der Straf- und Rachefunktion an Gewicht gewonnen hatte, 246 Inst. 4.4.10; vgl. dazu auch: Th. Mommsen, Strafrecht, S.804; H. Walter, Actio iniuriarum, S.55; H. Honseil, Rom. Recht, S. 149; M. Käser, Rom. Privatrecht I, S.610, 625. 247 C. v. Wallenrodt, Injurienklagen, S. 239f. Zum Widerruf im deutschen Privatrecht unten, B.II.3. b). 248 M. Käser, Rom. Privatrecht I, S.625; H. Walter, Actio iniuriarum, S. 55f. 249 Gaius (vgl. Inst. 4.112) zählte die actio iniuriarum daher zu den actiones vindictam spirantes (den „racheschnaubenden Klagen"), dazu: H. Honseil, Rom. Recht, S. 150, FN 2; vgl. daneben zur Rechtsnatur der actio iniuriarum: H. Going, Privatrecht I, S. 513; M. Hagemann, Iniuria, S. 224ff., 247;H. Walter, Actio iniuriarum, S. 55; D. Liebs, Klagenkonkurrenz, S. 101,264; R. Wittmann, Körperverletzung, S. 60, FN 39. 250 M. Hagemann, Iniuria, S.225, 227. 251 Für die doppelte Zielsetzung Bestrafung und Genugtuung: M. Hagemann, Iniuria, S.224ff. m.w.N. zur Diskussion. 252 So M. Hagemann, Iniuria, S.227, 240. 253 M. Hagemann, Iniuria, S.226ff. 254 Vgl. Nachweise bei: M. Hagemann, Iniuria, S.239ff. 255 M. Hagemann, Iniuria, S.229; ausführlich zu dieser Entwicklung: E. Levy, Vulgarrecht, S.307ff.
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
nachdem diese nicht mehr hauptsächlich zur Ahndung schwerer Körperverletzungen diente, wie noch zur Zeit der Z w ö l f Tafeln, sondern überwiegend zur Verfolgung von Ehrverletzungen 2 5 6 , sind ihre aktive wie passive Unvererblichkeit vor A n hängigkeit 2 5 7 und ihre Nichtberücksichtigung bei der Ermittlung des Vermögens des Opfers der Injurie bis zu diesem Zeitpunkt 2 5 8 , z . B . im R a h m e n der Kollation 2 5 9 : Würde die Injurienklage allein auf die Bestrafung des Täters zielen, wäre kein G r u n d ersichtlich, warum nicht auch die Erben des Opfers unabhängig von dessen Willen Klage erheben können sollten, da die Strafwürdigkeit des Täters durch die Klagebereitschaft des Opfers nicht beeinflusst wird 2 6 0 . Letztlich lässt die dürftige, nicht widerspruchsfreie Quellenlage 2 6 1 zur Genugtuungsfunktion der actio iniuriarum in klassischer Zeit aber keine abschließende Klärung der Rechtsnatur dieser Klage zu. Vieles spricht jedoch dafür, dass die klassischen Juristen die gleichermaßen auf Bestrafung und Genugtuung gerichtete Zweigleisigkeit der actio iniuriarum erkannten und billigten, ihr aber nur eine geringe B e deutung beimaßen, da sich hieraus anders als aus dem Vorhandensein von schadensersetzenden Elementen bei einer Klage keine Konsequenzen für das K o n k u r r e n z verhältnis zwischen den verschiedenen Klagearten ergaben 2 6 2 . cc) Konkurrenzen Das Konkurrenzverhältnis zwischen der actio legis Aquiliae und der actio iniuriarum im römischen R e c h t war höchst umstritten 2 6 3 . Dies beruhte darauf, dass rein zivilrechtlich-sachverfolgende mit ausschließlich pönalen Klagen unproblematisch gehäuft werden konnten, auch wenn sie auf den selben Lebenssachverhalt gestützt wurden 2 6 4 , sich jedoch mehrere Klagen mit gleicher Zielsetzung gegenseitig ausschließen konnten 2 6 5 . D a zwar die actio iniuriarum eindeutig pönal war, der Klage aus der lex Aquilia aber sowohl pönale als auch und vor allem eine sachverfolgende F u n k t i o n zukam, war die Rechtslage bei einem Zusammentreffen der Voraussetzungen beider Klagen unklar. Zu einer solchen Konkurrenzsituation kam es vor allem 256 M. Hagemann, Iniuria, S. 227; stärker die Rachefunktion der Injurienklage betonend dagegen: A. Völkl, Verfolgung, S. 160f. 257 Dig. 47.10.13 pr. 258 Dig. 47.10.28; vgl. dazu auch: M. Hagemann, Iniuria, S.227; M. Käser, Rom. Privatrecht I, S. 157, 625. 259 Dig. 37.6.2.4. 260 M. Hagemann, Iniuria, S.240ff. 261 Eine Ubersicht und Auswertung der wichtigsten Quellenstellen bei: M. Hagemann, Iniuria, S. 229ff. 262 M. Hagemann, Iniuria, S.228, 242, 247. 263 Vgl. die Ubersicht über den Meinungsstand bei H. Hausmaninger, Schadenersatzrecht, S. 36; ausführlich hierzu: D. Liebs, Klagenkonkurrenz, S.265ff.; E. Levy, Konkurrenz I, S.479ff., II/l, S. 182ff.; U. v. Lübtow, Untersuchungen, S.80ff. 264 H. Honseil, Römisches Recht, S. 152; M. Käser, Rom. Privatrecht I, S.613; D. Liebs, Klagenkonkurrenz, S.92ff., 264. 265 Zu den Voraussetzungen hierfür vgl. E. Levy, Konkurrenz II/l, S. 192, D. Liebs, Klagenkonkurrenz, S.263, 265.
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bei der vorsätzlichen Körperverletzung oder T ö t u n g eines fremden Sklaven, da dann sowohl der die aquilische Haftung auslösende Vermögensschaden, als auch der für die Injurienklage erforderliche Vorsatz des Täters vorlagen 2 6 6 . Vertreten wurde in diesen Fällen neben der Möglichkeit der Kumulation 2 6 7 nicht nur die strikte Alternativität beider Klagen, sondern auch die Abhängigkeit der Zulässigkeit einer Klagenhäufung von der Reihenfolge ihrer Erhebung oder die Beschränkung der später erhobenen Klage auf den mit dieser zu erzielenden Uberschuss 2 6 8 . dd) Ergebnis Insgesamt lässt sich damit feststellen, dass dem römischen Recht eine Deliktsklage, die nicht zumindest auch pönale Elemente aufwies, fremd war 2 6 9 . Es bestand also insofern ein hohes M a ß an Ubereinstimmung zwischen der älteren deutschrechtlichen und der römischrechtlichen Rechtstradition, die eine Verschmelzung beider begünstigte, zugleich aber die saubere Zuordnung der Wurzeln einzelner Elemente des Schadensersatzrechts der Nachrezeptionszeit erschwert.
b) Deliktsrecht im sächsischen Rechtskreis Kennzeichen des mittelalterlich-sächsischen Schadensersatzrechts war bis weit ins 15. Jahrhundert hinein das Festhalten an der traditionellen 30-Schilling-Buße 2 7 0 als pauschaler Kränkungsbuße für rechtswidrige Handlungen jedweder Art für die nicht ausdrücklich eine andere feste B u ß e vorgesehen war 2 7 1 . Schon die Einheitlichkeit des Betrages zeigt, dass diese B u ß e nicht in erster Linie auf den Ausgleich eines Schadens zielte, sondern pönale Aspekte im Vordergrund standen 2 7 2 . Trotz dieser Kontinuität finden sich im sächsischen Recht daneben aber auch schon ab dem 13. Jahrhundert erste Anzeichen für die Ü b e r n a h m e römischrechtlicher Regelungen 2 7 3 , die sich allerdings zunächst auf Formalien beschränkten. Im Zuge dieser Angleichung des sächsischen an das römische Recht wurde auch der Begriff „Injurie" zunehmend mit der Doppelformel „hon und smaheyt" gleichgesetzt 2 7 4 . Hinter dieser Bezeichnung verbarg sich inhaltlich jedoch nichts anderes als der weite 266 So auch die Fallkonstellation bei: Dig. 47.10.15.46. Näheres dazu bei: U. v. Lübtow, Untersuchungen, S. 80ff. 267 So etwa Labeo, Papinian und Ulpian, vgl. Dig. 47.10.15.46; Dig. 48.5.6 pr.; Dig. 9.2.5.1. 268 Vgl. zu diesen Auffassungen: Paulus, Dig. 44.7.34 pr. 269 Vgl. statt aller: M. Käser, Privatrecht I, S.611. 270 So Ssp LandR III 45 § 1 für Schöffenbarfreie (zu den Bußen anderer Geschädigter vgl. Ssp LandR III 45 §§2ff.). Zur endgültigen Beseitigung der 30-Schilling-Buße durch die Kursächsischen Konstitutionen von 1572 unten, B.II.4. 271 Wobei die Bedeutung der ständischen Abstufung der Buße, soweit aus den Quellen ersichtlich, im Laufe des Mittelalters an Bedeutung verlor und zunehmend einheitlich von einer 30-Schilling-Buße ausgegangen wurde, vgl. E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 99f.; R. His, Strafrecht I, S.598f. 272 E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 106. 273 Ausführlich hierzu: E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 97ff. 274 Beispiele hierfür u.a. bei: F. Ebel, Rechte Weg II, Q 81; ebenso u.a. auch: Weichbildglosse zu
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
Injurienbegriff des römischen Rechts 2 7 5 . So definierten Weichbild- und Sachsenspiegelglosse, anknüpfend an das Wort Injurie: „Desse klage het ein klage des vnrechtis vnde het in keyserrechte actio in iniuriaru. [...] Id is vnrecht al dat nicht geschut met rechte. Auer sunderlick heitet vnrecht hir schmaheit" 2 7 6 . In seinem Bemühen, die Ubereinstimmung zwischen Sachsenspiegel und römischem R e c h t nachzuweisen 2 7 7 , ging die Sachsenspiegelglosse dann noch einen Schritt weiter: D i e typische Klageformel für die actio iniuriarum ( z . B . „nicht für ... Pfund würde ich die Wahrheit dieser Behauptung anerkennen" 2 7 8 ) wurde auf die Klage des Opfers einer Körperverletzung übertragen, das vor Gericht geltend machen musste, es habe die Misshandlung nicht erlitten haben wollen „umme twintich marc min odder mer" 2 7 9 . Ahnliche F o r meln finden sich in den späteren Quellen des sächsischen Rechtskreises in großer Fülle 2 8 0 . Ungeachtet dieser frühen Ansätze einer Rezeption der römischrechtlichen Injurienklage blieb es in der Anfangszeit jedoch in der Regel bei der Obergrenze der 30Schilling-Buße 2 8 1 : Eine richterliche moderatio erschien offenbar zunächst als allzu gravierende Beschneidung der zentralen Stellung der Parteien im sächsischen Verfahrensrecht 2 8 2 . D e m Richter wurde daher allenfalls die Befugnis zugesprochen, bei mehreren in Betracht kommenden festen B u ß e n zu entscheiden, welche der Beklagte verwirkt hatte 2 8 3 . Immerhin führte die zunehmende Gleichsetzung der Begriffe „Injurie" und „hon und smaheyt" aber dazu, dass nunmehr jede rechtswidrige Handlung (auch) Gegenstand einer „borgerliken" (nicht nur einer „pinliken") Klage wer-
Art. 88 (Von totslage), abgedruckt bei: A. v. Daniels/F. v. Gruben, Weichbildrecht, S.402; weitere Nachweise bei: E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 101 ff.; R. His, Strafrecht, S.596. 275 Vgl. die zahlreichen Quellennachweise hierfür bei: E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. lOOff. 276 Zitat nach der Buch'sehen Glosse zum Ssp LandR I 68 §2 (Ausgabe von K.A. Eckhardt, Sassenspegel, S. 119). Fast wortgleich die Weichbildglosse zu Art. 88 (Von totslage), abgedruckt bei: A. v. Daniels/F. v. Gruben, Weichbildrecht, S.402 („und heist ungerichte alles, das wedir recht ist, und ist eigintlich eine smaheit genannt"). 277 Dies mit dem Ziel, die (Weiter-)Geltung der Bestimmungen des Sachsenspiegels zu erleichtern, vgl. hierzu nur: F. Ebel, Sachsenspiegel, Sp. 1231; A. Ignor, Rechtsdenken, S.31. 278 Nachweise für den Schätzungseid bei der Injurienklage bei: H. Lange, Schadensersatz, S. 94ff. 279 So die Buch'sche Glosse zum Ssp LandR I 68 §2, abgedruckt bei K.A. Eckhardt, Sassenspegel, S. 119f.; ähnlich: H. Bühlau, Blume von Magdeburg, I 120, S.62. 280 Nachweise hierfür bei: E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S.98ff.;/. W. Planck, Gerichtsverfahren I, S.446. 281 Vgl. die Buch'sche Glosse zum Ssp LandR I 68 §2, abgedruckt bei K.A. Eckhardt, Sassenspegel, S. 120: „wan bute kumpt van rechte nicht hoger wen vor drüttich Schillinge"; zahlreiche Beispiele für die 30-Schilling-Buße finden sich auch im Rechtsbuch nach Distinktionen, Buch IV (abgedruckt bei: F. Ortloff, Sammlung, S.179ff.); vgl. dazu auch: E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 106. 282 E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 105. 283 Buch'sche Glosse zum Ssp LandR I 68 §2, abgedruckt beiiCA Eckhardt, Sassenspegel, S. 120; vgl. dazu E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 105.
I. Das deutsche Recht bis zur
Rezeption
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den konnte: „Dit lyt an dem kleger de mach dy klage ansetten wu he wil" 2 8 4 . Die Mehrzahl der Ungerichtsklagen wurde allerdings weiterhin auf Ehrkränkungen oder Körperverletzungen gestützt 2 8 5 . Schon weil der tatsächliche Schaden häufig den Betrag von 30 Schillingen deutlich überstieg, schloss die Klage auf Zahlung der Buße nicht aus, dass daneben vom Kläger auch der Ersatz seines (Vermögens-)Schadens geltend gemacht wurde 2 8 6 . Die Höhe dieses Schadensersatzes ermittelte man dabei nach sächsischem Recht, indem der Kläger einen bestimmten Betrag forderte, den dann der Beklagte, der als näher am Beweis erachtet wurde als der Kläger, mindern konnte, indem er schwor, der Schaden sei niedriger als in der Klage angegeben (sog. Würderungseid) 2 8 7 : „so sal herz gelden nach deme werde, alse ez iener achtet, der ez verloren hat, iener en minre de werderunge mit sime eide, der daz gelden sal" 2 8 8 . Ausgeschlossen war der Würderungseid allerdings bei Beleidigungsklagen: Der Beklagte konnte nicht wissen, wie schwer der Kläger die Beleidigung empfunden hatte. In Betracht kam daher allenfalls eine Herabsetzung des vom Kläger meist sehr hoch veranschlagten Betrages durch den Richter 2 8 9 . Auf der nächsten Entwicklungsstufe setzte sich dann die freie Schätzung der Injurienbuße durch den Richter durch. Dadurch sank die Bedeutung der Ermittlung des tatsächlichen Schadens, da die nunmehr festgesetzten Bußbeträge diesen regelmäßig deutlich überstiegen. Schließlich wurde der Anspruch auf Buße und der auf Schadensersatz i.e.S. zusammengezogen zu einer einheitlichen Klage, die nunmehr allein auf die Injurie abstellte und gleichermaßen auf Schadensausgleich und Privatstrafe zielte 2 9 0 . Eine Abweichung der ins sächsische Recht rezipierten Injurienklage von der römischrechtlichen actio iniuriarum ergab sich bei der Behandlung von Ehrkränkungen. Während nach römischem Recht auch in diesen Fällen stets auf eine bestimmte Geldbuße erkannt werden musste, kannte das ältere deutsche Recht auch die Klage auf Widerruf oder Ehrenerklärung 2 9 1 . Diese Alternative wurde im sächsischen
2 8 4 Buch'sche Glosse zum Ssp LandR 168 §2, abgedruckt bei K.A. Eckhardt, Sassenspegel, S. 120; ähnlich die Weichbildglosse zu Art. 88 (Von totslage), abgedruckt bei: A. v. Daniels/F. v. Gruben, Weichbildrecht, S. 402 („unde dis liet an dem clegere, wy er die clage anstellen wil, pynlich ader bürgerlichen"). 285 E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 107ff.; H.-H. Dreßler, Beleidigungsrecht, S.29. 286 E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 109f.; R. His, Strafrecht I, S. 599; H.-H. Dreßler, Beleidigungsrecht, S.82ff. 2 8 7 Umfassend zum Würderungseid mit einem Uberblick über die ältere Literatur: E L. Wirschinger, Versuch einer neuen Theorie über das Juramentum in Litern oder den Würderungseid (1806), S.39ff. (Lit.-Hinweise S.9ff.). 2 8 8 Ssp LandR III 47 § 1, vgl. dazu auch die Buch'sche Glosse dazu, abgedruckt bei K.A. Eckhardt, Sassenspegel, S. 325. 289 H.-H. Dreßler, Beleidigungsrecht, S. 113f. 290 E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 109f. 291 E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 110f.;/. Grimm, Rechtsaltertümer II, S. 301 f.; zu den kirchenrechtlichen Wurzeln des weltlich-mittelalterlichen Widerrufsanspruchs neuerdings: K. Schreiner, Ehre, S.269ff.
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
Rechtskreis auch nach der Rezeption generell beibehalten und in die actio iniuriarum eingefügt. D e m Kläger stand daher teils ein Wahlrecht zu 2 9 2 , teils kam eine Geldzahlung nur in Betracht, wenn der Beklagte die geforderte Erklärung nicht fristgerecht abgab, teils konnten aber auch beide Klageziele nebeneinander verfolgt werden 2 9 3 .
c) Deliktsrecht im fränkischen
Rechtskreis
Anders als für das Gebiet des sächsischen lässt sich für das des fränkischen Rechtskreises eine Ü b e r n a h m e der römischrechtlichen Injurienklage, trotz einzelner A n klänge an das römischrechtliche Vorbild bei der Formulierung der Klageformel 2 9 4 , bis zur Wende zur Neuzeit nicht eindeutig feststellen 2 9 5 . N o c h deutlicher als etwa im Einzugsgebiet des O b e r h o f s von Mainz oder Neustadt/Weinstr. zeigt sich dies an der Spruchpraxis der Ingelheimer Schöffen 2 9 6 . So führte nach Ingelheimer Recht, abgesehen von reinen Feststellungsklagen, grundsätzlich jede Klage unmittelbar zur Geltendmachung eines Schadens 2 9 7 , war also von vornherein auf die Zahlung eines bestimmten Geldbetrages gerichtet. Ausgenommen hiervon waren lediglich Klagen, die auf ehrenrührige Behauptungen oder die Wegnahme einer noch im Besitz des Beklagten befindlichen Sache gestützt wurden. In letzterem Fall konnte zunächst nur die Herausgabe der Sache verlangt werden. Erst wenn der Beklagte die Sache trotz Verurteilung hierzu nicht innerhalb von vierzehn Tagen an den Kläger zurückgab, trat an die Stelle des Herausgabeanspruchs ein Anspruch auf Zahlung eines Geldbetrages 2 9 8 . K a m es hingegen zur Rückgabe der Sache, konnte der Kläger daneben allenfalls noch Ausgleich des ihm tatsächlich, also über den vorübergehenden Verlust des Besitzes an der Sache hinaus, entstandenen Schadens verlangen 2 9 9 . Ahnlich musste auch der wegen einer ehrenrührigen Behauptung Verurteilte den geforderten Geldbetrag nur zahlen, wenn er nicht in der gebotenen F o r m und Frist Wandel leistete ( „ g i b e t . . . den offgemessin schaden, so endarff er y m die Worte nit widerredden. widderreddet er ym aber die worte, so endarff er y m den vorgeschrieben offgemessen schaden nit geben") 3 0 0 . Dabei handelte es sich um einen 292 So etwa nach der Frankfurter Reformation von 1578: „Da aber auf Widerruf und die Geld Peen zugleich geklagt werden wolte: Sollen unsere Scheffen die Klage nicht annehmen, sondern als ungeschickt von Amptswegen verwerffen" (zit. nach E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 111, FN 69). 293 E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S.llOf. m.w.N. 294 Nachweise bei: E.-G. Fröbel, Schadensersatzrecht, S. lOOff. 295 E.-G. Fröbel, Schadensersatzrecht, S. 114f.; E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 138. 296 Umfassend hierzu: G. Gudian, Ingelheimer Recht im 15. Jahrhundert (1968); ders., Klage, S. 121 ff.; E.-G. Fröbel, Schadensersatzrecht in den Urteilen des Ingelheimer und des Neustädter Oberhofes (1973); E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S.93ff., v.a. S. 116ff. 297 G. Gudian, Ingelheimer Recht, S.339f.; ders., Klage, S. 123f. 298 G. Gudian, Ingelheimer Recht, S.285ff. 299 G. Gudian, Ingelheimer Recht, S.286, 288. 300 Urteil vom 12.7. 1429, zitiert nach: A. Erler, Urteile III, Nr. 2451; ähnlich Urteil vom 19.12. 1437, bei: H. Loersch, Oberhof, Nr.35 B.; dazu: E.-G. Fröbel, Schadensersatzrecht, S.41.
I. Das deutsche
Recht bis zur
Rezeption
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förmlichen, in einem gesonderten Gerichtstermin 301 zu leistenden Widerruf der ehrenrührigen Behauptung („Er solle sprechen, er habe im an dem, als er in geschuldiget habe, unrecht getan" 302 oder, bei Beleidigung der Schöffen: „was er auf das Gericht gesagt habe, dessen habe er sich nicht verstanden und habe ihnen Unrecht getan und habe auf sie gelogen" 303 ). Auch wenn sich der Beklagte für den Widerruf entschied 304 , entging er jedoch nicht den sonstigen pönalen Folgen seines Verhaltens. Vielmehr wurde er durch die Leistung des Widerrufs ehrlos 305 , verlor also u.a. das Recht zur Bekleidung von Ehrenämtern wie etwa dem Schöffenamt 306 . Wohl nicht zuletzt wegen dieser schwerwiegenden Folge, aber auch wegen der hohen Genugtuungswirkung, die offenbar von einem öffentlichen Widerruf ausging, legten die Kläger auf diesen zum Teil so großen Wert, dass sie sogar zur Übernahme der Gerichtskosten bereit waren, um den Beklagten hierzu zu bewegen („Wulle er das also sagen und thun, so Wullen sie allen gerichtsschaden, der daruf gegangen si, bezallen und is furter dabi lassen") 307 . Dies ist umso bemerkenswerter, als gerade bei Klagen wegen ehrenrühriger Behauptungen regelmäßig extrem hohe Beträge gefordert wurden und damit bei einer Verweigerung des Widerrufs statt diesem zu zahlen waren 3 0 8 . Lag der Klage ein anderer Klagegrund als die beiden soeben erörterten zu Grunde oder unterblieb die Rückgabe der Sache bzw. der Widerruf der Behauptung, stellte sich die Frage, wie der vom Beklagten an den Kläger zu zahlende Betrag zu ermitteln war. Die festen Bußsätze des Frühmittelalters, die sowohl zu einem Ausgleich des tatsächlichen Schadens wie zu einer Privatstrafe zu Gunsten des Klägers führen sollten 309 , erwiesen sich dafür auch im fränkischen Rechtskreis jedenfalls ab dem 11. Jahrhundert als völlig unzureichend 3 1 0 . Dies führte vom 13. Jahrhundert an aber im Gegensatz zum römischen oder sächsischen Recht nicht zu einer Erweiterung der Einflussmöglichkeiten des Richters oder Beklagten auf die Höhe des an den Kläger zu zahlenden Betrages, sondern zum freien Schadenaufmessen des Klägers 311 .
G. Gudian, Ingelheimer Recht, S.296. Urteil vom 19.12.1437, zitiert nach: H. Loersch, Oberhof, Nr. 35 B., dazu: E.-G. Fröbel, Schadensersatzrecht, S.51. 303 Urteil vom 26.6. 1438, abgedruckt bei: H. Loersch, Oberhof, Nr.42; hier zitiert nach der Ubersetzung von: G. Gudian, Ingelheimer Recht, S.378. 304 Zum Wahlrecht des Beklagten: G. Gudian, Ingelheimer Recht, S. 295. 305 G. Gudian, Ingelheimer Recht, S.295f. 306 Vgl. Urteil vom 3.9. 1405, A. Erler, Urteile II, Nr. 897, dazu: G. Gudian, Ingelheimer Recht, S.295. Zu den Folgen der Unehrlichkeit allgemein vgl.: J.E Budde, Rechtlosigkeit, S.102ff.; W. Danckert, Unehrliche Leute, S. 9ff.;/. Hillebrand, Entziehung, S. 32ff.; eine Ubersicht über die verschiedenen älteren Theorien hierzu bei: H. Naendrup, Dogmengeschichte, S. 223 ff. 307 Urteil vom 26.6. 1438, zitiert nach: H. Loersch, Oberhof, Nr.42, dazu: G. Gudian, Ingelheimer Recht, S.296. 308 Nachweise hierfür bei: E.-G. Fröbel, Schadensersatzrecht, S.79f.; G. Gudian, Ingelheimer Recht, S.295. 309 G. Gudian, Klage, S. 129. 310 G. Gudian, Klage, S. 129f. 311 G. Gudian, Klage, S. 129f.; E.-G. Fröbel, Schadensersatzrecht, S. 102ff. 301
302
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
Bei diesem Schadenaufmessen machte der Kläger einen von ihm beliebig festgesetzten Betrag als Schaden geltend 312 . Er „sulle auch von ime nemen daz er gein gode und gein der wernde getruwe zu verantwerten" (er solle von ihm „nehmen, was er sich gegen Gott und gegen die Welt zu verantworten traue") 313 „und mögen iren schaden alse hoe nennen alse sie wollen" 314 . Meist handelte es sich dabei um einen pauschalierten Betrag, aus dessen Höhe sich kaum Rückschlüsse auf den Klagegrund oder auf eine dem Kläger etwa tatsächlich entstandene Vermögenseinbuße ziehen ließ315. So verlangte die große Mehrheit der Kläger vor dem Ingelheimer Oberhof 100,200, 500 oder 1.000 Gulden 316 . In Einzelfällen entsprach die eingeklagte Summe allerdings auch etwa dem Doppelten oder einem anderen Vielfachen des tatsächlichen Schadens 317 . Der Beklagte konnte einer solchen Klage lediglich entgegenhalten, „des schadens sei er unschuldig" 318 , also das Bestehen eines Anspruchs dem Grunde nach leugnen. War er nicht bereit, diese Behauptung durch Leistung des Unschuldseids zu beweisen 319 oder verwirkte er durch Säumnis oder anderes prozessuales Fehlverhalten das Recht hierzu 320 , obsiegte der Kläger. Das Gericht nahm dann keinerlei Uberprüfung der Höhe der geltend gemachten Forderung vor, sondern verurteilte „alse die ansprache geludt had" 321 . Abweichungen zwischen dem ursprünglichen Klageantrag und der vom Beklagten im Falle des Unterliegens zu zahlenden Summe konnten sich daher nur ergeben, wenn der Kläger den geforderten Betrag nach Klageerhebung gesenkt hatte. Eine nachträgliche Anhebung der geltend gemachten Schadenssumme war dem Kläger hingegen verwehrt (er soll „sinen schaden behalden und den mynnern und nit meren" 322 ). Wie sich schon aus der Willkürlichkeit der Festlegung der Höhe des eingeklagten Betrages durch den Kläger ergibt, war es allein in dessen Belieben gestellt, ob die Schadensklage allein dem Schadensausgleich diente oder ob und in welchem Um-
312 G. Gudian, Ingelheimer Recht, S.253; ders., Klage, S. 131; E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 133. 313 Urteil vom 13.10.1438, zitiert nach: H. Loersch, Oberhof, Nr. 46; dazu (mit Übersetzung): G. Gudian, Klage, S. 132. 314 Urteil vom 26.4. 1407, zitiert nach: A. Erler, Urteile II, Nr.1103, ähnlich: Urteil vom 13.6. 1410 („alse hohe alse er wil"), ebenda, Nr. 1550; dazu: G. Gudian, Klage, S. 132; ders., Ingelheimer Recht, S.253. 315 E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 119, 132; G. Gudian, Klage, S. 131. 316 Eine Ubersicht über die vor dem Ingelheimer Oberhof eingeklagten Schadenssummen bei: E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 120ff. 317 G. Gudian, Klage, S. 131; E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 127. 318 Nachweise hierfür bei: E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 133. 319 D. Munzel, Schadensklage, Sp. 1341. 320 Beispiele hierfür bei: E.-G. Fröbel, Schadensersatzrecht, S. 70ff. 321 Urteil vom 1.4.1406, zitiert nach: A. Erler, Urteile II, Nr. 964; dazu: E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S.133; D. Munzel, Schadensklage, Sp. 1341; G. Gudian, Ingelheimer Recht, S. 342, jeweils m.w.N. aus den Entscheidungen des Ingelheimer Oberhofs. 322 Urteil vom 28.1.1400, zitiert nach: A. Erler, Urteile I, Nr. 166; ähnlich Urteil vom 17.12.1400 („wie die clage vur gerichte da geludt habe und nit hohir"), ebenda, Nr.292; dazu: E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 134.
1. Das deutsche Recht bis zur Rezeption
49
fang ihr auch eine pönale F u n k t i o n zukam 3 2 3 . Die pauschalierten, gerade bei Klagen wegen ehrkränkender Behauptungen extrem hohen Summen 3 2 4 belegen jedoch, dass sich die ganz überwiegende Mehrzahl der Kläger das R e c h t zur Erhebung einer Privatstrafe nicht nehmen ließ 3 2 5 . Genauere Aussagen dazu, wie groß der Anteil der Privatstrafe an dem eingeklagten Betrag war, sind jedoch selbst bei solchen Klagen, die auch dem Ausgleich eines Vermögensschadens dienten, kaum möglich, da die Q u e l len meist keine Anhaltspunkte zur Schadenshöhe enthalten 3 2 6 . Eine Tendenz, sich auf den tatsächlichen Schaden zu beschränken, zeichnete sich jedenfalls im Bereich des Ingelheimer O b e r h o f s dagegen auch im ausgehenden Mittelalter nur bei einzelnen Klagegründen, insbesondere bei Erbteilungsklagen, ab 3 2 7 . I m Ü b r i g e n stellte sich im fränkischen Rechtskreis nicht die Frage nach der Zulässigkeit eines pönalen Aufschlags auf den tatsächlichen Schaden, sondern allenfalls die nach einem Schutz des Beklagten vor allzu weitgehenden Forderungen des Klägers 3 2 8 . Bis Mitte des 15. Jahrhunderts schien allerdings ein Missbrauch des freien Schadenaufmessens eher die Ausnahme gewesen zu sein 3 2 9 . A b Ende des 15. J a h r hunderts stieg die H ö h e der eingeklagten Summen dann jedoch ebenso stetig wie drastisch an 3 3 0 . Anders als in anderen Gebieten des fränkischen Rechts, etwa in N e u stadt an der Weinstraße, Babenhausen, Fürth oder Mainz, w o die von den O b e r h ö fen ausgeworfenen Schadensbeträge sich in dieser Zeit allmählich dem tatsächlichen Schadensumfang oder doch wenigstens einem Vielfachen davon annäherten 3 3 1 , behielt der Ingelheimer O b e r h o f dennoch zunächst das System des freien Schadenaufmessens ohne grundsätzliche Modifikationen bei 3 3 2 .
323 G. Gudian, Klage, S.140; ders., Ingelheimer Recht, S.339ff.; D. Munzel, Schadensklage, Sp.1341. 324 Vgl. die Beispiele bei: E.-G. Fröbel, Schadensersatzrecht, S. 79f., 131; E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 119ff.; D. Munzel, Schadensklage, Sp. 1341. 325 E.-G. Fröbel, Schadensersatzrecht, S.93ff.; G. Gudian, Ingelheimer Recht, S.345; E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 131. 326 Eine Aufschlüsselung der eingeklagten Schadenssummen anhand einzelner Entscheidungen versucht aber: E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 123ff., 132; weitere Nachweise bei: E.-G. Fröbel, Schadensersatzrecht, S. 91 ff. 327 E.-G. Fröbel, Schadensersatzrecht, S. 87 (Rückgang vom Dreißigfachen des Erbteils noch 1428 auf das Doppelte oder sogar Beschränkung auf die tatsächliche Höhe des Erbteils ab Mitte des 15. Jahrhunderts). 328 Zu den bescheidenen Möglichkeiten hierfür: G. Gudian, Ingelheimer Recht, S.342ff.; E.-G. Fröbel, Schadensersatzrecht, S. 104ff.; E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 134f. 329 G. Gudian, Klage, S. 145f.; D. Munzel, Schadensklage, Sp. 1341. 330 G. Gudian, Klage, S. 146f.; ders., Ingelheimer Recht, S.345; D. Munzel, Schadensklage, Sp. 1341. 331 Ein Uberblick über die Entwicklung in diesen Rechtskreisen bei: E.-G. Fröbel, Schadensersatzrecht, S. 115ff.; G. Gudian, Klage, S. 132ff.; E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 124. 332 G. Gudian, Ingelheimer Recht, S. 339ff. (zu ersten Reformansätzen im 15. Jahrhundert aber ebenda, S. 347ff.); ders., Klage, S. 147.
II. Das Zeitalter des Usus modernus 1. Pönale Elemente im Privatrecht des 16. bis 18. Jahrhunderts a) Der Grenzbereich zwischen Privat- und Strafrecht Seit dem 16. Jahrhundert hatte sich im deutschen Rechtskreis im Gefolge der Rezeption des römischen Rechts die grundsätzliche Trennung zwischen Zivil- und Strafrecht allgemein durchgesetzt. In den einzelnen Territorien gelang es zunehmend, durch eine funktionierende Staatsgewalt im modernen Sinne und eine verwissenschaftlichte, gesetzesorientierte Strafrechtspflege Straftaten zu bekämpfen und Gesetze auch praktisch umzusetzen. Zugleich führte die Herausbildung absolutistischer Staatswesen in den deutschen Partikularstaaten dazu, dass alle Straftaten auch und schließlich sogar primär als gegen den Staat, das Staatsoberhaupt und seine Gesetze gerichtet empfunden wurden. Der Staat konnte daher nicht nur, sondern er wollte und musste nunmehr nach seinem Selbstverständnis auch gegen solche Straftäter vorgehen, die lediglich unbedeutendere Individualrechtsgüter verletzt hatten 1 . Spätestens seit dem 18. Jahrhundert folgte dies bereits aus dem das Straf- und Staatsrechtsdenken mittlerweile allgemein beherrschenden Legalitätsprinzip 2 . Mit dieser Entwicklung eng verbunden war die allmähliche Verdrängung des Parteibetriebs im Strafverfahren zu Gunsten des Inquisitionsprinzips 3 . Durch die sich aus diesen Faktoren insgesamt ergebende weitgehende Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols musste die private Unrechtsverfolgung zwangsläufig immer mehr an Bedeutung verlieren. Die meisten der rein pönalen Privatklagen des römischen Rechts, wie etwa die actio furti oder auch die ohnehin subsidiäre actio de dolo 4 , wurden ins deutsche Recht daher entweder gar nicht erst übernommen oder fanden jedenfalls schon bald nur noch selten Anwendung 5 . Dies wirkte sich auch deutlich auf die Umsetzung der Vorgaben der Carolina von 1532 aus: O b w o h l dem Wortlaut nach die Carolina für leichtere Diebstahlsfälle noch eine
F. Schaffstein, Wergeid, S. 196; ders., Wiedergutmachung, S.22. F. Schaffstein, Wiedergutmachung, S. 19. 3 Vgl. statt aller: H. Riiping/G. Jerouschek, Grundriß, Rn. 127ff.; Eh. Schmidt, Einführung, S. 122ff.; F. Schaffstein, Wiedergutmachung, S. 22. 4 Zum Konkurrenzverhältnis zwischen der actio de dolo und der aquilischen Haftung im gemeinen Recht vgl.: H. Kaufmann, Rezeption, S. 104ff.; W. Ogris, Unerlaubte Handlung, Sp. 460; zur bis ins 19. Jahrhundert verbleibenden Restbedeutung dieser Klage unten, B.IV.l. 5 H. Kaufmann, Rezeption, S. 105f.; H.J. Wieling, Interesse, S.247f.; H. Coing, Privatrecht I, S. 504 ff. 1
2
II. Das Zeitalter
des Usus
modernus
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stark an die actio furti erinnernde Möglichkeit zur privaten Sanktionierung vorsah 6 , erlangten diese Privatstrafen nie nennenswerte praktische Bedeutung. Vielmehr wurden von den Gerichten von Anfang an durchweg auch für leichte Diebstähle Leibesstrafen verhängt. Zudem verdrängten meist schon früh territoriale Kriminalstrafbestimmungen die Regelungen der Carolina auch formal 7 . Gleichzeitig führte die Verwissenschaftlichung des Privatrechts 8 zu einer beständigen Vereinheitlichung und klareren Strukturierung auch des (zivilrechtlichen) Deliktsrechts 9 . Dieses wurde dadurch im Wesentlichen auf seine bis heute vorherrschende Funktion begrenzt: den Ausgleich von durch unerlaubte Handlungen entstandenen Schäden. Zu den Folgen dieser Entwicklung zählte die zunehmende Entpönalisierung des Deliktsrechts im Hinblick auf die Haftung für Vermögensschäden, für die sich eine ausgeweitete Form der aus der lex Aquilia abgeleiteten Klagearten als allgemeine und umfassende Rechtsgrundlage herausbildete, die Beibehaltung der pönalen Injurienklage für die Verfolgung von vorsätzlichen Ehrverletzungen im weitesten Sinne und die Anerkennung einer dem römischen Recht fremden Schmerzensgeldklage. Treibende Kraft bei der Fortbildung des überlieferten römischen Rechts und seiner Anpassung an die Bedürfnisse des deutschen Rechtskreises war dabei stets die Rechtsprechung, mit deren Vorgaben sich die Vertreter der gemeinrechtlichen Rechtswissenschaft regelmäßig erst nach einer teils jahrhundertelangen Phase des Ignorierens oder erbitterten Widerstands unwillig abfanden. Daneben überdauerten einzelne deutschrechtliche Rechtsinstitute trotz aller römischrechtlichen Einflüsse die Zeit der Rezeption. Dies galt insbesondere für das Gebiet des gemeinen Sachsenrechts 10 . Insgesamt zeichneten sich damit bereits in der Zeit des Usus modernus die beiden Probleme ab, die bis heute die Diskussion um Vorhandensein, Nützlichkeit und Zulässigkeit pönaler Elemente im Privatrecht dominieren: einerseits das Konkurrenzverhältnis zwischen den öffentlichrechtlichen und privatrechtlichen Rechtsfolgen eines Rechtsbruchs, andererseits die Frage nach der adäquaten privatrechtlichen Be6 Art. 157f. C C C (Zahlung des Duplums an den Bestohlenen bei Diebstahl geringwertiger Sache bzw. des Vierfachenen bei schwerem Diebstahl, wenn Täter besserungsfähig erschien); hierzu: ] . Schröder, Haftung, S. 160f. 7 Vgl. hierzu nur H. Holzhauer, Privatstrafe, Sp. 1996; H.J. Wieling, Interesse, S. 248;/. Schröder, Haftung, S. 161; H. Dernhurg, Bürgerliches Recht II/2, S. 608. 8 Zum Verwissenschaftlichungsprozess des deutschen Rechts durch die Rezeption vgl. statt aller: F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, v.a. S.204ff. 9 Zur Entwicklung des Deliktsrechts in gemeinrechtlicher Zeit vgl. v.a.: H. Jentsch, Die Entwicklung von den Einzeltatbeständen des Deliktsrechts zur Generalnorm und die Berechtigung einer solchen (1939); W. Pennrich, Der Inhalt des Schadensersatzes im Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts (1952); H. Kaufmann, Rezeption und Usus modernus der actio legis Aquiliae (1958); R. Zimmermann, Law, S. 1017ff., 1085ff.; H.J. Wieling, Interesse und Privatstrafe vom Mittelalter bis zum Bürgerlichen Gesetzbuch (1970); U. Wolter, Das Prinzip der Naturalrestitution in §249 BGB: Herkunft, Entwicklung und Bedeutung (1985); B. Winiger, La responsabilité aquilienne en droit comun (2002). 10 Hierzu unten, B.II.4.
52
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
handlung von Nichtvermögensschäden und anderen Persönlichkeitsrechtsverletzungen.
b) Einflüsse des kanonischen
Rechts
Das kanonische Recht beeinflusste die Akzeptanz pönaler Elemente im gemeinrechtlichen und späteren deutschen Deliktsrecht vor allem in vierfacher Hinsicht: Zum einen beförderte es die generelle Ablehnung von Privatstrafen, da aus kanonistischer Sicht alle Delikte als crimina publica anzusehen waren 1 1 . Ihre Verfolgung oblag daher der Allgemeinheit, nicht dem einzelnen Geschädigten 1 2 . Zweifelhaft war in diesem Zusammenhang allenfalls, ob die Verwerflichkeit von Privatstrafen sich auch auf Konventionalstrafen erstreckte, also die Fälle, in denen sich der Schädiger selbst vorab vertraglich zur Zahlung einer Strafe verpflichtet hatte 13 . Zum anderen erleichterte es die von der Kanonistik betriebene Verselbständigung weiter Bereiche des Privatrechts vom römischen Recht auch dem weltlichen Recht, sich von diesem zu lösen und eigene Wege zu gehen 14 . Im Hinblick auf die römischrechtlichen Schadensersatzklagen ermöglichte dies nicht zuletzt die endgültige Aufgabe ihrer ohnehin nie vollständig rezipierten, längst nicht mehr in das deliktsrechtliche Gesamtsystem passenden pönalen Elemente. Den größten Einfluss auf die Entpönalisierung des gemeinen Deliktsrechts erlangte jedoch die kanonistische Restitutionslehre 1 5 . Deren Ausgangspunkt war das berühmte Augustinus 1 6 -Wort, wonach wahre Buße und damit Vergebung nur in Verbindung mit der Rückgabe der dem anderen entzogenen Sache möglich sei („non remittetur peccatum, nisi restituatur ablatum") 1 7 . Hieraus leitete die Frühscholastik eine umfassende Wiedergutmachungslehre ab, die in Anlehnung an Petrus Lombardus 18 später meist im Zusammenhang mit dem Bußsakrament abgehandelt wurde 1 9 . Diese war insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass sie unter Abweichung vom alttestamentarischen Deliktsrecht 2 0 zunehmend die Erstattung der entzogenen Sache oder, bei Unmöglichkeit der Restitution, eine anderweitige Genugtuung gleiVgl. dazu: H. Lange, Schadensersatz und Privatstrafe, S. 132. W.M. Plöchl, Geschichte II, S.387. 13 Vgl. H. Lange, Schadensersatz und Privatstrafe, S. 132 m.w.N. 14 H. Thieme, Privatrecht, S.249f. 15 Zur Geschichte der Restitutionslehre: U. Wolter, Prinzip, S. 21 ff.; K. Weinzierl, Die Restitutionslehre der Frühscholastik (1936), v.a. S.54ff.; ders., Die Restitutionslehre der Hochscholastik (1939), R.-D. Pfahl, Haftung, S. 18ff.; H.-J. Becker, Spuren, S. 166. 16 Zu Leben und Werk des Hl. Augustinus (geb. 354, gest. 430) vgl.: H.-J. Oesterle, Augustinus, Sp. 1223 ff. 17 Hier zit. nach der Wiedergabe des Zitats im Dekret Gratians, C. 14, q. 6, c. 1 (E. Friedberg, Corpus Iuris Canonici I, S. 742); zur Bedeutung dieses Grundsatzes: K. Weinzierl, Restitutionslehre, S.65. 18 Petrus Lombardus (geb. 1095-1100, gest. 1160), zu Leben und Werk vgl. L. Hödl, Petrus Lombardus, Sp.l977f. 19 Zahlreiche Nachweise hierfür bei: K. Weinzierl, Restitutionslehre, S. 11 Off., 121 ff., ders.-, Restitutionslehre Hochscholastik, S. 89ff. 2 0 Vgl. nur etwa Exodus 22, 3ff-; weitere Nachweise bei: K. Weinzierl, Restitutionslehre, S. 12f. 11
12
II. Das Zeitalter
des Usus
modernus
53
chen Umfangs als Schadensersatz genügen ließ, statt hierfür die Leistung eines Vielfachen zu fordern 21 . Die Vertreter der Hochscholastik vollendeten und verrechtlichten diesen Denkansatz 22 . Seit Thomas von Aquin 23 ordnete man die Restitution des zu Unrecht Entzogenen daher nicht mehr der Bußproblematik zu, sondern behandelte sie unter dem Aspekt der ausgleichenden Gerechtigkeit 24 . Zugleich wurde das dieser Lehre zu Grunde liegende Augustinus-Wort, nachdem es bereits in das Dekret Gratians (1140)25 und das Liber Extra (1234)26 Aufnahme gefunden hatte, 1298 als einer der wenigen Rechtssätze mit moraltheologischem Ursprung in die Rechtsregeln des Liber Sextus übernommen 27 . Hierdurch wandelte sich die Restitutionslehre vom bloßen theologischen Phänomen zum Gegenstand juristischer Auseinandersetzung. Die gestiegene Bedeutung, die im Gefolge der durch das 4. Laterankonzil von 1215 eingeführten allgemeinen jährlichen Beichtpflicht rechtlichen Problemen innerhalb der kirchlichen Lehren zukam, führte in den folgenden Jahrzehnten dann zur schnellen Verbreitung und Durchsetzung dieser Gedanken 28 . Von der daraus resultierenden Beichtjurisprudenz (v.a. Raymond de Penaforte 29 ) weiterentwickelt, beeinflusste die Restitutionslehre über die Werke der spanischen Spätscholastiker 30 und Moraltheologen des 16./17. Jahrhunderts (u.a. Vitoria 31 , Soto 32 ) wiederum ent21 Nachweise bei: K. Weinzierl, Restitutionslehre, S. 121 ff., zu einzelnen frühscholastischen A u toren, die abweichend hiervon noch f ü r die Restitution eines Vielfachen des Schadens eintraten ebenda, S.84, 93 f. 22 H i e r z u umfassend: K. Weinzierl, Die Restitutionslehre der Hochscholastik (1939). 23 1224/25-1274, zu Leben u n d Werk vgl. L. Eiders, T h o m a s v. Aquin, Sp. 706ff.; zu dessen Einfluss auf die Restitutionslehre: K. Weinzierl, Restitutionslehre Hochscholastik, S. 164ff. 24 R.-D. Pfahl, H a f t u n g , S.24f.; K. Weinzierl, Restitutionslehre Hochscholastik, S. 18ff. 25 Zu Leben u n d Werk des „Vaters der Kanonistik" Gratian (+ 1140-1150) vgl.: G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S. 164 f f . ; / / . Zapp, Gratian, Sp. 1658; Landau, Gratian, in: M. Stolleis, Juristen, S. 249ff.; zur Wiedergabe des Augustinus-Zitats im D e k r e t Gratians vgl. oben, F N 17. 26 Vgl. z.B. X 5.3 (Restitutionspflicht bei Simonie) X 5.17 (Restitutionspflicht bei Raub), X 5.18 (Restitutionspflicht bei Diebstahl), X 5.36 (Restitutionspflicht bei Körperverletzung, Sachbeschädigung, Brandstiftung); zur Restitutionslehre im Liber Extra allgemein: K. Weinzierl, Restitutionslehre Hochscholastik, S. 59ff. 27 Lib. V, Tit. XII, Regula iuris IV: „Peccatum n o n dimittitur, nisi restituatur ablatum" (zit. nach: E. Friedberg, C o r p u s Iuris Canonici II, S. 1122). 28 K. Weinzierl, Restitutionslehre, S. 190f. 29 R a y m u n d de Penaforte (geb. u m 1180, gest. 1275), zu Leben u n d Werk vgl. H. Zapp, R a y m u n d v. Penafort, Sp.414f. Zu seinem Einfluss auf die Restitutionslehre der Hochscholastik: K. Weinzierl, Restitutionslehre, S.100, 109, 190f. 30 Vgl. hierzu die Ubersicht bei: F. Grunert, Theologien, S. 313ff.; umfassend hierzu: G. Nufer, U b e r die Restututionslehre der spanischen Spätscholastiker u n d ihre Ausstrahlung auf die Folgezeit (1969). 31 F r a n c i s c o d e Vitoria (1492/93 [?] -1546), zu Leben u n d Werk vgl. G. Kleinheyer/J. Schröder, J u risten, S.434ff.; J.I. Saranyana, Vitoria, Sp. 1776; K. Seelmann, Vitoria, in: M. Stolleis, Juristen, S. 639f. 32 Zu D o m i n i c u s Soto vgl. H. Thieme, Privatrecht, S.243ff., speziell zu dessen Wiedergutmachungslehre ebenda, S. 247ff.; R.-D. Pfahl, H a f t u n g , S. 26f.; wichtig f ü r den Einfluss der Spätscholastiker auf das naturrechtlich geprägte Privatrecht w u r d e v.a. Sotos A b h a n d l u n g D e Justitia et Jure (1556).
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B. Die Grenze zwischen
Privat-
und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
scheidend die Ausgestaltung des Schadensersatzrechts bei Hugo Grotius 33 . Auf dem Umweg über die daran anschließenden Lehren der späteren deutschen Naturrechtler 34 fanden einzelne Aspekte der Restitutionslehre dann schließlich auch Eingang in das positive weltliche Deliktsrecht. Für dieses erwies sich vor allem die aus der Restitutionslehre zwingend folgende Beschränkung der Schadensersatzansprüche des Geschädigten auf den Wert dessen, was ihm entzogen wurde, als maßgeblich: Niemand sollte mit Zuwachs zurückerhalten, was er aus dem Bestand seiner irdischen Güter verloren hatte, um nicht Gewinn aus dem erlittenen Verlust zu ziehen 35 . Für Vermögensschäden konnte also nur Ersatz des Interesses verlangt werden 3 6 , wobei anders als im römischen Recht, soweit Naturalrestitution möglich war, diese zumindest als auch zulässig, wenn nicht sogar als vorzugswürdig angesehen wurde 3 7 . Bei reinen Nichtvermögensschäden bewirkte die Restitutionslehre zwar einerseits ebenfalls eine Beschränkung, da auch hier pönale Aufschläge zu unterbleiben hatten, andererseits aber auch eine Ausweitung des Haftungsumfangs, da nunmehr auch Schmerzen und Ehrkränkungen als ausgleichsfähig angesehen wurden 3 8 . Durch eine Geldentschädigung durfte dieser Ausgleich, um nicht mit dem kanonischen Bereicherungsverbot in Konflikt zu geraten 39 , allerdings nur bei Körperverletzungen erfolgen. Der gute Ruf des Beleidigten sollte dagegen allein durch den Widerruf der ehrkränkenden Behauptung wiederhergestellt werden (restitutio famae) 40 . Der vierte Gedanke, der Bedeutung für das weltliche Deliktsrecht erlangte, war schließlich die zunehmend verfeinerte kanonistische dolus-Lehre 4 1 . Diese trug vor allem dazu bei, die subjektive Seite der Verletzungshandlung bei der rechtlichen Würdigung der Schädigung stärker zu betonen, räumte also dem Ausmaß der Schuld
Vgl. hierzu H. Thieme, Privatrecht, S.262ff.; R. Feenstra, Deliktsrecht, S.429ff. Hierzu unten, B.II.5. 35 So bezogen auf einen Fall von Kirchendiebstahl c. 11 C. XII q. 2: „...Sed absit, ut ecclesia cum augmento recipiat quod de terrenis rebus uidetur amittere, et lucra de dampnis querere", zit. nach: E. Friedberg, Corpus iuris canonici I, S. 690. Dazu: H. Lange, Schadensersatz und Privatstrafe, S. 131 f. 36 Lexikon für Theologie und Kirche X, Wiedergutmachung, Sp. 1102ff. (O. v. Nell-Breuning); ebenda IX, Schadensersatz, Sp. 358 (ders.). 37 H.-J. Becker, Spuren, S. 166; R. Egenter, Restitutionspflicht, S. 530f.; U. Wolter, Prinzip, S. 21 ff.; Lexikon für Theologie und Kirche X, Wiedergutmachung, Sp. 1103 (O. v. Nell-Breuning)', ebenda IX, Schadensersatz, Sp.358 (ders.). 38 Nachweise hierfür bei U. Wolter, Prinzip, S. 27. 39 Vgl. hierzu H. Lange, Schadensersatz und Privatstrafe, S. 132; R. Egenter, Restitutionspflicht, S. 529ff. 40 H.-J. Becker, Spuren, S. 166; Lexikon für Theologie und Kirche X, Wiedergutmachung, Sp. 1103 (O. v. Nell-Breuning)', H. Thieme, Privatrecht, S. 247ff. Zum Einfluss der kanonistischen Restitutionslehre auf die Entwicklung des Widerrufs unten, B.II.3. b). 41 Vgl. dazu S. Kuttner, Kanonistische Schuldlehre von Gratian bis auf die Dekretalen Gregors IX. (1935); W.M. Plöchl, Geschichte II, S.384ff., V, S.55ff.; Lexikon für Theologie und Kirche IV, Haftung, Sp. 1312ff. (O. v. Nell-Breuning), IX, Schadensersatz, Sp. 358f. (O. v. Nell-Breuning), Schädigung, Sp.359f. (S. Klöckner), X, Wiedergutmachung, Sp. 1102ff. (O. v. Nell-Breuning), jeweils m.w.N. 33
34
II. Das Zeitalter des Usus modernus
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des Täters Vorrang vor dem Ausgleich der Folgen seiner Tat ein 4 2 . D a m i t bereitete sie den Weg für die in den Rechtsordnungen des 18./19. Jahrhunderts verschiedentlich anzutreffende, nach dem Grad des Verschuldens des Schädigers abgestufte Deliktshaftung 4 3 , beeinflusste aber auch die Regelung der Haftungsfolgen bei Schäden, die auf einem Mitverschulden mehrerer Beteiligter beruhten 4 4 . Weniger durch seine direkte Ü b e r n a h m e in das weltliche Recht als vielmehr durch die Bereitstellung willkommener Begründungshilfen für dort aus anderen Gründen ohnehin angestrebte Neuerungen beeinflusste das kanonische R e c h t dagegen die R e gelungen zur passiven Vererblichkeit deliktischer Ansprüche 4 5 : Anders als das römische R e c h t 4 6 bejahte das kanonische im Interesse des Seelenheils des Erblassers stets die Verpflichtung der E r b e n , den O p f e r n unerlaubter Handlungen des Erblassers Ersatz für die dadurch erlittenen Schäden zu leisten 4 7 . Solange der aquilischen H a f tung noch zumindest ansatzweise auch pönale F u n k t i o n e n zukamen, fand dieses A r gument keinen Eingang in die weltliche Rechtslehre 4 8 . Dies belegt exemplarisch etwa die Aussage von Modestinus Pistoris, wonach für die weltlichen Zivilgerichte keine Veranlassung bestünde, insofern kanonisches Recht anzuwenden, da die Vererblichkeit deliktischer Ansprüche auch im Zivilrecht vernünftig geregelt sei und die weltlichen Bestimmungen ohne Gefahren für das Seelenheil befolgt werden könnten („... So seind wir doch allhier in foro civili: et quando ius canonicum et civile discrepant, et utrumque est rationabile, et potest sine periculo animae servari, servatur utrumque in foro s u o " 4 9 ) . N a c h d e m die aquilische Klage jedoch durch die R e c h t sprechung des Usus modernus in eine rein zivile Schadensersatzklage umgewandelt worden war 5 0 , erschien es nur folgerichtig, dieser Entwicklung durch eine Haftung des E r b e n für Delikte des Erblassers Rechnung zu tragen. D a sich dies mit den Vorschriften des römischen Rechts aber nicht begründen ließ, griff man hierfür auf das insoweit mit der neuen (weltlichen) Rechtslage übereinstimmende
kanonische
Rechts zurück: „... Daher sind, nach dem heutigen Gerichtsgebrauche, die E r b e n unbedingt verbunden, den von ihrem Erblasser zugefügten Schaden aus dem N a c h lasse zu ersetzen ... D i e Praxis nimmt hier das Canonische Recht zur Richtschnur
42 H. Lange, Schadensersatz und Privatstrafe, S. 155; Lexikon für Theologie und Kirche I X , Schädigung, Sp. 360 (5. Klöckner); ebenda, Schadensersatz, Sp. 359 (O. V. Nell-Breuning). 4 3 So insbesondere im preuß. A L R und im öst. A B G B , vgl. unten, B . I I I . 2 und 4. 44 W. Ogris, Unerlaubte Handlung, Sp. 460. 4 5 Ausführlich dazu: H. Kaufmann, Rezeption, S.95ff.; U. Wolter, Ius canonicum, S. 13, 169ff. 4 6 Hier nur dann Ersatzpflicht der Erben, wenn diese durch den Schaden des Klägers bereichert wurden: Inst. 4.3.9; Dig. 9.2.23.8. 4 7 X 5.17.5, X 3.28.14: „sed eius heredes et propinqui, ad quos bonapervenerunt ipsius, ut pro eodem satisfaciant, censura sunt ecclesiastica compellendi", zit. nach: E. Friedberg, Corpus Iuris C a nonici II, S. 554.
48
U. Wolter, Ius canonicum, S. 13, 170f.
M. Pistoris, Consilia sive responsa, cons. 41 n. 6. 5 0 Hierzu unten, B . I I . 2 . 51 Zitiert nach: D. C.F. Glück, Pandecten X , S . 3 8 7 . Weitere Nachweise bei: H. Kaufmann, tion, S. 102. 49
Rezep-
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland
vor dem
BGB
2. Der Ersatz von Vermögensschäden: Die actio legis Aquiliae a) Die Umformung Konsiliatoren
der actio legis Aquiliae durch die Glossatoren
und
Die Arbeiten der Glossatoren und Konsiliatoren blieben weitgehend ohne Einfluss auf die Rechtsnatur der actio legis Aquiliae 52 . Die pönalen Elemente der aquilischen Haftung, insbesondere die Ermittlung des "Werts der beschädigten Sache durch Rückrechnung und die Verdopplung des zu ersetzenden Betrages bei anfänglichem Leugnen, wurden nahezu unverändert beibehalten. Allerdings zeigten sich in der Literatur des Spätmittelalters bereits Ansätze für eine stärkere Betonung der Ausgleichsfunktion. Auch wurde nunmehr bei der Berechnung der Höhe des vom Schädiger zu bezahlenden Betrages deutlich zwischen dem pönalen und dem schadenausgleichenden Anteil unterschieden 53 sowie die kumulative Haftung mehrerer Schädiger auf den pönalen Anteil beschränkt 54 . An der passiven Unvererblichkeit der actio legis Aquiliae hielt die ganz überwiegende Zahl der Autoren hingegen fest 55 . Dennoch kam es in dieser Zeit durchaus zu erheblichen Veränderungen der Ausgestaltung der actio legis Aquiliae: So wurden etwa auf Ersatz der Heilbehandlungsund Kurkosten gerichtete Schadensersatzansprüche Freier nach erlittenen Körperverletzungen nunmehr allgemein anerkannt 56 . Auch setzte sich bei der Tötung eines Freien die Haftung des Täters gegenüber den Erben wegen der diesen entgangenen Arbeitsleistung des Erblassers, abweichend vom Corpus iuris, zunehmend durch 57 . Eine generelle Ausdehnung der aquilischen Haftung auf reine Vermögensschäden erfolgte zwar noch nicht, doch kam es zu einer merklichen Lockerung der Anforderungen an die Unmittelbarkeit der für eine Haftung geforderten Einwirkung auf einen körperlichen Gegenstand 58 . Hierdurch begannen die Grenzen zwischen der actio legis Aquiliae utilis und der actio legis Aquiliae in factum weitgehend zu verschwimmen 59 . Darüber hinaus sprachen zahlreiche spätmittelalterliche Autoren dem Geschädigten das Recht zu, vom Schädiger statt des vom klassischen römischen Recht allein vorgesehenen Geldersatzes 60 auch Naturalrestitution verlangen zu kön-
52 Vgl. zum Einfluss der Glossatoren auf das Schadensersatzrecht umfassend: H. Lange, Schadensersatz und Privatstrafe in der mittelalterlichen Rechtstheorie (1955); ein kurzer U b e r b l i c k hierzu auch bei: H. Kaufmann, Rezeption, S. 19ff. 53 H. Kaufmann, Rezeption, S.21. 54 H. Kaufmann, Rezeption, S.21; H. Lange, Schadensersatz und Privatstrafe, S. 135f., 138. 55 H. Kaufmann, Rezeption, S.21 f. 56 H i e r z u vgl. R. Feenstra, Glossatoren, S. 205f.; H. Coing, Privatrecht I, S.512; H. Kaufmann, Rezeption, S. 29; H. Lange, Bartolus, S. 285. 57 R. Feenstra, Glossatoren, S.205ff., 231 f.; H. Kaufmann, Rezeption, S.20. 58 H. Kaufmann, Rezeption, S. 19f. 59 H. Kaufmann, Rezeption, S. 19ff.; H. Coing, Privatrecht I, S.512. 60 Einzige A u s n a h m e w a r C o d . 3.35.2 ( W i e d e r e i n d ä m m u n g überfluteten Wassers): In diesem Fall konnte der Schädiger die Pflicht zur Leistung von Geldersatz durch Naturalrestitution abwenden. 61 H. Kaufmann, Rezeption, S.21; H. Lange, Schadensersatz und Privatstrafe, S.69ff.
II.
Das Zeitalter
des Usus
modernus
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b) Die Weiterentwicklung der aquilischen Haftung durch den Usus modernus aa) Anwendungsbereich und Tatbestandsvoraussetzungen N o c h im 16. Jahrhundert begann die deutsche Rechtspraxis, die nach dem Corpus iuris zwingende, dem deutschen Recht aber fremde Verknüpfung von Ersatzanspruch und unmittelbarer Einwirkung auf eine Sache, ein Tier oder eine Person schrittweise aufzugeben. Zu den ersten Fällen reiner Vermögensschäden, für die daher nunmehr eine Ersatzpflicht anerkannt wurde, gehörten Ansprüche wegen Amtspflichtverletzung oder schlechter Prozessführung eines Anwalts 6 2 . Spätestens ab der Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich dann die actio legis Aquiliae in der deutschen Rechtsprechung als Generalklausel für Schadensersatzansprüche bei jeglicher Art von Vermögensschäden etabliert 63 . Als Gegenstück zum Grundsatz des Vertragsrechts „pacta sunt servanda" galt damit fortan für das Deliktsrecht das Prinzip „damna sunt praestanda" 6 4 . Dadurch entfiel sowohl die Beschränkung der Klagebefugnis auf den an der beschädigten Sache dinglich Berechtigten als auch die Notwendigkeit, zwischen den verschiedenen Formen der actio legis Aquiliae (directa, utilis, in factum) zu unterscheiden 65 . Schon 1538 konnte Sebastian Brandt bei seiner Erläuterung der actio legis Aquiliae im Klagspiegel daher lapidar feststellen: „In Latin ist unterscheydt under den Worten Directa und Utilis, aber im klagen kan ich keyn Underscheidt finden" 6 6 . Aus alter Gewohnheit wurde die genaue Bezeichnung der erhobenen Klageart in der Rechtspraxis zum Teil allerdings noch längere Zeit beibehalten 6 7 . In der zeitgenössischen Literatur wurde die richterrechtliche Ausweitung der actio legis Aquiliae auf alle Vermögensschäden zunächst ignoriert und erst ab Mitte des 17. Jahrhunderts allmählich nachvollzogen. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts geschah dies jedoch ohne klares Bekenntnis zu einer bewussten Abkehr vom Regelungsgehalt des Corpus iuris und ohne eindeutige Anerkennung einer generellen Schadensersatzpflicht bei Schädigungen durch unerlaubte Handlungen 6 8 . Weiterhin ungeklärt blieb im Zeitalter des Usus modernus die Frage, inwieweit statt Geldersatz auch Naturalrestitution vom Geschädigten gefordert oder vom Schädiger geleistet werden konnte. Soweit die Literatur dieses Problem behandelte, wurde teils im Einklang mit dem älteren Recht die Beschränkung der actio legis 6 2 Nachweise für diese und weitere Beispiele bei: H. Kaufmann, Rezeption, S. 46ff.; H. Cotng, Privatrecht I, S. 511. 6 3 Vgl. hierzu nur: H. Going, Privatrecht I, S. 505f., 5 0 9 ; ] . Schröder, Haftung, S. 148f.; H.-P. Benöhr, Haftung, S. 694, 64 H. Kaufmann, Rezeption, S. 125; H.-P. Benöhr, Haftung, S.694. 65 H. Coing, Privatrecht I, S.509, 512; H. Kaufmann, Rezeption, S. 125. 66 S. Brandt, Clagspiegel, T. 1, Bl. L X X X I X (v). 6 7 Beispiele hierfür z.B. bei: Th. Kiefer, Haftung, S.40; auch S. Brandt setzt sich trotz der seiner Auffassung nach letztlich fehlenden klaren Abgrenzung noch mit den verschiedenen Klagevarianten auseinander: Clagspiegel, T. 1, Bl. L X X X I X . 6 8 Umfassende Nachweise hierfür bei H. Kaufmann, Rezeption, S. 58ff. (zur Erstreckung der actio legis Aquiliae auf reine Vermögensschäden), 79ff. (zur Aktivlegitimation).
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
Aquiliae auf die Verpflichtung zur Zahlung von Geldersatz beibehalten. Allenfalls verband man diese Feststellung mit der Einschränkung, der Schädiger könne (wie in C o d . 3.35.2. vorgesehen) diese Pflicht auch durch Naturalrestitution erfüllen, ohne jedoch dazu verpflichtet zu sein. Andere Autoren hielten hingegen den Geschädigten für verpflichtet, bei möglicher Naturalrestitution zumindest vorrangig diese zu verlangen. D i e Rechtsprechung hierzu ließ keine klare Linie erkennen 6 9 . D i e Aufnahme eines Wahlrechts des Geschädigten zwischen beiden F o r m e n des Schadensersatzes in einigen Partikularrechten 7 0 spricht aber dafür, dass zunehmend von einer Pflicht des Schädigers zur Naturalrestitution ausgegangen wurde 7 1 . D i e größten Diskrepanzen zwischen dem von der Rechtsprechung praktizierten und dem von der rechtswissenschaftlichen Literatur behandelten Recht bestanden jedoch im H i n b l i c k auf die privatrechtlichen Folgen von Personenschäden. Dies betraf in erster Linie die Berücksichtigung von Nichtvermögensschäden, daneben aber durchaus auch zahlreiche Aspekte der Ermittlung des Umfangs des vom Schädiger zu ersetzenden Vermögensschadens. So wurde etwa die Frage, o b der Witwe und den unversorgten Kindern eines Getöteten nach den Grundsätzen über die aquilische Haftung wegen des entgangenen Unterhalts Ansprüche gegen den Schädiger zustehen, von den Gerichten von Anfang an einhellig zu Gunsten der Angehörigen des Verstorbenen entschieden. Eine klare dogmatische Grundlage hierfür entwickelte die Rechtsprechung jedoch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein nicht. Vielmehr wurde teils an die Ausweitung der actio legis Aquiliae durch die mittelalterlichen J u risten 7 2 angeknüpft, teils ein aus deutschrechtlichen Vorläufern derartiger Ansprüche (wie z . B . dem Wergeid 7 3 ) hervorgegangenes Gewohnheitsrecht angenommen 7 4 . Im Gegensatz dazu lehnte ein Großteil der zeitgenössischen Literatur Ansprüche der Hinterbliebenen zunächst generell ab oder erkannte allenfalls eine Pflicht des Schädigers zur Ü b e r n a h m e der Beerdigungskosten oder der von den Angehörigen bis zum Tod des Verstorbenen für dessen Heilbehandlung erbrachten Aufwendungen an 7 5 . Erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts kam es zu einer Annäherung beider Positionen, ohne dass dadurch allerdings eine Klärung der Rechtsgrundlage für die Ansprüche der Hinterbliebenen herbeigeführt worden wäre 7 6 . b b ) D i e Entpönalisierung der aquilischen Haftung Hinsichtlich der pönalen Elemente der aquilischen Haftung lassen sich in gemeinrechtlicher Zeit vor allem zwei Tendenzen ausmachen: Z u m einen konnten sich Vgl. die Nachweise hierzu bei U. Wolter, Prinzip, S. 65ff. So z.B. im Landrecht des Herzogtums Preußen von 1620,6. Buch, 10. Titel, Art. 1 §§4f., vgl. dazu W. Litewski, Landrecht, S. 144f. 71 H. Kaufmann, Rezeption, S.91; W. Pennrich, Inhalt, S. l l l f f . 72 Vgl. oben, B.II.2. a). 73 Dazu oben, B.I.l. c). Zum Fortbestehen der Wergeidansprüche in Sachsen unten, B.II.4 a). 74 H. Kaufmann, Rezeption, S. 34ff. 75 H. Kaufmann, Rezeption, S. 43 ff.; R. Zimmermann, Law, S. 1025f. 76 Vgl. hierzu H. Coing, Privatrecht I, S.511; W. Frhr. Kaitz v. Frenz, Lex Aquilia, S.92ff. 69
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II. Das Zeitalter des Usus modernus
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selbst diejenigen pönalen Merkmale, die überhaupt je Eingang in die deutsche Rechtspraxis gefunden hatten, sofern sie nicht ausnahmsweise von partikularrechtlichen Bestimmungen übernommen wurden 7 7 , dort nicht lange behaupten. Spätestens ab dem frühen 18. Jahrhundert basierte die deliktsrechtliche Rechtsprechung daher auf einer vollständig entpönalisierten actio legis Aquiliae 7 8 . Z u m anderen wurden die die Rechtsnatur der aquilischen Haftung betreffenden Veränderungen von der zeitgenössischen juristischen Literatur noch hartnäckiger ignoriert als die Modifikationen, die diese im H i n b l i c k auf ihren Anwendungsbereich durch die Rechtspraxis erfahren hatte 7 9 . (1) D i e Rückrechnung bei der Ermittlung der H ö h e des Schadensersatzes D i e deutschen Gerichte legten bei der Bemessung der H ö h e des vom Schädiger im R a h m e n der aquilischen Haftung zu ersetzenden Schadens stets den Wert der beschädigten Sache zum Zeitpunkt der Schädigung zu Grunde. D i e Ermittlung des Sachwerts auf der Grundlage der verschiedenen Rückrechnungsvarianten der lex Aquilia wurde also nie rezipiert 8 0 . D a m i t erübrigte sich für die Rechtsprechung nicht erst mit der Ausweitung der Klage auf alle Vermögensschäden, sondern von vornherein die Notwendigkeit, zwischen den Klageunterarten der einzelnen Kapitel der lex Aquilia zu unterscheiden 8 1 . N a c h den in den Institutionen vorgegebenen Kriterien für die Beurteilung der Rechtsnatur einer Klage (Inst. 4.3.9: „... qua ratione creditum est poenalem esse huius legis actionem, quia non solum tanti quisque obligatur, quantum damni dederit, sed aliquando longe pluris . . . " - „Wegen dieser Regelung ist die Klage aus diesem Gesetz allgemeiner Überzeugung nach eine Strafklage, weil man nicht auf so viel verpflichtet wird, wie man an Schaden angerichtet hat, sondern zuweilen auf viel m e h r " 8 2 ) war die im deutschen Rechtskreis praktizierte F o r m der actio legis Aquiliae demnach von Anfang an nicht pönal. D i e gemeinrechtlichen Autoren nahmen diese Nichtrezeption der Rückrechnung jedoch lange Zeit nicht zur Kenntnis und stellten die in der lex Aquilia vorgesehene Berechnung der Schadenshöhe weiterhin als geltendes Recht dar. Erst ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert näherte sich die Schilderung der gemeinrechtlichen actio legis Aquiliae in der Literatur der Rechtspraxis an, die nunmehr auch allgemein gebilligt wurde 8 3 . 77 So stellte etwa das Landrecht für das Herzogtum Preußen von 1620 in offensichtlicher Anlehnung an die Schadensberechnungsweise der lex Aquilia bei Tieren stets auf deren Höchstwert im Vorjahr der Schädigung, im Übrigen jedoch auf den Höchstwert der Sache während der letzten 30 Tage vor der Schädigung ab (6. Buch,10. Titel, Art. 1, §§4f.); vgl. hierzu: W. Litewski, Landrecht, S. 144 f. 78 H. Coing, Privatrecht I, S. 509; R. Zimmermann, Law, S.1020; Ch.F. Glück, Pandecten X, S. 384; B. Einiger, responsabilité II, S. 155ff. 79 Vgl. die zahlreichen Beleg hierfür bei H. Kaufmann, Rezeption, S.85ff. 80 H. Kaufmann, Rezeption, S. 85;/. Schröder, Haftung, S. 147. 81 C.F. Glück, Pandecten X, S.384; L.J.F. Höpfner/A.D. Weber, Commentar, § 1060. 82 Ubersetzung nach Behrends/Kupisch/Knütel/Seiler, Corpus Iuris, Institutionen, S.212. 83 Vgl. die Nachweise bei H. Kaufmann, Rezeption, S. 86f.
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B. Die Grenze zwischen
Privat-
und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
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(2) Die Litiskreszenz Die Verdopplung der Schadensersatzsumme bei erfolglosem Leugnen (Litiskreszenz) wurde zumindest in Teilen Deutschlands zunächst rezipiert: Bis Anfang des 17. Jahrhunderts lässt sich eine Verhängung dieser Sanktion verschiedentlich belegen 84 , das preußische Landrecht von 1620 sah eine derartige Strafverdopplung sogar ausdrücklich vor 85 . Alsbald danach wurde diese Gerichtspraxis aber allgemein aufgegeben, ab Mitte des 17. Jahrhunderts ist ein Gebrauch nicht mehr nachweisbar 86 . Die Rechtswissenschaft des Usus modernus hielt dagegen an der Litiskreszenz noch hartnäckiger fest als an der Berechnung der Schadenshöhe durch Rückrechnung. Auch Ende des 17. Jahrhunderts wurde die fehlende Übernahme bzw. längst erfolgte Aufgabe der Strafverdoppelung durch die Praxis oft einfach nicht erwähnt. Soweit sich Autoren ab dem späten 17. Jahrhundert mit der Gerichtspraxis auseinander setzten, lehnten sie diese selbst dann ganz überwiegend ab, wenn sie den Verzicht auf die Rückrechnung der Schadenshöhe durch die deutschen Gerichte akzeptierten. Dies nicht etwa trotz, sondern wegen der Pönalität dieser Regelung: Man wollte nicht auf die abschreckende Wirkung der Bestrafung von Prozesslügen verzichten 87 . Erst im 18. Jahrhundert akzeptierte die herrschende Lehre die Beseitigung der Litiskreszenz durch die Rechtsprechung, die aber bis zuletzt umstritten blieb 88 . (3) Die kumulative Haftung mehrerer Schädiger Das Corpus iuris hatte die pönale Rechtsnatur der actio legis Aquiliae damit begründet, dass die Höhe des dem Kläger zugesprochenen Schadensersatzes jedenfalls potentiell den Wert der beschädigten Sache zur Zeit der schädigenden Handlung überstieg. Die kumulative Haftung mehrerer Schädiger wurde neben der passiven Unvererblichkeit der Klage dagegen als bloße Folge dieser Straffunktion angesehen. Mit der von vornherein weitgehenden, alsbald vollständigen Entpönalisierung der aquilischen Haftung für Vermögensschäden ließ die Rechtsprechung daher folgerichtig auch die kumulative Haftung mehrerer Schädiger entfallen 89 . Von Anfang an befreite somit nach der deutschen Rechtsprechung die Leistung der vollen Schadensersatzsumme durch einen Schädiger alle anderen von ihrer Zahlungspflicht gegenüber dem Geschädigten, soweit sich diese aus der actio legis Aquiliae ergab. Umstritten war hingegen zum einen, ob die verschiedenen Schädiger in solidum hafteten, der Geschädigte also jeden einzelnen nicht nur auf seinen Anteil, sondern auf den vollen Betrag in Anspruch nehmen konnte, zum anderen die Möglichkeit einer vorrangigen Inanspruchnahme desjenigen Schädigers, den das größte Maß an Beispiele bei H. Kaufmann, Rezeption, S. 87f. 6. Buch, 10. Titel, Art. 1, §5, vgl. hierzu: Th. Kiefer, Haftung, S.54f. 86 H. Kaufmann, Rezeption, S. 88. 87 So besonders deutlich S. Stryk, Usus modernus, Lib. IX, Tit. II, §§2ff. 88 Vgl. hierzu die Nachweise bei: Ch.F. Glück, Pandecten X, S. 385; R. Zimmermann, Law, S. 1019; H. Kaufmann, Rezeption, S. 89. 89 Nachweise hierzu bei: R. Zimmermann, Law, S. 1020; H. Kaufmann, Rezeption, S. 91 f. 84
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II. Das Zeitalter
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Verschulden an der Entstehung des Schadens traf. Während sich die gesamtschuldnerische Haftung mehrerer Schädiger spätestens ab Beginn des 18. Jahrhunderts durchgesetzt hatte, zeichnete sich hinsichtlich der verschuldensabhängigen Rangfolge bei der Haftung noch Jahrzehnte später keine einheitliche Rechtsprechung ab 90 . Dem üblichen Gerichtsgebrauch entsprach es aber wohl, den Gehilfen nur subsidiär, bei Zahlungsunfähigkeit des Täters, und selbst dann nicht stets für den gesamten Schaden haften zu lassen 91 . Die gemeinrechtliche Rechtswissenschaft orientierte sich hingegen auch bei der Haftung mehrerer Schädiger zunächst stärker an den Regelungen des Corpus iuris. Immerhin folgte sie aber schon früh der Rechtsprechung in der Beschränkung der kumulativen Haftung auf den pönalen Anteil des Entschädigungsbetrages 92 , den sie in Fortführung der durch die mittelalterlichen Juristen entwickelten Praxis nunmehr scharf von dem Schadensersatz im engeren Sinne unterschied. Da es bei der durch die deutschen Gerichte entwickelten Form der aquilischen Haftung ohnehin längst nicht mehr zu Strafaufschlägen auf den Schadensersatz kommen konnte, war diese Differenzierung allerdings ohne jede praktische Relevanz. Endgültig aufgegeben wurde sie von der herrschenden Lehre aber erst, nachdem sich auch Stryk93, wie zuvor schon die Rechtsprechung, dafür ausgesprochen hatte, aus der Entpönalisierung der actio legis Aquiliae die Konsequenz zu ziehen, mehrere Schädiger ohne jede Einschränkung gesamtschuldnerisch und nicht kumulativ haften zu lassen 94 . (4) Die passive Unvererblichkeit Die ursprüngliche passive Unvererblichkeit der actio legis Aquiliae beruhte ebenso wie die kumulative Haftung mehrerer Schädiger auf der Möglichkeit der Erhebung von Strafaufschlägen 95 , also auf der Pönalität der Klage. Es hätte daher nahe gelegen, im Zuge der Entpönalisierung der aquilischen Haftung durch die deutsche Rechtsprechung auch auf diese Haftungsbeschränkung zu verzichten. Dies umso mehr, als die passive Unvererblichkeit deliktsrechtlicher Ansprüche sowohl dem kanonischen als auch dem deutschen Recht widersprach. Dennoch hielt die gemeinrechtliche Rechtsprechung, in seltener Ubereinstimmung mit der Rechtswissenschaft dieser Zeit, bis ins 18. Jahrhundert hinein an der passiven Unvererblichkeit fest 96 : „Item der erb eins freien menschen klagt diser klag nit/wann es wer ein vngehörte sach/Absur90 Ein Uberblick über die Gerichtspraxis bei: D.C.F. Glück, Pandecten X, S. 385ff.; H. Kaufmann, Rezeption, S. 91 ff. 91 Nachweise bei: D. C.F. Glück, Pandecten X, S. 386. 92 Vgl. die Belege bei: H. Lange, Bartolus, S. 293; H. Kaufmann, Rezeption, S.94. 93 S. Stryk, Usus modernus, Lib. IX, Tit. II, §21. Zu Leben und Werk von Samuel Stryk (16401710) vgl. G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S, 404ff.; K. Luig, Stryk, in: M. Stolleis, Juristen, S.592f.; R. Voppel, Einfluß, S. 153ff. 94 Nachweise bei: H. Kaufmann, Rezeption, S. 94, FN 64. 95 Inst. 4.3.9. 96 Ein Uberblick über die Entwicklung bei: H. Kaufmann, Rezeption, S. 95ff.; ein frühes Beispiel für die Anerkennung der passiven Vererblichkeit der aquilischen Haftung durch die Tübinger Juristenfakultät (von 1631) dagegen bei: J. Schröder, Haftung, S. 145ff.
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland
vor dem
BGB
dum in Latin/das einer solt den wert überkommen des/des erbe er were" 9 7 . Wie wenig dies dem zeitgenössischen Rechtsempfinden entsprach, belegen nicht nur die zahllosen immer wieder gegen die Erben deliktischer Schädiger erhobenen Klagen, sondern auch verschiedene partikularrechtliche Bestimmungen, die ausdrücklich eine Haftung der Erben vorschrieben 9 8 . Zumindest in Einzelfällen empfand aber offenbar auch die Rechtsprechung die fehlende Möglichkeit, Schadensersatzansprüche auf G r u n d der actio leges Aquiliae gegen die Erben des Schädigers geltend machen zu können, als unbefriedigend. Sie begann daher schon früh mit der Entwicklung von Strategien zur Umgehung dieser Haftungsbeschränkung: So wurde unter Berufung auf die Grundsätze der bona fides die Ausnahmeklausel, nach der die Klage bei Anhängigkeit zum Zeitpunkt des T o des des Schädigers passiv vererbbar war, auf die Fälle ausgedehnt, in denen der Schädiger zu seinen Lebzeiten ihr Anhängigwerden böswillig vereitelt hatte. Später genügte für die Auslösung der Erbenhaftung teilweise sogar schon das fehlende Verschulden des Geschädigten hinsichtlich der rechtzeitigen Geltendmachung seiner Ansprüche 9 9 . Hingegen scheiterte zunächst die auf das kanonische Recht gestützte Argumentation, wonach diesem Vorrang vor dem weltlichen Recht einzuräumen sei, da es sich bei deliktischen Ansprüchen, wenigstens bei grobem Verschulden des Erblassers, um Seel-und Sühnesachen handele 1 0 0 . Das von der frühen gemeinrechtlichen Praxis abweichende kanonische Recht wurde daher nur im Nachhinein zur Begründung des um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Meinungsumschwungs herangezogen 1 0 1 .
3. Nichtvermögensschäden und andere Persönlichkeitsrechtsverletzungen J e eindeutiger in gemeinrechtlicher Zeit die Trennung zwischen dem privatrechtlichen Schadensausgleich und der öffentlichrechtlichen Bestrafung des Schädigers vollzogen wurde, desto dringlicher stellte sich die Frage, ob eine solche klare G r e n z ziehung auch bei Nichtvermögensschäden und anderen Persönlichkeitsrechtsverletzungen, wie vom kanonischen R e c h t gefordert, möglich oder auch nur erstrebenswert war. Auf die beiden wichtigsten Wurzeln des gemeinen Rechts, das römische und das ältere deutsche Privatrecht, konnte bei der Entwicklung einer allein ausgleichsorientierten Geldentschädigung für andere als Vermögensschäden jedenfalls als Vorbild nicht zurückgegriffen werden 1 0 2 :
So z.B. S. Brandt, Clagspiegel, T. 1, Bl. L X X X I X (v). Nachweise bei: R. Zimmermann, Law, S. 1020ff.; H. Kaufmann, Rezeption, S.95f. 99 Vgl. H. Kaufmann, Rezeption, S. 96f. 100 Hierzu oben, B.II.l. b). 101 Nachweise hierfür bei: H. Kaufmann, Rezeption, S. 102; R. Zimmermann, Law, S. 1021 f. 102 Zur Behandlung von Nichtvermögensschäden durch die Rechtspraxis und Rechtswissenschaft im Vorfeld des 19. Jahrhunderts vgl. M. Herrmann, Der Schutz der Persönlichkeit in der Rechtslehre des 16. bis 18. Jahrhunderts (1968). 97
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II. Das Zeitalter
des Usus
modernus
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Dem römischen Recht war die Vorstellung einer rein ausgleichsorientierten Geldentschädigung für Persönlichkeitsrechtsverletzungen fremd. Dem Verletzten wurde vielmehr statt eines Schmerzensgeldes ein Anspruch auf Privatstrafe zugebilligt, den er im Rahmen der actio iniuriarum geltend machen konnte. Damit ersparte man sich die bei der Gewährung eines Entschädigungsanspruchs unvermeidlichen Berechnungsprobleme: Für die Bemessung der Höhe der vom Schädiger an den Verletzten zu leistenden Strafe war die Feststellung eines Schadens oder gar seine Gleichsetzung mit einem bestimmten Geldbetrag wenn nicht entbehrlich, so jedenfalls von untergeordneter Bedeutung. Im Vordergrund standen dagegen Kriterien wie die Schwere der Tat und der Grad des Verschuldens des Täters, deren Beurteilung durch den Richter keine besonderen Schwierigkeiten bereitete 103 . Das spätmittelalterliche deutsche Privatrecht ordnete demgegenüber die Verfolgung der Ansprüche des Verletzten zwar den Schadensklagen zu, überließ die Ermittlung der Höhe der eindeutig auch pönalen Entschädigungspauschalen aber den Parteien, soweit nicht ohnehin feste Bußsätze dem Ermessen des Richters enge Grenzen setzten. Auch hier erübrigte sich daher jede Festlegung auf einen exakten, für den Schadensausgleich erforderlichen Geldbetrag 104 . Im Ergebnis führte die Verschmelzung dieser beiden Rechtsordnungen zum gemeinen Recht im 16. bis 18. Jahrhundert zu einer Parallelität von drei grundsätzlich unterschiedlichen Systemen zur Entschädigung der Opfer von Persönlichkeitsrechtsverletzungen: Eng mit Körperverletzungen verbundene Nichtvermögensschäden wurden als Nachteile anerkannt, für die eine ausgleichsorientierte Entschädigung in Geld möglich war. Der rechtliche Rahmen für diesen Schmerzensgeldanspruch war zunächst unklar, letztlich kristallisierte sich hierfür jedoch die aquilische Haftung heraus. Daneben erhielt sich für einzelne, vom Kriminalstrafrecht nicht (abschließend) erfaßte Fälle der Körperverletzung oder Tötung eines Menschen im sächsischen Rechtskreis der Anspruch des Verletzten oder seiner Familie auf Zahlung eines Wergeides als pönale Entschädigung für den erlittenen Verlust. Komplizierter zu erfassen und in ihrer Behandlung zunehmend umstritten war dagegen die privatrechtliche Sanktionierung von Ehrverletzungen. Hier blieb es einerseits bei dem deutschrechtlich-kirchenrechtlich verwurzelten Recht des Gekränkten, vom Täter einen Widerruf, eine Abbitte oder eine Ehrenerklärung zu verlangen. Andererseits übernahm man die römischrechtliche Injurienklage, die bis zuletzt ihren zumindest auch pönalen Charakter behielt und dem Beleidigten gegen den Beleidiger einen Anspruch auf Zahlung einer Privatstrafe verschaffte. Darüber hinaus konnte der Beleidigte bei Gericht im Wege einer besonderen Unterlassungsklage (provocatio ex lege diffamari) 105 beantragen, dass dem Beleidiger, soweit er nicht innerhalb einer bestimmten Frist den Beweis für die Wahrheit seiner Behaup-
103 104 105
Näheres oben, B.I.3 a) bb). Dazu ausführlicher oben, B.I. 3 b). Vgl. hierzu J.Ch. Edler v. Quistorp, Grundsätze I, §320, S.476.
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B. Die Grenze zwischen
Privat-
und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
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tung erbrachte, unter Strafandrohung verboten wurde, diese zu wiederholen 1 0 6 . Dieser diffamatorischen Klage kam unstreitig nicht der Charakter einer Privatstrafe zu, weshalb sie selbst von den schärfsten Gegnern der pönalen Rechtsbehelfe eines Beleidigten einhellig für zulässig gehalten wurde 1 0 7 . a) Die Injurienklage Die actio iniuriarum wurde in Deutschland früh und zumindest zunächst vollständig rezipiert 108 . Bereits die Reichskammergerichtsordnungen setzten sie daher regelmäßig ohne nähere Erläuterungen als bekannt und üblich voraus 109 . Noch stärker als schon zuletzt im römischen Recht konzentrierte sich allerdings von vornherein die Zielrichtung der Injurienklage fast vollständig auf die Sanktionierung von Ehrverletzungen. Die weite Verbreitung und große Bedeutung dieser Klage war zum einen eine Folge des aus heutiger Sicht extrem übersteigerten Ehrgefühls, von dem die ständisch gegliederte Gesellschaft des 16. bis 18. Jahrhunderts geprägt wurde 1 1 0 . Zum anderen trug hierzu die Vernachlässigung von Verbalinjurien durch die Strafgesetzgebung des Reichs bei, die sich in der Carolina 1 1 1 wie auch in den Reichsabschieden und Reichspolizeiordnungen 1 1 2 darauf beschränkte, durch die Androhung drakonischer Strafen der Verbreitung verleumderischer Schmähschriften entgegenzuwirken (z.B. Verurteilung des Verleumders zu der Strafe, die dem Verleumdeten für die ihm zu Unrecht unterstellte Tat gedroht hätte 113 ) 114 . Im Gegensatz zur aquilischen Haftung wurde in gemeinrechtlicher Zeit aber auch die Ausgestaltung der Injurienklage kaum verändert 115 . Soweit es zu kleineren reichsrechtlichen Reformen kam, beschränkten sich diese auf prozessuale Fragen, die der Beschleunigung des Verfahrens und dadurch der Verhinderung von Duellen 106 Vgl. hierzu bereits Cod. 7.14.5. Zu diesem Rechtsbehelf in gemeinrechtlicher Zeit: K. Bartels, Dogmatik, S. 3 8 f. 107 So etwa auch von J.S. Stryk, Bedencken, S. 21 f. 108 Vgl. statt aller: H. Going, Privatrecht I, S.505f.; H. Holzhauer, Privatstrafe, Sp.1996; E. Landsberg, Iniuria, S.66: R. Mainzer, Injurienklage, S. 61 ff.; H.J. Wieling, Interesse, S. 245. 109 So z.B.T. 24, §1 der RKGO von 1521 (NS II, S.187); T. 1, §5 der RKGO von 1523 (NS II, S.247); indirekt (unter Wiedergabe der für die Injurienklage typischen Eidformel) auch Teil 2, T. 28, §4 der RKGO 1555 (NS III, S.104); vgl. auch §107 des Augsburger RA von 1566 (NS III, S.229). 110 Vgl. hierzu nur: A.D. Weber, Injurien, S. 1 ff.; R. Zimmermann, Law, S. 1062ff.; K. Bartels, Dogmatik, S.52ff. 111 Art. 110 CCC; vgl. dazu: R. Lieberwirth, Beleidigung, Sp.357f. 112 Vgl. nur §58 des Augsburger Reichsabschieds von 1530 (NS II, S.314); Tit. 34 der RPO von 1548: „Von Schmäh-Schrifften, Gemählden, und Gemachten" (NS II, S. 604f.); Tit. 35 der RPO von 1577: „Von Buchtruckern, Schmähschrifften, schmählichen Gemahls, Gedichten und Anschlägen" (NS III, S. 395). 113 Art. 110 CCC: „... der selbig boßhafftig lesterer soll nach erfindung solcher übelthat als die recht sagen, mit der peen, inn welche er den vnschuldigen geschmechten durch sein böse vnwahrhafftige lesterschrifft hat bringen wollen". 114 Vgl. hierzu R. Lieberwirth, Beleidigung, Sp.357. 115 Zur Injurienklage in gemeinrechtlicher Zeit umfassend: K. Bartels, Die Dogmatik der Ehrverletzung in der Wissenschaft des gemeinen Rechts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts (1959); vgl. daneben auch: R. Mainzer, Injurienklage, S. 61 ff.
II. Das Zeitalter des Usus
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und anderen Formen der Selbstjustiz dienen sollten 116 . Die pönale Rechtsnatur der Injurienklage blieb davon hingegen unberührt. Allerdings wurde die actio iniuriarum ab dem 18. Jahrhundert nicht zuletzt wegen ihrer Pönalität zunehmend Gegenstand heftiger Kritik, die in einigen deutschen Staaten zu ihrer Abschaffung führte. aa) Der Anwendungsbereich der Injurienklage (1) Haftungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen der actio iniuriarum Die beiden wichtigsten Abweichungen der Tatbestandsvoraussetzungen der gemeinrechtlichen Injurienklage von der des römischen Rechts 117 betrafen zum einen den jeweils zu Grunde gelegten Ehrbegriff, zum anderen die Frage, inwieweit die Injurienklage auch zur Ahndung anderer Delikte als Beleidigungen herangezogen werden konnte: Nach römischem Recht war die Ehre des einzelnen Bürgers eng mit seinem römischen Bürgerrecht verbunden, der Verlust des Bürgerrechts führte auch zum Verlust der bürgerlichen Ehre 118 . Eine solche einheitliche Vorstellung von der Ehre aller Bürger war dem stark ständisch gegliederten deutschen Recht fremd. Zwar waren auch hier Ehre und Recht, Ehrlichkeit und Rechtsfähigkeit eng miteinander verwandte Begriffe, an die Stelle einer allgemeinen Ehre trat hier jedoch die jeweilige Ehre des spezifischen Standes 119 . Ehrlos oder in seiner Ehre gemindert sein konnte man von Geburt an (z.B. Abstammung von Angehörigen bestimmter Berufsgruppen, uneheliche Geburt) oder wurde es auf Grund späterer Ereignisse (z.B. Straftaten) 120 . Das Maß an Ehre, das einem Menschen zukam, ergab sich somit aus dem Stand, dem er angehörte, sowie aus den gesetzlichen Bestimmungen über den Entzug oder die Minderung der Ehre. Obwohl „Ehre" in der gemeinrechtlichen Literatur meist mit dem römischrechtlichen Begriff „existimatio" gleichgesetzt wurde, erinnerten die Vorstellungen, die die meisten zeitgenössischen Juristen damit verbanden, doch eher an die des älteren deutschen Rechts. Insbesondere ging die herrschende Lehre bis ins 18. Jahrhundert davon aus, dass sich das Maß der dem einzelnen Menschen zustehenden Ehre allein aus seinem Stand und seinem Lebenswandel (virtus) ergäbe. Für eine Ableitung der Ehre allein aus der Person des Ehrträgers und der Wertschätzung des Ehrträgers durch Dritte finden sich in der Literatur des Usus modernus dagegen zwar schon verschiedentlich erste Ansätze, durchsetzen konnte sich diese Auffassung bis zur Wende zum 19. Jahrhundert aber noch nicht 121 .
116 Vgl. z.B.: C o n t i n u a t i o des Reichs-Abschieds, den P u n c t u m D u e l l o r u m betreffend von 1670, N S IV, S. 72 („... kein ordentlicher Process verstattet, sondern, w a n n der Beleidigte solches bey gehöriger Instanz anzeige, darinnen gantz summariae ... verfahren werden solle..."). 1 , 7 D a z u oben, B. 1.3. a) bb). 118 Zum Ehrbegriff des römischen Rechts im Vergleich zu dem des gemeinen Rechts vgl. F. Walther, Ehre, S. 108 ff. 119 Vgl. statt aller: R. Scheyhing, Ehre, Sp.848; G. Beseler, System, S.314ff. 120 Vgl. nur A. Heusler, Institutionen, S. 190ff.; K.-S. Kramer, ehrliche/unehrliche Gewerbe, Sp. 855ff.; H. Dernburg, Lehrbuch, S.79ff.; G. Beseler, System, S.318ff. 121 K. Bartels, Dogmatik, S.53ff.
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
in Deutschland
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Hinsichtlich des Anwendungsbereichs der actio iniuriarum herrschte lange Zeit die Ansicht vor, diese hätte sich in gemeinrechtlicher Zeit entweder von vornherein oder doch zumindest alsbald auf die Verfolgung von Beleidigungen beschränkt122. Beispielhaft hierfür ist etwa die Definition des Begriffs „iniuria" im Rahmen der Erörterung der Injurienklage in Sebastian Brandts Klagspiegel von 1538: „In diser klag würt das wort iniuria genomen für laster/schand/schmach heyt oder scheltwort/damit man eim sein ehre/oder guten leümut nimpt oder abschneit" 123 . Daneben wurde allerdings immer auch ein Injurienbegriff vertreten, der eher dem umfassenden Anwendungsbereich der Injurienklage im römischen Recht entsprach, also alle vorsätzlichen Angriffe gegen die Person umfasste, die nicht von Sondertatbeständen erfasst wurden124. Letztlich erweist sich eine saubere Abgrenzung daher als kaum möglich, zumal sie durch die dogmatische Unschärfe insbesondere des frühen gemeinen Rechts, die ausufernde Weite des spätrömischen wie gemeinrechtlichen Injurienbegriffs und die sich in einigen deutschen Territorien erst allmählich herausbildende Rückführung der actio iniuriarum von einer allgemeinen Schadensklage auf eine Injurienklage im engeren Sinne zusätzlich erschwert wird125. Weitere Abgrenzungsprobleme ergaben sich, nachdem in der Zeit des Usus modernus verschiedene ursprünglich der Injurienklage unterfallende Delikte, wie insbesondere vorsätzliche Körperverletzungen, zunehmend durch das Strafrecht der Partikularstaaten erfasst wurden126. Als gesichert kann daher nur angesehen werden, dass die schon in römischrechtlicher Zeit gestiegene Bedeutung des Beleidigungsvorsatzes weiter an Gewicht gewann und sich ergänzend hierzu als weiteres Begrenzungskriterium zunehmend das Erfordernis einer gewissen Schwere der Injurie herauskristallisierte127. Dennoch konnte die Injurienklage aber jedenfalls in Einzelfällen über die Verfolgung von Beleidigungen hinaus auch zum Schutz anderer Immaterialgüter vor Rechtskränkungen herangezogen werden, entsprach also in vielerlei Hinsicht zumindest ansatzweise der heutigen Klage auf Geldentschädigung bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts128. Wichtigste Rechtsfolge der Verurteilung auf Grund der actio iniuriarum blieb auch in gemeinrechtlicher Zeit die Verhängung einer an den Kläger zu zahlenden Geldbuße. Deren Höhe beruhte wie zuletzt im römischen Recht vorrangig auf dem vom Kläger als angemessen geschätzten Betrag, der in Ubereinstimmung mir der In diesem Sinne etwa: M. Herrmann, Schutz, S. 51 ff. 5. Brandt, Clagspiegel, T. 1, Bl. X (r). 124 Nachweise hierfür bei: E. Landsberg, Iniuria, S. 71 f., 78f., R. Lieberwirth, Beleidigung, Sp. 357; H. Going, Privatrecht II, S.519. 125 So etwa in Sachsen, vgl. zu dieser Entwicklung E. Kaufmann, Schadensersatzrecht, S. 93ff., sowie oben, B.I.3. b). 126 Zum strafrechtlichen Injurienschutz in der frühen Neuzeit vgl. H. Rannacher, Ehrenschutz, S. 14ff.; zur Verlagerung des Injurienschutzes vom Privat- ins Strafrecht: R. Zimmermann, Law, S. 1088ff. 127 A.D. Weber, Injurien, S.23ff.; H.-H. Dreßler, Beleidigungsrecht, S.70ff. 128 H. Coing, Privatrecht I, S. 220; R. Zimmermann, Law, S. 1092; D. Liebs, Rom. Recht, S. 2 1 5 ; H . Holzhauer, Privatstrafe, Sp. 1997. 122 123
II. Das Zeitalter des Usus
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Praxis des mittelalterlichen deutschen Privatrechts meist sehr hoch angesetzt wurde 129 . Diese vom Kläger eingeforderte Summe konnte jedoch vom Richter, wenn er sie für überhöht hielt, nunmehr ohne weiteres herabgesetzt werden 130 . Die Unterschiede zwischen eingeklagter und ausgeurteilter Geldbuße waren dabei regelmäßig extrem. Spötter sahen in dem Streichen von ein oder zwei Nullen des in der Klageschrift geforderten Betrages sogar den wesentlichsten richterlichen Beitrag zum Injurienverfahren: „moderirt er die gebethene Summe desto mehr zum Exempel 3000. Thlr. auf 300. Thlr. oder auch wohl gar auf 30. oder 10 Thlr." 1 3 1 . Theoretisch war daneben auch die Infamie 132 , wie nach römischem und im Wesentlichen auch nach älterem deutschen Recht, weiterhin Folge der Verurteilung wegen einer Injurie. Allerdings schlössen einzelne Partikularrechte dies für ihren Einzugsbereich ausdrücklich aus (vgl. z.B. § 3 der Württembergischen HofgerichtsOrdnung von 1654: „Doch sollen dardurch Unsere Unterthanen ihrer Ehren nicht entsetzt seyn, sondern dieselben ihnen außtruckenlich in der Urtheil vorbehalten werden" 1 3 3 ). Aber auch in den Staaten, in denen dies nicht der Fall war, war es allgemein üblich, eine Klausel in das Urteil aufzunehmen, wonach der Verurteilte von der Infamie verschont werden solle (reservatio honoris) 1 3 4 . Die Reichsgesetzgebung bemühte sich im Rahmen des verschärften Kampfes gegen Injurien und Duelle zwar, hiergegen vorzugehen, zumindest sofern es (auch) zu einer strafrechtlichen Verurteilung des Beleidigers gekommen war 135 , hatte mit diesen Bemühungen aber nur wenig Erfolg. (2) Verhältnis der Injurienklage zum Strafrecht und zur actio legis Aquiliae Nach römischem Recht musste das Opfer einer Injurie wählen, ob es eine öffentliche Bestrafung des Täters oder dessen Verurteilung zu einer Privatstrafe herbeiführen wollte 136 . Zu einer Häufung von Kriminal- und Privatstrafe konnte es daher nur in den seltenen Fällen kommen, in denen der Täter den Tatbestand eines von Amts we-
H.-H. Dreßler, Beleidigungsrecht, S. 113f. Vgl. hierzu S. Brandt, Clagspiegel, T. 1, Bl. X I (r). 131 Zitat nach: J.S. Stryk, Bedencken, S. 9; ähnliche Beispiele bei: H. Baumeister, Injurien, S.26 („der Kläger forderte meistens 10.000 M. und davon wurden nach richterlichem Ermessen 2 oder 3 Nullen gestrichen"). 132 Zu den Folgen der Infamie in gemeinrechtlicher Zeit: H. Coing, Privatrecht I, S. 218f.; F. C. v. Savigny, System II, S. 170ff. 133 Zitiert nach: J. Geipel, Konsiliarpraxis, S. 151. 134 V g l . J . U . Frhr. v. Cramer, Reden, lib. 3 Tit. 23 §11;/. Ch. Edler v. Quistorp, Grundsätze I, §329, S.492. 135 „... wobey ohne große erhebliche Ursachen keine Reservatio Honoris zu geschehen, noch denen bekannten Cautelis Juris, wordurch die Infamiam per indirectum zu evitiren gesucht wird, statt zu geben; gestalten auch der Richter, da er ohne genügsame erhebliche Ursache die Ehr vorbehalten sollte, selbsten darumen zu straffen wäre", Continuatio des Reichs-Abschieds, den Punctum Duellorum betreffend von 1670, NS IV, S.72; ebenso schon das Kaiserliche Commissions-Decret von 1668, NS IV, S.56. 136 Inst. 4.4.10; vgl. dazu: M. Käser, Privatrecht II, S.439. 129
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B. Die Grenze zwischen
Privat-
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in Deutschland
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gen zu verfolgenden Kriminaldelikts erfüllt hatte 137 . Hierbei beließen es auch die Glossatoren 138 . Spätestens ab dem 17. Jahrhundert erwies sich diese Lösung der Klagenkonkurrenzen jedoch als zunehmend problematisch: Zum einen stieg die Regelungsdichte der partikularrechtlichen Strafbestimmungen, die es ermöglichten, in allen gängigen Injurienfällen, insbesondere auch bei einfachen Körperverletzungen und Beleidigungen, von Amts wegen gegen den Täter vorzugehen 1 3 9 : Zu sehr widersprach es dem Selbstverständnis des absolutistisch werdenden Landesherren, es in das Belieben des Einzelnen zu stellen, einen Verstoß gegen seine Gesetze strafrechtlicher Verfolgung zuzuführen. Damit wurde aber der bislang einigen besonders schwerwiegenden Injurien vorbehaltene Ausnahmefall des römischen Rechts, die Kumulierbarkeit von Kriminal- und Privatstrafe, zur Regel. Dies ließ sich jedoch nur schwer mit dem nunmehr von den Landesherren beanspruchten Strafmonopol vereinbaren. Darüber hinaus lehnte ein Teil der gemeinrechtlichen Lehre eine solche Doppelbestrafung des Täters als unzulässig ab 140 . Andererseits hielt sich in weiten Teilen der Bevölkerung hartnäckig die Uberzeugung, eine Injurie werfe einen Schatten auf die Ehre des Angegriffenen, den dieser nur durch ein Vorgehen gegen den Täter beseitigen könne 141 . Hierfür kamen aber nur zwei Möglichkeiten in Betracht: Die Herausforderung zum Duell und die Erhebung der actio iniuriarum. Nicht umsonst meinte noch der österreichische Gesetzgeber von 1766 in dem letztlich nicht in Kraft getretenden Codex Theresianus unter Androhung öffentlicher Strafe anordnen zu müssen, dass ein Beleidigter, der „eine ihm zugefügte Unbill großmüthig verzeihet", statt auf Privatstrafe zu klagen oder zur Selbstjustiz zu greifen, dadurch weder einen Nachteil in seinem Ansehen erleiden noch von Gemeinschaften oder Zünften ausgeschlossen oder zur Selbstjustiz angestiftet werden dürfe 142 . Da die Unterdrückung des Duellunwesens, das gerade in den höheren Ständen zu erheblichen Bevölkerungseinbußen führte und als Form der Selbstjustiz mit dem Gewaltmonopol des Landesherren noch weniger vereinbar war, als die Privatstrafen, zumindest offiziell zu den vorrangigen Zielen der partikularrechtlichen Strafgesetzgebung der frühen Neuzeit zählte 143 , sprach unter pragmatischen GesichtsCod. 9. 31.1. H. Holzhauer, Privatstrafe, Sp. 1996; H. Lange, Schadensersatz und Privatstrafe, S. 130f. 139 Ygj jjg Zusammenstellung bei: H. Rannacher, Ehrenschutz, S. 14ff. 140 Vgl. die Nachweise bei H.J. Wieling, Interesse, S.246; für die Vereinbarkeit von öffentlicher Strafe und Injurienklage hingegen bereits: B. Carpzov, Practicae novae, Quaestio 95, Nr. 26, S. 390; ebenso W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17 § V, nota 1 (a). 141 K. Bartels, Dogmatik, S.55. 142 Codex Theresianus III 21 § XXII (216.-218.) Zu ähnlichen Bestimmungen im Reichsrecht vgl. auch schon a.E. von Tit. 37, §2 („Von Handwercks-Söhnen") der RPO von 1548 (NS II, S. 605) und Tit. 38, §4 der RPO von 1577 (NS III, S.398). 143 Zu den Argumenten hierfür aus naturrechtlicher Sicht: H. Herrmann, Verhältnis, S. 20ff.; zur Geschichte, S. 348ff.; Strafe der Vermögenseinziehung für Duellanten umfassend: R. Schnieders, zum Scheitern der Bemühungen des Gesetzgebers, das Duellwesen zu bekämpfen, noch im 19. Jahrhundert: unten, B.IV.2 b) und B.V. Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Bekämpfung der Duelle erga137 138
II. Das Zeitalter
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punkten viel für eine Beibehaltung der Zulässigkeit der Injurienklage auch neben einer Bestrafung des Täters durch staatliche Organe 144 . Zudem fiel es gerade dann, wenn man nunmehr ein eigenes, vom Willen des Verletzten losgelöstes Interesse der Allgemeinheit an der Bestrafung von Rechtsbrechern auch im Bereich der wegen ihres höchstpersönlichen Charakters insofern besonders problematischen Beleidigungsdelikte annahm, schwer zu begründen, warum die Verfolgung dieses öffentlichen Interesses das Genugtuungsbedürfnis des in seinem Ehrgefühl Verletzten berühren sollte: „Denn, so wenig die Bestrafung des Richters dem Beleidigten die ihm gebührende Genugthuung rauben kann, eben so wenig kann auch die erhaltene Privatgenugthuung die öffentliche, oder die Bestrafung des Richters, aufheben" 145 . Auf Grund dieses Zielkonflikts der Strafrechtsgesetzgebung der Territorialherren kam es im 17. und 18. Jahrhundert trotz gewisser dogmatischer Bedenken verschiedentlich zum Erlass von Vorschriften, die jedenfalls bei einer Einleitung des Kriminalverfahrens von Amts wegen das traditionelle, offenbar tief im Rechtsgefühl der Bevölkerung verwurzelte Recht des Verletzten, die actio iniuriarum zu erheben, unangetastet ließen 146 . Entsprechend uneinheitlich war die gemeinrechtliche Rechtsprechung zu dieser Frage 147 . Aber auch die Zulässigkeit einer Häufung von Injurienklage und aquilischer Haftung blieb in gemeinrechtlicher Zeit zunächst umstritten. Neben der Zulässigkeit einer Kumulierung beider Klagen wurde dabei insbesondere befürwortet, einen etwaigen Vermögensschaden des Beleidigten lediglich bei der Bemessung der Privatstrafenhöhe zu berücksichtigen. Im Zuge der Tendenz, die aquilische Haftung in jeder Hinsicht auszuweiten und zur allgemeinen Schadensersatzklage zu erheben, nicht zuletzt befördert durch ihre zwischenzeitliche Entpönalisierung und die partikularrechtliche Zurückdrängung der Injurienklage, setzte sich letztlich jedoch die Gegenposition durch: Der Verletzte konnte also, sofern er einen Vermögensschaden erlitben sich aus der zurückhaltenden Umsetzung der hohen Strafdrohungen in der Praxis, zumal sofern es sich bei den Beteiligten um Militärangehörige handelte, vgl. hierzu, v.a. für für das 18. Jahrhundert: C.A. Tittmann, Grundlinien, S. 167f.: „Allein sie [die Duellmandate] sind nur Blendwerk. Nicht genug damit, daß man die gesetzlichen Verordnungen nicht zur Anwendung bringt, begünstigt man (insbesondere bei Militärpersonen) sogar den Zweikampf, denn was ist es anders, wenn man dem sich zum Duelle weigernden den Dienst zu verlassen ratet ?!". Zur Beibehaltung dieser Praxis im 19. Jahrhundert unten, B.IV.2. b). 144 Zur Unabhängigkeit der Verhängung einer öffentlichen Strafe von einer gütlichen Einigung der Parteien auch nach Reichsrecht vgl. die Continuatio des Reichs-Abschieds von 1670, den Punctum Duellorum betreffend, NS IV, S.72 („... nicht weniger dem Beleidigten unbenommen bleibt, sich, da er will, mit dem Injurianten absonderlich in der Güte zu vertragen, der Obrigkeit jedoch an der von dem Injurianten verwürckten Straffe unabbrüchig"). 145 Zitat nach: ]. C. v. Quistorp, Grundsätze I, §319, S.475f. 146 So z.B. das Sächsische Mandat vom 10.8. 1637, Codex Augusteus, T. 2, Sp. 1515f. („der Geschmähete ... entweder auf eine Geld-Busse (so Er anders seiner Ehren dadurch gerathen zu werden vermeinet) oder auf den Widerruff klage, das übrige aber des Richters Willkühr heimgestellet bleiben lasse"); 3. Teil, 25. Tit., §2 der Württembergischen Hofgerichtsordnung von 1654, abgedruckt bei: J. Geipel, Konsiliarpraxis, S. 151, zur Auslegung dieser Vorschrift: ebenda, S. 137f.; /. Schröder, Haftung, S. 165f. 147 Vgl. hierzu etwa die Nachweise bei: J. Schröder, Haftung, S. 166.
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
in Deutschland
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ten hatte, diesen neben der actio iniuriarum durch Erhebung der actio legis Aquiliae geltend machen 1 4 8 . bb) Die Kritik der Rechtswissenschaft an der Injurienklage Während sich die rechtswissenschaftliche Literatur zur Injurienklage in der früheren gemeinrechtlichen Zeit überwiegend mit dogmatischen Einzelproblemen beschäftigte, rückte ab der Wende zum 18. Jahrhundert die Frage nach ihrer Zulässigkeit in den Mittelpunkt der Diskussion. Da die Befürworter der actio iniuriarum sich auf den Hinweis auf die allgemeine Üblichkeit dieser Klage beschränken konnten, allenfalls noch ergänzt um die Betonung ihrer Nützlichkeit zur Vermeidung von Selbstjustiz, überwogen bei umfangreicheren Abhandlungen zu diesem Thema nunmehr die Stimmen ihrer Gegner 1 4 9 . Die Gründe, aus denen ein Teil der gemeinrechtlichen Autoren die Injurienklage ablehnte, unterschieden sich allerdings grundlegend von denen, die zur gleichen Zeit in einzelnen Partikularstaaten zu ihrer Abschaffung führten 1 5 0 . So wurde von den gemeinrechtlichen Autoren praktischen Erwägungen, wie der übermäßigen Prozessdauer, der Neigung der Parteien, die Prozesse zu weiteren Injurien zu nutzen, oder der Geldgier und Skrupellosigkeit der an den Injurienverfahren beteiligten Advokaten, wie sie die Gesetzesbegründungen dominierten, kaum Bedeutung beigemessen. Vielmehr richteten sich die Angriffe gegen die actio iniuriarum aus der Literatur nahezu ausnahmslos gegen deren pönale Rechtsnatur. Zwei Argumente standen dabei im Vordergrund: die Unvereinbarkeit von Privatstrafen mit der christlichpietistischen Glaubenslehre 1 5 1 sowie die bei Zugrundelegung des im 18. Jahrhunderts herrschenden Ehrbegriffs fehlende Möglichkeit einer Ehrschädigung durch das Verhalten Dritter 1 5 2 . Typisch für die Gründe, die gegen die Injurienklage von denjenigen gemeinrechtlichen Juristen angeführt wurden, die ihre religiös motivierte Ablehnung konsequent auf das weltliche Recht übertrugen, ist etwa die Argumentation von J.S. Stryk, dem Sohn und Hallenser Kollegen 1 5 3 des Namensgebers der Epoche des Usus modernus, Samuel Stryk. Dieser polemisierte in seiner 1701 anonym erschienenen 148 So ausdrücklich auch IV 17 §5 (3.) C M B C ; vgl. i.Ü. die Nachweise bei: H. Going, Privatrecht I, S. 516. 149 Vgl. die umfassende Zusammenstellung der gemeinrechtlichen Literatur zur Injurienklage bei: Th. Moosheimer, actio injuriarum, S. 91 ff. 150 Dazu unten, B.II.3. a) dd). 151 Ein Uberblick über die Argumente gegen die actio iniuriarum aus christlicher Sicht findet sich bei: Th. Moosheimer, actio injuriarum, S. 106ff. 152 Vgl. die Ubersicht über die Kritik der Rechtswissenschaft an der Injurienklage bei: Th. Moosheimer, actio injuriarum, S. 91 ff. 153 In der neueren Literatur wird die Schrift verschiedentlich Samuel Stryk selbst zugeschrieben (vgl. K. Bartels, Dogmatik, S. XV, Th. Moosheimer, actio injuriarum, S. 99ff.) und z.T. sogar als Zeichen eines abrupten Sinneswandels des älteren Stryk gewertet (so Th. Moosheimer, a.a.O.). Der Widerspruch zu den sonstigen Schriften S. Stryks scheint doch aber eher die ältere Zuordnung zu J.S. Stryk (so etwa M. Lipenii, Bibliotheca I, S. 627) zu bestätigen.
II. Das Zeitalter des Usus
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Schrift „Eines christlichen J C t i Bedencken von Injurien-Prozessen" vehement gegen die Zulässigkeit der Injurienklage: Das Recht, die Sünden der Menschen zu strafen, stehe allein Gott zu. Allenfalls habe dieser die Strafbefugnis der jeweiligen staatlichen Obrigkeit übertragen. Der einzelne Mensch hingegen solle, wie im „Vater unser" vorgegeben, seinem Schädiger vergeben, seine Feinde lieben und statt Böses mit Bösem zu vergelten, dem Vorbild von Jesus, Mönchen oder Eremiten folgend, dem Angreifer auch die linke Wange darbieten, wenn dieser ihn auf die rechte geschlagen habe. Statt die römischrechtlichen Bestimmungen über die actio iniuriarum anzuwenden, die „sich auf die Christen gar nicht schicken noch appliciren lassen" 1 5 4 , „dieweil sie den Menschen in seinem Hass und Feindseligkeit verhärten und sein Hertz vor die Christliche Liebe ganz verriegeln" 1 5 5 , dürften in einem christlichen Staat Injurien daher nur von Amts wegen verfolgt und bestraft werden. Die Erhebung der actio iniuriarum solle deshalb den Ausschluss des Klägers vom Abendmahl zur Folge haben. Schließlich habe dieser durch das Betreiben der Injurienklage bewiesen, dass er sich „durch wahre Hertzens-Busse nicht dazu bereitet" hätte 1 5 6 . Andere Autoren waren dagegen bemüht, Kompromisse zwischen christlichen Verhaltensvorgaben und herrschender Rechtspraxis zu finden, indem sie die Injurienklage zwar einschränken, aber nicht beseitigen wollten. Nach dieser vermittelnden Ansicht sollte aus dem Gebot der Nächstenliebe lediglich die Pflicht folgen, sich bei der privaten Verfolgung von Injurien auf besonders schwere Fälle zu beschränken: Die Erhebung der Injurienklage müsse nur als unchristlich abgelehnt werden, wenn dies allein um der Rache willen geschehe, sei aber akzeptabel, wenn vom Kläger nur die Bestrafung des Täters oder, allgemeiner, die Beförderung der Gerechtigkeit angestrebt werde. Auch zähle die Bestrafung der Beleidiger zwar vorrangig zu den Aufgabendes Staates. Komme dieser seinen diesbezüglichen Pflichten jedoch nicht hinreichend nach, müsse es auch dem einzelnen Menschen gestattet sein, sich einer Privatstrafenklage zu bedienen, da doch Gott nicht wollen könne, dass die Schlechtigkeit einzelner ungestraft bliebe 1 5 7 . Ganz anders argumentierten diejenigen, die entweder eine Umwandlung der Injurienklage in eine Entschädigungsklage ausschließen wollten oder unter dem Einfluss des naturrechtlichen wie kanonistischen Gebots zum Ausgleich auch aller immateriellen Schäden die pönale Rechtsnatur der actio iniuriarum verkannten: Nicht wegen ihres Privatstrafencharakters sei die Injurienklage abzulehnen, sondern weil es bei Zugrundelegung des herrschenden Ehrbegriffs unmöglich sei, eine Schädigung der Ehre durch das Handeln eines Dritten herbeizuführen 1 5 8 . So polemisierte etwa
J.S. Stryk, Bedencken, S.8. J.S. Stryk, Bedencken, S.13. 156 J.S. Stryk, Bedencken, S. 16. 157 Eine Ubersicht über die Auffassungen und Argumente der Vertreter der vermittelnden Ansicht bei: Th. Moosheimer, actio injuriarum, S. 99ff.; Ansätze für eine solche Argumentation auch bei: J.Ch. Edler v. Quistorp, Grundsätze I, §329, S.490ff. 158 Yg) hierzu die Zusammenfassung der vertretenen Auffassungen bei: R. Zimmermann, Law, S. 1085ff.; Th. Moosheimer, actio injuriarum, S.lOlff. 154 155
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Stryk: „Würde das nicht ein elendes Ding seyn, wenn unsere Ehre von der Boßheit der Menschen dependiren solte? Auff solche Art würde ein ieder böser Mensch und Calumniant mehr Macht haben, als der Fürst selbst, denn dieser kan die Ehre denen Unterthanen nur nehmen, wann sie etwas verbrechen, jene aber sollen Macht haben auch denen Unschuldigsten nach ihrem Belieben die Ehre zu rauben; Kan auch wohl etwas ungereimteres ersonnen und erdacht werden?" 159 . Auch wenn sich diesen Ausführungen wenig entgegensetzen lässt, ergibt sich aus ihnen doch wenig zur Berechtigung der Injurienklage: Als Privatstrafe ahndete diese einen Rechtsbruch. Dieser konnte, musste aber keineswegs einen Schaden hervorgerufen haben oder zur Verursachung eines Schadens auch nur geeignet gewesen sein. Der Ehrbegriff des gemeinen Rechts mochte daher eine ausgleichsorientierte Geldentschädigung für Beleidigungen verhindern, die Verhängung einer Privatstrafe war mit ihm hingegen unproblematisch vereinbar. Somit zeichnete sich bereits in gemeinrechtlicher Zeit der dogmatische Konflikt ab, der noch im 20. Jahrhundert die Anerkennung der Geldentschädigung für Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nachhaltig behinderte und bis heute nicht vollständig gelöst ist: Bewertete man die Zahlungspflicht des Verletzers an den Verletzten als Privatstrafe, war diese allein deshalb abzulehnen, da sie sich anders als Schadensersatz oder Kriminalstrafe nicht mit dem zweispurigen Rechtsfolgensystem des neuzeitlichen Deliktsrechts vereinbaren ließ. Deutete man sie dagegen in Anlehnung an das Schmerzensgeld bei Körperverletzungen als ausgleichsorientierte Entschädigung für einen Nichtvermögensschaden des Verletzten, musste die Gewährung eines Entschädigungsanspruchs regelmäßig am fehlenden Nachweis der Existenz und der Höhe dieses Schadens scheitern. cc) Die Rechtsnatur der Injurienklage Nach ganz überwiegender Ansicht war die actio iniuriarum die einzige römischrechtliche Privatstrafenklage, die eindeutig von der deutschen Rechtspraxis rezipiert wurde 160 . Die pönale Rechtsnatur der Injurienklage war dabei für viele Autoren offenbar so selbstverständlich, dass sie hierfür keinerlei nähere Begründung für erforderlich hielten. Andere beschränkten sich als Beleg für die Pönalität dieser Klage auf einen knappen Hinweis auf ihre Unvererblichkeit, das Fehlen eines ausgleichsfähigen Objekts oder die Unmöglichkeit, den an der Ehre bzw. dem guten Ruf entstandenen Schaden in Geld zu bemessen. Daneben wurde verschiedentlich auf die Genugtuungsfunktion der Injurienklage verwiesen, meist ohne zwischen beiden Klagezielen klar zu unterscheiden 161 . In jüngster Zeit hat dagegen Jan Schröder die Auffassung vertreten, „die Trennung von privatem Schadensersatz- und öffentlichem Strafrecht [sei] schon am Ende des Zitat nach J.S. Stryk, Bedencken, S. 5. Vgl. statt aller: F. C. v. Savigny, Obligationenrecht II, S. 329; H.J. Wieling, Interesse, S. 245; II.H. Dreßler, Beleidigungsrecht, S. 77; N. Schulte, Strafe, S.27 m.w.N. aus der gemeinrechtlichen Lit. 161 Vgl. die Nachweise bei Th. Moosheimer, actio injuriarum, S. 8ff. 159 160
II. Das Zeitalter
des Usus
73
modernus
18. Jahrhunderts konsequent durchgeführt" worden, da bereits in dieser Zeit „die actio aestimatoria nur noch als eine Art Schmerzensgeld für Ehrverletzungen, nicht aber mehr als Privatstrafe" angesehen wurde 162 . Dem kann nicht gefolgt werden. Insbesondere wird die Theorie Schröders
nicht von dem von ihm angeführten 163 U r -
teil der Hallenser Juristenfakultät von 1736 1 6 4 gestützt. Dieses hatte einer jungen Frau, die von einer anderen in ehrverletzender Weise körperlich schwer mißhandelt worden war, ein auffallend hohes, nicht auf die actio iniuriarum, sondern allein auf die aquilische Haftung gestütztes Schmerzensgeld zugesprochen. Hieraus will Schröder
die Austauschbarkeit der Injurienklage mit dem nach allgemeiner Auffas-
sung nichtpönalen, der actio legis Aquiliae zuzurechnenden Schmerzensgeld und damit die fehlende Pönalität der Injurienklage herleiten 165 . Dabei übersieht
Schröder
jedoch, dass in Preußen die actio iniuriarum seit 1713 verboten war 166 . Die Hallenser Fakultät hatte also gar nicht die Wahl zwischen beiden Anspruchsgrundlagen. Vielmehr beschränkte sich ihre Möglichkeit, neben der Verhängung einer Kriminalstrafe auch dem Opfer Geld zukommen zu lassen, auf die Verurteilung der Täterin zu einer Schmerzensgeldzahlung. Die H ö h e des ausgeworfenen Schmerzensgeldes, von der in der Tat offenbar auch eine Genugtuungsfunktion ausgehen sollte 167 , belegt daher nicht die Entpönalisierung der Injurienklage, sondern im Gegenteil das Fortleben des Bedürfnisses, zumindest bei schweren Injurien eine Privatstrafe zu verhängen: Da der dogmatisch saubere Weg über die Injurienklage der Fakultät verwehrt war, nutzte man den Entscheidungsspielraum des Gerichts bei der Bemessung des Schmerzensgeldes, um dem Opfer neben einem Ausgleich für die erlittenen Schmerzen auch die anderenfalls der Injurienklage vorbehaltene Privatgenugtuung zu verschaffen. O b die Hallenser Fakultät damit der Einzelfallgerechtigkeit gegen den klaren Gesetzeswortlaut zum Erfolg verhelfen wollte oder sich hier eine generelle A b lehnung des Verbots der Injurienklage zeigt, mag dahingestellt bleiben. Für die U m wandlung der actio iniuriarum in einen nichtpönalen Schmerzensgeldanspruch gibt die Quelle im einen wie im anderen Fall jedenfalls nichts her. Nicht anders verhält es sich mit dem Argument Schröders,
die Zulässigkeit der ku-
mulativen Verurteilung zu einer Kriminalstrafe und zum Widerruf der ehrkränkenden Behauptung sei ein Zeichen für die Entpönalisierung der Injurienklage, da der in dieser Zeit übliche Widerruf schon allein wegen seiner Begleitumstände „reinen Sanktions-und rächenden Charakter" gehabt habe, weshalb er mit der auf Geld gerichteten Injurienklage gleichgesetzt werden könne 1 6 8 : Die Rechtsnatur des Widerrufs war in gemeinrechtlicher Zeit mehrfachen Wandelungen unterworfen. Auch für
162
J. Schröder, Haftung, S.167. J. Schröder, Haftung, S. 164. 164 ].H. Böhmer, Consultationum, III 3, Decisio 806. 165 ]. Schröder, Haftung, S.164. 166 Erklärtes und erneuertes Mandat wieder die Selbst-Rache, Injurien, Friedens-Stöhrungen und Duelle v. 28.6. 1 7 1 3 . A r t . i l , C . C . M . Th. II, Abtlg. III, Sp.41ff., 52f. 167 So auch /. Schröder, Haftung, S. 164. 168 J. Schröder, Haftung, S. 165. 163
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
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die Phase, in der seine Rechtsnatur derjenigen der auf Geld gerichteten Injurienklage entsprach, erlaubt die Zulässigkeit seiner Häufung mit einer Kriminalstrafe jedoch keine Rückschlüsse auf seinen etwa fehlenden oder auch nur zweifelhaften Privatstrafencharakter, geschweige denn auf die fehlende Pönalität der actio iniuriarum. Vielmehr wurde die nicht unbedenkliche Häufung beider Sanktionen gegen den Beleidiger bewusst in Kauf genommen, da man hoffte, damit dem Beleidigten nach der partikularrechtlichen Beseitigung der auf Geld gerichteten Injurienklage eine akzeptable Alternative zum Duell zu bieten. Ahnliches gilt auch für das dritte und letzte Argument Schröders169, die in einigen Landesgesetzen vorgesehene und von einigen gemeinrechtlichen Autoren vertretene Zulässigkeit der kumulativen Verhängung einer Kriminalstrafe und der Verurteilung im Rahmen der auf Geld gerichteten Injurienklage: Soweit sich diese Häufung von öffentlicher und Privatstrafe aus dem Gesetz ergab, wie z.B. in Bayern, Sachsen (bis 1712) und Württemberg, beruhte sie wie die Möglichkeit zur Kumulierung von Widerruf und Privatstrafe nicht auf dogmatischen, sondern allein auf praktisch-politischen Erwägungen, insbesondere dem Wunsch des Landesherren, auf diese Weise dem Duellwesen besser entgegenzuwirken 170 . Diejenigen Juristen, die in einem dieser Staaten praktisch tätig waren, wie z.B. Carpzov 171 , hatten aber schon wegen der klaren Gesetzeslage keine Veranlassung, an der Vereinbarkeit beider Sanktionen zu zweifeln 172 . Wie wenig es sich bei dieser Häufung von Privatstrafe und öffentlicher Strafe ohnehin um eine unzulässige Doppelbestrafung, um einen „Rückfall in archaische Vorstellungen" handelte 173 , belegt darüber hinaus schon allein, dass auch nach heutigem Recht das Doppelbestrafungsverbot des Art. 103 III G G lediglich die dopppelte Verhängung einer Kriminalstrafe wegen der selben Tat, nicht jedoch die Häufung einer Kriminalstrafe mit anderen, insbesondere nicht mit privatrechtlichen Sanktionen untersagt 174 . Letztlich ist somit Schröder zwar darin zuzustimmen, dass am Ende des 18. Jahrhunderts die „Trennung von privatem Schadensersatz- und öffentlichem Strafrecht" bereits konsequent verwirklicht worden war 175 . Zwischen beiden Arten der rechtlichen Reaktion auf eine Rechtsverletzung existierte aber im Privatrecht dieser Zeit noch eine „dritte Spur" möglicher Rechtsfolgen: die Privatstrafe auf der Grundlage der actio iniuriarum. ]. Schröder, Haftung, S.165ff. Nachweise für Bayern S. 109f., für Sachsen und Württemberg S.69, Fn. 146. 171 Benedikt Carpzov (1595-1666), umfassend zu Leben und Werk: P. Schneider, Die Rechtsquellen in Carpzovs Practica nova imperialis Saxonica rerum criminalium (1940); ein kurzer Uberblick daneben auch bei: G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S. 87ff.;/. Otto, Carpzov, in: M. Stolleis, Juristen, S. 115f.; H. Rüping/G. Jerouschek, Grundriß, Rn. 113ff. 172 Daher für eine Vereinbarkeit von Injurienklage und öffentlicher Strafverfolgung: B. Carpzov, Practicae novae, Quaestio 95, Nr. 26, S. 390. 173 So aber J. Schröder, Haftung, S. 166f., der daher zur Vermeidung dieses Ergebnisses aus der Zulässigkeit der Häufung folgern zu können meint, dass es sich zu dieser Zeit bei der Injurienklage bereits nicht mehr um eine Privatklage gehandelt habe. 174 Hierzu unten, C . I I . l . b) bb) und c) bb) (2) (e) (ee). 175 So ]. Schröder, Haftung, S. 167. 169
170
II. Das Zeitalter des Usus
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dd) Die Injurienklage und die Partikulargesetzgebung Soweit die Injurienklage von der Gesetzgebung der Partikularstaaten im Vorfeld der Kodifikationen ausdrücklich erfasst wurde, geschah dies meist anläßlich ihrer A b schaffung 176 . Frühestes Beispiel dafür ist die Prozess-Ordnung des Herzogtums Magdeburg, die 1696 ohne nähere Begründung bestimmte: „Aestimatorie aber zu klagen wird hiermit gäntzlich abgeschaffet und verbothen" 1 7 7 . Wenige Jahre später wurde die Injurienklage dann auch in einigen der größeren Territorien im Nordosten Deutschlands verboten, um endlich die schon seit längerem bekämpften letzten Uberreste von Selbstjustiz zu beseitigen, die dem uneingeschränkten Gewaltmonopol des absolutistischen Monarchen widersprachen 178 . Hierzu wurde nunmehr auch die auf eine Privatstrafe zielende Injurienklage gerechnet, die es deshalb durch öffentliche Strafen zu ersetzen galt: 1712 untersagte daher das „Mandat, wider die Selbst=Rache, Injurien, Friedens=Stöhrungen und Duelle" für das Herzogtum Sachsen 179 , im folgenden Jahr ein Mandat gleichen Namens und ähnlichen Inhalts für Preußen 1 8 0 die private Injurienklage. Gleichzeitig wurde die Strafbarkeit von Beleidigungen und Verleumdungen erstmals umfassend geregelt, verbunden mit einer merklichen Anhebung der für derartige Delikte angedrohten Strafen (auch für Verbalinjurien Landesverweisung, Staupenschlag oder - zum Teil verschärfte - Gefängnisstrafe) 181 . Die Strafverfolgung erfolgte im summarischen Verfahren 182 , wobei bei erheblicheren Realinjurien teils eine Anzeige des Injurierten verzichtbar war 183 , teils dieser zu ihrer Erstattung verpflichtet wurde 184 . Eine etwa verhängte Geldbuße 1 8 5 fiel fortan an den Staat 186 , dem Verletzten stand hingegen lediglich noch ein Anspruch auf Ersatz seiner Auslagen im Rahmen der Strafverfolgung des Injurianten 176 Vgl. zur Abschaffung der Injurienklage in den deutschen Partikularstaaten ausführlich Th. Moosheimer, actio injuriarum, S. 13ff.; kurz dazu auch: R. Mainzer, Injurienklage, S. 91 f. 177 Kapitel 50, §10 (LandesA Magdeburg L H A , Rep. AS b I Lit. P Nr. 4). 178 Zur Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols im 18. Jahrhundert und der damit verbundenen Zurückdrängung der privaten Strafverfolgung vgl. auch:/. Schröder, Privatrecht, S. 961 ff., 967ff. 179 §22 des Mandats vom 2.7. 1712, in: Codex Augusteus, T. 2, Sp. 1791f. 180 Erklärtes und erneuertes Mandat wieder die Selbst=Rache, Injurien, Friedens=Stöhrungen und Duelle V. 28.6. 1713, Art. 11 VII, C . C . M . Th. II, Abtlg. III, Sp.41ff., 52f. 181 Vgl. z.B. §§3, 19, 22 des sächsischen Mandats vom 2.7. 1712, Codex Augusteus, T. 2, Sp. 1787f., 1791 f.; A r t . l , 11 des preußischen Mandats vom 28.6. 1713, C . C . M . Th. II, Abtlg. III, Sp.41ff., 44f., 50ff. 182 So z.B. §22 des sächsischen Mandats vom 2.7. 1712, in: Codex Augusteus, T. 2, Sp. 1791 f.; Art. 11 des preußischen Mandats vom 28.6. 1713, C . C . M . Th. II, Abtlg. III, Sp.41ff., 50ff. 183 So sollte z.B. nach Art. 11 II des preußischen Mandats vom 28.6. 1713, C . C . M . Th. II, Abtlg. III, Sp. 41 ff., 51 die Höhe der zu verhängenden Haftstrafe „auch auf des Beleidigten selbst eigene Vorbitte nicht verringert werden".
§§ 16f. des sächsischen Mandats vom 2.7. 1712, in: Codex Augusteus, T. 2, Sp. 1790. §22 des sächsischen Mandats vom 2.7. 1712, in: Codex Augusteus, T. 2, Sp. 1791 f.; Art. 11 des preußischen Mandats vom 28.6. 1713, C . C . M . Th. II, Abtlg. III, Sp.41ff., 50ff. 186 Soweit in Injurienverfahren verhängte Geldbußen nicht pauschal der Invalidenkasse zugeführt wurden, vgl. §50 des Mandats „Wider die Selbst-Rache, Friedens-Stöhrungen und Duellen" vom 15.4. 1706, Codex Augusteus, T. 2, Sp. 1742. 184
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
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zu 187 . Dieser Gesetzeslage schloss sich ein Teil der thüringischen Staaten noch im 18. Jahrhundert an 188 . Im Gegensatz hierzu fand die actio iniuriarum in der großen Mehrheit der deutschen Territorien zumindest bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts weiterhin Anwendung. Während einige dieser Staaten, wie z.B. Osterreich 1 8 9 , die uneingeschränkte Fortgeltung der Injurienklage sogar ausdrücklich bestätigten, versuchten andere den offenbar auch dort damit verbundenen Missständen durch verschiedene gesetzliche Beschränkungen entgegenzusteuern. Typisch für diese Bemühungen ist etwa eine hannoversche Verordnung von 1753, die zur Beschleunigung der Injurienprozesse für das Verfahren in erster Instanz eine summarische Untersuchung des Falls anordnete und Rechtsmittel gegen die danach ergangene Entscheidung ausschloss 190 . Auffällig ist dabei, dass in den Staaten, die die actio iniuriarum bereits im 18. Jahrhundert beseitigten, hierfür nahezu ausnahmslos praktisch-prozessuale Gründe angeführt wurden: Injurienprozesse führten regelmäßig zu in jeder Hinsicht unerfreulichen, langatmigen Verfahren, in deren Verlauf die Parteien von „bösen, ungewissenhafften und eigennützigen Advocaten ... in unversöhnlichen Hass und grosses Armuth gestürtzet" würden 191 . Konflikte zwischen Injurienklage und Christentum waren für die Rechtspraxis hingegen offenbar weitgehend 192 bedeutungslos 193 .
b) Die Klage auf Ehrenerklärung, Abbitte oder Widerruf Außer durch die Erhebung der auf die Zahlung einer Geldbuße zielenden actio iniuriarum konnte sich das Opfer einer Injurie auch Genugtuung verschaffen, indem es vom Täter die Abgabe einer Erklärung verlangte, in der dieser seine beleidigende Handlung widerrief oder bedauerte („actio recantatoria"). Hierfür hatten sich in ge-
§23 des sächsischen Mandats vom 2.7. 1712, in: Codex Augusteus, T. 2, Sp. 1792f. Schwarzburg-Sondershausen durch das Mandat „Die Abstellung derer Injvrien-Processe betreffend" vom 16.5. 1738 („Klagen in Injurien-Sachen, sie seyn ad aestimationem, Palinodiam, oder sonsten, wie sie wolle,... gäntzlich aufgehoben"); Sachsen-Gotha durch die Gerichts- und Prozessordnung vom 15.4. 1776; vgl. hierzu Th. Moosheimer, actio injuriarum, S. 68f. 189 In Art. 100 §3 der Constitutio Criminalis Theresiana vom 31.12.1768 und § 129 der Josephina vom 13.1. 1787; Einzelheiten bei: Th. Moosheimer, actio injuriarum, S.38f. 190 Verordnung wegen „Schlägerey und Schelten unter den Unterthanen auf dem Lande" vom 3.5. 1753; vgl. hierzu: Th. Moosheimer, actio injuriarum, S. 42f. 191 Zitat aus §22 des sächsischen Mandats vom 2.7. 1712, in: Codex Augusteus, T. 2, Sp.1791. Ähnlich Art. 11 VII des preußischen Mandats vom 28.6. 1713, C . C . M . Th. II, Abtlg. III, Sp.41 ff., 52: „offtmals recht muthwillige und erzwungene Vexae gemachet, von bösen, ungewissenhafften und eigennützigen Advocaten den Parten viele kostbare und weittläufftige Processe zugezogen, die Parten dabey in unversöhnlichen Haß und grosse Armuth gestürtzet, auch ansonsten allerhand sündlicher Mißbrauch weiter vorgenommen worden". 192 Ausgenommen allenfalls Hinweise auf die Unvereinbarkeit der Retorsion mit den christlichen Wertvorstellungen, vgl. etwa Art. 11 VII des preußischen Mandats vom 28.6. 1713, C . C . M . Th. II, Abtlg. III, Sp.41 ff., 53 („mit den Regulen des Christenthums durchaus nicht bestehen mag"). 193 Th. Moosheimer, actio injuriarum, S. 87f., 120. 187
188
II. Das Zeitalter des Usus modernus
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meinrechtlicher Zeit drei Varianten herausgebildet 1 9 4 : D e r Widerruf (palinodia), bei dem der T ä t e r erklärte, er habe die Unwahrheit gesagt und nehme seine Worte zurück, die Abbitte (deprecatio), dem mit der Bitte um Verzeihung verbundenen Ausdruck des Bedauerns über die Begehung der Beleidigung, und die Ehrenerklärung (declaratio honoris), durch die der T ä t e r versicherte, er habe den Kläger nicht beleidigen wollen und hielte ihn für ehrenwert. Die Ausgestaltung dieser Rechtsbehelfe wandelte sich im Verlauf des 1 6 . - 1 8 . Jahrhunderts mehrfach grundlegend. Dies betraf nicht nur die Voraussetzungen, unter denen jeweils die Abgabe derartiger Erklärungen verlangt werden konnte, sondern insbesondere auch die Rechtsnatur dieser Rechtsinstitute. aa) Mittelalterliche Wurzeln und Vorläufer Anders als die auf die Zahlung einer Privatstrafe an das O p f e r gerichtete F o r m der actio iniuriarum waren Rechtsbehelfe gegen Injurien, die auf die Abgabe einer Erklärung durch den Täter zielten, dem römischen R e c h t fremd. Diese Rechtsinstitute entwickelten sich vielmehr teils aus dem älteren deutschen, teils aus dem kanonischen Recht. D a sie nicht nur dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprachen, sondern sich darüber hinaus auch als weiteres Mittel zur Bekämpfung der Selbstjustiz anboten, wurden sie nach der Rezeption des römischen Rechts im deutschen Rechtskreis allgemein beibehalten und zumindest für einen Sonderfall (Schmähung eines Handwerkers wegen seiner Beteiligung am Galgenbau) 1532 sogar ausdrücklich in die Carolina aufgenommen 1 9 5 . Belege für die Verpflichtung zur Abgabe einer Ehrenerklärung lassen sich bereits in altnordischen Quellen und verschiedenen Volksrechten nachweisen 1 9 6 . Bis ins 14. Jahrhundert hinein handelte es sich dabei allerdings lediglich um eine Spezialform des Reinigungseides 1 9 7 : D e r Beklagte schwor, nicht mit dem für eine Beleidigung erforderlichen Vorsatz, sondern im Affekt oder unter Alkoholeinfluss gehandelt zu haben 1 9 8 . J e nach den Umständen, unter denen die Beleidigung erfolgt war, musste er daher bei Abgabe dieser Erklärung meist eine bestimmte Zahl von Eidhelfern stellen. Leistete der Beklagte den Eid in der geforderten F o r m , trat dadurch an die Stelle der eigentlichen Beleidigungsstrafe (bei schweren Beleidigungen ursprünglich meist Friedlosigkeit) eine geringe, an den Kläger zu zahlende Geldbuße 1 9 9 . D i e Ehrener194 Umfassend zu diesen Rechtsbehelfen: H. Helf ritz, Der geschichtliche Bestand und die legislative Verwertbarkeit von Widerruf, Abbitte und Ehrenerklärung (1905); ders., Ehrenerklärung, S. 224ff.; noch immer grundlegend und mit vielen Quellennachweisen: C. v. Wallenrodt, Injurienklagen, S.238ff.; ein Uberblick aus neuerer Zeit bei: K. Bartels, Dogmatik, S.32ff., 208ff.; R. Zimmermann, Law, S. 1090;/. Schröder, Haftung, S. 164ff. 195 Art.216 CCC. 196 Nachweise hierzu bei: W.E. Wilda, Strafrecht, S. 788ff.; C. v. Wallenrodt, Injurienklagen, S. 243ff.; R. Köstlin, Ehrverletzung, S. 169ff. 197 C. v. Wallenrodt, Injurienklagen, S. 254f. 198 Zahlreiche Beispiele hierfür bei: E. Osenbrüggen, Strafrecht, S.258ff. 199 Nachweise bei: C. v. Wallenrodt, Injurienklagen S.248ff.; E. Osenbrüggen, Strafrecht, S.258ff., 264ff.; W.E. Wilda, Strafrecht, S.788ff.
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
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klärung diente also weder als Schadensersatz noch als (Privat-)Strafe, sondern als Beweismittel für die Widerlegung des Verdachts vorsätzlichen Handelns, war also bloße Prozesshandlung 200 . Mit der Umgestaltung des Prozessrechts im ausgehenden Mittelalter musste sie ihre ursprüngliche Funktion zwangsläufig verlieren und vermischte sich mit Widerruf und Abbitte 2 0 1 . Der Widerruf entwickelte sich hingegen als Folge der Restitutionslehre der Scholastiker des 12. und 13. Jahrhunderts (restitutio famae) 202 . Danach gehörte es zu den zwingenden Bestandteilen der Buße, die die göttliche Vergebung der begangenen Sünde erst ermöglichen sollte, dem Opfer, soweit möglich, seinen Schaden zu ersetzen. Handelte es sich bei dem verletzten Rechtsgut um die Ehre, war hierfür der Widerruf der ehrkränkenden Äußerung erforderlich, vorzugsweise am selben O r t und vor den selben Personen, vor denen auch die Beleidigung ausgesprochen worden war 203 . Diese Praxis wurde alsbald von der weltlichen Gerichtsbarkeit übernommen. Jedenfalls ab dem 14. Jahrhundert konnte daher ein Beleidigter auch nach weltlichem Recht statt auf Geld den Widerruf der Beleidigung klagen 204 . Zumindest in diesem Stadium hatte der Widerruf also eine rein schadensausgleichende Funktion 2 0 5 . Die Notwendigkeit zur Abbitte wiederum ergab sich aus der christlichen Sittenlehre, ist also älter als der Widerruf 2 0 6 . Ziel war nicht die äußere Wiedergutmachung, wie beim Widerruf, sondern die subjektive Besänftigung des Verletzten 207 . Dieser Unterschied verwischte sich nach seiner Übernahme in die weltliche Gerichtspraxis jedoch schon bald 208 , wodurch die Abbitte an Bedeutung verlor und bis ins 17. Jahrhundert hinein nur noch als bloßes Anhängsel des Widerrufs angesehen wurde 209 . bb) Die Ausgestaltung in gemeinrechtlicher Zeit Im 16. und frühen 17. Jahrhundert blieb es zunächst bei der Verschmelzung von Widerruf, Abbitte und Ehrenerklärung zu einem einheitlichen Rechtsinstitut, das meist als Widerruf bezeichnet wurde. Typisch hierfür ist die Regelung in den Sächsischen Konstitutionen von 1572: „Setzen, wollen und ordnen, dass ein ieglicher, wer der auch wäre, so freventlicher, vorsetzlicher und muthwilliger weise, den andern, Mann oder Weibes-Personen, an Ehren schmähen, lästern, schänden und injuriren, und derhalben Rechtlich beklagt würde, dem beschwehrten und injurirten Theil, nach
200 201 202 203 204 205 206
C.v. Wallenrodt, Injurienklagen, S. 247. C.v. Wallenrods Injurienklagen, S. 255, 270f. Dazu oben, B.II. 1. b). Nachweise bei C. v. Wallenrodt, Injurienklagen, S.258f., F N 12. C. v. Wallenrodt, Injurienklagen, S.263f. C. v. Wallenrodt, Injurienklagen, S.267. Vgl. nur Matthäi V, Vers 23-24; weitere Nachweise bei C. v. Wallenrodt,
Injurienklagen,
S.265. C. v. Wallenrodt, Injurienklagen, S. 266. Zu dieser Entwicklung ausführlich und mit zahlreichen Quellennachweisen: C. v. Injurienklagen, S.268ff. 209 K. Bartels, Dogmatik, S.33. 207
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Wallenrodt,
II. Das Zeitalter des Usus
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Befindung der Unschuld, einen öffentlichen Widerruf für Gerichte, zu thun, schuldig seyn soll" 2 1 0 . Zu einem grundlegenden Wandel dieser Rechtslage kam es um die Wende zum 18. Jahrhundert. Einerseits war nunmehr die Vorstellung von einer reipersekutorischen Klage auf Widerruf der Injurie mit der herrschenden Definition des Ehrbegriffs nicht mehr vereinbar: Wenn die Ehre durch Dritte nicht verletzt werden konnte, war mangels Schadens ein Schadensausgleich weder möglich noch erforderlich. Andererseits entwickelte sich die Bekämpfung des Duellunwesens zu einem der vorrangigen Ziele der Territorialgesetzgebung. D e r Gesetzgeber war daher daran interessiert, dem Opfern einer Injurie eine legale Alternative zum Duell zu bieten, die in annähernd gleicher Weise geeignet war, ihm Genugtuung zu verschaffen. Insbesondere in den deutschen Staaten, in denen die auf Geld gerichtete actio iniuriarum früh beseitigt worden war, kam es daher zu einer Renaissance von Widerruf, Abbitte und Ehrenerklärung. Da die ursprünglichen Kriterien zu deren Unterscheidung ihre Bedeutung verloren hatten, nutzte man nunmehr allerdings die drei verschiedenen überlieferten Erklärungsvarianten, um der Schwere der Injurie und dem Stand der Beteiligten Rechnung zu tragen 211 . Trotz gewisser terminologischer Abweichungen in den Gesetzen des 17. und 18. Jahrhunderts bildeten sich dabei in der Rechtspraxis zunehmend weitgehend einheitliche Abgrenzungskriterien heraus: Zum Widerruf war verpflichtet, wer ehrenrührige, unwahre Behauptungen über einen anderen verbreitet hatte 212 . Da dies vor allem die schwersten Fälle von Verbalinjurien erfasste, hatte der Widerruf in einer für den Beleidiger besonders demütigenden Weise, öffentlich und vor Gericht zu erfolgen 213 . So musste sich der Beleidiger meist mit einer genau festgelegten Formel selbst der Lüge bezichtigen („Maul, D u hast gelogen!"), sich dabei auf den Mund schlagen, dem Beleidigten die Vornahme gleichartiger Injurien wie der von ihm begangenen anbieten und sich für seine Großzügigkeit bedanken, falls er darauf verzichtete 214 . Bei schwereren Beleidigungen war der Widerruf kniend abzugeben. J e nach regionalem Gebrauch waren eine Vielzahl weiterer Verschärfungen üblich, etwa eine bestimmte Kleidung des Widerrufenden oder die Anwesenheit des Henkers bei der
210 Teil IV, Const. 42 der Kursächsischen Konstitutionen von 1572, zitiert nach Codex Augusteus, T. 1, Sp. 129. 211 Vgl. z.B. §2 des sächsischen Mandats „Wider die Selbst=Rache, Friedens=Stöhrungen und Duellen" vom 15.4. 1706, Codex Augusteus, T. 2, Sp. 1734; weniger deutlich in: Art. 11 des preußischen Mandats vom 28.6. 1713, C . C . M . Th. II, Abtlg. III, Sp.41ff., 50ff. 212 J.Ch. Edler v. Quistorp, Grundsätze I, S.482f. 213 Vgl. etwa das sächsische Duell-Mandat vom 2.7. 1712, §§2f., Codex Augusteus, T. 2, Sp. 1787f. 214 So z.B. das sächsische Mandat „Wider die Selbst-Rache, Friedens-Stöhrungen und Duellen" vom 15.4. 1706, Codex Augusteus, T. 2, Art. 2, Sp. 1734; ebenso das sächsische Duell-Mandat vom 2.7.1712, § 3, ebenda, Sp. 1787f.; Art. 1 1 1 - I V des preußischen Mandats vom 28.6.1713, C. C.M. Th. II, Abtlg. III, Sp. 41 ff., 50ff.
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Ableistung des Widerrufs 215 . Die Abbitte entwickelte sich nach ihrer maßgeblich von Carpzov 216 beförderten Abspaltung vom Widerruf im 17. Jahrhundert zu dessen milderer Variante217. Vor allem fehlte es bei ihr in aller Regel an den demütigenden Begleiterscheinungen des Widerrufs. Abbitte zu leisten hatte gewöhnlich, wer ehrenrührige, aber wahre Tatsachen über einen anderen behauptet bzw. lediglich Schimpfworte gebraucht hatte, einem höheren Stand als der Beleidigte angehörte oder sonstige Schuldminderungsgründe geltend machen konnte 218 . Zum Teil konnte auch eine Realinjurie, neben der etwaigen Verhängung einer Kriminalstrafe, die Verurteilung des Täters zur Abbitte nach sich ziehen 219 . Bei der Ehrenerklärung handelte es sich im Gegensatz dazu bis Ende des 17. Jahrhunderts um eine freiwillige Erklärung, in der der Täter seinen Beleidigungsvorsatz bestritt (er wüßte „von Klägern nichts, denn alle Ehre, Liebes und Gutes" 220 ) und sich dadurch der Bestrafung für die Injurie oder der Verpflichtung zu deren Widerruf oder zur Abbitte entziehen konnte 221 . Später wurde auch die Ehrenerklärung erzwingbar, galt aber im Vergleich zu Widerruf und Abbitte weiterhin als besonders milde Rechtsfolge einer Injurie. Verweigerte der Beklagte die Abgabe der geforderten Erklärung, konnte er hierzu durch Beugehaft oder hohe Geldstrafen gezwungen werden 222 . Bei dieser Einteilung blieb es, bis sich um die Wende zum 19. Jahrhundert in Anlehnung an die Lehren Adolph Dieterich Webers223 eine dem heutigen Sprachgebrauch eher entsprechende Untergliederung durchsetzte. Danach richtete sich die Form der Erklärung allein nach der Art der Injurie: verleumderische Behauptungen waren zu widerrufen, für Beleidigungen und Realinjurien musste Abbitte geleistet werden, bei zweifelhaftem Beleidigungsvorsatz konnte das Opfer eine Ehrenerklärung verlangen224. Die Kritik an der Verurteilung zu Widerruf, Abbitte und Ehrenerklärung ähnelte in vielen Punkten der Kritik an der Injurienklage: Da die Ehre eines Menschen nicht von den Äußerungen Dritter abhinge, könne eine wie auch immer geartete Erklärung dieser weder nützen noch schaden („bin ich ein böser Mensch, so wird es nicht
215 Diese und weitere Beispiele bei: J. U. Frhr. v. Gramer, Reden, lib. 3 Tit. 23 §11; C/. Wolter, Prinzip, S. 71 ff.; HJ.Gh. Frölichs v. Frölichsburg, Tractat, S. 420; R. Zimmermann, Law, S. 1090;/. Gh. Edler v. Quistorp, Grundsätze I, §§325f., S.482ff. 216 B. Carpzov, Practicae novae, Quaestio 94,13ff., S.378f.; vgl. hierzu auch: H.-H. Dreßler, Beleidigungsrecht, S. 91 ff. 217 K. Bartels, Dogmatik, S.33-J.Ch. Edler v. Quistorp, Grundsätze I, §327, S.486. 218 So etwa nach bayerischem Recht, vgl. W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, § VII, nota l(f). 219 J.Ch. Edler v. Quistorp, Grundsätze I, §327, S.486. 220 So z.B. Tit. V § 1 der sächsischen Policey-Hochzeit-Kleider-Gesinde-Tagelöhner- und Handwercks-Ordnung v. 22.6. 1661, Codex Augusteus, T. 2, Sp. 1568f. 221 Näheres bei K. Bartels, Dogmatik, S. 208ff.; vgl. etwa auch Tit. V §§ 1 f. der sächsischen Policey-Hochzeit-Kleider-Gesinde-Tagelöhner- und Handwercks-Ordnung v. 22.6. 1661, Codex Augusteus, T. 2, Sp. 1568f. 222 Vgl. z.B. J.Ch. Edler V. Quistorp, Grundsätze I, §328, S.488ff.; IV 17 §7 (3.) C M B C . 223 Ueber Injurien und Schmähschriften, 3 Abteilungen (1797ff.). 224 Vgl. A.D. Weber, Injurien, 2. Abteilung, S.27ff.
II. Das Zeitalter des Usus
modernus
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helffen, ob der andere 100. Ehrenerklärungen thut, bin ich aber fromm und unschuldig, so werde ich es wohl bleiben, ob der andere gleich keine Ehren-Erklärung gethan") 2 2 5 . Da Widerruf, Abbitte und Ehrenerklärung daher keinen Schaden ausgleichen könnten, diene der Zwang zur Abgabe einer solchen Erklärung allein der Rachlust des Beleidigten, der dem Täter einen ebensolchen Tort antun wolle, wie er ihn selbst erlitten habe 226 . Wie die actio iniuriarum sei die Verurteilung zu einer derartigen Erklärung folglich als unchristlich abzulehnen. Darüber hinaus sei die unfreiwillige Abbitte oder Ehrenerklärung auch unsinnig, da es kaum einen deutlicheren Beweis für die fehlende Reue oder den Beleidigungsvorsatz des Beklagten gäbe, als die Notwendigkeit, ihn zur Bekundung seines Bedauerns bzw. der Uberzeugung von der Ehrenhaftigkeit des Klägers zwingen zu müssen 227 . cc) Rechtsnatur und Verhältnis zur actio iniuriarum Mit der Ausgestaltung des Widerrufs in seinen verschiedenen Varianten wandelte sich auch dessen Rechtsnatur. Schon die Einführung seiner allein der Demütigung des Widerrufenden dienenden Begleitumstände im 17./18. Jahrhundert macht deutlich, wie sehr die ursprünglich rein schadensausgleichende Zielsetzung dieses Rechtsinstituts an Bedeutung verloren hatte. Dieser Eindruck wird noch durch die enge Verknüpfung der Regelungen über den Widerruf mit den Strafbestimmungen über die Bekämpfung des Duellunwesens in den Partikularrechten verstärkt. Spätestens mit Beginn des 18. Jahrhunderts wurde daher der Widerruf von der herrschenden Lehre zunehmend nicht mehr als Form des Schadensersatzes, sondern wie die actio iniuriarum als Privatstrafe behandelt 228 . Im Zuge der Zurückdrängung des Privatstrafenrechts zu Gunsten des öffentlichen Strafrechts ab dem frühen 19. Jahrhundert erfolgte dann ein erneuter Wandel des Rechtscharakters des Widerrufs, indem dieser Aufnahme in die Strafgesetzbücher fand und von Amts wegen angeordnet werden konnte. Aus dem mittelalterlich-frühneuzeitlichen Schadensersatz war damit auf dem Umweg über die Privatstrafe eine öffentliche Strafe geworden. Aber auch als solche verlor der Widerruf Ende des 19. Jahrhunderts an Bedeutung, da er nach der Modernisierung und Vereinheitlichung des Strafenkatalogs ab der Jahrhundertmitte zunehmend als Fremdkörper innerhalb des Strafensystems erschien 229 . Den wiederholten Veränderungen der Rechtsnatur des Anspruchs auf Widerruf wurde bei der Regelung der Frage seiner Kumulierbarkeit mit der auf Geld gerichteten Injurienklage oder einer öffentlichen Bestrafung des Beleidigers nur unvollständig Rechnung getragen 230 : Solange dem Widerruf allein eine schadensausgleichende Funktion zukam, war seine Häufung mit Privat- wie Kriminalstrafen unproblemaZitat nach: J.S. Stryk, Bedencken, S. 12. So z.B. J.S. Stryk, Bedencken, S. 12. 227 Nachweise für diese Kritik bei: R. Zimmermann, Law, S. 1090. 228 So etwa bei A.D. Weber, Injurien, S. 37. 229 Zur Entwicklung des Widerrufs im 19. Jahrhundert unten, B.V. 230 Vgl. zur wechselhaften Handhabung dieser Frage in gemeinrechtlicher Zeit: N. Schulte, Strafe, S. 41 ff. 225
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
tisch. Dies änderte sich jedoch nach seiner Wandelung zur Privatstrafe, da deren Verhängung nach den allgemeinen Grundsätzen über Klagenkonkurrenzen die Verurteilung zu einer weiteren Privatstrafe oder einer Kriminalstrafe ausschloss. Folgerichtig wurde dem Beleidigten in den Partikularrechten dieser Zeit auch meist 2 3 1 lediglich ein Wahlrecht zwischen beiden Rechtsbehelfen zugebilligt: „daß er entweder auf eine Geld=Busse ... oder auf den Wiederruff klage, das übrige aber des Richters Willkühr heimgestellet bleiben lasse, bescheidet und unterrichtet". D i e Zulässigkeit der Verhängung einer Kriminalstrafe neben dem Widerruf wurde hingegen durchweg beibehalten 2 3 2 . Dies stieß zunächst in der gemeinrechtlichen Literatur auf Widerstand 2 3 3 , der jedoch keine Rechtsänderung herbeiführen konnte: Zu sehr ließ das Bestreben der Territorialherren, die Duellpraxis zurückzudrängen, dogmatische B e denken in den Hintergrund treten.
c) Die Entschädigung von
Nichtvermögensschäden
aa) D i e Anerkennung von Entschädigungsansprüchen wegen Nichtvermögensschäden Während die Ersetzbarkeit von Vermögensschäden auf G r u n d von Körperverletzungen im R a h m e n der aquilischen Haftung in gemeinrechtlicher Zeit allgemein anerkannt war, blieb die Einbeziehung von Nichtvermögensschäden in diese H a f tung lange umstritten. Das Corpus iuris kannte kein Schmerzensgeld, eine Entschädigung für Verstümmelungen oder N a r b e n wurde sogar ausdrücklich abgelehnt („cicatricium autem aut deformitatis nulla fit aestimatio, quia liberum corpus nullam recipit aestimationem" - „Narben und Entstellungen aber werden nicht bewertet, weil der K ö r p e r eines freien Menschen einer Schätzung in Geld nicht zugänglich ist") 2 3 4 . Im Gegensatz hierzu war die Berücksichtigung auch der Nichtvermögensschäden des Verletzten dem mittelalterlich-deutschen Recht
selbstverständlich.
D u r c h die jahrhundertelange G e w ö h n u n g der Bevölkerung an diese Rechtstradition kam es auch in der Nachrezeptionszeit immer wieder zu Klagen auf Zahlung von Schmerzensgeld 2 3 5 . Art. 20 und 21 Carolina gewährten demgegenüber als einzige reichsrechtliche Vorschriften, die diese Frage berührten, lediglich dem zu U n r e c h t Gefolterten einen Anspruch auf Schmerzensgeld („Sollen, die dem so also wider recht, on die bewisen anzeygung, gemartert wer, seiner schmach schmertzen, kosten
231 Anders etwa nachdrücklich der C M B C ( I V 1 7 § 5 ) , nachdem die Klage auf Widerruf auch neben der ästimatorischen Klage erhoben werden durfte („nicht nur elective, sondern auch cumulative, mithin dergestalt, daß eine Action durch die andere nicht aufgehoben wird"). 232 Zitat nach: Mandat, „daß keiner wegen Injurien zugleich auf einen Wiederuff und aestimatorie klagen könne" vom 10.8. 1637 für Sachsen, Codex Augusteus, T. 2, Sp. 1516; bestätigt durch: Tit. V § 5 der sächsischen Policey-Hochzeit-Kleider-Gesinde-Tagelöhner- und Handwercks-Ordnung v. 22.6. 1661, ebenda, Sp. 1569; weitere nachweise bei: J. Schröder, Haftung, S. 165. 233 Vgl. hierzu die Ubersicht über die Kritik bei A.D. Weber, Injurien, S.483. 234 Dig. 9.3.7. 235 Nachweise hierzu bei: R. Zimmermann, Law, S. 1026; H. Kaufmann, Rezeption, S.30.
II. Das Zeitalter des Usus modernus
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vnd schaden, der gebüre ergetzung zuthun schuldig sein" 2 3 6 ). Eindeutige partikularrechtliche Bestimmungen über die Entschädigung von Nichtvermögensschäden existierten bis ins 18. Jahrhundert hinein nur im Bereich des gemeinen Sachsenrechts 2 3 7 . A u c h in den anderen deutschen Territorien bildeten sich jedoch schon früh drei Gruppen von Nichtvermögensschäden heraus, die einen Entschädigungsanspruch begründeten: F ü r Schmerzen als Folge einer Körperverletzung konnte Schmerzensgeld i.e.S. verlangt werden, die immateriellen Folgen von N a r b e n oder sonstigen Entstellungen lösten einen Anspruch auf Verunstaltungsentschädigung aus und der seelische Schmerz naher Angehöriger von Getöteten konnte zur Gewährung eines sog. Trostgeldes führen. Mindestens ebenso umstritten wie die Frage nach der grundsätzlichen Berechtigung solcher Ansprüche war ihr Rechtsgrund und damit auch ihre Rechtsnatur. N e b e n dem zeitlosen P r o b l e m der rechtlichen Einordnung von Geldentschädigungen für Nichtvermögensschäden anhand der allgemeinen, allein für Vermögensschäden entwickelten und daher auch nur für diese adäquaten Maßstäbe, zeigte sich dabei in besonderer Schärfe die für die Zeit des gemeinen Rechts ohnehin typische Diskrepanz zwischen dem in der rechtswissenschaftlichen Literatur behandelten und dem von den Gerichten praktizierten Recht. (1) Schmerzensgeld Die jeder F o r m von Schmerzensgeld eindeutig ablehnend gegenüberstehenden römischrechtlichen Regelungen wurden zunächst von der deutschen Rechtspraxis rezipiert. D i e frühe gemeinrechtliche Rechtsprechung weigerte sich daher, O p f e r n einer Körperverletzung eine Geldentschädigumg für die von ihnen erlittenen N i c h t v e r m ö gensschäden zuzusprechen 2 3 8 . Diese A b k e h r vom tief im deutschen Rechtsbewusstsein verwurzelten Schmerzensgeld 2 3 9 konnten die Gerichte jedoch nicht lange aufrechterhalten. Bereits Ende des 16. Jahrhunderts begann daher seine Renaissance in der Spruchpraxis der Gerichte 2 4 0 : D e m D r u c k zahlloser Kläger nachgebend ergänzte die Rechtsprechung fortan die Schadensersatzansprüche des Verletzten wieder regelmäßig um einen Ausgleichsbetrag für die auf G r u n d der Verletzung erlittenen Schmerzen. Schon im 17. Jahrhundert war der Anspruch des Verletzten auf Schmerzensgeld in der deutschen Rechtspraxis dann wieder allgemein anerkannt 2 4 1 . Vereinzelte ablehnende Urteile 2 4 2 blieben Ausreißerentscheidungen, die den Sieg der deutschen über die römische Rechtstradition nicht gefährden konnten. Methodisch wurde
Art.20 CCC, vgl. dazu: H.J.Cb. Frölichs v. Frölichsburg, Commentarius, S.258ff. Zur besonderen Rechtslage in Sachsen unten, B.II.4. 238 H. Kaufmann, Rezeption, S. 30. Zur abweichenden Rechtslage in Sachsen unten, S. 91 f. 239 Zur Rolle des Schmerzensgeldes im mittelalterlichen deutschen Privatrecht oben, S. 19. 240 Vgl. zu dieser Entwicklung statt aller: H. Kaufmann, Rezeption, S.29f.; R. Zimmermann, Law, S. 1026;/. Jülch, Funktion, S.50f.; B. Winiger, responsabilité II, S. 133ff. 241 ]. Schröder, Haftung, S.147, 163; H. Kaufmann, Rezeption, S. 30ff.; W. Ogris, Schadensersatz, Sp. 1339. 242 Nachweise hierfür bei H. Kaufmann, Rezeption, S.31, FN 13 u. 14. 236 237
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
das Schmerzensgeld dabei, wie seit dem 1 . 8 . 2 0 0 2 auch heute wieder 2 4 3 , als bloßer B e rechnungsposten für den Schadensumfang angesehen, nicht etwa wie im ersten J a h r hundert nach dem Inkrafttreten des B G B 2 4 4 als selbständige Anspruchsgrundlage 2 4 5 . Ungleich beharrlicher hielten dagegen die meisten 2 4 6 gemeinrechtlichen Autoren an den Vorgaben des römischen Rechts fest 2 4 7 . Zwar berichtete die Literatur seit dem frühen 17. Jahrhundert regelmäßig über die im Widerspruch zum römischen Recht stehende Rechtsprechung, lehnte diese aber kompromisslos ab 2 4 8 . Besonders drastisch spiegelte sich der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Theorie und Praxis in den Äußerungen von Juristen wider, die sowohl wissenschaftlich als auch praktisch tätig waren. So verurteilte etwa David Mevius 2 4 9 als Richter in ständiger Rechtsprechung zur Zahlung von Schmerzensgeld 2 5 0 , bezeichnete dessen Gewährung in seinen wissenschaftlichen Schriften aber in Ubereinstimmung mit der herrschenden Lehre 2 5 1 als einen auf Rechtsunkenntnis der Advokaten beruhenden Irrtum 2 5 2 . E r klärbar ist dieser Zwiespalt wohl nur mit der Unumstößlichkeit, mit der sich der Schmerzensgeldanspruch in der Praxis durchgesetzt hatte: M a n konnte noch theoretisch die Berechtigung seiner Entstehung anzweifeln, nicht mehr jedoch seine E x i stenz im praktischen Rechtsleben verleugnen - die Parallelen zu einem Teil der R e aktionen auf die Geldentschädigung für Persönlichkeitsrechtsverletzungen 300 J a h re später sind nicht zu übersehen. A u f die D a u e r führte jedoch auch für die gemeinrechtlichen Autoren kein Weg an der Realität vorbei. N i c h t zum letzten Mal in der Rechtsgeschichte musste sich die
Vgl. §253 II B G B n.F. Näheres zur Reform von 2002 unten, C.IV.4. a) cc). Vgl. §847 B G B a.F. 245 H. Kaufmann, Rezeption, S.31 m.w.N.;/. Schröder, Haftung, S. 163. 246 Eine der wenigen Ausnahmen war z.B./. U. Frhr. v. Cramer, Reden, lib. 3 Tit. 23 §20, der jedenfalls 1766 die Gewährung des Schmerzensgeldanspruchs nachdrücklich befürwortete: „ja man kan auch in dem Fall auf die Schmerzen-Gelder agiren: Dann das ist auch ein Schaden, den man leidet, und ist der ander nicht befugt, einen Schmerz zu machen, ob man gleich dadurch nichts an seinem Vermögen verliert... Derentwegen kan man doch auch was vor seine Schmerzen fordern, das man sie nämlich gegen das Vergnügen, und die Commodität, die man nun erhält dadurch, daß einem der andere was an Geld geben muß... vergessen kan". 247 Vgl. hierzu die umfassenden Nachweise bei H. Kaufmann, Rezeption, S. 36ff. 248 Vgl. statt aller etwa W.A. Lauterbach, Collegium, Lib. IX, Tit. II, XXIV: „Si liber homo laesus est, agitur tantum ad opéras amissas, et expensas in curationem factas, deformitatis vero et dolorum nulla habetur ratio" (Wenn ein freier Mann verletzt worden ist, geht es vor Gericht nur um die verlorene Arbeitsleistung und die Aufwendungen für die körperliche Wiederherstellung, eine Entstellung aber oder Schmerzen werden nicht berücksichtigt). 249 Zu Leben und Werk von David Mevius (1609-1670), Professor in Greifswald und Vizepräsident des Obertribunals in Wismar, vgl. G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S. 497;/. Otto, Mevius, in: M. Stolleis, Juristen, S.425f.; R. Voppel, Einfluß, S. 127ff. 250 So selbst bei rein seelischen Schmerzen, vgl. nur D. Mevius, Decisiones, Pars 1, decisio 211. 251 Nachweise bei: H. Kaufmann, Rezeption, S.37. 252 D. Mevius, Jus Lubecense, Partis IV, Tit. 3, Art. 3, n. 6 („Unde cicatricis & deformitatis in ea aestimatione nulla ratio habetur... Quorum aestimationem erronee ab indoctis rabulis peti, wenn sie vor erlittenen Schmertzen Abtrag begehren"). Ahnlich („indoctos Rabula forenses") die Formulierung bei S. Stryk, Usus modernus, Lib. IX, Tit. II, § 10; vgl. zur Haltung von Mevius in der Schmerzensgeldfrage jetzt auch: B. Winiger, responsabilité II, S. 146f. 243
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II. Das Zeitalter
des Usus
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Wissenschaft hinsichtlich der Geldentschädigung für Nichtvermögensschäden zähneknirschend mit einem Rechtsinstitut abfinden, das dogmatisch problematisch, praktisch zum Schutz erheblicher berechtigter Interessen aber unverzichtbar war 2 5 3 . Ab Ende des 17. Jahrhunderts kam es daher zu einer Annäherung von Theorie und Praxis, mit der Wende zum 18. Jahrhundert war der Prozess der Anerkennung eines Schmerzensgeldanspruchs auch in der Wissenschaft abgeschlossen 254 . Diese beschränkte sich zwar bei einigen Autoren auf die resignative Feststellung, das gemeine Recht lasse ein Schmerzensgeld nicht zu, die Rechtsprechung gewähre es aber dennoch 255 . Meist wandelte sich der Kampf gegen das Schmerzensgeld jedoch nunmehr in einen Streit um seine dogmatische Rechtfertigung. (2) Entschädigung für Narben und Verstümmelungen Da das römische Recht eine Entschädigung in Geld für Entstellungen oder Narben, anders als den Anspruch auf Schmerzensgeld, sogar ausdrücklich ausschloss 256 , war die Hemmschwelle der gemeinrechtlichen Juristen, dem Verletzten in diesen Fällen dennoch einen Anspruch zu gewähren, noch um einiges höher. Bis ins 17. Jahrhundert hinein lehnten daher Rechtsprechung und Lehre eine Verunstaltungsentschädigung nahezu einhellig ab 257 . Im Verlauf des 17. Jahrhunderts mehrten sich dann allerdings die Gerichtsurteile, die zumindest unverheirateten Frauen, die entstellende Verletzungen erlitten hatten, einen über den Ersatz von Arztkosten, Verdienstausfall u.ä. hinaus gehenden Entschädigungsanspruch gegen den Verletzter zusprachen 258 . Begründet wurde dies mit den aus der Verunstaltung folgenden verminderten Heiratsaussichten dieser Frauen, denen ermöglicht werden sollte, ihren Wettbewerbsnachteil auf dem Ehemarkt durch eine höhere Mitgift auszugleichen. Die Literatur leistete gegen die Gewährung solcher Ansprüche zunächst erheblichen Widerstand 2 5 9 . Dieser hatte jedoch keinen Erfolg. Vielmehr setzte sich noch im 17. Jahrhundert nicht nur der Entschädigungsanspruch von verunstalteten Frauen in der Rechtsprechung allgemein durch, sondern dieser wurde Anfang des 18. Jahrhunderts auch auf erheblich entstellte Männer ausgedehnt 260 . Die Begründung der Anerkennung dieses Entschädigungsanspruchs lässt allerdings erkennen, dass dieser zumindest ursprünglich vor allem
Vgl. zu dieser Entwicklung: H. Kaufmann, Rezeption, S.38; R. Zimmermann, Law, S. 1027. Nachweise hierzu bei: J. Schröder, Haftung, S. 147, FN 10; H. Kaufmann, Rezeption, S.38ff. 255 So etwaJ.G. Heineccius, Elementa, §§ 1092, 1095. 256 Dig. 9.3.7. 257 Anders nur in Sachsen, dazu unten, B.II.4. 258 Nachweise hierfür bei: H. Kaufmann, Rezeption, S.32; R. Hofstetter, Geschichte, S. 30ff. 259 Nachweise hierzu bei H. Kaufmann, Rezeption, S. 40ff. 260 Vgl. Cb.F. Glück, Pandecten X, S.390. Zu dem dagegen vorgebrachten Einwand, die Verminderung der Heiratschancen bedeute für Männer nicht nur keine Vermögenseinbuße, sondern bewahre sie eher vor den für sie finanziell schädlichen Folgen einer Eheschließung unten, B.III.4. b) bb). 253
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
die handfesten materiellen Versorgungs- bzw. beruflichen Interessen des Verletzten berücksichtigen sollte, nicht die von ihm erlittenen Nichtvermögensschaden 2 6 1 . (3) D e r Dotationsanspruch N i c h t aus dem älteren deutschen Privatrecht, sondern aus dem kanonischen Recht stammte dagegen der bereits im Verlauf des Mittelalters ins weltliche Privatrecht übernommene Dotationsanspruch der Verführten. Anders als nach kanonischem R e c h t 2 6 2 konnte die Verführte vom Verführer nach gemeinem R e c h t allerdings nicht Mitgift und Eheschließung verlangen, sondern der Verpflichtete hatte zwischen beidem die Wahl („duc aut dota" statt „duc et dota") 2 6 3 . D a m i t handelte es sich jedenfalls bei dem weltlichen Dotationsanspruch nicht nur um eine Entschädigung für den von der Verführten erlittenen Nichtvermögensschaden 2 6 4 oder gar um eine Privatstrafe, sondern ähnlich wie bei der Verunstaltungsentschädigung zumindest auch um einen Ausgleich für die ihr entgangenen bzw. verminderten Versorgungsaussichten 2 6 5 . (4) Trostgeld für seelischen Schmerz K a u m waren die Ansprüche auf Schmerzensgeld und Entschädigung für Entstellungen auf G r u n d von selbst erlittenen Körperverletzungen in der Rechtsprechung des 17. Jahrhunderts allgemein anerkannt, wurde die Haftung desjenigen, der die K ö r p e r verletzung schuldhaft verursacht hatte, noch weiter ausgedehnt: N i c h t nur dem unmittelbar Verletzten wurde nunmehr ein R e c h t auf Ersatz seines Nichtvermögensschadens zugebilligt, sondern zumindest bei schwersten Verletzungen und Entstellungen eines Kindes konnten auch dessen Eltern, bei der T ö t u n g eines Menschen auch allgemein dessen nächste Angehörige (v.a. Eltern bzw. Kinder und Witwe) ein sog. Trostgeld für den damit für sie verbundenen seelischen Schmerz beanspruchen („etiam o b solam affectionem") 2 6 6 . Wie ausschließlich opferorientiert die Gerichte dieses Trostgeld berechneten, ergibt sich deutlich aus den Urteilsbegründungen in solchen Fällen: So wurde etwa der Anspruch der Witwe und des Vaters eines Getöteten auf Trostgeld von der Tübinger Juristenfakultät in einem Konsilium von 1628 bezweifelt, da dieser ein unleidlicher, zu Zank und Hader neigender Mensch gewesen sei, weshalb sein Tod für die Angehörigen keinen (Nichtvermögens-)Schaden darstelle 267 .
H.J. Wieling, Interesse, S. 133. X 5.16Deadulteriis et stuproc. 1: „Si seduxeritquis virginemnondumdesponsatam, dormieritque cum ea, dotabit eam, et habebit [eam] uxorem" (zit. nach: E. Friedberg, Corpus iuris canonici II, S. 806) - „Wenn Jemand eine Jungfrau beredet, die noch nicht vertrauet ist, und beschläft sie, der soll ihr geben ihre Morgengabe und sie zum Weibe haben" (Ubersetzung zit. nach: B. Schilling/ C.F.F. Sintenis, Corpus Juris Canonici II, S. 746). 263 H.J. Wieling, Interesse, S. 134; Th. Kiefer, Haftung, S. 33; R. Eickhoff, Bemessung, S.3. 264 So aber C.J. Wieling, Interesse, S. 134. 265 Zur bis ins Vorfeld des BGB hinein umstrittenen Rechtsnatur des Dotationsanspruchs vgl. die Nachweise in: Mot. IV, S.912f. = B. Mugdan, Materialien IV, S.484f. 266 Nachweise hierfür aus der Spruchpraxis bei: H. Kaufmann, Rezeption, S. 33f. 267 Ch. Besold, Consiliorum VI, cons. 290, n. 43. 261
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II. Das Zeitalter des Usus modernus
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bb) Rechtsgrund und Rechtsnatur Spätestens mit der Anerkennung des Schmerzensgeldes durch die Partikularrechte ab Beginn des 18. Jahrhunderts 2 6 8 erübrigte sich für die Gerichte jede Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dessen H e r k u n f t und dogmatischen Grundlagen. A b e r auch schon zuvor hatte die Rechtsprechung diesen Fragen nur äußerst wenig Bedeutung beigemessen: Ausführungen zum Schmerzensgeld finden sich in den Urteilen allenfalls im Zusammenhang mit der Berechnung des im R a h m e n der aquilischen H a f tung als Folge einer Körperverletzung zu ersetzenden Schadens. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass die Rechtsnatur des Schmerzensgeldes der des Gesamtanspruchs entsprach, das Schmerzensgeld also als rein reipersekutorische, ausgleichsorientierte Entschädigungszahlung behandelt wurde 2 6 9 . Außer der von den Gerichten allgemein befürworteten Möglichkeit, bei einer Realinjurie die Ansprüche aus der actio legis Aquiliae (einschließlich eines Schmerzensgeldes) neben etwaigen Ansprüchen aus der Injurienklage geltend zu machen, spricht hierfür vor allem die aktive U n vererblichkeit des Schmerzensgeldanspruchs in den Fällen, in denen der Verletzte vor der Anhängigkeit der Klage verstorben war: Diese wurde mit der Unmöglichkeit begründet, nach dem Tod des Verletzten n o c h seine Schmerzen durch eine Geldentschädigung ausgleichen zu können. Hintergrund der bis 1990 beibehaltenden Regelung 2 7 0 war also von Anfang an nicht etwa die Pönalität des Anspruchs, sondern allein seine besonders enge Bindung an die Person des Berechtigten, die sich wiederum gerade aus der Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes ergab. Eine intensivere Beschäftigung mit dem Geltungsgrund des Schmerzensgeldanspruchs begann erst, nachdem wenigstens ein Teil der gemeinrechtlichen Autoren aufgehört hatte, dessen Existenz schlicht zu verleugnen oder als Rechtsirrtum abzutun. Auch dann folgte jedoch die ganz herrschende Lehre der Rechtsprechung und leitete das Schmerzensgeld aus der actio legis Aquiliae (häufig: utilis) ab 2 7 1 , bewertete es also ebenfalls als eindeutig reipersekutorisch. Z u m Teil wurde diese Herleitung trotz des klaren Widerspruchs zu den Regelungen des C o r p u s iuris in keiner Weise problematisiert. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass Schadensersatzansprüche wegen der Verletzung eines Freien dem römischen Recht ohnehin fremd, im gemeinen Recht aber längst anerkannt waren, weshalb diese neuerliche Ausdehnung des U m fangs der aquilischen Haftung auf Nichtvermögensschäden keinen besonderen E r klärungsbedarf auslöste. Soweit einzelne gemeinrechtliche Autoren abweichend hiervon Konsequenzen aus der Unvereinbarkeit des Schmerzensgeldes mit den Vor268 So z.B. in Sachsen, §24 des sächsischen Duellmandats vom 2.7.1712 (Codex Augusteus, T. 2, Sp. 1793) im Zusammenhang mit der Abschaffung der Injurienklage, um klarzustellen, dass diese die Rechte des Opfers einer Injurie auf Schmerzensgeld nicht berühren sollte. 269 Ausführlich zur Rechtsnatur des gemeinrechtlichen Schmerzensgeldes: C. G. v. Wächter, Busse, S.80ff.; C.J. Seitz, Untersuchungen, S.164ff.; H. Bocksch, Natur, S.25ff.; R. Hofstetter, Geschichte, S.27ff.;/. Jülch, Funktion, S. 54ff. 270 Vgl. §847 12 BGB a.F. 271 Nachweise hierfür bei: C. G. v. Wächter, Busse, S. 84ff.; H. Kaufmann, Rezeption, S.38ff.; R. Hofstetter, Geschichte, S. 27.
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
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gaben des römischen Rechts zogen, beschränkten sie sich meist auf einen knappen ergänzenden Hinweis auf die zunächst entweder inhaltlich (Art. 20 C C C ) oder regional eng umgrenzten Fälle einer N o r m i e r u n g des Schmerzensgeldanspruchs im deutschen R e c h t 2 7 2 . Etwas mehr Begründungsaufwand betrieb lediglich Samuel Stryk, der den Schmerzensgeldanspruch des unrechtmäßig Gefolterten in Art. 20 C C C im Wege der Analogie auf alle O p f e r unrechtmäßiger Körperverletzungen ausdehnen wollte 2 7 3 . Inwieweit sich aus dieser Begründung Auswirkungen auf die Rechtsnatur des Schmerzensgeldes ergaben, ist unklar: O b der Anspruch aus Art. 20 C C C rein ausgleichsorientiert bemessen werden sollte oder auch pönale Elemente aufwies, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Wegen der wohl dem sächsischen Rechtskreis entstammenden Wurzeln dieser Bestimmung spricht aber viel dafür, dass es sich - wie im sächsischen Entschädigungsrecht üblich - um ein gemischt pönal-reipersekutorisches Rechtsinstitut handelte 2 7 4 . E b e n s o wenig bot die allein auf die bestehende Rechtspraxis bzw. ein Gewohnheitsrecht (mores hodierni) gestützte Begründung des Schmerzensgeldes 2 7 5 Aufschluss über dessen Rechtsnatur. O h n e h i n konnten sich aber beide Minderheitsauffassungen
gegen die pragmatische Handhabung des
Schmerzensgeldes durch die Rechtsprechung und herrschende Lehre als Teil der aquilischen Haftung nicht durchsetzen, weshalb sie für die Rechtsnatur des gemeinrechtlichen Schmerzensgeldes keine Bedeutung erlangten. Ahnlich erfolglos blieb auch der einzige Ansatz zur Begründung des Schmerzensgeldes, der auf dessen Bewertung als Privatstrafe, als Abart der actio iniuriarum, hinaus lief 2 7 6 : Zwar konnte für diese Auffassung geltend gemacht werden, dass die Injurienklage, anders als die actio legis Aquiliae, schon immer auch und gerade bei Nichtvermögensschäden einen Anspruch auf Geldzahlungen des Täters an das O p fer begründete. U n t e r jedem anderen Aspekt überwogen jedoch die Unterschiede, wenn nicht sogar Gegensätze zwischen Schmerzensgeldanspruch und Injurienklage. So richtete sich die Bemessung der auf G r u n d der actio iniuriarum zu zahlenden G e l d b u ß e nach der Schwere der Rechtsverletzung und dem Grad des Verschuldens des Verletzers, also nach tat- und täterorientierten Kriterien, während für die H ö h e des Schmerzensgeldes allein die Folgen der Tat für den Verletzten, also opferbezogene Kriterien, ausschlaggebend waren 2 7 7 . A u c h setzte ein Anspruch aus der Injurienklage den qualifizierten Vorsatz (animus iniurandi) des Täters voraus, während Schmerzensgeld, abgesehen von den Besonderheiten des gemeinen Sachsenrechts, auch bei leichter Fahrlässigkeit zugesprochen wurde 2 7 8 . Forderungen, die Entschädigungsansprüche des Verletzten an einen bestimmten Verschuldensgrad des Täters So oft selbst noch im 19. Jahrhundert, vgl. unten, B.IV.2. a). S. Stryk, Usus modernus, Lib. IX, Tit. II, § 10. 274 Zur Rechtsnatur der Entschädigungsansprüche des Verletzten nach sächsischem Recht unten, B.II.4. 275 So v.a. die Vertreter des Naturrechts, vgl. zu deren Behandlung des Schmerzensgeldes unten, B.II.5. 276 Zur endgültigen Uberwindung dieser Auffassung im 19. Jahrhundert unten, B.IV.2. a). 277 Nachweise hierfür bei C. G. v. Wächter, Busse, S. 83f.; R. Hofstetter, Geschichte, S. 29ff. 278 Vgl. statt aller: H. Bocksch, Natur, S. 16; R. Hofstetter, Geschichte, S.29. 272 273
II. Das Zeitalter des Usus modernus
89
zu knüpfen (Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit), wurden, von der gemeinrechtlichen Rechtsprechung jedoch nicht berücksichtigt und konnten sich letztlich selbst in der zeitgenössischen Literatur nicht durchsetzen 2 7 9 . Bei allen Zugeständnissen an die Besonderheiten von Nichtvermögensschäden war man zu einer derartigen, der aquilischen Haftung für Vermögensschäden gänzlich wesensfremden und systemwidrigen Einengung offenbar nicht bereit. Einziges Zugeständnis an die bei N i c h t v e r m ö gensschäden unvermeidlichen Beweisprobleme bei der Bemessung der Schadenshöhe blieb daher der Ausschluss von Schmerzensgeldansprüchen bei Bagatellverletzungen, mit dem man vor allem die Erfolgsaussichten von Simulanten einzuschränken hoffte 2 8 0 . Wie wenig Injurienklage und Schmerzensgeld gemein hatten, belegten aber auch die die Injurienklage in einigen deutschen Territorien beseitigenden Gesetze, die das Schmerzensgeld den Ansprüchen auf Ersatz von Vermögensschäden und nicht etwa der actio iniuriarum gleichstellten: So hob etwa das sächsische Duellmandat von 1712 ausdrücklich hervor, dass bei Realinjurien, die zu einer Gesundheitsbeschädigung geführt hatten „Heiler-Lohn und Schmertze-Geld ... abgestattet und vergnüget werden soll", wobei dieser Anspruch, anders als der auf Privatstrafe aus der actio iniuriarum, auch ohne weiteres gegenüber den E r b e n des Beleidigers erhoben werden konnte 2 8 1 . Während somit die besseren Gründe dafür sprechen, die R e c h t s n a t u r des gemeinrechtlichen Schmerzensgeldes aus der reipersekutorischen Zielsetzung des Schadensersatzanspruchs der actio legis Aquiliae herzuleiten, kann diese Verbindung als Erklärung des Rechtsgrundes des Schmerzensgeldanspruchs nicht überzeugen: Die Entschädigung des Opfers einer Körperverletzung auch für seinen N i c h t v e r m ö gensschaden war dem deutschen Privatrecht so selbstverständlich, wie sie dem römischen R e c h t und der aquilischen Haftung fremd war. E s gibt daher kaum einen B e standteil der Privatrechtsordnung, der so eindeutig deutschrechtlichen Ursprungs ist, wie das Schmerzensgeld, auch wenn dieses in den Wirren der frühen Nachrezeptionszeit vorübergehend nicht überall im deutschen Rechtskreis die Anerkennung der Gerichte fand. Soweit es an einer partikularstaatlichen N o r m i e r u n g des Schmerzensgeldanspruchs fehlte, beruhte dieser daher auf einer gewohnheitsrechtlichen Ergänzung des Umfangs derjenigen modifizierten F o r m des aquilischen Schadensersatzanspruchs, die im Zuge der Rezeption in das deutsche Recht übernommen wurde 2 8 2 .
2 7 9 Vgl. hierzu den Streit um die Voraussetzungen, den Rechtsgrund und die Rechtsnatur des Schmerzensgeldes im 19. Jahrhundert unten, B.IV.2 a). Zur abweichenden Ausgestaltung des Schmerzensgeldes in einzelnen Partikularrechten unten, B.III. 280 Yg] z ß Entscheidung der Schöppenstuhls in Leipzig 1833, wiedergegeben bei: G. Emminghaus, Pandekten, S. 601. 2 8 1 §24 des sächsischen Mandats vom 2.7. 1712, Codex Augusteus, T. 2, Sp. 1793. 2 8 2 Zu den deutschrechtlichen Wurzeln des Schmerzensgeldes, auch wenn dessen Herkunft letztlich „shrouded in the mists of history" bleibt, ausführlich: P. Pauw, Aspects, S. 244ff.
90
B. Die Grenze zwischen
Privat-
und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
4. Besonderheiten des sächsischen Rechts Weitaus stärker als in den übrigen deutschen Rechtskreisen lebten die mittelalterlich-deutschrechtlichen Rechtsinstitute in der Rechtsprechung der Gerichte im Bereich des Sächsischen Rechts fort, also vor allem in Sachsen, Thüringen und Anhalt. Bis zum Sächsischen BGB von 1863/65 galt hier daher das in den anderen deutschen Territorien entwickelte, ganz überwiegend auf dem römischen Recht beruhende gemeine Recht nur mit zum Teil erheblichen Einschränkungen, als sog. gemeines Sachsenrecht 283 . Dieses beruhte neben dem römischen Recht einerseits auf dem Sachsenspiegel sowie dessen Ergänzungen und Weiterentwicklungen (Glosse, Richtsteige, Magdeburger Recht, wohl auch dem sächsischen Weichbild) 284 , zum anderen auf den dieses Recht modifizierenden und fortführenden neuzeitlichen sächsischen Gesetzen, insbesondere den kursächsischen Konstitutionen von 15 72 285 . Soweit das sächsische Recht dem Gerichtsgebrauch entsprach, hatte es nicht nur vor den Bestimmungen des römischen Rechts in seiner gemeinrechtlichen Ausgestaltung Vorrang 286 , sondern auf Grund der salvatorischen Klausel der Carolina 2 8 7 auch vor dem dort geregelten Reichsstrafrecht. Von zentraler Bedeutung für die Ausformung des gemeinen Sachsenrechts war die Spruchtätigkeit der Magdeburger, Leipziger und Hallenser Schöffen sowie der Juristenfakultäten in Leipzig, Wittenberg und Jena. Den dort wirkenden Juristen, allen voran dem am Leipziger Schöffenstuhl tätigen ,,eigentliche[n] Begründer einer deutschen gemeinrechtlichen Strafrechtswissenschaft" Benedikt Carpzov 2 8 8 , gelang eine für die gemeinrechtliche Zeit eher untypisch enge Verbindung von rechtswissenschaftlicher und rechtspraktischer Tätigkeit. Hierdurch, wie auch durch die dabei vollzogene besonders enge Verschmelzung von römischem und deutschem Recht, erlangten die Vertreter des sächsischen gemeinen Rechts weit über dessen Geltungsbereich hinaus Einfluss und Ansehen. Zugleich sicherte die daraus folgende Dominanz der sächsischen Juristen, gerade auch auf dem Gebiet des Strafrechts, den spezifisch sächsischen Rechtsinstituten ein besonderes Maß an wissenschaftlicher Durchdringung, das wiederum zur Langlebigkeit dieser Sonderregelungen beitrug 289 . Wichtigstes Kennzeichen der Abweichungen des sächsischen vom sonstigen gemeinen Recht im Grenzbereich zwischen Zivil- und Strafrecht war die Beibehaltung der für das deutsche mittelalterliche Recht typischen pönalen EntschädigungszahHierzu im Überblick: G. Buchda, Sachsenrecht, Sp. 1510ff.; H. Lück, Sühne, S. 84ff. Zu den Quellen des gemeinen Sachsenrechts vgl. nur: F. Ebel, Sächsisches Recht, Sp. 1250; G. Emminghaus, Pandekten, S. 1 ff.; Ch.G. Haubold, Lehrbuch I, S. 4 ff.; Ch.C. Stübel, System I, §§42ff., S.38ff.; C.F. Curtius, Handbuch, S. lff. 285 Codex Augusteus, T. 1, Sp.73ff. 286 Ch.G. Haubold, Lehrbuch I, S.35. 287 Vorrede zur Carolina (a.E.): „Doch wollen wir durch diese gnedige erinnerung Churfürsten Fürsten und Stenden, an jren alten wohlherbrachten rechtmessigen vnnd billichen gebreuchen nichts benommen haben". 288 Zitat nach: G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S. 87. 289 G. Buchda, Sachsenrecht, Sp. 1511. 283 284
II. Das Zeitalter des Usus modernus
91
lungen. Hintergrund des sächsischen Sonderwegs auf diesem Gebiet war die frühe und umfassende schriftliche Fixierung verschiedener derartiger Rechtsinstitute im Sachsenspiegel 290 . Diese beförderte nicht nur deren Weiterbestand in der Nachrezeptionszeit, sondern verzögerte auch die vollständige Übernahme der jedenfalls in ihrer gemeinrechtlichen Ausprägung entweder eindeutig pönalen oder rein ausgleichsorientierten römischrechtlichen Klagearten. Zudem erübrigte sich durch das sächsische Sonderrecht in vielerlei Hinsicht die Notwendigkeit, den Anwendungsbereich der letztlich doch rezipierten römischrechtlichen Rechtsinstitute in ähnlich ausufernder Weise auszudehnen, wie dies in den anderen deutschen Territorien erforderlich war, um dem Rechtsempfinden der Bevölkerung hinreichend Rechnung tragen zu können. Besonders deutlich zeigten sich die Besonderheiten des gemeinen Sachsenrechts bei den Rechtsfolgen von Nichtvermögensschäden. So war im sächsischen Rechtskreis insbesondere das Recht des Opfers einer Körperverletzung oder Verstümmelung auf Schmerzensgeld durchgängig und unangefochten anerkannt 291 . Grundlage für diesen Anspruch war allerdings nicht etwa wie in den anderen deutschen Rechtsgebieten eine Ergänzung des Haftungsumfangs des Schädigers im Rahmen der actio legis Aquiliae. Vielmehr ergab sich der Schmerzensgeldanspruch des Verletzten zunächst aus den im Sachsenspiegel vorgesehenen festen Bußsätzen für leichtere Verletzungen und Wergeidbruchteilen für Verstümmelungen, die beide auch die immateriellen Schäden des Verletzten abdeckten. Nachdem die kursächsischen Konstitutionen von 1572 die festen Bußsätze endgültig beseitigt hatten 292 , blieb der Schmerzensgeldanspruch als sächsisches Gewohnheitsrecht erhalten 293 . Die ausdrückliche Anerkennung eines Schmerzensgeldanspruchs des Opfers einer Realinjurie im Duellmandat von 17 1 2 294 stellte daher keine Neuerung dar, sondern diente lediglich der Klarstellung, dass dieser im Gegensatz zur actio iniuriarum nicht abgeschafft werden sollte. Die Verschmelzung des zunächst vorwiegend strafrechtlichen Wergeides mit dem zumindest überwiegend zivilrechtlichen Bußensystem zur gemeinsamen Wurzel des gemeinrechtlich-sächsischen Schmerzensgeldanspruchs blieb jedoch nicht ohne Konsequenzen für dessen Ausgestaltung und Rechtsnatur. So war insbesondere der sächsische Schmerzensgeldanspruch im Gegensatz zu dem des sonstigen gemeinen Rechts an die vorsätzliche Begehung der Körperverletzung durch den Schädiger geknüpft 295 . Darüber hinaus schied ein Schmerzensgeldanspruch aus, wenn die zur Körperverletzung führende Auseinandersetzung vom Verletzten ausgegangen war 2 9 6 . Auch verfahrensrechtlich wurde der Schmerzensgeldanspruch in H i e r z u oben, B.I.3. b). Vgl. hierzu statt aller: H. Kaufmann, Rezeption, S.31. Umfassend z u m sächsischen Schmerzensgeld: E. Gaudlitz, Schmerzensgeld, S. 342ff. 292 Konst. IV, Const. 42, C o d e x Augusteus, T. 1, Sp. 129 (a.E.). 293 H. Kaufmann, Rezeption, S.31. 294 § 2 4 des Mandats vom 2.7. 1712, C o d e x Augusteus, T. 2, Sp. 1793. 295 Ch.G. Haubold, Lehrbuch I, S.483. 296 Gh. G. Haubold, Lehrbuch I, S. 483; vgl. hierzu auch die N a c h w e i s e bei G. Emminghaus, Pandekten, S. 602. 290 291
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B. Die Grenze
zwischen
Privat-
und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
Sachsen, da es nicht der entpönalisierten aquilischen Haftung unterfiel, bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht klar dem Zivilrecht zugeordnet, sondern eher als Anhängsel der strafrechtlichen Verfolgung des Täters betrachtet. Anders als im übrigen gemeinen Recht wies das sächsische Schmerzensgeld also zumindest im 16.-18. Jahrhundert noch ausgeprägte pönale Elemente auf 2 9 7 . Hinsichtlich der Sanktionierung von Injurien blieb es in Sachsen zunächst bei der an das Opfer zu entrichtenden, jedenfalls hauptsächlich pönalen Einheitsbuße von 30 Schillingen des älteren sächsischen Rechts. Die kursächsischen Konstitutionen von 1572 ersetzten diese dann durch öffentliche Strafen, eine vom Richter festzusetzende Geldbuße und die Pflicht zum Widerruf der ehrkränkenden Behauptung: „Nachdem Wir dann erinnert, daß in Sächsischen Rechten eine gantz geringe Straffe, als nicht mehr dann dreyßig Schilling auf die Ehren-Schänder geordnet, und mancher ehrlicher Mann Unserer Lande bißanhero Abscheu getragen, sich Ehren-Sachen halben, in Rechtfertigung einzulassen; Wir gleichwohl auch bey Uns erwogen, daß der ordentlichen Obrigkeit gebühret, Ehrliebenden Leuten, durch geordnete Straffe, ihrer Ehren Ergötzunge zu thun, und diesem allgemeinen eingerissenen Laster des Schmähens, Schändens und Injurirens zu wehren ... Setzen, wollen und ordnen, daß ein ieglicher ... einen öffentlichen Widerruf für Gerichte, zu thun schuldig seyn soll. Darüber aber, und darneben, soll auch solcher muthwilliger Schänder und Injuriant willkürlich mit einer hohen Geld-Busse, mit Gefängnis, oder mit zeitlicher Verweisung gestraffet, oder auch ... mit Staupenschlägen" 2 9 8 . Verhältnismäßig früh sah man sich dann allerdings in Sachsen genötigt, diesen umfassenden Rechtsschutz bei Ehrkränkungen einzuschränken, damit nicht „Geldsüchtigen Leuten Anlaß gegeben werde, in Hoffnung grossen Gewinns und Erwerbs, andere zu unbesonnenen Schmäheworten gleichsam auszulocken und anzureitzen", um dann neben der Klage auf Widerruf der ehrkränkenden Behauptungen zugleich ein „Geldbusse von 50. 100. 500. 1000. 5000 mehr und weniger Gülden" zu verlangen 299 . Seit 1637 musste daher der Beleidigte zwischen der Klage auf Widerruf und der auf Geldbuße wählen 3 0 0 , 1712 war Sachsen dann das erste größere deutsche Territorium, das die auf Geld gerichtete actio iniuriarum völlig beseitigte 301 . Weitere pönale Besonderheiten des sächsischen Privatrechts der frühen Neuzeit waren die Beibehaltung des mittelalterlichen Wergeides sowie die Gewährung einer pauschalierten Entschädigung für Fälle unrechtmäßiger Freiheitsberaubung, der sog. Sachsenbuße.
297
Zur Entpönalisierung des sächsischen Schmerzensgeldes im 19. Jahrhundert unten, B.III.5 b)
aa). 2 9 8 Konst. IV, Const. 42, Codex Augusteus, T. 1, Sp. 129; bestätigt durch; Tit. V § 4 der sächsischen Policey-Hochzeit-Kleider-Gesinde-Tagelöhner- und Handwercks-Ordnung v. 22.6. 1661, Codex Augusteus, T. 2, Sp.1569. 2 9 9 So die Begründung des Mandats vom 10.8. 1637, Codex Augusteus, T. 2, Sp. 1515. 3 0 0 Mandat vom 10.8. 1637, Codex Augusteus, T. 2, Sp. 1516. 3 0 1 Duell-Mandat vom 2 . 7 . 1 7 1 2 , Codex Augusteus, T. 2, Sp. 1785ff., vgl. dazu oben, B.II.3. a) dd).
II. Das Zeitalter
des Usus modernus
93
a) Das Wergeid Während das deutschrechtliche Rechtsinstitut des Wergeides 302 in den meisten deutschen Territorien die Rezeption des römischen Rechts nicht überdauerte 3 0 3 , blieb diese Form des Täter-Opfer-Ausgleichs im gemeinen Sachsenrecht bis weit ins 18. Jahrhundert hinein alltäglicher Bestandteil der Gerichtspraxis. Allerdings handelte es sich beim Wergeid des 16.-18. Jahrhunderts zumindest im Regelfall nicht mehr wie meist im Mittelalter um das Ergebnis eines Sühnevertrages zwischen den Parteien. Anders als bei der römischrechtlichen Transactio 3 0 4 , die noch im gemeinen Recht die Strafverfolgung des Täters ausschloss oder jedenfalls strafmildernd berücksichtigt werden musste 3 0 5 , war es vielmehr stets der Strafrichter, der bei bestimmten T ö tungsdelikten oder schweren Körperverletzungen zur Zahlung des Wergeides verurteilen konnte oder musste 3 0 6 . Darüber hinaus wurde der Lockerung der engen Familienverbände der früheren Zeit dadurch Rechnung getragen, dass nunmehr nur noch der Täter selbst zur Aufbringung des Wergeides verpflichtet war, nicht mehr auch seine Angehörigen 3 0 7 . Bei Zahlungsunfähigkeit des Täters trat an die Stelle des Wergeides eine Ersatzfreiheitsstrafe oder eine - meist auf wenige Jahre befristete - Landesverweisung 308 . Waren mehrere Täter zur Zahlung des Wergeides verpflichtet, war umstritten, ob diese lediglich gesamtschuldnerisch den einfachen Wergeidbetrag aufzubringen hatten oder jeder Täter den vollen Betrag zahlen musste 3 0 9 . In Anlehnung an die Bestimmungen des Sachsenspiegels, wonach das Wergeid an die Stelle des Verletzten oder Getöteten trat, weshalb auch bei mehreren Verletzungen für einen Menschen nur ein Wergeid zu zahlen war 3 1 0 , wurde diese Beschränkung zur Zeit des gemeinen Sachsenrechts von einigen Autoren auch im Falle einer Schädigermehrheit befürwortet 3 1 1 . Die herrschende Meinung und die Rechtsprechung ließen mehrere Täter jedoch kumulativ haften, also jeden Täter in Höhe des vollen Wergeides 312 . Diese Interpretation entsprach auch eher dem Wortlaut der kursächsischen Konstitutionen von 1572 („So sollen sie alle ... in willkührliche Geld-Buß, Gefängniß oder Verweisung, neben Er3 0 2 Zum Wergeid im Mittelalter bereits oben, B.I.2. e). Speziell zum Wergeid des gemeinen Sachsenrechts: B. Carpzov, Practicae novae, Quaestio 34, S. 194ff.; Ch.C. Stübel, System I, § 116, S. 79. 303 W. Schild, Wergeid, Sp. 1270f. 3 0 4 Zur Regelung der Transactio im römischen und gemeinen Recht umfassend: F. Ebel, Berichtung, S.50ff. 305 F. Schaffstein, Wergeid, S. 188f.; ders., Wiedergutmachung, S. lOff. m.w.N. 306 J.Weiske, Wergeid, S. 96. 307 J. Weiske, Wergeid, S. 102. 3 0 8 Nachweise bei F. Schaffstein, Wergeid, S. 195; HJ. Wieling, Interesse, S. 138. 3 0 9 Vgl. hierzu: F. Schaffstein, Wergeid, S. 193f. 3 1 0 Ssp LandR II 16 § 9 („Wundet man ouch einen man an ein gelit, daz im vergulden iz vor gerichte, adir howt herz im allis abe, her en mag da kein hogere gelt ane ervorderen denne sine buze" - also nicht erneut sein anteiliges Wergeid, wie sonst bei einer verstümmelnden Körperverletzung), III 46 § 2 , III 85 § 1 . 3 1 1 In diesem Sinne etwa noch: J. Weiske, Wergeid, S. 103. 312 F. Schaffstein, Wergeid, S. 193; vgl. auch die Nachweise aus der sächsischen Rspr. bei: G. Emminghaus, Pandekten, S. 600.
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
legung des Wehr-Geldes und Erstattung derer Gerichts-Kosten, verurtheilet werden") 3 1 3 . Empfänger des Wergeides waren die nächsten Verwandeten des Getöteten. N a c h der älteren Praxis zählten hierzu nur die männlichen Familienmitglieder, da nur diesen durch das Wergeid das R e c h t zur außergerichtlichen Sühne der Tat (Fehde) abgekauft werden musste. N a c h d e m diese Erwägungen zur Zeit des gemeinen Sachsenrechts bedeutungslos geworden waren und zugleich die alleinige Berechtigung der männlichen Verwandten nunmehr als „der natürlichen Billigkeit zuwider" angesehen wurde 3 1 4 , konnten ab dem 16. Jahrhundert auch die weiblichen Verwandten des Verstorbenen, insbesondere seine Töchter, zumindest subsidiär das Wergeid beanspruchen 3 1 5 . Voraussetzung für das Anrecht der Verwandten auf das Wergeid war allerdings stets, dass diese die Tat angezeigt und auch sonst gebührend die Strafverfolgung des Täters betrieben hatten 3 1 6 . D i e H ö h e des Wergeides richtete sich nach gemeinem Sachsenrecht nicht mehr nach dem Stand des O p f e r s 3 1 7 , sondern betrug einheitlich 20 Taler für Männer und 10 Taler für Frauen 3 1 8 . Während im Mittelalter das Wergeid so bemessen war, dass die Pflicht zu seiner Aufbringung leicht die gesamte Familie des Täters dem wirtschaftlichen R u i n nahebringen konnte 3 1 9 , entsprach der Betrag von 20 Talern im 18. Jahrhundert allerdings nur noch zwei bis drei Monatslöhnen eines durchschnittlichen Handwerkergesellen 3 2 0 . Diese Diskrepanz beruhte ursprünglich wohl lediglich auf einem Fehler bei der Umstellung der mittelalterlichen Wergeidsätze auf die neuzeitlichen Währungseinheiten 3 2 1 . D i e gewohnheitsrechtliche Beibehaltung des niedrigen Wergeides führte dann aber zu einer erheblichen Minderung der praktischen Bedeutung des Wergeides. D i e seit dem Mittelalter übliche Ungleichbehandlung von Männern und Frauen bei der H ö h e des ihnen zugebilligten Wergeides 3 2 2 begründete man zunächst mit der besonderen Bedeutung des Mannes für den Schutz der Familie. U n t e r dem Einfluss naturrechtlicher Gedanken wurde im 18. Jahrhundert zwar
Konst. IV, Const. 7, Codex Augusteus, T. 1, Sp. 119. Zitat nach: Konst. ined. von 1572, Const. X X I , abgedruckt bei: Ch.G. Hauhold, Handbuch, S. 146. 3 1 5 Anderes lässt allerdings noch der Wortlaut des veröffentlichten Teils der Konstitutionen von 1572, Konst. IV, Const. 11 („des Verstorbenen Söhnen, oder denen Schwerdtmagen"), Codex Augusteus, T. 1, Sp. 120, vermuten, vgl. jedoch die Ergänzung dieser Regelung in: Konst. ined. von 1572, Const. X X I , abgedruckt bei: Ch.G. Haubold, Handbuch, S. 146. 3 1 6 Konst. ined. von 1572, Const. X X I , abgedruckt in: Ch.G. Hauhold, Handbuch, S. 146; Näheres bei: J. Weiske, Wergeid, S. 103. 3 1 7 Zu den mittelalterlichen Abstufungen bei der Höhe des Wergeides vgl. Ssp LandR III 45. 318 F. Schaffstein, Wergeid, S. 195. 3 1 9 Hierzu: E. Kaufmann, Fehde, Sp. 1088; vgl. daneben auch das Berechnungsbeispiel oben, B.I.l. c). 320 F. Schaff stein, Wergeid, S. 195. 321 Vgl. die Umrechnungsnachweise bei]. Weiske, Wergeid, S. 106ff., wonach die korrekte Höhe 240 Taler hätte betragen müssen. 3 2 2 Ssp LandR III 45 §2: „Itslich wip hat ires mannes halbe wergelt unde buze. Itslich maget unde ungemanet wip hat halbe buze, nach deme daz sie geboren iz". 313
314
IL Das Zeitalter des Usus modernus
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gelegentlich die Vereinheitlichung des Wergeidsatzes für Männer und Frauen gefordert, an der Praxis der sächsischen Gerichte änderte dies aber bis zuletzt nichts 3 2 3 . D a die Verhängung zu einer peinlichen Strafe nach sächsischem Recht, anders als etwa in B a y e r n 3 2 4 , die Verpflichtung zur Zahlung des Wergeides ausschloss („mit dem Tode weddet man dem Richter und büsset dem K l ä g e r " 3 2 5 ) 3 2 6 , war die E r h e bung der Klage auf Wergeldzahlung erst nach Abschluss des peinlichen Untersuchungsverfahrens möglich 3 2 7 . D i e Verurteilung zu nichtpeinlichen Strafen (z.B. G e fängnis, Landesverweisung) ließ das Recht der Familie des Opfers auf das Wergeid hingegen unberührt 3 2 8 . N e b e n dem Wergeid musste der Täter stets die Gerichtskosten tragen 3 2 9 , die zumindest im 18. Jahrhundert die H ö h e des Wergeides oft überstiegen 3 3 0 . Außerdem konnten die Angehörigen des Opfers ihren Vermögensschaden, insbesondere entgangene Unterhaltsleistungen des Getöteten, neben dem Wergeid geltend machen 3 3 1 . M i t Ausgang des 18. Jahrhunderts wurden Wergeidklagen dann auch im sächsischen Rechtskreis immer seltener 3 3 2 . Ursächlich hierfür war zum einen die geringe H ö h e des auf diese Weise zu erlangenden Betrages, zum anderen die sich im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus immer stärker durchsetzende Auffassung, alle Straftaten seien zumindest primär gegen den Staat gerichtet und könnten deshalb auch nur durch diesen verfolgt waren 3 3 3 . Endgültig aufgehoben wurden die sächsischen Sonderregelungenüber das Wergeid allerdings erst durch das sächsische Criminalgesetzbuch von 18 3 8 3 3 4 .
Nähers dazu bei F. Schaff stein, Wergeid, S. 196; ders., Wiedergutmachung, S.22. Vgl. W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 16 § I.II.III.IV, nota 11 (f), wonach die Ansprüche des Geschädigten nicht dadurch beeinträchtigt werden, „daß Delinquent seines Verbrechens halber am Leben bestraft worden ist, denn das Sprichwort: Der Dieb zahlt mit dem Strick, ist nur in Jure saxonico, nicht aber bavarico et communi fundirt". Dabei bleibt allerdings unklar, ob die Unabhängigkeit des Entschädigungsanspruchs von der peinlichen Strafe außerhalb Sachsens nicht allein darauf beruhte, daß dort zur Zeit v. Kreittmayrs längst das (auch) pönale Wergeid durch einen entpönalisierten Schadensersatzanspruch auf der Grundlage der aquilischen Haftung abgelöst worden war. In Anbetracht der Behandlung aller Ansprüche des Geschädigten gegen den Täter bis hin zur Privatstrafe im Rahmen der Injurienklage als „reipersekutorisch" durch v. Kreittmayr (dazu unten, B.III.l) ist dies aber keineswegs zwingend. 323
324
3 2 5 Zitat des Rechtssprichworts nach: E. C. Westphal, Criminalrecht, S. 92; vgl. auch schon Ssp LandR III 50: „Wor der dudische man sinen lip adir sine hant verwerkit mit ungerichte, her lose sie adir en tu, her en darf da gewette noch buze geben". 3 2 6 So ausdrücklich Konst. IV, Const. XI, Codex Augusteus, T. 1, Sp. 120. 327 J. Weiske, Wergeid, S.99. 3 2 8 Konst. IV, Const. 7,11, Codex Augusteus, T. 1, Sp. 119f. Die Zuchthausstrafe zählte dabei allerdings wohl eher zu den peinlichen, als den nichtpeinlichen Strafen: J. Weiske, Wergeid, S. 101. 3 2 9 Konst. IV, Const. 7, 12, Codex Augusteus, T. 1, Sp. 119f. 330 F. Schaffstein, Wergeid, S. 195. 331 H.J. Wieling, Interesse, S. 139; mit Nachweisen aus der zeitgenössischen sächsischen Literatur; weitere Nachweise bei: G. Emminghaus, Pandekten, S.600. 3 3 2 Vgl. C.C. Stübel, System, S.79 (§116). 333 F. Schaffstein, Wiedergutmachung, S.22. 334 Vgl. hierzu: C. G. v. Wächter, Busse, S. 85, F N 67; vgl. daneben H.J. Wieling, Interesse, S. 139 (der diese Entwicklung allerdings fälschlich dem „sächs. StGB von 1834" zuschreibt).
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B. Die Grenze zwischen
Privat-
und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
aa) Anwendungsbereich im 16.-18. Jahrhundert Schon der Sachsenspiegel sah die Verurteilung zur Zahlung des Wergeides an das Opfer einer verstümmelnden Körperverletzung oder eines Tötungsdelikts bzw. dessen Familie nur noch vor, wenn den Täter keine Schuld traf (Kinder, Geisteskranke, bestimmte Fälle der reinen Erfolgshaftung), das Verschulden nur gering war (Fahrlässigkeit) oder die Schuldfrage nicht eindeutig geklärt werden konnte (zweifelhafte Notwehrfälle). Dieser Anwendungsbereich wurde unter der Herrschaft des gemeinen Sachsenrechts noch weiter reduziert. Insbesondere löste eine verstümmelnde Körperverletzung ab dem 16. Jahrhundert keinen Anspruch auf ein anteiliges Wergeid mehr aus 335 . Die Höhe des in solchen Fällen vom Täter an das Opfer zu zahlenden Betrages wurde vielmehr vom Richter nach der jeweiligen Bedeutung der Verstümmelung für das Opfer festgesetzt 336 . Dabei orientierten sich die Gerichte zumindest in der früheren gemeinrechtlichen Zeit zum Teil an bestimmten Gliedertaxen 337 . Insgesamt entsprach der Anspruch des Verletzten damit weitgehend dem sächsischen Schmerzensgeldanspruch für leichtere Verletzungen. Auch die Tötung oder Lähmung eines Haustieres wurde in gemeinrechtlicher Zeit nicht mehr, wie noch im Sachsenspiegel vorgesehen 338 , durch die Zahlung eines Wergeides gesühnt, sondern nach den allgemeinen Schadensersatzregeln behandelt 339 . Damit kam die Verpflichtung zur Zahlung des Wergeides im gemeinen Sachsenrecht nur noch als Folge der Tötung eines Menschen in Betracht. Ab der endgültigen Durchsetzung des Schuldprinzips im Gefolge der Carolina 3 4 0 und der Lehren Carpzovs zur Abgrenzung von Fahrlässigkeit und Zufall 341 spätestens Mitte des 17. Jahrhunderts konnte es daher nur noch in drei Fällen zur Zubilligung eines Wergeides kommen 3 4 2 : bei fahrlässigen Tötungen, für die keine peinlichen Strafen verhängt worden waren 343 , sowie gemäß den insofern den Sachsenspiegel modifizierenden kursächsischen Konstitutionen von 1572 bei der Tötung im leichten Notwehrexzess 3 4 4 und der Tötung im Rahmen eines Raufhandels, sofern ]. Weiske, Wergeid, S.98. 336 Ygj ] 1 ; e r z u ¿ig Nachweise bei G. Emminghaus, Pandekten, S. 603. 337 Vgl. dazu die von B. Carpzov entwickelten Gliedertaxen, wiedergegeben bei: G. Emminghaus, Pandekten, S. 603. 338 Ssp LandR III 48 und 51. 339 ]. Weiske, Wergeid, S.98. 340 So v.a. im Hinblick auf die Strafbarkeit von Kindern und Geisteskranken, vgl. Eb. Schmidt, Einführung, §§96ff., S. 117ff., zur grundsätzlichen Anerkennung des Prinzips „Keine Strafe ohne Schuld" bereits bei den Konsiliatoren vgl. W. Engelmann, Schuldlehre, §3, S. 33ff. 341 Vgl. hierzu die Nachweise bei: F. Schaffstein, Wergeid, S. 191 f.; H. Kaufmann, Rezeption, S. 74 ff. 342 Vgl. E Schaffstein, Wergeid, S. 192ff., der daneben als vierten gelegentlich von Gerichten anerkannten Fall noch die Tötung der in flagranti beim Ehebruch ertappten Ehefrau durch ihren Ehemann aufführt (S. 194); /. Weiske, Wergeid, S. 98ff. 343 Ssp LandR II 38. 344 Konst. IV., Const. 11: „... Do ihme aber, allein die Verweisunge, zuerkannt, daß alsdann das Wehr-Geld denen Freunden auch mit zugesprochen werden möge ..." (Codes Augusteus, T. 1, Sp. 120). 335
II. Das Zeitalter des Usus modernus
97
sich der unmittelbare Täter nicht ermitteln ließ und die Indizien nicht für die A n o r d nung der Folter ausreichten 3 4 5 . bb) Rechtsnatur Wie schon im mittelalterlichen Sachsenrecht, kam dem Wergeid auch im 1 6 . - 1 8 . Jahrhundert sowohl eine pönale Funktion zu 3 4 6 , als auch die Aufgabe, etwaige materielle und immaterielle Schäden der Angehörigen des Opfers auszugleichen und ihnen Genugtuung zu verschaffen. D u r c h die häufige Parallelität von öffentlicher (nichtpeinlicher) Strafe und Wergeid, die Beschränkung des Anwendungsbereichs auf Fälle geringen Verschuldens des Täters sowie durch die gesunkene wirtschaftliche Bedeutung des Wergeides in gemeinrechtlicher Zeit verschob sich jedoch der Anteil der einzelnen Elemente an der Rechtsnatur des Wergeides: D i e Summe von 10 oder 20 Talern dürfte kaum je auch nur annähernd geeignet gewesen sein, den materiellen Schaden der Hinterbliebenen durch den Tod des Opfers abzudecken 3 4 7 . D i e ser konnte daher nunmehr im Zivilverfahren neben dem Wergeid geltend gemacht werden 3 4 8 , wobei dieses aber zum Teil angerechnet wurde 3 4 9 . Dadurch verlor die Ausgleichsfunktion des Wergeides zu Gunsten seiner Genugtuungsfunktion erheblich an Bedeutung. D e m widersprach auch nicht die Begründung für die Abhängigkeit der H ö h e des Wergeides vom Geschlecht des Opfers, da es sich insofern lediglich um die traditionelle Beibehaltung einer Regelung handelte, die noch einer Zeit entstammte, in der das Wergeid sämtliche Nachteile der Angehörigen des Getöteten auszugleichen bestimmt war 3 5 0 . Andererseits war wegen der durchweg geringen Schuld des zur Zahlung des Wergeides verpflichteten Täters auch das Bedürfnis, diesen zu bestrafen, nur noch begrenzt vorhanden und wurde in aller Regel durch öffentlichrechtliche Sanktionen befriedigt. Zumindest ist nicht ersichtlich, warum den Angehörigen des Opfers bei einer bloß fahrlässigen T ö t u n g eher ein eigenes, vom Staat unabhängiges Strafbedürfnis zugebilligt werden sollte als bei einer schwereren Straftat. J e d o c h sprechen die kumulative Haftung mehrerer Täter, die Ersatzfreiheitsstrafe oder -landesverweisung bei Zahlungsunfähigkeit des Täters und vor allem die einheitliche H ö h e des Wergeides deutlich für ein Fortleben pönaler Aspekte des Wergeides 3 5 1 . 345 Konst. IV., Const. 7: „Wann ihrer viele, einen, im Aufflauff und Hader, zu tode schlagen, wie es mit der Straff zu halten?... So sollen sie alle, im Zweiffei, mit der Tortur nicht beleget, noch auch am Leben gestraffet, sondern in willkührliche Geld-Buß, Gefängniß oder Verweisung, neben Erlegung des Wehr-Geldes und Erstattung derer Gerichts-Kosten, verurtheilet werden ..." (Codex Augusteus, T. 1, Sp. 119). 346 J. Weiske, Wergeid, S.96. 347 J. Weiske, Wergeid, S. 106. 348 H.J. "Wieling, Interesse, S. 138f. 349 So F. Schaffstein, zitiert nach: H. Lilie, Genugtuung, S. 36. 350 Anders H.J. Wieling, Interesse, S. 139, der aus dieser Abstufung auf einen Vorrang der Ausgleichsfunktion des Wergeides auch noch in gemeinrechtlicher Zeit schließen will; zur Ausgleichsfunktion des Wergeides vgl. auch W. Schild, Wergeid, Sp. 1270f.; J. Weiske, Wergeid, S. 104, 108. 351 So auch die zeitgenössische h.M., vgl. C.C. Stiibel, System, S. 79 (§116);/. Weiske, Wergeid,
98
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB Insgesamt stellt sich das Wergeid in seiner Spätphase damit als eine Mischform aus
Privatstrafe und pauschaliertem Schadensersatz insbesondere für einen etwaigen Nichtvermögensschaden der Hinterbliebenen des Opfers dar 352 , durch die der Täter anerkannte, U n r e c h t begangen zu haben 3 5 3 . D i e Genugtuungsfunktion stand also ganz im Vordergrund 3 5 4 : D e r Familie des Opfers sollte durch einen symbolischen A k t des Täter-Opfer-Ausgleichs 3 5 5 Trost zuteil werden 3 5 6 .
b) Die
Sachsenbuße
N a c h gemeinem Sachsenrecht konnte jedes O p f e r einer widerrechtlichen Freiheitsberaubung vom T ä t e r pro Tag eine Buße von zunächst 30 Schillingen, später von 40 Groschen 3 5 7 verlangen. Ursprung dieses Anspruchs war ein Missverständnis über die Bedeutung einer Sachsenspiegelstelle 3 5 8 , nach der jemand, der einen K n e c h t gefangen hielt, deshalb diesem und seinem Herren B u ß e schuldete 3 5 9 . O b w o h l der Sachsenspiegel an anderer Stelle für die Freiheitsberaubung eines Freien eindeutig die Todesstrafe und nicht etwa nur eine B u ß e als Sanktion vorsah 3 6 0 , wurde dieser Bußanspruch jedenfalls ab dem 16. Jahrhundert auch auf Fälle der Freiheitsberaubung Freier ausgedehnt 3 6 1 . D i e anfängliche H ö h e der Sachsenbuße entsprach daher konsequenterweise der vom Sachsenspiegel vorgesehenen Regelbuße eines Freien 3 6 2 . N e b e n der Sachsenbuße stand dem seiner Freiheit Beraubten gewohnheitsrechtlich der Ersatz eines etwaigen Vermögensschadens 3 6 3 , nicht jedoch ein A n spruch auf Abbitte oder Ehrenerklärung durch den Täter zu 3 6 4 . D e r zivilrechtliche Schutz der Freiheit durch das gemeine Sachsenrecht übertraf damit den des sonstigen gemeinen Rechts, nach dem bei rechtswidrigem Freiheitsentzug lediglich ein Ausgleich des Vermögensschadens verlangt werden konnte, der Nichtvermögensschaden hingegen unberücksichtigt blieb. D a das sächsische B G B die Sachsenbuße S. 96; zu den Indizien für eine Pönalfunktion des Wergeides in dieser Zeit aus heutiger Sicht: F. Schaffstein, Wergeid, S. 189,192; ders., Wiedergutmachung, S. 19, 23; H.J. Wieling, Interesse, S. 138. 352 A. Roth, Wergeid, Sp. 2200. 353 B. Carpzov, Practicae novae, Quaestio 34, Nr. 11, S. 195; vgl. dazu auch: F. Schaffstein, Wergeid, S. 195. 354 F. Schaffstein, Wiedergutmachung, S.23; H.J. Wieling, Interesse, S. 139. 355 F. Schaffstein, Wergeid, S. 195. 356 Vgl. B. Carpzov, Practicae novae, Quaestio 34, Nr. 11, S. 195 („solatium & commodum Agnatorum"); vgl. auch F. Schaffstein, Wiedergutmachung S. 19. 357 Ch.G. Haubold, Lehrbuch I, S.483;/. Weiske, Wergeid, S. 108. 358 Ssp LandR II 34 § 1: „Wer eines mannes knecht slet, vehet adir roubit, nicht wen durch des herren schult, nach rechte sal her in beiden buze geben ...". 359 J. Weiske, Wergeid, S. 108f., Anm. 1. 360 Ssp LandR II 13 §5: „Wer einen man slet adir vehet [fängt],..., den sal man die houbete abeslan". 361 Vgl. die Nachweise aus der Rspr. des 16. Jahrhunderts bei: G. Emminghaus, Pandekten, S.605. 362 Ssp LandR III 45 § 1: „Den schephenbaren luten gibit man drisig Schillinge phundischer phenninge zu buze". 363 J. Weiske, Wergeid, S.llOf. 364 Ch.G. Haubold, Lehrbuch I, S.484.
II. Das Zeitalter des Usus
modernus
99
ausdrücklich bestätigte 3 6 5 , blieb es hierbei im sächsischen Rechtskreis bis zur Integrierung des Anspruchs in die gegenüber dem älteren Recht erweiterte Schmerzensgeldklausel des B G B . Wie die sächsischen Bußen allgemein, sollte die Sachsenbuße dem Opfer auch einer Freiheitsberaubung sowohl Entschädigung für etwaige erlittene Nichtvermögensschäden als auch Genugtuung verschaffen. Schon die pauschale Höhe der Einheitsbuße, die keine Anpassung nach opferorientierten Kriterien zuließ, belegt jedoch, dass dies nicht ihr alleiniges Ziel war, sondern sie daneben auch pönale Ziele verfolgte 3 6 6 .
5. Naturrechtliche Einflüsse In größerem Umfang zeigten sich die naturrechtlichen Einflüsse auf das im deutschen Rechtskreis geltende Delikts- und Schadensersatzrecht erst in den Kodifikationen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Die Weichen hierfür wurden jedoch bereits deutlich früher gestellt, indem schon die frühen Naturrechtler wie etwa Hugo Grotius 3 6 7 an die Arbeiten der spanischen Spätscholastiker zur Restitutionslehre 3 6 8 anknüpften und die dort entwickelten Gedanken fortführten 3 6 9 . Für die Rechtsnatur der deliktischen Ansprüche erwiesen sich dabei neben der Durchsetzung des Verschuldensprinzips auch im Privatrecht („Mera infortunia nec poenam merentur, nec ad restitutionem damni obligant" - „Reines Unglück verdient keine Strafe und verpflichtet nicht zum Ersatz des Schadens" 3 7 0 ) 3 7 1 und der Trennung von Rechtswidrigkeit und Schuld 3 7 2 langfristig vor allem zwei Gedanken als wegweisend: Zum einen begünstigte die Herausbildung einer schadensersatzrechtlichen Generalklausel („neminem laede - damnum datum resarci" 3 7 3 ) die dem römischen Recht §1497 sächs. B G B . So im Ergebnis auch K.-F. Deutler, Schmerzensgeld, S.31. 3 6 7 Hugo Grotius (1583-1645), zu Leben und Werk vgl. G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S. 176ff.; R. Feenstra, Grotius, in: M. Stolleis, Juristen, S.257ff. Zu seiner Beeinflussung durch die Spätscholastiker vgl. H. Thieme, Privatrecht, S.262ff.; R. Voppel, Einfluß, S. 78ff.; R. Feenstra, Deliktsrecht, S.441; W. Frhr. Raitz v. Frentz, Lex Aquilia, S. 85ff.; W. Fikentscher, De fide et perfidia, S. 15ff., 75 ff. 365 366
Zu dieser im Einzelnen oben, B.II.l. b). Vgl. hierzu R. Feenstra, Deliktsrecht, S. 429ff.; U. Wolter, Prinzip, S. 60ff.; B. Winiger, responsabilité II, S. 106ff.; allgemeiner zu den naturrechtlichen Einflüssen auf das Privatrecht des 17./18. Jahrhunderts: H. Thieme, Privatrecht, S.230ff. (zur Restitutionslehre S.247ff.); K. Luig, Einfluß, S.38ff. 3 7 0 Zitat nach: H. Grotius, De ivre belli ac pacis, lib. III, cap. X I , § IV,8; Übersetzung hier nach: W. Schätzet, Drei Bücher, S.506; vgl. hierzu: H.-P. Benöhr, Schadensersatzpflicht, S. 21 Off. 371 Vgl. die zahlreichen Nachweise zu den einzelnen naturrechtlichen Autoren bei H.-P. Benöhr, Schadensersatzpflicht, S.209ff. 3 7 2 So besonders deutlich Ch. Thomasius, Institutionum, lib. I, cap. I, § 152. 3 7 3 So z.B. Ch. Thomasius, Institutionum, lib. II, cap. V, §§ 1,15; zu diesem Grundprinzip des naturrechtlichen Deliktsrechtssystems vgl. statt aller: W. Ogris, Unerlaubte Handlung, Sp. 461 ; ders., 368
369
100
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland
vor dem
BGB
fremde gleichberechtigte Anerkennung sämtlicher Vermögens- und Nichtvermögensschäden als Grundlage eines Schadensersatzanspruchs. Dies führte zwar im Hinblick auf Vermögensschäden k a u m zu einer Ausweitung des Haftungsumfangs, da die gemeinrechtliche Rechtsprechung zeitgleich ohnehin im Begriff war, den Anwendungsbereich der aquilischen Haftung auf Vermögensschäden jeglicher Art auszudehnen 3 7 4 . Insofern konnten die naturrechtlichen Lehren daher allenfalls bei Einzelfragen, wie etwa bei der Durchsetzung der Schadensersatzansprüche der Angehörigen eines Getöteten 3 7 5 , den unabhängig von ihnen begonnenen Prozess beschleunigen und Rechtsprechung wie Rechtswissenschaft mit wertvollen Argumentationshilfen versorgen. Entscheidende Bedeutung k a m dieser Entwicklung jedoch für die Regelung der Rechtsfolgen von Nichtvermögensschäden zu: Bereits vor der schier grenzenlosen Ausweitung und Verallgemeinerung der Zahl der durch die schadensrechtliche Generalklausel geschützen Rechtsgüter durch Christian Wolff 3 7 6 befürworteten die Vertreter des Naturrechts bei Körperverletzungen durchweg auch einen Anspruch auf Schmerzensgeld. Allenfalls w u r d e dieser mit der auf Soto zurückgehenden - an den späteren § 8 4 7 I 2 B G B a.F. und seine Vorläufer erinnernden Einschränkung verbunden, nicht wie der auf Schadensersatz für Vermögensschäden gerichtete Anspruch ohne weiteres zu entstehen, sondern erst durch seine Geltendmachung durch denGeschädigten: „De s m e r t . . . hoewel eighentlick niet en zijn vergoedelick, werden op geld geschat, soo wanneer sulcks versocbt werd" (Grotius) 3 7 7 . Aber auch Anzeichen für die Befürwortung einer Geldentschädigung für Ehrkränkungen sind den Naturrechtslehren nicht fremd: So unterschied etwa Grotius, anders als die frühen Naturrechtler w i e Althusius 3 7 8 , die es bei Ehrkränkungen noch bei der actio iniuriarum hatten bewenden lassen wollen 3 7 9 , deutlich zwischen der Bestrafung des Schädigers und dem Ausgleich des dem Opfer entstandenen Schadens 380 , der in erster Linie durch die Abgabe von Ehrenerklärungen herbeigeführt werden sollte. Auf Wunsch des Verletzten müsse diesem aber stattdessen auch eine S c h a d e n s e r s a t z , Sp. 1337; G. Schiemann, Schadensrecht, S.262f.; ders., Schädigungsverbot, S. 345ff.; U. Wolter, Prinzip, S.61ff.; H. Hattenhauer, Grundbegriffe, S. 114f. 374 Zur U b e r e i n s t i m m u n g der naturrechtlichen Lehren mit dem U s u s modernus (bei gleichzeitiger A b w e i c h u n g beider vom römischen Recht) vgl. nur Ch. Thomasius, Larva, § 47 (Disputation von G.M. Arend unter dem Vorsitz von C h . Thomasius); ebenso auch ausdrücklich: IV 16 § 6 C M B C . 375 H i e r z u e t w a H. Grotius, De iure belli ac pacis, Hb. II, cap. XVII, § 13; weitere Nachweise bei: R. Feenstra, Deliktsrecht, S.437f., 442ff.; E. Rabbie, Grotius, S. 109ff. 376 Vgl. nur e t w a die Auflistung in: Ch. Wolff, Jus Naturae, 1. Buch, 2. Kapitel. Zur Person C h r i stian W o l f i s (1679-1754) vgl. G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S. 446ff.; T. Repgen, Wolff, in: M. Stolleis, Juristen, S. 656ff.; R. Voppel, Einfluß, S. 189ff. 377 H. Grotius, Inieidinge, III, XXXIV, 2, dessen generelle A n e r k e n n u n g eines Schmerzensgeldes w o h l v.a. auf die einheimische Gerichtspraxis zurückgeführt werden kann, während die Kopplung des Anspruchs an ein „Verlangen" des Verletzten auf dem Einfluss der Moraltheologen (insbesondere von Soto) beruht, vgl. R. Feenstra, Deliktsrecht, S. 451 ff. 378 Johannes Althusius (1557-1638), zu Leben und W e r k vgl. G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S. 19ff.; U. Speck, Althusius, in: M. Stolleis, Juristen, S. 31 ff. 379 Nachweise hierfür bei: M. Herrmann, Schutz, S.32. 380 Vgl. etwa: H. Grotius, Inieidinge, III, X X X I I , 7: „Uit een misdaed kan ontstaan tweederlei verbintenisse: de eene tot straf: de andere tot weder-gheving van de onevenheid".
II. Das Zeitalter
des Usus
modernus
101
Entschädigung für die erlittene Ehrenkränkung in Geld zugebilligt werden, da Geld nun einmal das Maß aller Dinge sei („quia pecunia communis est rerum utilium mensura") 381 . Damit war der Grundstein für künftige Versuche gelegt, die traditionelle Privatstrafenklage des römischen und die pönale Geldentschädigung des älteren deutschen Rechts für die Opfer von Ehrverletzungen in einen Unterfall des Schadensersatzes umzudeuten. Zum anderen begünstigten die Grundprinzipien des naturrechtlichen Schadensersatzrechtssystems aber auch unabhängig vom Umfang des zu ersetzenden Schadens in verschiedener Hinsicht eine Entpönalisierung des Deliktsrechts: So trug etwa die verstärkte Berücksichtigung deutschrechtlicher Rechtsinstitute, sofern diese mit naturrechtlichen Gedanken vereinbar waren, maßgeblich zur Lösung des gemeinen Rechts von überkommenen oder aus sonstigen Gründen für die deutschen Rechtsverhältnisse unpassenden römischrechtlichen Regelungen bei. Davon waren im Bereich des Deliktsrechts gerade auch die pönalen Elemente der aquilischen Haftung betroffen 382 . Im Gegensatz zu Grotius, der auch im Hinblick auf das Deliktsrecht im römischen Recht des Corpus iuris noch den vollendeten Ausdruck naturrechtlicher Erkenntnisse und Wertungen sah 383 , trat dieser Ansatz bei Christian Thomasius 384 besonders deutlich hervor 385 . Dies ging soweit, dass Thomasius für den deutschen Rechtskreis sogar die Rezeption der aquilischen Haftung leugnete: Die in Deutschland von den Gerichten angewandte Schadensersatzklage entspräche der des Naturrechts. Mit der römischrechtlichen actio legis Aquiliae habe sie lediglich den Namen gemein, sie ähnele ihr, wie ein Vogel einem Vierfüßler („quam avis a quadrupede") 3 8 6 . Aber auch der Vorrang, den zumindest die späteren Vertreter des Naturrechts im Gegensatz zum römischen Recht der Naturalrestitution vor der Geldentschädigung einräumten 387 , verstärkte die Entpönalisierung des Deliktsrechts, da die Beschränkung des Anspruchs des Geschädigten auf die Wiederherstellung des Zustands vor Eintritt der schädigenden Handlung für pönale Aufschläge von vornherein keinen Raum ließ.
381 Zitat nach: H. Grotius, De ivre belli ac pacis, üb. II, cap. XVII, § XXII. Ähnlich auch schon D. Soto, De Justitia et Jure, lib. 4 q. 6 p. 353 (hier zit. nach H. Thieme, Privatrecht, S. 148): „Cum pecunia pretium sit omnium rerum, illa aestimatur et honor et fama. Et ideo per illam aut per aliud pecunia aestimabile facienda est horum restitutio" - Weil das Geld den Wert aller Dinge bestimmt, werden danach [auch] Ehre und Ruhm geschätzt. Und deshalb muss die Wiedergutmachung für beide [auch] in Geld oder etwas Geldwertem geleistet werden. Zum Einfluss Sotos auf Grotius: R. Feenstra, Deliktsrecht, S.431, 437ff. 382 Zu deren Abbau in gemeinrechtlicher Zeit oben, B.II.2. 383 Nachweise hierzu bei: H.-P. Benöhr, Schadensersatzpflicht, S.218ff. 384 Christian Thomasius (1655-1728), zu Leben und Werk vgl. G. Kleinbeyer/J. Schröder, Juristen, S. 424ff.; K. Luig, Thomasius, in: M. Stolleis, Juristen, S. 613f.; K. H. Dries, Die Rechtslehre des Thomasius (1963). 385 Vgl. die Nachweise bei R. Voppel, Einfluß, S.205ff.; B. Winiger, responsabilité, S. 136ff. 386 Ch. Thomasius, Larva, § 1 (Disputation von G. M. Arend unter dem Vorsitz von Ch. Thomasius). 387 Nachweise hierfür bei: U. Wolter, Prinzip, S.63ff.
102
B. Die Grenze zwischen
Privat-
und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
Dennoch lassen sich den Deliktsrechtssystemen der späteren Naturrechtler aber auch Denkansätze entnehmen, die dessen pönaler Ausgestaltung eher Vorschub leisteten als ihr entgegenzuwirken. Neben der Betonung der Abschreckungsfunktion des Deliktsrechts 388 gilt dies in besonderem Maße für die Differenzierung zwischen fahrlässig und vorsätzlich handelnden Schädigern bei Samuel v. Pufendorf 389 : „Wer ohne Vorsatz einen Schaden verursacht hat, muß aus freien Stücken Schadensersatz anbieten ... Wer aber böswillig Schaden verursacht hat, der muß nicht nur von sich aus Schadensersatz anbieten, sondern auch Reue zeigen und um Vergebung bitten" 390 . Zwar ist es von dieser Überlegung bis zu den nach dem Verschuldensgrad abgestuften Haftungssystemen des ALR oder ABGB 391 noch ein weiter Weg, doch die Unterscheidung zwischen der ,,eigentliche[n] Schadloshaltung", zu der der fahrlässig handelnde Schädiger nach § 1323 ABGB verpflichtet ist, und der ,,volle[n] Genugtuung", die der grob schuldhaft handelnde Schädiger schuldet, klingt doch schon unverkennbar an. Insgesamt ähnelte der Einfluss der naturrechtlichen Lehren auf das gemeinrechtliche Deliktsrechts somit stark dem des kanonischen Rechts 392 : Einerseits bestärkten beide den Verzicht auf Privatstrafen und begünstigten durch die Rückführung des Deliktsrechts auf ein bloßes Schadensausgleichsrecht seine Entpönalisierung. Andererseits trug die Anerkennung einer Pflicht zum Ausgleich immaterieller Schäden, zumal wenn dies auch eine Geldentschädigung für solche Persönlichkeitsrechtsverletzungen einschloss, bei denen es regelmäßig an einem (nachweisbaren) Schaden fehlt, zugleich den Keim einer Pönalisierung dieses Schadensausgleichsrechts in sich: Eine Rechtsfolge zu konstruieren, die in derartigen Fällen dem Verletzten Genugtuung verschafft, ohne den Verletzer zu bestrafen, indem er zu einer Leistung an den Verletzten verpflichtet wird, für den bei diesem kein korrespondierender Schaden belegbar ist, gelang dem Naturrecht der gemeinrechtlichen Zeit so wenig wie dem Deliktsrecht der Gegenwart.
388
Vgl. hierfür die Nachweise bei: U. Wolter, Prinzip, S. 62ff. Vgl. zu Leben u n d Werk von Samuel Pufendorf (1632-1694): G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S. 335ff.; K. Luig, P u f e n d o r f , in: M. Stolleis, Juristen, S. 506f.; I. Eben, P u f e n d o r f , S. 89. 390 S. v. Pufendorf, Ü b e r die Pflicht des Menschen, 1. Buch, 6. Kapitel, § 13. 391 D a z u unten, B.III.2. u n d 4. 392 Zu diesen oben, B.II.l b). 389
III. Die Gesetzgebung in den deutschen Partikularstaaten 1. Der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis D e r von v. Kreittmayr 1 abgefasste C o d e x Maximilianeus Bavaricus Civilis ( C M B C ) von 1756 bildet in der deutschen Rechtsgeschichte die Schnittstelle zwischen dem gemeinen Recht und den modernen Zivilrechtskodifikationen 2 : Zwar galt in Bayern das römische Recht fortan nur noch subsidiär, „nach Thunlichkeit in schicklichen und applicabeln D i n g e n " . Auch hatte selbst dann der Richter im C o r p u s iuris nicht mehr ein „Evangelien-Buch" zu sehen, sondern es war der „castrirte und gemäßigte gute G e b r a u c h " davon zu machen, der mit den Vorgaben des C o d e x in Einklang gebracht werden konnte 3 . J e d o c h bildete auch das Naturrecht noch nicht die Grundlage für die Regelung konkreter einzelner Rechtsfragen. Vielmehr wurde sachlich nur „eine unreflektierte Ü b e r n a h m e zeitgenössischer naturrechtlicher Gemeinplätze" geboten 4 , entsprach der C M B C letztlich doch eher einer Zusammenstellung des gemeinen Rechts „aus der H a n d eines im juristischen Urteil taktfesten Praktikers" 5 . Diese generelle Ausrichtung des C M B C spiegelte sich auch in dessen Bestimmungen zum Grenzbereich zwischen Zivil- und Strafrecht unverkennbar wider. So entsprechen die Vorschriften des C M B C zum Schadensersatzrecht (IV. Teil, 16. K a pitel) und zur privatrechtlichen Verfolgung von Injurien (IV. Teil, 17. Kapitel) weitgehend dem Gerichtsgebrauch, der sich im späten Usus modernus in Deutschland hierfür herausgebildet hatte. Immerhin gelang es dem C M B C jedoch, die sich aus den nach wie vor gerade auf diesem Gebiet noch bestehenden Diskrepanzen zwischen
gemeinrechtlicher
Rechtswissenschaft
und
Rechtsprechung
ergebende
Rechtsunsicherheit durch eine klare Entscheidung zu Gunsten der Praxis zu beseitigen. Soweit dazu ein allzu offensichtlicher B r u c h mit den römischrechtlichen Quellen erforderlich war, wurde zu dessen Rechtfertigung neben dem ständigen Gerichtsgebrauch, dem „Jus c o m m u n e m o d e r n u m " 6 , verschiedentlich auch das 1 Zu Wiguläus Xaverius Aloysius v. Kreittmayr (1705-1790) vgl. nur: G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S.234ff.; M. Stolleis, Kreittmayr, in: ders., Juristen, S.361. 2 Vgl. statt aller: F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S.326f.; H. Schlosser, Grundzüge, S. 113ff.; I. Ebert, Entwicklung, S.361. 3 Zitate nach: W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen I 2, § IX, nota 20. 4 H. Schlosser, Grundzüge, S. 98. 5 Zitat nach: F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 327. Zum Verhältnis zwischen CMBC und gemeinem Recht: S. Gagnér, Wissenschaft, S.73ff., mit zahlreichen Nachweisen aus der Literatur des 19. Jahrhunderts. 6 So z.B. W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 16, § VI, nota 1.
104
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
Naturrecht oder die „natürliche Billigkeit" als unterstützendes Argument herangezogen 7 .
a) Die Trennung von Privat- und Strafrecht Im Einklang mit dem sich in absolutistischer Zeit allgemein durchsetzenden Staatsverständnis richtete sich nach dem C M B C jede Straftat vorrangig gegen die O b r i g keit, deren Gesetze verletzt wurden, daneben aber auch gegen das unmittelbare O p fer der Tat: „Wer ein Verbrechen begehet, der verbindet sich dadurch stillschweigend, und ipso Facto nicht nur gegen die Obrigkeit, sondern auch gegen den beschädigten Theil zur gebührender Satisfaction" 8 . Folgerichtig konnten aus einem Delikt zwei voneinander völlig unabhängige Verfahren erwachsen, von denen das eine auf die öffentliche Bestrafung, das andere auf die Restitution des dem O p f e r durch die Tat Entzogenen gerichtet war. Zu den Konsequenzen dieser im C M B C immer wieder betonten Selbständigkeit beider Deliktsfolgen gehörte die unterschiedliche R e gelung ihrer Vererblichkeit 9 und Verjährung 1 0 sowie die kumulative Zulässigkeit beider Klagen („Actio poenalis und persecutoria zwey unterschiedliche Actiones seynd, und jede ihren besonderen Z w e c k hat, mithin auch die eine durch die andere nicht aufgehoben wird") 1 1 . Aus ihr folgte aber auch, dass der spätere Wegfall des privatrechtlichen Anspruchs des Opfers 1 2 oder ein Vergleich zwischen den Parteien 1 3 die Strafbarkeit des Täters unberührt ließ. Andererseits mussten, wohl vorrangig aus prozessökonomischen Gründen, beide Klagen bei demselben Gericht erhoben und beide Verfahren nach Möglichkeit auch gemeinsam entschieden werden 1 4 . Hinsichtlich der öffentlichen Strafen wurde zwischen den (meist peinlichen) Kriminalstrafen und den sog. bürgerlichen oder Zivilstrafen unterschieden 1 5 . A u c h letztere kamen aber, sofern es sich um eine Geldstrafe handelte, allein dem Staat zu Gute 1 6 . Die Ansprüche des Opfers eines Delikts bezeichnete das C M B C alle als zu7 Vgl. z.B. C M B C , IV. Teil, 16. Kapitel, §6; W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen I V 1 6 § VI, nota 5 und 7. 8 CMBC, IV. Teil, 16. Kapitel, §2. 9 Schadensersatzansprüche konnten unabhängig von deren Bereicherung auch gegen die Erben des Täters geltend gemacht werden: C M B C , IV. Teil, 16. Kapitel, § 4 (7.); Strafklagen dagegen nur bei einer Bereicherung oder Anhängigkeit der Klage zum Zeitpunkt des Todes des Täters: C M B C , Tei1IV, Kapitel 17, § 10 i.V.m. W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 16, § I.II.III.IV, nota 5 (i). 10 Schadensersatzansprüche verjährten nach 30 Jahren: C M B C , IV. Teil, 16. Kapitel, §4 (6.); leichtere (d.h. nicht mit der Todesstrafe bedrohte) Straftaten nach 5 Jahren: CMBC, IV. Teil, 16. Kapitel, §3(15.). 11 Zitat nach CMBC, IV. Teil, Kap. 16, §4 (1.); vgl. auch ebenda, (7.). 12 Z.B. auf Grund von Vergebung oder Retorsion, vgl. CMBC, IV. Teil, Kapitel 17, §§ 12, 18. 13 Anders nur, wenn auch die Obrigkeit an diesem Vergleich beteiligt war: W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 16, § I.II.III.IV, nota 10 (b), „denn so wenig diese letztere per remissionem poenae vel satisfactionis publicae dem beleidigten Theil an der ihn zugehenden poena vel satisfactione privata etwas benehmen kann, so wenig geht solches vice versa". 14 CMBC, IV. Teil, Kap. 16, §4 (2.). 15 Vgl. C M B C , IV. Teil, Kapitel 16, § 1. 16 W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 16, § I.II.III.IV, nota 4 (d) und 9.
III. Die Gesetzgebung in den deutschen
Partikularstaaten
105
mindest überwiegend reipersekutorisch, auch wenn die dafür zu erhebenden Klagen im römischen Recht eindeutig pönaler N a t u r waren, wie etwa die actio iniuriarum. I m Gegensatz zur Injurienklage waren die der pönalen actio furti nachgebildeten Klagearten gegen D i e b e und Räuber des C M B C 1 7 allerdings wegen der Ahndung dieser Delikte mit einer Kriminalstrafe und des allgemeinen Doppelbestrafungsverbots auch tatsächlich in reine, vollständig entpönalisierte Schadensersatzklagen u m gewandelt worden, nach denen in erster Linie Naturalrestitution verlangt werden konnte 1 8 . b) Das
Schadensersatzrecht
Wer durch das rechtswidrige 1 9 , schuldhafte 2 0 Handeln eines anderen einen Vermögensschaden erlitten hatte, konnte dafür nach dem C M B C Schadensersatz verlangen 2 1 . Abgesehen von einigen Spezialklagen 2 2 , wie etwa entpönalisierten Varianten der actio furti bzw. vi b o n o r u m raptorum bei Schädigungen, die auf einem Diebstahl oder R a u b beruhten 2 3 , stand hierfür eine Schadensersatzklage zur Verfügung, die weitgehend der actio legis Aquiliae in der F o r m entsprach, die diese durch den gemeinrechtlichen Gerichtsgebrauch angenommen hatte 2 4 . Wie v. Kreittmayr zutreffend betonte, glich das Haftungsrecht des C M B C damit weitaus stärker der naturrechtlichen Generalklausel für den Ersatz deliktisch verursachter Schäden 2 5 , als der actio legis Aquiliae des römischen Rechts 2 6 . Dies galt nicht nur für den Anwendungsbereich, der „ohne Unterschied der Sachen, oder Art und Weis, wie der Schaden geschehen i s t " 2 7 sowie ohne eine Differenzierung zwischen den einzelnen Klageformen der actio legis Aquiliae (directum, utilis, in factum) 2 8 Vermögensschäden jeglicher Art umfasste. Vielmehr betraf die v o m C M B C angestrebte Beseitigung der ,,unnöthige[n] Subtilitäten" 2 9 der aquilischen Zu diesen: CMBC, IV. Teil, Kap. 16, §5. Folgerichtig daher die Begründung in CMBC, IV. Teil, Kap. 16, §5: „nachdem aber diese Verbrechen heut zu Tag criminaliter bestraft werden, annebens die Poena dupli vel quadrupli obverstandenermaßen nicht mehr üblich ist, so bleibt in Puncto Damnorum, Satisfactionis, aut Restitutionis für jetztermelte Actiones nichts anderes übrig, als was schon ... von der Actione persecutoria überhaupt angeführt worden". Ein generelles Verbot der Vervielfachung des Sachwerts als Strafaufschlag sah auch CMBC, IV. Teil, Kapitel 16, §3 (6.), vor. 19 W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 16, § VI, nota 2 (3.). 2 0 Weshalb gem. CMBC, Teil IV, Kapitel 16, §6 (8.), gegen „Kinder und Unsinnige" keine Schadensersatzansprüche bestanden, da diese „aus Mangel des Verstands und freyen Willens weder Doli noch Culpae fähig seynd". 21 Vgl. C M B C , Teil IV, Kapitel 16, §§4, 6. 22 C M B C , Teil IV, Kapitel 16, §§7ff. 2 3 C M B C , Teil IV, Kapitel 16, §5. 24 C M B C , Teil IV, Kapitel 16, §6. 2 5 Zu dieser oben, B.II.5. 26 C M B C , Teil IV, Kapitel 16, §6 (2.). 2 7 Zitat nach: CMBC, Teil IV, Kapitel 16, §6 (3.). 28 W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 16, § VI, nota 3. 2 9 CMBC, Teil IV, Kapitel 16, §6 (2.). 17
18
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
Haftung des römischen Rechts gerade auch deren pönale Elemente: So war nach dem C M B C die H ö h e des Schadens ohne irgendeine Rückrechnung grundsätzlich 3 0 allein nach dem Wert der beschädigten Sache zum Zeitpunkt der Schädigung zu ermitteln 3 1 , wobei der Naturalrestitution Vorrang vor dem Ersatz des Sachwerts zukam 3 2 . D i e Klage war aktiv wie passiv und unabhängig von ihrer Anhängigkeit zum Todeszeitpunkt oder einer Bereicherung der Erben des Täters durch die Tat vererbbar 3 3 . Mehrere Täter hafteten gemeinschaftlich (in solidum), nicht kumulativ 3 4 . Hinsichtlich des Haftungsumfangs wurde nicht zwischen verschiedenen Verschuldensgraden unterschieden 3 5 . Eine wie auch immer geartete Bestrafung des Täters durch die Obrigkeit hatte auf den Schadensersatzanspruch des Verletzten keinerlei Einfluss 3 6 . Bei der aquilischen Haftung des C M B C handelte es sich also um eine vollständig entpönalisierte Generalklausel („Remedium generale" 3 7 ) zur Geltendmachung aller Arten von Vermögensschäden. O b w o h l mit dem „damnum" in dem den Wesenskern der aquilischen Haftung bildenden „damnum iniuria datum" laut v. Kreittmayr nur der Verlust gemeint war, „welcher uns an unsern Vermögen durch fremdes Verschulden ungerechter Weise zugefügt wird" 3 8 , umfasste der Schadensersatzanspruch des C M B C bei Körperverletzungen neben dem Ersatz der Heilbehandlungskosten 3 9 auch die Zahlung eines Schmerzensgeldes und einer Entschädigung für Verunstaltungen 4 0 .
Außerdem
folgte aus ihm auch die Pflicht des Stuprators zur Dotierung und Alimentierung der Frau, sofern es ohne deren Verschulden nicht zur Eheschließung kam 4 1 . Zur Begründung für die Gewährung dieser Ansprüche berief sich v. Kreittmayr zum einen darauf, dass derartige Schäden „zwar nicht J u r e romano, wohl aber naturali, canonico et germanico geschätzt" würden, zum anderen verwies er, wie in der gemeinrechtlichen Literatur üblich, auf die durch die Veranstaltung verminderten Heiratsaussichten unverheirateter Frauen 4 2 . Hingegen fehlt jeder Hinweis auf eine besondere Bedeutung der Genugtuungsfunktion, der Vermögensverhältnisse des Täters, der Schwere seines Verschuldens oder ähnlicher potentiell pönaler Aspekte für das Bestehen oder den U m f a n g dieser Ansprüche. E s kann daher davon ausgegangen werden, dass v. 30 Eine Ausnahme war nur bei der Beschädigung noch nicht reifer Früchte vorgesehen: CMBC, Teil IV, Kapitel 16, §6 (9.). 31 CMBC, Teil IV, Kapitel 16, §4 (3.); W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 16, § VI, nota 6. 32 CMBC, Teil IV, Kapitel 16, §2. 33 CMBC, Teil IV, Kapitel 16, §4 (7.); W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 16, § I.II.III.IV, nota 11 (f). 34 CMBC, Teil IV, Kapitel 16, §4 (5.); W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 16, § VI, nota 5. 35 CMBC, Teil IV, Kapitel 16, §6 (7.); W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 16, § VI, nota 2. 36 CMBC, Teil IV, Kapitel 16, §4 (7.); W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 16, § I.II.III.IV, nota 11 (f). 37 So W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 16, § VI, nota 9. 38 W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 16, § VI, nota 1. 39 CMBC, Teil IV, Kapitel 16, §6 (4.). 40 W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 16, § VI, nota 7. 41 CMBC, Teil IV, Kapitel 16, §6 (6.); W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 16, § VI, nota 8. 42 W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 16, § VI, nota 7.
III. Die Gesetzgebung
in den deutschen
Partikularstaaten
107
Kreittmayr diese Entschädigungspflichten im Einklang mit der gemeinrechtlichen Rechtsprechung lediglich als Berechnungsfaktoren im Rahmen der reipersekutorischen actio legis Aquiliae verstanden wissen wollte, es ihnen also an jeglichen pönalen Elementen fehlte. c) Die privatrechtlichen
Folgen von
Injurien
Auch die Behandlung von Injurien durch das C M B C entsprach fast vollständig der gemeinrechtlichen Rechtsprechung. Anders als z.B. Sachsen und Preußen schon Jahrzehnte zuvor 43 , nutzte Bayern die Kodifikation nicht etwa zur Beseitigung der Injurienklage, sondern bestätigte und regelte diese vielmehr umfassend in einem eigenen Kapitel (IV. Teil, Kapitel 17: „Von der Schmach"). Neben der in der Regel niedergerichtlichen staatlichen Strafverfolgung 44 stand dem Opfer einer Injurie daher nach seiner Wahl kumulativ oder alternativ die ästimatorische, auf Geld zielende Injurienklage sowie die Klage auf Widerruf, Abbitte oder Ehrenerklärung zu. Daneben blieben Ansprüche des Injurierten auf Grund der aquilischen Haftung, etwa auf Ersatz eines durch die Injurie herbeigeführten Vermögensschadens, von der Erhebung der Injurienklage unberührt 45 . Als Korrektiv zur Vermeidung eines Missbrauchs der Injurienklage diente lediglich die Befugnis des Richters, bei leichteren Injurien das Verfahren auch gegen den Willen beider Seiten zu beenden 46 . Zudem konnte der Landesherr bei allen Injurienprozessen, jedoch „sonderbar bey denen von Adel oder nahen Anverwandten", das Verfahren durch Machtspruch niederschlagen, womit wohl vor allem die öffentliche Austragung politisch brisanter Streitigkeiten vermieden werden sollte 47 . In Anbetracht der Mitte des 18. Jahrhunderts bereits weit verbreiteten Kritik an der actio iniuriarum, sah sich v. Kreittmayr insbesondere wegen der Beibehaltung der ästimatorischen Injurienklage im C M B C aber offenbar doch schon unter Rechtfertigungsdruck: So erkannte er zwar an, dass eine wirkliche Ehrverletzung durch eine Injurie gar nicht möglich sei, da zumindest „bey gescheiden und vernünftigen Leuten" das Ansehen eines Menschen nur durch dessen eigenes Verschulden, nicht jedoch durch bloße Verleumdung gemindert werden könne. Da er seine Mitmenschen jedoch realistisch dahin einschätzte, dass „die wenigsten Leute [so] philosophisch denken", hielt er auch den letztlich untauglichen Angriff auf die Ehre bereits für verfolgungsbedürftig 48 . Dies wohl vor allem wegen der Furcht aller Gesetzgeber seiner Zeit vor der Ausbreitung von Duellen und anderen Formen der Selbstjustiz, deren Existenz v. Kreittmayr nicht zu bestreiten vermochte, obwohl sie, wie er ausführlich darlegte, „längstens abgeschafft" und nicht „mehr im geringsten erlaubt" 43 44 45 46 47 48
Hierzu oben, B.II.3. a) dd). Zu dieser vgl. W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, § V, nota 2. CMBC, Teil IV, Kapitel 17, §5. CMBC, Teil IV, Kapitel 17, § 17. CMBC, Teil IV, Kapitel 17, § 16. W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, § I.II, nota 1.
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
seien 49 . Auch die von der älteren Literatur verschiedentlich geltend gemachte U n vereinbarkeit der Injurienklage mit dem Christentum lehnte v. Kreittmayr ausdrücklich ab, da diese ja nicht aus bloßer Rachgier erhoben werden müsse, sondern auch bezwecken könne, „sich und andern Friede, Ruhe und Sicherheit dadurch zu verschaffen", weswegen sie zu den christlichen Zielen nicht zwangsläufig in Widerspruch stehe 50 . Umso erstaunlicher mutet nach dieser Verteidigung der Injurienklage die Behauptung v. Kreittmayrs an, ,,[u]nsere Voreltern schätzten ihren point d'honneur allzu hoch, als daß sie solchen schlechterdings zu Geld anschlagen ließen". Sie hätten daher anders als die Römer bei einem Injurienverfahren nicht den Beklagten, sondern den Kläger für unehrlich gehalten. N o c h immer gelte deshalb „unter distinguirten und ansehnlichen Personen" die Erhebung der Injurienklage als nicht reputierlich 51 . Es ist kaum vorstellbar, dass diese mit der hohen Bedeutung der auf Geld gerichteten Klagen wegen Ehrkränkungen (Hohn und Schmachheit) schon im mittelalterlichen deutschen Recht 5 2 unvereinbare Aussage auf bloßer Unkenntnis v. Kreittmayrs beruhte. Als aus taktischen Gründen eingesetzte Lüge hätte sie seine Gesetzgebungsziele aber nur bei einer Beseitigung der Injurienklage unterstützt 5 3 , nicht jedoch bei deren Beibehaltung. Denkbar wäre daher, dass v. Kreittmayr selbst zu den Gegnern der Injurienklage gehörte und sich nur wegen ihrer Ubereinstimmung mit der Gerichtspraxis und dem Rechtsbewusstsein der Bevölkerung oder wegen des übergeordneten Ziels der Vermeidung von Selbstjustiz zu ihrer Beibehaltung genötigt sah 54 . Möglicherweise handelte es sich bei diesem Appell an das Ehrgefühl der Bevölkerung aber auch um einen Versuch, von der Erhebung der Injurienklage abzuschrecken, um die Zahl derartiger Verfahren zu beschränken, oder die Gegner der Injurienklage sollten durch die Bestätigung ihrer moralischen Überlegenheit mit dem Verzicht auf ihre Abschaffung versöhnt werden. Materiell verstand der C M B C unter Injurie oder Schmach jedes schuldhaft begangene 55 „Verbrechen, wodurch man Jemand an Ehr und guten Leumuth gefliessener Weis angreift" 5 6 . Zentraler Bedeutung kam daher dem Beleidigungsvorsatz zu: „Das Hauptstück, ohne welchem keine Injurie begangen werden mag, bestehet in der A b sicht und Intention Jemand zu beschimpfen, (Animo injuriandi)" 5 7 . Dabei wurde allerdings der Ehrbegriff, wie schon im gemeinen Recht, sehr weit ausgelegt. Es zählVgl. W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, § X V I I I , nota 2. W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, § V, nota 1. 51 W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, § VI, nota 1 (k). 52 Beispiele hierfür oben, B.I.3.b) und d). 53 Ahnlich daher die Argumentation der Gegner der Injurienklage anlässlich ihrer Beseitigung in Baden, vgl. unten, B.III.3.b). 54 Für eine solche ablehnende Haltung könnte die Feststellung v. Kreittmayrs sprechen, mit dieser sei „ohnehin nicht viel zu gewinnen", weshalb man die Verfolgung von Injurien besser der O b rigkeit überlasse: W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, § V, nota 1 (g). 55 C M B C , Teil IV, Kapitel 17, §3 (1.); W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, § III, nota l f . 5 6 C M B C , Teil IV, Kapitel 17, § 1. 5 7 C M B C , Teil IV, Kapitel 17, §4 (vor 1.). 49 50
III.
Die Gesetzgebung
in den deutschen
Partikularstaaten
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ten daher nicht nur „Lästerungen", „Vorwürfe von ... verächtlichen Leibes- oder Gemüthsmängeln", Tiernamen, ungerechtfertigtes Duzen oder das Weglassen der Anrede bzw. des Titels sowie „schimpfliche Gemälde", Zeichen und Gebärden zu den möglichen Formen einer Injurie, sondern etwa auch jede mit entsprechendem Vorsatz vorgenommene Körperverletzung, Beschmutzung oder Bedrohung eines anderen, sexuelle Belästigungen, die vorsätzliche unrechtmäßige Verhängung von obrigkeitlichen Sanktionen sowie das Erzählen ,,grobe[r] Zotten in Gegenwart ehrbarer Personen" 5 8 . Die Wahrheit einer mit Beleidigungsvorsatz verbreiteten ehrenrührigen Behauptung schützte vor deren Ahndung als Injurie grundsätzlich nicht. Ausgenommen hiervon waren nur die Fälle, in denen jemand mit Beleidigungsvorsatz der zuständigen Behörde Anzeige von einem gegen das Leben gerichteten Verbrechen eines anderen erstattete 59 . Ein - offenbar praktisch höchst bedeutsames Sonderproblem bildeten Beleidigungen von der Kanzel 6 0 sowie durch Advokaten und Schriftsteller 61 . aa) Die actio iniuriarum aestimatoria Die weitgehende Ubereinstimmung des C M B C mit dem gemeinen Recht erstreckte sich auch auf die Ausgestaltung der ästimatorischen Injurienklage: Der Kläger musste beeiden, dass er „lieber solche Summam verlohren, als die ihm zugegangene Schmach erlitten haben wolte" 6 2 . Anschließend konnte der Richter erforderlichenfalls den eingeklagten Betrag herabsetzen 6 3 . Die Rechtsnatur der Injurienklage des C M B C unterschied sich nicht von der des gemeinen Rechts, war also klar pönal. Es blieb daher bei der vorrangigen Berücksichtigung des Vermögens des Injurianten bei der Bemessung der an den Injurierten zu zahlenden Summe 6 4 , bei der kumulativen Zulässigkeit von aquilischer Haftung und Injurienklage 6 5 , bei der Umwandlung der Zahlungspflicht in eine Körperstrafe, wenn der Täter nicht zahlungsfähig war 6 6 , bei der Beschränkung der passiven Vererblichkeit der noch nicht anhängigen Injurienklage auf Fälle der anhaltenden Bereicherung der Erben durch die Tat 6 7 und bei der grundsätzlich aus einer Verurteilung
58 Vgl. den Überblick über mögliche Arten der Injurie bei W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, §§ I, II, nota 2f. sowie in: C M B C , Teil IV, Kapitel 17, §2. 5 9 C M B C , Teil IV, Kapitel 17, §4 (3.). 60 W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, § IV, nota 3; vgl. dazu auch die Nachweise bei H. Coing, Privatrecht I, S. 514. 61 W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, § IV, nota 5. 62 C M B C , Teil IV, Kapitel 17, § 6 (1.). 63 C M B C , Teil IV, Kapitel 17, § 6 (2.). 6 4 C M B C , Teil IV, Kapitel 17, § 6 (3.); W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, § VI, nota 1 (i). 65 C M B C , Teil IV, Kapitel 17, § 5 (3.). 6 6 C M B C , Teil IV, Kapitel 17, §6 (3.): „Sofern Condemnatus nicht solvendo ist, wird er statt dessen durch Gefängnuß, oder sonst an der Haut gestraft". 6 7 C M B C , Teil IV, Kapitel 17, §10 i.V.m. W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 16, § I.II.III.IV, nota 5 (i).
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BGB
folgenden, wenn auch zumindest bei leichteren Injurien in der Regel durch Aufnahme einer Ehrvorbehaltsklausel vermiedenen Infamie des Injurianten 6 8 . bb) Widerruf, Abbitte und Ehrenerklärung Die praktische Ausgestaltung des Verfahrens bei einer Verurteilung zu Widerruf, Abbitte oder Ehrenerklärung entsprach weitgehend der im gemeinen Recht üblichen Form. D e r Widerruf hatte daher mündlich, persönlich und vor Gericht zu erfolgen 6 9 . Auch die besonders herabwürdigenden Begleitumstände (Kniefall 7 0 , Schlagen auf den eigenen Mund 7 1 , Ersatzvornahme durch Schergen oder Scharfrichter bei Verweigerung des Widerrufs 7 2 ) blieben teils grundsätzlich, teils zumindest in besonders schweren Fällen (Injurie gegen sozial höherstehende Personen) erhalten. Materiell unterschied sich der Anwendungsbereich von Widerruf, Abbitte und Ehrenerklärung nicht mehr wie zum Teil im älteren gemeinen Recht nach der Schwere der Injurie, sondern grundsätzlich nach deren Inhalt. Ein Widerruf war daher nur bei Verbalinjurien zu leisten, durch die der Injurierte einer „bösen T h a t " bezichtigt wurde. Im Übrigen war Abbitte zu leisten oder eine Ehrenerklärung abzugeben 7 3 . Mit der Abgabe einer Ehrenerklärung (statt des wegen der Begleitumstände unangenehmeren Widerrufs) hatte es aber auch sein Bewenden, wenn der Täter diese alsbald nach der Tat freiwillig abgab, ohne dazu verurteilt worden zu sein 74 . Außerdem konnte insbesondere bei „adelichen oder anderen ansehnlichen Personen" der Richter den eigentlich zu leistenden Widerruf in eine Verurteilung zur Abgabe einer Ehrenerklärung abmildern 75 . Dies hatte für den Verurteilten neben dem Wegfall der demütigenden Begleitumstände den zusätzlichen Vorteil, dass die Ehrenerklärung mit Zustimmung des Richters auch schriftlich abgefasst werden durfte 76 . Außer in besonders schweren Ausnahmefällen erfolgte allerdings auch die Verurteilung zum Widerruf unter Ehrvorbehalt 7 7 , hatte also keinen Ehrverlust (Infamie) zur Folge.
C M B C , Teil IV, Kapitel 17, §6 (4.). C M B C , Teil IV, Kapitel 17, § 7 (2.); W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, § VII, nota 1 (f), wobei die übliche Formel lautete: „Ich N . N . bekenne hiermit öffentlich, daß ich Cajo durch die von mir geschehene ehrenrührige Nachreden zuviel und Unrecht gethan habe, mithin auch solche revocire und demselben nichts anders, als was einem ehrlichen Mann wohl anstehet, nachzusagen weiß". 70 Nach W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, § VII, nota 1 (h), üblich wenn Eltern von ihren Kindern oder Obrigkeiten (Vorgesetzte) von ihren Untergebenen injuriert wurden. 71 Vgl. zu diesen und anderen Begleitumständen des Widerrufs: W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, § X . X I , nota 1 (b) und § VII, nota 1 (h). 72 C M B C , Teil IV, Kapitel 17, § 7 (3.). 73 C M B C , Teil IV, Kapitel 17, § 7 (1.). 74 C M B C , Teil IV, Kapitel 17, § 14 (2., 1. Fall). 75 C M B C , Teil IV, Kapitel 17, § 14 (2., 2. Fall). 76 C M B C , Teil IV, Kapitel 17, § 7 (2.); W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, § VII, nota 1 68
69
(g)-
77
C M B C , Teil4, Kapitel 17, § 7 (4.); W.X.A. v. Kreittmayr,
Anmerkungen IV 17, § VII, nota 1 (e).
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Die Gesetzgebung
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Partikularstaaten
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cc) Die Rechtsnatur der Rechtsbehelfe gegen Injurien nach dem C M B C Nach der Einteilung v. Kreittmayrs handelte es sich bei der ästimatorischen Injurienklage des C M B C jedenfalls auch, bei der Klage auf Widerruf, Abbitte und Ehrenerklärung sogar nur um eine reipersekutorische Klage 78 . Nach heutigem Verständnis wäre dagegen die ästimatorische Injurienklage als reine Privatstrafenklage zu bewerten, die allenfalls mittelbar einen Schadensausgleich herbeiführen konnte, indem die an den Verletzten zu zahlende Geldstrafe diesen auch für etwaige immaterielle Schäden entschädigte, die nicht im Rahmen der aquilischen Haftung geltend gemacht werden konnten. Ebenso kann die Widerrufsklage wegen ihrer eindeutig pönalen Begleitumstände kaum als reine Schadensersatzklage bewertet werden. Die Einstufung beider Klagen als reipersekutorisch ist daher wohl nur so zu erklären, dass v. Kreittmayr dadurch lediglich die auch von ihm so bezeichnete Satisfaktion des Opfers von der der Satisfaktion der Obrigkeit dienenden öffentlichen Strafe abgrenzen wollte 79 : Da es sich nach der Terminologie der bayerischen Kodifikation bei bürgerlichen Strafen oder Zivilstrafen nicht etwa um Privatstrafen, sondern um niedergerichtliche öffentliche Strafen handelte 80 , neben denen das Rechtsfolgensystem des C M B C ohne Ausnahmeklausel für Injurien bei Delikten nur noch die Kategorie „Schadensersatz" vorsah, verblieb für alle vom Opfer im eigenen Interesse betriebenen Klagen, ohne Rücksicht auf ihre wahre Rechtsnatur, auch nur diese Klassifizierung 81 .
2. Preußen
a) Das Schadensersatzrecht
des ALR
Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 ( A L R ) , die erste Kodifikation im modernen Sinne, bewirkte auch für das Deliktsrecht in vielerlei Hinsicht einen klaren Bruch mit den Traditionen des gemeinen Rechts. Bei diesem kamen naturrechtliche Einflüsse ebenso zum Tragen wie das Selbstverständnis des aufgeklärt-absolutistischen Staates. Schadensersatz und (öffentliche) Strafe standen fortan als strikt zu unterscheidende Folgen einer rechtswidrigen Schadenszufügung nebeneinander: „Wer durch eine freye Handlung jemanden widerrechtlich Schaden zufügt, der begehet ein Verbrechen, und macht sich dadurch nicht nur dem Beleidigten 82 , sondern auch dem Staate, dessen Schutz derselbe genießt, verantwortlich" 8 3 . D o c h auch zwei der auffälligsten Mängel des A L R spiegeln sich in dessen Delikts78 Vgl. zur actio iniuriarum W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, § V, nota 1 (a): „Actio Injuriarum ist, wie alle andern ex delicto entspringenden Actiones theils persecutoria, theils poenalis", zur Widerrufsklage: C M B C , Teil IV, Kapitel 17, § 10 (1.). 79 So besonders deutlich bei W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, § V, nota 1 (a). 80 Vgl. nur W.X.A. v. Kreittmayr, Anmerkungen IV 17, § V, nota 2 (a-d). 81 Zu dieser (nur) zweigleisigen Untergliederung vgl. etwa C M B C , Teil IV, Kapitel 16, §4 (1.). 82 Beleidigung ist dabei nicht im heutigen Sinne, sondern als beliebige rechtswidrige Schädigung zu verstehen, vgl. §8 1 6 ALR. 83 §7 II 20 ALR.
112
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
recht unverkennbar wider: die Überbetonung des Ständestaates 84 und die ausufernde Kasuistik, auf Grund derer auch die dem Deliktsrecht gewidmeten 138 Paragraphen nur dank verschiedentlicher Querverweisungen auf andere Titel des A L R zur Regelung dieser Materie genügten 85 . N o c h deutlicher als der Umfang der deliktsrechtlichen Normen zeigt daneben der Inhalt einzelner Vorschriften, etwa die Ungerechtigkeiten bewusst in Kauf nehmende Kopplung der Schmerzensgeldhöhe an die Heilbehandlungskosten 8 6 , wie gering das Vertrauen des ALR-Gesetzgebers in die Weiterbildung des Rechts durch die Richterschaft war 8 7 . Besonders gravierend machte sich dieses neue Rechtsverständnis aber bei der Regelung der Rechtsfolgen von Ehrkränkungen und anderen Persönlichkeitsrechtsverletzungen bemerkbar: Wo es an einem nachweisbaren Schaden fehlte oder dessen H ö h e nicht exakt ermittelbar war, musste das unflexible Deliktsrecht des A L R versagen, zumal der preußischen Rechtspraxis in solchen Fälle schon seit 1713 der Rückgriff auf die Injurienklage und damit die Ergänzung des Schadensersatzrechts durch die Möglichkeit zur Verhängung einer Privatstrafe verwehrt war. aa) Schadensersatz für Vermögensschäden N o c h am ehesten entsprachen die deliktsrechtlichen Vorschriften des A L R über den Ersatz von Vermögensschäden der gemeinrechtlichen Praxis, wenn auch unter unverkennbarer Aufnahme zahlreicher naturrechtlicher Gedanken: Eine fast generalklauselartige Schadensersatzregelung 88 sollte nach der Maßgabe der naturrechtlichen Zurechnungslehre 8 9 umfassenden Schutz bei widerrechtlichen, schuldhaften 90 Schädigungen jeder Art gewähren 91 . Dieser Restitutionsanspruch bestand auch bei der Verletzung oder Tötung von Menschen 9 2 und konnte nach dem Tod des Schädigers uneingeschränkt gegenüber seinen Erben geltend gemacht werden 9 3 . Naturalrestitution hatte Vorrang vor Wertersatz 9 4 .
Vgl. nur §§99ff., 112 I 6 ALR. So z.B. in §§15, 17, 30, 59, 130 I 6 ALR. 8 6 Vgl. §113 1 6 A L R . 8 7 Zum Richterbild des A L R vgl. §§46ff. Einl. A L R ; ausführlich hierzu: / . Eckert, Gesetzesbegriff Rechtsanwendung, S. 576ff.; ders., Entstehung, S. 116ff.; ders., Gesetzesbegriff A L R , S.43ff.; H. Hattenhauer, Richter, S.45ff.; H. Hübner, Entscheidungsfreiheit, S.30ff. 88 Nicht ins A L R übernommen wurde hingegen die Generalklausel des Entwurfs des A G B (Teil 1, Abtlg. 3, Tit. 8, Abschnitt 8): „§414. Niemand soll den andern an seiner Ehre, Gesundheit oder Leben, Freiheit oder Vermögen beschädigen. §415. Wer einen andern, ohne Recht, dergleichen Schaden zufügt, der ist zum Ersatz desselben verbunden" (Entwurf A G B , S.285f.), 8 9 Zu dieser vgl. nur: H. Holzhauer, Imputation, Sp.335ff.; F. Ebel/G. Thielmann, Rechtsgeschichte, Rn.442; W. Sellert/H. Rüping, Studien- und Quellenbuch I, S. 352ff., jew. m.w.N. 9 0 Vgl. v.a. §§39ff. I 6 ALR. 91 So insbesondere die §§ 1 , 8 , 1 0 1 6 ALR. Zum Schadensersatzrecht des A L R vgl. nur: Th. Kiefer, Haftung, S. 137ff. ; U. Armasow, Schaden, S.36ff. Speziell zur Frage einer Generalklausel im Deliktsrecht: H. Jentsch, Entwicklung, S. 9f. 92 §§98ff., 111 1 6 ALR. 93 §28 1 6 ALR. 9 4 §§79ff. I 6 ALR. 84
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Unter vier Aspekten wich allerdings auch die Regelung des Ausgleichs von Vermögensschäden im A L R in einer Weise signifikant von den älteren Deliktsrechtssystemen ab, die im Sinne einer Repönalisierung 9 5 gedeutet werden könnte 9 6 : Zum einen wurde das Alles-oder-Nichts-Prinzip des gemeinen Rechts zu Gunsten einer Staffelung des Haftungsumfangs nach dem Verschuldensgrad des Schädigers aufgegeben. Vollen Schadensersatz musste daher nur derjenige leisten, der den Schaden vorsätzlich oder grob fahrlässig (aus „grobem Versehen") herbeigeführt hatte 9 7 . Bei „mäßigem oder geringem Versehen" griffen hingegen durchgängig zum Teil erhebliche Haftungserleichterungen 9 8 , die an die zuvor nur im Vertragsrecht übliche Differenzierung zwischen mittelbarem und unmittelbarem Schaden sowie zwischen Schaden und entgangenem Gewinn anknüpften 9 9 . An einer Begründung für diese starr schematisierte, im Verlauf der Entstehungsgeschichte des A L R mehrfach revidierte Proportionalität von Schuld und Haftungsumfang fehlte es in den Materialien zum A L R fast völlig 1 0 0 . Wie wenig die Rechtspraxis wohl nicht zuletzt deshalb mit den wenig konkreten Abgrenzungsmerkmalen zwischen den einzelnen Schadensarten anzufangen wusste, wurde im Rahmen der Bestrebungen zur Reform des A L R Privatrechts im 19. Jahrhundert deutlich. So wollte etwa der Entwurf von 1830 nicht nur die Haftungsabstufung beseitigen, sondern konnte zu dessen Bedeutung für die auf ihrer Grundlage bis dahin ergangene Rechtsprechung auch lapidar feststellen: „... wir dürfen kühn behaupten, daß die Abstufung der Ersatzverbindlichkeit, wie sie der Text gibt, für die Anwendung durchaus werthlos ist. Sie hat, weil sie nicht aus dem Leben gegriffen ist, auch nicht i n s Leben übergehen können" 1 0 1 . Die zweite Besonderheit des ALR-Deliktsrechts betraf die Berechnung des Wertes einer vorsätzlich oder grob fahrlässig zerstörten Sache: Für diese konnte der Geschädigte den höchsten Wert ersetzt verlangen, den sie ohne das schadenstiftende Ereignis zwischen Schadenszufügung und Rechtshängigkeit der Klage gehabt hätte 1 0 2 . Dadurch hatte es der Geschädigte innerhalb der Grenzen der Verjährungsfrist in der Hand, die Klageerhebung bis zu einem Zeitpunkt hinauszuzögern, zu der der Sache
95 Zum Prozess der Entpönalisierung des gemeinrechtlichen Schadensersatzrechts für Vermögensschäden oben, B.II.2. 9 6 So Th. Kiefer, Haftung, S. 148; K. Muscheler, Deliktsrecht, S. 1141. 9 7 §10 1 6 ALR. 98 Vgl. u.a. §§ 12, 93, 103ff. I 6 ALR. 9 9 Näheres hierzu und zu Anhaltspunkten für eine solche Abstufung im römischen Recht und im Naturrecht bei: Th. Kiefer, Haftung, S. 146ff.; G. Schiemann, Schadensrecht, S. 263; gegen eine Herleitung der Haftungsabstufung aus dem Naturrecht oder römischen Recht dagegen: K. Muscheler, Deliktsrecht, S. 1138; umfassend zur Haftungsabstufung des ALR: U. Armasow, Schaden und abgestufte Haftung (Proportionalitätsprinzip) im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 unter Beschränkung hauptsächlich auf die unerlaubten Handlungen (1975), v.a. S.22ff. 100 Eine Wiedergabe der wenigen Hinweise von Svarez hierzu und zur Entstehungsgeschichte dieser Abstufung findet sich in den Motiven zum Gesetz-Revisions-Entwurf von 1830, abgedruckt bei: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S.230ff. 101 Zitat nach: Motive zum Gesetz-Revisions-Entwurf von 1830, abgedruckt bei: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S. 232. 102 §85 1 6 ALR.
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ein besonders hoher Wert zukam. Diese F o r m der Wertermittlung, die der „Willkühr des Beschädigten" in unerwünschter Weise Vorschub leistete, wurde bei der Revision des A L R als so nachteilig empfunden, dass man zu der im gemeinen Recht üblichen Maßgeblichkeit des Sachwerts zur Zeit seiner Zerstörung zurückkehren wollte 1 0 3 . U n k l a r ist wegen der ungenügenden Begründung auch dieser Regelung in den Materialien 1 0 4 jedoch, o b diese Möglichkeit zur Erzielung von Spekulationsgewinnen dem Schadensersatzanspruch des A L R in gleicher Weise pönale Züge verlieh wie die im römischen Recht praktizierte Wertberechnung der aquilischen Haftung: Zwar konnte in beiden Fällen der Geschädigte bei Wertschwankungen innerhalb des jeweils vorgegebenen Zeitraums mehr an Schadensersatz erhalten, als ihm im M o ment der Schädigung durch die Zerstörung der Sache an Wert entzogen worden war. Allerdings ließ sich diese Begünstigung in ihrer Ausgestaltung durch das A L R damit rechtfertigen, dass bei einem Ausbleiben des Schadensfalls der Eigentümer der Sache diese hätte behalten und erst zu einem späteren, günstigeren Zeitpunkt verkaufen k ö n n e n 1 0 5 . So gesehen zielte die Berechnungsweise des A L R lediglich auf eine möglichst umfassende Wiederherstellung der Gewinnchancen des Geschädigten vor Schadenseintritt, während sie die damit verbundene Gefahr einer Besserstellung des Geschädigten durch den Schadenseintritt nur notgedrungen in Kauf nahm, ohne diese Folge bewusst anzustreben. I m Gegensatz dazu verschaffte die pönale römischrechtliche Rückrechnung bei der actio legis Aquiliae, wie auch n o c h die daran angelehnte Rückrechnung des Landrechts des Herzogtums Preußen von 1620 1 0 6 , dem Geschädigten einen Gewinn, den er sich unabhängig vom schädigenden Ereignis vor Schadenseintritt hatte entgehen lassen. D i e dritte pönaler Elemente verdächtige Regelung betraf den U m f a n g der Schadensersatzansprüche Angehöriger eines grob schuldhaft Getöteten, denen gegenüber dieser unterhaltsverpflichtet gewesen wäre: Ein Schädiger, der vorsätzlich oder grob fahrlässig die T ö t u n g eines Familienvaters verursacht hatte, war verpflichtet, der Witwe und den Kindern des Getöteten unabhängig von ihren Vermögensverhältnissen 1 0 7 standesgemäßen Unterhalt zu gewähren 1 0 8 . Dies mochte im Regelfall auf den Ausgleich des erlittenen Schadens hinauslaufen. Zumindest dann, wenn die Vermögenssituation der überlebenden Familienmitglieder sich durch den Todesfall nicht nur nicht verschlechtert, sondern sogar gebessert hatte (Beispiel: die Familie
103 Vgl. die Motive zum Gesetz-Revisions-Entwurf von 1830, abgedruckt bei: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S.263, sowie §§60ff. I 6 des Entwurfs von 1830 (ebenda, S.66f.); zur Kritik an der Haftungsabstufung vgl. auch: U. Armasow, Schaden, S. 29ff. 104 Svarez behauptete in der revisio monitorum lediglich, die Vorschrift entspreche der „bisherigen Theorie des Römischen Rechts", vgl. die Wiedergabe dieser Passage in den Motiven zum Gesetz-Revisions-Entwurf von 1830, abgedruckt bei: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S.262. 105 Vgl. hierzu und zur Entstehungsgeschichte dieser Bestimmungen: W. Bornemann, Darstellung II, S. 354ff.; C.F.Koch, Landrecht 11, S. 385, Fn. 53. Zu ähnl. Regelungen in Baden unten, B.III.3 b). 106 6,10,1 §§4f., vgl. dazu: W. Litewski, Landrecht, S.144f. 107 §100 I 6 ALR. 108 §99 16 ALR.
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lebte ausschließlich von ihrem Vermögen, nach dem Tod des Vaters muss dieses nur noch unter den verbliebenden Familienmitgliedern, die dieses als Alleinerben erworben haben, aufgeteilt werden), lässt sich der Schadensersatzanspruch der Hinterbliebenen mit einem bloßen Bemühen um Ausgleich des eingetretenen Vermögensschadens aber nicht mehr erklären 1 0 9 . D i e daher naheliegende Konsequenz, bei jedem Verschuldensgrad die Vermögenslage der Angehörigen nach dem Todesfall bei der Bemessung ihrer Ansprüche gegenüber dem Schädiger zu berücksichtigen, zog aber erst der anlässlich der Gesetzesrevision von 1830 erstellte Entwurf 1 1 0 . Das A L R selbst schien dagegen, wie auch sonst bei Schädigungen auf G r u n d erheblichen Verschuldens, anderen Aspekten, wie etwa der Abschreckung potentieller Schädiger oder der Genugtuung für die Geschädigten, Priorität eingeräumt zu haben. Z u m i n dest aber war man offenbar im Interesse einer klaren Regelung bereit, in bestimmten Ausnahmefällen pönale Aufschläge zum eigentlichen Schadensersatz hinzunehmen 1 1 1 . Unverkennbar und ausdrücklich zugestanden wurde die jedenfalls auch pönale Zielrichtung des Schadensersatzes bei schwerem Verschulden schließlich, wenn ein Schaden durch mehrere Schädiger vorsätzlich herbeigeführt worden war: D e r G e schädigte hatte dann die Wahl, o b er von einem der Schädiger den gesamten Schadensersatz oder von mehreren Teilbeträge fordern wollte 1 1 2 . Wenn der Geschädigte, was wegen des für ihn geringeren Aufwandes die Regel gewesen sein dürfte, sich für ersteres entschied, fand unter den Schädigern jedoch kein (Gesamt-)Schuldnerausgleich statt 1 1 3 . Vielmehr fiel der Regressanspruch des Schädigers, der für mehr als seinen Anteil des Schadens aufgekommen war, gegen den oder die anderen Schädiger „der Armencasse des O r t e s 1 1 4 zur Strafe" zu 1 1 5 . J e größer die Zahl der Schädiger und je kleiner damit der von dem in Anspruch genommenen Schädiger eigentlich zu ersetzende Anteil am Schaden war, desto mehr näherte sich also der insgesamt von den Schädigern gezahlte Schadensersatz dem Doppelten des tatsächlich entstandenen Schadens an. Z w e c k dieser Regelung war es, wie Svarez 1 1 6 bei der Schlussrevision unmissverständlich klarstellte, einen vorsätzlichen Schädiger auch dann nicht „völlig ohne Ahndung davon k o m m e n " zu lassen, wenn für seine Tat keine Kriminalstrafe vorgesehen war 1 1 7 . D i e „Furcht vor dem Schadensersatz [sollte nicht] durch die Vgl. die Beispiele bei: F. Förster, Theorie, S.458, Fn. 17. Vgl. §77 I 6 des Entwurfs von 1830 und die Motive hierzu, abgedruckt bei: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S. 68, 270f. 111 Für eine solche mehr pragmatische Sichtweise spricht auch etwa der bewusste Verzicht auf die Regelung der Unterhaltsansprüche des Witwers, der vor dem Tod seiner Frau von deren Arbeitseinkommen gelebt hatte (vgl. dazu W. Bornemann, Darstellung II, S.359). 112 §29 16 ALR. 113 §34 16 ALR. 114 Der Entwurf des AGB hatte noch den Fiskus als Begünstigten vorgesehen, vgl. die Motive zum Gesetz-Revisions-Entwurf von 1830, abgedruckt bei: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S. 245. 115 §35 16 ALR. 116 Carl Gottlieb Svarez (1746-1798), zu Leben und Werk vgl. G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S.413ff.; I.K. Ahl, Svarez, in: M. Stolleis, Juristen, S.598ff.; I. Ebert, Svarez, S.133ff. 117 C.G. Svarez, Vorträge, S. 7. 109
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H o f f n u n g , solchen unter Mehreren vertheilt zu sehen, entkräftet" werden 1 1 8 . D e r Zahlung an die Armenkasse kam also eine eindeutig und ausschließlich pönale F u n k tion zu. Allerdings war diese, indem sie nicht dem Geschädigten, sondern einer gemeinnützigen Einrichtung zu G u t e kam, nicht als Privatstrafe ausgestaltet, sondern nach heutiger Terminologie am ehesten mit einer Geldbuße vergleichbar 1 1 9 . D i e Svarez ersichtlich noch fremden Bedenken gegen eine solche „Vermengung der Begriffe von Strafe und O b l i g a t i o n " 1 2 0 konnten sich zwar bereits bei der Gesetzesrevision von 1830 durchsetzen: „Insofern eine beschädigende Handlung in die Zahl der Verbrechen gehört, haben die T h ä t e r eine öffentliche Ahndung zu gewärtigen; - die Verpflichtung zum Schadensersatz besteht nebenbei, und unterstellt einen reinen Privatanspruch. Wenn der Beschädigte ihn [von einem der Schädiger] nicht fordert, so ist kein Grund vorhanden, ihn dem Fiskus oder sonst Jemanden zuzusprechen" 1 2 1 . Ein Regressverbot wollte man aber dennoch beibehalten 1 2 2 , um auch weiterhin Vorsatztäter durch die Gefahr abzuschrecken, trotz mehrerer anderer Täter vom G e schädigten allein für den gesamten Schaden in Anspruch genommen zu werden 1 2 3 . Dabei erkannte man nunmehr aber immerhin, dass eine solche Regelung nicht zwingend geboten war, da Grundlage des Regressanspruchs das „ehrbare Rechtsgeschäfte der Zahlung", nicht etwa unmittelbar die vorsätzliche Schädigung war 1 2 4 . U n a b hängig hiervon zielte die geplante Änderung aber jedenfalls nicht auf eine Entpönalisierung der schadensersatzrechtlichen Bestimmungen, sondern allein auf den Verzicht der willkürlich anmutenden Begünstigung unbeteiligter Dritter. Wegen des Scheiterns des Reformversuchs von 1830 blieb es dann aber ohnehin während des gesamten 19. Jahrhunderts bei der Beibehaltung der ursprünglichen Regelung des A L R . Positiver Nebeneffekt hiervon dürfte die gesteigerte Bereitschaft der Schädiger gewesen sein, für eine frühzeitige und einverständliche Regulierung der Ansprüche des Geschädigten zu sorgen, um so das Risiko zu vermeiden, von diesem für den gesamten Schaden in Anspruch genommen zu werden. I m Ergebnis wiesen die deliktsrechtlichen Vorschriften des A L R bei Vermögensschäden damit, im Gegensatz zur aquilischen Haftung des gemeinen Rechts, durchgängig eindeutig pönale Züge auf 1 2 5 . Auch wenn diese meist nur in eher seltenen Ausnahmefällen zum Tragen kamen, belegt ihre Existenz doch zumindest, dass der 118 So C.G. Svarez, in: revisio monitorum, wiedergegeben in den Motiven zum Gesetz-Revisions-Entwurf von 1830, abgedruckt bei: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S.245. 119 Zu Plänen derartiger „Schadensersatzbeträge" zu Gunsten wohltätiger Zwecke bei Allgemeinen Persönlichkeitsverletzungen nach 1945 unten, C.IV.4. c) cc). 120 So C.F. Koch, ALR 1/1, Anm.18 zu §35 I 6 ALR, S.372. 121 Zitat aus: Motive zum Gesetz-Revisions-Entwurf von 1830, abgedruckt bei: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S.245. 122 §35 I 6 des Entwurfs von 1830, abgedruckt bei: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S. 64. 123 Motive zum Gesetz-Revisions-Entwurf von 1830, abgedruckt bei: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S.244f. 124 C.F. Koch, ALR 1/1, Anm. 18 zu §35 I 6 ALR, S.372f. 125 So auch H. Hattenhauer, ALR (Einführung zu Textausgabe), S. 18f.; einschränkend hierzu (lediglich § 35 16 ALR als gezielt pönales Element anerkennend, da die Entschädigung für Nichtvermögensschäden unvermeidlich pönale Züge aufweise): U. Armasow, Schaden, S. 110, 203 f.
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Verzicht des preußischen Gesetzgebers auf die Injurienklage auch im 18. Jahrhundert jedenfalls nicht auf einer generellen Abneigung gegen pönale Elemente im Privatrecht beruhte. bb) Schmerzensgeld und Verunstaltungsentschädigung Während bei Freiheitsberaubungen nach dem A L R nur die Wiederherstellung der Freiheit und Ersatz des erlittenen Vermögensschadens verlangt werden konnte 126 , war der schuldhafte Verursacher einer Körperverletzung seinem Opfer neben dem Ersatz des materiellen Schadens auch zur Zahlung eines Schmerzensgeldes verpflichtet 127 . Bei der näheren Ausgestaltung des Schmerzensgeldanspruchs wich das A L R jedoch in drei Punkten erheblich von den insofern durch die gemeinrechtliche Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen für die aquilische Haftung ab: Zum einen konnte ein Schmerzensgeld nicht bei jeglichem Verschuldensgrad des Täters, sondern nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit verlangt werden 1 2 8 . Darüber hinaus stand ein Schmerzensgeld nur Angehörigen „vom Bauer- oder gemeinen Bürgerstande" 129 , nicht auch „Personen höhern Standes" 130 zu. Hierdurch sollte einerseits der Üblichkeit und der auch von den Verfassern des A L R nicht geleugneten Billigkeit des Schmerzensgeldanspruchs Rechnung getragen werden 1 3 1 : „In der Sache selbst liegt kein Grund, warum derjenige, welcher für die kleinste Vermögensbeschädigung strengen Ersatz leisten muß, für die unangenehmen und schmerzhaften Empfindungen, die er einem Andern verursacht, gar keinen Ersatz schuldig seyn soll" 132 . Andererseits wollte man der Geltendmachung derartiger Ansprüche aber auch enge Schranken setzen 133 , da diese bei Personen „von Stande und Erziehung" allgemein als unwürdig angesehen wurde 1 3 4 . Die Schmerzen höherrangiger Verletzter fanden daher allenfalls im Rahmen der Strafzumessung 135 , nicht jedoch bei der Bemessung des zu zahlenden Schadensersatzes Berücksichtigung. Diese Bedenken, die in vielem an die Argumente für die Abschaffung der auf Geld gerichteten Injurienklage erinnerten, gewannen im Verlauf des 19. Jahrhunderts weiter an Bedeutung. Während sich Svarez noch darauf beschränkte, Angehörige höherer Stände aus dem Kreis der Schmerzensgeldberechtigten auszuschließen, um ihren
§§132 ff. I 6 ALR. §§112ff. I 6 ALR. 128 §112 16 ALR. 129 §112 16 ALR. 130 §114 16 ALR. 131 Vgl. C. G. Svarez, Vorträge, zu Tit. VI, § 112, S. 8. 132 Zitat nach einer Note zum Entwurf des AGB, wiedergegeben in den Motiven zum Gesetz-Revisions-Entwurf von 1830, abgedruckt bei: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S.272. 133 C.G. Svarez in der revisio monitorum, wiedergegeben in den Motiven zum Gesetz-Revisions-Entwurf von 1830, abgedruckt bei: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S. 273. 134 Zitate nach einer Note zum Entwurf des AGB, wiedergegeben in den Motiven zum GesetzRevisions-Entwurf von 1830, abgedruckt bei: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S.272. 135 §114 I 6 ALR. 126
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„Trieb der Ehre" zu befördern 1 3 6 , sprachen sich die Verfasser des Revisionsentwurfs von 1830 aus ähnlichen Motiven bereits standesunabhängig gegen jedes Schmerzensgeld aus: „Erlittene Schmerzen sind an sich kein Gegenstand, der, wie ein anderer Schade, durch eine Geldvergütung ersetzt werden kann; und das Ehrgefühl derjenigen, welche die Niedrigkeit der Gesinnung nicht erkennen, die darin liegt, einen erlittenen Schmerz sich bezahlen zu lassen, muß eher gehoben, als durch einen Anspruch auf Schmerzensgeld unterdrückt werden" 1 3 7 . Im Gegensatz dazu sah der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten von 1842 standesunabhängig ein Schmerzensgeld vor, allerdings beschränkt auf Fälle vorsätzlicher Körperverletzung 1 3 8 . Wegen des Scheiterns der Bemühungen um eine Reform des preußischen Privatrechts blieb es jedoch letztlich bis zum B G B bei dem auf Geschädigte aus den niederen Ständen beschränkten Schmerzensgeld. Dieses stieß allerdings wegen seiner standesspezifischen Differenzierung zunehmend auf Kritik 1 3 9 . Selbst die Beseitigung der Standesvorrechte und die Propagierung der Gleichheit aller Preußen vor dem Gesetz durch Art. 4 der Verfassungen von 1848 und 1850 konnte jedoch keine Vereinheitlichung der Rechtslage für alle Preußen herbeiführen. Vielmehr wurde die Vereinbarkeit der auf den Stand des Geschädigten abstellenden Schmerzensgeldregelung mit der Verfassung in der Literatur durchweg ausdrücklich bejaht 1 4 0 . In Ubereinstimmung hiermit stellte das Obertribunal 1859 fest: „Denn der § 1 1 2 1 6 des Allgem. Landrechts, nach welchem Personen vom Bauer- oder gemeinen Bürgerstande ein billiges Schmerzensgeld fordern können, kann durch das allgemeine in Art.4 der Verfassungs-Urkunde ausgesprochene Prinzip ... schon um deswillen für nicht aufgehoben erachtet werden, weil ... es sich dabei überall nicht um ein Standesvorrecht, sondern nur um die gesetzliche Berücksichtigung eines thatsächlich bestehenden Unterschiedes der Stände, der auch jetzt noch besteht, handelt" 1 4 1 . Eine weitere Besonderheit der Schmerzensgeldregelung des A L R betraf die Berechnung des jeweils zuzusprechenden Schmerzensgeldbetrages: Zwar hatte der Richter diesen im Einklang mit der gemeinrechtlichen Praxis nach „dem Grade der 136 Zitate nach einer Note zum Entwurf des A G B , wiedergegeben in den Motiven zum GesetzRevisions-Entwurf von 1830, abgedruckt bei: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S. 272. 137 Zitat nach: Motive zum Gesetz-Revisions-Entwurf von 1830, abgedruckt bei: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S. 274. 138 Vgl. §561 des Entwurfs von 1842: „Wegen erlittener Schmerzen kann im Falle einer vorsätzlich zugefügten Verletzung ein Schmerzensgeld gefordert werden, dessen Betrag der Richter nach den persönlichen und andern Verhältnissen zu bestimmen hat" (zit. nach: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S.985); zur Entstehungsgeschichte dieser Regelung: B. Kern, BGB-Entwurf, S.212f. 139 Vgl. F. Förster, Theorie, S.460, F N 35: „ist doch das Unpassende der Bestimmung auf unsere heutigen Lebensverhältnisse einleuchtend"; ähnl. C.F. Koch, Landrecht I 1, S. 390, Fn. 61 („Zu den heutigen Ansichten paßt die Bestimmung nicht"); W. Bornemann, Darstellung II, S. 366f., Anm. *), mit Nachweisen zur Kritik an dieser Abstufung bereits zur Zeit des Inkrafttretens des ALR. 140 So etwa F. Förster, Theorie, S.460; ders./M.E. Eccius, Privatrecht, S. 506; C.F. Koch, Landrecht I 1, S.390, Fn.61. 141 Preuß. Obertribunal (31.1. 1859), abgedruckt bei: Th. Striethorst, Archiv für Rechtsfälle 32 (1859), S.190ff., 191.
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ausgestandenen S c h m e r z e n " zu bestimmen. Das Schmerzensgeld durfte jedoch weder die Hälfte der für die Verletzung angefallenen Kurkosten unterschreiten noch über das Doppelte der Kurkosten hinausgehen 1 4 2 . Diese Koppelung des Schmerzensgeldes an die Kurkosten, die dem für das A L R typischen Misstrauen gegen jedes richterliche Ermessen 1 4 3 Rechnung tragen sollte, indem es diesem enge Schranken setzte, erwies sich in der praktischen Umsetzung alsbald in zweierlei Hinsicht als problematisch: Z u m einen verhinderte sie die Gewährung eines Schmerzensgeldes für Misshandlungen, die zwar schmerzhaft waren, aber keine oder nur wenig k o stenintensive ärztliche Maßnahmen erforderlich machten. Z u m anderen verleitete sie den Geschädigten dazu, die ärztliche Behandlung seiner Verletzungen zu verschleppen, u m durch die damit verbundene Steigerung der Heilbehandlungskosten das ihm daneben zuzuerkennende Schmerzensgeld in die H ö h e zu treiben. D i e daher verschiedentlich an diesen Bemessungsvorgaben geübte Kritik 1 4 4 führte zur A u f nahme eines der H ö h e nach unbegrenzten Schmerzensgeldanspruchs bei vorsätzlichen Körperverletzungen in den preußischen B G B - E n t w u r f von 1842. Wegen des Scheiterns der preußischen Gesetzgebungsbemühungen auf dem Gebiet des Privatrechts blieb es jedoch auch insofern bis zum Inkrafttreten des B G B bei der Schmerzensgeldregelung von 1794. Somit wies das im A L R vorgesehene Schmerzensgeld deutlichere pönale Züge auf als dasjenige des gemeinen Rechts. Dies beruhte zum einen gerade auf dem Versuch einer konsequenten Umsetzung des Restitutionsgedankens unter Vorrang der N a t u ralrestitution, der die Grundlage des Deliktsrechts des A L R bildete: Die dogmatische Problematik der Geldentschädigung für Nichtvermögensschäden ließ sich nunmehr n o c h schlechter verdrängen, als dies der Fall war, solange es sich hierbei lediglich um einen Berechnungsposten im Rahmen der aquilischen Haftung handelte. D a aber die Gleichsetzung eines immateriellen Nachteils mit einem bestimmten G e l d betrag immer nur unvollständig gelingen konnte, musste unter der alleinigen H e r r schaft der Ausgleichsfunktion jeder derartige Anspruch moralisch zweifelhaft erscheinen. E s galt daher nicht nur, ihn äußersten Beschränkungen zu unterwerfen, sondern er bedurfte auch einer v o m Ersatz von Vermögensschäden abweichenden Regelung. Dies wiederum erlaubte eine R ü c k k e h r zu pönalen Begleitumständen (pauschalierte H ö h e , Erforderlichkeit eines bestimmten Verschuldensgrades), die im übrigen Deliktsrecht längst überwunden waren. D e n n o c h belegt aber die Bemessung des Schmerzensgeldes innerhalb der vorgegebenen G r e n z e n nach dem Ausmaß der erlittenen Schmerzen, dass es sich auch beim Schmerzensgeld des A L R keines§113 I 6 ALR. Vgl. allein die strikten Vorgaben für die richterliche Gesetzesanwendung in den §§6,46ff. der Einl. des ALR. Zum Verhältnis von Richter und Gesetz in der Rechtsordnung des ALR vgl. daneben: J. Eckert, Gesetzesbegriff Rechtsanwendung, S. 576ff.; ders., Entstehung, S. 116ff.; ders., Gesetzesbegriff ALR, S.43ff.; H. Hattenhauer, Richter, S. 45ff.; H. Hübner, Entscheidungsfreiheit, S.30ff. 144 So etwa von: W. Bornemann, Darstellung II, S. 366f., Fn. *); vgl. daneben die Zusammenstellung der Kritik an der Schmerzensgeldregelung des ALR in den Motiven zum Gesetz-RevisionsEntwurf von 1830, abgedruckt bei: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S.273. 142
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
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vor dem
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wegs (vorrangig) um eine Privatstrafe handelte. Im Vordergrund stand vielmehr noch immer eindeutig der Schadensausgleich, wenn auch durchaus unter Berücksichtigung einer pönal eingefärbten Genugtuungsfunktion 1 4 5 . Wie fließend dabei die Grenzen zwischen Zivil- und Strafrecht verliefen, belegt schon allein die Gleichsetzung des Schmerzensgeldes der niederen Stände mit einer Verschärfung der öffentlichen Strafe für denjenigen, der einen Angehörigen der höheren Stände verletzt hatte 146 . Etwas weniger restriktiv als beim Schmerzensgeld i.e.S. zeigte sich das A L R bei der Gewährung einer Entschädigung für Verunstaltungen. So stand unverheirateten Frauen, deren Heiratschancen durch eine ihnen schuldhaft beigebrachte Verunstaltung beeinträchtigt worden waren, ein Ausstattungsanspruch gegen den Schädiger zu 147 . Der Verschuldensgrad des Täters beeinflusste dabei lediglich die Höhe des Anspruchs, nicht sein Bestehen dem Grunde nach 148 . Verheiratete Frauen und Männer konnten für Verunstaltungen, die sie in ihrem Fortkommen behinderten, hingegen Geldersatz nur verlangen, wenn die Schädigung vorsätzlich oder grob fahrlässig erfolgt war 149 . In beiden Varianten handelte es sich also letztlich um einen mutmaßlich mittelbar aus der Verletzung folgenden Vermögensschaden, um einen Unterfall des entgangenen Gewinns 1 5 0 , der bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Schädigung dem Verletzten auch sonst zu erstatten war 151 . Diese Verunstaltungsentschädigung hatte gegenüber dem Schmerzensgeld i.e.S. darüber hinaus den Vorteil, einen objektiv überprüfbaren Anknüpfungspunkt (Grad der Verunstaltung) sowie einen festen Berechnungsmaßstab (standesgemäßer Unterhalt bzw. Entgang bestimmter, ohne die Verunstaltung voraussichtlich eingetretener Vorteile) zu bieten. Von den allgemeinen Schadensersatzvorschriften unterschied er sich daher nur insoweit, als dieser im Einklang mit der gemeinrechtlichen Rechtsprechung 1 5 2 unverheirateten Frauen bei jeder Form von Fahrlässigkeit gewährt wurde. Folgerichtig beschränkte sich auch die zeitgenössische Kritik an Regelungen zum Verunstaltungsersatz im Vorfeld des A L R auf diese systemwidrige Besonderheit 153 . Sich diesen Beanstandungen anschließend, sah der (nicht verwirklichte) Entwurf von 1830 eine Geldentschädigung einheitlich nur noch bei vorsätzlich oder grob fahrlässig zugefügten Verunstaltungen vor 154 . 145 So auch die h.M. in der zeitgenössischen Literatur, vgl. nur C.F. Koch, Landrecht I 1, S.390, Fn. 61; W. Bornemann, Darstellung II, S. 366f., Fn. 146 §114 I 6 ALR. 147 §123 1 6 ALR. 148 Vgl. §§124f. I 6 ALR. 149 §128 1 6 ALR. 150 §5 1 6 ALR: „Vortheile, die jemand erlangt haben würde, wenn eine gewisse Handlung oder Unterlassung nicht vorgefallen wäre, werden zum entgangenen Gewinn gerechnet". 151 §7 i.V.m. §§10ff. I 6 ALR. 152 Zu dieser oben, B.II.3. c). 153 Vgl. C. G. Svarez in der revisio monitorum, wiedergegeben in den Motiven zum Gesetz-Revisions-Entwurf von 1830, abgedruckt bei: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S.275. 154 §91 des Gesetz-Revisions-Entwurfs von 1830, vgl. auch Motive dazu, abgedruckt bei: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S.276f.
III. Die Gesetzgebung
in den deutschen
Partikularstaaten
121
Anhaltspunkte für eine pönale Rechtsnatur der Verunstaltungsentschädigung nach dem ALR, die über die des Schadensersatzrechts bei sonstigen Vermögensschäden hinaus gehen, ergeben sich damit allenfalls aus der Unabhängigkeit der Zahlungspflicht des Schädigers von einer späteren (standesgemäßen) Heirat 155 : Hier konnte die Verletzte nicht wie sonst bei einer Entschädigung für entgangenen Gewinn auf Grund einer voraussichtlich eingetretenen Vermögensschädigung, sondern trotz nachweislich ausgebliebenen Schadens „Ersatz" verlangen. b) Die Rechtsfolgen von
Injurien
Die Voraussetzungen für das Vorliegen einer Injurie entsprachen nach dem ALR weitgehend denen des späten gemeinen Rechts. Eine Injurie beging daher, wer „durch geringschätzige Geberden, Worte, oder Handlungen, jemanden zu kränken, oder ihn widerrechtlich zu beschimpfen" suchte 156 , wobei dem Beleidigungsvorsatz des Täters besondere Bedeutung zukam 157 . Der Ausdruck „Beleidigung" setzte sich als Bezeichnung für den Grundtatbestand der Ehrkränkung allerdings erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch. Im ALR wurde dagegen noch jede widerrechtliche Schädigung als Beleidigung bezeichnet, von der sich die Injurie durch das zusätzliche Erfordernis des Vorsatzes des Täters, den Beleidigten in seiner Ehre zu kränken oder ihn zu beschimpfen, unterschied. Ungewöhnlicher als die Tatbestandsvoraussetzungen einer Injurie waren die Rechtsfolgen, die das ALR an deren Begehen knüpfte: Einerseits beließ man es bei der in Preußen bereits 1713 erfolgten Abschaffung der ästimatorischen Injurienklage 158 . Andererseits erschien dem ALR-Gesetzgeber bei Ehrverletzungen im Gegensatz zu Angriffen auf sonstige Rechtsgüter die bloße Gewährung von Schadensersatz, gegebenenfalls neben einer öffentlichen Strafe, offenbar unzureichend. Schon allein um der seit der Abschaffung der Injurienklage wieder gestiegenen Neigung der höheren Stände entgegenzutreten, sich bei Ehrkränkungen Genugtuung im Duell zu verschaffen 159 , musste vielmehr dem Satisfaktionsbedürfnis des Beleidigten auch in anderer Weise Rechnung getragen werden. Folglich blieb es bei der traditionellen Dreispurigkeit der Sanktionierung von Injurien: dem rein ausgleichsorientierten Schadensersatz für Vermögensschäden, der öffentlichen Strafe und dazwischen einer Art von Privatgenugtuung, deren Existenz und Ausgestaltung zu den umstrittensten Fragen des preußischen Strafrechts im 19. Jahrhundert gehörte. §127 16 ALR. §538 II 20 ALR. 157 Vgl. §539 II 20 ALR. 158 Hierzu oben, B.II.3. a) dd). 159 Vgl. zur Abwägung dieser Wechselwirkungen zwischen der Ausgestaltung der Sanktionen für Injurien und der Häufigkeit von Duellen im Rahmen der preußischen Gesetzgebungsarbeiten das Schreiben v. Carmers an König Friedrich Wilhelm II. v. 17.3. 1791, abgedruckt in: Kamptz Jahrbücher 52 (1838), S. 124f.; zu ähnlichen Uberlegungungen im 19. Jahrhundert: Motive zu §§2Off. des revidierten Entwurfs des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten von 1833, abgedruckt bei: W. Schubert/J. Regge, Gesetzrevision 1/3, S. 333. 155
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland, vor dem BGB
aa) Schadensersatz Wegen der Abschaffung der ästimatorischen Injurienklage kamen Geldzahlungen des Beleidigers an den Beleidigten nur in Betracht, soweit es sich dabei nicht um eine Privatstrafe, sondern um Schadensersatz handelte. Auch insofern zog das A L R auf Geld gerichteten Ansprüchen eines Beleidigten allerdings engere Grenzen als anderen Geschädigten: O b w o h l es sich bei einer Injurie ja stets um eine vorsätzlich begangene Schädigung handelte 1 6 0 , bei der grundsätzlich der gesamte Schaden einschließlich des entgangenen Gewinns zu ersetzen war 1 6 1 , konnte für Vermögensschäden auf G r u n d von Ehrkränkungen Geldersatz nur verlangt werden, wenn diese unmittelbar zu einem Vermögensschaden geführt hatten 1 6 2 . Eine Begründung für die Ungleichbehandlung der durch Beleidigungen bewirkten Vermögensschäden boten weder das A L R selbst noch dessen Erläuterungen durch Svarez. Von der Literatur wurde daher verschiedentlich gefordert, auch in diesen Fällen Schadensersatz nach den allgemeinen Regeln zu gewähren, zumal eine im Sinne des A L R unmittelbare Vermögensschädigung 1 6 3 durch eine Ehrenkränkung kaum denkbar sei 164 . D i e se Kritik fand zwar ihren Niederschlag in dem E n t w u r f zur Revision des A L R von 1830 1 6 5 , konnte aber wie dieser auch sonst letztlich nicht umgesetzt werden. Eine Geldentschädigung für immaterielle Schäden auf G r u n d von Ehrkränkungen sah das A L R bis zuletzt nicht vor. K a m es trotz der restriktiven Bestimmungen des A L R zu Schadensersatzzahlungen wegen einer Beleidigung, war deren Rechtsnatur somit jedenfalls rein reipersekutorisch. Selbst die meisten Ansätze von pönalen Elementen, die sich beim Schadensersatzrecht für Vermögensschäden ausmachen lassen, fehlten. b b ) Privatgenugtuung N e b e n der knappen Regelung des Schadensersatzes für Vermögensschäden auf G r u n d von Injurien beschränkte sich der die Folgen unerlaubter Handlungen regelnde Titel des A L R im H i n b l i c k auf Ehrkränkungen auf den Hinweis, die hierfür zu erbringende Privatgenugtuung werde im Kriminalrecht bestimmt 1 6 6 . D o r t sah das A L R eine im Vergleich zum älteren Recht 1 6 7 modifizierte und ergänzte F o r m
160 Vgl. § 539 II 20 ALR: „Wer keine Absicht hat, den anderen durch Verachtung zu kränken, oder ihn zu beschimpfen, der macht sich auch keiner Injurie schuldig". 161 §§7, 10 16 ALR. 162 § 131 I 6 ALR: „Der Ersatz eines nach Geld in Anschlag zu bringenden Schadens kann nur in so fern gefordert werden, als der Schade aus der Ehrenkränkung unmittelbar entstanden ist". 163 § 2 16 ALR: „Wird ein solcher Nachtheil durch eine Handlung oder Unterlassung unmittelbar und zunächst bewirkt, so wird der Schade selbst unmittelbar genannt". 164 So etwa C.F. Koch, Landrecht I 1, S. 394, Fn. 76. 165 Die entsprechende Regelung des Entwurfs von 1830 (§98 I 6) lautete: „Eine Geldvergütung kann dabei nur in sofern gefordert werden, als zugleich eine Vermögensschädigung aus der Ehrenkränkung entstanden ist" (Zitat nach: W. Schubert, Gesetzrevision II/3, S. 70). 166 §130 16 ALR. 167 Zu Abbitte und Ehrenerklärung im gemeinen Recht oben, B.II.3 b).
III. Die Gesetzgebung
in den deutschen
Partikularstaaten
123
von Abbitte und Ehrenerklärung vor 168 . Jeder, dessen Ehre nach der Meinung Dritter unter der Handlung oder Äußerung eines anderen gelitten hatte, konnte danach, ohne einen Beleidigungsvorsatz nachweisen zu müssen, von diesem eine Ehrenerklärung verlangen 169 . Stand hingegen der Beleidigungsvorsatz des Täters fest, hatte der Richter dem Beleidiger, sofern dieser nicht freiwillig zur Abbitte beim Beleidigten bereit war, zusätzlich in bestimmter feierlicher Form einen nachdrücklichen Verweis zu erteilen 170 . Verschärft werden konnte diese Sanktion je nach Schwere der Injurie und Standeszugehörigkeit der Beteiligten, indem die Erteilung des Verweises bei offenen Gerichtstüren oder in Gegenwart mehrerer vom Beleidigten zu benennder Zeugen erfolgte 171 , der Beleidiger zur knieenden Entgegennahme des Verweises verpflichtet wurde 1 7 2 oder dieser öffentlich bekannt gemacht wurde 1 7 3 . Schmähschriften sollten darüber hinaus vor versammeltem Gericht vom Gerichtsdiener zerrissen und mit Füßen getreten werden 1 7 4 . Waren sie anonym verfasst, konnte der Beleidigte daneben ihre öffentliche Verbrennung durch den Henker verlangen 175 . Im Ergebnis wurde damit der schon zuvor einsetzende Prozess der zunehmenden Pönalisierung der Ehrenerklärung nunmehr auch äußerlich, durch die Eingliederung ins Strafverfahren, verdeutlicht. Hintergrund der Aufnahme der Vorschriften über die Privatgenugtuung in das A L R war der ebenso alte wie erfolglose Kampf des preußischen Gesetzgebers gegen die unter Offizieren und Adligen verbreiteten Duelle. Da die Androhung drakonischer Strafen sowohl für Injurien als auch für Duelle allein nicht den erhofften Rückgang dieser Praxis hatte bewirken können, sahen die ersten Entwürfe der preußischen Kodifikation bei Injurien unter den für ein Duell in Betracht kommenden Bevölkerungsgruppen daneben Ehrengerichte vor 176 . Diese sollten mit sechs Angehörigen desselben Standes wie die an dem Konflikt Beteiligten besetzt und nicht an die gesetzlichen Sanktionsmöglichkeiten gebunden sein. Im Einzelfall war die Entscheidung über den Injurienstreit sogar dem König selbst vorbehalten. Statt nur die Duelle selbst, wollte man damit deren Ursachen bekämpfen: die Furcht vor der Verachtung der Standesgenossen 177 . Während der Plan zur Errichtung von Ehrengerichten in der Öffentlichkeit insgesamt auf ein überwiegend positives Echo stieß 178 , lehnte das Ober-Kriegs-Kollegi§§586ff. II 20 ALR. §587 II 20 ALR. 170 §§595,6001120 ALR. 171 §§596f. II 20 ALR (bei öffentlichen Beleidigungen). 172 §598 II 20 ALR (bei der Beleidigung eines Vorgesetzten durch einen Untergebenen i.w.S.) 173 §599 II 20 ALR (bei Schmähschriften). 174 §620 II 20 ALR. 175 §621 II 20 ALR. 176 Vgl. den Abdruck der die geplanten Ehrengerichte betreffenden Vorschriften bei J. Regge, Gesetzrevision 1/3, S.456ff. Erläuternd hierzu der Schriftwechsel zwischen Großkanzler v. Carmer und dem Ober-Kriegs-Kollegium, abgedruckt in: Kamptz Jahrbücher 52 (1838), S. 118ff. 177 So Großkanzler v. Carmer in seinem Schreiben an das Ober-Kriegs-Kollegium vom 3.1.1791, abgedruckt in: Kamptz Jahrbücher 51 (1838), S. 119f. 178 Nachweise hierfür in den Schreiben des Großkanzlers v. Carmer an das Ober-Kriegs-Kollegi168
169
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B. Die Grenze zwischen
Privat-
und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
um eine derartige Einrichtung kategorisch ab. Die Begründung hierfür 179 zeigt deutlich, wie allenfalls halbherzig die militärische Führung die offizielle, gegen das Duellwesen gerichtete Politik der preußischen Justiz mittrug: So gab das Ober-KriegsKollegium offen zu, keineswegs alle Duelle mit den gesetzlich vorgesehenen Strafen zu belegen. Vielmehr würde zwischen langfristig vorbereiteten und sich spontan ergebenden Duellen (sog. „Rekontres") unterschieden, wobei letztere ganz oder weitgehend ungeahndet blieben. Dies sollte dazu beitragen, den „eigenthümlichen Charakter der Militairpersonen" zu erhalten, der durch die „standhafte Unerschrockenheit in jeder Gefahr, und äußerste Empfindlichkeit für jeden Angriff, der die Ehre oder Person verletzen kann" sowie die Bereitschaft zur Verteidigung gegen solche Angriffe bestimmt werde. Duelle seien danach zwar auch bei Offizieren als Übel anzusehen. Allerdings seien sie unverzichtbar notwendig, da nur durch die Durchführung des Duells sich ein beleidigter Offizier die Achtung seiner Kameraden und Untergebenen erhalten könne. Die Beseitigung der Duelle würde daher in bedenklicher Weise „den jetzt noch so ausgezeichneten Geist der Königlichen Armee verändern", der sie „auf die erste Stufe des Ruhms erhoben" habe 180 . König Friedrich Wilhelm II. reagierte auf diese Bedenken, indem er zwar formal die Absicht v. Carmers lobend anerkannte, der Duellpraxis entgegenzuwirken, in der Sache aber uneingeschränkt im Sinne des Ober-Kriegs-Kollegiums entschied. Dabei übernahm er dessen Argumentation auch für die nicht dem Militär angehörenden Adligen: U m „nachtheilige Wirkungen auf den Esprit" der Militärpersonen zu vermeiden 181 , denen die „Ehre die Stelle aller Glücksgüter vertritt" 182 , ordnete er die Streichung der Vorschriften über die Ehrengerichte für Injurienstreitigkeiten an 183 , nahm also die Beibehaltung der Duellpraxis weiterhin in Kauf. In Anbetracht der Bedeutung des Offizierskorps für den preußischen Staat war der Auftrag an die Verfasser des A L R damit fest umrissen: Gesetzliche Neuerungen, die die Verfolgung von Ehrverletzungen in justizförmige Bahnen zu lenken versuchten, waren unerwünscht und unnötig. Das auch von v. Carmer als verbreitet vorausgesetzte „Vorurtheil, daß gekränkte Ehre eines Edelmannes oder Offiziers nicht durch gerichtliche Erkenntnisse, sondern nur durch Blut wiederhergestellt werden könne" 1 8 4 , wurde vom König und der Armeeführung wenn nicht geteilt, so doch jeum vom 3.1.1791, abgedruckt in: Kamptz Jahrbücher 52 (1838), S. 120, und an den König vom 17.3. 1791, abgedruckt: ebenda, S. 124f. 179 Zusammengefasst in dem Schreiben des Ober-Kriegs-Kollegiums an den Chef der Justiz von Carmer vom 4.2. 1791, abgedruckt bei: J. Regge, Gesetzrevision 1/3, S.459ff. 180 Schreiben des Ober-Kriegs-Kollegiums an den Chef der Justiz von Carmer vom 4.2.1791, abgedruckt bei: ]. Regge, Gesetzrevision 1/3, S. 459f. 181 Kabinetts-Ordre vom 21.3. 1791, abgedruckt bei: J. Regge, Gesetzrevision 1/3, S.461 [dort fälschlich mit 21.5. 1791 datiert, vgl. zur korrekten Datierung den Abdruck in: Kamptz Jahrbücher 52 (1838), S. 125f.]. 182 So der Wortlaut eines Reskripts zur Regelung der Injurienstrafen vom 19.5.1799, abgedruckt in: Ergänzungen und Erläuterungen VI, S.363 (= N.C.C.M. 1799, Nr. XXII, Sp.2397f.). 183 Kabinetts-Ordre vom 21.3. 1791, abgedruckt bei:J. Regge, Gesetzrevision 1/3, S.461. 184 Zitat aus dem Schreiben des Großkanzlers v. Carmer an das Ober-Kriegs-Kollegium vom 3.1. 1791, abgedruckt bei: Kamptz Jahrbücher 52 (1838), S. 119.
III. Die Gesetzgebung in den deutschen
Partikularstaaten
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denfalls geduldet. Dies erklärt auch die Verzichtbarkeit der Injurienklage in Preußen: K o n n t e n nach den herrschenden Moralvorstellungen zumindest bei Angehörigen der höheren Stände, also dem Hauptklientel dieses Rechtsbehelfs, ohnehin „ B e leidigungen nur mit Blut abgewaschen werden" 1 8 5 , musste die Erhebung einer I n j u rienklage anstößig erscheinen. Dies jedoch nicht wegen ihres pönalen Charakters oder ihrer fehlenden Rechtfertigung unter reipersekutorischen Aspekten, wie schon die bedenkenlose Verwendung pönaler Elemente beim Ersatz von Vermögensschäden belegt. Anstößig war vielmehr jede gerichtliche Ahndung von Beleidigungen auf Betreiben des Beleidigten, da diese als N o t b e h e l f des Schwächlings angesehen wurde, der den moralisch gebotenen Zweikampf mit dem Beleidiger scheute. A n die Stelle der christlich-dogmatisch oder rein praktisch motivierten Bedenken, die die Jahrzehnte vor dem A L R beherrschten 1 8 6 , trat damit die auf einem übersteigerten Ehrgefühl fußende, offiziell mit praktischen Einwänden verbrämte und rational daher kaum greifbare Abneigung gegen die private Verfolgung immaterieller Schädigungen, die sich in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert hinein behaupten sollte. N a c h dem Scheitern des Vorhabens, Ehrengerichte zur Verfolgung von Injurien einzurichten, beschränkte sich v. C a r m e r für das zeitgleich 1 8 7 mit dieser Anordnung veröffentlichte A G B und das spätere A L R auf die um den Verweis ergänzten traditionellen F o r m e n der Privatgenugtuung, die Ehrenerklärung und die Abbitte 1 8 8 . D e ren Rechtsnatur war, wie sowohl ihre Ausgestaltung als auch ihre weitgehend im Strafrecht angesiedelte Regelung zeigt, trotz gewisser reipersekutorischer Ansätze überwiegend pönal. In der Folgezeit erwies sich dieses im A L R vorgesehene System zur Sanktionierung von Injurien jedoch als in nahezu jeder Hinsicht unzulänglich. Vor allem bei leichten Injurien waren die dort vorgesehenen Strafen zu hart oder ihrer Art nach ungeeignet. N o c h in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des A L R wurden deswegen umfassende R e f o r m e n erforderlich 1 8 9 . Aber auch die im A L R vorgesehene Privatgenugtuung hatte weder zur Eindämmung des Duellwesens beigetragen noch einen Rückgang der Zahl der Injurienstreitigkeiten bewirkt. Vielmehr ergaben sich bei den damit verbundenen Verfahren ähnliche Probleme und unangenehme Begleiterscheinungen wie zuvor bei der ästimatorischen Injurienklage. Darüber hinaus erwies sich der dem Beleidiger durch den die Verhandlung leitenden Richter „feyerlich und nachdrücklich" 1 9 0 zu erteilende Verweis, zumal wenn es sich bei dem Beklagten 185 So Großkanzler v. C a r m e r in seinem Schreiben a n d e n K ö n i g v o m l 7 . 3 . 1 7 9 1 , abgedruckt bei: Kamptz Jahrbücher 52 (1838), S. 124. 186 Zu diesen oben, B . I I . 3 . a) bb) und dd). 187 Die die Ehrengerichte bereits nicht mehr enthaltende Fassung des A G B wurde mit Publikationspatent vom 2 0 . 3 . 1791 veröffentlicht, vgl. den A b d r u c k A G B I (1791), S. I l l f f . 188 § § 5 8 6 f f . II 20 A G B . 189 Circular-Verordnung vom 3 0 . 1 2 . 1 7 9 8 , 4 . Abschnitt, „Vom Verfahren in Injurien, und Bestimmung der Strafen" (abgedruckt in: Ergänzungen und Erläuterungen V I , S. 362 = N . C . C . M . 1798, Nr. X C V , Sp. 1833ff., 1840ff.). Zur meist noch milderen Praxis der Gerichte (regelmäßig Halbierung der im A L R vorgegebenen Strafhöhe) am Beispiel des Kreis-Gerichts Berlin vgl. die Angaben in: E r gänzungen und Erläuterungen V I , S. 363. 190 So der Wortlaut des § 5 9 5 II 20 A L R .
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B. Die Grenze zwischen
Privat-
und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
um einen Angehörigen der höheren Stände handelte, häufig als geradezu peinliche Farce 191 . Auf Betreiben v. Hardenbergs 1 9 2 setzte daher eine Kabinetts-Ordre von 1811 193 die die Privatgenugtuung regelnden Paragraphen des A L R außer Kraft, da die „Strafe, welche gegen den Beleidiger erkannt wird, ... für den Beleidigten eine hinlängliche Genugtuung" sei. Dem Kläger blieb fortan lediglich das Recht vorbehalten, eine Ausfertigung der Urteilsformel und bei Schmähschriften eine öffentliche Bekanntmachung der verhängten Strafe zu verlangen. Damit reduzierte sich der Rechtsschutz bei Ehrkränkungen in Preußen, abgesehen von den öffentlichen Injurienstrafen, auf die Möglichkeit zur Geltendmachung eines nahezu vollständig entpönalisierten Schadensersatzes für unmittelbare Vermögensschäden. Der folgende Aufschwung des Duellwesens, das zunehmend auch das nicht dem Militärstand angehörende höhere Bürgertum erfasste, belegt jedoch eindrucksvoll, als wie unzulänglich diese Rechtslage von der Bevölkerung empfunden wurde.
3. Der französische Rechtskreis in Deutschland Im Gefolge der Siege Napoleons breitete sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch der Geltungsbereich des französischen Code civil (Cc) von 1804 aus. Zumindest vorübergehend galt dieser daher auch in weiten Teilen Deutschlands 194 . Während die meisten Staaten im Zuge der Restauration das französische Zivilrecht ab 1814 jedoch wieder außer Kraft setzten, blieb es in den Rheinlanden bis zum BGB geltendes Recht. Besonders unbeeinträchtigt zeigte sich diese Kontinuität in Baden, da hier das französische Recht anders als etwa in den rheinischen Gebieten Preußens oder Bayerns nicht unter dem Zwang stand, sich der Rechtslage im jeweiligen restlichen
191 Vgl. den Immediat-Bericht des Justizministers v. Kircheisen an den Staatskanzler v. Hardenberg v. 30.1. 1811, wiedergegeben in den Motiven zum preuß. StGB-Entwurf von 1828, abgedruckt bei: W. Schubert/]. Regge, Gesetzrevision 1/1, S.667: „Wenn der Richter auch wirklich ein Mann ist, der zu einem solchen Geschäfte das nöthige Ansehen und die nöthige Redegabe besitzt, so wird doch die beste Methode, diesen Auftrag auszurichten, an der Erbitterung des Einen und der Schadenfreude des Andern der beiden streitenden Theile scheitern, und eine gerichtliche Handlung artet in ein ärgerliches Schauspiel aus. Noch mehr ist dieses der Fall, wenn der Richter, oft ohne äußeres Ansehen, sich bei der Sache nicht zu benehmen weiß, und der Verweis einem gebildeten Manne ertheilt werden soll. Was in dem besten Falle erreicht wird ist nichts weiter, als das Gefühl befriedigter Rachsucht, welches dem Beleidigten durch die Demüthigung seines Gegners verschafft wird. Ein solches unmoralisches Gefühl zu nähren und zu begünstigen kann nicht Zweck der Gesetzgebung seyn". 192 Zur Person Karl August v. Hardenbergs (1750-1822) vgl.: G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S. 481; E.R. Huber, Verfassungsgeschichte I, S.122ff. 193 Kabinetts-Ordre vom 1.2. 1811, pr. GS 1811, S. 149, erlassen auf Bericht v. Hardenbergs vom 30.1. 1811. 194 Umfassend und grundlegend hierzu: W. Schubert, Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts (1977); vgl. daneben: Cretschmar, Rheinisches Civilrecht, 4. Auflage (1896); R. Schulze, Recht, S.23ff.; C. Barazetti, Einführung, S.26ff.
III.
Die Gesetzgebung
in den deutschen
Partikularstaaten
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Staatsgebiet anzunähern 1 9 5 . Außerdem fanden in Baden die in ähnlicher Weise auch im übrigen Rheinland praktizierten 1 9 6 Abweichungen des rheinischen Deliktsrechts v o m französischen von vornherein ihren ausdrücklichen Niederschlag im Badischen Landrecht, weshalb die Diskrepanzen zwischen beiden Rechtsordnungen sich hier eindeutiger festmachen lassen als in denjenigen rheinischen Staaten, in denen die A n passung des französischen Rechts Rechtsprechung und Rechtswissenschaft überlassen blieb.
a) Der Code civil und die französische Rechtspraxis im 19. Jahrhundert Gerade auch im Deliktsrecht spiegeln sich mit besonderer Deutlichkeit die für den C o d e civil typischen Merkmale 1 9 7 wider: Die Vorschriften sind äußerst knapp und abstrakt formuliert. Dabei treten die den gesamten C o d e civil prägenden weitreichenden naturrechtlichen Einflüsse unübersehbar hervor 1 9 8 . K o n k r e t bedeutet dies vor allem die konsequente, nicht zuletzt durch die Schriften Pothiers vorbereitete 1 9 9 Umsetzung der traditionellen Forderung der Naturrechtslehren 2 0 0 nach einer schadensersatzrechtlichen Generalklausel 2 0 1 : „Tout fait quelconque de l'homme, qui cause à autrui un dommage, oblige velui par la faute duquel il est arrivé, à le réparer" „Jede Handlung eines Menschen, von welcher A r t sie auch sei, die einem Anderen Schaden verursacht, verbindet denjenigen, durch dessen Verschulden der Schaden entstanden ist, denselben zu ersetzen" (Art. 1382 C c ) 2 0 2 . D e r danach von jedem schuldhaft handelnden Schädiger zu leistende Schadensersatz bestand vorbehaltlich anderweitiger Regelungen durch den Richter, der auch auf die Pflicht zur Naturalrestitution erkennen konnte, stets in einer Geldzahlung 2 0 3 . D i e nähere Ausgestaltung der Restitutionspflicht blieb Rechtsprechung und Rechtswissenschaft vorbehalten. Diese nutzten in der Folgezeit die geringe R e g e lungsdichte des C o d e civil, um Art. 1382 C c nicht nur für die Gewährung eines Schadensersatzanspruchs bei Vermögensschäden jeglicher Art heranzuziehen, sondern 195 Vgl. zur Fortgeltung des französischen Rechts nach 1814: W. Schubert, Z R G GA 94, S. 129ff.; ders., Recht, S.594ff.; F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S.345f. 196 Dazu: C. Barazetti, Einführung, S.214f. 197 Zu den Kennzeichen des Code civil, v.a. im Vergleich zu den deutschen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts, vgl. nur: C. Barazetti, Einführung, S.47ff.; A. Bürge, Privatrecht, S. 3 ff.; F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 339ff.; ders., Aufstieg, S.42ff.; H. Schlosser, Grundzüge, S. 130ff. 198 Hierzu vgl. etwa R. Schulze, Recht, S. 14ff. 199 Zu Robert-Joseph Pothier vgl. G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S. 321 ff., zur Bedeutung seiner Werke für die Aufnahme einer schadensrechtlichen Generalklausel in den Cc: H. Jentsch, Entwicklung, S. lOf. 2 0 0 Zu den Forderungen der Naturrechtler nach einer umfassenden schadensersatzrechtlichen Generalklausel seit Hugo Grotius oben, B.II.5. 201 Zur Generalklausel der Art. 1382f. Cc umfassend: D. Biesalski, Grundzüge der Deliktshaftung nach Artikel 1382, 1383 des Code civil im französischen Recht (1975); ein kurzer Uberblick auch bei: H. Going, Privatrecht II, S. 516f.; H. Jentsch, Entwicklung, S. 10f.; A. Seng, Grundzüge, S. 68ff.; W. Behagel, Recht, S. 574ff. 2 0 2 Ubersetzung nach der Ausgabe des Code civil von H. Loersch, S. 132 f. 203 D. Biesalski, Grundzüge, S. 140ff.; H. Coing, Privatrecht II, S.517.
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B. Die Grenze zwischen
Privat-
und Strafrecht
in Deutschland
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dehnten diesen auch uneingeschränkt auf die vom Gesetzgeber weder gesondert geregelten noch im Rahmen der Gesetzgebungsarbeiten auch nur erörterten immateriellen Schäden („dommage moral") aus 204 . Hierbei konnte es sich um Schmerzen, Ehrkränkungen, sonstige Persönlichkeitsrechtsverletzungen oder auch andere seelische Beeinträchtigungen handeln, etwa auf Grund des Todes eines nahen Angehörigen oder infolge sexueller Ubergriffe 2 0 5 . Die Höhe der für einen „dommage moral" zu leistenden Geldentschädigung setzte der Richter im Wege der Schätzung fest 206 . Im Übrigen blieb es bei den allgemeinen Schadensersatzbestimmungen, da die französische Rechtspraxis und Rechtswissenschaft die Entschädigung für einen dommage moral als regulären Schadensersatzanspruch behandelten, nicht etwa als Privatstrafe oder sonstige pönale Sanktion 207 . Insbesondere waren also derartige Ansprüche aktiv wie passiv vererbbar 208 . Bei mehreren Schädigern hafteten diese gemeinschaftlich, wobei die Leistung des einen die anderen im Außenverhältnis von ihrer Zahlungspflicht befreite, wenn sie gemeinschaftlich handelten 209 , während bei unabhängig voneinander handelnden Schädigern jeder anteilig haftete 210 . Die Pönalität der Geldentschädigung für immaterielle Schäden nach dem Code civil beschränkte sich daher - zumindest nach dem Wortlaut der gesetzlichen Bestimmungen - weitgehend auf das dabei wegen der fehlenden exakten Bestimmbarkeit der Schadenshöhe unvermeidbare Maß. Allerdings wird diese Bewertung durch den im Vergleich zu den deutschen Rechtsordnungen des 19. Jahrhunderts ungleich größeren Ermessensspielraum relativiert, den das französische Recht gerade bei der Bemessung der Höhe des Schadensersatzes dem Richter von Anfang an zubilligte 211 : Da eine solche Regelung dem Richter die Möglichkeit eröffnet, in weitem Umfang und losgelöst von Schadensausgleichsaspekten auch Billigkeitserwägungen in die Schadensberechnung einfließen zu lassen, lag es nahe, hierbei stillschweigend oder ausdrücklich auch pönale Kriterien wie die Vermögensverhältnisse oder den Verschuldensgrad 204 Zur Ersetzbarkeit des dommage moral im französischen Recht vgl. statt aller: H. Mazeaud/L. Mazeaud/A. Tune, Traité théorique I, S. 392ff.; M. Ferid, Zivilrecht I, 2 B 91 f.; D. Biesalski, Grundzüge, S.24ff.; R. Förtsch, Darstellung, S. 218; //. Giese, Dommages-intérets, S. 19ff.; zum Persönlichkeitsrechtsschutz im heutigen französischen Recht vgl. die Ubersicht bei: C. Heisig, Persönlichkeitsschutz, S. 69ff.; I. Schmitz, Persönlichkeitsrechte, S. 11 ff.; G. Simon, Persönlichkeitsschutz, S. 138ff.; R. Huguenin, Haftung, S.21f. 205 Beispiele bei: H. Mazeaud/L. Mazeaud/A. Tune, Traité théorique I, S. 392ff., 400ff.; D. Biesalski, Grundzüge, S.28ff.; M. Ferid, Zivilrecht I, 2 B 91 f.; H. Coing, Privatrecht II, S. 516; C. Barazetti, Einführung, S. 213, 215; K.-F. Deutler, Schmerzensgeld, S.47ff. 206 H. Coing, Privatrecht II, S.516f. 207 H. Coing, Privatrecht II, S. 516; K.-F. Deutler, Schmerzensgeld, S.49; D. Biesalski, Grundzüge, S. 27, 141. 208 K.S. Zachariä, Handbuch, S. 743; vgl. auch Art. 2 des Code d'instruction criminelle v. 1808. 209 Art. 55 Code pénal v. 1810: „Tous les individus condamnés pour un meme crime ou pour un meme délit, sont tenus solidairement des amendes, des restitutions, des dommages-intérets et de frais" - „Alle wegen des nämlichen Verbrechens oder wegen des nämlichen Vergehens verurtheilten Individuen haften solidarisch für die Geldbußen, Wiedererstattungen, den Schadensersatz, und die Kosten" (zit. nach W. Schubert, Code pénal, S. 138f.). 210 K.S. Zachariä, Handbuch, S.742, als Umkehrschluß aus Art. 1197 Cc. 211 Nachweise hierfür bei: D. Biesalski, Grundzüge, S. 140.
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des Schädigers zu berücksichtigen. Dies umso mehr, je ungenauer sich die tatsächliche Schadenshöhe ermitteln ließ, also vor allem bei Nichtvermögensschäden 2 1 2 .
b) Baden Im Großherzogtum Baden trat der Code civil in einer amtlichen Ubersetzung zum 1.1.1810 als Badisches Landrecht in Kraft 213 . Allerdings ermöglichten ca. 500 Zusätze, die zwar offiziell nur der Anpassung der französischen Kodifikation an die badischen Verhältnisse und der Erläuterung des oft spärlichen Gesetzestextes dienen sollten, diesen aber jedenfalls im Deliktrecht zum Teil in sein Gegenteil verkehrten 214 , sowie die subsidiäre Weitergeltung des gemeinen Rechts 215 , von Anfang an auch eine vom französischen Recht losgelöste Entwicklung. Dabei wurde die Frühphase des badisch-französischen Rechts maßgeblich von dem Organisator der badischen Innen- und Justizverwaltung sowie Präsidenten der Gesetzgebungskommission Johann Nikolaus Friedrich Brauer 216 geprägt, der das Badische Landrecht auch selbst in einem umfänglichen Werk erläuterte 217 . aa) Die Anwendung der schadensersatzrechtlichen Generalklausel Auf die Generalklausel zur Gewährung von Schadensersatz in den Art. 1382f. des Badischen Landrechts entfielen sieben der Zusätze zum Text des Code civil 218 . Für die Frage nach etwaigen pönalen Elementen im badischen Schadensersatzrecht erlangte dabei vor allem der Zusatz f zu Art. 1382 Bedeutung, der den Umfang des Schadensersatzes bei Personenschäden festlegte: „Bei persönlichen Beschädigungen besteht die Entschädigung in den Herstellungskosten und in dem entbehrten Verdienst des Beschädigten: Schmerzensgeld kann nicht gefordert werden." Diese Regelung bewirkte für Baden keine Rechtsänderung, sondern bestätigte lediglich die vor dem Inkrafttreten des Badischen Landrechts geltende Rechtslage: Bereits das 7. Organisationsedikt vom 18.3. 1803, vorrangig mit der Umsetzung des
212 Zu den pönalen Elementen bei der Berechnung der Entschädigung für den d o m m a g e moral: M. Ferid, Zivilrecht I, 2 B 91; D. Biesalski, Grundzüge, S.27f., 141f., 148ff. 213 Zur Entstehungsgeschichte des Badischen Landrechts umfassend : W. Schubert, Recht, S. 193ff.; C. Barazetti, Einführung, S.30ff. 2 , 4 Zahlreiche Beispiele hierfür bei: C. Barazetti, Einführung, S.36, 288ff.; zweifelnd an der Bedeutung der Zusätze dagegen: W. Schubert, Recht, S.209ff., 234. 215 Art. 3 des 2. Einführungsedikts z u m Badischen Landrecht vom 22.12. 1809 (Bad. Reg.-Bl. 1809, S.495ff.); zu den Bedenken Brauers hiergegen: W. Schubert, Recht, S.214ff. 2 1 6 Johann N i k o l a u s Friedrich Brauer (1754-1813), vgl. zu diesem G. Kleinheyer/J. Schröder, J u risten, S. 468; zu seinem Einfluss auf die badische Gesetzgebung: W. Schubert, Recht, S. 194 ff.; C. Barazetti, Einführung, S. 36. 217 J.N.F. Brauer, Erläuterungen über den C o d e Napoleon un die Großherzoglich Badische bürgerliche Gesetzgebung, 6 Bde (1809ff.). 218 Zu den A b w e i c h u n g e n des badischen Landrechts vom C o d e civil im Bereich des Deliktsrecht: W. Schubert, Recht, S.231ff.; W. Behagel, Recht, S.108ff.
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wenige Tage zuvor ergangenen Reichsdeputationshauptschlusses 219 befasst, hatte die Injurienklage für Baden beseitigt 2 2 0 . Dieses Verbot war von der Kur-Badenschen Obergerichtsordnung vom 11.11. 1803 übernommen worden, die zugleich erneut klarstellte, dass in Injuriensachen künftig „gar keine bürgerliche sondern bloß peinliche oder polizeyliche Erörterung Platz greife" 2 2 1 . Da in der Folgezeit in der badischen Richterschaft offenbar Zweifel aufkamen, ob hierdurch auch das gemeinrechtlich übliche Schmerzensgeld abgeschafft worden war, sah sich der Kurfürstliche Geheime Rat am 24.4. 1806 insofern zu einer Rechtsbelehrung genötigt: „Man hat es aber bey der hiesigen Gesetzgebung immer eines freyen Menschen unwürdig angesehen, seine Ehre durch ästimatorische Injurien Klagen oder seine Empfindungen durch ein Schmerzensgeld taxiren und somit sich als Waare behandeln zu lassen ... so kann auch für die Zukunft bey keiner Gerichtsstelle auf ein solches Schmerzensgeld erkannt werden" 2 2 2 . Der Hintergrund für die Ablehnung von Geldzahlungen für immaterielle Schäden durch das badische Recht zu Beginn des 19. Jahrhunderts spiegelte also schon den Zwiespalt wider, der bis ins 20. Jahrhundert hinein zur weitgehenden Verdrängung privatrechtlicher Sanktionen für die Verletzung sich nicht ohne weiteres in einem Vermögensschaden niederschlagender Rechte führen sollte: Einerseits lebte die Rechtsanschauung des römischen Rechts wieder auf, wonach die Taxierung des Körpers eines freien Menschen in Geld als anstößig galt 2 2 3 , andererseits übertrug man diese Ablehnung aber auch auf das Rechtsinstitut, das im römischen Recht die hierdurch entstehende Rechtsschutzlücke kompensiert hatte, nämlich auf die mit der actio iniuriarum einzuklagende Privatstrafe 224 . Anders als in Frankreich auf der Grundlage des Code civil konnte nach dem Badischen Landrecht somit Schadensersatz nur für Vermögensschäden gewährt werden 2 2 5 . Auch wenn dies grundsätzlich nach rein ausgleichsorientierten Kriterien erfolgte, war das badische Schadensersatzrecht allerdings trotzdem nicht völlig frei von pönalen Elementen. Vielmehr sollte schon die Bemessung der Höhe des Schadensersatzanspruchs wegen einer fahrlässigen Sachbeschädigung nach dem mittleren Wert der Sache zwischen ihrer Beschädigung und der Erfüllung der EntschädiHauptschluss der außerordentlichen Reichsdeputation v. 25.2. 1803, abgedruckt bei: E.R. Dokumente I, Nr. 1, S. 1 ff. 2 2 0 § 8 der 7. Organisationsedikts vom 18.3.1803 („Injurien-Sachen..., als in welchen überall keine bürgerliche, sondern blos peinliche oder policeyliche Erörterung und Entscheidung in Unsern Landen statt finden soll", zit. nach: Kurfürstlich Badische Landes-Organisation. In 13 Edicten sammt Beylagen, und Anhang, Karlsruhe 1803); zur Funktion der Organisationsedikte vgl. C. Barazetti, Einführung, S. 32. 221 §92 der Obergerichtsordnung von 1803, zit. nach der Ausgabe Mannheim 1804. 2 2 2 Kur-Badisches Regierungs-Blatt, 4. Jahrgang (1806), N r . l l , S.28f.; vgl. hierzu auch J.N.F. Brauer, Erläuterungen III, S. 293, der zur Begründung des Verzichts auf die Gewährung von Schmerzensgeld zusätzlich darauf verweist, dessen Geltendmachung sei „immer eine Art eines rachsüchtigen Begehrens ..., welches eine gute Gesetzgebung nie fördern soll", also das Schmerzensgeld auch wegen dessen vermeintlich pönaler Rechtsnatur ablehnt. 2 2 3 Näheres oben, B.I. a) aa). 2 2 4 Vgl. zu den Gründen: J.N.F. Brauer, Erläuterungen III, S.293. 225 J.N.F. Brauer, Erläuterungen III, S. 84ff., 292f. 219
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gungspflicht 226 nicht nur dazu dienen, dem Geschädigten einen Ausgleich für die entgangene Möglichkeit zu verschaffen, durch den Verkauf der Sache während dieses Zeitraums aus ihrer Wertsteigerung Gewinn zu erzielen, sondern auch dazu, den Schädiger zur zügigen Entschädigungsleistung anzuhalten 2 2 7 . N o c h deutlicher repressiv-pönal war jedoch die Zielsetzung der hiervon abweichenden Ermittlung des zu leistenden Entschädigungsumfangs bei vorsätzlichen Schädigungen: In diesen Fällen hatte der Schädiger „zur Strafe für seine unrechte That" den höchsten Wert zu ersetzen, der für die Sache zwischen ihrer Beschädigung und der Leistung der Entschädigung zu erzielen gewesen wäre 2 2 8 . bb) Die Wiedereinführung von Privatstrafen für Injurien Das Fehlen von Schmerzensgeldansprüchen des Opfers einer Körperverletzung bei gleichzeitiger Beschränkung der Rechtsfolgen von Injurien auf öffentliche Strafen wurde allerdings auch in Baden schon bald als unbefriedigend empfunden 2 2 9 . Im Rahmen der Prozessrechtsreform von 1831, die insbesondere wegen der Stimmengewinne der Liberalen nach der Julirevolution von 1830 zu einem der vordringlichen politischen Ziele der badischen Gesetzgebung geworden war 2 3 0 , kam es daher auch zu einer umfassenden Neuregelung der rechtlichen Konsequenzen von Injurien 2 3 1 . Danach stand eine vom Strafrichter gegen den Beleidiger verhängte Geldstrafe grundsätzlich nicht mehr dem Staat, sondern dem Beleidigten selbst zu, sofern dieser nicht durch eigenes Verschulden Anlass zu der Beleidigung gegeben hatte 2 3 2 . Zusätzlich konnte der Beleidigte, unabhängig von der Art der Bestrafung des Beleidigers, die Verkündung des Urteils vor drei Zeugen oder, bei öffentlichen Beleidigungen, dessen Bekanntmachung durch öffentlichen Anschlag oder Verkündung in der Presse verlangen 233 . Trotz gewisser Einschränkungen (v.a. kein Geldanspruch des Beleidigten bei der - praktisch allerdings wohl höchst seltenen - Verhängung von anderen Sanktionen als Geldstrafen) näherte sich Baden damit wieder der Rechtslage in den Gebieten des gemeinen Rechts an: Zwar blieb eine Geldentschädigung bei Nichtvermögensschäden weiterhin ausgeschlossen. Der Beleidiger konnte nunmehr aber je-
2 2 6 Zusatz a zu Art. 1151 („Verlust und Gewinn wird auf den höchsten laufenden Werth, der in der Zwischenzeit von der Beschädigung bis zur Entschädigung bestand, berechnet, wenn der Schaden vorsätzlich zugefügt wurde, andernfalls nur auf den mittleren, in keinem Fall auf den bloßen Neigungswerth des Beschädigten"). Zur Erstreckung der in den Art. 1149ff. des Badischen Landrechts getroffenen Regelungen auch auf außervertragliche Entschädigungsansprüche: J.N.F. Brauer, Erläuterungen III, S. 84f., 292. 227 J.N.F. Brauer, Erläuterungen III, S.93f. 2 2 8 Zusatz a zu Art. 1151, Zitat nach: J.N.F. Brauer, Erläuterungen III, S.93. 2 2 9 Vgl. etwa L. v. Jagemann, Verbrechen Körperverletzung, S. 376f. 2 3 0 Vgl. hierzu G. Dahlmanns, in: H. Coing, Handbuch III/2, S.2628ff. 231 Gesetz über die Ehrenkränkungen vom 28.12. 1831, Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungs-Blatt Nr. 3 vom 19.1.1832, S.43ff.; vgl. hierzu Th. Moosheimer, actio injuriarum, S. 32ff. 2 3 2 §10 des Gesetzes von 1831 (wobei die Höhe der Geldstrafe auf 150-200 Gulden begrenzt war). 2 3 3 §11 des Gesetzes von 1831.
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denfalls in der großen Mehrzahl der sich im Bereich der Bagatellkriminalität bewegenden Beleidigungen wieder zur Zahlung einer Privat(geld)strafe an den Beleidigten verurteilt werden. Diese Änderung war als Schärfung der Strafe für den Beleidiger gedacht, von der man sich eine erhöhte Abschreckungswirkung erhoffte 2 3 4 . Zu einer erneuten umfassenden Änderung der Bestimmungen über die Ahndung von Injurien führte dann deren Eingliederung in das neue badische Strafgesetzbuch von 18 4 5 2 3 5 . Obwohl man es dabei hinsichtlich der Rechtsfolgen von Ehrkränkungen grundsätzlich bei den Regelungen des Gesetzes von 1831 beließ, konnte sich doch bei der Frage, wem eine verhängte Geldstrafe zufließen sollte, die erste (ständisch besetzte 2 3 6 ) Kammer gegen die Abgeordneten der zweiten Kammer durchsetzen. Gemäß § 3 1 3 II des bad. S t G B von 1845 standen daher Geldstrafen auch bei Beleidigungen nunmehr nicht mehr dem Beleidigten selbst zu, sondern dieser konnte lediglich noch bestimmen, welcher „inländischen öffentlichen Anstalt" die vom Beleidiger zu zahlende Strafe zu Gute kommen sollte 2 3 7 . Die offizielle Begründung der ersten Kammer für ihre Ablehnung einer Geldzahlung an den Beleidigten knüpfte im Wesentlichen an die Rechtsbelehrung des Geheimen Rats von 1806 an: „Es widerstrebt dem Charakter unsers Volkes, sich, was bei Handelsnationen vielleicht nichts Anstößiges hat, Beleidigungen mit Geld ausgleichen zu lassen ... Welche Masse beklagenswerther Prozesse, welche traurige Folgen für seinen Charakter müßten eintreten, wenn ein Volk auf dieser Bahn voranrückte, und in erduldeten Beleidigungen ein Mittel zum Gelderwerb suchte?" 2 3 8 . Die wahren Motive der überwiegend adligen badischen Standesvertreter werden dagegen deutlich, wenn man vergleichend die Argumente heranzieht, die wenige Jahre zuvor in Württemberg zum Scheitern eines ähnlichen Gesetzgebungsvorhabens geführt hatten: Die württembergischen Abgeordneten hatten 1839 gegen den heftigen Widerstand der Regierung darauf bestanden, es dem Ehrgefühl des jeweils Betroffenen zu überlassen, ob dieser die ihm zugesprochene Summe einer wohltätigen Einrichtung zukommen lassen wollte, weil sie befürchteten, anderenfalls der Selbstjustiz Vorschub zu leisten 239 . Zwar erwiesen sich die badischen Abgeordneten als kompromissbereiter, da dem „fein fühlende[n] Ehrenmanne" die Auszahlung der Geldstrafe an eine von ihm bestimmte Einrichtung immer noch ungleich größere Genugtuung verschaffen könne als „eine bloß in den allgemeinen Staatsbeutel fallende Geldbuß e " 2 4 0 und die Beleidigten auch nach der früheren Rechtslage häufig zu Gunsten eiNachweise hierfür bei: Th. Moosheimer, actio injuriarum, S.34f. In Kraft getreten am 1.3. 1851, vgl. hierzu Th. Moosheimer, actio injuriarum, S. 35ff.; L. v. Jagemann, Verbrechen Ehrenkränkung, S. 54ff. 2 3 6 Zur Zusammensetzung der 1. badischen Kammer vgl. § 27 der badischen Verfassung vom 22.8. 1818, abgedruckt bei E.R. Huber, Dokumente I, Nr.54, S. 172ff., 174. 2 3 7 Zur Handhabung der Auswahl dieser „öffentlichen Anstalt" durch die Praxis vgl.: L. v. Jagemann, Verleumdung, S.265f. 2 3 8 Bericht der 1. Kommission, zitiert nach: W. Thilo, Strafgesetzgebung I, S. 287 (2.). 2 3 9 Umfassende Nachweise zur Diskussion über die Injurienklage bei: Th. Moosheimer, actio iniuriarum, S.62ff., v.a. 64f.; Wächter, Fortschritte, S. 77ff. 2 4 0 Bericht der 2. Kommission, zitiert nach: W. Thilo, Strafgesetzgebung I, S.287 (3.). 234
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ner wohltätigen Einrichtung auf die ihnen zustehende Zahlung des Beleidigers verzichtet hatten 241 . Dennoch dürfte der alte Konflikt zwischen der Duldung der Injurienklage und der Duldung des Duellwesens doch auch in Baden eher die Regelung des Beleidigungsrechts bestimmt haben, als grundlegende Unterschiede in der charakterlich-moralischen Disposition der badischen und württembergischen Bevölkerung. Diese Vermutung findet sich bestätigt, wenn man die milden Strafen des badischen S t G B von 1845 für Duelle, die nur den mit Härte trafen, der weiter ging, „als die Gesetze der Ehre besagen" 242 , mit den Feststellungen in Verbindung bringt, die zur gleichen Zeit im württembergischen Abgeordnetenhaus über die Sanktionierung von Ehrverletzungen im praktischen Alltag getroffen wurden: Danach kam eine an den Beleidigten zu zahlende Geldstrafe nur für die Mittelschicht als probate Reaktion auf eine erlittene Beleidigung in Betracht, die Unterschicht löse derartige Konflikte im Wege der Selbstjustiz, die Oberschicht durch ein Duell der Beteiligten 243 . Das mangelnde Interesse der ersten badischen Kammer an einer auf Geld gerichteten Injurienklage dürfte also vor allem darauf beruht haben, dass man weiterhin auf das Duell als adäquates Sanktionsmittel für Ehrkränkungen vertraute. Inwieweit jemals beabsichtigt war, die ohnehin recht milden und nur mit großem apologetischen Aufwand 2 4 4 überhaupt festgelegten Strafen für Duelle im badischen S t G B von 1845 mit größerer Konsequenz anzuwenden als die stets nur halbherzig umgesetzten drakonischen Strafvorschriften der Duellmandate des 18. Jahrhunderts 2 4 5 , erscheint daher mehr als fraglich. cc) Schadensersatz bei Körperverletzungen und Ehrkränkungen Zeitgleich mit dem S t G B von 1845 verabschiedeten die badischen Kammern auch ein Gesetz über die privatrechtlichen Folgen von Verbrechen 246 . Dieses sollte das Badische Landrecht ergänzen und die dort festgestellten drängendsten Lücken des deliktischen Schadensersatzrechts schließen 247 . Als Regelfall war dabei eine Geltendmachung der Schadensersatzansprüche im Adhäsionsverfahren vor dem Strafrichter vorgesehen 248 . Daneben sollte aber auch die Klageerhebung vor den bürgerlichen
Bericht der 1. Kommission, zitiert nach: W. Thilo, Strafgesetzgebung I, S. 287 (2.) Motive zum X X . Titel („Von dem Zweikampf"), abgedruckt bei: W. Thilo, Strafgesetzgebung I, S.293ff., 295. 243 So v.a. die Kommission der Kammer der Abgeordneten, vgl. H. Knapp, Gesetz, S. 193f.; Wächter, Fortschritte, S. 77, Fn. 90. Weitere Nachweise hierfür bei: Th. Moosheimer, actio iniuriarum, S.64f. (v.a. Anm.239). 244 Vgl. nur die Motive zum X X . Titel des StGB von 1845, abgedruckt bei: W. Thilo, Strafgesetzgebung I, S.293f. 245 Beispiele hierfür oben, B.II.3. a) dd). 246 Gesetz, die privatrechtlichen Folgen von Verbrechen betreffend, vom 6.3. 1845, 3. Beilage zu Nr. X V des Großherzoglich Badischen Regierungsblatts vom 21.5. 1845, 53. Jahrgang (1845), vgl. dazu: W. Behagel, Recht, S. 111. 247 Zu den Mängeln des älteren badischen Rechts vgl. L. v. Jagemann, Verbrechen Körperverletzung, S. 376ff. 248 Zu den Gründen hierfür: W. Thilo, Strafgesetzgebung II, S.295, 305f. 241
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Gerichten nach Abschluss des Strafverfahrens möglich bleiben, wobei dann im Zivilprozess die im Strafverfahren getroffenen Tatsachenfeststellungen zu Grunde zu legen waren 249 . Die wesentlichste Verbesserung für Verbrechensopfer, die das Gesetz von 1845 bewirkte, war eine Lockerung der Bindung des Richters an feste Beweisregeln, die zuvor die Erstattung nicht exakt zu berechnender Vermögensschäden oft vereitelt hatte 250 . Befürworter einer freien richterlichen Beweiswürdigung fanden sich vor allem unter den Abgeordneten der zweiten badischen Kammer, während in der ersten Kammer verschiedentlich Bedenken gegen eine derartige Ausdehnung der Richterkompetenzen geltend gemacht wurden 251 . Die Rechtsnatur der meisten aus dem Gesetz von 1845 folgenden Ergänzungen des Badischen Landrechts waren eindeutig reipersekutorisch: Verändert wurde lediglich die Art der Berechnung des vom Kläger erlittenen Vermögensschadens, wobei jedoch alleiniges Ziel das Bemühen blieb, den entstandenen Schaden so genau wie möglich auszugleichen. Anders verhielt es sich jedoch mit den §§ 10-15 des Gesetzes von 1845, die an die Stelle des Zusatzes f zu Art. 1382 des Badischen Landrechts traten (§10). Danach konnten Verbrechensopfer u.a. eine Entschädigung verlangen, wenn durch die Straftat „das künftige Fortkommen der davon getroffenen Person erschwert" wurde (§ 14 I). Als Regelbeispiele für Verbrechen, bei denen dies in Betracht kam, nannte das Gesetz insbesondere Sexualdelikte, Ehrkränkungen sowie Körperverletzungen, die zu bleibenden Verunstaltungen des Opfers geführt hatten (§ 14 II). Anders als dies der Wortlaut vermuten lassen könnte und wie es wegen der Aufgabe der festen Beweisregeln durchaus möglich gewesen wäre, sollte damit jedoch für Baden weder ein Anspruch auf Schmerzensgeld noch ein Schadensersatzanspruch für sonstige immaterielle Schäden eingeführt werden. Vielmehr zielte § 14 ähnlich wie der heutige § 824 B G B allein auf den Ersatz von nicht im Einzelnen exakt bezifferbaren Vermögensschäden des Opfers 2 5 2 , etwa wenn eine finanziell reizvolle Ehe wegen der Vergewaltigung der Verlobten nicht geschlossen wurde oder einem Bewerber ein lukrativer Arbeitsplatz auf Grund einer gegen ihn gerichteten Verleumdung entging 253 . Insofern entsprach die Regelung also dem älteren gemeinen Recht. U m den richterlichen Ermessensspielraum bei der Bemessung der Höhe des zu leistenden Schadensersatzes zu begrenzen 254 , hielt man es für erforderlich, diesem Richtlinien für die Ermittlung des festzusetzenden Betrages an die Hand zu geben (vgl. §15). Danach sollte der Richter neben der mutmaßlichen Höhe des Schadens namentlich den Grad des Verschuldens des Täters sowie seine Vermögensverhältnisse berücksichtigen (§15 II). Trotzdem die Ansprüche aus § 14 des Gesetzes von 1845 §18 des Gesetzes vom 6.3. 1845. W. Thilo, Strafgesetzgebung II, S.298f., 325. 251 Nachweise hierfür bei: W. Thilo, Strafgesetzgebung II, S. 298ff. 252 W. Thilo, Strafgesetzgebung II, S.297, 323 f. 253 Zu diesen und ähnlichen Beispielen vgl. den Kommissionsbericht II, wiedergegeben von: W. Thilo, Strafgesetzgebung II, S. 324 (2.). 254 W. Thilo, Strafgesetzgebung II, S.325 (II.). 249 250
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lediglich den Kreis der ersetzbaren Vermögensschäden erweitern sollten, richtete sich die H ö h e dieser Ansprüche also ausdrücklich auch nach pönalen Kriterien. Dies stand im eindeutigen Widerspruch zu allen Grundsätzen, die im übrigen badischen Schadensersatzrecht für die richterliche Ermessensausübung bei der Schadensermittlung galten. Schon deshalb kann die einzige offizielle Erklärung für den in dieser Regelung liegenden dogmatischen Stilbruch, dieser beruhe auf der Notwendigkeit der Ausübung des richterlichen Ermessens „ex aequo et b o n o " 2 5 5 , nicht überzeugen. Jedenfalls belegt die offenbar unumstrittene Bereitschaft zur Einbeziehung pönaler Bemessungskriterien bei der Ermittlung der H ö h e von Vermögensschäden, dass der G r u n d für die völlige Negierung von Geldentschädigungsansprüchen bei N i c h t vermögensschäden durch das badische Recht nicht auf einer Scheu vor den hierbei kaum vollständig zu vermeidenden pönalen Elementen beruht haben konnte. U r sächlich schien vielmehr eine Mischung aus Mißtrauen gegen eine zu weitgehende Kompetenzübertragung an die Richterschaft, verbunden mit einem übersteigerten Ehrgefühl gewesen zu sein, das mehr oder minder organisierte Selbstjustiz, v.a. in Gestalt des Duellwesens, eher akzeptieren konnte als die Entschädigung von Schmerzen oder Ehrverletzungen durch Geld. Forderungen nach einer Ausdehnung des Umfangs der Entschädigungspflicht für immaterielle Schäden, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der zweiten badischen K a m m e r verschiedentlich erhoben wurden 2 5 6 , fanden daher keinen Niederschlag in der Gesetzgebung. Abgesehen von den Geldbußen des Reichsstrafgesetzbuchs von 1871 2 5 7 blieb es somit in Baden bis zum B G B bei der durch die Gesetze von 1845/51 herbeigeführten Rechtslage.
c) Die Behandlung von Nichtvermögensschäden
in den übrigen
Rheinlanden
Soweit in den deutschen Gebieten des französischen Rechtskreises nicht wie in Baden ausdrücklich v o m französischen R e c h t abweichende Regelungen getroffen w o r den waren, hätte dieses nach den allgemeinen Grundsätzen unmittelbar angewendet werden müssen 2 5 8 . D i e daraus folgende Gewährung einer zumindest potentiell auch pönalen Geldentschädigung für moralische Schäden (dommage moral) blieb jedoch im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht unumstritten: Ausgelöst wurde der Streit über den Anwendungsbereich von Art. 1382f. C c durch ein Urteil des Zweiten Zivilsenats des Reichsgerichts von 18 8 2 2 5 9 . Dieses hatte in der Revision eine Entscheidung des O L G Zweibrücken aufgehoben, in der Eltern 255
(2.).
Zitiert nach: Kommissionsbericht II, abgedruckt bei: W. Thilo, Strafgesetzgebung II, S. 326
Vgl. dazu W. Thilo, Strafgesetzgebung II, S.297ff. §§188, 231 StGB a.F. Zu diesen unten, B.V.2. 258 Vgl. zur Anwendung des französischen Rechts in den Rheinlanden bis zum Inkrafttreten des BGB: Cretschmar, Rheinisches Civilrecht, 4. Auflage (1896); W. Schubert, Französisches Recht, S. 81 ff.; speziell zur Anwendung des französischen Deliktsrechts: K.S. Zachariä, Handbuch, S. 736ff.; W. Behagel, Recht, S. 574ff.; A. Seng, Grundzüge, S. 68ff.; M. Hachenburg, Landrecht, S. 274ff. 259 RGZ 7, S.295f. (27.6. 1882). 256 257
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
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eine Geldentschädigung für die durch den Verlust ihres einzigen Sohnes erlittenen Nichtvermögensschäden zugesprochen worden war. Zur Begründung dieses Ergebnisses stützte sich das Reichsgericht nicht etwa auf eine vom französischen Recht abweichende Praxis der rheinländischen Gerichte oder ein der Anwendung des Code civil in Deutschland insofern entgegenstehendes Gewohnheitsrecht, sondern allein auf den „Willen des Gesetzes". Die entgegengesetzte, zu diesem Zeitpunkt seit über 70 Jahren gefestigte Rechtsprechung des gesamten französischen Rechtskreises, die auch von der Rechtswissenschaft in den hierzu gehörenden Staaten allgemein gebilligt wurde 260 , schob das Reichsgericht demgegenüber mit dem knappen Hinweis beiseite, die Erstreckung des Schadensbegriffs der Art. 1382f. C c über Vermögensschäden hinaus auf den sog. dommage moral sei ,,[r]echtsirrtümlich". Es bestehe „kein Grund, anzunehmen, daß das Gesetz ... unter „dommage" etwas anderes verstanden habe, als in den Artt. 1246 flg. 261 , das heißt: die Verletzung von Vermögensinteressen, denjenigen moralischen Schaden, der fähig ist, in Geld angeschlagen und durch Geld ersetzt zu werden". Der „Zuspruch einer Geldsumme bloß mit Rücksicht darauf, daß Schmerzen verursacht, das Ehrgefühl gekränkt worden ist, würde sich nicht als die vom Gesetze gewollte Entschädigung darstellen, sondern als eine reine Privatstrafe, die beim Mangel einer bezüglichen Gesetzesbestimmung als statthaft nicht erachtet werden" könne 2 6 2 . Mit dieser Übertragung einer § 2 5 3 (I) B G B vorwegnehmenden Regelung auf das französische Recht begab sich das Reichsgericht nicht nur in eklatanten Widerspruch zur französischen Rechtspraxis. Vielmehr folgte es mit der damit verbundenden Charakterisierung aller Geldzahlungen für immaterielle Schäden als Privatstrafen auch der Doktrin der älteren deutschen Pandektistik, die 1882 allerdings sogar von deren prominentesten Vertretern wie Windscheid 263 , zumindest im Hinblick auf das Schmerzensgeld des gemeinen Rechts, bereits aufgegeben worden war 264 . Wie wenig diese Wertung des Zweiten Senats des Reichsgerichts schon mit dem Rechtsgefühl der Bevölkerung in den Teilen Deutschlands vereinbar war, die nicht dem französischen Rechtskreis angehörten, belegt nachdrücklich die wenige Monate später ergangene Entscheidung des Dritten Zivilsenats des Reichsgerichts zur Rechtsnatur des gemeinrechtlichen Schmerzensgeldes: Dieses sei nicht etwa als Privatstrafe anzusehen, sondern als „civilrechtlicher Ersatzanspruch wegen widerrechtlich erlit-
260 Umfassende Nachweise hierfür in der Besprechung des Reichsgerichtsurteils durch Uehel, Zulässigkeit, S. 505 ff.; vgl. daneben nur: H. Mazeaud/L. Mazeaud/A. Tune, Traité théorique I, S.392ff.; D. Biesalski, Grundzüge, S.24ff. Beispiele für die französische und belgische Rechtsprechung zu dieser Frage auch Zeitschr. für Französisches Civilrecht 15 (1884), S. 176ff. 261 Gemeint sind offensichtlich die Art. 1146ff. Code civil über die Entschädigung bei der Nichterfüllung einer vertraglichen Verbindlichkeit; vgl. zu dieser Verwechslung des Reichsgerichts: J. Kohler, Ideale, S.261. 262 Zitate nach R G Z 7, S.295, 295f. (27.6. 1882). 263 Zu Leben und Werk von Bernhard Windscheid (1817-1892) vgl. nur: G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S.442ff.; U. Falk, Windscheid, in: M. Stolleis, Juristen, S.654f. 264 Zu dieser Entwicklung unten, B.IV.2. a).
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tener Schmerzen" 2 6 5 . Erst recht musste die die Ersetzbarkeit eines dommage moral verleugnende Entscheidung des Zweiten Senats in den Rheinlanden auf Unverständnis stoßen. Es überrascht daher nicht, dass die Auseinandersetzung der dortigen L i teratur mit dem Urteil des Zweiten Senats sich meist auf eine von beißendem Sarkasmus begleitete Auflistung von Nachweisen zu der im Widerspruch hierzu stehenden allgemeinen Ansicht in Frankreich beschränkte: „Bei dem hohen Ansehen, welches unser Reichsgericht mit R e c h t genießt, dürfte es fast anmaßlich erscheinen, daß man es wagt, an der Richtigkeit dieser Entscheidung zu zweifeln, allein, da man vor der Thatsache, daß im Vaterlande des C o d e civil selbst seit 1810 fast einstimmig das G e gentheil gelehrt und entschieden wird, doch seine Augen nicht verschließen kann . . . " 266.
N o c h deutlicher aber zeigte sich das Ausmaß der Ablehnung der reichsgerichtli-
chen Entscheidung in den Rheinlanden an der Hartnäckigkeit, mit der das dadurch aufgehobene O L G Zweibrücken dennoch an seiner Rechtsprechung festhielt: So bemühte es sich in einem ähnlichen Fall 1887 zwar sehr, alle Argumente des Reichsgerichts zu widerlegen 2 6 7 , entschied aber wiederum zu Gunsten der Ersetzbarkeit des dommage moral: „Für sie [die Ersetzbarkeit] spricht der Text und Geist des Gesetzes. D e r Art. 1382 C . c. spricht von einem dommage überhaupt, in absoluten Worten ohne jegliche Unterscheidung, worin der Schaden besteht. Jeder Schaden muss daher wieder gut gemacht werden, der moralische so gut, wie der materielle ... D e r E i n wand, seelischer Schmerz und Geld seien unvergleichbare G r ö ß e n , erscheint nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Allerdings wird eine volle Vergütung für verletzte Idealgüter nicht möglich sein. Allein aus dem Umstände, daß wegen der G r ö ß e des Schadens volle Schadloshaltung undenkbar ist, kann doch nicht gefolgert werden, daß nun gar keine Schadloshaltung einzutreten habe. Eine Genugthuung durch einen Geldzuspruch ist ja nicht unmöglich" 2 6 8 . D a das Reichsgericht, soweit ersichtlich, keinen Anlass hatte, sich mit diesem U r teil oder ähnlichen Entscheidungen aus den Rheinlanden zu befassen, kann davon ausgegangen werden, dass die rheinländische Praxis gemäß der vom O L G ZweiR G Z 8, S. 117ff., 118 (17.11. 1882). So etwa Uebel, Zulässigkeit, S. 505ff. (Zitat S.505f.); im Ergebnis ähnlich: Osthelder, Schadensersatzpflicht, S.489ff.;/. Köhler, Ideale, S. 261; vgl. zur Kritik am Urteil des Reichsgerichts auch die Übersicht in: Zeitschr. für Französisches Civilrecht 15 (1884), S. 176ff.; vorsichtiger hingegen die Formulierung bei Cretschmar (Civilrecht, Anm. zu Art. 1382, S. 265), der sich auf den Hinweis beschränkt, das R G habe „die in Doctrin und Praxis ziemlich verbreitete Ansicht reprobirt, daß unter den Schäden des Art. 1382ff. auch der sogen, dommage moral, Schmerzensgeld, Ersatz für Kränkung etc. zu verstehen sei". 267 So sei die Bemessung einer Geldentschädigung für einen moralischen Schaden für einen „Menschen von Geschäfts- und Lebenserfahrung" durchaus möglich, das französische Recht gewähre auch an anderer Stelle Geldersatz für Nichtvermögensschäden, ebenso das gemeine Recht durch das Schmerzensgeld und das deutsche Reichsstrafgesetzbuch durch die Buße, sowohl die Motive zum Code civil als auch die spätere Anwendung der Art. 1382f. sprächen für eine solche Auslegung dieser Normen, bei den Art. 1146ff. Code civil handele es sich um Spezialbestimmungen zum Vertragsrecht, die auf das Deliktsrecht nicht übertragen werden könnten, vgl. den Teilabdruck des Urteils bei: Osthelder, Schadensersatzpflicht, S. 491 ff. 268 O L G Zweibrücken (7.2. 1887), Urteil auszugsweise abgedruckt bei: Osthelder, Schadensersatzpflicht, S. 491 ff., Zitat S. 493 ff. 265
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
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brücken geäußerten Auffassung derjenigen in Frankreich entsprach, also (auch) pönal eingefärbte Entschädigungszahlungen für Nichtvermögensschäden zuließ. Hierdurch konnte die Rechtslage in den Rheinlanden von den deutschen Juristen, die zur gleichen Zeit für eine Geldentschädigung für Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auch in den anderen Teilen Deutschlands eintraten, unmittelbar als Begründungshilfe herangezogen werden 2 6 9 .
4. D a s ö s t e r r e i c h i s c h e A B G B Das Schadensersatzrecht des am 1 . 1 . 1 8 1 2 in Kraft getretenen A B G B belegt in vielerlei Hinsicht beispielhaft den methodischen wie inhaltlichen Mittelweg zwischen preußischem A L R und französischem Code civil, den die Gesetzgeber der österreichischen Kodifikation in vielerlei Hinsicht bewusst wählten 2 7 0 : Weite generalklauselartige Regelungen (§§ 1293,1323f.) werden kombiniert mit einer Reihe von kasuistischen Ausnahmeklauseln (§§1325ff.). Daneben ist vor allem die weitgehende Gleichbehandlung von vertraglichen und deliktischen Schadensersatzansprüchen 271 sowie die Aufgeschlossenheit jedenfalls der Kodifikatoren, wenn auch nicht uneingeschränkt der späteren Praxis, gegenüber einer Geldentschädigung für Nichtvermögensschäden bemerkenswert. Außerdem wiesen in Osterreich Gesetzgeber wie Literatur dem Schadensersatzrecht stets eindeutig - gerade auch bei Vermögensschäden 2 7 2 - über die Ausgleichsfunktion hinausgehende Aufgaben zu, wobei nicht nur spezial- und generalpräventiven Aspekten, sondern auch dem Sanktionsgedanken stets eine entscheidende Bedeutung beigemessen wurde 2 7 3 . Nicht zuletzt dadurch, wie auch durch die bewusste Ablehnung der in der späteren Naturrechtslehre zum Teil vertretenen Theorie von der verschuldensunabhängigen Schadensausgleichspflicht 2 7 4 , zeigt sich, wie sehr das A B G B das Naturrecht unter dem Einfluss v. Zeillers 2 7 5 doch schon verschiedentlich zu Gunsten stärker vernunftrechtlicher Auffas-
2 6 9 So am deutlichsten von]. Kohler, Ideale, S. 261 ff., 262: „Diesen vorzüglichen Ausführungen [des O L G Zweibrücken in seinem Urteil von 1887] braucht nichts beigefügt zu werden". 270 H. Schlosser, Grundzüge, S. 138; F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 337f. 271 Im 30. Hauptstück („Von dem Rechte des Schadensersatzes und der Genugthuung") heisst es in § 1295 A B G B : „Jedermann ist berechtigt, von dem Beschädiger den Ersatz des Schadens, welchen dieser ihm aus Verschulden zugefügt hat, zu fordern; der Schade mag durch Übertretung einer Vertragspflicht, oder ohne Beziehung auf einen Vertrag verursachet worden sein." Im Interesse der besseren Vergleichbarkeit mit den anderen Rechtsordnungen des deutschen Rechtskreises beschränkt sich die folgende Darstellung aber dennoch auf das Deliktsrecht. 2 7 2 Vgl. allein die Abstufung des Haftungsumfangs in §§1324, 1331f. A B G B nach dem Verschuldensgrad. 2 7 3 Vgl. nur H. Kozwl, Haftpflichtrecht I, S. 4f.; Klang/Wolff, A B G B , § 1323, Anm. II. 2, jeweils m.w.N. 2 7 4 Vgl. zu dieser F. v. Zeiller in seinem Einleitungsreferat vor der Beratung des 30. Hauptstücks des A B G B , abgedruckt bei:J. Ofner, Ur-Entwurf II, S. 182; ders., Privat-Recht, § 179, S.246f. 2 7 5 Franz v. Zeiller (1751-1828), zur Person vgl. G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S. 459ff.; G. Kohl, Zeiller, in: M. Stolleis, Juristen, S, 668ff.
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Die Gesetzgebung
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sungen überwand 276 . Trotz aller - insbesondere auf v. Martini 2 7 7 zurückgehenden naturrechtlichen Züge kann es daher anders als das A L R nicht mehr als Naturrechtskodifikation i.e.S. betrachtet werden 278 . a) Schadensersatz
für
Vermögensschäden
Nach § 1323 S. 1 A B G B ist Schadensersatz vorrangig durch Naturalrestitution („alles in den vorigen Stand zurückversetzt") und nur hilfsweise, wenn dies nicht tunlich ist, durch Geld (Vergütung des Schätzungswerts) zu leisten. Als „zentrales Charakteristikum des (geschriebenen) österreichischen] Schadensersatzrechts" 279 existiert hierbei jedoch kein einheitlicher Schadensbegriff, sondern der Umfang des jeweils zu ersetzenden Schadens ist in Abkehr vom Alles-oder-Nichts-Prinzip und in Anlehnung an das allerdings im Einzelnen anders ausgestaltete Schadensersatzrecht des A L R 2 8 0 grundsätzlich abhängig vom Verschuldensgrad des Schädigers 281 . Je nach dem Umfang des zu beanspruchenden Ersatzes wird dabei in §1323 A B G B zwischen bloßer Schadloshaltung unterschieden, die lediglich den Ersatz des erlittenen Schadens i.e.S. umfasst (damnum emergens), und zwischen der vollständigen Genugtuung, die daneben auch den Ersatz des entgangenen Gewinns (lucrum cessans) sowie die „Tilgung der verursachten Beleidigung" einschließt. Dabei kam allerdings dem dritten Element der vollständigen Genugtuung, anders als etwa noch im Codex Theresianus von 1766 2 8 2 , zumindest für Vermögensschäden keine eigenständige Bedeutung zu. Eine weitere Differenzierung ergibt sich bei der Ermittlung der Höhe von Vermögensschäden, indem hierfür nach §§ 1331, 1332 A B G B je nach Verschuldensgrad entweder nur der gemeine Wert der Sache zur Zeit der Beschädigung oder aber auch das Affektionsinteresse des Geschädigten zu Grunde zu legen ist. Insgesamt kommt es damit bei Vermögensschäden mindestens zu einer dreigliedrigen Abstufung des zu ersetzenden Schadensumfangs: Wurde durch eine vorsätzliche oder grob fahrlässig 283 begangene Schädigung zugleich ein Straftatbestand verwirklicht H. Schlosser, Grundzüge, S. 138. Karl Anton Frhr. v. Martini (1726-1800), zur Person vgl. G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S.266ff.; Ch. Neschwara, Martini, in: M. Stolleis, Juristen, S.409ff. 278 H. Schlosser, Grundzüge, S. 138; ähnlich auch schon: F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 338. Zu den naturrechtlichen Einflüssen auf das A B G B ausführlich: M. Wellspacher, Naturrecht, S. 175 ff. 279 Schwimann/Harrer, A B G B , § 1331, Rn.3. 2 8 0 Zu diesem oben, B.III.2. a). 281 Ansätze für eine solche Differenzierung fanden sich bereits im deliktischen Haftungsrecht des nie in Kraft getretenen Codex Theresianus von 1766, vgl. Codex Theresianus III 21 § V (u.a. 44., 52., 53.). 2 8 2 Nach III 21 § V (43., 44.) des nie in Kraft getretenen Codex Theresianus umfasste die „sonderheitliche Genugthuung des Beleidigten [i.S.v. Geschädigten]... nicht allein die Entschädigung oder den Ersatz des verursachten Schadens, sondern auch die dem beleidigten Theil zukommende Strafe", soweit der Schädiger nicht lediglich leicht schuldhaft gehandelt hatte. 2 8 3 Für die Verschuldensstufen werden hier die in Deutschland und in der neueren österreichischen Literatur (vgl. statt aller: Schwimann/Harrer, A B G B , § 1324, Rn.2f; aber auch schon Klang/ WolfT, A B G B , § 1324, Anm. 1.1.) üblichen Bezeichnungen verwandt. Das A B G B spricht stattdessen 276
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oder erfolgte sie „aus Mutwillen und Schadenfreude"284, hat der Schädiger den gemeinen Wert der Sache285 zuzüglich des Affektionsinteresses des Geschädigten sowie den diesem entgangenen Gewinn zu ersetzen. Bei einer vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Schädigung, die diese zusätzlichen Kriterien nicht erfüllt, beschränkt sich der zu leistende Ersatz hingegen auf den gemeinen Wert des Sache und den entgangenen Gewinn; bei einfacher oder leichter Fahrlässigkeit ist lediglich der gemeine Wert der Sache zu ersetzen. Diese Abstufung des zu ersetzenden Schadensumfangs fand sich in ähnlicher Form bereits im Ur-Entwurf des ABGB 2 8 6 und im Westgalizischen Gesetzbuch 287 . Wohl nicht zuletzt deshalb schien sie dessen Verfassern bei den Beratungen zum ABGB so selbstverständlich, dass hierüber keinerlei Aussprache stattfand. Diese bereitwillige Einschränkung des Ausgleichsprinzips im Schadensersatzrecht überrascht umso mehr, als bei der gleichen Gelegenheit die im Ur-Entwurf ebenfalls vorgesehene Bestimmung des gemeinen Werts der beschädigten Sache nach dem „höchsten Werth, welcher von der Zeit der Beschädigung bis zur Zeit des Ersatzes bestanden" hatte288, nach kurzer Diskussion verworfen wurde, da man in dieser Berechnungsweise teils eine an die im deutschen Rechtskreis nicht rezipierte Rückrechnung bei der actio legis Aquiliae289 erinnernde Privatstrafe sah, teils weil man fürchtete, durch die im Ur-Entwurf vorgesehene Regelung dem Geschädigten, wie bei grob schuldhaften Sachbeschädigungen in Preußen290, die unerwünschte Möglichkeit zu eröffnen, durch eine geschickte Terminierung seiner Klage die Höhe des ihm zuzusprechenden Schadensersatzes in die Höhe zu treiben291. Offenbar lehnten die Väter des ABGB trotz ihrer Verwerfung der römischrechtlichen Schadensrückrechnung aber nicht pönale Elemente des Schadensersatzrechts generell ab, sondern störten sich lediglich an der mangelnden Üblichkeit der vorgesehenen Berechnungsweise im österreichischen Rechtsgebiet. Dies verdeutlicht die Kommentierung zu § 1324 ABGB durch den maßgeblichen Verfasser dieser Kodifikation, Franz v. Zeilvon „böser Absicht", „auffallender Sorglosigkeit" oder „einem minderen Grade des Versehens oder der Nachlässigkeit". 284 §1331 ABGB. 285 Für die Heilbehandlung von Tieren gilt mit § 1332a A B G B seit 1988 eine §252 II 2 B G B entsprechende Sonderregelung, nach der hierfür dem Eigentümer auch die den Wert des Tieres übersteigenden Kosten zu ersetzen sind, sofern auch ein „verständiger Tierhalter in der Lage des Geschädigten" diese aufgewendet hätte. 286 Vgl. §§428, 454f. des Ur-Entwurfs, abgedruckt bei: J. Ofner, Ur-Entwurf I, S . C X X I X , CXXXIf. 287 Bürgerliches Gesetzbuch für Galizien, III §428: „Wenn es um Ersatz und Genugthuung zu thun ist, so wird zwischen Bosheit und Versehen dieser Unterschied gemacht, daß der Nachlässige nur zur Schadloshaltung, der Boshafte aber auch zur Genugthuung verurtheilt wird ...". 288 So §455 des Ur-Entwurfs, der weitgehend dem späteren § 1332 A B G B entsprach, vgl./. Ofner, Ur-Entwurf I, S . C X X X I I . 289 Zur Berechnung der Schadenshöhe im Rahmen der actio legis Aquiliae nach gemeinem Recht oben, B.II.2. 290 Zur Berechnung des Wertes einer zerstörten Sache nach dem ALR oben, B.III2. a). 291 Vgl. die Protokolle der 110. Sitzung vom 9.6. 1806, abgedruckt bei: }. Ofner, Ur-Entwurf II, S. 199.
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ler: So wird von diesem durchaus zugestanden, dass die dort vorgesehene Abstufung „nicht geradezu aus dem natürlichen Privat-Rechte sich ableiten" lasse, aber dennoch gerechtfertigt, da es ein Gebot der „Klugheitslehre" sei, auf diese Weise grob schuldhaften Schädigungen durch die abschreckende Wirkung der erhöhten Ersatzpflicht vorzubeugen 292 . Die primär generalpräventive und damit pönale Zielsetzung des abgestuften Schadensersatzsystems des A B G B war dessen Verfassern also eindeutig bewusst. Auch in der späteren österreichischen Literatur wurde der pönale Charakter der Verknüpfung des zu ersetzenden Schadensumfangs mit dem Verschuldensgrad des Schädigers durchweg erkannt. Insbesondere Joseph Unger, in dieser wie jeder anderen Hinsicht der „Erneuerer der österreichischen Rechtswissenschaft im Sinne der historischen Rechtsschule" 293 , begründete seine Kritik am Schadensersatzrecht des A B G B ausdrücklich auch damit, dass dieses „in empfindlicher Weise gegen den von diesem ... aufgestellten allein richtigen Grundsatz" verstoße, wonach ausschließlich der widerrechtlich verursachte Verlust Maßstab für den Umfang des zu ersetzenden Schadens zu sein habe, wodurch das A B G B „in nicht zu billigender Weise den civilrechtlichen Standpunkt mit dem strafrechtlichen" verwechsele 294 . Mit ähnlichen Worten rügte wenige Jahre später im Rahmen der umfassenden Diskussion über die Reform des Schadensersatzrechts um 1880 u.a. Anton v. Randa295 die in der Abstufung zum Ausdruck kommende „sehr bedenkliche Neuerung" des ABGB, die nicht nur sachwidrig sei, sondern auch eine „Einmischung des strafrechtlichen Momentes in einem Punkte [darstelle], wo es sich lediglich um den civilrechtlichen Ersatz des verursachten Schadens" handele, weshalb sie „durchaus nicht am Platze" sei 296 . Anders als Unger beanstandete aber Randa weniger die pönale Natur des österreichischen Schadensersatzrechts als solche, sondern, ganz im Sinne der Reformbestrebungen seiner Zeit, das daraus resultierende ungenügende Ausmaß des jedenfalls bei leichterem Verschulden des Schädigers zu erzielenden Schadensersatzes297. Noch deutlicher wurde dieser Unterschied zu Unger bei Leopold P f a f f , dessen zwei Gutachten zur Reform des Schadensersatzrechts von 1880/81 nicht nur die damalige Diskussion beherrschten, sondern bis heute zu den unverzichtbaren Klassikern des österreichischen Schadensersatzrechts zählen 298 : Pfaff bestritt zwar nicht die in der Abstufung zum Ausdruck kommende Vermischung zivilrechtlicher und strafrechtF. v. Zeiller, Commentar I I I / l , S.758. Zitat nach: G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S.432, zur Person Joseph Ungers (1828-1913) ebenda, S. 431 ff.; B. Dölemeyer, Unger, in: M. Stolleis, Juristen, S.628f. Zum Einfluss der Historischen Rechtsschule auf das A B G B und die österreichische Rechtswissenschaft vgl. W. Ogris, Wissenschaft, S. 153ff.; W. Brauneder, Studien, S.43ff. 294 ]. Unger, System, S.237, F n . l . 2 9 5 Antonin (v.) Randa (1834-1914), zur Person vgl. P. Kreuz, Randa, in: M. Stolleis, Juristen, S. 511. 2 9 6 A. v. Randa, Gutachten, S.422f. Ähnlich auch V. Hasenöhrl, Obligationenrecht I, S.264, der die Abstufung des zu ersetzenden Schadensumfangs als „mehr strafrechtliches Element" bezeichnet. 2 9 7 Vgl. A. v. Randa, Gutachten, S.423. 2 9 8 Zu Leopold Pfaff und seiner Bedeutung für das österreichische Schadensersatzrecht vgl. nur etwa: F. Bydlinski, Ersatz, S. 178ff.; R. Bartsch, Grundfragen, S. 655f. 292
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licher Aspekte299, bedauert deren Konsequenzen aber allenfalls im Hinblick auf die meist nur unzureichende Ersetzung von leicht fahrlässig verursachten Schäden. Im Übrigen billigte er, ganz im Sinne der zeitgleich von v. Jhering500 propagierten Forderungen301, uneingeschränkt das Ziel des ABGB, „Gleichgewicht nicht nur zwischen Schuld und Strafe, sondern auch zwischen Schuld und Ersatz walten" zu lassen302. Gerade in der stärkeren Berücksichtigung des Sühnegedankens durch die Abstufung des Schadensersatzes nach dem Verschuldensgrad bestünde der eigentliche Vorteil dieser Regelung. Diese helfe damit nicht nur Härten gegenüber dem leicht fahrlässigen Schädiger zu vermeiden, sondern trage auch dem Umstand Rechnung, dass ein fahrlässig Geschädigter unzureichenden Ersatz für seinen Schaden als „Elementarereignis" hinzunehmen bereit sein werde, da der Schädiger in diesen Fällen „die Persönlichkeit des Beschädigten, seine Würde als Person, nicht beleidigt" habe, während der Geschädigte bei erheblichem Verschulden Satisfaktion verlange, weshalb der Schädiger auch bei der Bemessung des Schadensersatzes nicht geschont werden dürfe303. Mit anderen Worten: Es sei zwar bedauerlich, dass der vom ABGB gewährte Schadensersatz zum Teil hinter dem entstandenen Schaden zurückbleibe, dieser Mangel sei aber hinnehmbar, nicht obwohl, sondern gerade weil dadurch die pönalen Elemente des Schadensersatzrechts wirkungsvoller zur Geltung gebracht werden könnten. Auch in den folgenden Jahrzehnten gewann die Kritik an der Abstufung des Schadensersatzsystems nicht an Bedeutung. Vielmehr lobte auch Randa Anfang des 20. Jahrhunderts nunmehr dessen Billigkeit und sozialen Charakter304. Ehrenzweig meinte sogar, es könne „nicht sein, daß gerade bei Schuldverletzungen ohne Rücksicht auf den Schuldgrad stets das ganze Interesse ersetzt werden" müsse305. Selbst die sonst stark am deutschen Recht und insbesondere auch an §253 BGB orientierte 3. Teilnovelle des ABGB von 19 1 6 306 beschränkte sich auf die lapidare Feststellung, der „Gedanke, daß sich das Maß des Ersatzes nach dem Verschulden des Ersatzpflichtigen abzustufen habe, [werde] heute im allgemeinen gutgeheißen". Allenfalls käme daher eine Reform der Art der Abstufung in Betracht, die aber den Rahmen der geplanten Reform sprengen würde307. Gut zwanzig Jahre später wurde dem Ab-
L. Pf ä f f , Gutachten, S.90. Rudolf v. Jhering (1818-1892), zu Leben und Werk vgl. G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S.220ff.; U. Falk, Jhering, in: M. Stolleis, Juristen, S. 324ff.; I. Ebert, Ihering, S. 245. Zur Schreibweise des Namens („Ihering" oder „Jhering") vgl. zuletzt M. Kunze, Rudolf von Jhering, S. 24, Fn. 1. 301 Dazu ausführlich unten, B.VI.2. 302 L. Pf ä f f , Gutachten, S. 101. 303 L. Pf ä f f Gutachten, S. 101 f., 118. 304 A. v. Randa, Schadenersatzpflicht (1913), S.206. 305 A. Ehrenzweig, Schuldhaftung, S. 205. 306 Zu den Teilnovellen des A B G B von 1914, 1915 und 1916: B. Dölemeyer, Revision, S.274ff. 307 So der Bericht der Kommission für Justizgegenstände über die Gesetzesvorlage, betreffend die Änderung und Ergänzung einiger Bestimmungen des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches (1912), abgedruckt in: Teilnovelle, S.379. 299
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stufungssystem auch aus nationalsozialistischer Sicht Unbedenklichkeit bescheinigt 308 . In der österreichischen Nachkriegsliteratur wurde zwar verschiedentlich wieder die „Vermengung von Strafe und Schadensersatz" beanstandet, die sich in der verschuldensabhängigen Staffelung des zu ersetzenden Schadensumfangs widerspiegele 309 , während es doch Aufgabe des Schadensersatzes sei, nicht mehr und nicht weniger als vollen Ausgleich für schuldhaft verursachten Schaden zu gewährleisten 310 . Größere Bedeutung wird diesem Problem aber in der Regel nicht beigemessen 311 . Dies beruht sicher auch darauf, dass die verschuldensunabhängige Zubilligung vollen Schadensersatzes etwa bei Personenschäden in § 1325 A B G B und in verschiedenen Spezialgesetzen 312 sowie vor allem die exzessive Ausdehnung der zum stets zu ersetzenden positiven Schaden zählenden Folgen einer schädigenden Handlung durch die Rechtsprechung 3 1 3 die Benachteiligung des leicht fahrlässig Geschädigten stark eingeschränkte 314 . Es ist aber auch ein Zeichen für das nach wie vor klare Bekenntnis des österreichischen Schadensersatzrechts zur hohen Bedeutung des neben die Ausgleichsfunktion tretenden Präventions- und Sühnegedankens 315 , der nicht selten die ausdrückliche Klarstellung erforderlich macht, dass die Sanktion des Schädigers nicht der primäre oder allein maßgebliche Zweck des Schadensersatzrechts
b)
Nichtvermögensschäden
An zwei Stellen sah das A B G B eindeutig die Gewährung einer Geldentschädigung für Nichtvermögenschäden vor: in der Schmerzensgeldregelung des § 1 3 2 5 B G B und bei der Pflicht zum Ersatz des Affektionsinteresses bei Sachbeschädigungen, die durch besonders schweres Verschulden des Schädigers verursacht wurden (§1331 A B G B ) . Inwieweit darüber hinaus eine Geldentschädigung für Nichtvermögensschäden verlangt werden kann, gehört zu den seit jeher am heftigsten umstrittenen
308 E. Swoboda (SA-Sturmbannführer und Leiter des Instituts für Rechtsvereinheitlichung der Universität Wien), A B G B , S. 100 („im Einklang... mit unserer nazionalsozialistischen Rechtsauffassung"). 309 So etwa von Klang/Wolff, A B G B , § 1324, Anm. I I . l . 310 F. Gschnitzer, Schuldrecht, S.454. 311 Vgl. nur Scbwimann/Harrer, A B G B , §1331, Rn.3. 312 So z.B. in Art. 8 Nr. 1 E V H G B bei Handelsgeschäften, in § 16 U W G und im Bereich der Gefährdungshaftung, vgl. z.B. § 12 E K H G , §64 BergG. 313 Beispiele hierfür u.a. bei Schwimann/Harrer, A B G B , § 1324, Rn.2; § 1293, Rn. 12. 314 Schwimann/Harrer, A B G B , § 1324, Rn.2. In diesem Sinne auch schon A. v. Randa, Gutachten, S.423. 315 Vgl. statt aller F. Gschnitzer, Schuldrecht, S. 426, 454f.; H. Koziol, Haftpflichtrecht I, S. 5. 316 So etwa: H. Koziol, Haftpflichtrecht I, S. 5; vgl. auch die aus deutscher Sicht überraschenden Ausführungen zur Zielsetzung des Deliktsrechts bei F. Gschnitzer, Schuldrecht, S. 426: „Vor allem wird die Ersatzpflicht durch den Gedanken der Prävention (Verhütung) begründet... Auch der Vergeltungsgedanke wirkt, wenngleich in zweiter Linie, mit".
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Privat-
und Strafrecht
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vor dem
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Aspekten des österreichischen Schadensersatzrechts 317 . Ausgangspunkt dieses Konflikts ist § 1323 S. 2 ABGB, nach dem sich der vom Geschädigten zu beanspruchende Schadensersatz bei einer vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Schädigung (vgl. § 1324 ABGB) auf die „volle Genugthuung", also neben dem „erlittenen Schaden ... auch auf den entgangenen Gewinn und die Tilgung der verursachten Beleidigung erstreckt". Während stets Einigkeit darüber herrschte, dass mit dem „erlittenen Schaden" und dem „entgangenen Gewinn" zusammen jeder in Betracht kommende Vermögensschaden des Geschädigten abgedeckt wird 3 1 8 , vertreten dabei Lehre und Rechtsprechung bis heute kontroverse Auffassungen darüber, welche Bedeutung der „Tilgung der verursachten Beleidigung" zukommt. Erschwert wurde die nähere Bestimmung dieses Begriffs nicht zuletzt durch die uneinheitliche Verwendung der zahlreichen Bezeichnungen für Schadensersatz i.w.S. im ABGB, die teils auf eine Verquickung der Terminologie des A L R mit der des älteren österreichischen Rechts 319 , teils auf den Wunsch der Verfasser des ABGB, hierdurch eine Monotonie der Ausdrucksweise zu vermeiden 320 , zurückgeführt wurde. Als gesichert kann daher lediglich festgestellt werden, dass einerseits die Begriffe „Kränkung" oder „Beleidigung" um die Wende zum 19. Jahrhundert als Oberbegriffe für jedwede rechtswidrige Schädigung verwandt wurden 3 2 1 , andererseits „Genugtuung" sowohl allein den Ersatz des Vermögensschadens einschließlich des entgangenen Gewinns 322 als auch Genugtuung i.e.S. oder Satisfaktion (z.B. durch Widerruf oder Ehrenerklärung) für eine erlittene Injurie 323 bezeichnen konnte. Mit der Wortwahl des §1323 ABGB kann daher weder zwingend die Erfassung von Nichtvermögensschäden belegt noch diese eindeutig ausgeschlossen werden 3 2 4 . Die auf dieser Unklarheit aufbauende, mittlerweile fast zweihundertjährige Geschichte der Interpretation des § 1323 ABGB lässt sich grob in vier Phasen einteilen: die der Entstehung des ABGB, die der Reformpläne zum Schadensersatzrecht um 1880, die Zeit der Wechselwirkungen zwischen dem deutschen BGB und dem ABGB sowie die der Rechtsentwicklung nach 1945: Bei den Beratungen zum ABGB schlug v. Zeiller eine Fassung des späteren §1323 ABGB vor, die in Ubereinstimmung mit dem A L R zwar zwischen Schadloshaltung und voller Genugtuung unterschied, für letztere jedoch das Hinzutreten eines Ausgleichs für den entgangenen
317 R. Strasser, Schaden, S. 9 bezeichnet dieses Problem daher als die „questio famosa" des österreichischen Schadensrechts. Ein Uberblick über den Streitstand aus neuerer Zeit bei: Rummel/Reischauer, ABGB, § 1324, Rn. 10f.; H. Koziol, Haftpflichtrecht I, S.223ff.; zum Stand der Diskussion im Umfeld der Entstehung des BGB: O. Leonhard, Schadenersatz, S. 677ff. 318 Vgl. statt aller: Klang/Wolff, ABGB, § 1323, Anm. II.l. 319 Vgl. A. Ehrenzweig, Tilgung, S. 169f.; L. P f a f f , Replik, S.52; R. Strasser, Schaden, S.27f. 320 L. P f a f f , Gutachten, S. 111, Fn.324; F. v. Zeiller, Commentar III/l, Anm. 5 zu §1324, S.760. 321 Vgl. nur §8 16 ALR: „Wer jemanden ohne Recht Schaden zufügt, der kränkt oder beleidigt denselben." 322 So z.B. in § 7 I 6 ALR: „Zu einer vollständigen Gnugthuung gehört der Ersatz des gesammten Schadens und des entgangnen Gewinns." 323 Yg[ e t w a ¿¡g R e g e l u n g d e r „Privatgenugthuung" in den §§584ff. II 20 ALR. 324 F. Bydlinski, Ersatz, S.247; L. P f a f f , Replik, S.9, 52.
III. Die Gesetzgebung
in den deutschen
Partikularstaaten
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Gewinn zum bloßen Ersatz des positiven Schadens ausreichen lassen wollte 325 . Dagegen wandten sich der Vizepräsident der Kommission v. Haan sowie v. Sonnenfels 326 , die übereinstimmend forderten, als weiteren - ausdrücklich als dritten bezeichneten - Bestandteil der vollen Genugtuung auch die Tilgung der zugefügten Beleidigung oder Kränkung in den Gesetzestext aufzunehmen. Hierbei sollte es sich um eine Verbindlichkeit handeln, „welche sich nicht auf Schaden, nicht auf entgangenen Gewinn gründet" 3 2 7 . Als Beispiel für eine solche Tilgung der Beleidigung sah v. Haan vielmehr offensichtlich das Schmerzensgeld an, weshalb er die letztlich zur besseren Anschaulichkeit dennoch beibehaltene Aufzählung im späteren §1325 ABGB („Heilungskosten ..., entgangenen Verdienst, und ... Schmerzensgeld") durch die seiner Auffassung nach „schon alle drei Rubriken, nämlich Ersatz, Vergütung, und Genugthuung" abdeckende Gewährung der ,,volle[n] Genugthuung" ersetzen wollte 328 . Da die „übrigen Stimmen" in der Kommission den Anträgen v. Haans und v. Sonnenfels' beitraten und daraufhin die Vorschrift des v. Zeiller'schen Entwurfs um die Worte „und Tilgung der verursachten Kränkung" ergänzt wurde 329 , muss man daher wohl trotz aller später behaupteten Unklarheiten und Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Kommission 3 3 0 davon ausgehen, dass die Gesetzgeber des ABGB nicht nur dem vorsätzlich oder grob fahrlässig Geschädigten grundsätzlich einen Ansprach auch auf Entschädigung seiner Nichtvermögensschäden zusprechen wollten, sondern auch der Uberzeugung waren, einen solchen Anspruch im späteren § 1323 ABGB festgeschrieben zu haben 331 . Probleme bei der Bestimmung des Regelungsinhalts von §1323 ABGB wurden zunächst weder von der Lehre noch von der Rechtsprechung als solche erkannt 332 . Vielmehr kristallisierten sich erst zu Beginn des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts im Rahmen der insbesondere vom österreichischen Advokatentag forcierten Diskussion über die Reform des allgemein als unzulänglich empfundenen Schadensersatzrechts die beiden Auffassungen heraus, die im Wesentlichen die weitere Diskussion zu dieser Frage bestimmen sollten: Wichtigster Befürworter eines Anspruchs auf die Gewährung einer Geldentschädigung für Nichtvermögensschäden auf der Grundlage von § 1323 ABGB war dabei Leopold Pf ä f f . Dieser vertrat in seinen bei-
325 „Betrifft der Ersatz nur den erlittenen Schaden, so wird er eigentlich eine Schadloshaltung, wofern er sich aber auch auf den entgangenen Gewinn erstrecket, volle Genugthuung genannt." Abdruck des Vorschlags v. Zeillers bei J. Ofner, Ur-Entwurf II, 109. Sitzung vom 2.6. 1806, S. 193. 326 Josef v. Sonnenfels (1733-1817), zu Leben und Werk vgl. G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S.378ff.; W. Brauneder, Sonnenfels, in: M. Stolleis, Juristen, S. 577ff. 327 Vgl. das Protokoll der 109. Sitzung vom 2.6. 1806, abgedruckt bei J. Ofner, Ur-Entwurf II, S. 193. 328 Vgl. das Protokoll der 109. Sitzung vom 2.6. 1806, abgedruckt bei J. Ofner, Ur-Entwurf II, S. 194. 329 Vgl. das Protokoll der 109. Sitzung vom 2.6. 1806, abgedruckt beiJ. Ofner, Ur-Entwurf II, S. 193. 330 So etwa R. Strasser, Schaden, S.26ff., 37. 331 Ähnlich F. Bydlinski, Ersatz, S. 181, 247. 332 Vgl. hierzu L. Pf ä f f Gutachten, S. 17ff.; ders., Replik, S. 11 f., 22 ff.
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
den Gutachten zum Schadensersatzrecht 333 den Standpunkt, nicht der Wortlaut des A B G B , sondern das österreichische Prozessrecht und die zögerliche Nutzung der vom A B G B der Richterschaft eröffneten Möglichkeiten, Schadensersatz zuzusprechen, seien schuld an dem unbefriedigenden Umfang der im Regelfall zuerkannten Schadensersatzbeträge. Als eines der deutlichsten Beispiele hierfür verwies er auf die im klaren Widerspruch zu § 1323 A B G B stehende, allenfalls in Einzelfällen und uneinheitlich erfolgende Gewährung von Schadensersatz für Nichtvermögensschäden. Zur Begründung seinerAuslegung des §1323 A B G B stützte er sich vorrangig auf dessen Entstehungsgeschichte und Wortlaut {„und die Tilgung der verursachten Beleidigung" 334 ) 335 . Die Gegenposition zu Pfaff vertrat Joseph Unger, der in Ubereinstimmung mit der historischen Rechtsschule und dem römischen Recht Schadensersatz für Nichtvermögensschäden generell ablehnte. Dieser sei daher nur zu gewähren, soweit das A B G B dies ausdrücklich vorsehe, also nur in den Fällen des §1325 und des § 1331 A B G B . Die Formel von der Pflicht zur „Tilgung der verursachten Beleidigung" sei dagegen nach Unger und seinen Mitstreitern lediglich „discursiver Natur" 3 3 6 , es handele sich um eine „bloße Tautologie" 337 , „eine überflüssige nachdrückliche Wiederholung" der vorangegangenen Rechtsregel 338 . Der Wunsch der Verfasser des A B G B nach einem dritten Element der vollen Genugtuung habe zwar in den Protokollen, nicht jedoch im Gesetz Niederschlag gefunden 339 . Wegen des aus dieser Interpretation des §1323 A B G B folgenden klaren Verstoßes gegen die Auslegungsregel, Gesetzestext im Zweifel nicht so zu deuten, dass er überflüssig ist 340 , gelang es in den folgenden Jahren jedoch der Auffassung Pfaffs, sich vorübergehend gegen die restriktive Sichtweise Ungers durchsetzen. Die österreichische Rechtsprechung billigte daher nunmehr verschiedentlich auch dann eine Geldentschädigung für Nichtvermögensschäden zu, wenn das Gesetz dies nicht ausdrücklich vorsah, sondern lediglich einen Anspruch auf volle Genugtuung gewährte 341 . Dies änderte sich allerdings um die Wende zum 20. Jahrhundert grundlegend. Einziger ersichtlicher Grund hierfür war das Inkrafttreten von §253 B G B in Deutsch333 L. P f a f f , Zur Lehre von Schadenersatz und Genugthuung nach österreichischem Recht. Ein Gutachten (1880); ders., Zur Lehre von Schadenersatz und Genugthuung nach österreichischem Recht. Eine Replik (1881). 3 3 4 Anders („oder") noch das Bürgerliche Gesetzbuch für Galizien, III §419 („... Betrifft der Ersatz nur den erlittenen Schaden, nähmlich die Schmählerung des schon gehabten Vermögens, so ist er eigentlich eine Schadloshaltung: Soll er sich aber auch auf den entgangenen Gewinn, oder auf die Tilgung der Beleidigung erstrecken, so heißt er Genugthuung"). 3 3 5 Vgl. L. P f a f f , Gutachten, S. 11 ff., sowie ders., Replik, S.7ff. 336 J. Unger, Beiträge, S. 209. 337 A. v. Randa, Schadenersatzpflicht, S.203. 338 A. v. Randa, Schadenersatzpflicht, S. 209; ähnlich auch V. Hasenöhrl, Obligationenrecht I, S. 244, 247f. 339 J. Unger, Beiträge, S.117ff. 340 F. Bydlinski, Ersatz, S.247; H. Koziol, Haftpflichtrecht, Haftpflichtrecht I, S.225f.; so auch schon L. P f a f f , Replik, S.47. 341 Nachweise hierfür bei: F. Bydlinski, Ersatz, S. 178 (v.a. Fn.34); H. Koziol, Haftpflichtrecht I, S.224.
III. Die Gesetzgebung in den deutschen
Partikularstaaten
147
land 3 4 2 , der mit seiner Beschränkung der Geldentschädigung für Nichtvermögensschäden auf die im Gesetz ausdrücklich geregelten Fälle weitgehend der zuvor von Unger
vertretenen Auffassung entsprach. Während die österreichische Literatur
zum Schadensersatzrecht dessen ungeachtet nahezu einhellig weiterhin der von /•/¿¡^begründeten Lehre folgte 3 4 3 , erwies sich der Einfluss des B G B auf die österreichische Rechtsprechung 3 4 4 als so überwältigend, dass diese trotz eindeutig anderer wenn nicht sogar gegensätzlicher - Gesetzeslage den Grundsatz des § 2 5 3 (I) B G B auf das A B G B übertrug 3 4 5 . Eine Entschädigung für immaterielle Schäden wurde von österreichischen Gerichten daher fortan nur noch in den vom Gesetz eindeutig geregelten Fällen ( § § 1 3 2 5 , 1331 A B G B , diverse Spezialgesetze) zugesprochen 3 4 6 . D a das A B G B eine Entschädigung für Nichtvermögensschäden aber ausdrücklich nur in noch deutlich engeren Grenzen gewährte als das deutsche B G B , führte dies dazu, dass die österreichische Rechtspraxis trotz großzügigerer Gesetzeslage bei der A n e r kennung derartiger Ansprüche noch hinter dem deutschen Standard zurückblieb 3 4 7 . D e n n o c h wollte die wenige Jahre später erfolgende Teilreform des A B G B den durch diesen U m s c h w u n g der Rechtspechung erneut entbrannten Meinungsstreit erklärtermaßen nicht entscheiden, wohl nicht zuletzt wegen des uneinheitlichen Meinungsbildes innerhalb der mit der R e f o r m befassten Kommission 3 4 8 . D e r Gesetzgeber verzichtete daher in der 3. Teilnovelle von 1916 sowohl auf die Streichung der F o r m e l von der Tilgung der verursachten Beleidung, als auch umgekehrt auf einen Zusatz, der den grundsätzlichen Anspruch auf Geldentschädigung für N i c h t v e r m ö gensschäden bestätigt hätte. Stattdessen beschränkte er sich darauf, in den beiden Fällen, in denen nach einhelliger Auffassung ein solcher Anspruch nicht bestehen sollte (Beleidigung und Verführung, § § 1 3 2 8 , 1 3 3 0 A B G B ) , den jeweiligen Gesetzeswortlaut dahingehend zu präzisieren und umgekehrt den Widerruf kreditschädigender unwahrer Tatsachenbehauptungen als mögliche F o r m der Tilgung der Beleidigung ausdrücklich im Gesetz zu verankern 3 4 9 . D e r Gesetzgeber sah also die von Pfaff und seinen Nachfolgern vertretene Interpretation von § 1323 A B G B durchaus 342 Vgl. zur Intensität der Ausstrahlung von §253 B G B auf die Gesetzgebung und Rechtsprechung in Osterreich: Bericht der Kommission für Justizgegenstände über die Gesetzesvorlage, betreffend die Änderung und Ergänzung einiger Bestimmungen des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches von 1912, abgedruckt in: Teilnovelle, S.378; F. Bydlinski, Ersatz, S.247. 343 Vgl. statt aller: A. Ehrenzweig, Tilgung, S. 171; Klang/Wolff, ABGB, § 1323, Anm. II. 1. und 2; E. Swoboda, ABGB, S.76. 344 Zur Vorbildfunktion des B G B für die Auslegung des A B G B nach 1900 vgl. aus neuerer Zeit: E.A. Kramer, Einfluß, S. 365ff., speziell zum Schadensersatzrecht S. 397f. 345 E Bydlinski, Ersatz, S. 179; H. Koziol, Haftpflichtrecht I, S. 224. Zur stark am B G B orientierten Rechtsfortbildung durch den O G H allgemein auch: W. Festl-Wietek, Rechtsangleichung, S.28f. 346 Grundlegend hierfür: O G H , Judikat Nr. 184 (G1UNF 4185), zu dieser Entscheidung: F. Bydlinski, Schaden, S. 789ff.; zahlreiche Nachweise zur daran anschließenden seitdem st. Rspr.: Rummel/Reischauer, ABGB, § 1324, Rn. 11. 347 H. Koziol, Haftpflichtrecht I, S.224; F. Bydlinski, Ersatz, S. 178 ff. (v.a. S. 179). 348 Ygj j e n Bericht J e r Kommission für Justizgegenstände über die Gesetzesvorlage, betreffend die Änderung und Ergänzung einiger Bestimmungen des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches von 1912, abgedruckt in: Teilnovelle, S.378. 349 Vgl. §1330 II A B G B n.F.
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B. Die Grenze zwischen
Privat-
und Strafreckt
in Deutschland
vor dem
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als mit dem Gesetzeswortlaut vereinbar an und wollte eine solche Auslegung auch nicht ausschließen 350 , hielt eine hierauf zielende Reform allerdings ausdrücklich nur für tunlich, wenn sie von der Ergänzung einzelner Anspruchsgrundlagen für die Gewährung einer Geldentschädigung für Nichtvermögensschäden flankiert wurde 3 5 1 . Nach 1945 spitzte sich der Konflikt über die Pflicht zur Gewährung einer Geldentschädigung für Nichtvermögensschäden weiter zu, da die Rechtsprechung zunächst hartnäckig an ihrer engen Auslegung des § 1323 ABGB festhielt, obwohl insbesondere im Zusammenhang mit den Prozessen um die Entschädigung von KZHäftlingen deren höchst unbefriedigende Folgen immer drastischer spürbar und auch von der Rechtsprechung selbst nicht mehr geleugnet wurden 3 5 2 . Die Kritik an dieser restriktiven Auffassung wurde daher zunehmend polemischer 353 . Neben den seit Pf ä f f geläufigen Argumenten griff man dabei verstärkt auf die Grundwertungen der Rechtsordnung zurück, die nach allgemeiner Ansicht eine über die im Gesetz fixierten Fälle hinausgehende Gewährung einer Geldentschädigung für Nichtvermögensschäden zwingend geboten 354 . Kernstück der Begründung war ein zweifaches argumentum a minori ad maius: Einerseits dürfe es nicht sein, dass durch die Zivilrechtsordnung zwar ein umfassender Schutz der Vermögenswerte sichergestellt werde, die höherrangigen immateriellen Güter aber weitgehend ungeschützt blieben 355 , zum anderen spreche §1331 ABGB bei bestimmten qualifiziert verschuldeten Sachbeschädigungen sogar dem nur mittelbar in seinen ideellen Interessen Verletzten hierfür eine Geldentschädigung zu, weshalb dies erst recht bei einer unmittelbaren Verletzung derartiger Werte ermöglicht werden müsse 356 . Darüber hinaus sei es unerträglich, wenn die österreichische Rechtsprechung in einer Zeit, in der die deutschen Gerichte mit ihrer Rechtsprechung zur Geldentschädigung bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts 357 die engen Grenzen des §253 BGB längst überwunden hätten, dessen Wertungen ihren Entscheidungen weiterhin zu 350
So u.a. F. Bydlinski,
Ersatz, S.247; H. Koziol, Haftpflichtrecht I, S.228; R. Strasser, Schaden,
S. 41. 351 Vgl. den Bericht der Kommission für Justizgegenstände über die Gesetzesvorlage, betreffend die Änderung und Ergänzung einiger Bestimmungen des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches von 1912, abgedruckt in: Teilnovelle, S.378, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf §1300 BGB („könnte und dürfte das ohne gleichzeitiges Eingehen auf einzelne, an verschiedenen Stellen des a.b.G.B. geregelte Rechtsverhältnisse ... und somit ohne Überschreitung der Grenzen der „Revision" nicht geschehen"). 352 Vgl. hierzu F. Bydlinski, Ersatz, S. 180, 182f. m.w.N. 353 Besonders scharf u.a. F. Bydlinski, Ersatz, S. 173ff., 237ff.; Klang/Wolff, ABGB, § 1323, Anm. II. 1. und 2.; H. Koziol, Haftpflichtrecht I, S.228. Gegen eine Ausweitung des Haftungsumfangs dagegen: E. Migsch, Begrenzung, S. 18. 354 F. Bydlinski, Ersatz, S.247 („Die ... umfassende Anerkennung eines Anspruchs auf ideellen Schaden bei grobem Verschulden des Beschädigers (§ 1324) ist allein geeignet zu vermeiden, daß in der geltenden Rechtsordnung Wertungswidersprüche von geradezu gigantischem und zugleich groteskem Ausmaß auftreten)"; ähnlich H. Koziol, Haftpflichtrecht I, S.228; zur gestiegenen Bedeutung immaterieller Rechtsgüter vgl. auch R. Strasser, Schaden, S. lOff. 355 F. Bydlinski, Ersatz, S.247; F. Gschnitzer, Schuldrecht, S.460. 356 F. Bydlinski, Ersatz, S. 180, 247f.; H. Koziol, Haftpflichtrecht I, S.228. 357 Dazu unten, C.IV.4. c).
III.
Die Gesetzgebung
in den deutschen
Partikularstaaten
149
Grunde legten, obwohl eine entsprechende Regelung in Österreich nie gegolten habe 358 . Zu ähnlichen Ergebnissen wie die herrschende Lehre gelangte trotz eines abweichenden Begründungsansatzes Strasser359: Dieser verwarf zwar aus ethischhumanistischen Gründen generell jede Geldentschädigung für immaterielle Schäden und erklärte daher folgerichtig die Klausel von der „Tilgung der Beleidigung" in §1323 A B G B für bedeutungslos 3 6 0 . Dafür leitete er aber aus dem Schadensbegriff des § 1293 ABGB 3 6 1 ab, dass immaterielle Schäden grundsätzlich bereits als Teil des positiven Schadens anzusehen seien 362 . Vorbehaltlich einer anderweitigen Spezialregelung im Gesetz könne für diese daher zwar mangels Ersetzbarkeit kein Schadensersatz verlangt werden, wohl aber eine in Geld zu bemessende Genugtuung. Bei dieser sollte es sich, ähnlich wie nach schweizerischem Recht, u m eine zivilrechtliche Sühne eigener Art handeln, die eigenständig neben Strafe und Schadensersatz stehe, letzterem allerdings näher stünde, da sie nicht wie eine Strafe einen Nachteil mit einem anderen vergelte, sondern für einen erlittenen Nachteil einen Vorteil gewähre 363 . Hierdurch wollte Strasser „das Dogma von dem Gegensatz ,moderner' Schadenersatz und römischrechtliche Privatstrafe" überwinden und zugleich die auch von ihm als höherrangig anerkannten ideellen Güter möglichst umfassend schützen, indem durch seinen Lösungsvorschlag Genugtuung für Nichtvermögensschäden nicht nur w i e nach § 1323 A B G B dem vorsätzlich oder grob fahrlässig, sondern jedem schuldhaft Geschädigten zustand 3 6 4 . Letztlich konnte sich die Ansicht Strassers aber nicht durchsetzen, da sich z u m einen aus § 1325 und § 1331 A B G B klar ergab, dass das A B G B Schadensersatz für Nichtvermögensschäden durchaus für möglich und im Regelfall unbedenklich hielt, weshalb keine Notwendigkeit bestand, an dessen Stelle eine grundsätzlich neuartige Rechtsfigur zu konstruieren 3 6 5 , zum anderen legte § 1324 A B G B unmissverständlich die §§ 1323f. und nicht § 1293 A B G B als Legaldefinition für die verschiedenen Ersatzbegriffe fest, weshalb sich eine Entschädigungspflicht bei Nichtvermögensschäden auch nur aus diesen ergeben konnte 3 6 6 . Erst ab Mitte der 70er Jahre verlor der Konflikt zwischen Rechtsprechung und Literatur erheblich an Schärfe, da der O G H unter dem Eindruck des in Osterreich un358
F. Bydlinski, Ersatz, S. 176ff. 359 y g j n Strasser, Der immaterielle Schaden im österreichischen Recht, 1964. 360 R. Strasser, Schaden, S. 17, 42. 361 „Schade heißt jeder Nachteil, welcher jemanden an Vermögen, Rechten oder seiner Person z u gefügt w o r d e n ist. Davon unterscheidet sich der Entgang des Gewinnes, den jemand nach dem gewöhnlichen Laufe der Dinge zu erwarten hat." 362 R. Strasser, Schaden, S.47. Zum weiten, auch Nichtvermögensschäden umfassenden Schadensbegriff des § 1293 schon: L. P f a f f , Gutachten, S. 12f.; H. Krasnopolski/B. Kafka, Obligationenrecht, S. 153; E. Swoboda, A B G B , S.6. 363 R. Strasser, Schaden, S. 18f., 55; ähnlich auch schon L. P f a f f , Gutachten, S. 15. 364 R. Strasser, Schaden, S. 18. 365 Klang/Wolff, A B G B , § 1323, A n m . II.2; ähnlich schon L. P f a f f , Replik, S.26f. 366 F. Bydlinski, Ersatz, S. 239; H. Koziol, Haftpflichtrecht I, S. 226; ähnlich w e g e n der Allgemeinheit des § 1293 A B G B : A. v. Randa, Schadenersatzpflicht, S.201; ansatzweise in diesem Sinne auch schon: F. v. Zeiller, A b h a n d l u n g , S.174.
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
mittelbar geltenden Art. 5 E M R K und der auf diesen bezogenen Rechtsprechung des E u G H bei Freiheitsberaubungen seine bisherige Position aufgab und seither auch eine Geldentschädigung für die dabei erlittenen immateriellen Schäden zuspricht 367 . Nachdem der O G H etwa zeitgleich auch bei gewaltsamen Sexualdelikten die Schadensersatzansprüche des Opfers auf seine immateriellen Schäden ausweitete, sind numehr trotz der nach wie vor ausstehenden Klärung der Bedeutung der „Tilgung der Beleidigung" in § 1323 A B G B die beiden wichtigsten und von der Literatur wie der Öffentlichkeit am schärfsten kritisierten Rechtsschutzlücken geschlossen worden 3 6 8 . Die Rechtsnatur der hiernach vom Schädiger für Nichtvermögensschäden zu erbringenden Leistung entspricht der in den beiden im Gesetz ausdrücklich geregelten Fälle: Es handelt sich um eine rein ausgleichsorientierte Entschädigung, die grundsätzlich keine pönalen Elemente aufweist, die über die auch beim Schadensersatz für Vermögensschäden festgestellten Ansätze hinausgehen. Sie ist daher im Gegensatz zu einer Geldstrafe vererbbar, mehrere Schädiger haften gesamtschuldnerisch 369 . Wie bei jeder Geldentschädigung für immaterielle Schäden wegen des Aquivalenzproblems zwischen dem erlittenen Schaden und dem gezahlten Geldbetrag unvermeidlich, kommt dabei aber dem Präventions- und Sühnegedanken eine deutlich größere Bedeutung zu als beim Schadensersatz für Vermögensschäden 370 . Dennoch war als vorrangiges Ziel der Geldentschädigung für immaterielle Schäden nach österreichischem Recht stets anerkannt, dass diese zwar nicht unmittelbar den eigentlichen Schaden ausgleichen könne, dafür aber dem Geschädigten die nötigen Mittel zur Verfügung stellen soll, um sich Annehmlichkeiten zu verschaffen, die bei ihm ein positives Gegengewicht zu den erlittenen Einbußen bilden sollen 371 . Insbesondere lassen sich in der österreichischen Rechtsliteratur keine auch nur annähernd mit der Diskussion in Deutschland vergleichbaren grundsätzlichen Zweifel an der Angemessenheit einer Geldentschädigung für Nichtvermögensschäden und andere Persönlichkeitsrechtsverletzungen ausmachen. Soweit gegen diese überhaupt Bedenken geltend gemacht wurden, beschränkten sich diese vielmehr durchweg entweder auf Zahlungen in den gewaltfreien „Verführungsfällen" im Rahmen des § 1328 A B G B 3 7 2 oder, und auch dies uneingeschränkt nur in der älteren Litera-
Grundlegend hierfür: O G H , Urteil vorn 18.6. 1975 (1 O b 226/74), öst. J B l 1975, S.645ff. H. Koziol, Haftpflichtrecht I, S.224f.; Rummel/Reischauer, A B G B , § 1324, Rn. 11; jeweils mit Beispielen zur neueren Rechtsprechung und den weiterhin problematischen Fallgruppen. Zu den zuvor vorrangig umstrittenen Fällen vgl. F. Bydlinski, Ersatz, S. 252. 369 §§1391 ff., 1337 A B G B ; vgl. hierzu auch F. Gschnitzer, Schuldrecht, S.460; L. P f a f f , Replik, S. 73; E. Swoboda, A B G B , S. 99; R. Strasser, Schaden, S. 19. 370 F. Gschnitzer, Schuldrecht, S. 459; so auch Strasser hinsichtlich der von ihm statt des Schadensersatzes propagierten Genugtuung für immaterielle Schäden: R. Strasser, Schaden, S. 58. 371 Allg. Ansicht, vgl. statt aller: H. Koziol, Haftpflichtrecht I, S.230; ähnlich auch der ansonsten in der dogmatischen Begründung, wenn auch nicht im Ergebnis abweichende R. Strasser, Schaden, S. 19, für die von ihm statt Schadensersatz propagierte Genugtuung. 372 So noch F. Bydlinski, Ersatz, S. 245, um den Anschein eines ,,Entgelt[s] für den gewährten Verkehr" zu vermeiden. 367 368
III.
Die Gesetzgebung
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Partikularstaaten
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tur 3 7 3 , auf eine Geldentschädigung für Ehrkränkungen 3 7 4 . Dies gilt trotz aller stets zugestandenen Schwierigkeiten bei der Ermittlung der jeweils zuzusprechenden Entschädigungsbeträge nicht nur für die neuere Zeit 3 7 5 , sondern insbesondere auch für das späte 19. Jahrhundert 3 7 6 . Hiervon bildete selbst Unger, Pf äff'sehe
so sehr er die
weitherzige Auslegung von § 1323 A B G B vehement bekämpfte und eine
Geldentschädigung für Nichtvermögensschäden de lege lata nur in den gesetzlich ausdrücklich geregelten Fällen gewähren wollte, also v.a. als Schmerzensgeld für Körperverletzungen nach § 1325 A B G B 3 7 7 , keine Ausnahme. Vielmehr sprach auch dieser sich de lege ferenda nachdrücklich für eine Geldentschädigung bei Nichtvermögensschäden aus, da es sich dabei um das „allgemeine Genussmittel [handelt, das] sich als das allgemeine Entschädigungsmittel darbietet" 3 7 8 . Zutreffend konnte daher Pfaff
feststellen, dass es sich bei der Forderung, im Regelfall eine Geldent-
schädigung für immaterielle Schäden zuzubilligen, um „ein in der Gegenwart so allgemein aufgestelltes Postulat [handelt], dass ich über die Angemessenheit desselben kein Wort zu verlieren brauche" 3 7 9 . aa) Schmerzensgeld Gemäß § 1325 A B G B , der insofern seit seinem Inkrafttreten nicht verändert wurde, steht dem Opfer einer Körperverletzung neben dem Ersatz seines Vermögensschadens „auf Verlangen überdies ein den erhobenen Umständen
entsprechendes
Schmerzengeld zu". Anders als im A L R wurde der Anspruch auf Schmerzensgeld im A B G B also weder an den Verschuldensgrad des Täters, noch an den Stand des Opfers oder die H ö h e des durch die Körperverletzung entstandenen Vermögensschadens gekoppelt, sondern ähnelte weitgehend der im gemeinen Recht entwickelten Form. Folgerichtig sah die ganz herrschende Meinung in dem Recht des Verletzten auf Schmerzensgeld stets einen reipersekutorischen Schadensersatzanspruch und nicht eine Privatstrafe 380 . Ziel des Schmerzensgeldes soll es demnach sein, dem 3 7 3 Aus heutiger Sicht, v.a. wegen des Wertungswiderspruchs zu den Spezialgesetzen, derartige Bedenken verwerfend z.B.: F. Bydlinski, Ersatz, S. 185. 3 7 4 Hierzu etwa L. P f a f f , Gutachten, S. 18ff. 3 7 5 Vgl. nur F. Bydlinski, Ersatz, S. 249; H. Koziol, Haftpflichtrecht I, S. 180,223ff., zur Höhe des Geldersatzes für Nichtvermögensschäden S. 230ff.; ähnlich R. Strasser, Schaden, S. 21, für die von ihm statt Schadensersatz bei Nichtvermögensschäden propagierte Genugtuung. 3 7 6 Anderer Auffassung waren lediglich die wenigen Autoren, die Schadensersatz für Nichtvermögensschäden von vornherein ausschlössen, so insbesondere V. Hasenöhrl, Obligationenrecht, S.247. 377 ]. Unger, Beiträge, S.228. 378 /. Unger, Beiträge, S. 229 (unter Berufung auf R.Jhering, Rechtsgutachten, S. 50ff.), der in dieser Bewertung einen „Cardinalpunkt" sah, von dem „alle Reform des materiellen Schadenersatzrechtes" ausgehen müsse. Zu ähnlichen Formulierungen schon bei Hugo Grotius oben, B.II.5. 379 L. Pfaff Replik, S.7. 3 8 0 Einhellig und ausdrücklich jedenfalls seit: L. P f a f f , Gutachten, S. 16 („Ist nun das Schmerzensgeld ... wie ja nun als historisch erwiesen gelten darf, keine Privatstrafe ..., sondern eine Entschädigungsklage"); vgl. nur: Klang/Wolff A B G B , § 1325, Anm. 3a; H. Krasnopolski/B. Kaßa, Obligationenrecht, S.220; R. Mayr, Lehrbuch II, S.310 Fn.22; A. v. Randa, Schadenersatzpflicht, S.213
152
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
Verletzten Lustgefühle zu verschaffen, um dadurch die durch die Körperverletzung und die damit verbundenen körperlichen oder seelischen Schmerzen hervorgerufenen Unlustgefühle auszugleichen381. Die im 19. Jahrhundert insbesondere von Joseph Unger zunächst vertretene Gegenauffassung382 konnte sich nicht durchsetzen und wurde auch von diesem selbst - vor allem unter dem Eindruck der Untersuchung v. Wächters383 - schließlich ausdrücklich aufgegeben384. Letzte Zweifel an der fehlenden pönalen Ausgestaltung des österreichischen Schmerzensgeldanspruchs beseitigte dann seine frühe und umfassende Ausdehnung auf Schadensersatzpflichten im Rahmen der Gefährdungshaftung385: Von Anfang an herrschte Einigkeit darüber, dass eine verschuldensunabhängige Haftung mit einer pönalen Rechtsnatur des Anspruchs nicht vereinbar, eine gegensätzliche Rechtsnatur des Schmerzensgeldanspruchs nach § 1325 A B G B und desjenigen nach den sondergesetzlichen Bestimmungen zur Gefährdungshaftung vom Gesetzgeber aber offensichtlich nicht beabsichtigt war 386 . Dennoch lassen sich in zweierlei Hinsicht Abweichungen des Schmerzensgeldanspruchs von den allgemeinen Schadensersatzregeln ausmachen, die jedenfalls den Anschein eines pönalen Beigeschmacks erwecken: Zum einen interpretierten der O G H 3 8 7 und die ältere Lehre 388 die Worte „auf Verlangen" in § 1325 A B G B bis weit in das 20. Jahrhundert hinein dahin, dass ein Schmerzensgeldanspruch - wie dies auch § 847 12 a.F. B G B vorsah 389 - nur dann auf die Erben des Verletzten übergehen könne, wenn dieser vom Verletzten zu dessen Lebzeiten gerichtlich geltend gemacht Fn. 131; E. Swoboda, Gesetzbuch, S. 103; ähnlich aber auch schon: F. v. Zeiller, Commentar I I I / l , S. 761; zur heutigen Bewertung des Schmerzensgeldes statt aller: Rummel/Reischauer, ABGB, §1325, Rn.43; F. Gschnitzer, Schuldrecht, S.460. 381 Vgl. statt aller: Klang/Wolff, A B G B , § 1325, Anm. 3a m. w.N. zur st. Rspr. des O G H (FN 132); Schwimann/Harrer, A B G B , §1325, Rn. 61 f. Zu dieser spätestens seit ihrer Verwendung durch B. Windscheid (vgl. Lehrbuch II, 4. Auflage, § 455, Anm. 7, S. 706f. und Fn. 31, S. 707) allgemein üblich gewordenen Formel unten, B.IV.2 a). 3 8 2 So noch in J. Unger, System II, S.365, Fn. 16; in diesem Sinne auch eine Entscheidung des O G H v. 18.1. 1872 („da das Schmerzensgeld den Charakter einer Privatstrafe nicht verkennen läßt"), wiedergegeben bei: A. Riehl, A B G B , S. 1027. 3 8 3 C. G. v. Wächter, Die Busse bei Beleidigungen und Körperverletzungen nach dem heutigen gemeinen Recht (1874), S.72ff. 384 ]. Unger, Beiträge, S.222. 3 8 5 Z.B. in § 1 E K H G vom 5.3. 1869 (öst. R G B l 1869, Nr.27), ähnlich nach dem Zwischenspiel des Schmerzensgeld im Rahmen der Gefährdungshaftung bis 2002 ablehnenden deutschen Rechts (fortgeführt noch in §§ 12f. des E K H G vom 21.1. 1959, öst. B G B l 1959, Nr. 48) heute wieder §§ 12 I Nr. 4, 13 Nr. 4 E K H G i.d.F. 1968 (öst. B G B l 1968, Nr. 69); §1 I des Gesetzes über die Haftung für Schäden aus dem Betriebe von Kraftfahrzeugen vom 9.8.1908 (öst. R G B l 1908, Nr. 162). Ähnlich in neuerer Zeit u.a. § 12 I Nr. 4, § 13 I Nr. 4 öst. AtomHG vom 29.4.1964 (öst. B G B l 1964, Nr. 117). Einen Uberblick über diese Gesetzgebung bei U. Floßmann, Privatrechtsgeschichte, S. 306ff. 3 8 6 Vgl. hierzu: W. Jelinek, Persönlichkeit, S. 14ff., 19; F. Bydlinskt, Schaden, S. 786f. 3 8 7 1 7.6. 1922 ( G I U N F 6485), Judikat 204, ausführlich dazu: W. Jelinek, Persönlichkeit, S. lff. 3 8 8 So etwa A. v. Randa, Schadenersatzpflicht, S.211; ebenso noch: E. Swoboda, Gesetzbuch, S. 104; K. Jarosch/O.F. Müller/J. Piegler, Schmerzensgeld, S. 108ff. 3 8 9 „Der Anspruch ist nicht übertragbar und geht nicht auf die Erben über, es sei denn, daß er durch Vertrag anerkannt oder daß er rechtshängig geworden ist", aufgehoben seit dem 1.7. 1990 durch Gesetz vom 14.3. 1990 (BGBl I 1990, S.478).
III. Die Gesetzgebung
in den deutschen
Partikularstaaten
153
worden sei oder der Schädiger ihn anerkannt habe. Eine Gegenansicht in der Literatur lehnte zwar die Notwendigkeit einer gerichtlichen Geltendmachung ab, forderte jedoch mindestens eine Erklärung des Verletzten, die eindeutig den Wunsch nach Schmerzensgeld erkennen ließ, selbst wenn sie nicht gegenüber dem Schädiger abgegeben worden war 390 . Gerechtfertigt wurde diese Auffassung allerdings nicht mit einem etwaigen pönalen Charakter des Schmerzensgeldanspruchs, sondern teils mit den aus der Entstehungsgeschichte anderer Kodifikationen des 19. Jahrhunderts vertrauten moralischen Bedenken gegen die Erhebung eines solchen Anspruchs (es sei „nämlich nicht jedermanns Sache, für erlittene Schmerzen Geld zu erhalten. Manchen kann das geradezu peinlich sein" 391 ), überwiegend und v.a. in der jüngeren Zeit aber in Anlehnung an die zu § 847 I 2 a.F. BGB vertretenen Ansichten 392 mit dessen Höchstpersönlichkeit 393 . Im Gegensatz zu § 84712 a.F. BGB entbehrte die zwingende Verknüpfung des Schmerzensgeldanspruchs mit einem ausdrücklichen Verlangen des Verletzten jedoch nicht nur stets einer klaren Grundlage im Gesetzeswortlaut. Sie ließ sich auch kaum mit den übrigen Normen des Schadensersatzrechts des ABGB in Einklang bringen, insbesondere mit dem unstreitig unabhängig von einer derartigen Erklärung bestehenden Anspruch auf das Affektionsinteresse in §1331 ABGB. Noch gravierender wurden die Wertungswidersprüche, die sich aus der älteren Interpretation des §1325 ABGB ergaben, nachdem auch die neueren Gesetze über die Gefährdungshaftung Schmerzensgeldansprüche vorsahen 394 - ausnahmslos unabhängig von einer wie auch immer gearteten Willenserklärung des Verletzten 395 . Die herrschende Lehre ging daher in den letzten Jahrzehnten zunehmend dazu über, den Worten „auf Verlangen" entweder von vornherein jegliche Bedeutung für das materielle Zivilrecht abzusprechen 396 oder doch zumindest ihre frühere Funktion durch die neueren Gesetze als beseitigt anzusehen 397 . Dem hat sich nunmehr auch der O G H angeschlossen 398 .
In diesem Sinne z.B.: Klang/Wolff, ABGB, § 1325, Anm. 3b. Zitat nach: Klang/Wolff, ABGB, §1325, Anm. 3b; ähnlich auch noch: H. Koziol, Haftpflichtrecht I, S. 179. 392 Vgl. statt aller: MünchKomm/Stez«, § 847, Rn. 52. 393 A. v. Randa, Schadenersatzpflicht, S.21 Fn. 131; E. Swoboda, Gesetzbuch, S. 104. 394 Vgl. etwa §§ 12f. öst. EKHG, § 186 BergG vom 10.3. 1954 (BGBl 1954, Nr. 73) i.V.m. §§ 12f. EKHG, §§ 12f. öst. AtomHG. 395 Vgl. statt aller: Schwimann/Harrer, ABGB, § 1325, Rn. 87; dies anerkennend z.B. OGH ZVR 1982/31; 1983/327 (m.w.N. zur älteren Rspr.). Ahnliches gilt für den Ersatz sonstiger Nichtvermögensschäden nach den neueren österreichischen Sondergesetzen, vgl. u.a. § 16 II öst. UWG, § 87 II öst. UrhG, § 150 III öst. PatentG. §53 öst. MarkenschutzG, §34 S.2 öst. MusterschutzG i.V.m. § 150 III öst. PatentG. 396 Vielmehr soll es sich hierbei lediglich um eine auf Grund des Prozessrechts zur Zeit des Inkrafttretens des ABGB (Teil I §525 StG von 1803) erforderliche Klarstellung gehandelt haben, dass der Strafrichter über Schmerzensgeldansprüche nicht von Amts wegen zu entscheiden hatte: W. Jelinek, Persönlichkeit, S. 9. 397 Rummel/Reischauer, ABGB, §1325, Rn.51; H. Koziol, Haftpflichtrecht II, S.142, jeweils m.w.N. 398 Vgl. hierzu die Nachweise bei: Schwimann/Harrer, ABGB, § 1325, Rn. 87. 390 391
154
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
Zum anderen sollen nach einer bis heute trotz fast 3 9 9 kontinuierlicher Ablehnung durch die Rechtsprechung 4 0 0 weit verbreiteten Ansicht in der Literatur für die B e messung des Schmerzensgeldes neben dem U m f a n g und der D a u e r der Schmerzen zwar nicht die Vermögensverhältnisse des Verletzten als solche 4 0 1 , wohl aber seine berufliche Stellung und seine kulturellen Bedürfnisse 4 0 2 sowie nach einem Teil der Lehre darüber hinaus auch der Verschuldensgrad des Schädigers berücksichtigt werden 4 0 3 . Auch dies rechtfertigen die Vertreter dieser Auffassung allerdings in beiden Fällen zumindest vorrangig mit opfer- und ausgleichsorientierten Erwägungen, nicht mit einer verstärkten Sühnefunktion des Schmerzensgeldes: So soll die N o t wendigkeit zur Berücksichtigung der persönlichen (Vermögens-)Verhältnisse des Geschädigten lediglich eine unvermeidliche Reflexwirkung der Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes sein, da sich die H ö h e des Geldbetrages, der erforderlich ist, um bei einem Menschen positive Empfindungen zu erwecken, die als adäquater Ausgleich für die erlittenen Schmerzen bewertet werden, nur subjektiv, unter Einbeziehung seiner jeweiligen Lebensverhältnisse, ermitteln lasse 404 . Soweit eine B e r ü c k sichtigung des Verschuldensgrades des Schädigers befürwortet wird, soll diese dazu beitragen, die stärkere seelische Belastung auszugleichen, der O p f e r einer vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Körperverletzung im Vergleich zu solchen einer leicht fahrlässigen Schädigung ausgesetzt seien 4 0 5 . Zu R e c h t wurde dieser Argumentation aber entgegengehalten, dass der Gesetzgeber des A B G B bei der Bemessung des Schadensersatzes für Körperverletzungen gerade bewusst auf die sonst meist praktizierte Abstufung des ersetzbaren Schadensumfangs nach dem Verschuldensgrad des Schädigers verzichtet hatte 4 0 6 . Zudem hätte eine solche Staffelung spätestens seit der Ausdehnung des Schmerzensgeldes auf Fälle der Gefährdungshaftung auch allenfalls noch unter Inkaufnahme erheblicher Wertungswidersprüche zwischen dem A B G B und den sondergesetzlichen Schadensersatznormen oder einer deutlichen 399 Anders etwa noch eine OGH-Entscheidung v. 18.1. 1872, wiedergegeben bei: A. Riehl, ABGB, S. 1027; weitere Nachweise für einzelne Ausreißerentscheidungen bei: Rummel/Reischauer, ABGB, § 1325, Rn.46. 400 Umfangreiche Nachweise zur Rechtsprechung des OGH hierzu z.B. bei Schwimann/Harrer, ABGB, §1325, Rn.72; R.E. Veit, EKHG, Anm. 22-24 zu §13 EKHG. 401 So v.a. die st. Rspr. (vgl. hierzu die Nachweise bei: H. Koziol, Haftpflichtrecht I, S. 231, Fn. 48), anders noch eine Entscheidung des OGH vom 18.1. 1872 (wiedergegeben bei: A. Riehl, ABGB, S. 1027). 402 R. Strasser, Schaden, S.22; Klang/Wolff, ABGB, §1325, Anm.3c; Rummel/Reischauer, ABGB, § 1325, Rn.46 m.w.N. (auch zur Rechtsprechung des OGH); dagegen (nicht zuletzt aus nationalsozialistischer Sicht): E. Swoboda, Gesetzbuch, S. 103. 403 Klang/Wolff, ABGB, § 1325, Anm. 3c; H. Koziol, Haftpflichtrecht I, S. 232, II, S. 140; H. Krasnopolski/B. Kafka, Obligationenrecht, S.220. 404 Klang/Wolff, ABGB, § 1325, Anm. 3c; Rummel/Reischauer, ABGB, § 1325, Rn. 46. 405 So allgemein zur Rechtfertigung der Abstufung der Haftung nach dem Verschuldensgrad: L. Pfaff Gutachten, S. 118, unabhängig von solchen Erwägungen für die Berücksichtigung des Verschuldensgrads bei der Bemessung des Schmerzensgeldes, um nicht von der generellen Abstufung des Haftungsumfangs nach dem ABGB abzuweichen: Klang/Wolff, ABGB, § 1325, Anm. 3c; H. Koziol, Haftpflichtrecht, S. 140. 406 E. Swoboda, Gesetzbuch, S. 101.
III.
Die Gesetzgebung
in den deutschen
Partikularstaaten
155
Entwertung des in den Sondergesetzen vorgesehenen Schmerzensgeldanspruchs umgesetzt werden können 407 . Letztlich ist damit das in § 1325 ABGB vorgesehene Recht des Geschädigten auf Schmerzensgeld als ein Anspruch anzusehen, bei dessen Zielsetzung die Ausgleichsfunktion eindeutig im Vordergrund stand. Soweit daneben pönale Nebenzwecke in der Literatur oder Rechtsprechung Berücksichtigung fanden, handelte es sich überwiegend lediglich um die bei einer Geldentschädigung für immaterielle Schäden unvermeidlichen Folgeerscheinungen der Schadensberechnungsprobleme. Darüber hinaus war die praktische Bedeutung dieser pönalen Ansätze für die österreichische Rechtsprechung wegen der grundsätzlichen Ablehnung der meisten pönalen Berechnungskriterien durch den O G H sowie der nicht zuletzt auch aus Gründen der Rechtssicherheit und Prozessvereinfachung den Untergerichten vom O G H vorgegebenen stark verobjektivierten Berechnungsmethode des Schmerzensgeldes 408 äußerst gering. bb) Verunstaltung Soweit eine Körperverletzung zu einer - wenn auch nicht notwendig dauerhaften 409 - Verunstaltung des Verletzten führt, sieht § 1326 ABGB vor, dass dieser Umstand bei der Bemessung der Höhe seines Schadensersatzanspruchs zu berücksichtigen ist, wenn sein „besseres Fortkommen dadurch verhindert werden kann". Im Einklang mit dem gemeinen Recht wollten die Verfasser des ABGB damit vor allem den verminderten Aussichten von verunstalteten Frauen auf Eheschließung und damit auf wirtschaftliche Absicherung Rechnung tragen 410 . Aber auch berufliche Nachteile von Verletzen beiderlei Geschlechts waren von Anfang an 411 , verminderte Heiratschancen von Männer jedenfalls nach der späteren Rechtsprechung des OGH 4 1 2 berücksichtigungsfähig, obwohl „eine Eheschließung ... für einen Mann in der Regel eher eine Verschlechterung seiner Vermögenslage nach sich zieht und ihr Unterbleiben daher keinen Vermögensschaden darstellen könne ,.." 413 . 407
W. Jelinek, Persönlichkeit, S. 14ff., 19. Schwimann/Harrer, A B G B , §1325, R n . 6 9 . Zur R i c h t l i n i e n w i r k u n g der O G H - R e c h t s p r e chung u.a. R.E. Veit, E K H G , A n m . 14 zu § 13 E K H G . Einen Uberblick über die Kriterien für die Bemessung der Schmerzensgeldhöhe und die daraus folgenden Beträge in F o r m einer Schmerzensgeldtabelle bei: K. Jarosch/O.F. Müller/J. Piegler, Schmerzensgeld, S. 123ff.; Schwimann/Harrer, §1325, R n . 86. 409 Klang/Wolff, A B G B , §1326, S.145; P r a x i s k o m m e n t a r / H a r r e r , A B G B , § 1 3 2 6 R n . 7 ; F. Gschnitzer, Schuldrecht, S.499. 410 § 1326 schreibt die Berücksichtigung der Verunstaltung einer Person, „zumal, w e n n sie weiblichen Geschlechtes ist" vor. Vgl. zur Zielsetzung von § 1 3 2 6 A B G B auch Klang/Wolff, ABGB, §1326, S. 146; P. Apathy, Historisches, S. l f f . 411 Klang/Wolff, A B G B . § 1326, S. 146; F. Gschnitzer, Schuldrecht, S.499; krit. zu dieser O G H Rspr. aber P r a x i s k o m m e n t a r I H a r r e r , A B G B , § 1326, Rn. 9 (Berücksichtigung beruflicher Nachteile nur im R a h m e n von § 1325). 412 So zustimmend und mit N a c h w e i s e n zur Rspr.: Praxiskommentar///4. Schönke, StGB (1. Auflage), StGB, §188, A n m . II. 1; noch offen gelassen von R G S t 42, S. 166ff., 167 (28.1. 1909). 43 R G S t 42, S. 166ff., 167f. (28.1. 1909) 44 D a bei einer Buße nach §231 StGB der N a c h w e i s eines Nachteils nicht erforderlich war, stellte sich die Frage der Berücksichtigung von Nichtvermögensschäden hier erst bei der Bemessung des U m f a n g s der Buße, wobei einhellig von einer Berücksichtigungsfähigkeit von N i c h t v e r m ö g e n s schäden ausgegangen w u r d e , vgl. die st. Rspr. auf der G r u n d l a g e von R G S t 15, S. 352ff., 354 (7.3. 1887); 24, S.397ff., 398 (20.11. 1893); 31, S.334ff., 335 (19.11. 1898); 55, S. 188ff., 189 (20.12. 1920). 45 D a f ü r u.a.:}. Olshausen, StGB I (5. Auflage), § 188, A n m . 2; E. T. Ruho, StGB, § 188, A n m . 6 u. § 13, Fn. zu A n m . 1; £ Oetker, B u ß p r o z e ß , S. 328; dagegen z.B.: F. C. Oppenhoff, StGB (3. Auflage), §188, A n m . 9 , 1 4 ; ähnlich auch noch: E. Kern, Buße, S.410. Ein Uberblick über den Meinungsstand im Vorfeld des B G B findet sich bei: W. Schubert (Hg.), Vorlagen der Redaktoren, Schuldverhältnisse III/2, S. 847. 46 Vgl. z.B. in R G S t 15, 352ff., 353f. (7.3. 1887). 47 R G Recht 1930, S. 132 (25.10. 1929); zur daraufhin nahezu einheitlichen Auffassung auch in der Literatur vgl. statt aller: A. Schönke, StGB (1. Auflage), § 188, A n m . II.l., m . w . N . („auch jede immaterielle Benachteiligung, die das F o r t k o m m e n ungünstig beeinflußt"). 48 Vgl. E. T. Ruho, StGB, § 13, Fn. zu A n m . 1; Stenglein, Verlangen, S. 357.
V. Die Reichsgesetzgebung
vor dem
BGB
211
die beiden ersten Unterfälle jedenfalls zusammen jeden denkbaren Vermögensschaden abdeckten. Dies muss umso mehr gelten, als für Vermögensschäden durch Ehrkränkungsdelikte nach den meisten deutschen Rechtsordnungen von 1872 Schadensersatzansprüche bestanden, es insoweit also an der im Reichstag bei der Beratung der Geldbuße kritisierten Regelungslücke 4 9 fehlte. Dritte Voraussetzung der Geldbuße war deren „Verlangen" durch den Verletzten. Wie dieses zu erfolgen hatte, wurde nicht im S t G B , sondern erst in der S t P O reichseinheitlich geregelt. In den sieben Jahren dazwischen genügte es daher, sofern landesrechtliche Ausführungsvorschriften fehlten 5 0 , wenn der Verletzte den Wunsch nach der Festsetzung einer Buße bis zur Verkündung des Strafurteils formlos vorgebracht hatte 5 1 . Nach der S t P O setzte die Zuerkennung einer Buße hingegen voraus, dass sich der Verletzte der öffentlichen Klage als Nebenkläger anschloss, sofern er das Verfahren nicht ohnehin als Privatkläger betrieb 5 2 . Außerdem wurde nunmehr klargestellt, dass wegen des höchstpersönlichen Charakters der Buße 5 3 diese lediglich von dem Verletzten selbst, gegebenenfalls durch seinen gesetzlichen Vertreter 5 4 , beantragt werden konnte, nicht jedoch auch durch seine Erben 5 5 . Der Verletzte musste daher die Rechtskraft des die Buße festsetzenden Urteils erlebt haben 5 6 . In zeitlicher Hinsicht endete die Zulässigkeit der Beantragung der Buße mit der Verkündung des erstinstanzlichen Urteils (§444 I StPO). Aus prozessökonomischen Gründen legte das Reichsgericht diese Regelung jedoch in der Folgezeit dahin aus, dass auch dann noch die Möglichkeit bestand, eine Buße zu verlangen, wenn das Verfahren nach erfolgreicher Revision an die erste Instanz zurückverwiesen worden war 5 7 oder es zu einem Wiederaufnahmeverfahren (und damit einem erneuten Ver4 9 Vgl. v.a. die Diskussionsbeiträge von Meyer im Reichstag am 4.4. 1870 und Lasker vom 5.4. 1870, abgedruckt bei: W. Schubert (Hg.), Verhandlungen Entwurf Strafgesetzbuch, S. 342f., 348,363. 50 Eine ausführliche Regelung der Geltendmachung der Buße erfolgte für Oldenburg durch die Verordnung vom 27.2. 1871; abgedruckt in: Der Gerichtssaal 24 (1872), S.318ff.; für Bayern in den Art. 117ff. des Gesetzes, „den Vollzug der Einführung des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich in Bayern betr." vom 26.12.1871, GBl für das Kgr. Bayern 1872, Sp. 81 ff., 147ff.; spärlicher die Regelung in Sachsen (§42 der Ausführungs-Verordnung zum StGB vom 10.12.1870, G V O B l f ü r das Königreich Sachsen 1870, S. 345ff., 354f.), sowie Baden (Art. 21-22 des Einführungsgesetzes zum StGB vom 23.12. 1871, Gesetzes- und Verordnungs-Blatt für das Großherzugthum Baden 1871, S. 431 ff., 443f.; zur Praxis in Württemberg ausführlich: Baur, Verlangen, S. 339ff. Im Interesse der gleichmäßigen Anwendung des StGB im gesamten Reich gegen die Zulässigkeit solcher landesrechtlichen Bestimmungen: F. C. Oppenhoff, StGB, §188, Anm.5; dafür: H. Rüdorff, StGB, §188, Anm. 7; Stenglein, Verlangen, S. 325, 349; C. G. v. Wächter, Busse, S. 54. 51 Baur, Verlangen, S. 342f.; F. C. Oppenhoff, StGB (3. Auflage), § 188, Anm. 5f.; Stenglein, Verlangen, S.333ff.; C.G. v. Wächter, Busse, S.54. 52 §§443 II, 446 StPO. 53 Zur näheren Begründung dieser Beschränkung: Stenglein, Verlangen, S.332f. 54 RGSt 29, S.140f., 141 (2.11. 1896); ähnl./. Olshausen, StGB I (5. Auflage), § 188, Anm.3f.; Stenglein, Verlangen, S. 331; a.A. noch E.T. Rubo, StGB, §188, Anm. 3, 5 (nur Beleidigter selbst, Minderjähriger kann Antrag stellen, sobald er sich dessen Bedeutung bewusst ist). 55 §444 IV StPO. 56 /. Olshausen, StGB II (3. Auflage), §231, Anm. 4; ders., StGB I (5. Auflage), § 188, Anm. 3; F. C. Oppenhoff, StGB (3. Auflage), § 188, Anm. 19; Stenglein, Verlangen, S.332. 5 7 RGSt 15, S.439f., 4 4 0 ( 2 5 . 4 . 1887); 44, S.294ff., 296 (17.1. 1911).
212
B. Die Grenze zwischen Privat- und Straf recht in Deutschland vor dem BGB
fahren in erster Instanz) kam 5 8 . Bei der Beantragung der B u ß e war der geforderte B e trag genau zu beziffern 5 9 . Selbst wenn diese drei Voraussetzungen der Verhängung einer Buße gegeben waren, musste der Richter nach dem Wortlaut der §§ 188, 231 S t G B jedoch nicht zwingend auf eine Geldbuße erkennen. Vielmehr sahen die die B u ß e gewährenden B e stimmungen auch in diesem Fall einen weiten richterlichen Ermessensspielraum vor. D a m i t hatte der Gesetzgeber die H o f f n u n g verbunden, den an der gemeinrechtlichen Injurienklage beklagten prozessualen Widrigkeiten wirksam vorbeugen zu können 6 0 . Insbesondere bei Bußklagen wegen Ehrkränkungsdelikten sollte auf diesem Wege verhindert werden, dass Forderungen nur geltend gemacht wurden, weil die Anspruchsteller mit „ihrer E h r e eine Art P r o f i t " machen, sich „durch diese B u ß e ein L u k r u m " verschaffen wollten 6 1 . In Ubereinstimmung mit diesen Erwägungen billigte die Literatur dem Richter allgemein das Recht zu, den Antrag auf B u ß e ohne weiteres abzulehnen, wenn er nach pflichtgemäßer Ermessensausübung zu der E r kenntnis gelangt war, „daß keine Veranlassung vorliege, von der ihm ertheilten B e fugniß Gebrauch zu machen" 6 2 . An diese F o r m e l knüpfte das Reichsgericht zwar an 6 3 , verlangte aber zugleich die Begründung der abschlägigen Entscheidung eines Bußantrags im Urteilsausspruch 6 4 und stellte schon früh hohe Anforderungen an die Art und Weise der richterlichen Ermessensausübung: „Wenngleich die verschiedenen gesetzlichen Vorschriften über B u ß e nur bestimmen, daß auf B u ß e unter gewissen Voraussetzungen erkannt werden kann, so ist damit nicht gesagt, daß die Zuerkennung in das Belieben oder in die Willkür des Strafrichters gestellt sein solle. D e r Richter hat vielmehr dem Antrage des Verletzten auf B u ß e stattzugeben, sofern kein Hindernis entgegensteht, welches nach den Grundsätzen und dem Zwecke des G e setzes als solches gelten kann" 6 5 . Als hinreichende Hindernisse im Sinne dieser D e f i nition erkannte das Reichsgericht dabei etwa die drohende Verschleppung des Strafverfahrens durch eine für die Entscheidung über die B u ß e erforderliche Beweisaufnahme 6 6 oder das Fehlen jeglicher Anhaltspunkte für die Bemessung der H ö h e der
RGSt 41, S. 104ff., 105 (24.10. 1907). §445 I S t P O . 60 So ausdrücklich der Berichterstatter der Kommission im Reichstag Meyer in der 34. Sitzung vom 4.4. 1870, Protokoll abgedruckt bei: W. Schubert (Hg.), Verhandlungen Entwurf Strafgesetzbuch, S.348. 61 Zu derartigen Bedenken auch unter den Reichstagsabgeordneten vgl. Gebert in der 34. Sitzung vom 4.4. 1870, Protokoll abgedruckt bei: W. Schubert (Hg.), Verhandlungen Entwurf Strafgesetzbuch, S.348. 62 So F.C. Oppenhoff, StGB (3. Auflage), § 188, Anm.2; ähnlich: J. Olshausen, StGB II (3. Auflage), §231, Anm.2; ders., StGB I (5. Auflage), § 188, Anm.7; E.T. Rubo, StGB, §188, Anm.2. 63 Z.B. in RGSt 7, S. 12ff., 13 (1.7. 1882); 42, S. 166ff., 167(28.1. 1909). 64 RGSt 7, S.12ff., 16 (1.7. 1882). 65 RGSt 17, S. 190ff., 191 (9.3.1888); bestätigt durch RGSt 60, S. 12ff., 13 (3.12.1925). Ebenso RG J W 1932, S.3080, das insofern aber ebenfalls keine Neuerung darstellt (so aber Anm. Klefisch, ebenda), sondern nur die bereits in RGSt 17, S. 190ff. aufgestellten Grundsätze wiederholt. 66 C.G. v. Wächter, Busse, S.45. 58 59
V. Die Reichsgesetzgebung
vor dem BGB
213
Buße 67 . Demgegenüber wurden im Rahmen der Revision verschiedentlich Entscheidungen von Untergerichten verworfen, die Anträge auf Verhängung einer Buße abschlägig beschieden hatten, weil der Umfang des eingetretenen Schadens sich nicht mit Sicherheit bestimmen lasse 68 oder lediglich Einbußen an ideellen Gütern eingetreten waren 6 9 . Wie das Reichsgericht auch noch Jahre nach der Verbesserung der Rechtsstellung des Verletzten durch die Reichsjustizgesetze betonte, waren schließlich gerade dies die Fälle, in denen die Geldbuße Rechtsschutz gewähren sollte: Die Buße „bezweckt einerseits die Vermeidung der Führung nutzloser Zivilrechtsstreite ..., vor allem aber will sie der bei diesen für den Verletzten bestehenden Gefahr vorbeugen, daß ihm wegen der Schwierigkeiten der ihm dort obliegenden Beweisführung überhaupt kein Ersatz zugesprochen werde. Es erschien dem Gesetzgeber billiger, unter der Mißlichkeit des Schadensnachweises lieber den Schädiger als den Verletzten leiden zu lassen" 70 . Ausnahmsweise konnte allerdings auch der Zweck eines anderen Gesetzes als des die Buße gewährenden zum Ausschluss des Bußanspruchs führen. So hatte etwa die Beschränkung der Entschädigungsansprüche des Unfallopfers gegen den Betriebsunternehmer im Unfallversicherungsgesetz auf Fälle der vorsätzlichen Körperverletzung 71 zur Folge, dass dem Verletzten bei nur fahrlässiger Unfallverursachung auch keine auf §231 StGB gestützte Buße zugesprochen werden durfte 72 . Ebenso kam die Zuerkennung einer Buße nicht in Betracht, wenn das Opfer dem Täter gegenüber auf alle ihm aus der Tat erwachsenen privatrechtlichen Ansprüche verzichtet hatte, sofern nicht die dabei abgegebene Verzichtserklärung nach den allgemeinen zivilrechtlichen Regeln (Sittenwidrigkeit, Irrtum, Täuschung) als nichtig oder anfechtbar anzusehen war 7 3 . Irrelevant für die Frage der Zulässigkeit einer Buße waren hingegen landesrechtliche Bestimmungen 7 4 , wie etwa die Regelung des sächsischen Rechts, nach der dem Veranlasser einer tätlichen Auseinandersetzung für die bei dieser erlittenen Verletzungen keinesfalls ein Anspruch auf Schmerzensgeld zustand 75 . Gleichermaßen war unbeachtlich, ob das Opfer auch nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts einen Entschädigungsanspruch geltend machen könnte. Vielmehr richtete sich die Frage nach der Statthaftigkeit der Buße ausschließlich
RGSt 6, S.398ff., 399f. (20.6. 1882). RGSt 1, S.328f., 329 (18.3.1880); 6, S.398ff., 399f. (20.5.1882); 17, S. 190ff., 191 (9.3.1888); 60, S.12ff., 14 (3.12. 1925). 69 RGSt 15, S.352ff., 353f. (7.3. 1887). 70 RGSt 60, S. 12ff., 13f. (3.12. 1925); ähnlich RGSt 17, S.190ff., 192 (9.3. 1888). 71 Vgl. §95 des Unfallversicherungsgesetzes vom 6.7. 1884, RGBl 1884, S.69ff. 72 RGSt 24, 397ff., 398 (20.11. 1893). 73 RGSt 31, 334ff., 335f. (19.11. 1898). 74 Vgl. §2 EGStGB; Näheres bei:]. Olshausen, StGB II (3. Auflage), §231, Anm.6. 75 Dagegen ähnlich wie die sächsische Regelung noch §225 I des Entwurfs zum StGB: „Auf Verlangen des Verletzten kann zu seinen Gunsten bei einer vorsätzlichen Körperverletzung, welche ihm ohne seine Schuld zugefügt worden ist, neben der Strafe auf eine Buße bis zum Betrage von eintausend Thalern erkannt werden." 67 68
214
B. Die Grenze zwischen
Privat-
und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
nach dem StGB 76 . Schon allein hierdurch unterschied sich die Geldbuße grundlegend von der bloßen Durchsetzung eines privatrechtlichen Anspruchs im Adhäsionsverfahren 77 . Umgekehrt standen vor der Zuerkennung der Buße erlangte zivilrechtliche Schadensersatzzahlungen oder Versicherungsleistungen der Zulässigkeit der Verhängung einer Buße selbst dann nicht im Wege, wenn diese nicht nur den Vermögensschaden des Verletzten, sondern durch die Gewährung eines Schmerzensgeldes auch eine Entschädigung für erlittene Nichtvermögensschäden umfassten 78 , da das Strafgericht nicht gehindert war, „bei Abschätzung des körperlichen, bezw. psychischen Schadens (von dem Zivilurteil) verschiedene thatsächliche Gesichtspunkte . . . z u berücksichtigen" 7 9 . Aus ähnlichen Gründen hinderte auch die Rechtshängigkeit einer zivilrechtlichen Schadensersatzklage nicht die Zuerkennung einer Buße durch das Strafgericht 80 . bb) Rechtsfolgen Gab das Strafgericht dem Antrag auf Zuerkennung einer Buße nicht statt, blieb es dem Antragsteller unbenommen, seine Entschädigungsansprüche nunmehr auf dem Zivilrechtsweg zu verwirklichen 8 1 . Wurde dagegen eine Buße verhängt, schloss diese auch dann die Zulässigkeit jeder weiteren Geltendmachung von zivilrechtlichen Ansprüchen aus, wenn sie in der Höhe deutlich hinter dem Antrag zurückblieb 8 2 . Die Höhe der Buße durfte weder die gesetzliche Obergrenze von 2.000 Talern 83 noch den im Antrag des Verletzten benannten Betrag 84 übersteigen. Auch musste ein konkreter Betrag festgesetzt werden, während „die Form der Rente ausgeschlossen [war], weil bei der ungewissen Dauer derselben und bei dem Mangel strafrechtlicher 76 So klarstellend: RGSt 55, S. 188ff., 188f. (20.12.1920); ähnl. auch schonJ. Olshausen, StGB I (5. Auflage), §188, Anm.2. 77 Zu den Unterschieden zwischen Büß- und Adhäsionsverfahren vgl. nur E. Kern, Buße, S.411. 78 RGSt 9, S.223ff., 225f. (29.11. 1883); 15, S.352ff., 355 (7.3. 1887); bestätigt durch RGSt 55, S. 188ff., 189 (20.12.1920); so auch]. Olshausen, StGB I (5. Auflage), § 188, Anm. 10; a. A. noch F. C. Oppenhoff, StGB (3. Auflage), § 188, Anm. 7; Stenglein, Verlangen, S.338; einschränkend auch: E. T. Rubo, StGB, § 188, Anm. 7 (bei Schadensersatz nur noch Buße wegen immaterieller - noch nicht entschädigter - Nachteile zulässig). 79 RGSt 15, S.352ff., 355 (7.3. 1887). 80 RG JW 1895, S.288 (22.3. 1895); a.A. noch£C. Oppenhoff, StGB (3. Auflage), § 188, Anm.7; Stenglein, Verlangen, S. 338. 81 So klarstellend: RGSt 44, S.294ff., 296 (17.1. 1911): „Denn darüber besteht kein Zweifel, daß durch die Abweisung des Bußanspruches im Strafverfahren der im Wege des Zivilprozesses zu verfolgende Entschädigungsanspruch in seinem Bestände nicht beeinflußt wird"; in diesem Sinne bereits auch:J. Olshausen, StGB I (5. Auflage), § 188, Anm. 7;F. C. Oppenhoff, StGB (3. Auflage), § 188, Anm. 15, 29. 82 F. C. Oppenhoff, StGB (3. Auflage), Anm. 15; P. Kaden/G. Scheele/S. Hoffmann, BGB I, § 1489, Anm. 13, S.596. 83 Ab dem das Münzgesetz vom 9.7. 1873 (RGBl 1873, S.233ff.) umsetzenden Strafrechtsänderungsgesetz vom 26.2. 1876 (RGBl 1876, S.25ff.): 6.000 Mark, vgl. die „Bekanntmachung, betreffend die Redaktion des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich" vom 29.2.1876 (RGBl 1876,39ff., S. 76, 83). 84 §445 II StPO; für die Zeit vor Inkrafttreten der StPO ebenso Stenglein, Verlangen, S.358.
V. Die Reichsgesetzgebung
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Vorschriften über die Kapitalisierung von Renten sich nicht mit der für den Strafrichter gebotenen Sicherheit erkennen [ließ], ob der Kapitalwert sich innerhalb des zulässigen Höchstmaßes" befand 85 . Von diesen drei Schranken abgesehen, konnte der Richter „unter Würdigung aller Umstände nach freier Uberzeugung" über die Höhe der Buße bestimmen 8 6 . Dieser weite richterliche Ermessensspielraum war vom Gesetzgeber geradezu als das Herzstück der Bußenregelung gedacht, da hierdurch ein Korrektiv für die restriktiven Schadensersatz- und Beweisvorschriften geschaffen werden sollte, die vor allem in Sachsen und Preußen, im Gegensatz zum französischen Rechtskreis, die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen oft illusorisch erscheinen ließen 8 7 . Getreu diesen Vorgaben setzte sich das Reichsgericht in der Folgezeit energisch gegen jeden Versuch zur Wehr, den Kanon der von den Richtern der ersten Instanz bei ihrem „pflichtgemäßen Ermessen" zu Grunde zu legenden Kriterien zu beschränken. Die lapidare Feststellung, die vom Opfer geforderte Buße sei angemessen 88 , hielt daher einer Überprüfung durch die Revisionsinstanz ebenso stand wie die Berücksichtigung jeglicher tatsächlicher oder möglicher materieller und immaterieller Nachteile 8 9 . Aber auch die Einbeziehung von dem Geschädigten bereits gewährten oder zuerkannten Entschädigungszahlungen oder Versicherungsleistungen wurde akzeptiert 9 0 . Bürgerlichrechtliche Normen konnten von den Strafgerichten herangezogen werden, dienten jedoch immer nur als eine von vielen denkbaren Informationsquellen, denen keine irgendwie geartete Bindungswirkung zukam 9 1 . Bei der gleichzeitigen Aburteilung mehrerer an einer Tat Beteiligter umfasste der Ermessensspielraum des Richters, soweit dies vom Antrag des Verletzten gedeckt
RGSt 17, S. 178 (24.2. 1888). RGSt 17, S.190ff., 191 (9.3. 1888). 8 7 Vgl. hierzu RGSt 17, S.190ff., 192 (9.3. 1888); F.C. Oppenhoff, StGB (3. Auflage), §188, Anm. 10; Stenglein, Verlangen, S. 357; ähnlich auch die Motive zur Ausgestaltung des Beweisrechts der Z P O , wonach auf Grund des bisherigen Schadensersatzrechts oft „Ansprüche auf Schadensersatz aus der Reihe der realisierbaren Ansprüche zu streichen sind" (abgedruckt bei: C. Hahn, Materialien I I / l , S.276). 88 R G S t 4 3 , S . 7 5 f f . , 7 7 ( 2 2 . 1 1 . 1909). 89 RGSt 15,352ff., 355 (7.3. 1887), das feststellte, dass es „dem Ermessen des Richters anheimgegeben ist, die Bedeutung der Körperverletzung für den Verletzten, sowohl in vermögensrechtlicher Beziehung, als auch nach anderer Richtung in Geld abzuschätzen und eine Vergütung festzusetzen, durch welche der Verletzte nicht bloß für die etwaige Beschädigung seines Vermögens, sondern auch für seinen durch die Verletzung verursachten, wenn auch mit Vermögensnachteilen nicht verknüpften, körperlichen oder psychischen Schaden, nämlich für die Störung seines Wohlbefindens, für die erlittenen Schmerzen, für die Beeinträchtigung oder den Verlust seiner Fähigkeit zur Ausübung körperlicher oder geistiger Funktionen und für die ihm dadurch auferlegten Entbehrungen" entschädigt wird; bestätigt u.a. durch RGSt 24, 397ff., 398 (20.11. 1893); 31, 334ff., 335 (19.11. 1898). 9 0 RGSt 9, 223ff., 225f. (29.11. 1883). 91 RGSt 55, 294ff., 295 (20.12.1920); 60,12ff., 14 (3.12. 1925): „Gerade darum stellte er (der Gesetzgeber) die Entscheidung über das Bestehen und Höhe solchen Schadens dem freien Ermessen des Strafrichters anheim, das durch keine den Zivilrichter bindenden bürgerlich-rechtlichen Normen, über die Feststellung eines Entschädigungsanspruchs eingeschränkt ist"; ähnl. H. Rüdorff, StGB (2. Auflage), §188, Anm. 3. 85
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B. Die Grenze zwischen
Privat-
und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
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war 92 , auch die Frage, ob gegen alle oder nur einen Teil von ihnen eine Buße zu verhängen war. Wurden Mehrere wegen der selben Tat zu einer Buße verurteilt, konnten die Anteile der einzelnen Beteiligten an dieser unterschiedlich bemessen werden. Bei fehlenden Angaben hierzu war aber davon auszugehen, dass die Buße von allen Verurteilten zu gleichen Teilen erbracht werden sollte93. Dem Verletzten gegenüber hafteten die einzelnen Beteiligten gesamtschuldnerisch für den ganzen Bußbetrag. Dies war ausdrücklich nur für die Buße nach § 231 StGB geregelt (§ 231 III StGB), da man bei den Beratungen des § 188 StGB eine von mehreren Tätern gemeinschaftlich begangene üble Nachrede oder Verleumdung irrtümlich für ausgeschlossen gehalten hatte 94 . Wegen des einheitlichen Entschädigungscharakters beider Bußen war die Regelung des § 231 III StGB jedoch hinsichtlich etwaiger Anstifter oder Gehilfen bei der üblen Nachrede oder Verleumdung auch auf Bußen gemäß § 188 StGB anwendbar 95 . Aus ähnlichen Gründen war der Grundsatz der gesamtschuldnerischen Haftung mehrerer wegen der selben Tat zur Leistung einer Buße an den Verletzten Verurteilter auch dann heranzuziehen, wenn diese bei der Herbeiführung des Erfolgs nur fahrlässig und unbewusst zusammengewirkt hatten 96 . cc) Rechtsnatur und praktische Bedeutung Die Rechtsnatur der Geldbuße war in der Literatur zunächst höchst umstritten 97 . Zum Teil wurde in ihr eine reine Privatstrafe gesehen98, teils bloßer Schadensersatz 99 , meist und vor allem in der späteren Zeit aber fast durchweg eine Mischform aus beidem 100 , wobei die Ansichten über das Uberwiegen der einen oder anderen Elemente 92 Baur, Verlangen, S . 3 4 8 ; / . Olshausen, StGB I (5. Auflage), §188, A n m . 9 ; E.T. Rubo, StGB, §231, A n m . 4 ; H. Rüdorff, StGB (2. Auflage), §188, A n m . 6 ; a.A. Strafrechtspraxis, §231, A n m . 5 . 93 E. T. Rubo, StGB, §231, A n m . 4. 94 Vgl./. Olshausen, StGB I (5. Auflage), § 188, A n m . 9; E C. Oppenhoff, StGB (3. Auflage), § 188, A n m . 24; Stenglein, Verlangen, S. 342. 95 J. Olshausen, StGB I (5. Auflage), § 188, A n m . 9; H. Rüdorff, StGB (2. Auflage), § 188, A n m . 6. 96 R G S t 9, S.223ff., 227 (29.11. 1883); A. Schönke, StGB (1. Auflage), §231, A n m . III; ebenso auch schon Strafrechtspraxis, §231, A n m . 6 ; a.A. dagegen noch: J. Olshausen, StGB II (3. Auflage), §231, A n m . 1; F. C. Oppenhoff, StGB (3. Auflage), §231, A n m . 6 . 97 Einen umfassenden Uberblick über den Meinungsstand kurz nach Inkrafttreten des StGB bietet C.G. v. Wächter, Busse, S. 30ff.; f ü r die spätere Literatur bei: E. Kern, Buße, S. 411 ff.; B.-R. Kern, Busse, S. 150. 98 So etwa So etwa F.C. Oppenhoff, StGB (3. Auflage), § 188, A n m . 10. 99 In diesem Sinne v.a. A. Dochow, Busse, S. 24ff.; A. Graf zu Dohna, Stellung, S. 458; G. Mandry/ O. Geih, Inhalt, S.498; F. Oetker, B u ß p r o z e ß , S.329. 100 So etwa schon f r ü h der maßgeblich die spätere Reichsgerichtsrechtsprechung beeinflussende C.G. v. Wächter, Busse, S. 14ff., 43ff. [„gemischtes I n t i t u t . . . , Privatstrafe u n d zugleich Ersatz des d u r c h die Verletzung erlittenen Schadens"]; ähnlich später auch: E. Kern, Buße, S. 412f. 9 [„unklarer Mischbegriff"]; H. Holzhauer, Geldstrafe, Sp. 1473. F ü r den C h a r a k t e r einer Entschädigung mit p ö nalen Einschlägen auch: Preußisches Ober-Tribunal (1.4. 1875), Entscheidungen des Königlichen Ober-Tribunals 75 (1875), S.361ff., 366f. = G A 23 (1875), S.330ff., 331f.; noch stärker die pönalen Aspekte der Buße betonend [„Charakter einer Privatstrafe", Mischform aus Wergeid und emenda]: Preußisches Ober-Tribunal (24.1. 1872), G A 20 (1872), S. 107ff., 108f. Zwischen dem Teil der Buße differenzierend, der dem Ersatz matrieller Schäden dient [Schadensersatz], u n d dem Teil, der sich auf die immateriellen Schäden bezieht [Privatstrafe]: E. T. Rubo, StGB, § 188, A n m . 6-9.
V. Die Reichsgesetzgebung
vor dem
BGB
217
stark variierten. Auch dem Reichsgericht fiel die genaue Einordnung der Geldbuße lange Zeit nicht leicht. So wurde zwar schon früh die Entschädigungsfunktion der an die Stelle des zivilrechtlichen Schadensersatzes tretenden Buße betont. Zugleich meinte das Reichsgericht aber wegen verschiedener als pönal erkannter Merkmale noch 1882 zugestehen zu müssen, dass die „Buße virtuell in gewissem Umfange dem Charakter einer Privatstrafe nahe kommt" 1 0 1 . Diese Konstruktion der Buße als „virtueller Privatstrafe" wurde jedoch nicht weiter verfolgt. Vielmehr entschied das Reichsgericht bereits im Folgejahr, dass die „wesentlichste Bedeutung (der Buße) in den privatrechtlichen Beziehungen zu suchen" sei 102 . Wenige Jahre später wurden auch die letzten Zugeständnisse an die gemischte Rechtsnatur der Buße aufgegeben: Aus der Entstehungsgeschichte der §§188, 231 S t G B gehe „unzweifelhaft hervor, daß die Buße den Charakter einer Entschädigung" habe, da der Reichstag in dieser Hinsicht bewusst vom Privatstrafenmodell des StGB-Entwurfs abgewichen sei 103 . Diesen Ansatz ausbauend bildete sich alsbald eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung heraus, nach der es sich bei der Geldbuße um einen rein zivilrechtlichen Entschädigungsanspruch handelte, der lediglich die Besonderheit aufwies, im Strafgesetzbuch geregelt zu sein und ausschließlich im Strafverfahren geltend gemacht werden zu können 1 0 4 . Diese Definition wurde in späteren Entscheidungen 105 wie auch verschiedentlich in der neueren Literatur 106 nur noch ohne nähere Erläuterung formelhaft wiederholt. Dennoch wies die Geldbuße der §§ 188, 231 S t G B wie ihr preußisches Vorbild eine Reihe pönaler Aspekte auf. Dies ergab sich bereits daraus, dass sie wegen des weiten Ermessensspielraums des erkennenden Richters nicht nur der H ö h e nach den tatsächlichen Schaden des Verletzten übersteigen konnte, sondern nach einhelliger Auffassung ein Schaden für ihre Verhängung gar nicht zwingend erforderlich war. Auch die Festlegung einer Höchstgrenze für die Geldbuße, deren Zuerkennung selbst bei erwiesenermaßen höherem Schaden die Geltendmachung jedes weiteren Entschädigungsanspruchs ausschloss, deutet darauf hin, dass das zivilrechtliche Moment des Schadensausgleichs nicht deren einzigen Maßstab bildet. Dies ergab sich auch schon unmissverständlich aus den Motiven für die als Privatstrafe ausgestaltete Geldbuße des StGB-Entwurfs: Die Höchstgrenze wurde allein damit gerechtfertigt, dadurch „das Maß der Strafe dem Grade des Verschuldens anpassen zu 101 RGSt 6, S.398ff., 399 (20.6. 1882), bezogen auf die der Geldbuße des StGB entsprechenden Buße des Urhebergesetzes von 1870 (dazu unten, B.V.2 b). 102 R G S t 9 , S . 2 2 3 f f . , 225 (29.11. 1883). 103 RGSt 15, 352ff., 353 (7.3. 1887). 104 Vgl. nur etwa RGSt 15, S.439f., 440 (25.4. 1887); 24, S ,397ff., 398 (20.11. 1893); 30, S.367ff., 368 (6.12. 1897) 31, S.334ff., 335 (19.11. 1898). Ähnlich schon das Preußische Ober-Tribunal (1.4. 1875), Entscheidungen des Königlichen Ober-Tribunals 75 (1875), S. 361 ff., 366f. = G A 23 (1875), S. 330ff., 331 f.: „keine Strafe, sondern eine Entschädigung für den Verletzten... Auf der anderen Seite unterscheidet sich die Buße von der gewöhnlichen Zivilentschädigung ... insbesondere dadurch, daß ihre Zuerkennung nur im Falle der Verhängung einer Strafe, und im Strafverfahren ... erfolgt". 105 So für die Zeit nach Inkrafttreten des B G B : RGSt 41, S. 104ff., 105 (24.10.1907); mit ausführlicher Begründung ebenso: RGSt 44, S.294ff., 296 (17.1. 1911); RGSt 53, S.206ff., 208 (4.3. 1919). 106 Z.B. bei E. Kern, Buße, S.411.
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
k ö n n e n " 1 0 7 . M a n wollte also der Kritik an den preußischen Plänen Rechnung tragen, ohne eine Begrenzung der zulässigen B u ß h ö h e bestünde die Gefahr, deren H ö h e könne jedes Verhältnis zur Schwere der begangenen Straftat verlieren 1 0 8 . E s fehlt an jeglichen Anzeichen dafür, dass sich dieses Ziel nach der U m f o r m u n g der B u ß e in ein gemischtrechtliches Rechtsinstitut geändert hatte. Allerdings sind diese Einschränkungen nicht geeignet, die vorrangig auf die G e währung einer Entschädigung für materielle und immaterielle Nachteile gerichtete Zielsetzung der Geldbuße und damit ein Uberwiegen ihrer schadensersatzrechtlichen Rechtsnatur in Frage zu stellen. Befürworter einer Interpretation der Geldbuße als Privatstrafe sahen sich daher regelmäßig gezwungen, entweder die entscheidende Abweichung des Wortlauts der § § 1 8 8 , 231 S t G B v o m S t G B - E n t w u r f , den Ausschluss weiterer Entschädigungsansprüche bei Zuerkennung einer Geldbuße, zu verleugnen oder allein aus der Gewährung einer Entschädigung auch für Nichtvermögensschäden auf den insofern rein und damit insgesamt jedenfalls überwiegend pönalen Charakter dieser N o r m e n zu schließen 1 0 9 . D e m widersprach jedoch die eindeutige Rechtsprechung des Reichsgerichts: „Die B u ß e ... t r ä g t . . . nicht den Charakter einer neben der öffentlichen Strafe ... zu verhängenden Privatstrafe an sich, sondern nur den einer privatrechtlichen Entschädigung des Verletzten. Allerdings beschränkt sich diese Entschädigung nicht auf eine Vergütung der v o m Verletzten erlittenen rein vermögensrechtlichen Schäden, sondern umfasst mit jedweden durch die zugefügte Verletzung entstandenen körperlichen und psychischen Schaden ...; selbstverständlich wird aber hierdurch die hervorgehobene N a t u r der B u ß e nicht verändert" 1 1 0 . Gesteht man die grundsätzliche Möglichkeit einer (vorrangig) zivilrechtlichen Entschädigungszahlung für Nichtvermögensschäden zu, führte somit unbeschadet des ebenso wenig zu bestreitenden pönalen Beigeschmacks der B u ß e der §§ 1 8 8 , 2 3 1 S t G B kein Weg daran vorbei, diese im Ergebnis als solche zu betrachten. M i t dem deutschrechtlichen Wergeid und der emenda 1 1 1 war die Buße des S t G B dabei trotz gewisser Parallelen hinsichtlich der Zielsetzung und des gemischten C h a rakters der Rechtsnatur aller drei Rechtsinstitute weitaus weniger verwandt, als dies in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des S t G B zum Teil dargestellt wurde 1 1 2 . Schon allein die für die B u ß e des S t G B zentrale Bedeutung des freien richterlichen Ermessens belegt vielmehr, dass es sich hierbei eher um eine Weiterentwicklung der
107 Motive zu § 184 des Entwurfs eines Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund, Drucks. Nr. 5 des Reichstags des Norddeutschen Bundes vom 14.2.1870,1. Legislatur-Periode, Session 1870, S. 104. 108 Zu diesen Bedenken oben, B.III.6. a). 109 So insbesondere E.T. Rubo, StGB, §188, Anm.6-9 und §13 Anm. S.304. 110 RGSt 24, S. 397ff., 398 (20.11. 1893). 111 Zu diesen im Bereich des gemeinen Sachsenrechts oben, B.II.4., zu diesen Rechtsinstituten im mittelalterlichen deutschen Recht oben, B.I.l. c). 112 So etwa vom Preußischen Ober-Tribunal (24.1. 1872), GA 20 (1872), S. 107ff., 109: „Insofern sie (die Buße) von dem Ermessen des Richters ... abhängt, erscheint sie als emenda; insofern sie den Civilentschädigungsanspruch in sich aufnimmt und damit aufhebt, nimmt sie die Stellung des alten Wergeides ein; sie ist eine Verbindung beider Rechtsinstitute".
V. Die Reichsgesetzgebung vor dem BGB
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römischrechtlichen Injurienklage handelte 113 , die allerdings ihrer ursprünglich rein pönalen Rechtsnatur entkleidet und in eine pönal eingefärbte Entschädigungsklage umgewandelt worden war. Verlässliche Angaben über die Akzeptanz der Bußregelungen des Strafgesetzbuchs in den Jahren bis zum Inkrafttreten des BGB fehlen. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten 114 , die nicht zuletzt auf den in den meisten deutschen Staaten fehlenden Ausführungsvorschriften zum Bußverfahren beruht haben dürften 115 , schien von der hierdurch eröffneten Möglichkeit, im Rahmen des Strafverfahrens auch Entschädigungsansprüche für die durch Köperverletzungen oder Ehrkränkungen erlittenen Nachteile geltend machen zu können, aber doch in nicht unerheblichem U m fang Gebrauch gemacht worden zu sein. Dies belegt zum einen die rege Rechtsprechung des Reichsgerichts zu den §§188, 231 StGB in diesen Jahren. Zum anderen deutet nicht zuletzt die Aufnahme von ähnlich ausgestalteten Bußregelungen in immer weitere Spezialgesetze darauf hin, dass sich die Bußregelungen aus der Sicht des Gesetzgebers in der Praxis bewährt hatten 116 . Ein praktisches Bedürfnis für den durch diese Bestimmungen gewährten Rechtsschutz ergab sich bis zu den Reichsjustizgesetzen bereits aus den meist unzulänglichen zivilprozessualen Möglichkeiten zur Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen, die insbesondere auf den starren Beweisregeln der meisten Rechtsordnungen dieser Zeit beruhten 117 . Kaum wurden diese Probleme durch das Inkrafttreten der ZPO erheblich gemildert 118 , sorgte die Beseitigung der Injurienklage durch §11 EGStPO für eine Ausweitung der in einigen deutschen Staaten schon zuvor bestehenden nahezu vollständigen Rechtsschutzlücke bei Nichtvermögensschäden und anderen Persönlichkeitsrechtsverletzungen auf das gesamte Reichsgebiet. Der meist auch nach 1879 erhalten gebliebene gemeinrechtliche Schmerzensgeldanspruch konnte insofern nur äußerst begrenzt Abhilfe schaffen, da sein Anwendungsbereich nicht nur auf Körperschäden beschränkt war, sondern darüber hinaus vielfältigen landesrechtlichen Beschränkungen und Modifikationen unterlag, wie etwa im A L R 113 In diesem Sinne bereits F.C. v. Savigny in der 21. Sitzung des Vereinigten ständischen Ausschusses vom 17.2. 1848, bezogen auf die für das preußische StGB vorgesehene Buße (vgl. Abdruck des Protokolls bei: E. Bleich, Verhandlungen III, S.628). 114 So wurde bei der Beratung des GVG-Entwurfs die Begründung einer Zuständigkeit der Landgerichte für Ehrkränkungsdelikte wegen der Möglichkeit der Verhängung einer die reguläre Entscheidungsbefugnis der Amtsgerichte übersteigenden Geldbuße u.a. deshalb abgelehnt, weil „Fälle von Beleidigung, bei welchen auf Buße erkannt werde, außerordentlich selten seien", vgl. die Stellungnahme v. Schwarzes in der 100. Sitzung der Kommission am 13.11. 1875, Protokoll abgedruckt bei: C. Hahn, Materialien 1/1, S.462ff., 463. 115 Vgl. die hierauf bezogenen Bedenken des Abgeordneten Lasker in der 43. Sitzung des Reichstags am 12.5. 1870, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, I. Legislatur-Periode, Session 1870, 2. Bd. (1870), S. 838 („So lange das Ausführungsgesetz nicht erlassen ist, wird eine Verfolgung nicht möglich sein"). 116 Hierzu unten, B.V.2. b). 117 Vgl. hierzu nur die Motive zur Ausgestaltung des Beweisrechts der ZPO, wonach auf Grund des bisherigen Schadensersatzrechts oft „Ansprüche auf Schadensersatz aus der Reihe der realisierbaren Ansprüche zu streichen sind" (abgedruckt bei: C. Hahn, Materialien II/l, S.276). 118 So v.a. durch §260 ZPO a.F.
220
B. Die Grenze zwischen
Privat- und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
hinsichtlich des Kreises der berechtigten Geschädigten und der Kopplung des zulässigen Höchstbetrages an die durch die Verletzung entstandenen Heilbehandlungskosten 1 1 9 . Andere der Entschädigung bei Nichtvermögensschäden dienende Rechtsinstitute, wie z.B. die Sachsenbuße, waren auf Grund ihres engen Anwendungsbereichs und ihrer geringen, einheitlich festgelegten Höhe noch weniger geeignet, die durch den Wegfall der Injurienklage entstandene Rechtsschutzlücke zu schließen. Es verwundert daher nicht, wenn sich die Kritik an der Buße des StGB jedenfalls anfangs weniger gegen ihre Existenz oder das Ausmaß des dem Richter in diesem Zusammenhang eingeräumten Ermessens richtete, als vielmehr gegen ihre fehlende Erstreckung auf andere Delikte, insbesondere Freiheitsberaubungen und Sexualstraftaten, sowie die Begrenzung der Höhe der im Wege dieses Verfahrens festzusetzenden Entschädigung 1 2 0 . Hiervon abgesehen schien die Buße aber zunächst die vom Gesetzgeber in sie gesetzten Erwartungen, „eine sehr glücklich gewählte Ausdehnung der Folgen der Beleidigung und auch der Körperverletzung" herbeizuführen, erfüllt zu haben 121 . Dennoch zeichneten sich aber schon bei den Beratungen der Bußvorschriften des StGB und der StPO die Konflikte ab, die letztlich zum praktischen Scheitern und ein Jahrhundert später zur Aufhebung dieser Normen führen sollten: Statt auf die zweckmäßigste Ausgestaltung der Buße im Einzelnen konzentrierte sich die Diskussion fast ausschließlich auf die Frage, ob diese dem Zivil- oder dem Strafrecht, dem materiellen oder dem Prozessrecht zuzuordnen sei 122 . Diese dauerhaft schwelenden Kompetenzstreitigkeiten und die Kompromisse, die zu deren Beilegung eingegangen werden mussten, führten immer wieder auch im Hinblick auf zentrale Aspekte der Buße zu Unklarheiten und Widersprüchen, nicht zuletzt hinsichtlich ihrer Rechtsnatur, ihres Anwendungsbereichs und der gerichtlichen Zuständigkeiten. Eine Bewährung dieses Rechtsinstituts in der Praxis wurde dadurch erst erschwert und mit steigender Regelungsdichte schließlich verhindert 123 .
D a z u oben, B.III.2. a) bb). So etwaJ. Kohler, Ideale, S. 259; Stenglein, Verlangen, S. 357f.; ähnlich auch noch E. Kern, Buße, S.413. Für „die allgemeine prinzipielle Anerkennung des Instituts der Buße für alle Fälle von Schadenszufügungen an immateriellen Gütern" als „viel zeitgemäßer und einfacher" als die im späteren § 253 B G B vorgesehene Regelung auch: V. Mataja, Schadensersatzrecht, S. 276; F. v. Liszt, Deliktsobligationen, S. 66f. 121 Zitat aus der Begründung des Berichterstatters Meyer für die Einführung der Buße in 34. Sitzung des Reichstags am 4.4.1870, Protokoll abgedruckt bei: W. Schubert (Hg.), Verhandlungen Entwurf S t G B , S. 343; zur positiven Aufnahme der Buße durch die Rechtswissenschaft vgl. n u r ] . Kohler, Ideale, S.259. 122 Vgl. hierzu die Beratungen des S t G B , Protokoll der 34. Sitzung des Reichstags vom 4.4. 1870, abgedruckt bei: W. Schubert (Hg.), Verhandlungen Entwurf StGB, S. 343 f.; zu den Beratungen des StPO-Entwurfs das Protokoll der 78. Sitzung vom 22.9.1875, abgedruckt bei C. Hahn, Materialien III/I, S. 1104-1106. 123 Zu den Problemen, die sich aus diesen Kompetenzüberschneidungen ergaben, umfassend: F. v. Liszt, Grenzgebiete, S.32f. Zur Entwicklung der Buße des S t G B unter dem B G B unten, C.IV.6. b). 119 120
V. Die Reichsgesetzgebung
b) Geldbußen
als Mittel zum
vor dem
BGB
221
Immaterialgüterschutz
Körperverletzungen und Ehrkränkungsdelikte waren aber nicht die einzigen Arten von rechtswidrigen Eingriffen in die Rechtsgüter Dritter, bei denen das gemeinrechtliche Schadensersatz- und Beweisrecht regelmäßig versagte. Vielmehr trat im Verlauf des 19. Jahrhunderts neben diese beiden klassischen Problemfälle eng miteinander verwobener und der Höhe nach kaum exakt zu beziffernder Nichtvermögens- und Vermögensschäden der zunehmend an Bedeutung gewinnende Bereich des gewerblichen Immaterialgüterschutzes. Eine Vorreiterrolle kam in diesem Zusammenhang dem Urheberrecht zu 124 . Nach der Uberwindung des traditionellen Privilegiensystems zum Schutz der Verleger und Autoren vor unbefugten Nachdrucken ihrer Werke 125 , gehört es zu den von Hedemann als besonders wesentlich erkannten „Fortschritten des Zivilrechts im 19. Jahrhundert" 126 , für die hiermit verbundenen Rechtsfragen ein grundsätzlich neues, in seinen Grundzügen bis heute tragfähiges dogmatisches Fundament geschaffen zu haben 127 . Die Dringlichkeit eines umfassenden, auch zivilrechtlichen urheberrechtlichen Schutzes, die ihren Niederschlag bereits in Art. 18d der Bundesakte von 1815 gefunden hatte 128 , beruhte dabei ebenso auf den technischen Errungenschaften dieses Zeitraums wie auf seinen davon nicht unabhängigen gesellschaftlichen Wandlungen: Die Erfindung von Papiermaschine (1798), Schnellpresse (1813) und Setzmaschine (1884), die Verfeinerung der bestehenden Drucksysteme und -maschinen, die steten Verbesserungen bei der Papierfabrikation, den Reproduktionstechniken und den Farbverarbeitungsmethoden, die eine immer intensivere Verwendung von Bildern in Büchern und Zeitschriften ermöglichten, die Erleichterung des freien Handels durch die Gründung des Norddeutschen Bundes und des Reichs, die beschleunigten Verbreitungsmöglichkeiten für Druckerzeugnisse durch das sich verdichtende Post- und Eisenbahnnetz, aber auch das steigende Bedürfnis der verbürgerlichenden Gesellschaft nach literarischer Unterhaltung, Bildung und politischer Information bildeten die Grundlage für eine explosionsartige Expansion des deutschen Buch- und Zeitschriftenmarktes im zeitlichen Umfeld der Reichsgründung. Exem124 Ein Überblick über die Geschichte des Urheberrechts bei: H. Going, Privatrecht II, S. 151 ff.; U. Weber, Schutz, S. 12ff.; E. Windisch, Urheberrecht, Sp. 571 ff.; umfassender: D. Leuze, E n t w i c k lung, S.80ff.;/. Simon, Persönlichkeitsrecht, S.21 ff.; zur E n t w i c k l u n g im 19. Jahrhundert grundlegend: E. Wadle, Eigentum, S. 99ff. 125 Zu diesem vgl.: E. Wadle, Eigentum, S. 145ff.; U. Weber, Schutz, S. 13ff.; H. Schuck, Urheberund Urhebervertragsrecht, Rn.92ff.; D. Klippel, Idee, S. 123ff. 126 Vgl J.W. Hedemann, Fortschritte I, S.53ff. 127 Zur Bedeutung der N e u e r u n g e n im Urheberrecht im 19. Jahrhundert aus heutiger Sicht vgl. statt aller H. Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht, R n . 106; M. Vogel, Urheberpersönlichkeitsrecht, S. 192 ff. 128 „Die Bundesversammlung w i r d sich b e y ihrer ersten Zusammenkunft mit Abfassung gleichförmiger Verfügungen über die Preßfreyheit und die Sicherstellung der Rechte der Schriftsteller und Verleger gegen den N a c h d r u c k beschäftigen", zitiert nach: E.R. Huber, D o k u m e n t e I, Nr. 30, S.90; zu den darauf beruhenden Bundesbeschlüssen: E. Wadle, Eigentum, S. 223 ff.; zu den landesrechtlichen Vorläufern der (Reichs-)Gesetze ab 1870: ebenda, S. 167ff.; U. Weber, Schutz, S. 21 ff.
222
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
plarisch sei hierfür nur auf den Anstieg der jährlichen Buchneuerscheinungen von 755 Titeln 1740 auf über 11.000 Titel 1840 und 18.875 Titel 1890 sowie auf die in den Jahren 1800 bis 1900 von ca. 1 5 - 2 0 . 0 0 0 auf 1.000.000 t angewachsene Papierproduk1 79 tion verwiesen . Eine solche Revolution der Medienlandschaft, die insbesondere auch das immer häufigere Erscheinen von immer mehr und immer umfangreicheren Zeitungen und Zeitschriften in immer höheren Auflagen zur Folge hatte, konnte auf die Dauer weder von der Gesetzgebung, noch bei aller Fixierung auf Sach- und sonstige V e r m ö genswerte von der deutschen Privatrechtswissenschaft ignoriert werden. Anders als das durch diese Entwicklung gleichermaßen betroffene, aber Kernbereiche des Privatrechts berührende allgemeine Persönlichkeitsrecht, wurde das Urheberrecht daher auch in Deutschland noch vor der Jahrhundertwende allgemein als eines der wichtigsten besonderen Persönlichkeitsrechte anerkannt 1 3 0 , in mehr oder minder klarer Abgrenzung zu der bis Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Lehre vom geistigen Eigentum 1 3 1 . Parallel zu den sich wandelnden Bedürfnissen des allmählich entstehenden Industriestaates erweiterte sich dann in den Folgejahren k o n tinuierlich der Kreis derjenigen besonderen Persönlichkeitsrechte 1 3 2 , später in A n lehnung an die Terminologie J o s e f Kohlers 1 3 3 meist als Immaterialgüterrechte bezeichnet 1 3 4 , denen der Gesetzgeber in Spezialgesetzen Schutz bot 1 3 5 . Nachdem die Geldbuße der § § 1 8 8 , 231 S t G B auf die breite Zustimmung des Reichstags gestoßen war, lag es wegen der häufig ähnlich gearteten Schadensermittlungsprobleme bei Verletzungen dieser Immaterialgüter nahe, neben der Ermöglichung einer konkreten Schadensersatzberechnung eng an den Wortlaut der strafrechtlichen Geldbußennormen angelehnte Bestimmungen in die neuen Gesetze auf129 Diese und weitere Zahlen zur Entwicklung des Buch- und Zeitschriftenmarktes bei: J. Goldfriedrich, Geschichte IV, S. 486ff.; R. Wittmann, Geschichte, S. 285ff.;/. Simon, Persönlichkeitsrecht, S. 29f; zu den Konsequenzen der technischen Neuerungen des 19. Jahrhunderts für die Entwicklung des Urheberrechts allgemein: E. Wadle, Eigentum, S. 63ff. 130 Vgl. hierzu J. Simon, Persönlichkeitsrecht, S.32ff.; M. Vogel, Urheberpersönlichkeitsrecht, S. 193f., 196ff.; E. Wadle, Eigentum, S.7ff.; H. Going, Privatrecht II, S. 158f. 131 Grundlegend hierfür das zweibändige Werk von R. Klostermann, Das geistige Eigenthum an Schriften, Kunstwerken und Erfindungen (1867/69); vgl. daneben: ders., Das Urheberrecht an Schrift- und Kunstwerken (1876). Sich noch ausdrücklich auf die Lehre vom geistigen Eigentum beziehend: Art. 4 der RV von 1871 (E. R. Huber, Dokumente II, Nr. 261, S. 386: „Der Beaufsichtigung des Reichs und der Gesetzgebung desselben unterliegen ... 6)... Schutz des geistigen Eigenthums"); RGZ 12, S. 50ff., 53 (1.7. 1884). Zur Lehre vom geistigen Eigentum allgemein vgl.: D. Klippel, Idee, S. 121 ff.;/. Simon, Persönlichkeitsrecht, S. 30ff.; U. Weher, Schutz, S.20ff.; zur Kritik der Lehre gerade auch durch Vertreter der Historischen Rechtsschule sowie zur Wiederbelebung der Lehre in modifizierter Form in der Gegenwart: E. Wadle, Eigentum, S.3ff., 12f. 132 Für die Bezeichnung des Urheberrechts als Persönlichkeitsrecht noch: O. (v.) Gierke, Privatrecht I, S. 702 ff., 748 ff. 133 Zur Person Josef Kohlers (1849-1919) vgl. G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S.490; A Erler, Kohler, Sp.925ff.; K. Luig, Kohler, in: M. Stolleis, Juristen, S.351f. 134 Im Anschluss an die Terminologie J. Kohlers, vgl. z.B. ders., Urheberrecht, S. 1 ff. 135 Ein Uberblick über diese Entwicklung bei:]. Simon, Persönlichkeitsrecht, S.68ff.; E. Wadle, Eigentum, S. 75ff., 327ff.
V. Die Reichsgesetzgebung
vor dem BGB
223
zunehmen 136 , zumal eine enge Verbindung von Strafe und Entschädigung im Urheberrecht schon in den älteren Bücherprivilegien durchaus üblich gewesen war 137 . Entsprechende Entschädigungsregelungen wurden daher bereits wenige Wochen nach den Beratungen des Strafgesetzbuchs auch für das Gesetz über das Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dramatischen Werken von 1870 beschlossen 138 . In den Folgejahren fanden gleichartige Bestimmungen Aufnahme in das Markenschutzgesetz (1874)139, die Gesetze über das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste 140 , zum „Schutz der Photograhieen gegen unbefugte Nachbildung" 141 und über das Urheberrecht an Mustern und Modellen 142 (jeweils 1876), das Patentgesetz 143 (1877), das Gesetz zum „Schutz von Gebrauchsmustern"(1891) 144 , das Gesetz „zum Schutz der Waarenbezeichnungen" (1894)145, das Gesetz „zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes" (1896)146 sowie 1907 in das Gesetz über das „Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie" 147 . Bei der Neufassung des Patent- 148 , Gebrauchsmuster- 149 und Warenzeichengesetzes 150 1936 blieben die Bußvorschriften erhalten, allerdings unter Aufgabe der summenmäßigen Beschränkung der Bußhöhe. Das einheitliche Ziel dieser sondergesetzlichen Normen entsprach dem der beiden Bußvorschriften des Strafgesetzbuchs: Die Einbeziehung der Entschädigung in das Strafverfahren sollte die Zahl und Dauer der für die Verfolgung eines Rechtsverstoßes insgesamt erforderlichen Prozesse senken, sich widersprechende Urteile in der selben Sache vermeiden helfen, die Gerichte entlasten und dadurch dem Staat wie 136 Zur ausdrücklichen Ausdehnung des für das StGB entwickelten Modells der Geldbuße auf die Sondergesetze vgl. die Begründung des Antrags auf Aufnahme einer Geldbuße in das Urheberrechtsgesetz von 1870 durch Lasker, Protokoll der 43. Sitzung vom 12.5.1870, abgedruckt in: Stenographische Berichte Norddeutscher Bund, I. Legislaturperiode, Session 1870, Bd. 2, S. 834, 838. 137 Näheres bei U. Weber, Schutz, S. 15f. 138 § 18 IV, V des Gesetzes vom 11.6.1870, BGBl Nordt. Bund 1870, S. 339ff., 343. Zu diesem Gesetz: M. Vogel, Urheberpersönlichkeitsrecht, S. 194ff.;/. Simon, Persönlichkeitsrecht, S. 34ff. Zu den Immaterialgüterschutzgesetzen ab 1870 insgesamt: U. Weber, Schutz, S.34ff.; H. Schuck, Urheberund Urhebervertragsgesetz, Rn. 105 ff. 139 §15 des Gesetzes über Markenschutz vom 30.11. 1874, RGBl 1874, 143ff., 145. 140 § 16 des Gesetzes vom 9.1. 1876, RGBl 1876, S.4ff., 6f. (Ausdehnung von § 18 des Gesetzes vom 11.6. 1870 auf die in dem Gesetz vom 9.1.1876 geregelten Fälle). 141 §9 des Gesetzes vom 10.1. 1876, RGBl 1876, S.8ff., 10 (Ausdehnung von § 18 des Gesetzes vom 11.6. 1870 auf die in dem Gesetz vom 10.1. 1876 geregelten Fälle). 142 § 14 des Gesetzes vom 11.1. 1876, RGBl 1876, S. 11 ff., 13 (Ausdehnung von § 18 des Gesetzes vom 11.6. 1870 auf die im Gesetz vom 11.1. 1876 geregelten Fälle). 143 §36 des Gesetzes vom 25.5. 1877, RGBl 1877, S.501ff., 508; wortgleich übernommen in §37 des Patentgesetzes vom 7.4. 1891, RGBl 1891, S.79ff., 89f. 144 §11 des Gesetzes vom 1.6. 1891, RGBl 1891, S.290ff., 292f. 145 §18 des Gesetzes vom 12.5. 1894, RGBl 1894, S.441ff., 446. 146 §14 des Gesetzes vom 27.5. 1896, RGBl 1896, S. 145ff., 149; wortgleich übernommen in §26 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb vom 7.6. 1909, RGBl 1909, S.499ff., 506. 147 §35 des Gesetzes vom 9.1. 1907, RGBl 107, S.7ff., 13f. 148 §50 des Patentgesetzes vom 5.5. 1936, RGBl 1936 II, S. 117ff., 128. 149 §17 des Gebrauchsmustergesetzes vom 5.5. 1936, RGBl 1936 II, S.130ff., 133. 150 §29 des Warenzeichengesetzes vom 5.5. 1936, RGBl 1936 II, S. 134ff., 139.
224
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafreckt
in Deutschland
vor dem
BGB
dem Kläger Kosten ersparen 1 5 1 . Zugleich und vor allem aber sollte durch die Geldbußen auch für den Bereich des Immaterialgüterschutzes erreicht werden, dass die Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen trotz des restriktiven Schadensersatzrechts der Einzelstaaten nicht wie zuvor meist illusorisch blieb 1 5 2 , sondern diese auch im Hinblick auf die erlittenen Nichtvermögensschäden zügig verwirklicht werden konnten 1 5 3 . Der Gleichklang bei der Zielsetzung der verschiedenen Geldbußen bedingte auch eine Ubereinstimmung hinsichtlich ihrer Rechtsnatur. Wie die § § 1 8 8 , 2 3 1 S t G B sind die Geldbußen der Spezialgesetze zum Immaterialgüterschutz daher als Entschädigungsnormen mit pönalem Einschlag anzusehen 1 5 4 . Gerade die konstante Aufnahme derartiger Bußbestimmungen in zahlreiche Gesetze des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts belegt daher eindrucksvoll, wie weit das Schadensersatzrecht im unmittelbaren Umfeld des B G B von einem Ausschluss pönaler M o mente entfernt war und wie wenig ablehnend der Gesetzgeber dieser Zeit privatstrafenähnlichen Regelungen gegenüberstand.
3. Die Veröffentlichung des Strafurteils als Form der Privatgenugtuung Neben der Möglichkeit zur Verhängung einer Geldbuße sah das Strafgesetzbuch von 1872 noch eine zweite Variante der Privatgenugtuung vor. Dabei handelte es sich um den noch heute dort in leicht abgewandelter Form geregelten Anspruch des fälschlich Angeschuldigten oder öffentlich Beleidigten auf Veröffentlichung der Verurteilung des Täters (§§ 165, 200 StGB). Die Rechtsnatur dieses Rechtsinstituts war ebenso wechselhaft und umstritten wie die des gemeinrechtlichen Anspruchs auf Widerruf, Abbitte oder Ehrenerklärung 1 5 5 , dessen Ergänzung oder Ersetzung es traditionell diente 1 5 6 . Ursprünglich allein Mittel zur Wiedergutmachung der erlittenen
151 Vgl. die Beratung des Entwurfs des Urheberrechtsgesetzes von 1870, Protokoll der 43. Sitzung vom 12.5. 1870, abgedruckt in: Stenographische Berichte Norddeutscher Bund, I. Legislaturperiode, Session 1870, Bd. 2, S. 834ff., insbesondere die Beiträge von Lasker, Meyer und Bahr. 152 So die Begründung des Antrags auf Aufnahme einer Geldbuße in das Urheberrechtsgesetz von 1870 durch Lasker, Protokoll der 43. Sitzung vom 12.5. 1870, abgedruckt in: Stenographische Berichte Norddeutscher Bund, I. Legislaturperiode, Session 1870, Bd. 2, S.834. 153 Zur Erfassung auch der Nichtvermögensschäden des Autors usw. vgl. R G Z 12, 50ff., 51 (1.7. 1884): „Es kann keinen Zweifel erleiden, daß das Reichsgesetz vom 11. Juni 1870, sich anschließend an die bestehende Doktrin, nicht etwa bloß das Vermögensinteresse, sondern auch das geistige Interesse des Schriftstellers ... schützen will". 154 U. Weber, Schutz, S.39; so auch schon das Preußische Ober-Tribunal (1.4. 1875), Entscheidungen des Königlichen Ober-Tribunals 75 (1875), S. 361 ff., 366 = GA 23 (1875), S. 330ff., 33; ebenso RGSt 1, 328f., 329 (18.3. 1880); 6, 398ff., 399 (20.6. 1882); 17, 190ff., 191 f. (9.3. 1888); so im Ergebnis, trotz der Betonung der reinen Entschädigungsfunktion der Bußen, wegen der Abstufung der Bußhöhe nach dem Verschuldensgrad des Schädigers und der Berücksichtigung anderer täterorientierter Bemessungsfaktoren: ]. Kohler, Patentrecht, S. 646ff. 155 Hierzu oben, B.II.3 b). 156 Zur Verwandtschaft der Urteilsbekanntmachung mit Widerruf, Abbitte und Ehrenerklärung:
V. Die Reichsgesetzgebung
vor dem
BGB
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Rufschädigung 1 5 7 , gehörte die Veröffentlichung des diese ahndenden Strafurteils spätestens im 19. Jahrhundert zum festen Kanon der deutschen Strafgesetzbücher und damit auch des Reichsstrafgesetzbuchs. Der damit verbundene Wandel der Rechtsnatur der Urteilsbekanntmachung vom Schadensersatz zur Strafe wurde 1882 von den Vereinigten Strafsenaten des Reichsgerichts bestätigt 158 . Hintergrund dieser Entscheidung war, dass nach § 73 StGB bei der Erfüllung mehrerer Straftatbestände durch dieselbe Handlung das die schwerere Strafe androhende Gesetz die anderen verdrängte, das Veröffentlichungsrecht aber im StGB nur in Verbindung mit der Verurteilung wegen einer einfachen Beleidigung nach § 185 StGB, nicht hingegen auch bei einer Verurteilung wegen einer - strenger zu bestrafenden - Majestätsbeleidigung (§95 StGB) vorgesehen war. Damit stellte sich die Frage, ob die Urteilsbekanntmachung als eine an eine Verurteilung nach §185 StGB gekoppelte (Neben-)Strafe anzusehen war, woraus ihre Unzulässigkeit bei einer ausschließlich auf §95 StGB gestützten Verurteilung folgen würde 1 5 9 , oder ob es sich hierbei um eine vorrangig privatrechtliche Folge der Tat handelte, die ähnlich wie die Verhängung der Geldbuße nach §§ 188,231 StGB unbeschadet einer Verdrängung des dort vorausgesetzten Straftatbestands gemäß §73 StGB eintreten konnte. Das Reichsgericht entschied sich unter Berufung auf die ebenfalls pönale Rechtsnatur der entsprechenden preußischen Regelungen für eine pönale Rechtsnatur des §200 StGB, da die „öffentliche Bekanntmachung einer Verurteilung geeignet [sei], das durch die Hauptstrafe verhängte Leiden zu erhöhen, indem sie eine Beschämung des Schuldigen innerhalb des Kreises seiner Bekannten" herbeiführe, weshalb die „gemeine Ansicht... in der Bekanntmachung ein Strafübel" sehe 160 . Insbesondere stünde dieser Bewertung auch nicht entgegen, dass §200 StGB zugleich „die Natur einer dem Verletzten behufs Ersatz des ideellen Schadens zu gewährenden Genugthuung" zukomme, da „ein prinzipieller Gegensatz zwischen Strafe und Gen u g t u u n g " nicht bestehe. Schließlich ließe sich auch „nicht behaupten, daß die Gen u g t u u n g allein dem Verletzten geleistet werde, denn der Staat gewährt durch seine Organe die Genugthuung als Sühne für die verletzte Rechtsordnung" 1 6 1 . An der Behandlung der Urteilsbekanntmachung als Nebenstrafe hielt das Reichsgericht im Ergebnis bis zuletzt fest 162 . Dennoch wurde die Urteilsbekanntmachung wenige Jahre
RGSt (Vereinigte Strafsenate) 6, S. 180ff., 182 (17.4. 1882); A. Graf zu Dohna, Privatgenugtuung, S. 262. 157 Diesen Aspekt noch 1913 betonend: R. Berndt, Urteilsveröffentlichung, S. 183 ( m . w . N . zu den Reformplänen zu Beginn des 20. Jahrhunderts). 158 RGSt (Vereinigte Strafsenate) 6, S. 180ff., 181, 183 (17.4. 1882). Ähnlich bereits RGSt 4 , 2 1 8 f . , 219 (7.4. 1881). 159 A b w e i c h e n d hiervon könnten allerdings seit RGSt (Großer Senat f ü r Strafsachen) 73, 148ff., 151 (22.3. 1939) Nebenstrafen auch dann verhängt werden, w e n n diese lediglich in dem durch § 7 3 StGB verdrängten milderen Gesetz vorgesehen w u r d e n . 160 RGSt (Vereinigte Strafsenate) 6, S. 180ff., 181 (17.4. 1882). 161 RGSt (Vereinigte Strafsenate) 6, S. 180ff., 183 (17.4. 1882). 162 Vgl. nur RGSt 14, S.153ff., 158 (27.5. 1886); 16, S. 73ff., 75 (17.5. 1887); vgl. zur R G - R e c h t sprechung insgesamt auch LK/Herdegen (9. Auflage), § 2 0 0 , Rn. 1.
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
später offenbar stärker als Privatstrafe 1 6 3 angesehen: „Das Gesetz will diese Strafe nur, wenn der Verletzte, Beleidigte, fälschlich Beschuldigte, sie w i l l . . . Dadurch gewinnt die Strafe der öffentlichen Bekanntmachung die N a t u r einer Strafe lediglich zur Genugthuung des Verletzten ... Es ist danach und auch seiner inneren N a t u r nach ein höchst persönliches R e c h t " 1 6 4 . D e r Anspruch auf die Veröffentlichung des Urteils konnte daher zwar nicht auf die E r b e n des Opfers übergehen. Soweit der Verletzte aber vor seinem Tod bereits die Erteilung der Publikationsbefugnis beantragt hatte, sollte das Gericht verpflichtet sein, diese auch dann zu erteilen und die Urteilsveröffentlichung zu betreiben, wenn das O p f e r vor der Urteilsverkündung verstarb 1 6 5 . D i e strafrechtliche Literatur folgte zunächst meist ohne ersichtliches P r o b l e m b e wusstsein der reichsgerichtlichen Auffassung von der pönalen Rechtsnatur der U r teilsbekanntmachung nach §§ 165, 2 0 0 S t G B 1 6 6 . Auch der B G H schloss sich dieser Sichtweise an und behandelte diese daher als eine Nebenstrafe, die „zugleich auch dem Verletzten eine gebührende persönliche Genugtuung gewähren will" 1 6 7 , also als ein strafrechtliches Rechtsinstitut mit zivilrechtlichen Elementen. In der Literatur setzte sich hingegen spätestens ab der Jahrhundertwende wieder eine stärker zivilrechtliche Bewertung der Rechtsnatur der Urteilsbekanntmachung durch. Dabei wurde anfangs teils eher formal mit der Befugnis des Verletzten argumentiert, über die Vollstreckung der Bekanntmachungsklausel zu entscheiden 1 6 8 , teils deren Anerkennung als privatstrafenähnliche Sanktion abgelehnt, da die für diese Einordnung vom Reichsgericht gebotene Begründung nicht ausreiche, „eine solche Anomalie innerhalb unserer Rechtsordnung glaubhaft zu machen" 1 6 9 . In der neueren Zeit stieß die Theorie von der pönalen Rechtsnatur der Urteilspublikation dagegen vor allem aus rechtsstaatlicher Sicht auf Bedenken. So wurde geltend gemacht, es müsse sich dabei um eine „Nebenfolge ohne Strafcharakter", allein um ideellen Schadensersatz und eine Wiedergutmachung handeln, „die nur in der G e nugtuungsfunktion für den Verletzten ihre innere Rechtfertigung finden" könne, da der Z w e c k der Anprangerung des Täters mit den Grundsätzen eines modernen Strafrechts unvereinbar sei 170 . Andere fordern gerade wegen der Anprangerungs163 RGSt (Vereinigte Strafsenate) 6, S. 180ff., 181 (17.4. 1882) hatte die Frage, ob es sich bei der Urteilsbekanntmachung um eine öffentliche Strafe oder eine Privatstrafe handelte, ausdrücklich offen gelassen. 164 RGSt 16, S. 73ff., 75 (17.5. 1887). 165 RGSt 16, S.73ff., 76f. (17.5. 1887). 166 Vgl. statt aller: F. C. Oppenhoff\ StGB (3. Auflage), §200 Anm.2; H. Rüdorff/M. Stenglein, StGB (4. Auflage), §73, Anm. 15 und §200, Anm.10, jeweils m.w.N. 167 BGHSt 10, S. 306ff., 3 lOf. (10.7. 1957); BGHSt 5, S. 66ff., 69 (29.9.1953) traf zur Rechtsnatur der Veröffentlichungsbefugnis keine abweichende Aussage (a. A. aber wohl E. Schmidhäuser, Strafrecht, 20/24), sondern definierte lediglich den Schutzzweck des §165 StGB („dient ... allein dem Schutz des zu Unrecht Verdächtigten"). 168 So z.B./. Olshausen, StGB I (9. Auflage), §200, Anm.4 und §165, Anm. 1, jeweils m.w.N.; ähnlich K. Binding, Lehrbuch, S.535. 169 A. Graf zu Dohna, Privatgenugtuung, S.262. 170 So die Argumentation bei LK/7VoW/e (10. Auflage), Vor § 38, Rn. 38; ähnlich schon ULI Her-
V. Die Reichsgesetzgebung
vor dem
BGB
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funktion der Urteilsbekanntmachung aus verfassungsrechtlichen wie rechtspolitischen Gründen deren weitgehende Beschränkung auf einzelne sondergesetzliche 171 Anwendungsfälle 172 oder befürworten umgekehrt die verstärkte Nutzung des durch die Urteilsveröffentlichung hervorgerufenen Prangereffekts zu spezial- wie generalpräventiven Zwecken, insbesondere im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts 173 . Die Verleugnung der Straffunktion der §§ 165,200 S t G B kann dabei nicht überzeugen. § 6 1 2 J G G , der trotz seiner missverständlichen Überschrift „Nebenfolgen" auch Regelungen zur Anwendbarkeit von Nebenstrafen im Jugendstrafrecht treffen soll 174 , untersagt die Bekanntgabe der Verurteilung nach den § § 1 6 5 , 2 0 0 S t G B gerade wegen der damit verbundenen stigmatisierenden Folgen 1 7 5 . Würde es sich bei der U r teilsveröffentlichung um bloße Wiedergutmachung handeln, wäre diese Vorsorgemaßnahme nicht nur überflüssig, sondern würde geradezu den im Jugendstrafrecht vorrangig anzustrebenden Täter-Opfer-Ausgleich 1 7 6 behindern. Auch die Gewährung des Veröffentlichungsrechts bei Ehrkränkungsdelikten, bei gleichzeitigem Fehlen entsprechender Befugnisse bei weitaus schwereren Straftaten 177 , spricht keineswegs „eindeutig für eine Nebenfolge ohne Strafcharakter" 1 7 8 . Vielmehr belegt dieser Unterschied nur die injurienrechtlichen Wurzeln des Publikationsrechts. Die Rechtsfolgen von Injurien wiederum mussten schon immer in besonderem Maße Aspekte der Privatgenugtuung berücksichtigen. Nicht obwohl, sondern weil sich die öffentliche Strafe wegen des geringen Interesses der Allgemeinheit an der Strafverfolgung in der Regel im unteren Bereich des Gesamtstrafrahmens bewegte, während das Genugtuungsbedürfnis des Opfers wegen der Höchstpersönlichkeit des angegriffenen degen (9. Auflage), §200, Rn. 1 („ideelle Genugtuung", „sog. Rufreparation"); und in neuerer Zeit Schönke/Schröder/£e«c&tter, § 165, Rn. 1 („Bekanntgabe der Verurteilung dient ausschließlich der Genugtuung und Rehabilitierung des Verletzten ..., (hat) nicht - auch nicht u.a. - den Sinn einer Bloßstellung des Täters"); E. Schmidhäuser, Strafrecht, 20/24 („Wiedergutmachung", „eindeutig ... Nebenfolge ohne Strafcharakter"). 171 Vgl. für die ersten Jahrzehnte nach der Entstehung der §§165, 200 StGB z.B.: § 17 II des Markenschutzgesetzes vom 30.11. 1874, R G B l 1874, S. 143ff., 145; §35 des Patentgesetzes vom 25.5. 1877, R G B l 1877, S.501, 508; §36 III des Patentgesetzes vom 7.4. 1891, R G B l 1891, S.79ff., 89; § 13 des Gesetzes zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes vom 27.5. 1896, R G B l 1896, S. 145ff., 149; §399 der Reichsabgabenordnung i.d.F. vom 22.5. 1931, R G B l 1931, S.161ff., 212; §49 III des Patentgesetzes von 1936, R G B l 1936 II, S. 117ff., 128; §16 III des Gebrauchsmustergesetzes vom 5.5. 1936, R G B l 1936 II, S. 130ff., 133; §30 II des Warenzeichengesetzes vom 5.5. 1936, R G B l 1936 II, S. 134ff., 139; ähnliche Regelungen im geltenden Recht in: §§111 UrhG, 142 VI PatG, 14 VI GeschmacksmusterG, 25d VI WarenzeichenG, 25 VI GebrauchsmusterG. 172 So etwa W. Schomburg, Bekanntmachung, S. 67f.; für eine völlige Beschränkung auf den vom Zivilrecht gewährten Rechtsschutz: H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Lehrbuch, S. 788f. 173 H. Schüler-Springorum, Prügel, S. 148ff. 174 Vgl. nur U. Eisenberg, J G G , § 6, Rn. 4ff., R. Brunner/D. Dölling, J G G , § 6, Rn. 1 ff. 175 E Schaffstein/W. Beulke, Jugendstrafrecht, S.64. 176 Vgl. §10 1 Nr. 7 J G G . 177 Anders noch im preußischen StGB von 1851, dessen §30 unter dem Titel „Von den Strafen" neben der Bekanntmachung von Ehrkränkungsurteilen (§§ 134,163) auch die aller Strafurteile ab einer bestimmten Schwere (Todesstrafe, Zuchthaus, Einschließung von mehr als fünf Jahren) anordnete, letzteres unabhängig von einem Antrag des Verletzten. 178 So aber E. Schmidhäuser, Strafrecht, 20/24.
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
Rechtsguts durchaus dem bei ungleich schwereren Taten entsprechen konnte, ohne durch die dort üblichen härteren Strafen befriedigt zu werden. Die Notwendigkeit der Zustimmung des Opfers auf jeder Stufe der Verhängung und Vollstreckung der Urteilsveröffentlichung 179 lässt sich schon mit der mit jeder Urteilsbekanntmachung unvermeidlich verbundenen weiten Verbreitung der von diesem erlittenen Ehrkränkung erklären, die ohne die Billigung des Betroffenen den Eingriff in dessen Persönlichkeitsrechte wiederholen und vertiefen würde, statt ihn zu sanktionieren. Schließlich belegt auch die Antragsbefugnis der Staatsanwaltschaft im Rahmen des § 2 0 0 S t G B bei Ehrkränkungsdelikten i.S. d. § 103 II S t G B , dass es sich hierbei nicht allein um einen zivilrechtlichen Anspruch des Verletzten handeln kann. Dieser Eindruck wird durch die zahlreichen, an die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs angelehnten Veröffentlichungsbefugnisse des Nebenstrafrechts noch verstärkt, da dort zum Teil von vornherein keinerlei Wiedergutmachung auf diesem Wege in Betracht kommt. Deutlichstes Beispiel für eine derartige, allein auf General-und Spezialprävention zielende Regelung über die Bekanntmachung einer Verurteilung war § 399 der Reichsabgabenordnung i.d.F. von 1931, die die Anprangerung von Steuerhinterziehung ermöglichen sollte 180 . D a diese Vorschrift sich nahtlos in eine lange Reihe ähnlicher Veröffentlichungsklauseln einfügt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass zwischen diesen grundsätzliche Unterschiede hinsichtlich ihres rechtlichen Charakters bestehen. Somit bleibt es bei der von der Rechtsprechung seit langem anerkannten gemischten Rechtsnatur der Urteilsbekanntmachungsbefugnisse. Diese sind danach nicht eine allenfalls pönal eingefärbte Form des Schadensersatzes, sondern eine öffentliche (Neben-)Strafe, deren Zweck in besonderem Maße in ihrer Genugtuungswirkung für den Verletzten liegt, auch wenn ihre Verhängung in vielen Fällen zugleich dazu beitragen mag, den in einer Rufschädigung bestehenden Schaden des Opfers zu begrenzen. Als zivilrechtlicher Ansatz im Strafrecht und nicht pönales Element im Zivilrecht muss allerdings die Frage nach der Zweckmäßigkeit und Verfassungsgemäßheit der Urteilsbekanntmachung hier unerörtert bleiben 181 .
4. D a s A d h ä s i o n s v e r f a h r e n Die S t P O sah in ihrer 1879 in Kraft getretenen Fassung, im Gegensatz zu dem bis dahin in zahlreichen deutschen Einzelstaaten geltenden Recht 1 8 2 , kein allgemeines Ad179 Dies als Beleg für den fehlenden pönalen Charakter der Veröffentlichung wertend: E. Schmidhäuser, Strafrecht, 20/24. Zur praktischen Abwicklung der Urteilsbekanntmachung vgl. §462 c StPO, § 59 Strafvollstreckungsordnung. 180 §399 der Reichsabgabenordnung i.d.F. vom 22.5. 1931, R G B l 1931, S. 161 ff., 212: „Wenn wegen Steuerhinterziehung auf eine Geldstrafe von mehr als fünfhundert Reichsmark oder neben Geldstrafe auf Gefängnis erkannt wird, kann im Straferkenntnis (...) Angeordnet werden, daß die Bestrafung auf Kosten des Verurteilten bekanntzumachen ist." 181 Vgl. hierzu aber u.a. H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Lehrbuch, S.788f.; W. Schomburg, Bekanntmachung, S. 67f. 182 Zulässig war das Adhäsionsverfahren bis zum Inkrafttreten der StPO von 1877/79 in Baden,
V. Die Reichsgesetzgebung vor dem BGB
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häsionsverfahren vor. Das Opfer einer Straftat konnte daher allenfalls bei bestimmten Delikten im Wege der Privatklage (§§372ff. StPO) die Verhängung einer Kriminalstrafe gegen den Täter betreiben 183 . Die Möglichkeiten eines durch eine Straftat Geschädigten, seine hieraus folgenden Entschädigungsansprüche im Rahen des Strafprozesses durchsetzen zu können, erschöpften sich dagegen in dem Verfahren über die Zuerkennung einer Geldbuße nach den §§ 188, 231 StGB. Weitergehende Regelungen waren zwar bei den Kommissionsberatungen des StPO-Entwurfs durch v. Schwarze beantragt 184 , aber nach kurzer Erörterung verworfen worden 1 8 5 . Begründet wurde die ablehnende Haltung der Mehrheit der Kommissionsmitglieder dabei vor allem mit der durch die Reichsjustizgesetze reichsweit eingeführten Beteiligung von Laien in der Strafrechtspflege, die man mit der Beurteilung zivilrechtlicher Fragen für überfordert hielt, der problematischen Kollision der in den beiden Prozessordnungen festgelegten Grundprinzipien und Rechtsmittel sowie mit der geringen praktischen Bedeutung, die dem Adhäsionsverfahren in den deutschen Rechtskreisen, die dieses bis zum Inkrafttreten der StPO vorsahen, im Regelfall zukam 186 . Darüber hinaus war man der Meinung, mit der Einführung der freien richterlichen Beweiswürdigung im Zivilprozess 187 die Gründe beseitigt zu haben, die zuvor für ein Adhäsionsverfahren gesprochen hatten 188 . Obwohl wegen des nunmehr in Deutschland einheitlich mündlichen Strafverfahrens und der Beseitigung der Bindungswirkung des Strafurteils für den Zivilrichter die Gefahr sich widersprechender Urteile in der gleichen Sache gestiegen war, schien es daher den Kommissionsmitgliedern verzichtbar 189 .
Braunschweig, Hamburg, Lübeck, Sachsen, Sachsen-Altenburg, im französischen Rechtskreis, in den thüringischen Staaten sowie bei einigen Delikten in Hannover, den beiden Mecklenburg, Schaumburg-Lippe und Lippe-Detmold, vgl. hierzu die Nachweise bei: A. Schönke, Beiträge, S. 29f. 183 Zu den Zielen einer Privatklage vgl. statt aller: KK/Senge, StPO, Vorbemerkungen vor §374, Rn.l. 184 Vgl. den in der 78. Sitzung der Kommission am 22.9. 1875 behandelten Antrag v. Schwarzes auf Aufnahme eines generellen Adhäsionsverfahrens in die StPO, Protokoll der Sitzung abgedruckt bei: C. Hahn, Materialien III/I, S. 1107ff. 185 Vgl. das Protokoll der 78. Sitzung der Kommission am 22.9. 1875, abgedruckt bei: C. Hahn, Materialien III/I, S. 1111. 186 Vgl. hierzu die Ausführungen von Gaupp und v. Arnsberg in der 78. Sitzung der Kommission am 22.9. 1875, Protokoll abgedruckt bei: C. Hahn, Materialien III/I, S. 111 Of. 187 Vgl. §260 ZPO a.F. (heute §287 I ZPO): „Ist unter den Parteien streitig, ob ein Schaden entstanden sei, und wie hoch sich der Schaden oder ein zu ersetzendes Interesse belaufe, so entscheidet hierüber das Gericht unter Würdigung aller Umstände nach freier Ueberzeugung." 188 So v. Arnsberg in der 78. Sitzung der Kommission am 22.9.1875, Protokoll abgedruckt bei: C. Hahn, Materialien III/I, S . l l l O f . 189 Zu diesen Argumenten für ein Adhäsionsverfahren vgl. die Begründung des Antrags auf dessen Aufnahme in die StPO durch Grimm und Reichensperger in der 78. Sitzung der Kommission am 22.9. 1875, Protokoll abgedruckt bei: C. Hahn, Materialien III/I, S. 1109ff.
VI. Reformbestrebungen im Vorfeld des B G B
Zeitgleich mit dem Abdrängen der Injurienklage als dem letzten wesentlichen pönalen Aspekt des gemeinen Deliktsrechts ins Kriminalstrafrecht gewann im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine hierzu gegenläufige Auffassung an Anhängern, die teils offen, teils unbewusst die Wiederaufnahme pönaler Elemente in das Deliktsrecht anstrebte. Im Mittelpunkt stand dabei der mit der Grundsatzfrage nach der Zulässigkeit pönaler Entschädigungszahlungen bis heute untrennbar eng verbundene Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Darüber hinaus versuchten einige derjenigen, die sich im Zusammenhang hiermit für eine Erweiterung des richterlichen Ermessensspielraums und eine stärkere Berücksichtigung von Billigkeitserwägungen im Privatrecht aussprachen, diese Ansätze auch für die Bemessung des Schadensersatzes bei Vermögensschäden nutzbar zu machen. Auch wenn diese Bestrebungen, anders als etwa in Frankreich oder in der Schweiz, in Deutschland zu spät auf Anerkennung stießen, um sich noch im 19. Jahrhundert durchsetzen und dadurch Berücksichtigung im B G B finden zu können, erwiesen sie sich doch in vielerlei Hinsicht als weichenstellend für die Diskussion um die Rechtsnatur der Entschädigung bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen nach 1945.
1. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht D i e in Deutschland noch heute zumindest gesetzlich nicht geklärte Frage, in welchem U m f a n g dem Menschen ein absolutes Recht auf Achtung seiner Persönlichkeit, also seiner Menschenwürde und des Rechts auf freie Entfaltung seiner Individualität, z u k o m m t , ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen 1 . N e u war an den in dieser Zeit entwickelten Ideen allerdings weniger die Vorstellung von der Existenz eines solchen Rechts. Ansätze hierzu lassen sich vielmehr spätestens seit dem 16. Jahrhundert ausmachen. So vor allem in den Schrif1 Vgl. hierzu: K. Irmscher, Der privatrechtliche Schutz der Persönlichkeit in der Praxis des gemeinen und der partikularen Rechte des 19. Jahrhunderts (1953); D. Leuze, Die Entwicklung des Persönlichkeitsrechts im 19. Jahrhundert (1962); H. Holzhauer, Vorgeschichte, S. 51 ff.; E. Klingenberg, Recht, S. 183ff.; R. Scheyhing, Geschichte, S.503ff.; D. Klippel, Wurzeln, S. 132ff.; ders./G. Lies-Benachib, Schutz, S.343ff.; H. Coing, Privatrecht II, S.296ff.;/. W. Hedemann, Fortschritte I, S.53ff.; G.K. Schmelzeisen, Geschichte, S.216ff.; H.-J. Becker, Persönlichkeitsrecht, Sp. 1626ff.; H. Eichler, Personenrecht, S.27ff.; E Assamer, Zur Kritik der Lehre vom Persönlichkeitsrecht (1910); zu den frühesten Wurzeln eines Persönlichkeitsschutzes vgl. G.K. Schmelzeisen, Geschichte, S.216ff.; H. Hattenhauer, Grundbegriffe, S. 11 ff.; K. Bussmann, Bestimmungen, S. 8ff.
VI. Reformbestrebungen
im Vorfeld des BGB
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ten des französischen Humanisten Donellus 2 , der den Rechten an äußeren Sachen (in rebus externis) diejenigen des einzelnen an seiner Person (in persona cuiusque) gegenüber stellte, wozu er das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit und guten Ruf zählte3. Auch wenn diese Gedanken alsbald und bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein von dem naturrechtlichen Postulat angeborener, unveräußerlicher Menschenrechte (iura connata) überlagert wurden 4 , konnten die Verfechter eines 6, Persönlichkeitsrechts in den folgenden Jahrzehnten, allen voran NeunerGierke 7 s Kohler und Gareis , hieran doch nahtlos anknüpfen. Dabei gelang im Verlauf des 19. Jahrhunderts trotz aller verbleibender Unklarheiten bei der Begriffsbestimmung und des lange Zeit die Diskussion beherrschenden Problems der vermeintlichen Identität von Rechtssubjekt und Rechtsobjekt 9 zunehmend die Trennung der Lehre vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht von den damit eng verwobenen Fragen der Rechtsfähigkeit und der Definition des subjektiven Rechts 10 . Weiterhin Schwierigkeiten bereitete hingegen die Herausarbeitung der im Einzelnen durch ein allgemeines Persönlichkeitsrecht erfassten Rechte: Jeder Versuch einer abschließenden Aufzählung aller in Betracht kommenden Rechte erwies sich als zwangsläufig lückenhaft. Die Beschränkung auf wenige, vergleichsweise leicht konkretisierbare Rech-
2 Hugo Donellus (1527-1591), zu dessen Lebenslauf und juristischem Werk vgl. nur: G. Kleinhey er/J. Schröder, Juristen, S. 112 ff. 3 H. Donellus, Commentarium I 1 §3; vgl. dazu: E. Klingenberg, Recht, S.195; D. Leuze, Entwicklung, S. 12ff. 4 Hierzu ausführlich: D. Leuze, Entwicklung, S. 16ff.; M. Herrmann, Schutz, S.29ff. Ihren gesetzlichen Niederschlag fanden diese Vorstellungen zum einen in den Bürger- und Menschenrechtserklärungen von 1776 (Verfassung von Virginia) und 1789 (Frankreich), im deutschen Rechtskreis zunächst auf dem Gebiet des Privatrechts, v. a. in § 83 Einl. ALR („Die allgemeinen Rechte des Menschen gründen sich auf die natürliche Freyheit, sein eignes Wohl, ohne Kränkung der Rechte eines Andern, suchen und befördern zu können") und § 16 A B G B („Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten..."), aus diesem nunmehr ein allgemeines Persönlichkeitsrecht herleitend: O G H ÖJZ 1998, S.425f., 425 (17.12. 1997); zum Schutz des Persönlichkeitsrechts auf der Grundlage von § 16 A B G B vgl. nur: H. Koziol, Haftpflichtrecht II, S. 5 ff. (mit einem Uberblick über die österreichische Lit. hierzu in Fn. 1); H. Eichler, Personenrecht (1983). 5 Vgl. v.a. C. Neuner, Wesen und Arten der Privatrechtsverhältnisse (1866). 6 O. (v.) Gierke, Privatrecht I, S.265ff., 702ff.; ders., Entwurf, S. 196ff. Zu Leben und Werk von Otto (v.) Gierke (1841-1921) vgl. G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S. 146ff.; G. Dilcher, Gierke, in: M. Stolleis, Juristen, S,. 232ff. 7 Vgl. v.a. J. Kohler, Das Autorrecht, eine zivilistische Abhandlung (1889); ders., Die Ideale im Recht (1891); ders., Das Individualrecht als Namensrecht (1891); ders., Urheberrecht an Schriftwerken und Verlagsrecht (1907); H. Dernhurg/J. Kohler, Urheber-, Patent-, Zeichenrecht (1910). 8 Wichtig für die Entwicklung des Persönlichkeitsrechts v.a.:C. Gareis, Das juristische Wesen der Autorrechte, sowie des Firmen- und Markenschutzes (1877); ders., Das deutsche Patentgesetz (1877); zur Person von Carl Gareis (1844-1923) vgl. G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S.478. 9 Vgl. hierzu die Ubersicht über den Meinungsstand bei: D. Leuze, Entwicklung, S. 46ff.; R. Scheyhing, S.508ff ,;H. Coing, Privatrecht II, S.297ff.; E. Klingenberg, Recht, S.195 ff. 10 Grundlegend hierfür war C. Neuner, Wesen und Arten der Privatrechtsverhältnisse (1866), der erstmals die einzelnen Persönlichkeitsrechte zu einem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zusammenfasste (vgl. hierzu D. Leuze, Entwicklung, S. 60ff.); zur Lehre vom subjektiven Recht in dieser Zeit vgl. A. Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht (1878).
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
in Deutschland
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te 1 1 , wie etwa das Namensrecht 1 2 , führte aber schon wegen der damit verbundenen Willkürlichkeit des bestehenden oder fehlenden Rechtsgüterschutzes zu unbefriedigenden Ergebnissen. Umfangreiche, um Vollständigkeit bemühte Kataloge möglicher Persönlichkeitsrechte 1 3 bargen dagegen genau wie abstrakt-weite Definitionen 1 4 die Gefahr der Konturenlosigkeit und waren daher wenig praktikabel. Zudem ermöglichten sie kaum noch eine Differenzierung zwischen Persönlichkeitsrechten und sonstigen subjektiven Rechten 1 5 . Dennoch begann sich die Einsicht in die N o t wendigkeit eines generalklauselartigen Persönlichkeitsschutzes, wie ihn etwa das schweizerische Z G B von 1907 verwirklichte 1 6 , in der deutschen Privatrechtswissenschaft erst um die Wende zum 20. Jahrhundert allmählich durchzusetzen 1 7 . D e r eigentliche Fortschritt, der im 19. Jahrhundert im Hinblick auf das Persönlichkeitsrecht erzielt wurde, betraf jedoch nicht dessen Tatbestands-, sondern seine Rechtsfolgenseite, also die Frage, welche Konsequenzen eine Verletzung des wie auch immer ausgestalteten Persönlichkeitsrechts auslösen sollte. Dieser Aspekt war von der früheren, naturrechtlich geprägten Literatur meist vernachlässigt worden. A b der Mitte des 19. Jahrhunderts wandelte sich das Persönlichkeitsrecht jedoch auch in seiner Darstellung durch die deutsche Rechtswissenschaft zunehmend von einem in erster Linie moralisch-ethischen Postulat zu einem von der Rechtsordnung vor Übergriffen zu sichernden Rechtsgut 1 8 . Soweit lediglich negatorische Ansprüche des Verletzten auf Beseitigung oder Unterlassung der Störung seines Persönlichkeitsrechts befürwortet wurden 1 9 , sind pönale Elemente dieses Rechtsgüterschutzes Befürwortet z.B. von C. Gareis, vgl. ders., Wesen, S. 190, 201 ff. Zu diesem umfassend: D. Klippel, Der zivilrechtliche Schutz des Namens (1985); vgl. daneben aus der zeitgenössischen Lit.: ]. Kohler, Individualrecht, S. 77ff.; G. Cohn, Neue Rechtsgüter. Das Recht am eigenen Namen. Das Recht am eigenen Bild (1902). 13 Besonders umfassend war das Verzeichnis von Persönlichkeitsrechten (iura connata) von Ch. Wolff, vgl. ders., Jus Naturae, Pars I, Cap. II; ders., Institutiones, §§74ff. 14 Vgl. etwa noch O. (v.) Gierke, Privatrecht I, S. 702ff. („Persönlichkeitsrechte nennen wir Rechte, die ihrem Subjekte die Herrschaft über einen Bestandtheil der eigenen Persönlichkeitssphäre gewährleisten... Das Recht der Persönlichkeit ist ein subjektives Recht und muss von Jedermann anerkannt und geachtet werden. Es ist das einheitliche subjektive Grundrecht, das alle anderen besonderen subjektiven Rechte fundamentirt und in sie alle hineinreicht, das daher so gut die öffentlichen Rechte wie die Privatrechte und so gut die Rechte an Sachen wie die Rechte an Personen trägt und begleitet"); ähnlich auch F. Regelsherger, Pandekten, § 50, S. 197ff. („Das Recht der Persönlichkeit ist das erste und vornehmste aller Privatrechte, es umfasst die höchsten Güter der Menschen ... Das Recht der Persönlichkeit ist ein Rechtscentrum wie das Eigentum und die väterliche Gewalt... Es wäre müssig und verkehrt, für jede Aussenseite der Persönlichkeit, für jede einzelne Thätigkeitsrichtung ein besonderes Individualrecht aufzustellen", Zitat S. 198f.). 15 Zu dieser Kritik vgl. etwa P. Laband, Rezension, S. 622f. 16 Vgl. Art. 281 Z G B : „Wer in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt wird, kann zu seinem Schutz gegen jeden, der an der Verletzung mitwirkt, das Gericht anrufen"; zum Persönlichkeitsrechtsschutz in der Schweiz vgl. J.P. Müller, Grundrechte, S.27ff.; S. Ertas, Schutz, S. 178ff.; J. v. Gerlach, Gewinnherausgabe, S. 917ff. 17 Vgl. zu dieser Entwicklung nur: H. Coing, Privatrecht II, S.298f. 18 Diese Entwicklung als eine der wesentlichen Leistungen des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet des Privatrechts hervorhebend:J. W. Hedemann, Fortschritte I, S.53ff. 19 Zur Entwicklung des negatorischen Rechtsschutzes für Persönlichkeitsrechte im 19. Jahrhundert vgl. K. Irmscher, Schutz, S. 98ff.;J. W. Hedemann, Fortschritte I, S. 59ff. 11
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VI. Reformbestrebungen
im Vorfeld des BGB
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nicht ersichtlich. Anders hingegen, wenn dem Verletzten auch nach Beendigung der Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung Ansprüche gegen den Verletzer zugebilligt wurden. Aus romanistischer Sicht kam für eine Sanktionierung des Persönlichkeitsrechtsverletzers nur dessen Bestrafung in Betracht. Dies galt auch für die Historische Rechtsschule unter v. Savigny. Diesen und seine bis auf die das B G B prägenden Spätpandektisten ausstrahlende Autorität für die deutsche Privatrechtswissenschaft für den unzureichenden Persönlichkeitsrechtsschutz im ausgehenden 19. Jahrhundert und damit auch im B G B verantwortlich zu machen, wie dies in der heutigen Literatur regelmäßig geschieht 2 0 , ist jedoch zumindest missverständlich, überwiegend sogar schlicht falsch. Zwar verwarf v. Savigny im ersten Band seines „Systems" die unmittelbare Ableitung von Rechten an der eigenen Person aus einem angeborenen U r recht des Menschen als „unnütz, ja verwerflich, indem es unter andern in consequenter Entwicklung auf die Anerkennung eines Rechts zum Selbstmord führte" 2 1 . H i n gegen bestritt er keineswegs die Existenz eines solchen Urrechts als „Grundlage und Voraussetzung aller wahren R e c h t e " oder die Notwendigkeit der „Sicherung jener natürlichen Macht des Menschen über sich selbst gegen fremde Einmischungen". Vielmehr hielt er lediglich nicht das U r r e c h t als solches für schutzbedürftig, sondern nur dessen einzelne konkrete Ausformungen. Diese aber würden durch verschiedene „wirkliche ..., ganz positive Rechtsinstitute", insbesondere das öffentliche Strafrecht und den zivilrechtlichen Ehrschutz, hinreichend vor Verletzungen gesichert. Eine über die Anerkennung ihrer „Verwandtschaft im Allgemeinen" hinausgehende Zusammenstellung und ihre Rückführung auf einen v o m positiven Recht nicht erfassten Rechtsgrund sei daher eher schädlich als nützlich, da hierdurch die Rechtslage nur verdunkelt würde 2 2 . Letzte Zweifel darüber, was v. Savigny mit dem an dieser Stelle nur beiläufig erwähnten zivilrechtlichen Ehrschutz meinte, beseitigte er wenige Jahre später in seinem Obligationenrecht: Die pönale, auf Geld gerichtete I n j u rienklage des römischen Rechts, die im deutschen Rechtskreis „in beständigem G e brauch geblieben" sei, diene der Ahndung jeden „Eingriff[s] in die persönliche W ü r de und Selbstständigkeit", wobei „in neuerer Zeit der reine Begriff der Ehrverletzung als solcher mehr hervorgehoben und festgehalten" werde 2 3 . Zur Begründung der „eigenthümlichen Behandlung" der Ehrdelikte i.w.S., die die nahezu systemwidrige Beibehaltung der Injurienklage als Privatstrafenklage 2 4 erforderlich mache, verwies v. Savigny auf das „Bedürfnis der A b w e h r der Privatrache, welches bei anderen Delicten mehr und mehr zurückgetreten [sei], sich bei den Injurien [aber] nicht nur
2 0 Vgl. nur etwa//.-/. Becker, Persönlichkeitsrecht, Sp. 1627; D. Leuze, Entwicklung, S.48ff.; zumindest missverständlich auch H. Coing, Privatrecht II, S. 297; H. Hattenhauer, Grundbegriffe, S. 123. 21 F.C. v. Savigny, System I, §53, S.336. 22 F.C. v. Savigny, System I, §53, S.336f. 23 F.C. v. Savigny, Obligationenrecht II, §84, S.321, 323. 2 4 Vgl. zu den hieraus folgenden Systematisierungsproblemen F. C. v. Savigny, Obligationenrecht II, §84, S.329.
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erhalten [habe], sondern, in Vergleichung unseres heutigen Zustandes mit dem der Römer, noch vermehrt [zum Tragen käme], wegen der wichtigen Rücksicht auf die Duelle als häufige Folgen der Injurien" 25 . Ein Angriff auf eines der von der Rechtsordnung anerkannten Persönlichkeitsrechte, vornehmlich die Ehre, sollte nach der Uberzeugung v. Savignys also durchaus auch Ansprüche auf eine Privatstrafe zur Folge haben. Der Gedanke „Geld für Ehre", oder genauer: deren Verletzung, war v. Savigny demnach keineswegs fremd. Er lehnte diese Konsequenz der Injurienklage auch nicht nur nicht als verwerflich ab, sondern betonte ausdrücklich ihre Notwendigkeit zur Unterdrückung der Selbstjustiz in Gestalt des Duellwesens. Anders als mit der Befürwortung eines solchen umfassenden Persönlichkeitsrechtsschutzes wäre auch nicht erklärlich, warum v. Savigny sich in seiner Funktion als Gesetzgebungsminister in den Jahren 1842-48 in Preußen, wo die Injurienklage seit über 100 Jahren abgeschafft war, um deren - modifizierte - Wiedereinführung im Rahmen des späteren Strafgesetzbuchs von 1851 bemühte 26 . Nicht an v. Savigny lag es also, wenn die späteren Pandektisten den Schutz der Persönlichkeitsrechte allein dem öffentlichen Strafrecht zuwiesen 2 7 , wodurch sich die Frage nach der Rechtsnatur eines möglichen zivilrechtlichen Schutzes für sie nicht stellte. Ursächlich hierfür war vielmehr die Kumulation der aus mehr praktischen als dogmatischen Gründen betriebenen, bis zur endgültigen Beseitigung führenden Zurückdrängung der Injurienklage durch die deutsche Gesetzgebung, die dem Privatrecht das einzige vorhandene Mittel zum Schutz des Persönlichkeitsrechts entriss, ohne im Strafrecht adäquaten Ersatz hierfür zu schaffen, mit der fehlenden Bereitschaft der Spätpandektisten, ihre Privatrechtsdogmatik den neuen Gegebenheiten anzupassen und irgendeine nicht im römischen Recht verankerte Form der Geldentschädigung für Nichtvermögensschäden zuzulassen, wenn anders kein hinreichender Rechtsgüterschutz zu erzielen war. Ausgerechnet die Wahrung der persönlichsten Interessen allein den staatlichen Strafverfolgungsbehörden zu überlassen, die zwangsläufig ganz andere Kriterien zu Grunde zu legen hatten, als der Verletzte selbst, erschien allerdings keineswegs allen deutschen Juristen des ausgehenden 19. Jahrhunderts als befriedigend oder auch nur hinnehmbar 28 . Nach der Abschaffung der Injurienklage durch die Reichsjustizgesetze forderten zahlreiche namhafte deutsche Juristen daher auf unterschiedlicher dogmatischer Grundlage die Einführung einer Geldzahlungspflicht zu Gunsten des in seinem Persönlichkeitsrecht Verletzten 29 . So mahnte schon (v.) Gierke 1889 in seiner Kritik am Ersten BGB-Entwurf: „Je mehr die Privatstrafe aus dem geltenden Recht verschwindet, desto unentbehrlicher ist die Berücksichtigung des immateriellen Schadens bei der Ordnung der Schadensersatzpflicht" 30 . Die zwischenzeitlich im 25 26 27 28 29 30
F.C. v. Savigny, Obligationenrecht II, §84, S. 321 f. Dazu oben, B.III.6. a). So v.a. im Umfeld der Entstehung des BGB, dazu unten, C.IV.4. Ablehnend etwa in aller Deutlichkeit J. Kohler, Ideale, S.259. O. (v.) Gierke, Entwurf, S. 197. O. (v.) Gierke, Entwurf, S. 197.
VI. Reformbestrebungen
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im Vorfeld des BGB
Strafgesetzbuch und einigen Spezialgesetzen zum Immaterialgüterschutz eingeführten B u ß e n betrachtete man insofern zwar als Schritt in die richtige Richtung, wegen ihres eng begrenzten Anwendungsbereichs und ihrer niedrigen Obergrenze aber allein nicht als ausreichendes Mittel zum Schutz des Persönlichkeitsrechts 3 1 . Typisch für die Sichtweise der Vertreter der Reformbewegung zu Gunsten eines besseren Persönlichkeitsrechtsschutzes im ausgehenden 19. Jahrhundert war daher etwa das wehmütige Resümee der in Deutschland herrschenden Rechtslage durch Kohler von 1891: „Glücklich noch die Zeit, als man sich hier mit Geldstrafe half, als hier noch die actio injuriarum aestimatoria eine Rolle spielte - alles dies soll verbannt sein, und nur in der B u ß e des Strafrechts hat man einigen, aber unvollkommenen Ersatz zu schaffen versucht" 3 2 . Während sich die Befürworter eines privatrechtlichen
Persönlichkeitsrechts-
schutzes über das dazu erforderliche Mittel - die Zubilligung eines v o m Täter an den in seinem Persönlichkeitsrecht Verletzten zu zahlen Geldbetrages - einig waren, wichen die Vorstellungen von der Rechtsnatur einer solchen Zahlungspflicht erheblich voneinander ab. Meist fällt es allerdings in Anbetracht der unscharfen Formulierungen schwer, den Reformforderungen in dieser Hinsicht überhaupt klare Aussagen zu entnehmen. O f f e n b a r erschien der Rechtsgrund der Zahlung den meisten A u t o ren gegenüber der Zahlungspflicht als solcher ein zu vernachlässigender Aspekt des angestrebten Persönlichkeitsrechtsschutzes. Allerdings waren die Hindernisse, die einer dogmatisch sauberen Einordnung des Schmerzensgeldanpruchs bei Zugrundelegung der im späten 19. Jahrhundert dominierenden pandektistischen Privatrechtsdoktrin im Wege standen, auch kaum zu überwinden: Die Forderung nach der Wiedereinführung einer reinen Privatstrafe zur Ahndung von Persönlichkeitsrechtsverletzungen erschien, nachdem die Injurienklage erst kürzlich beseitigt worden war, unrealistisch. Zudem hätte eine so weitgehende Repönalisierung des Persönlichkeitsrechtsschutzes auch nicht die uneingeschränkte Zustimmung aller Befürworter eines solchen Anspruchs gefunden 3 3 . E i n e m reinen Schadensersatzanspruch stand hingegen nicht nur die (weitgehende) pandektistische Beschränkung des Ersatzrechts auf Vermögensschäden sowie das damit verbundene, unter natur- und kirchenrechtlichem Einfluss seit Jahrhunderten noch verstärkt zu einem A x i o m des Deliktsrechts stilisierte Verbot einer Bereicherung des Geschädigten durch die Schadensersatzleistung im Wege 3 4 , die bei einer Geldentschädigung trotz fehlendem (nachweisbaren) Vermögensschaden nie völlig vermieden werden kann. Vielmehr wurde auch von den Verfechtern eines Geldentschädigungsanspruchs nicht bestritten, dass „wirklicher Ersatz für die Schädigung eines idealen Gutes ... sich ja freilich durch eine Geldsumme nicht beschaffen" ließ 3 5 , „keine Geldsumme ein Aequivalent
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So etwa/. ]. Kohler, In diesem Vgl. dazu
Kohler, Ideale, S.259. Ideale, S.257. Sinne z.B. die Bedenken von O. (v.) Gierke (Entwurf, S. 197). nur: E. Bucher, Neues, S. 15ff.
O. (v.) Gierke, Entwurf, S. 197.
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B. Die Grenze zwischen
Privat-
und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
geben könne für die Zerstörung des inneren Glückes" 36 . Dieses Problem konnte bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen auch nicht, wie beim Schmerzensgeld, mit Rücksicht auf eine seit Jahrhunderten praktizierte gewohnheits- oder richterrechtliche Behandlung der Geldentschädigung als Schadensersatz überwunden werden: In den Teilen Deutschlands, in denen die Injurienklage bis zu den Reichsjustizgesetzen zulässig geblieben war, hatte für die Herausbildung eines solchen Gewohnheitsrechts kein Bedarf bestanden. Wo man die Injurienklage hingegen ausdrücklich beseitigt hatte, hatte dies die Entstehung einer entsprechenden Praxis erst recht verhindert. Ebenso wenig konnte man in der Regel bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen, wie bei der Verstümmelungsentschädigung oder dem Dotationsanspruch, auf eine zumindest mögliche Verknüpfung des Nichtvermögensschadens mit einer (künftigen) Vermögensbeeinträchtigung verweisen. Vielmehr beschränkten sich nicht selten sogar die Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Nichtvermögensschadens auf die Rechtsverletzung als solche oder fehlten völlig. Zumindest deshalb war auch der Versuch v. Jherings, die Injurienklage in entpönalisierter Form, bei gleichzeitiger Wiederausweitung auf ihren über die Sanktionierung von Beleidigungen hinausgehenden Anwendungsbereich im römischen Recht, als Schadensersatzklage am Leben zu erhalten 37 , zum Scheitern verurteilt. Damit blieben für die Rechtfertigung des Zahlungsanspruchs des Verletzten nur zwei denkbare Begründungsansätze. Entweder sah man in der Geldzahlung wenigstens eine Art unvollständigen Schadensersatzes i.w.S., „weil Geld zugleich den Schlüssel für eine Fülle idealer Genüsse bietet" 38 , wobei man gerade aus der Unmöglichkeit eines vollen Schadensausgleichs auf die Unverzichtbarkeit eines Teilausgleichs schloss: „was man nicht voll ersetzen kann, dafür muß man wenigstens einigen Ersatz geben, soweit ein solcher möglich ist; was zu hoch steht, dem muß man nahe zu kommen suchen, das darf man nicht geradezu auf der Seite liegen lassen" 39 . Oder aber man bewertete den vom Verletzer zu leistenden Betrag als eine Zahlung sui generis, als eine „Genugtuung" 4 0 oder ein „Besänftigungsgeld" 41 , bekannte sich also offen zu einer dritten Rechtsfolgenspur zwischen Schadensersatz und (Privat-) Strafe. Diesen letztgenannten Weg wählte das Schweizerische Obligationenrecht von 1881, indem es den Zweck der deliktischen Schadensersatzansprüche auf den Ausgleich von Vermögensschäden beschränkte, daneben aber den Richter bei bestimmten Persönlichkeitsrechtsverletzungen befugte, den Schädiger zur Zahlung einer „angemessenen Geldsumme" als Genugtuung zu verurteilen 42 . ]. Kohler, Ideale, S.257. Dazu oben, B.V.l. 38 O. (v.) Gierke, Entwurf, S.197. 39 ]. Kohler, Ideale, S.258. 40 Vgl. O. (v.) Gierke, Entwurf, S.197. 41 So K. Binding, Normen I, S. 437f., Fn. 9, der das Besänftigungsgeld bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen nach den gleichen Kriterien wie den Schadensersatz, also unabhängig von einem Verschulden des Schädigers und unter alleiniger Berücksichtigung opferorientierter Kriterien, bemessen wollte. 36
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im Vorfeld des
BGB
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In Deutschland entsprach diesen Gedanken am ehesten das von Karl Binding 4 3 propagierte „Besänftigungsgeld". Dieses sollte bei bestimmten „Schädigungen der Persönlichkeit an andern als ökonomischen Gütern ... zugesprochen werden". Dabei war es, ohne Privatstrafe zu sein, parallel zum Schadensersatzanspruch als Vergütung der nicht ersetzbaren ideellen Schäden gedacht, also opfer- und damit auch ausgleichsorientiert zu bemessen 4 4 . Im Gegensatz zum schweizerischen Modell knüpfte Binding die Entstehung der Pflicht zur Zahlung des Besänftigungsgeldes allerdings nicht an ein Verschulden des Verletzers, sondern ließ hierfür, in Ubereinstimmung mit der von ihm angestrebten extremen Lösung des Ersatzrechts von pönalen Aspekten, die bloße Verursachung der Persönlichkeitsrechtsverletzung genügen 45 . Im Gegensatz hierzu strebte (v.) Gierke einen an der französischen Rechtslage orientierten Persönlichkeitsrechtsschutz über eine Ausweitung des Schadensersatzbzw. Schmerzensgeldbegriffs an, bewegte sich also stärker als Binding im Rahmen der herkömmlichen Terminologie des Deliktsrechts: So wie die französische Rechtsprechung die deliktische Generalklausel der Art. 1382f. Code civil von Anfang an als Grundlage für die Pflicht zum Ersatz jedes beliebigen Schadens, sei er materieller oder immaterieller Art, ausgelegt hatte 4 6 , solle künftig auch in Deutschland generell eine Geldentschädigung für immaterielle Schäden und andere Persönlichkeitsrechtsverletzungen gewährt werden. N u r so werde ermöglicht, dass „wenigstens insoweit, als dies die Mittel der Privatrechtsordnung zulassen, dem Gekränkten eine Genugthuung ..., ein gewisses Äquivalent für zugefügtes Leid" zuteil würde 4 7 . Die Geldent42 Art. 54 ORi.d.F. v. 1881: „Bei Korperverletzung oder Tötung eines Menschen kann der Richter unter Würdigung der besonderen Umtände, namentlich in Fällen von Arglist oder grober Fahrlässigkeit, dem Verletzten oder den Angehörigen des Getöteten auch abgesehen von dem Ersatz erweislichen Schadens eine angemessene Geldsumme zusprechen." Art. 55: „Ist jemand durch andere unerlaubte Handlungen in seinen persönlichen Verhältnissen ernstlich verletzt worden, so kann der Richter auch ohne Nachweis eines Vermögensschadens auf eine angemessene Geldsumme erkennen." Nach der heutigen Fassung der entsprechenden Vorschriften (revidiertes Obligationenrecht von 1911 i.d.F. von Ziff. II 1 des Bundesgesetzes v. 16.12.1983, in Kraft getreten zum 1.7.1985) kann der Richter bei Körperverletzungen und Tötungen „unter Würdigung der besonderen Umstände ... eine angemessene Geldsumme als Genugtuung zusprechen" (Art. 47 OR), ebenso dem, der „in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt" wurde, „sofern die Schwere der Verletzung es rechtfertigt und diese nicht anders widergutgemacht worden ist" (Art. 49 OR); vgl. dazu umfassend: U. Winter, Wiedergutmachung, S.65ff.; noch immer grundlegend zur Abgrenzung der Genugtuung des schweizerischen Rechts von Schadensersatz einerseits und Strafe andererseits: A. v. Tuhr, A T des Obligationenrechts, S.125ff. 43 Karl Binding (1841-1920), zu Leben und Werk vgl. G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S. 59ff.; D. Westpbalen, Binding, in: M. Stolleis, Juristen, S. 86f. 44 Vgl. K. Binding, Normen I, S.437f., Fn.9 („Besänftigungsgelder ... sind nicht,Ersatz'; denn es fehlt an dem, was ersetzt werden könnte. Man kann erlittenen Schmerz vergüten aber nicht ersetzen ... er [der Anspruch] geht insoweit dem Schadensersatzanspruch parallel. Der Anspruch richtet sich also nicht auf eine Privatstrafe, sondern auf ihr Gegenteil"). 45 K. Binding, Normen I, S. 438, Fn. 9. Typisch für die Gegenposition zu K. Binding im Hinblick auf die Funktionsverteilung zwischen Zivil- und Strafrecht etwa A Merkel, vgl. ders., Abhandlungen, S.57ff. 4 6 Dazu oben, B.III.3. 4 7 O. (v.) Gierke, Entwurf, S. 197 (unter Hinweis auf die entsprechende französische Praxis S. 196).
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
Schädigung für Persönlichkeitsrechtsverletzungen sollte also, wie nach französischem Recht die Entschädigung für dommage moral 4 8 , gerade zur umfassenden Verwirklichung der Ausgleichsfunktion der Entschädigung beitragen, nicht jedoch mehr als unvermeidlich über einen Schadensausgleich hinaus gehen. Eine stärker p ö nale Entschädigung befürwortete dagegen Kohler: D e r Schutz der Persönlichkeitsrechte solle erreicht werden durch die Unterwerfung des „frivolen Thäter(s)", der vom O p f e r zu beanspruchende Geldbetrag müsse so bemessen werden, dass von dieser Zahlungspflicht die Warnung ausginge, „wehe demjenigen, welcher solche idealen Güter frivol zertrümmert" 4 9 . Diese Vermischung von Ausgleichs-, Präventions-, Genugtuungs- und Vergeltungsgedanken, die wechselnde Forderung nach Privatstrafe, Genugtuungszahlung und Schadensersatz, die gleichermaßen als Vorbild deklarierte Rechtslage in F r a n k reich (mit ihren allenfalls spärlichen pönalen Ansätzen) und England 5 0 (mit eindeutig pönalen Entschädigungszahlungen jedenfalls bei schwerem Verschulden des Schädigers), bestätigt letztlich nur den eingangs festgestellten Befund: Einigkeit herrschte nur über die Notwendigkeit eines Geldanspruchs des in seinen Persönlichkeitsrechten Verletzten. Dessen nähere Ausgestaltung und insbesondere
seine
Rechtsnatur erschien dagegen, insofern an die (zunächst fehlende) Diskussion über die Rechtsnatur des gemeinrechtlichen Schmerzensgeldes erinnernd, vernachlässigenswert, die einzelnen sich daraus ergebenden Probleme einer pragmatischen L ö sung zugänglich 5 1 . N e b e n diesen dogmatischen Fragen mussten sich die deutschen Befürworter einer generellen Geldentschädigung für Persönlichkeitsrechtsverletzungen
aber auch
noch mit zwei anderen Einwänden gegen eine solche Regelung auseinander setzen, denen im Ausland, wenn überhaupt, nur eine ganz untergeordnete Bedeutung beigemessen wurde 5 2 : dem traditionellen deutschen Misstrauen gegenüber einem weiten richterlichen Ermessensspielraum, wie er für die Bemessung einer Geldentschädigung bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen unverzichtbar ist, und der in Deutschland verbreiteten Ubersteigerung des Ehrgefühls, die die Entgegennahme einer Geldzahlung als Folge einer Persönlichkeitsrechtsverletzung, insbesondere wenn es sich bei dieser um einen Angriff auf die E h r e handelte, als moralisch-ethisch zweifelhaft erscheinen ließ.
Vgl. die Nachweise bei D. Biesalski, Grundzüge, S.27, 33. J. Kohler, Ideale, S. 259, dort auch ausführlich zur Rechtslage in Frankreich (S. 259ff.). 50 Zum Persönlichkeitsrechtsschutz in England als Vorbild für das in Deutschland angestrebte Modell vgl. v.a./. Kohler, Ideale, S., 263 f. 51 Vgl. hierzu nur die Ausführungen beiJ. Kohler, Ideale, S. 258f. 52 Zum größeren Vertrauen der Juristen der europäischen Nachbarstaaten in ihre jeweilige Richterschaft und deren angemessene Ausübung ihres Ermessensspielraums bei der Bemessung der Höhe immaterieller Schäden vgl. nur etwa: Th. Guhl/A. Koller/J.N. Druey, Obligationenrecht, §10, Rn. 12 (Schweiz); Th. Schwamb, Reduktionsklausel, S. 77 (Schweiz); Persönlichkeits- und Ehrenschutz, S. 39 (Frankreich), 1 OOff. (England); rechtsvergleichend hierzu aus der Sicht des ausgehenden 19. Jahrhunderts: G. Hartmann, Civilgesetzentwurf, S. 309ff. 48 49
VI. Reformbestrebungen
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Eine intensivere Auseinandersetzung mit diesen Bedenken findet sich sowohl bei (v.) Gierke als auch bei Kohler. A u c h hierbei zeigen sich allerdings deutlich die grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem eher bedächtigen Ansatz (v.) Gierkes, der so weit wie möglich in den Schranken des deutschen Rechtssystems argumentierte, und der rein pragmatischen Position Kohlers, den die Verweigerungshaltung der deutschen Pandektistik in Anbetracht seines Wissens um die seinen Zielen entsprechenden Regelungen in den anderen europäischen Staaten verschiedentlich zu verzweifelter Polemik trieb: So erkannte (v.) Gierke zwar die verbreiteten Sorgen wegen der „Gefahren, welche das souveräne richterliche Ermessen in der Konstatierung und Schätzung nicht wirtschaftlicher Schäden birgt" 5 3 , als ernst zu nehmendes Problem an. J e d o c h dürften diese Überlegungen „einer Anforderung der materiellen Gerechtigkeit gegenüber unmöglich den Ausschlag geben", zumal insofern durch eine „gesetzliche Richtschnur für die richterliche M a ß b e s t i m m u n g " und erweiterte Kontrollbefugnisse der Revisionsinstanzen hinreichende Abhilfe geschaffen werden könne 5 4 . K o h l e r hingegen vertraute auf die adäquate Ermessensausübung durch die deutsche Richterschaft und stand daher jeder Beschränkung ablehnend gegenüber. Die Bemessung der H ö h e des zuzusprechenden Entschädigungsbetrages habe vielmehr nach dem Grundsatz zu erfolgen: „[E]s ist immer nicht genug, was wir einem frivolen Verletzer der Lebensgüter an Vermögen entziehen, um es dem O p f e r zu geb e n " 5 5 . Die deutsche Rechtsordnung wie wohl auch die Gesellschaft insgesamt kranke an einer Uberbewertung der Vermögensgüter gegenüber ideellen Interessen 5 6 . Daher habe niemand Bedenken, dem Strafrichter die Befugnis einzuräumen, die jeweils angemessene Strafe aus einem weiten Strafrahmen auszuwählen, während dem Zivilrichter, der über eine Geldforderung zu entscheiden habe, diese Fähigkeit abgesprochen werde 5 7 . Gerade bei der Abmessung der adäquaten Entschädigung handle es sich aber um „eine eminent juristische Thätigkeit; allerdings keine Thätigkeit nach Maßgabe der Scholastik und Begriffsjurisprudenz, aber eine Thätigkeit nach derjenigen Jurisprudenz, welche als eine Kunst der richtigen Werthschätzung der M e n schengüter und Menscheninteressen das menschliche Leben mit seinen Licht- und Schattenseiten auf die Wage des Rechts legt" 5 8 . Mit ähnlich scharfen Worten verwarf K o h l e r auch den Einwand, eine Geldentschädigung von Persönlichkeitsrechtsverletzungen sei abzulehnen, da „das innere G l ü c k nicht für Geld feil sei": Diese Auffassung zeuge von den „schlimmsten Irrun-
53 Die Formulierung bezieht sich offenbar auf entsprechende Bedenken der Ersten Kommission, vgl. Mot. II S.22 = B. Mugdan, Materialien II, S. 12. 54 O. (v.) Gierke, Entwurf, S.197. 55 J. Kohler, Ideale, S.259. Als Beispiel für eine angemessene Entschädigung immaterieller Schäden nennt Kohler u.a. 10.000 Mark für ein ausgeschlagenes Auge (S.259) und berichtet von einem englischen Urteil, in dem jemand zur Zahlung einer Entschädigung von 500 Pfund verurteilt wurde, weil er einem anderen in beleidigender Absicht den Hut vom Kopf gestoßen hatte (S.263). 56 Vgl. die Beispiele bei J. Kohler, Ideale, S. 258. 57 J. Kohler, Ideale, S.263. 58 /. Kohler, Ideale, S.263.
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B. Die Grenze zwischen
Privat-
und Strafrecht
in Deutschland
vor dem
BGB
gen eines unrichtigen einseitigen Idealismus" 59 , da die angestrebte Entschädigung nicht darauf ziele, „Lebensgenuß, Ehre, Freiheit zu verkaufen, sie gegen pekuniäre Leistungen preiszugeben", sondern es deren alleiniger Zweck sei, für eine bereits eingetretene „frevlerische Verletzung" dieser Rechtsgüter wenigstens teilweise einen Ausgleich zu schaffen 60 . Das Geld sei dafür „nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck" (v. Jhering 61 ). Diese an die in Frankreich übliche Begründung für die Gewährung einer Geldentschädigung für ideelle Schäden angelehnte Argumentation 62 verkannte oder ignorierte jedoch den wahren Hinderungsgrund für einen solchen Anspruch im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts, obwohl dieser an anderer Stelle etwa bei Binding und v. Jhering durchaus mit einer gewissen unterschwelligen Zustimmung anklingt: die gerade in der Ober- und gehobenen Mittelschicht, also dem für das Führen derartiger Klagen vorrangig in Betracht kommenden Personenkreis, nach wie vor vorherrschende Uberzeugung, Ehrenhändel nicht vor Gericht, sondern nur im Wege des Duells angemessen austragen zu können 63 .
2. Die Abstufung der Haftung bei Vermögensschäden nach dem Verschuldensgrad Akzeptierte man bei der Entschädigung für Persönlichkeitsrechtsverletzungen die Einschränkung des gemeinrechtlichen, allein vom Ausgleichsgedanken beherrschten Alles-oder-Nichts-Prinzips zu Gunsten einer stärkeren Betonung der Genugtuungsfunktion sowie die Einräumung eines weiten richterlichen Ermessensspielraums bei der Ermittlung der Entschädigungshöhe, lag es nahe, diese Gedanken auch auf die Bemessung des Schadensersatzes bei Vermögensschäden zu übertragen. Folgerichtig traten gerade die Verfechter einer umfassenden Entschädigungspflicht bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen wie v. Jhering, (v.) Gierke und Kohler gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch insofern für eine Verknüpfung des Haftungsumfangs mit dem Verschuldensgrad des Schädigers ein 64 . Diese sollte allerdings nun nicht mehr wie die längst als unzureichend empfundenen 65 und durch die Rechtsprechung ohnehin weitgehend ausgehöhlten starren HafJ. Kohler, Ideale, S.255f. J. Kohler, Ideale, S.257f. 61 So allgemein zur Rechtfertigung von pönalen Aufschlägen bei Entschädigungen von vorsätzlichen Rechtsverletzungen jeder Art, insbesondere aber Persönlichkeitsrechtsverletzungen, vgl. R. v. Jhering, Kampf, S.85. 62 Zahlreiche Nachweise hierzu bei: Uebel, Zulässigkeit, S.505ff.; vgl. auch das Urteil des OLG Zweibrücken, zum Teil abgedruckt bei: Osthelder, Schadensersatzpflicht, S. 491 ff., dessen Argumentation von Kohler weitgehend übernommen wird (so ausdrücklich: ]. Kohler, Ideale, S. 261 f.). 63 Nachweise zur Bedeutung des Duellwesens für die deutsche Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts oben, B.IV.2. 64 Vgl. v.a. R. v. Jhering, Schuldmoment, S. 54ff.; O. (v.) Gierke, Entwurf, S.266f.;/. Kohler, Ideale, S.256f.; ähnlich z.B. auch A. Thon, Rechtsnorm, S.64f. 65 Vgl. etwa O. (v.) Gierke, Entwurf, S.266. 59
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VI. Reformbestrebungen
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tungsabstufungen des A L R oder A B G B ausgestaltet werden. Gemäß der von v. Jhering entwickelten Formel vom „Gleichgewicht zwischen Schuld und Schadensersatz" 6 6 strebte man vielmehr nach einem flexiblen System zur Ermittlung des jeweils zu beanspruchenden Entschädigungsbetrages auf der Grundlage eines weiten richterlichen Ermessensspielraums 6 7 , der bei der Bemessung der Schadensersatzhöhe die Möglichkeit zur umfassenden Berücksichtigung von Billigkeitserwägungen eröffnete: Es sei ebenso „mit einem gesunden Rechtsgefühl kaum vereinbar" und führe zu „unerträglichen Unbilligkeiten", „daß wegen einer aus Unachtsamkeit begangenen Sachbeschädigung ... eine ganze Familie an den Bettelstab gebracht werden soll" (Gierke) 6 8 , wie es geboten erscheine, „bei frivoler, absichtlicher Sachbeschädigung ... eine in das Innerste des Schadens eindringende Entschädigung" zuzusprechen (Kohler) 69 , die „insbesondere auch ... das Affektionsinteresse" zu umfassen habe (Gierke) 70 . Die Frage, ob der Richter „die Entschädigung karg und spärlich oder mit vollerer Hand oder reich und verschwenderisch" abzumessen habe, müsse sich daher nach der Größe der Schuld des Täters richten (Thon 7 1 ), das „Mass der Schuld bestimmt das der Haftbarkeit: der dolus verpflichtet schlechthin zum ganzen Schadensersatz, die culpa nur innerhalb gewisser Gränzen" (v. Jhering) 72 . Selbst bei den überzeugtesten Verfechtern einer solchen nach dem Verschuldensgrad abgestuften Haftung fand jedoch zumindest in Deutschland die dafür von v. Jhering gebotene Begründung wenig Anklang 7 3 , wonach die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Schadensersatzrecht auf einem der, wenngleich unausgesprochenen, „Grundgedanken, welche die römische Jurisprudenz beseelten" 74 , beruhen sollte. Vielmehr war man sich weitgehend einig, dass derartige Vorstellungen dem römischen Recht fremd waren. Dies schon deshalb, weil im römischen Recht die Möglichkeit bestand, bei Vorsatztaten durch die Kumulation des Schadensersatzanspruchs mit einer der zahlreichen Privatstrafen auch ohne eine Abstufung des Haftungsumfangs zu nach dem Verschuldensgrad differenzierenden Ergebnissen zu gelangen 75 . Bei dem Gedanken einer Proportionalität von Schuld und Haftung han66
R. v. Jhering, Schuldmoment, S.55. O. (v.) Gierke, Entwurf, S.267. 68 O. (v.) Gierke, Entwurf, S.266. 69 J. Kohler, Ideale, S.256. 70 O. (v.) Gierke, Entwurf, S.266; die Nichtberücksichtigung des Affektionsinteresses auch bei Schädigungen „aus reiner Bosheit" (Verbrennen der Familienfotos, Vergiften der Lieblingskatze) belege daher auch, als wie wenig deutsch - trotz aller Verbesserungen im Vergleich zum Ersten Entw u r f - auch der Zweite BGB-Entwurf zu bewerten sei: ders., Gesetzbuch, S. 29; ähnlich auchJ. Kohler, Ideale, S.256. 71 A. Thon, Rechtsnorm, S. 64. 72 R. v. Jhering, Schuldmoment, S.56. 73 Mehr Zustimmung fand diese Theorie dagegen in der Schweiz, vgl. dazu nur etwa W. Wilburg, Referat: Verhandlungen 43. DJT, S. C 3. 74 R. v. Jhering, Schuldmoment, S. 54ff., Zitat S. 55. 75 J. Kohler, Ideale, S.256; O. (v.) Gierke, Entwurf, S.266,197; vgl. zu diesen Kombinationen aus Schadensersatz und Privatstrafe im römischen Recht als Mittel der verschuldensabhängigen Haftungsabstufung auch: R. v. Jhering, Kampf, S. 82ff. 67
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B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht
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delte es sich daher nach der um die Jahrhundertwende herrschenden Meinung um ein im Naturrecht verwurzeltes, „klares Produkt des vergangenen [19.] Jahrhunderts" (Hedemann) 7 6 . Unabhängig von den historischen Grundlagen einer Verknüpfung des Entschädigungsumfangs mit dem Verschuldensgrad des Schädigers hätte diese - wie bereits die entsprechenden Regelungen des A L R und A B G B - jedenfalls zu einer nicht unerheblichen Pönalisierung des Deliktsrechts geführt. Dies wurde allerdings nicht von allen Verfechtern einer solchen Haftungsabstufung von vornherein anerkannt. Vor allem v. Jhering verband noch 1867 in seiner Untersuchung über das Schuldmoment im römischen Privatrecht seine Befürwortung der Haftungsabstufung mit einer nachdrücklichen Ablehnung jeglicher pönaler Elemente im Privatrechtssystem: „Das Strafprincip im Privatrecht ist der Gedanke einer niederen Culturstufe, welcher dem Fortschritt des Rechtsbewusstseins und der Rechtsentwicklung unabwendbar erliegt, um das Schadensersatzprincip an seine Stelle treten zu sehen" 7 7 . Erklärbar wird dieser scheinbare Widerspruch nur, wenn man die Rechtsnatur einer Schadensersatzregelung, wie für den die Begriffsjurisprudenz zu dieser Zeit noch auf die Spitze treibenden Romanisten v. Jhering naheliegend, im Sinne des römischen Rechts allein davon abhängig macht, ob die zu leistende Entschädigungszahlung den tatsächlich entstandenen Schaden übersteigen kann: Da das ursprüngliche Abstufungsmodell v. Jherings ausschließlich darauf zielte, bei geringem Verschulden Abstriche von der vollen Schadensausgleichspflicht zuzulassen, die hingegen nach bis dahin einhelliger Auffassung auch bei gröbstem Verschulden die Obergrenze für den Ersatzumfang bilden sollte 7 8 , wäre dieses danach frei von pönalen Elementen. Aus heutiger Sicht erscheint eine derartige Wertung jedoch jedenfalls mit dem Verständnis einer auf bloßen Schadensersatz und nicht auf billige Entschädigung 7 9 gerichteten Anspruchsgrundlage nicht vereinbar. Das Verschuldensprinzip als solches, also die Abhängigkeit der Haftung von einem Verschulden des Schädigers, kann noch als Frage der rechtsnaturneutralen Schadensverteilung angesehen werden: Nicht jeder Verursacher eines Schadens muss diesen ersetzen, sondern grundsätzlich nur derjenige, den ein gewisses Mindestmaß an Verschulden an dem Schadenseintritt trifft. Den von einem Dritten schuldlos verursachten Schaden hat dagegen, soweit kein Fall der Gefährdungshaftung vorliegt, der Geschädigte selbst zu ]. W. Hedemann, Fortschritte I, S. 100. R. v. Jhering, Schuldmoment, S. 66. Ganz in diesem Sinne erklären sich auch schon die Motive zum bayerischen B G B Entwurf von 1811, der eine stark an das österreichische Abstufungsmodell erinnernde Regelung vorsah (4. Teil, 15. Kapitel, § 1), aber gleichzeitig vertrat, der Civilcodex müsste rein gehalten werden von aller Einmischung desjenigen, was dem Strafgesetzbuche angehört (abgedruckt bei: W. Demel/W. Schubert, Entwurf B G B Bayern, S.645). 78 Vgl. R. v. Jhering, Schuldmoment, S. 56 („ der dolus verpflichtet schlechthin zum ganzen Schadensersatz, die culpa nur innerhalb gewisser Gränzen"); K. Binding, Normen I, S. 450 („daß der Geschädigte ... im besten Falle den Höchstbetrag zu fordern hat, darüber herrscht Einverständniss"). 7 9 Wie etwa bei § 847 B G B a.F.; vgl. zu dessen Rechtsnatur und der Bedeutung der „Billigkeit" der danach zu gewährenden Entschädigung für die Berücksichtigung des Verschuldensgrads bei der Bemessung des Schmerzensgeldes die Grundsatzentscheidung des Großen Zivilsenats B G H Z (GS) 18, S. 149ff., 153ff. (6.7. 1955). 76 77
VI. Reformbestrebungen im Vorfeld des BGB
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tragen, wenn keine Überleitung auf ein kollektives Trägersystem, insbesondere eine Versicherung, erfolgt 8 0 . D i e gegenteilige Auffassung Karl Bindings, nach der jede Abhängigkeit des Ersatzanspruchs von einem Verschulden des Schädigers eine unzulässige Vermischung zivil- und strafrechtlicher Gedanken darstelle 8 1 , stieß daher zu Recht auf die nahezu einhellige Ablehnung seiner Zeitgenossen 8 2 . Jede über das bloße Verschuldenserfordernis als solches hinausgehende weitere Differenzierung nach dem Verschuldensgrad aber wendet sich zu Gunsten pönaler Erwägungen v o m Ersatzprinzip ab. Zutreffend und in dieser Hinsicht im Einklang mit der herrschenden Meinung seiner Zeit konnte daher Binding gegenüber den Anhängern der T h e o rie von der Proportionalität von Schuld und Schadensersatzpflicht darauf verweisen, dass „vom Standpunkte des Ersatzrechts ... nur die Grösse des Schadens und der Schuld maasgebend für den U m f a n g des Ersatzanspruchs" sein darf 8 3 . D e m n a c h ließ sich eine Haftungsabstufung nach dem Verschuldensgrad im H i n blick auf Vermögensschäden nur rechtfertigen, wenn man sich trotz der hier wegen der meist unproblematischen exakten Berechnung des Schadensumfangs möglichen sauberen Trennung zwischen Schadensersatz und Strafe zu über den Schadensausgleich hinausgehenden Funktionen der privatrechtlichen Deliktsfolgen bekannte. Dieser Einsicht konnte sich auch v. Jhering nicht lange entziehen. I m Zuge seines Wandels v o m Vollender der Begriffsjurisprudenz zum Begründer der Zweckjurisprudenz 8 4 verwarf er daher nicht etwa den Gedanken einer Haftungsabstufung 8 5 , sondern distanzierte sich in seiner berühmten Streitschrift „Kampf um's R e c h t " 1872 in gewohnter Schärfe von seiner früheren Ablehnung pönaler Elemente im Schadensersatzrecht 8 6 : In einem entpönalisierten, allein auf Schadensausgleich ausgerichteten Ersatzrecht sah v. Jhering nunmehr die neben dem den Schädiger begünstigenden Beweisrecht 8 7 gravierendste „Verirrung ... unserer gemeinrechtlichen J u risprudenz", das Zeichen eines „platten, öden Materialismus" 8 8 , eine Verletzung des „gesunden, kräftigenden Rechtsgefühl[s]", das als kostbarstes G u t jeden Staates „die sicherste Garantie seines eigenen Bestehens nach Innen wie nach Aussen" bildete 8 9 .
80 Zur Unabhängigkeit und Unterscheidung von Schadensausgleichs- und Schadensverteilungsregelungen im Hinblick auf die Ende des 19. Jahrhunderts vertretenen Abstufungstheorien vgl. nur: K. Binding, Normen I, S. 468 ff. 81 Zur - kaum auf Gefolgschaft gestoßenen - Ansicht Bindings, jede dem Verschuldensprinzip unterstellte Haftung sei als pönal abzulehnen, vgl. K. Binding, Normen I, S. 433 ff. 82 Vgl. statt aller: B. Windscheid, Lehrbuch II (7. Auflage), §455, S.642;/.A Seuffert, Pandektenrecht, §400, S.368; R. v. Jhering, Schuldmoment, S.40ff. 83 K. Binding, Normen I, S.451; für die h.M. vgl. nur: B. Windscheid, Lehrbuch II (7. Auflage), §455, S.643. 84 Vgl. zu dieser Entwicklung statt aller: F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S.450ff.; H. Schlosser, Grundzüge, S. 166; I. Ebert, Ihering, S. 245. 85 Vgl. nur R. v. Jhering, Kampf, S. 93. 86 So ausdrücklich unter Hinweis auf seine frühere Auffassung: R. v. Jhering, Kampf, S. 80f., Fn. 87 Zu diesem R. v. Jhering, Kampf, S. 93 ff. 88 R. V. Jhering, Kampf, S.90f. 89 R. v. Jhering, Kampf S. 75.
244
B. Die Grenze zwischen Privat- und Strafrecht in Deutschland vor dem BGB
U m dem „berechtigten Verlangen [des Geschädigten] nach Genugtuung angemessen Rechnung tragen zu können, forderte er demgegenüber die Wiederaufnahme von Privatstrafen in das Schadensersatzrecht. Diese sollten bei vorsätzlichen Schädigungen sicherstellen, dass der Geschädigte nicht „nach langem Kampfe nichts weiter erhalte, als was [ihm] von Anfang an gebührte" 9 0 . D e m entsprach vom Grundansatz her die Forderung (v.) Gierkes, bei der Bemessung des Schadensersatzes dessen G e nugtuungs- und Bußfunktion durch eine Berücksichtigung der „ G r ö ß e des Verschuldens auch im Civilrecht" größere Bedeutung einzuräumen, auch wenn dieser im Gegensatz zu v. Jhering wohl weiterhin im vollen Schadensausgleich die O b e r grenze für den zu leistenden Schadensersatz sah 9 1 . D e r Plan einer verschuldensabhängigen Haftungsabstufung im Deliktsrecht fand letztlich jedoch keinen Niederschlag in der deutschen Gesetzgebung des 19. J a h r hunderts. Verschiedentlich in diese Richtung unternommene Versuche, die sich vor allem am österreichischen A B G B orientierten, blieben ohne Erfolg: D e r als Ersatz für den C M B C gedachte bayerische B G B - E n t w u r f von 1811 9 2 erübrigte sich nach mehreren Überarbeitungen mit dem Scheitern der gesamten bayerischen Kodifikationsbemühungen 9 3 . B e i m Sächsischen B G B von 1863/65, dessen erster, von Gustav H e l d 9 4 verfasster Entwurf von 18 5 29 5 ebenfalls noch eine ähnlich ausgestaltete H a f tungsabstufung vorgesehen hatte, verzichtete man in der endgültigen Fassung hierauf vollständig. Diese grundsätzliche Umgestaltung des Deliktsrechts beruhte zwar in erster Linie auf der vernichtenden Kritik v. Wächters, der vor allem die unscharfe Begrifflichkeit, Inkonsequenz und mangelnde Praktikabilität des dortigen abgestuften Haftungssystems beanstandet hatte 9 6 , daneben aber ausdrücklich auch auf dem pönalen Charakter solcher Bestimmungen 9 7 .
90
R. v. Jhering, Kampf, S.81ff.
O. (v.) Gierke, Entwurf, S.266. Vgl. Teil4, Kapitel 15, § 1 des Entwurfs: „... 5.) Unter der vollen Schadloshaltung ist begriffen, nicht nur der Einsatz deßen, was dem Beschädigten an seinem gegenwärtigen Vermögen durch die Beschädigung entzogen worden ist (positiver Schade, damnum emergens), sondern auch die Vergütung des erweislich entbehrten sicheren Gewinnes, so ferne dieser eine unmittelbare Folge der Beschädigung ist (negativer Schade, lucrum cessans). Doch ist 6.) zur Leistung des gesammten Interesses nur derjenige verpflichtet, welcher den Schaden aus Vorsatz oder grober Fahrläßigkeit gestiftet hat", abgedruckt bei: W. Demel/W. Schubert, Entwurf B G B Bayern, S.552. 93 Zum Scheitern der bayerischen Gesetzgebungsbemühungen vgl. B. Dölemeyer, in: H. Going, Handbuch III/2, S. 1472ff. 94 Gustav Friedrich Held (1804-1857), zur Person vgl. B. Dölemeyer, in: H. Coing, Handbuch III/2, S. 1559. 95 Vgl. v.a. § 815: „Betrifft der Ersatz nur den erlittenen Schaden, so heißt er einfache Vergütung, wofern er sich aber auf den entgangenen Gewinn und die Tilgung der verursachten persönlichen Verletzung erstreckt, volle Genugthuung." §818: „In dem Falle eines absichtlich verursachten Schadens ist der Beschädigte volle Genugthuung, in anderen Fällen aber nur die einfache Vergütung zu fordern berechtigt..." (Entwurf B G B Sachsen, S. 156). 96 Vgl. C. G. v. Wächter, Entwurf, S. 102ff.; vgl. auch die Zusammenstellung über die Kritik am Held'sehen Entwurf bei: Wulfert, Gesetzbuch, S.42ff. 97 Zum Einwand pönaler Elemente gegen das Deliktsrecht des Held'schen Entwurfs vgl. J.J. Lang, Entwurf, S. 57. 91
92
VI. Reformbestrebungen
im Vorfeld des BGB
245
Auf fruchtbareren Boden fiel der Gedanke einer Beschränkung der Haftung bei geringem Verschulden dagegen in der Schweiz 98 . Maßgeblich hierfür waren neben den Gedanken v. Jherings vor allem die haftungsrechtlichen Regelungen im „Privatrechtlichen Gesetzbuch für den Kanton Zürich" 9 9 von 1854-1856. Diese sahen in § 999 eine Berechnung des Schadensumfangs „nach freiem richterlichen Ermessen in Berücksichtigung der Umstände" vor. Hintergrund dieser Bestimmung war nach ihrer Kommentierung durch den Mitverfasser des Gesetzbuchs Bluntschli 100 die Erwägung, dass es „sehr bedenklich [sei], die Schätzung des Schadens durch abstrakte Regeln genau normiren zu wollen. Es kommt sehr viel auch auf die moralischen U m stände an. So insbesondere wird jeder Richter mit Recht die Berechnung weiter fassen, wenn eine böse als wenn eine gute Absicht, oder wenn nur leichte Fahrlässigkeit vorliegt. Je schwerer die Verschuldung, um so ausgedehnter die Ersatzpflicht" 101 . Die breite Zustimmung, auf die diese Überlegungen stießen, ebnete den Weg für Art. 51 Abs. 1 des schweizerischen Obligationenrechts von 1881, wonach „Art und Größe des Schadensersatzes" dem Ermessen des Richters oblag, „in Würdigung sowohl der Umstände, als der Größe der Verschuldung" 102 . Auch wenn die hierauf beruhende schweizerische Rechtsprechung der Folgezeit lediglich in seltenen Ausnahmefällen vom Grundsatz des vollen Schadensersatzes abwich 103 , war damit doch in ungleich größerem Maße als etwa nach dem BGB oder den Grundsätzen der aquilischen Haftung die Berücksichtigung von Billigkeitserwägungen bei der Bestimmung des Haftungsumfangs möglich. Vor allem aber zwang dessen ausdrückliche Verknüpfung mit dem Verschuldensgrad des Schädigers zu einer erheblichen Einschränkung des Ausgleichsprinzips, weshalb dem schweizerischen Haftungsrecht pönale Elemente nicht vollständig abgesprochen werden können.
98 Zum Haftungsrecht der Schweiz vgl. nur etwa Th. Guhl/A.Koller/J.N. Druey, Obligationenrecht, §10, S.(,2tf.; Schnyder, in: H. Honsell/N.P. Vogt/W. Wiegand, Kommentar, Art. 43, Rn.lff.; zum schweizerischen Haftungsrecht im unmittelbaren Vorfeld des BGB: A. Schneider/H. Fick, Obligationenrecht, S. 114ff. " Vgl. §§999-1004 des Zürcher Privatrechtsgesetzbuchs, wonach u.a. bei leichter Fahrlässigkeit „nur für das unmittelbare, nicht auch für das mittelbare Interesse" gehaftet wird (§1004), bei der Verantwortlichkeit des Schuldners auf „seine persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten" Rücksicht zu nehmen ist (§1003). 100 Johann Caspar Bluntschli (1808-1881), vgl. zur Person G. Kleinheyer/J. Schröder, Juristen, S. 67ff,;J.P. Arquint, Bluntschli, in: M. Stolleis, Juristen, S.89f. 101 J.C. Bluntschli, Obligationenrecht III, §999, S.68f. 102 Heute mit geringfügigen sprachlichen Modifikationen in Art. 43 OR geregelt; umfassend zu der Art. 51 OR getroffenen Regelung: Th. Guhl, Untersuchungen zu Art. 51 O.R. (1904). 103 Vgl. statt aller: Th. Guhl/A. Koller/]. N. Druey, Obligationenrecht, § 10, Rn. 71 ff. m. w.N.; Th. Schwamb, Reduktionsklausel, S. 93, 119ff., mit einer umfassenden Auswertung der Schweizer Rechtsprechung zu Art. 43, 44 OR in den Jahren 1938-1976.
C. Pönale Elemente der Privatrechtsordnung unter dem BGB
I. Die Ausgangsposition des Gesetzgebers
Erklärtes Ziel des BGB-Gesetzgebers war es, ein von pönalen Elementen freies Privatrecht zu schaffen. Der Hinweis auf den auch nur möglicherweise pönalen Charakter einer Regelung diente daher wiederholt zur knappen Begründung ihrer Verwerfung. Exemplarisch hierfür war die Ablehnung einer Abstufung des Haftungsumfangs nach dem Verschuldensgrad des Schädigers in Anlehnung an entsprechende Vorschriften des preußischen A L R oder österreichischen A B G B : „Die Hereinziehung moralisirender oder strafrechtlicher Gesichtspunkte, worauf jene Abstufung beruht, muss bei der Bestimmung der civilrechtlichen Folgen unerlaubten, widerrechtlichen Verhaltens durchaus fern gehalten werden" 1 . Neben der Verwirklichung des nur bei einem Mitverschulden des Geschädigten eingeschränkten Allesoder-Nichts-Prinzips im Deliktsrecht sollten daher der Vorrang der Naturalrestitution vor der Geldentschädigung 2 und der Verzicht auf die Ersetzbarkeit des Affektionsinteresses selbst bei vorsätzlichen Schädigungen 3 von Anfang an zentrale Eckpfeiler des Haftungsrechts des B G B bilden. Auch wenn dieses Grundkonzept eines entpönalisierten Privatrechts von den meisten Mitgliedern der B G B - K o m m i s s i o n e n getragen wurde, standen seiner konsequenten Verwirklichung doch verschiedene Hindernisse entgegen. Als besonders folgenreich erwiesen sich dabei die Zugeständnisse der jede Erweiterung des richterlichen Ermessensspielraums nach französischem Vorbild fürchtenden Mehrheit 4 an die im Verlauf der Entstehung des B G B erstarkende, gegenteilige Ziele verfolgende Reformbewegung 5 . Diese fanden vor allem in der Aufnahme einzelner BilligkeitsMot. II S. 17f. = B. Mugdan, Materialien II, S. 10. Vgl. Mot. II S. 20 = B. Mugdan, Materialien II, S. 11: „Das die Verpflichtung zur Naturalrestitution in erster Linie in sich schließende Prinzip der Wiederherstellungspflicht hat die Natur der Sache für sich und entspricht der Rechtslogik. Eine dasselbe verleugnende allgemeine Regel wäre ungerecht ...". 3 Vgl. Mot. II S. 22 = B. Mugdan, Materialien II, S. 12, unter ausdrücklicher Ablehnung der pönalen Zielsetzung der entsprechenden Normen des preußischen ALR. 4 Vgl. etwa Prot. I S. 623 = B. Mugdan, Materialien II, S. 517 („Der Vorgang der franz. Rechtsprechung, welche ... einen Geldersatz für jeden Schaden zubillige, sei nicht nachahmenswerth und habe dahin geführt, daß die Gerichte jeden Maßstab verloren hätten... die Entwickelung der franz. Rechtsprechung zeige, die Gefahr, dass auch maßlos gesteigerte Ansprüche berücksichtigt werden könnten"); Prot. II S. 570 = B. Mugdan, Materialien II, S. 1075 („Es ließe sich auch nicht absehen, zu welchen Konsequenzen die Einräumung einer autoritativen Stellung an den Richter führen und ob nicht die deutsche Rechtsprechung zu ähnlichen Auswüchsen gelangen werde, welche zahlreiche Urtheile der französischen Gerichte aufwiesen"). 1
2
I. Die Ausgangsposition
des
Gesetzgebers
249
klausein ins Haftungsrecht ihren Ausdruck, die wiederum jedenfalls verdeckt die Möglichkeit eröffneten, auch pönale Aspekte wie den Verschuldensgrad des Schädigers zu berücksichtigen 6 . Brennpunkt des Kompromisscharakters des Haftungsrechts des BGB in dieser Hinsicht aber wurde die bis heute in §253 BGB geregelte Frage der Ersetzbarkeit von Nichtvermögensschäden: Die Beschränkung der Geldentschädigung für Nichtvermögensschäden auf die im Gesetz ausdrücklich festgelegten Fälle (v.a. §§ 847 a.F., 1300 a.F. BGB, §§188 a.F., 231 a.F. StGB) bedeutete einerseits die grundsätzliche Anerkennung der Vergütbarkeit auch ideeller Schäden und der Unzulänglichkeit eines allein strafrechtlichen Schutzes immaterieller Rechtsgüter 7 . Die Auffassung von der fehlenden Vergleichbarkeit von Geld und Nichtvermögensgütern konnte sich bei der Abfassung des BGB also nicht durchsetzen 8 . Andererseits sollte mit §253 BGB zugleich ein Bollwerk gegen die auch von den BGB-Gesetzgebern nicht verleugnete „lebhafte Strömung" zu Gunsten einer generellen Entschädigungsklausel für derartige Schäden errichtet werden 9 . Dies jedoch weniger, um den damit verbundenen pönalen Beigeschmack zu vermeiden. Im Vordergrund stand vielmehr der Wunsch, derartige grundlegende Neuerungen, die bislang lediglich im französischen Rechtskreis Eingang in die deutsche Gerichtspraxis gefunden hatten, zu vermeiden 10 oder jedenfalls Spezialgesetzen vorzubehalten, statt sie unmittelbar in das BGB aufzunehmen 1 1 . Vor allem aber sollte dem Richter trotz der von der deutschen Rechtsprechung bisher bei der Behandlung derartiger Fälle geübten Zurückhaltung 1 2 nicht „jene dem deutschen Rechte fremde Souveränität seiner Stellung gegenüber dem Streitverhältnisse beigelegt" werden 1 3 , die etwa dem Richterbild des von der Mehrheit der Kommissionsmitglieder als eher abschreckend empfundenen französischen oder schweizerischen Rechts entsprach 14 . Darüber hinaus ließ sich durch ei5 Zu den Forderungen dieser von (v.) Gierke, Kohler und anderen namhaften Juristen dieser Zeit unterstützten Strömung oben, B.VI. 6 Vgl. die angedeuteten Bedenken in Mot. II S.22 = B. Mugdan, Materialien II, S. 12. Nach Inkrafttreten des BGB stellte sich dieses Problem v.a. bei der Festlegung der bei der Bemessung des Schmerzensgeldes nach §847 BGB zu berücksichtigenden Kriterien (hierzu unten, C.IV.4). 7 „Anlangend aber den Fall deliktischer Zufügung eines anderen als eines Vermögensschadens, so müssen freilich an sich auch die sog. idealen Rechte gegen widerrechtliche Verletzung gesichert, und es kann dieser Schutz nicht ausschließlich in das Strafrecht verlegt werden; vielmehr ist dem Verletzten geeignetenfalls nach den Postulaten der Gerechtigkeit auch eine Schadloshaltung zu gewähren": Mot. II S.22 = B. Mugdan, Materialien II, S. 12. 8 Vgl. Mot. II S.21 = B. Mugdan, Materialien II, S. 12. 9 Prot. I S.298 = B. Mugdan, Materialien II, S.515. 10 Mot. II S.22 = B. Mugdan, Materialien II, S. 12. 11 Vgl. dazu J. W. Hedemann, Fortschritte I, S. 56. 12 Vgl. Prot. I S.623 = B. Mugdan, Materialien II, S.517. Ähnlich schon die Motive zu §250 des ZPO-Entwurfs: „Der Gesetzgeber darf von der Erwartung ausgehen, dass der deutsche Richter mit Takt und Sachkenntniß von den ihm beigelegten weitreichenden Befugnissen den rechten Gebrauch machen wird; insbesondere fehlt es an der Besorgniß, daß ... sie [die Richter]... bei der Feststellung des Schadens in einer willkürlichen, das deutsche Rechtsbewußtsein verletzenden Weise verfahren werden" (C. Hahn/B. Mugdan, Materialien II/l, S.277). 13 Mot. II S.22 = B. Mugdan, Materialien II, S. 12. 14 Mot. II S.751 = B. Mugdan, Materialien II, S.419; Prot. I S.623 = B. Mugdan, ebenda, S.517
250
C. Pönale
Elemente
der Privatrechtsordnung
unter dem
BGB
nen numerus clausus entschädigungsfähiger Nichtvermögensschäden auch das Sonderproblem der Geldentschädigung bei Ehrdelikten umgehen, die nicht nur im Ergebnis einer Wiederbelebung der gerade erst beseitigten Injurienklage nahe gekommen wäre 15 , sondern bei der die Gleichsetzung des verletzten Rechtsguts mit einem Geldbetrag zumindest bestimmten Bevölkerungskreisen neben beweisrechtlichmathematischen auch wirkliche oder vorgetäuschte moralische Schwierigkeiten bereitet hätte: „Es widerstrebe der herrschenden Volksauffassung, die immateriellen Lebensgüter auf gleiche Linie mit den Vermögensgütern zu stellen und einen idealen Schaden mit Geld aufzuwiegen. Das B G B dürfe diesen zumal in den besseren Volkskreisen vertretenen Anschauungen sich nicht entgegenstellen und das gegentheilige Prinzip einführen. Aus diesem würden nur die schlechteren Elemente Vortheil ziehen, Gewinnsucht, Eigennutz und Begehrlichkeit würden gesteigert und aus unlauteren Motiven zahlreiche chikanöse Prozesse angestrengt werden" 1 6 . Schließlich hielt man einen über die von den §§847 a.E, 1300 a.F. B G B erfassten Fallgruppen hinausgehenden Schutz ideeller Rechtsgüter im B G B durch die Gewährung einer Geldentschädigung neben der ohnehin zulässigen Naturalrestitution 17 für umso entbehrlicher, als verschiedene Einzelgesetze sowie die Geldbußen des Strafgesetzbuchs bei Körperverletzungen und bestimmten Ehrdelikten 18 insofern bereits den drängendsten Bedürfnissen abhalfen 19 . Insgesamt erscheint damit schon im Hinblick auf den anfänglichen Wortlaut des B G B und auch über den Bereich des Haftungsrechts hinaus zweifelhaft, ob dieses je völlig frei von pönalen Elementen war. Bezeichnenderweise sprach man sich auch schon bei den Vorarbeiten zum Ersten Entwurf des B G B vereinzelt durchaus für eine Regelung aus, bei der es sich zugestandenermaßen um eine „tbunlichst zu vermeidende Privatstrafe" handelte 20 . Bei der Beratung des Zweiten Entwurfs war dann sogar nur noch die Rede davon, man habe es bei diesem „bisher immer möglichst vermieden, eine Privatstrafe eintreten zu lassen" 21 . Verstärkt werden die Zweifel an der („nicht n a c h a h m e n s w e r t h u n d h a b e dahin geführt, daß die G e r i c h t e j e d e n M a ß s t a b verloren hätten, inwieweit ein s o g . m o r a l i s c h e r S c h a d e n d u r c h G e l d ausgeglichen w e r d e n k ö n n e " ) ; ähnlich: Prot. II S. 570 = B. Mugdan, e b e n d a , S. 1075. 15 Z u dieser S o r g e vgl. M o t . II S. 752 = B. Mugdan, Materialien II, S. 419; P r o t . II S. 640 = B. Mugdan, ebenda, S. 1119. 16 P r o t . I S. 622 = B. Mugdan, Materialien II, S . 5 1 7 . 1 7 S o a u s d r ü c k l i c h klarstellend: M o t . II S . 2 3 = B. Mugdan, Materialien II, S. 12. 18 § § 1 8 8 , 2 3 1 S t G B a.F. Z u r R e c h t s n a t u r u n d A u s g e s t a l t u n g d e s d o r t geregelten E n t s c h ä d i g u n g s a n s p r u c h s o b e n , B.V.2. 1 9 Z u d i e s e m A r g u m e n t des hinreichenden R e c h t s g ü t e r s c h u t z e s außerhalb des B G B : M o t . II S. 2 2 f . = B. Mugdan, Materialien II, S. 12 ( „ D e m H a u p t b e d ü r f n i s s e ist G e n ü g e gethan d u r c h die Vorschriften des S t r a f g e s e t z b u c h e s ü b e r die B u ß e u n d die reichsgesetzlichen Vorschriften ü b e r den S c h u t z des geistigen E i g e n t h u m e s „); w o b e i § 188 S t G B a.F. mehrheitlich allerdings w o h l mit einem Teil der zeitgenössischen Literatur als eine auf V e r m ö g e n s s c h ä d e n b e s c h r ä n k t e E n t s c h ä d i g u n g s klausel gedeutet w u r d e (vgl. M o t . II S . 7 5 1 = B. Mugdan, Materialien II, S . 4 1 9 ) . 2 0 S o b e z o g e n auf die F o l g e n einer Inventaruntreue: M o t . V, S. 619 = B. Mugdan, Materialien V, S. 332. 2 1 S o Prot. V, S. 635 = B. Mugdan, Materialien V, S. 817, anlässlich der E r ö r t e r u n g v o n Ä n d e r u n g s anträgen z u r R e g e l u n g der E r b u n w ü r d i g k e i t . O f f e n z u p ö n a l e n Zielen b e k a n n t e m a n sich bei den
I. Die Ausgangsposition
des
Gesetzgebers
251
vollständigen Entpönalisierung des B G B durch eine Reihe von nach seinem Inkrafttreten eingefügten Spezialnormen sowie einzelnen ausdrücklich oder durch Richterbzw. Gewohnheitsrecht im Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelten Abweichungen vom ursprünglichen Gesetzestext. Anhaltspunkte für eine jedenfalls auch pönale Zielsetzung ergeben sich dabei vor allem in fünf alternativ oder kumulativ anzutreffenden Regelungskonstellationen: bei der bewussten Nachbildung des öffentlichen Strafrechts im Privatrecht, bei der Verbindung eines Entschädigungsanspruchs mit der strafrechtlichen Verurteilung des Schädigers 22 , bei jedem Einfluss des Verschuldensgrads des Schädigers auf seinen Haftungsumfang 23 , in allen Fällen der Gewährung einer Geldentschädigung für Nichtvermögensschäden 24 sowie schließlich auch bei allen anderen Formen einer von Gesetzes wegen, unabhängig vom Willen der Parteien erfolgenden Sanktionierung des Fehlverhaltens eines oder mehrerer Beteiligter 25 .
Gesetzgebungsarbeiten zum B G B u.a. bei der Einräumung des Rechts zur Entziehung des Pflichtteils, vgl. Mot. V, S. 517 = B. Mugdan, Materialien V, S. 276, sowie bei der Inventaruntreue, vgl. Mot. V, S.619 = B. Mugdan, Materialien V, S.332. 22 Z.B. bei den Bußen der §§188, 231 StGB a.F., dem Adhäsionsverfahren oder Fangprämien. 23 Etwa durch die Begünstigung des leicht fahrlässigen oder Benachteiligung des vorsätzlichen/ arglistigen Schädigers, aber auch bei der Berücksichtigung des Verschuldensgrads bei der Bemessung der Entschädigungshöhe für Nichtvermögensschäden. 24 Insbesondere also beim Schmerzensgeld und der Entschädigung für Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. 25 Vgl. nur etwa die Verwirkung des Lohnanspruchs durch den treuwidrig handelnden Makler in §654 B G B , den Verlust des Herausgabeanspruchs des Leistenden in §817 S.2 B G B , sofern die Leistung gegen ein Gesetz oder die guten Sitten verstieß, oder den Ausschluss des Anspruchs auf Finderlohn nach §971 II B G B .
II. Regelungen mit vorrangig oder ausschließlich pönaler Zielsetzung 1. Die „Strafen" des Privatrechts Auf den ersten Blick erscheinen am ehesten diejenigen Regelungen des Privatrechts einer pönalen Rechtsnatur verdächtig, die ausdrücklich einem Privaten das Recht einräumen, einen anderen Privaten einer Strafe, Buße oder ähnlich bezeichneten Sanktion zu unterwerfen. Dabei scheiden allerdings von vornherein diejenigen Sanktionen aus, die lediglich die Konsequenz aus dem Wegfall der Geschäftsgrundlage oder der Gefährdung der Durchführbarkeit eines Vertrages oder einer sonstigen rechtsgeschäftlichen Beziehung ziehen. Nicht als pönal anzusehen sind daher insbesondere das unabdingbare Kündigungsrecht aus wichtigem Grund bei allen Dauerschuldverhältnissen (§314 B G B n.F.) 1 sowie die als ultima ratio den Mitgesellschaftern eingeräumte Möglichkeit, einen Gesellschafter auszuschließen 2 , sofern die Fortsetzung des Gesellschaftsverhältnisses auf Grund eines in der Person dieses Gesellschafters liegenden Umstandes den anderen unzumutbar geworden ist und auf andere Weise eine befriedigende Regelung nicht erreicht werden kann 3 . Dies zeigt sich bereits an der Entbehrlichkeit eines Verschuldens des zu kündigenden Vertragspartners 4 oder auszuschließenden Gesellschafters 5 , das aber unverzichtbare Voraussetzung für jede strafrechtliche oder strafrechtsähnliche Sanktion wäre 6 . Ebensowenig weist das Reugeld des §359 B G B a.F./§353 B G B n.F. pönale Züge auf: Hier soll nicht ein vertragswidriges Verhalten des vom Vertrag zurücktretenden Vertragspart1 Zur Anerkennung dieses Kündigungsrechts vor seiner Kodifizierung vgl. nur: B G H Z 29, S. 171 ff., 172; 41, S.104ff., 108; 133, 316ff., 320; 133, 363ff., 369; B G H N J W 1989, S.1482f., 1483; J a u e r n i g / V o l l k o m m e r , B G B (9. Aufl.), §242, Rn.98; Palandt/Heinrichs, B G B (56. Aufl.), Einl. v. §241, Rn. 18ff.; M ü n c h K o m m I K r a m e r , B G B (Bd. II), Einl. v. §241, Rn. 100. Zu speziellen Regelungen zum Kündigungsrecht aus wichtigem Grund für einzelne Vertragsformen vgl. v.a. §§569, 626, 671 und 723 B G B . 2 Etwa in § 737 B G B für die G b R oder in § 140 H G B für die O H G . 3 B G H Z 4, S. 108ff., 110ff.; 31, S.295ff., 304ff. 4 B G H D B 1972, S.2054f.; B G H N J W 1986, S.3134ff., 3135; J a u e r n i g / V o l l k o m m e r , B G B (9.Aufl.), §242, Rn.98; Palandt/Heinrichs, B G B (56.Aufl.), Einl. v. §241, Rn. 19. 5 B G H W M 1975, S.329ff.; M ü n c h K o m m / U l m e r , B G B , §737, Rn.7, §723, Rn.22; Palandt/ Sprau, B G B (62. Aufl.), §723, Rn.4. 6 Vgl. nur B V e r f G E 58, 159ff., 163 (14.7. 1981): „Die strafrechtliche oder strafrechtsähnliche Ahndung einer Tat ohne Schuld des Täters ist... rechtsstaatswidrig und verletzt den dadurch Betroffenen in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 G G ..."; ähnlich auch schon BVerfGE 20, S.323ff., 331 (25.10. 1866).
II. Regelungen
mit vorrangig
oder ausschließlich
pönaler
Zielsetzung
253
ners sanktioniert werden, sondern dieser erbringt lediglich die für die Einräumung seines Rücktrittsrechts vereinbarte Gegenleistung, verhält sich also vertragskonform 7 . Einer näheren Untersuchung bedürfen dagegen die Vertragsstrafe der §§339ff. B G B , einschließlich ihrer in § 654 B G B und § 6 W G geregelten Spezialfälle, die Vereinsstrafe und die Betriebsbuße des Arbeitsrechts. Zwar handelt es sich auch bei diesen Rechtsinstituten nicht um klassische Privatstrafen: Die Pflicht zur Zahlung derartiger Strafen kann nie unabhängig vom Willen der Parteien entstehen, sondern setzt stets zwingend einen rechtsgeschäftlichen Unterwerfungsakt in Gestalt einer vertraglichen Vereinbarung oder eines Vereinsbeitritts, verbunden mit der Unterordnung unter dessen Satzung, voraus. Dennoch widerlegt die bloße Existenz dieser Strafarten die Theorie des Bundesgerichtshofs von einem „Bestrafungsmonopol des Staates" 8 . Dieses aber könnte, würde es bestehen, ebensowenig wie etwa die Grundrechte als solche 9 , der Disposition Privater unterliegen. Das Fehlen eines staatlichen Bestrafungsmonopols, das über das Monopol für die Verhängung von Kriminalstrafen hinaus geht, ist daher unverzichtbare Zulässigkeitsvoraussetzung jeder echten Privatstrafe oder sonstigen im engeren Sinne pönalen privatrechtlichen Regelung. Die Vertragsstrafe und die mit ihr verwandten Rechtsinstitute der Betriebsbuße und Vereinsstrafe sind somit keineswegs für die hier im Vordergrund stehende „Umschreibung der deutschen Grundsätze für die Deliktshaftung bedeutungslos" 10 . Vielmehr belegen sie neben der Legitimität der Prävention als Ziel privatrechtlicher Regelungen auch nachdrücklich die nicht zuletzt unter dem Aspekt der Privatautonomiegebotene Möglichkeit, in den vom Gesetz gezogenen Schranken Strafen, solange es sich nur nicht um Kriminalstrafen handelt, zum Gegenstand des Privatrechts zu erheben.
7 Vgl. statt aller: Staudinger/ÄiMer, B G B , §359, Rn.4; H k - B G B / S c h u l z e , §353, Rn. 1. Zur Entstehungsgeschichte der Vorschriften über das Reugeld im B G B : F. Ledermann, Unterschiede, S. 47ff. 8 Aufgestellt in: B G H Z 118, S. 312ff., 339 (Urt. des I X . Zivilsenats vom 4.6.1992). Bereits ähnlich argumentierte R. Greger in eines abl. Anm. zu O L G München N J W 1989, S.3102f. (S.3104), nach dem „das Strafmonopol des Staats und der objektive Strafprozeß mit seinen rechtsstaatlichen Garantien" zwingend aus dem Rechtsstaatsmonopol folge, weshalb jede privatrechtliche, auf Repression und Prävention zielende Sanktion durch Subjekte des Privatrechts unvereinbar sei. So wie hier dagegen: H. Bentert, Element, S. 119ff.; ähnlich, wenn auch auf Vereinsstrafen beschränkt: P. Müller, Damages, S.60. 9 Vgl. nur: H.D.Jarass, in: H . D . Jarass/B. Pieroth, G G , Vorb. vor Art. 1, Rn.27;/. v. Münch, in: I. v. Münch/Ph. Kunig, G G I, Vorb. Art. 1-19, Rn.63; Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, G G , Art. 1, Rn. 261, jeweils m.w.N. zu den umstr. Grenzen eines freiwilligen Verzichts auf die Ausübung der Grundrechte im Einzelfall. 10 So aber B G H Z 118, S. 312ff., 339 (Urt. des I X . Zivilsenats vom 4.6.1992); für die Vertragsstrafe zustimmend: R Müller, Damages, S.60; ein staatliches Strafmonopol hingegen ablehnend: O L G München N J W 1989, S.3102f. (9.5. 1989).
254
a)
C. Pönale Elemente
der Privatrechtsordnung
unter dem BGB
Vertragsstrafen
aa) Die Vertragsstrafe der § § 3 3 9 f f . B G B Bei der Vertragsstrafe der § § 3 3 9 f f . B G B verpflichtet sich eine Partei gegenüber der anderen aufschiebend bedingt zur Leistung einer Strafe. Meist besteht diese in der Zahlung eines bestimmten Geldbetrages (vgl. § 3 4 2 BGB). Verwirkt ist die Strafe im gesetzlichen Regelfall, wenn der Schuldner eine unabhängig von der Vertragsstrafe bestehende Leistungspflicht nicht oder nicht in der gehörigen Weise bewirkt (§§340f. BGB). Die Vereinbarung einer Vertragsstrafe kann aber auch in Gestalt eines selbständigen Strafversprechens erfolgen (vgl. § 3 4 3 II BGB) 1 1 . In diesem Fall dient sie der Absicherung der Erwartung des Gläubigers, der Schuldner werde eine bestimmte Handlung vornehmen oder unterlassen, obwohl er hierzu nicht verpflichtet ist 12 . Je nach Ausgestaltung kann die Vertragsstrafe demnach im Ergebnis bis zu drei Funktionen erfüllen 1 3 : Zum einen stellt bereits ihre Vereinbarung ein Druckmittel dar, um den Schuldner zur ordnungsgemäßen Erbringung der ihm obliegenden Leistung oder zur Erfüllung sonstiger in ihn gesetzter Erwartungen anzuhalten 1 4 . Die Vertragsstrafe verfolgt also jedenfalls eindeutig spezialpräventive Ziele.
11 Ganz h.M., vgl. nur MünchKomm/Gottz^M, BGB (Bd. IIa), §343, Rn.22ff.; Jauernig /Vollkommen BGB (10. Aufl.), §339, Rn.6; Palandt/Heinrichs, BGB (62. Aufl.), Vorbem. v. §339, Rn.4; D. Medicus, SAT, Rn. 470; K. Schmidt, Vertragsstrafeversprechen, S. 535ff. Die die Zulässigkeit selbständiger Vertragsstrafeversprechen ablehnende Auffassung von: W.F. Lindacher, Phänomenologie, S.66ff., konnte sich dagegen nicht durchsetzen. 12 Beispiele hierfür etwa in: BGHZ 82, S.398ff., 401 (18.12. 1981); 105, S.24ff., 27 (23.6. 1988). 13 Nach h.M. und st. Rspr. dient die den gesetzlichen Regelfall bildende akzessorische Vertragsstrafe bifunktional als Druckmittel zur Bestärkung der vertraglichen Hauptpflicht und der Erleichterung der Schadloshaltung des Gläubigers bei deren Nicht- oder Schlechterfüllung, vgl. nur: BGH LM §339 Nr. 19 (13.3. 1975); BGHZ 85, 305ff., 312f. (18.11. 1982); 105, S.24ff., 27f. (23.6. 1988); BGH ZIP 1997, S. 1240ff., 1241 (7.5. 1997); BGH NJW 2000, S.2106ff., 2107 (20.1. 2000); MünchKomm/Gottwald, BGB (Bd.IIa), Vor §339, Rn.6ff.; Jauernig/Vollkommer, BGB (10. Aufl.), §339, Rn. 3. So auch schon Mot. II S. 275 = B. Mugdan, Materialien II, S. 152 („Der Entw. beruht auf der... herrschenden Auffassung vom Wesen der Konventionalstrafe, wonach sie die doppelte Funktion hat, einmal als Zwangsmittel gegen den Schuldner zu dienen, sodann dem Gläubiger die Interesseforderung zu erleichtern und zu sichern"), ebenso die Funktion der Vertragsstrafe des Römischen Rechts, vgl. umfassend und grundlegend: R. Knütel, Stipulatio poenae, S. 45ff. Dagegen für eine Beschränkung der Funktion des Rechtsinstituts Vertragsstrafe auf die eines Vollstreckungsmittels (bei Anerkennung der bifunktionalen Ziele des Gläubigers einer Vertragsstrafe): W. F. Lindacher, Phänomenologie, S.57ff., 210. Zur Verdeutlichung der pönalen Elemente der Vertragsstrafe scheint hier jedoch eine Untergliederung der Druckmittelfunktion in ihre präventive und repressive Wirkung vorzugswürdig. Ahnlich auch die Einteilung bei: Staudinger/ÄieWe, BGB, Vorbem. zu §§339ff., Rn. 8 ff. 14 Dabei kann es sich auch um ein Unterlassen handeln. Wichtigstes Beispiel hierfür ist die Vertragsstrafe imWettbewerbsrecht. Zu deren Sonderproblemen im Grenzbereich zwischen § 890 ZPO und §§339ff. BGB umfassend: B. Kaiser, Vertragsstrafe, S. 195ff.; O. Teplitzky, (Unterwerfungs-) Vertragsstrafe, S.709ff.; V. Rieble, Wegfall, S.252ff.; A. Steinbeck, Unterlassungserklärung, S.90ff.; H. Kroitzsch, Unterlassungsverpflichtungserklärung, S. 117ff.
II. Regelungen
mit vorrangig
oder ausschließlich
pönaler
Zielsetzung
255
Kommt es zu ihrer Verwirkung, ohne dass dem Gläubiger ein ersatzfähiger Schaden entstanden ist15, dient sie darüber hinaus als Sanktion für ein abgeschlossenes, sollenswidriges Verhalten des Schuldners repressiven Zwecken. Dies gilt auch dann, wenn der Gläubiger zwar einen ersatzfähigen Schaden erlitten hat, dessen Höhe aber hinter derjenigen der vereinbarten Strafe zurückbleibt oder die Parteien die vom Gesetz 16 vorgesehene Anrechnung der Vertragsstrafe auf den vom Schuldner zu leistenden Schadensersatz wirksam abbedungen haben17. Soweit es zu einer Schädigung des Gläubigers gekommen ist, erleichtert die Vertragsstrafe diesem schließlich auch die Schadloshaltung, indem sie ihn zumindest bis zur Höhe der Vertragsstrafe von der Notwendigkeit eines Schadensnachweises entbindet. Die Vertragsstrafe eignet sich daher vor allem bei schlecht nachweisbaren oder in der Höhe schwer zu ermittelnden Schäden zur Gewährleistung eines gewissen Mindestschadensersatzes, etwa bei der Missachtung von Konkurrenzverboten oder wettbewerbsrechtlichen Unterlassungspflichten. Dabei hat sie gegenüber der Vereinbarung einer Schadensersatzpauschale für den Gläubiger nicht nur den Vorteil, dass dem Schuldner der Nachweis des im konkreten Einzelfall fehlenden Schadens oder geringeren Schadensumfangs verwehrt ist, sondern die Höhe der Vertragsstrafe ist von vornherein nicht auf den gewöhnlich zu erwartenden Schadensumfang beschränkt 18 . Der Gläubiger kann sein Interesse an der Vornahme oder Unterlassung einer Handlung durch den Schuldner also umfassend absichern. Insbesondere sollte er durch die Vertragsstrafe schon nach dem Willen des BGB-Gesetzgebers in die Lage versetzt werden, auch sein immaterielles Interesse an der Erfüllung der Hauptverbindlichkeit, für das eine Geldentschädigung wegen § 253 B G B a.F. im Bereich des Vertragsrechts nicht in Betracht kam und auch heute nur in den Ausnahmefällen des §253 II B G B n.F. möglich ist, wenigstens durch eine Vertragsstrafe schützen zu können 19 . Wegen dieser nur den allgemeinen gesetzlichen Schranken (z.B. § 138 B G B ) und der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach § 343 B G B unterliegenden Möglichkeit zur Sicherung aller Gläubigerinteressen bedarf auch die in neuerer Zeit von Hess20 aufgeworfenen Frage, ob der Vertragsstrafe eine Genugtuungsfunktion zukomme, mangels praktischer Relevanz keiner Klärung: Selbstverständlich kann im Einzelfall auch ein „Vertragsbruch sehr wohl in der Lage [sein], im Gläubiger Gefühle der Ver15 Zur Zulässigkeit von Vertragsstrafen auch bei nachweislich fehlendem Schaden: R G Z 103, S. 99, 101 (28.10. 1921); B G H Z 63, S.256ff., 260 (27.11. 1974). 16 §§340 11,341 II B G B . 17 Nach ganz h.M. jedenfalls durch Individualabrede möglich, vgl. nur B G H LM §339 Nr. 2 (13.3. 1953); Staudinger/Äi'eWe, B G B , §340, Rn.6; MünchKomm/Gottwald, B G B (Bd.IIa), §340, Rn. 3; Jauernig/Vollkommer, B G B (10. Aufl.), §340, Rn.3; D. Medicus, SAT, Rn.468; a.A. W.F. Lindacher, Phänomenologie, S. 188ff. Generell (d.h. auch über den Anwendungsbereich von § 11 Nr.6 des früheren A G B G = §309 Nr.6 B G B hinaus) gegen Abdingbarkeit durch A G B : B G H Z 63, S.256ff. (27.11. 1974); B G H N J W 1992, S.1096f., 1097(21.11. 1991). 18 Zur Abgrenzung von pauschliertem Schadensersatz und Vertragsstrafe vgl. B G H Z 49, S. 84ff., 89 (6.11. 1967); 125, S.343ff. (29.3. 1994); V Beuthien, Schadensersatz, S.495ff. 19 Vgl. Prot. I S. 621 = B. Mugdan, Materialien II, S.516f. 20 C. Hess, Die Vertragsstrafe. Ein unerkanntes Mittel privater Genugtuung (1993), v.a. S.207ff.
256
C. Pönale Elemente
der Privatrechtsordnung
unter dem
BGB
b i t t e r u n g , des H a s s e s s o w i e d e n W u n s c h n a c h R a c h e w a c h z u r u f e n " 2 1 . V e r m u t e t ein G l ä u b i g e r bei sich f ü r d e n F a l l des V e r t r a g s b r u c h s seines V e r t r a g s p a r t n e r s s o l c h e G e f ü h l e , steht es i h m n a c h d e n s o e b e n dargestellten h e r k ö m m l i c h e n Z i e l e n der V e r tragsstrafe a b e r o h n e h i n frei, d e r e n B e f r i e d i g u n g , w i e die seiner s o n s t i g e n i m m a t e riellen I n t e r e s s e n an der V e r t r a g s e r f ü l l u n g , d u r c h eine d e n äußerstenfalls d r o h e n d e n V e r m ö g e n s s c h a d e n ü b e r s t e i g e n d e V e r t r a g s s t r a f e a b z u s i c h e r n . V e r w i r k t sein V e r t r a g s p a r t n e r d a n n die v e r e i n b a r t e Strafe, m a g d e r e n E i n f o r d e r u n g d e m G l ä u b i g e r G e n u g t u u n g v e r s c h a f f e n . D i e s ist a b e r k e i n e t y p i s c h e o d e r gar n o t w e n d i g e A u f g a b e d e r V e r t r a g s s t r a f e , die d o c h i m R e g e l f a l l w e n i g e r e m o t i o n a l aufgeladene ( V e r t r a g s - ) B e z i e h u n g e n erfassen d ü r f t e , s o n d e r n lediglich A u s f l u ß der generellen F r e i h e i t bei der Ausgestaltung schuldrechtlicher Verträge22. T r o t z d e m die V e r t r a g s s t r a f e also d u r c h a u s eine R e i h e p ö n a l e r E l e m e n t e a u f w e i s t , u n t e r s c h e i d e t sie sich d o c h g r u n d l e g e n d v o n einer P r i v a t s t r a f e 2 3 : Z u n ä c h s t einmal b e r u h t sie stets auf einer V e r e i n b a r u n g der P a r t e i e n . D e r S c h u l d n e r m u s s n i c h t z a h len, weil er eine r e c h t l i c h missbilligte Tat b e g a n g e n hat, s o n d e r n weil die V o r a u s s e t z u n g e n e i n g e t r e t e n sind, u n t e r d e n e n er sich d e m G l ä u b i g e r g e g e n ü b e r z u r Z a h l u n g v e r p f l i c h t e t hat. D e r d a b e i w e g e n des n i c h t selten g e g e b e n e n U n g l e i c h g e w i c h t s der Kräfte zwischen den Vertragspartnern drohenden Missbrauchsgefahr tragen zahlr e i c h e V e r t r a g s s t r a f e n v e r b o t e 2 4 s o w i e die Z u l ä s s i g k e i t einer u m f a s s e n d e n gerichtlic h e n K o n t r o l l e der V e r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t der a u s g e h a n d e l t e n V e r t r a g s s t r a f e n h ö h e 2 5 R e c h n u n g . W e i t e r h i n ist m i t d e m V e r w i r k e n e i n e r V e r t r a g s s t r a f e k e i n U n w e r t u r t e i l 21 C. Hess, Vertragsstrafe, S.215. Bedenklich erscheint bei den Ausführungen von Hess in diesem Zusammenhang insbesondere die uneingeschränkte Übertragung von Argumenten aus der Diskussion zum österreichischen Schadensersatzrecht auf deutsche Verhältnisse (vgl. etwa die Berufung auf Reichel bei C. Hess, a.a.O., S.207). Zu den im österreichischen Recht seit Inkrafttreten des A B G B bestehenden - von Hess völlig unberücksichtigt gelassenen -Unklarheiten über den dortigen Schadensbegriff, v.a. die Bedeutung der dort erwähnten „Genugtuung", ausführlich oben, B.III.4 b). 22 Zur Ablehnung der Auffassung von Hess vgl. auch die überwiegend praktisch motivierte Begründung bei: B. Kaiser, Vertragsstrafe, S. 15f. 2 3 B G H LM §339 Nr. 19 (13.3. 1975); B G H Z 118, S.312ff., 339 (4.6. 1992); umfassend hierzu auch: W.F. Lindacher, Phänomenologie, S.62ff.; C. Hess, Vertragsstrafe, S. 188ff. Noch deutlicher betont K. Schmidt die Unterschiede zwischen Privat- und Vertragsstrafe, indem er letztere allgemein als „gesetzlich vertypte Garantievereinbarung" charakterisiert (Vertragsstrafeversprechen, S.534ff.). Zu den Unterschieden zwischen Vertragsstrafe und Strafe im eigentlichen Sinne im zeitlichen Umfeld des Inkrafttretens des B G B vgl. auch aus der älteren Lit.: J. Kahakoff, Vertragsstrafe, S.3; F. Ledermann, Unterschiede, S. 16ff.; E.-G. Schneider, Verwirkung, S.2ff.; W. Villarez, Vertragsstrafe, S.2ff.; O. Neuenfeldt, Conventionalstrafe, S.4ff. 24 So insbesondere §§ 309 Nr. 6,555,1297 II, 2302 B G B , § 2 V Nr. 1 FernunterrichtsschutzG, § 5 II Nr. 2 u. 4 BBiG; einschränkend auch §75 c HGB, §4 WohnungsvermittlungsG. Vgl. i.U. die Ubersicht bei Staudinger/Rieble, BGB, §339, Rn. 36ff., sowie umfassend: G.-M. Im, Vertragsstrafe, S. 42ff. Zu den Grenzen der Vereinbarkeit von Vertragsstrafen in AGB vgl. u.a.: B G H Z 85, S. 305ff., 308ff. (18.11. 1982); B G H Z 125, S.343ff. (29.3. 1994); B G H ZIP 1997, S.1240Í. (7.5. 1997); B G H NJW 1998, S.2600ff. (3.4. 1998) u. S.3488f. (16.7. 1998); B G H NJW 2000, S.2106ff. (20.1. 2000). 2 5 §§343, 138, 242 BGB, wobei eine Herabsetzung der Vertragsstrafe nach §343 B G B gem. §348 H G B allerdings ausscheidet, wenn diese von einem Vollkaufmann innerhalb seines Handelsgewerbes versprochen wurde. Zur Entwicklung der richterlichen Kontrollmöglichkeiten der Vertragsstrafenhöhe seit dem Römischen Recht ausführlich: R.-P. Sossna, Geschichte, S. 11 ff., zu §343 B G B und seiner Entstehung S. 165ff.
II. Regelungen mit vorrangig oder ausschließlieh pönaler Zielsetzung
257
verbunden 26 . Der Schuldner einer Vertragsstrafe wird sich häufig vertragswidrig verhalten haben. Zumindest beim selbständigen Vertragsstrafeversprechen ist aber nicht einmal dies erforderlich. Uber die Beurteilung seines Verhaltens unter moralisch-ethischen oder gar strafrechtlichen Gesichtspunkten besagt das Verwirken der Vertragsstrafe jedenfalls nichts. Konsequenterweise kann daher nach herrschender Meinung, wenn auch nur im Wege der Individualabrede 27 , abweichend vom gesetzlichen Leitbild der Vertragsstrafe 28 bei dieser auf das Verschuldenserfordernis (im Sinne eines Vertretenmüssens nach §§276, 278 BGB) verzichtet werden 29 . Auch sanktionenrechtliche Grundprinzipien finden auf die Vertragsstrafe keine Anwendung 30 . Die Verhängung eines Ordnungsgeldes nach §890 ZPO 3 1 oder einer Kriminalstrafe einerseits und das Verwirken einer Vertragsstrafe wegen der selben Handlung andererseits schließen sich daher nicht aus 32 . Dessen ungeachtet kann es selbstverständlich, wenn auch nur aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit und nicht zur Vermei-
26 Staudinger/föeWe, BGB, Vorbem. zu §§ 339ff., Rn. 21; R. Knütel, Stipulatio poenae, S. 3,17; C. Hess, Vertragsstrafe, S. 192; selbst bezogen auf Vereinsstrafen jedes Unwerturteil abl., da anderenfalls der Boden des Privatrechts verlassen würde: B G H Z 29, S.353ff., 357 (26.2. 1959); i.d.S. auch wieder B G H Z 118, S.312ff., 339. 27 So gestützt auf § 9 II Nr. 1 des früheren A G B G = § 307 II Nr. 1 BGB n. F. selbst im Hinblick auf Vollkaufleute: B G H N J W 1985, S.57f. (18.4. 1984); B G H NJW-RR 1991, S.1013ff. (24.4. 1991); zust. MünchKomm/Gottwald, BGB (Bd. IIa), Vor §339, Rn. 12. 28 Staudinger/Riehle, BGB, §339, Rn,117ff.; Jauernig/Vollkommer, BGB (lO.Aufl.), §339, Rn. 19. 29 B G H Z 72, S.174ff., 178 (28.9. 1978); B G H Z 82, S.398ff., 402 (18.12. 1981); B G H LM §339 Nr. 19 (13.3. 1975); B G H NJW-RR 1997, S.686ff., 688 [„Unabhängig von einem Verschulden des Bekl. verwirkt ist die Vertragsstrafe, wenn die Parteien eine entsprechende Regelung getroffen haben. Eine solche Vereinbarung, die der Vertragsstrafe eine garantieähnliche Funktion gibt, ist individualvertraglich möglich"]; MünchKomm/Gottwald, BGB (Bd. IIa), Vor §339, Rn. 34; Jauernig/ Vollkommer, BGB (10. Aufl.), §339, Rn. 19; K. Schmidt, Vertragsstrafeversprechen, S.534; ebenso H. Köhler, Vereinbarung, S. 219, wenn auch mit Bedenken im Hinblick auf Vertragsstrafen aus dem Bereich des Wettbewerbsrechts; a.A. [kein persönliches Verschulden erforderlich, aber Vertretenmüssen unabdingbar] Staudinger/ÄzeWe, BGB, Vorbem. zu §§ 339ff., Rn. 67, § 339, Rn. 119f. 30 Staudinger/Rieble, BGB, Vorbem. zu §§339ff., Rn.63ff. Hierzu steht nicht im Widerspruch, wenn etwa das BAG im Rahmen der Auslegung unklarer Vertragsstrafenabreden nicht zuletzt darauf abstellt, welche Interpretation eher dem Bestimmtheitsgebot genügt (BAG N Z A 1992, S. 115ff., 117, Urt. vom 18.9. 1991), da der Möglichkeit des potentiellen Schuldners einer Vertragsstrafe, voraussehen zu können, „unter welchen Voraussetzungen er sie verwirkt hat", schon wegen der Präventivfunktion der Vertragsstrafe erhebliche Bedeutung zukommt (unzutreffend daher die Kritik an dieser Entscheidung von Staudinger/ÄzeWe, BGB, Vorbem. zu §§339ff., Rn.64. 31 So auf Grund der unterschiedlichen Zweckrichtung beider Sanktionen in einem obiter dictum B G H Z 138, S. 67ff., 70f. (5.2. 1998). 32 B G H Z 21, S.370ff., 374 (4.10. 1956); MünchKomm/GottmiM, BGB (Bd.IIa), Vor §339, Rn.48ff.; Jauernig/Vo/ftommer, BGB (10. Aufl.), §339, Rn. 13; Staudinger/.Riehle, BGB, Vorbem. zu §§339ff., Rn. 78; W.F. Lmdacher, Zulässigkeit, S. 819; B. Kaiser, Vertragsstrafe, S. 193; a.A. [Nichtigkeit der Vereinbarung einer Vertragsstrafe für strafbare Handlungen, da diese eine Umgehung des staatlichen Strafmonopols bedeuten würde]: F. Baur, Betriebsjustiz, S. 164. Zu Grenzen der Kumulierbarkeit von öffentlichrechtlicher Sanktion und privatrechtlicher Ahndung, die sich im Einzelfall etwa aus §307 BGB (§9 des früheren AGBG) ergeben können [Submissionsabsprachen]: B G H Z 105, S.24ff., 30 (23.6. 1988).
258
C. Pönale Elemente der Privatrechtsordnung unter dem BGB
dung einer Doppelbestrafung i.S.d. Art. 103 I I I G G 3 3 , geboten sein, im R a h m e n der Verhältnismäßigkeitskontrolle bei der H ö h e der Vertragsstrafe deren Kumulation mit anderen Sanktionen zu berücksichtigen 3 4 . E b e n s o verhindert die andersartige Rechtsnatur beider Sanktionen nicht die Übertragung einzelner im Strafrecht entwickelter Grundsätze auf die Vertragsstrafe, soweit diese hierfür angemessen erscheinen. So ist etwa bei mehrmaliger Verwirkung der Vertragsstrafe, die Gleichartigkeit sowie den engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang der Einzelakte vorausgesetzt, die dem Strafrecht entstammende Lehre v o m Fortsetzungszusammenhang zu Grunde zu legen 3 5 . Dies jedoch auch nach deren Aufgabe durch die Strafgerichte 3 6 , da die für diese Änderung maßgeblichen Gründe für die Vertragsstrafe irrelevant sind 3 7 . b b ) D u r c h Gesetze oder Rechtsverordnungen angeordnete Vertragsstrafen Lediglich einen Sonderfall der Vertragsstrafen bilden diejenigen Sanktionen, die für bestimmte Vertragstypen durch Rechtsvorschriften vorgegeben sind: So gelten insbesondere die im jeweiligen § 23 der Allgemeinen Versorgungsbedingungen der Versorgungsbetriebe festgelegten Strafbestimmungen für den unbefugten Gebrauch bzw. die unbefugte Entnahme von Elektrizität, Gas, Wasser oder W ä r m e 3 8 unabhängig von einer Vereinbarung zwischen dem Versorgungsunternehmen und seinem 33 Zur Beschränkung des Doppelbestrafungsverbots in Art. 103IIIGG auf Fälle der Verhängung mehrerer Kriminalstrafen für eine Tat: BVerfGE 21, S.378ff. (2.5.1967); 21, S. 391 ff. (2.5.1967); 43, S. 101 ff. (9.11.1976); zur Vereinbarkeit der Kumulierung mehrerer Sanktionen außerhalb des Strafrechts mit dem Doppelahndungsverbot, sofern sich beide nach „Anlaß, Ziel und Zweck" unterscheiden: BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 3.8. 1989 (1 BvR 1194/88, nicht veröffentlicht). 34 In diesem Sinne BGHZ 105, S.24ff., 31 (23.6. 1988, bezogen auf ein als Vertragsstrafe bezeichnetes Garantieversprechen, das mit einer kartellrechtlichen Buße kumulierte); 138, S.67ff. (5.2. 1998, bezogen auf das Zusammentreffen einer Vertragsstrafe mit einem Ordnungsgeld nach §890 ZPO); W.F. Lindacher, Zulässigkeit, S. 821; sogar für eine obligatorische Berücksichtigung der jeweils anderen Sanktion im Rahmen von §46 StGB bzw. §343 BGB: Staudinger/Äi'eWe, BGB, Vorbem. zu §§339ff., Rn.79. 35 Wenn auch mit einer Anpassung dieser Lehre an die Bedürfnisse des Zivilrechts (v.a. bei fahrlässiger Verwirkung der Vertragsstrafe): BGHZ 121, S. 13ff., 15ff. (10.12.1992), und nur, soweit die Parteien keine abweichenden Regelungen getroffen haben: BGHZ 33, S. 163ff. (20.9. 1960); BGH NJW 1993, S. 2993f., 2994 (6.5.1993). Gegen die Heranziehung der zur Lehre vom Fortsetzungszusammenhang entwickelten Grundsätze auf die Vertragsstrafe: Staudinger/ÄzeWe, BGB, Vorbem. zu §§ 339ff., Rn. 74. Generell zur Verwirkung der Vertragsstrafe bei mehrfachen Verstößen gegen eine Vertragsstrafenabrede: G. Selbach, Vertragsstrafe, S.31ff. Zur Problematik dieses „Summierungseffekts" im Hinblick auf §9 des früheren AGBG = §307 BGB [jeweils bezogen auf Vertragsstrafeversprechen zur Absicherung von Beschäftigungs- und Investitionszusagen in Unternehmenskaufverträgen der Treuhand]: BGH NJW 1998, S.2600ff. (3.4. 1998); BGHZ 141, S.391 ff. (26.5. 1999); BGH ZIP 2000, S. 799ff. (9.2. 2000). 36 Vgl. BGHSt (GS) 40, S. 138ff. (3.5. 1994). 37 Jauernig/Vollkommer, BGB (10. Aufl.), §339, Rn.22; Palandt/Heinrichs, BGB (62. Aufl.), § 339, Rn. 6; B. Kaiser, Vertragsstrafe, S. 64f. Umfassend zum Problem des Fortsetzungszusammenhangs bei der Vertragsstrafe: V. Rieble, Ende, S. 828ff. 38 Vgl. die auf der Grundlage von § 7 EnergiewirtschaftsG erlassenen AVB für Elektrizität und Gas v. 21.6.1979 (BGBl 1 1979, S. 684ff. bzw. 676ff.) sowie für Wasser und Fernwärme v. 20.6. 1980 (BGBl I 1980, S.750ff. bzw. 742ff.).
II. Regelungen
mit vorrangig
oder ausschließlich
pönaler
Zielsetzung
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K u n d e n , sofern nur z w i s c h e n beiden ein Versorgungsverhältnis b e s t e h t 3 9 . S c h o n w e g e n d e r A u s n a h m e r e g e l u n g e n in d e n § § 3 0 7 I I I , 3 1 0 I I B G B k a n n d e m a u c h das K l a u s e l v e r b o t des § 3 0 9 N r . 6 B G B n i c h t e n t g e g e n s t e h e n . A u c h w e n n die § § 3 3 9 f f . B G B a u f d i e s e S a n k t i o n e n n i c h t u n m i t t e l b a r a n g e w e n d e t w e r d e n k ö n n e n 4 0 , s i n d die G e r i c h t e a b e r d o c h b e f u g t , die A n g e m e s s e n h e i t d i e s e r S t r a f r e g e l u n g e n z u ü b e r p r ü f e n 4 1 , e t w a a u f B e a c h t u n g des V e r s c h u l d e n s p r i n z i p s 4 2 , u n d e r f o r d e r l i c h e n f a l l s e i n e n a c h den A V B verwirkte Strafe entsprechend § 3 4 3 B G B herabzusetzen43. Ä h n l i c h v e r h ä l t es s i c h m i t d e n B e s t i m m u n g e n ü b e r das e r h ö h t e B e f ö r d e r u n g s e n t gelt f ü r S c h w a r z f a h r e r in B a h n e n , B u s s e n u n d L i n i e n t a x i s 4 4 : A u c h h i e r b e i h a n d e l t es s i c h u m V e r t r a g s s t r a f e n k l a u s e l n , die w e g e n i h r e r R e g e l u n g in d e n A l l g e m e i n e n B e f ö r d e r u n g s b e d i n g u n g e n 4 5 o h n e w e i t e r e s (vgl. § 3 0 5 a I N r . 1 B G B ) B e s t a n d t e i l j e d e s wirksamen46 Beförderungsvertrages werden47. Wegen der von der Vertragsstrafe der § § 3 3 9 f f . B G B a b w e i c h e n d e n E r m ä c h t i g u n g s g r u n d l a g e ist a u f d e r a r t i g e S a n k t i o n e n § 3 4 3 B G B z w a r n i c h t u n m i t t e l b a r a n w e n d b a r , d o c h e r g i b t s i c h aus d e r G r u n d r e c h t s b i n d u n g d e r B e f ö r d e r u n g s b e d i n g u n g e n die N o t w e n d i g k e i t , d i e s e e i n e r d a r a n angelehnten Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen48.
StaudingerARieWe, B G B , Vorbem. zu §§339ff., Rn. 132ff. m.w.N. StaudingerARi'eWe, B G B , Vorbem. zu §§339ff., Rn. 134. 41 B G H Z 100, S.lff., 8 (28.1. 1987); K G VersR 1985, S.288ff., 289 (13.7. 1984). 42 O L G Hamm WuM 1992, S.274ff., 276 (18.11. 1991). 4 3 Staudinger/Rieble, B G B , Vorbem. zu §§339ff., Rn. 134. 4 4 Umfassend hierzu, wenn auch überwiegend aus strafrechtlicher Sicht: A. Eyers, Die Entkriminalisierung des Schwarzfahrers in den sog. „Einmalfällen" (1999), zur zivilrechtlichen Behandlung der Schwarzfahrer de lege lata vgl. v.a. S.65ff. 4 5 So auch nach der Bahnreform (vgl. EisenbahnneuordnungsG v. 27.12. 1993, B G B l I 1993, S.2378ff.) für den Eisenbahnverkehr in §§ 12, 60 E V O (vgl. § 12 A E G , B G B l I 1993, S.2396ff.); für Busse, Straßenbahnen usw. in § 9 der V O über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Omnibusverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen v. 27.2. 1970 (BGBl 11970, S. 230ff., zuletzt geändert durch die 2. V O zur Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschriften v. 30.6.1989, B G B l 1 1989, S. 1273ff.), erlassen auf der Grundlage von § 571 Nr. 5 PersonenbeförderungsG. 4 6 Ein minderjähriger Schwarzfahrer ist daher nur zur Entrichtung des erhöhten Beförderungsentgelts verpflichtet, wenn die Benutzung des Verkehrsmittels mit Zustimmung seiner gesetzlichen Vertreter erfolgte: A G Hamburg N J W 1987, S.448 (24.4. 1986); A G Bergheim N J W - R R 2000, S.202ff. (15.10. 1998); A G Jena N J W - R R 2001, S.1469 (5.7. 2001); Staudinger/Rieble, B G B , Vorbem. zu §§ 339ff., Rn. 138; Eyers, Entkriminalisierung, S. 72ff.; a. A. A G Köln N J W 1987, S. 447f. (9.7.1986,119 C 88/86). Bei für die gesetzlichen Vertreter vorhersehbaren Fahrten (zur Schule, zum Sportverein etc.) wird dabei regelmäßige eine Einwilligung in Gestalt des Generalkonsenses vorliegen, vgl. A G Köln VRS 80 (1991), S. 81 ff. (9.7.1986). Soweit der Minderjährige danach zur Zahlung des erhöhten Beförderungsentgeks verpflichtet ist, ist dies nicht verfassungswidrig: BVerfG VRS 80 (1991), S. 81 ff. (20.5. 1987). 4 7 Die Annahme des Angebots des Beförderungsunternehmens durch den Kunden erfolgt i.d.R. konkludent durch die bloße Inanspruchnahme der Beförderungsleistung, ein Zugang einer entsprechenden Erklärung beim Beförderungsunternehmen ist wegen § 151 B G B entbehrlich, vgl. hierzu: I. Eberl, Schweigen, S. 755; A. Eyers, Entkriminalisierung, S. 66ff. 48 Staudinger/ÄzeWe, B G B , Vorbem. zu §§339ff., Rn. 136ff., v.a. 138f.; MünchKomm/Gottwald, B G B (Bd. IIa), Vor §339, Rn.39; A. Eyers, Entkriminalisierung, S.72. 39
40
260
C. Pönale Elemente der Privatrechtsordnung unter dem BGB
cc) Vertragsstrafenähnliche Rechtsinstitute Zumindest unter dem hier allein interessierenden Aspekt der Pönalität der Regelung sind die für die Vertragsstrafe erzielten Ergebnisse aber auch uneingeschränkt auf die gemäß § 3 3 8 B G B nach Scheitern des Vertrages beim Draufgabenehmer verbleibende Draufgabe der § § 3 3 6 f f . B G B 4 9 sowie auf (auch) als Vertragsstrafe ausgestaltete Verfallklauseln ( § 3 6 0 B G B a.F./§354 B G B n.F.) 5 0 übertragbar. Hingegen handelt es sich bei dem von der Post für unzureichend frankierte Poststücke erhobenen N a c h porto 5 1 um ein echtes Entgelt, mit dem die Post sich den ihr durch die Fehlfrankierung entstehenden Mehraufwand vergüten lässt 52 . Soweit der Empfänger, der ja selbst nicht Vertragspartner der Post wird, das N a c h p o r t o entrichtet, leistet er daher gemäß § 2 6 7 I B G B auf die Schuld eines Dritten. Wieder anders verhält es sich bei zwei Spezialformen gesetzlich angeordneter Vertragsstrafen, bei der Provisionsverwirkung des Maklers nach § 6 5 4 B G B und der Leistungsfreiheit des Versicherers bei Obliegenheitsverletzungen nach dem W G : (1) § 6 5 4 B G B N a c h herrschender Meinung 5 3 und ständiger Rechtsprechung 5 4 k o m m t dem Ausschluss von Ansprüchen des Maklers auf L o h n und Aufwendungsersatz nach § 654 B G B bei vertragswidriger Tätigkeit für beide Parteien des Hauptvertrages „offensichtlich Strafcharakter" zu 5 5 . Ziel dieser Vorschrift sei es danach, den Makler „bei Vermeidung des Verlustes seines Vergütungsanspruchs dazu anzuhalten, die ihm gegenüber seinem Auftraggeber obliegende Treuepflicht zu wahren" 5 6 . Eine Verwirkung des Lohnanspruchs soll dabei über den Gesetzeswortlaut hinaus nicht nur bei unzulässiger 5 7 Doppeltätigkeit des Maklers eintreten. Vielmehr soll der L o h n a n 49 Zur Rechtsnatur dieses heute praktisch nahezu bedeutungslosen Rechtsinstituts vgl. statt aller: Staudinger/ÄieWe, BGB, §338, Rn. 1. 50 Vgl. hierzu: BGH NJW 1968, S.1625f., 1625 (22.5. 1968); BGH NJW-RR 1991, S.1013ff. (24.4. 1991); BGH NJW-RR 1993, S. 243ff. (8.10. 1992); Staudinger/Äi'eWe, BGB, Vorbem. zu §§339ff., Rn. 143ff.; Staudinger/.Kaiser, BGB, §360, Rn.8; MünchKomm/G^'er, BGB (Bd.IIa), §354, Rn. 3ff. 51 Nr. 5 III Post-AGB vom 1.10.1999; zu deren Einbeziehung in den Vertrag zwischen Post und Kunden unabhängig von den Anforderungen des §305 II BGB vgl. §305 a I Nr. 2 a). 52 Vgl. statt aller: Staudinger/Äz'eWe, BGB, Vorbem. zu §§339ff., Rn.48 53 Vgl. nur: Erman¡Werner, BGB, §654, Rn. 1; Soergel/Z.ore«fz, BGB, §654, Rn. 1; Jauernig//a«ernig, BGB (10. Aufl.), §654, Rn. 10; Hk-BGB/££ert, §654, Rn. 1, 3; R. Budde, Verwirkung, S.897. 54 BGHZ 36, S. 323 ff., 326 (5.2. 1962); BGH NJW 1964, S. 1467ff., 1468 (22.4.1964); BGHZ 53, S. 160ff., 165 (16.1. 1970); BGH NJW 1981, S.280 (16.10. 1980); NJW 1981, S.2297f., 2297 (24.6. 1981); BGH WM 1983, S.385ff., 386 (26.1. 1983); BGH NJW 1986, S.2573f., 2573 (13.3. 1985); OLG Karlsruhe WM 1995, S. 2095f., 2096 (29.9.1994). Weitere Nachweise zur Rechtsprechung bei: W. Dehner, Entwicklungl989, S.3261. 55 BGHZ 36, S. 323ff., 326 (5.2. 1962). 56 BGH NJW 1986, S.2573f., 2572 (13.3. 1985). 57 Zu den Grenzen zulässiger Doppeltätigkeit vgl. etwa: BGHZ 48, S. 344ff., 346ff. (25.10. 1967); BGH VersR 2000, S.182f. (11.11. 1999); NJW 2000, S.3067ff. (8.6. 2000); Erman /Werner, BGB, §654, Rn. 2; Soergel/Lorentz, BGB, § 654, Rn. 3f.;/. Kleikamp, Doppeltätigkeit, S. 59f.; H. Wingbermühle, Makler, S. 820f.
II. Regelungen mit vorrangig oder ausschließlich pönaler Zielsetzung
261
spruch des Maklers in Fortführung des dem in § 654 BGB geregelten Fall zu Grunde liegenden allgemeinen Rechtsgedankens bereits dann entfallen, wenn der Makler „seine Treuepflicht gegenüber dem Auftraggeber vorsätzlich, mindestens aber in einer dem Vorsatz nahekommenden grob leichtfertigen Weise verletzt und deshalb den Maklerlohn nach allgemeinem Rechts- und Billigkeitsempfinden nicht verdient" hat 58 , wenn also seine Pflichtverstöße „ihn der versprochenen Maklervergütung unwürdig erscheinen lassen" 59 , ohne dass es hierbei auf einen Schaden des Auftraggebers ankäme 60 . Demgegenüber lehnt eine vornehmlich von Reuter vertretene Auffassung besondere Treuepflichten des Maklers gegenüber seinem Auftraggeber ab61. Das Leitbild des Maklervertrags sei frei von geschäftsbesorgungsrechtlichen Elementen. Es handele sich dabei vielmehr um ein beschaffungskaufähnliches Rechtsgeschäft, bei dem der Makler mit seiner Provision allein für den Nutzen entschädigt würde, den der Auftraggeber durch die Nachweis- bzw. Vermittlungstätigkeit des Maklers erlangt habe 62 . § 654 BGB könne daher nicht der Bestrafung des treulos handelnden Maklers dienen, sondern ziehe lediglich die Konsequenz aus dem Nichteintritt der Bedingung für dessen Lohnanspruch, der „fehlenden wirtschaftlichen Gleichwertigkeit des nachgewiesenen bzw. vermittelten mit dem laut Maklervertrag angestrebten Hauptvertrag" 63 . Letztere folge bei der unzulässigen Doppeltätigkeit des Maklers aus den dadurch erhöhten Transaktionskosten des Auftraggebers 64 , könne sich aber auch aus anderen Begleitumständen der Maklertätigkeit ergeben, die daher ebenfalls eine analoge Anwendung von § 654 BGB rechtfertigen würden 65 . Die „Lohnunwür-
58
St. Rspr., Zitat nach B G H NJW 1986, S.2573f., 2573 (13.3. 1985); ebenso bereits: B G H NJW 1964, S. 1467ff., 1468 (22.4. 1964); NJW 1981, S.2297f., 2297 (24.6. 1981); zu den Voraussetzungen für eine Verwirkung des Provisionsanspruchs analog §654 BGB grundlegend: B G H Z 36, S. 323ff., 327 (5.2.1962); aufbauend auf: RGZ 113, S. 264ff., 269 (24.4.1926); vgl. dazu auch: B G H N J W 1981, S.280 (16.10. 1980); B G H NJW 1985, S.45 (26.9. 1984); B G H VersR 2000, S.182f. (11.11. 1999); NJW 2000, S.3067ff., 3068; Soergel/Lorentz, BGB, §654, Rn. 1; weitere Nachweise zur Rechtsprechung bei: W. Dehner, Entwicklung 1997, S. 1994; deutlich einschränkend dagegen: MünchKomm/ Roth, BGB, §654, Rn.3. Zum Inhalt der Treuepflichten eines Maklers vgl. O L G Karlsruhe WM 1995, S.2095f., 2096 (29.9. 1994); B G H N J W 1981, S.2297f., 2297 (24.6. 1981). 59 B G H N J W 1985, S.45 (26.9.1984); ebenso B G H N J W 1981, S.2297f., 2297 (24.6.1981); NJWRR 1990, S.372 (29.11. 1989); NJW-RR 1992, S.llOf., 111 (25.9. 1991). 60 B G H Z 36, S.323ff., 326f. (5.2. 1962); B G H N J W 1981, S.280 (16.10. 1980); NJW 1986, S.2573f., 2573 (13.3. 1985); NJW-RR 1990, S.372 (29.11. 1989); vgl. dazu auch:J. Kleikamp, Doppeltätigkeit, S. 59. 61 Staudinger/Reuter, BGB, §654, Rn. 1 ff.; ders., Maklerrecht, S. 1321 ff.; ders., Anmerkung, S. 953f.; ebenso: M. Martinek, Maklervertrag, S. 1051, 1056. 62 Vgl. Staudinger ¡Reuter, BGB, Vorbem. zu §§ 652ff., Rn. 4ff., §§ 652, 653, Rn. 66ff.; ders., Maklerrecht, S. 1324ff.; ders., Anmerkung, S. 953f. Zur Unvereinbarkeit eines Maklerlohnanspruchs bei fehlender Kausalität der Maklertätigkeit für den Abschluss des Hauptvertrages mit dem Leitbild des Maklervertrages vgl. B G H N J W 1988, S.410f., 411 (30.9. 1987). 63 D. Reuter, Maklerrecht, S. 1326. 64 Staudinger/Reuter, BGB, §654, Rn. 1; ders., Maklerrecht, S. 1325; ders., Anmerkung, S.954. 65 Staudinger/Reuter, BGB, §654, Rn.8.
262
C. Pönale Elemente der Privatrechtsordnung unter dem BGB
digkeitsjudikatur" 6 6 propagiere dagegen maklerfeindliches 6 7 und gleichheitswidriges Sonderrecht 6 8 , da „nirgendwo sonst die folgenlose Verletzung von Nebenpflichten ein G r u n d für die Entziehung von Erfüllungsansprüchen" sei, und ließe zudem die „Täuschung für den Auftraggeber zum Glücksfall" werden 6 9 . Zudem könne nicht die Doppeltätigkeit des Maklers, die § 9 9 H G B für das Handelsrecht zum R e gelfall erhebe, beim Makler nach bürgerlichem R e c h t als „höchstes U n r e c h t " gelten 7 0 . Diese Einwände gegen die herrschende Meinung können jedoch nicht überzeugen. Zweifelhaft erscheint dabei bereits, o b aus der unzulässigen Doppeltätigkeit des Maklers wirklich zwingend auf die wirtschaftliche Ungleichwertigkeit des auf diese Weise zustandegekommenen Hauptvertrages mit dem ursprünglich angestrebten Hauptvertrag geschlossen werden kann. E b e n s o wenig ist ersichtlich, warum es die „Vorstellung von der Doppeltätigkeit als eines grob treuwidrigen und daher strafwürdigen Parteiverrats ad absurdum führen" soll 7 1 , wenn beim Handelsmakler die Zulässigkeit der Doppeltätigkeit vermutet wird, beim bürgerlichrechtlichen Makler hingegen deren Unzulässigkeit: Weder schreibt § 9 9 H G B die Zulässigkeit der D o p peltätigkeit als stets sachgerechte Lösung vor, noch verbietet § 6 5 4 B G B jede D o p peltätigkeit oder bewertet sie gar automatisch als „höchstes U n r e c h t " . Vielmehr vertauschen beide N o r m e n lediglich das Verhältnis von Regel und Ausnahme. O b im Einzelfall ein sanktionswürdiges treuwidriges Verhalten des Maklers vorliegt, ist dagegen stets anhand des Vertragsinhalts und des konkreten Verhaltens des Maklers zu ermitteln 7 2 . A u c h ist die Verwirkung eines Erfüllungsanspruchs durch die Verletzung von Nebenpflichten keineswegs singulär auf Makler beschränkt, sondern ist insbesondere auch im Versicherungsvertragsrecht verbreitet, sogar bei bloßen O b liegenheitsverletzungen des Versicherungsnehmers 7 3 . Eine Gleichbehandlung von Maklern und Rechtsanwälten 7 4 im R a h m e n des § 6 5 4 B G B ist schließlich schon wegen der spezialgesetzlichen Regelungen zum anwaltlichen Parteiverrat im S t G B nicht (zwingend) geboten 7 5 . Daneben mag auch eine besondere Skepsis des B G B Gesetzgebers gegenüber dem bürgerlichrechtlichen Makler, wie sie sich besonders
Staudinger/fowter, BGB, §654, Rn. 13. D. Reuter, Maklerrecht, S. 1321. 68 Staudinger/Reuter, BGB, §654, Rn.2. 69 Staudinger/fowfer, BGB, §654, Rn. 13. 70 Staudinger/Reuter, BGB, §654, Rn.2. 71 So aber Staudinger/Reuter, BGB, §654, Rn.2. 72 BGHZ 36, S.323ff., 327 (5.2. 1962); 48, S.344ff., 347 (25.10. 1967); Soergel/Lorentz, BGB, §654, Rn.2. Zu den Gründen der ungleichen Regelung der Zulässigkeit einer Doppeltätigkeit des Maklers in HGB und BGB vgl. auch bereits Mot. II, S.515 = B. Mugdan, Materialien II, S.288; Prot. II, S. 343f. = B. Mugdan, ebenda, S.937f. 73 Zu den zahlreichen Parallelen zwischen § 654 BGB und den versicherungsrechtlichen Verwirkungsklauseln vgl. BGHZ 53, S.160ff., 165 (16.1. 1970). Zu den Folgen von Obliegenheitsverletzungen im Versicherungsvertragsrecht unten, S. 265 ff. 74 Gefordert von: Staudinger//?e«ier, BGB, §654, Rn.2. 75 §356 StGB. 66 67
II. Regelungen
mit vorrangig
oder ausschließlich
pönaler Zielsetzung
263
deutlich bei den Vorschriften über den Ehemakler (§ 656 BGB) zeigt, für die in § 654 BGB getroffene Bestimmung mitursächlich geworden sein76. Am wenigsten aber überzeugt die Behandlung des Aufwandsentschädigungsanspruchs durch die Vertreter der Minderheitsauffassung: Nach §652 II B G B ist, wie auch Reuter als „unzweifelhaft" zugesteht 77 , die Vereinbarung des Ersatzes der dem Makler konkret entstandenen Aufwendungen (Reisekosten, Porto, Schreibgebühren u.ä. 78 ) mit dem Leitbild des Maklervertrages grundsätzlich 79 vereinbar80. Dies setzt jedoch zwingend ein Handeln im fremden Interesse voraus. Würde es sich beim Maklervertrag um einen kaufähnlichen Vertrag handeln, müsste der Makler derartige Ausgaben hingegen im eigenen Interesse vornehmen, da dann ja die Gelegenheit zum Abschluss des Hauptvertrages der „Kaufgegenstand" wäre, den der Makler seinem Kunden als fertiges Endprodukt zur Verfügung zu stellen hätte81. Daran ändert auch eine noch so restriktive Definition 82 des im Rahmen von Maklerverträgen zu vereinbarenden Aufwendungsersatzes nichts. Daher lässt sich zumindest in den Fällen, in denen eine Aufwandsentschädigung vereinbart wurde, ein geschäftsbesorgungsähnliches Element des Maklervertrages, aus dem sich wiederum besondere Treuepflichten ergeben können, nicht bestreiten83. Aber selbst wenn man Maklerverträge in Ubereinstimmung mit der von Reuter vertretenden Auffassung dennoch generell als kaufähnlich charakterisieren wollte, wäre die Rechtsfolge des §654 B G B damit bzw. mit der bei unzulässiger Doppeltätigkeit womöglich fehlenden wirtschaftlichen Gleichwertigkeit des zustande gekommenen mit dem angestrebten Hauptvertrag nicht zu vereinbaren: Ziel der Vereinbarung einer Aufwandsentschädigung ist die Absicherung des Maklers vor Verlusten infolge willkürlicher Meinungsschwankungen des Auftraggebers 84 . Der Aufwendungsersatz ist daher häufig nur, jedenfalls aber auch dann zu zahlen, wenn gar kein Hauptvertrag abgeschlossen wurde 85 . Fehlt es aber an einem Hauptvertrag und einer Kausalität zwischen Hauptvertrag und (Aufwendungsersatz-)Anspruch, kann nicht die fehlende wirtschaftliche Gleichwertigkeit für den Wegfall des Anspruchs 76 Vgl. dazu auch Mot. II, S.515 = B. Mugdan, Materialien II, S.288; Prot. II, S.343f. = B. Mugdan, ebenda, S. 937f.; im Übrigen lässt sich aus den Gesetzgebungsmaterialien wenig für die Rechtsnatur des §654 B G B herleiten, dazu zutreffend: Staudinger//ie«ier, B G B , §654, Rn. 1. 7 7 Staudinger/Reuter, B G B , §§652, 653, Rn. 172. 78 Vgl. B G H W M 1987, S. 471 ff., 473 (28.1. 1987); B G H Z 99, S. 374ff., 383 (29.1. 1987). 7 9 Ausnahmen ergeben sich aus § 3 III WoVermG, weitere Beschränkungen folgten bis zum 26.3. 2002 aus §§10-13 AVermV, nunmehr ersetzt durch die §§296ff. S G B III (Art.3 des Gesetzes zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat v. 23.3. 2002, B G B l I 2002, S. 1130ff.). 8 0 Dies sogar in A G B : B G H Z 99, S. 374ff., 383 (29.1. 1987). 81 So selbst Staudinger/Reuter, B G B , §§652, 653, Rn. 172f. 82 Daher gehen die Bemühungen von StaudingerARewier, B G B , §§ 652,653, Rn. 172f., insofern ins Leere. 83 H K - B G B / £ & e r t , §654, Rn. 1. 84 Staudinger/Reuter, B G B , §§652, 653, Rn.21; B G H N J W 1971, S.557f. (18.12. 1970); B G H W M 1986, S. 1438f. (2.7. 1986). 8 5 Staudinger/Reuter, B G B , §§652, 653, Rn. 173.
264
C. Pönale Elemente
der Privatrechtsordnung
unter dem
BGB
verantwortlich sein, da ein nicht existenter Hauptvertrag zwangsläufig nicht mit dem angestrebten gleichwertig sein kann, weshalb ein Aufwendungsersatzanspruch danach bei fehlendem Abschluss des Hauptvertrages immer und nicht nur unter den Voraussetzungen des § 6 5 4 B G B entfallen müsste. Dagegen lässt sich auch nicht einwenden, der Aufwendungsersatzanspruch würde von § 6 5 4 B G B ausgeschlossen, weil der Makler die Aufwendungen zu Gunsten eines nicht wirtschaftlich gleichwertigen Hauptvertrages erbracht habe: Ein Großteil der Unkosten des Maklers entsteht gewöhnlich zu einem Zeitpunkt, zu dem noch kein konkreter Hauptvertrag in Sicht ist, also auch ohne dass erkennbar wäre, ob sich die Aufwendungen auf einen wirtschaftlich gleich- oder ungleichwertigen Hauptvertrag beziehen. Zumindest für solche Vorabaufwendungen lässt sich die in § 6 5 4 B G B getroffene Regelung daher mit dem Begründungsansatz Reuters nicht rechtfertigen. Für den Wegfall des Aufwendungsersatzanspruchs nach § 6 5 4 B G B muss es demnach eine andere Erklärung als die Reuters geben. Zugleich erscheint es wenig plausibel, dass nach § 6 5 4 B G B der Provisions- und der Aufwendungsersatzanspruch unter gleichen Voraussetzungen, aber aus ganz unterschiedlichen Gründen entfallen sollen. Eine einheitliche Erklärung für beide Anspruchsausschlüsse vermag daher eher zu überzeugen. Dabei scheiden jedoch von vornherein alle Begründungsansätze aus, die zwingend das Fehlen eines Nutzens der Maklertätigkeit für den Auftraggeber voraussetzen oder lediglich eine Rückabwicklung des Maklervertrages erklären könnten, da beides nicht mit der Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite des § 654 B G B vereinbar wäre 8 6 . Damit verbleibt jedoch allein die auch im Übrigen plausible herrschende Auffassung, die § 6 5 4 B G B als einen Fall pönaler Anspruchsverwirkung behandelt: Zur bloßen Abschreckung vor pflichtwidrigem Verhalten mag es genügen, dem Makler widrigenfalls die Verwirkung seines Provisionsanspruchs anzudrohen. Soll der Makler aber darüber hinaus für seine Pflichtwidrigkeiten auch bestraft werden, macht es nicht nur Sinn, sondern erscheint es sogar geboten, ihm auch die Möglichkeit zu nehmen, seine Aufwendungen auf den Auftraggeber abzuwälzen. Er soll dann ja gerade einen Verlust erleiden, nicht nur keinen Gewinn in Gestalt der Provision erzielen. Somit verfolgt § 6 5 4 B G B eindeutig auch pönale Ziele. Dies allerdings nur in dem Sinne, dass es sich bei der Verwirkung der Makleransprüche um eine vom Gesetz für Maklerverträge zwingend vorgeschriebene Vertragsstrafe handelt, deren Vereinbarung die Parteien allenfalls vermeiden können, indem sie statt eines Maklervertrages i.S.d. §§652ff. B G B einen (Makler-)Dienst- oder (Makler-)Werkvertrag abschließen. Es ist daher durchaus konsequent, wenn die Rechtsprechung die Anwendbarkeit des vom Gedanken des Schadensausgleichs getragenen § 2 5 4 B G B im Rahmen
86 So bewertet etwa O. Werner §654 B G B als „gesetzlichen Fall des venire contra factum proprium": Erman/Werner, B G B , §654, R n . l ; ähnliche Vorstellungen klingen an bei: B G H W M 1983, S. 385ff., 386 (26.1. 1983). Eine Ubersicht über verschiedene derartige - meist aus §242 B G B hergeleitete - Minderheitsauffassungen findet sich bei: Staudinger/Reuter, B G B , §654, Rn.3.
II.
Regelungen
mit vorrangig
oder ausschließlich
pönaler
Zielsetzung
265
von § 6 5 4 B G B ablehnt 8 7 , den Makler aber andererseits für das Fehlverhalten seiner Angestellten über § 2 7 8 B G B haften lässt 88 : Die Verwirkung des Maklerlohns ist eben anders als die Verhängung einer Privatstrafe nicht mit einem auf einem Verstoß gegen die allgemeine Rechtsordnung gegründeten Unwerturteil über die Person des Maklers verbunden, sondern sanktioniert lediglich dessen vertragswidriges Verhalten 8 9 . Wegen dieses Vertragsstrafencharakters der Anspruchsverwirkung nach § 654 B G B bestehen auch keine Bedenken gegen die von der Rechtsprechung praktizierte Ausweitung des Anwendungsbereichs dieser Vorschrift, zumal die hohen Anforderungen an den Grad des Verschuldens des Maklers und die Herausbildung von Fallgruppen der für eine Analogie in Betracht kommenden Pflichtwidrigkeiten ein hinreichendes Maß von Rechtssicherheit gewährleisten. Allenfalls könnte erwogen werden, ob §654 B G B nicht einem an § 3 4 3 B G B angelehnten Kontrollmechanismus unterstellt werden sollte, um die Verhängung unverhältnismäßiger Sanktionen zu verhindern, etwa in dem Sinne, dass bei leichteren Pflichtwidrigkeiten nur ein Teil der Provision verwirkt würde. Da das Ausmaß der Sanktion aber ohnehin an die Höhe der Provision und damit eng an die Bedeutung des Geschäfts für den Auftraggeber geknüpft ist, erscheint auch dies zumindest nicht zwingend geboten. (2) Die Leistungsfreiheit des Versicherers bei Obliegenheitsverletzungen Das Privatversicherungsrecht wird, wie abgesehen von §254 B G B auch das Haftungsrecht, vom Alles-oder-Nichts-Prinzip beherrscht 9 0 . Tritt der Versicherungsfall ein, ist der Versicherer daher grundsätzlich entweder in vollem Umfang zur Leistung verpflichtet oder auf Grund besonderer Umstände vollständig von seiner Leistungspflicht befreit. Soweit die Leistungsfreiheit des Versicherers auf der grob schuldhaften Herbeiführung des Versicherungsfalls durch den Versicherungsnehmer beruht (wie v. a. nach §§ 6 1 , 1 5 2 W G ) , handelt es sich dabei nicht um eine gegen diesen verhängte Sanktion, sondern um einen Risikoausschluss: Das Risiko jedenfalls der vorsätzlichen - zum Teil auch der grob fahrlässigen - Verursachung des Versicherungsfalls soll im Interesse der Kalkulierbarkeit des Schadensrisikos, der 87 B G H Z 36, S. 323ff., 326 ( 5 . 2 . 1 9 6 2 ) ; ebenso MünchKommARoiÄ, B G B , §654, Rn. 15; a.A. [ggf. Wiederaufleben des Makleranspruchs]: R. Budde, Verwirkung, S. 898. 8 8 L G Köln M D R 1972, S. 326f. (17.2. 1971); M ü n c h K o m m / Ä o i i , B G B , § 654, Rn. 17 (der allerdings lediglich die generalpräventive Funktion des § 654 B G B , nicht auch dessen Sanktionsziel anerkennt, vgl. ebenda, Rn. 1); für die Inkonsequenz dieser Rechtsprechung dagegen: Staudinger/i?e«£er, B G B , § 6 5 4 , Rn. 12.
MünchKomm/ÄoiÄ, B G B , § 6 5 4 , Rn. 17. Vgl. hierzu statt aller: B G H VersR 1969, S.411ff., 412 (26.2. 1969); B K - B e c k m a n n , W G , § 6 1 , Rn. 5; Prölss/Martin-Pröfa, W G , § 6 , R n . 9 8 ; E. Bruck/H. Möller, W G , § 6 , Anm.21; umfassend zum versicherungsrechtlichen Alles-oder-Nichts-Prinzip und seinen Auswirkungen: A. Katzwinkel, Das Alles-oder-Nichts-Prinzip und soziale Sensibilität von Versicherungen, Reformüberlegungen zum Versicherungsvertragsgesetz, Diss. Köln 1993; E. Schwarz, Das Alles-oder-Nichts-Prinzip im Versicherungsrecht unter Berücksichtigung der Wertungen des allgemeinen Schadensrechts (1995); R. Fleischmann, Bemerkungen, S. 37ff.; vgl. daneben auch aus der neueren Lit.: M. Terbille, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 1 ff.; W. Römer, Alles-oder-Nichts-Prinzip?, S.259ff.; zur Kritik am Alles-oder-Nichts-Prinzip im Versicherungsrecht: O. Haidinger, Gerechtigkeitsmaxime, S. 200ff. 89
90
266
C. Pönale Elemente
der Privatrechtsordnung
unter dem
BGB
Senkung der mit der Versicherung einzelner Risiken verbundenen Kosten und der Vermeidung der Begünstigung einer Schadensentstehung durch das Vertrauen auf einen bestehenden Versicherungsschutz nicht auf den Versicherer und damit auf die Solidargemeinschaft der Versicherten abgewälzt werden können 9 1 . Der fehlende Pönalcharakter dieser Regelungen folgt in aller Regel bereits aus der fehlenden Rechtswidrigkeit des Verhaltens des Versicherungsnehmers: Sofern er dabei nicht mit dem Ziel des anschließenden Versicherungsmissbrauchs (§ 265 StGB) handelt, bleibt es dem Eigentümer eines Fahrzeugs auch dann unbenommen, dieses vorsätzlich zu beschädigen, wenn er hierfür eine Kaskoversicherung abgeschlossen hat 92 . N u r gehört der dadurch entstandene Schaden eben nicht zu den vom Versicherungsschutz erfassten Risiken, weshalb der Versicherungsnehmer auch nicht die zur Schadensbeseitigung erforderlichen Kosten vom Versicherer ersetzt verlangen kann. Härten, die sich durch das Alles-oder-Nichts-Prinzip auch hier ergeben können, z.B. bei der grob fahrlässigen Herbeiführung eines Verkehrsunfalls, werden von der Rechtsprechung durch strenge Maßstäbe bei der Annahme grober Fahrlässigkeit 93 und die anspruchserhaltende Berücksichtigung eines Augenblicksversagens 94 begrenzt 95 . Anders verhält es sich hingegen, wenn die Leistungsfreiheit des Versicherers auf der Verletzung solcher Obliegenheiten durch den Versicherungsnehmer beruht, die einer Erhöhung des subjektiven Risikos, der sog. Vertragsgefahr, entgegenwirken sollen (also z.B. auf der Missachtung von Informationspflichten im Umfeld des Versicherungsfalls) sowie bei Obliegenheitsverletzungen nach Eintritt des Versicherungsfalls 96 : In diesen Fällen hat sich zunächst das versicherte Risiko realisiert. 91 Allg. Meinung, vgl. nur: B G H Z 42, S.295ff. 300 (21.9. 1964); 11, S.120ff., 123 (25.11. 1953); B G H N J W 1971, S.459ff.,459; B G H VersR 1976, S.649ff. (14.4.1976); Prölss/Martin-Prö/ss, W G , §61, R n . l ; B K - B e c k m a n n , V V G , §61, Rn.2ff., 8; M. Terbille, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S . l ; K. Sieg, Verletzung, S.439. 92 Rechtswidrig würde der Versicherungsnehmer hier nur handeln, wenn er seine Versicherung über den Hintergrund der Schadensentstehung täuschen, also eine Fremdschädigung behaupten würde (§263 StGB). 93 Vgl. hierzu nur: B G H N J W - R R 1998, S. 1321f., 1322 (17.6.1998) m.w.N. zur st. Rspr.; B G H Z 7, 311 ff., 321 ff. (18.10. 1952); Prölss/Martin-Prö/ss, W G , §61, Rn.12 m.w.N.; zur analogen Anwendbarkeit von §827 B G B auf §§61, 152 W G : B G H Z 111, S.372ff., 374 (20.6. 1990); gegen die Zulässigkeit eines Anscheinsbeweises für den Nachweis der vorsätzlichen Herbeiführung des Versicherungsfalls: B G H Z 104, S. 256ff., 261 (4.5. 1988). 9 4 B G H VersR 1989, S. 582ff. (8.2.1989); B G H VersR 1989, S. 840f., 841 (5.4.1989), etwas zurückhaltender: B G H Z 119, S. 147ff. (8.7.1992). Näheres hierzu bei: B K - B e c k m a n n , W G , §61, Rn. 62ff.; W. Römer, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S.260; Prölss/Martin-Prö/ss, W G , §61, Rn. 12 m.w.N. 9 5 Zu einem darüber hinaus bestehenden Bedarf zur verfassungskonformen Einschränkung der Leistungsfreiheit des Versicherers zur Vermeidung von Verstößen gegen das Übermaß verbot: C.-W. Canaris, Verstöße, S. 1003 f. 9 6 So z.B. auf dem Unterlassen der nach §58 W G gebotenen Mitteilung einer Doppelversicherung oder auf einem Verstoß gegen die Anzeigepflicht nach §71 W G : B G H N J W 1971, S. 1891f., 1891 (28.4.1971); B G H N J W 1985, S.1563f. (23.1.1985); B G H VersR 1986, S.380f., 381 (5.3.1986); B G H Z 100, S. 60ff., 63f. (11.2.1987). Zahlreiche weitere Beispiele finden sich in den AVB der einzelnen Versicherungssparten; zu den Obliegenheiten des Versicherungsnehmers nach dem Versicherungsfall umfassend: J. Sackhoff, Anzeige-, Auskunfts- und Belegpflicht, S. 33ff., 57ff., 89ff.; Th.
II. Regelungen
mit vorrangig
oder ausschließlich
pönaler
Zielsetzung
267
Grundsätzlich lägen daher die Voraussetzungen f ü r einen Leistungsanspruch des Versicherungsnehmers vor. Allerdings hat er diesen durch sein Fehlverhalten nach § 6 1, III W G verwirkt. Die Ausgestaltung dieser Sanktion entspricht weitgehend der Ahndung treuwidrigen Maklerverhaltens nach § 6 5 4 BGB. Insbesondere ist f ü r den Eintritt des Rechtsverlusts zumindest bei vorsätzlichen Obliegenheitsverletzungen 9 7 unerheblich, ob diese kausal f ü r einen Schaden oder einen sonstigen Nachteil des Versicherers geworden ist 98 . Originäres Ziel dieser in § 6 W G getroffenen Regelung ist es nach einhelliger Auffassung, dem besonderen Bedürfnis des Versicherers und der Gemeinschaft der Versicherten nach einer Verhinderung grob schuldhafter Obliegenheitsverletzungen des Versicherungsnehmers Rechnung zu tragen 99 . Dieses beruht zum einen auf der ungünstigen Informationslage des Versicherers, der daher in vielerlei Hinsicht auf korrekte Angaben des Versicherungsnehmers angewiesen ist. Zum anderen sind v o r sätzliche Täuschungen des Vertragspartners gerade im Rahmen versicherungsvertraglicher Beziehungen derart leicht möglich, schwer aufzuklären und weit verbreitet, dass drastische Abschreckungsmaßnahmen erforderlich sind, um die Versicherer und damit mittelbar auch alle Versicherten v o r erheblichen Vermögenseinbußen zu schützen 1 0 0 . Zugleich w u r d e mit § 6 W G aber nur acht Jahre nach Inkrafttreten des B G B auch eine N o r m geschaffen, deren Strafcharakter trotz der 1939 eingeführten Begrenzung seines Anwendungsbereichs 1 0 1 bis heute allgemein anerkannt ist: Nach
Honseil, Schutz, S. 112ff.; zu Obliegenheiten in der Rechtsschutzversicherung: G. Kühborth, Obliegenheiten, S. 130ff. Näheres zur Abgrenzung der auf die Vertragsgefahr bezogenen von sonstigen versicherungsrechtlichen Obliegenheiten bei: Prölss/Martin-Prö'/ss, W G , §6, Rn.95; Römer, in: Römer/Langheid, W G , §6, Rn.28ff., 34ff. 97 Bei lediglich grob fahrlässigen Obliegenheitsverletzungen wird das Alles-oder-Nichts-Prinzip insoweit seit 1939 durch §6 III 2 W G eingeschränkt. 98 Allg. Ansicht, vgl. nur: BGH NJW 1977, S.533ff., 534 (22.12. 1976); Römer, in: Römer/Langheid, W G , §6, Rn.29; Prölss/Martin-Prö'/ss, W G , §6, Rn.95. 99 BGHZ 44, S.lff., 7ff. (6.5. 1965); BGH NJW 1969, S.1385ff., 1386 (5.5. 1969); BGH NJW 1977, S.533ff., 534 (22.12. 1976); BGHZ 84, S.84ff., 88 (21.4. 1982); BGHZ 100, S.60ff., 64 (11.2. 1987); BGHZ 119, S.276ff., 281 (30.9. 1992); BGH VersR 2000, S.222f., 223 (1.12. 1999); Prölss/ Martin-Prölss, W G , §6, Rn.99; BK-Schwintowski, W G , §6, Rn.4, 119; E. Schwarz, Alles-oderNichts-Prinzip, S.90ff. 100 BGH NJW 1969, S.1384f., 1385 (30.4. 1969); BGH VersR 1972, S.363ff., 364 (9.2. 1972); G. Baumgärtel/J. Prölss, Handbuch, §6 W G , Rn.2; Prölss/Martin-Prö&i, W G , §6, Rn.98; R. Raiser, Versicherungsnehmer, S. 271; O. Haidinger, Gerechtigkeitsmaxime, S. 201. In diesem Sinne auch schon die Motive zu §6 W G : „das Interesse aller Beteiligten verlangt, daß behufs Aufrechterhaltung eines ordnungsmäßigen Geschäftsbetriebs der Versicherungsnehmer in nachdrücklicher Weise dazu angehalten wird, seinen Obliegenheiten gegenüber dem Versicherer gewissenhaft nachzukommen" (S. 80). 101 Art. 3 Nr. 1 des Gesetzes über die Einführung der Pflichtversicherung für Kraftfahrzeughalter und zur Änderung des Gesetzes über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen sowie des Gesetzes über den Versicherungsvertrag vom 7.11. 1939 (RGBl 1 1939, S. 2223ff.); zu dieser Änderung (v.a. Einfügung der Notwendigkeit einer Kausalität zwischen Obliegenheitsverletzung und Versicherungsfall in den Fällen des §6 II W G n.E) vgl.: E. Schwarz, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 10ff.;/. Sackhoff, Anzeige-, Auskunfts- und Belegpflicht, S. 191.
268
C. Pönale Elemente der Privatrechtsordnung
unter dem
BGB
ständiger, a u c h in der L i t e r a t u r n a h e z u u n a n g e f o c h t e n e r 1 0 2 R e c h t s p r e c h u n g handelt es sich u m eine „ S t r a f b e s t i m m u n g v o n a u ß e r o r d e n t l i c h e r S c h ä r f e " 1 0 3 , o f t u m die „ e i n s c h n e i d e n d s t e S a n k t i o n ..., die den U m s t ä n d e n n a c h ü b e r h a u p t d e n k b a r i s t " 1 0 4 , eine „aus A b s c h r e c k u n g s g r ü n d e n in die A l l g e m e i n e n
Versicherungsbedingungen
a u f g e n o m m e n e S t r a f s a n k t i o n " 1 0 5 , deren K o n s e q u e n z e n f ü r den b e t r o f f e n e n V e r s i c h e r u n g s n e h m e r „ m e i s t e n s w e s e n t l i c h e i n s c h n e i d e n d e r [sind] als die einer K r i m i n a l strafe"106. T r o t z der s t a r k e n B e t o n u n g der p ö n a l e n R e c h t s n a t u r der L e i s t u n g s f r e i h e i t des V e r s i c h e r e r s stellt diese a b e r „eine d e m P r i v a t r e c h t a n g e h ö r e n d e S a n k t i o n ..., die w e gen der V e r s c h i e d e n a r t i g k e i t der Z w e c k e m i t d e n i m S t G B n o r m i e r t e n K r i m i n a l s t r a f e n n i c h t v e r g l e i c h b a r i s t " 1 0 7 , dar. D i e s f o l g t s c h o n aus der - w e n n a u c h n u r in e n g e n G r e n z e n - g e g e b e n e n M ö g l i c h k e i t , d e m V e r s i c h e r u n g s n e h m e r ein F e h l v e r h a l t e n D r i t t e r z u z u r e c h n e n 1 0 8 . D a r ü b e r hinaus fehlt es der A n s p r u c h s v e r w i r k u n g n a c h § 6 W G
a b e r a u c h an der f ü r die K r i m i n a l s t r a f e t y p i s c h e n s t i g m a t i s i e r e n d e n W i r k u n g ,
d e m U n w e r t u r t e i l der A l l g e m e i n h e i t 1 0 9 : D e r V e r s i c h e r u n g s n e h m e r w i r d z w a r für seine O b l i e g e n h e i t s v e r l e t z u n g bestraft, a b e r e b e n n u r im I n t e r e s s e der a b s c h r e c k e n den W i r k u n g d e r in § 6 W G g e t r o f f e n e n R e g e l u n g , also allein m i t präventiver, n i c h t
102 Vgl. nur etwa A. Katzwinkel, Alles-oder-Nichts-Pronzip, S. 41; E. Schwarz, Alles-oderNichts-Prinzip, S. 89, 109, 113 („versicherungsrechtliche Strafe"), 293 („zivilrechtlicher Straftatbestand"); R. Fischer, Treu und Glauben, S. 202; R. Raiser, Versicherungsnehmer, S. 268f.; O. Haidinger, Gerechtigkeitsmaxime, S.201; U. Hübner, Differenzierung, S. 990; M. Terbille, Alles-oderNichts-Prinzip, S. 5; H. Kramer, Leistungsfreiheit, S. 1974ff. (S. 1975: „Strafcharakter wird nicht mehr bezweifelt", S. 1976: „in eine versicherungstechnische Maßnahme eingekleidete[...] Privatstrafe"); einschränkend: HK-Schwintowski, W G , §6, Rn. 6, nach dem die Rspr. das ,,pönale[...] Element in §6 zugunsten des privatrechtlichen Funktionsbezuges zurückgedrängt" hat; noch weitergehend (nur die begrenzte Leistungsfreiheit nach § 7 AKB als vertragsstrafenähnlich anerkennend): L. Raiser, Entwicklungslinien, S.386; und v.a. K. Sieg, Verletzung, S.447. 103 B G H Z 100, S.60ff., 63 (11.2. 1987); ähnlich bereits B G H N J W 1969, S.1385ff., 1386 (5.5. 1969): „zivilrechtliche Strafbestimmung von außerordentlicher Schärfe"; B G H VersR 1978, S. 74ff., 77 (9.11. 1977): „häufig eine unverhältnismäßig harte Strafe"; zahlreiche Nachweise zum Pönalcharakter der Leistungsfreiheit des Versicherers in: B G H N J W 1977, S.533ff., 534 (22.12. 1976). 104 B G H Z 79, S. 6ff., 11 (13.11. 1980); B G H VersR 1996, S.835ff., 836(19.9. 1995). 105 B G H N J W 1969, S.1384f., 1385 (30.4. 1969); ähnlich B G H VersR 1972, S.363ff., 364 (9.2. 1972): „ausschließlich Gesichtspunkte einer generalpräventiven Abschreckung". 106 B G H NJW 1969, S.1384f., 1385 (30.4. 1969); ähnlich B G H Z 53, S.160ff., 165 (16.1. 1970): „Sanktion ... deren Auswirkung auf den Betroffenen vielfach weit härter ist als die einer Kriminalstrafe". 107 B G H N J W 1977, S. 533ff., 534 (22.12.1976); ähnlich: E. Schwarz, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S.58ff.; K. Sieg, Verletzung, S.449. 108 Wenn auch nicht im Sinne einer Haftung für Erfüllungs- oder Verrichtungsgehilfen, sondern allenfalls einer Zurechnung des Verhaltens von Repräsentanten oder Wissens(erklärungs)vertretern, vgl. hierzu statt aller: B G H NJW 1969, S. 1387f., 1388 (20.5. 1969); B G H VersR 1993, S.830ff., 831 (21.4.1993); B G H VersR 1999, S. 1004ff., 1006 (10.2. 1999) m.w.N.; E. Bruck/H. Möller, W G , §6, Anm. 73 ff., 84ff., 92ff.; Prölss/Martin-Pröfe, W G , §6, Rn.52ff.; BK-Schwintowski, W G , §6, 206ff., 237ff.; Römer, in: Römer/Langheid, W G , §6, Rn.50, 114ff.; G. Liening, Obliegenheiten, S.47ff.; M. Terbille, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S.2 m.w.N. 109 R. Raiser, Versicherungsnehmer, S. 270; E. Schwarz, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 59f.
II. Regelungen
mit vorrangig oder ausschließlich pönaler Zielsetzung
269
m i t repressiver Z i e l s e t z u n g 1 1 0 . L e t z t l i c h k a n n die L e i s t u n g s f r e i h e i t des V e r s i c h e r e r s d a h e r n o c h a m e h e s t e n als S o n d e r f a l l der V e r t r a g s s t r a f e g e m ä ß § § 3 3 9 f f . B G B c h a rakterisiert w e r d e n 1 1 1 , w e g e n der f e h l e n d e n P f l i c h t des V e r s i c h e r u n g s n e h m e r s z u r E r f ü l l u n g der O b l i e g e n h e i t e n 1 1 2 in G e s t a l t eines s e l b s t ä n d i g e n S t r a f v e r s p r e c h e n s . D e n n o c h u n t e r s c h e i d e t sich die in § 6 W G drei
wesentlichen
Punkten
grundlegend
v o r g e s e h e n e S a n k t i o n in m i n d e s t e n s von
der
allgemeinen
Vertragsstrafe
( § § 3 3 9 f f . B G B ) u n d d e r V e r w i r k u n g des M a k l e r l o h n s ( § 6 5 4 B G B ) : Z u m einen fehlt es bei der L e i s t u n g s f r e i h e i t des V e r s i c h e r e r s g r u n d s ä t z l i c h 1 1 3 an j e d e m K o r r e k t i v z u r G e w ä h r l e i s t u n g einer V e r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t z w i s c h e n d e m F e h l v e r h a l t e n des V e r s i c h e r u n g s n e h m e r s u n d d e r H ö h e des v e r w i r k t e n A n s p r u c h s . W e d e r ist § 3 4 3 B G B auf § 6 W G d i r e k t o d e r a u c h n u r analog a n w e n d b a r 1 1 4 , n o c h e r g i b t sich eine O b e r g r e n z e f ü r die L e i s t u n g s f r e i h e i t w i e b e i m M a k l e r v e r t r a g aus der N a t u r der S a c h e ( d e m W e r t des H a u p t v e r t r a g e s , den der M a k l e r v e r m i t t e l t b z w . n a c h g e w i e s e n hat). V i e l m e h r ist die H ö h e des A n s p r u c h s , den der V e r s i c h e r u n g s n e h m e r auf G r u n d seiner O b l i e g e n h e i t s v e r l e t z u n g verliert, f ü r diesen häufig z u m Z e i t p u n k t der V e r l e t z u n g s h a n d l u n g , d e r J a h r e v o r d e m V e r s i c h e r u n g s f a l l liegen k a n n 1 1 5 , gar n i c h t absehbar. I n s b e s o n d e r e ist sie a u c h völlig u n a b h ä n g i g v o n der H ö h e der V e r s i c h e r u n g s p r ä m i e . J e n a c h V e r s i c h e r u n g s s p a r t e k a n n d a h e r jedenfalls n a c h d e m W o r t l a u t v o n § 6
W G
110 B G H N J W 1977, S.533ff., 534f. (22.12. 1976) m.w.N. („Abschreckungsstrafe"); R. Raiser, Versicherungsnehmer, 271; Prölss/Martin-/Vd7ss, W G , §6, Rn.98ff. 111 In diesem Sinne („Strafsanktion, die in ihrer rechtlichen Eigenart einer Vertragsstrafe zumindest nahekommt") auch schon: B G H NJW 1969, S. 1384f., 1385 (30.4. 1969); vgl. auch B G H NJW 1977, S. 533ff., 534 (22.12. 1976), m.w.N. zur Einordnung der Leistungsfreiheit als „versicherungsrechtliche Vertragsstrafe"; zust. M. Terbille, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 5; umfassend und mit ähnlichem Ergebnis („Verfallklausel, auf die das Vertragsstrafenrecht des B G B anwendbar ist"): G. Liening, Obliegenheiten, S. 96ff.; E. Schwarz, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S.60ff.; die Angemessenheit einer Einordnung als Vertragsstrafe offenlassend: Prölss/Martin-Prö/ss, W G , §6, Rn. 87. 112 So die h.M., zur - heftig umstr. - Frage der Rechtsnatur von Obliegenheiten vgl. nur (jeweils m.w.N.): E. Bruck/H. Möller, W G , §6, Anm.5ff.; Prölss/Martin-Pröfo, W G , §6, Rn.30ff.; Römer, in: Römer/Langheid, W G , §6, Rn. 2; BK-Schwintowski, W G , §6, Rn. 17ff.; G. Liening, Obliegenheiten, S. 6 ff.;/. Sackhoff, Anzeige-, Auskunfts- und Belegpflicht, S. 107ff.; R. Schmidt, Obliegenheiten, S. 105ff. 113 Eine Ausnahme bildet insofern die Kfz-Haftpflichtversicherung, bei der seit 1975 (zu den Gründen für die Änderung vgl. B G H N J W 1977, S.533ff., 534, Urt. vom 22.12. 1976; B G H Z 84, S.84ff., 87ff., Urt. vom 21.4. 1982; W. Römer, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S.260) die Leistungsfreiheit des Versicherers begrenzt ist, z.Zt. gemäß §7 V.2. AKB i.V.m. §6 K f z P f l W auf 1.000 bis 5.000 € . 1 , 4 So v.a. mit Rücksicht auf die in §6 W G enthaltene speziellere Regelung: B G H N J W 1969, S. 1384f., 1385 (30.4. 1969); B G H VersR 1972, S. 363ff., 364 (9.2.1972); Prölss/Martin-Pröfo, W G , §6, Rn. 87,102; E. Schwarz, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 64ff.; dementsprechend gingen bereits die Motive zu § 6 W G von einer Heranziehung von § 343 B G B nur aus, soweit die Versicherungsbedingungen neben der Sanktion des § 6 W G noch eine zusätzliche Vertragsstrafe zu Lasten des Versicherungsnehmers vorsahen, vgl. Motive W G , S. 82; offengelassen wurde die Anwendbarkeit von § 343 B G B demgegenüber von: B G H NJW 1977, S.533ff., 534 (22.12. 1976); für die Einführung einer §343 B G B entsprechenden Norm im Anwendungsbereich von §6 W G : M. Terbille, Alles-oderNichts-Prinzip, S. 4; für die Anwendbarkeit von §343 B G B bereits nach geltendem Recht: G. Liening, Obliegenheiten, S. 96ff., 112. 115 Ein Beispielsfall hierfür ist B G H VersR 1996, S.835ff. (19.9. 1995).
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schon ein unbedeutendes, für den Versicherer folgenlos gebliebenes Fehlverhalten für den Versicherungsnehmer existenzbedrohende Konsequenzen auslösen 1 1 6 . Zweitens fehlt es beim Versicherungsvertrag zum Teil an der Freiwilligkeit bei der Unterwerfung unter die „Vertragsstrafenklausel": Wer keinen Maklervertrag unter Inkaufnahme des § 6 5 4 B G B schließen will, kann auf einen (Makler-)Dienst- oder Werkvertrag ausweichen oder ganz davon absehen, sich eines Maklers zu bedienen. Bei sonstigen Verträgen bleibt es zumindest theoretisch dem Verhandlungsgeschick des Einzelnen überlassen, mit welcher Vertragsstrafe er sich, wenn überhaupt, abfindet. Auf den Abschluss bestimmter Versicherungsverträge hingegen darf man entweder nicht verzichten (z.B. Kfz-Haftpflicht) oder riskiert unabsehbare existenzgefährdende Vermögenseinbußen, wenn man dies unterlässt (z.B. private Haftpflichtversicherung, Krankentagegeldversicherung für Selbständige) 117 . Schließlich unterscheiden sich Versicherungsverträge von sonstigen Verträgen mit Vertragsstrafenabreden auch noch dadurch, dass Versicherungsverträge gerade zu dem Zweck geschlossen werden, den Versicherungsnehmer vor unwägbaren Vermögenseinbußen zu schützen. Genau dies wird aber vereitelt, wenn die vermeintlich vom Versicherungsnehmer durch seine Prämienzahlung erkaufte Sicherheit schon durch ein unerhebliches, vom Versicherungsfall unabhängiges Fehlverhalten (z.B. der unterlassenen Angabe einer bereits bestehenden - gleichartigen - Versicherung bei Vertragsschluss, etwa bei der Krankentagegeldversicherung 1 1 8 ) zerstört wird, ohne dass es hierfür auch nur einer individualvertraglichen Vereinbarung zwischen den Parteien bedürfte 1 1 9 . Erschwerend kommt hinzu, dass es insbesondere bei den Kfz-Versicherungen zu einer Kollision der Anzeigeobliegenheiten des Versicherungsnehmers mit seinen Aussageverweigerungsrechten in dem in der gleichen Sache gegen ihn betriebenen Strafverfahren kommen kann 1 2 0 . In Anbetracht dieser Besonderheiten der ,,zivilrechtliche[n] Strafbestimmung" 1 2 1 des § 6 W G ist es erstaunlich, dass diese kaum grundsätzlicher Kritik ausgesetzt ist, sondern allgemein als im Prinzip adäquate Regelung akzeptiert wird 1 2 2 : D a im Woh116 Ähnlich bereits B G H N J W 1969, S. 1384f., 1385 (30.4. 1969); B G H VersR 1972, S.363ff., 364 (9.2.1972); B G H Z 100, S. 60ff., 63ff. (11.2.1987); vgl. auch: K. Dinslage, Beweislast, S. 1756; H. Kramer, Leistungsfreiheit, S. 1975 ff. 117 B G H N J W 1969, S.1384f., 1385 (30.4. 1969); B G H VersR 1972, S.363ff., 364 (9.2. 1972); B G H Z 79, S.6ff., 11 f. (13.11. 1980); B G H VersR 1996, S.835ff., 836(19.9. 1995); ähnlich auch: U. Hübner, Differenzierung, S. 991 ff. 1 1 8 Weitere Beispiele aus dem Bereich der Kaskoversicherung bei: W. Römer, Alles-oder-NichtsPrinzip, S.260f. 119 B G H VersR 1972, S.363ff., 364 (9.2. 1972); B G H VersR 1996, S.835ff., 836 (19.9. 1995); M. Terhille, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S.4. 120 Hierzu vgl.: Prölss/Martm-Knappmann, W G , § 7 A K B , Rn. 9ff.; R. Fischer, Treu und Glauben, S.201. 121 B G H N J W 1969, S.1385ff., 1386 (5.5. 1969). 122 Vgl. nur etwa: B G H Z 119, S.276ff., 281 (30.9. 1992); Prölss/Martin-Prö/ss, W G , §6, Rn.98 („Die darin liegende Härte ist grds. gerechtfertigt"); E. Schwarz, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 109 („scharfe Sanktion wie das Alles-oder-Nichts-Prinzip, das pönale Funktion hat, ausnahmsweise gerechtfertigt"); Th. Honsell, Schutz, S. 117; R. Raiser, Versicherungsnehmer, S.271; trotz aller Änderungswünsche letztlich auch: W. Römer, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 261 f.; grds. ablehnend dage-
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nungsmietrecht mit Rücksicht auf das regelmäßig bestehende Kräftegefälle zwischen den Parteien Vertragsstrafen generell verboten sind (§ 555 B G B ) und deren Zulässigkeit aus ähnlichen Gründen im Arbeitsrecht jedenfalls umstritten ist 123 , hätte es nahegelegen, mindestens die wichtigsten „Jedermannversicherungen", die der Absicherung existentieller Risiken dienen, von der Rechtsfolge der Leistungsfreiheit des Versicherers auszunehmen und die Versicherer insofern auf Ansprüche aus positiver Forderungsverletzung (jetzt §§280ff. B G B ) zu verweisen. Stattdessen beschränken sich die zahlreichen Vorschläge zur Reform des § 6 W G jedoch nahezu ausnahmslos auf die Entwicklung verschiedener Modelle zur Abmilderung des Alles-oder-Nichts-Prinzips 1 2 4 . Für die Abstufung der Leistungsfreiheit wird dabei zum Teil auf die Versicherungssparte und damit auf die Bedeutung des Versicherungsschutzes für den Versicherungsnehmer abgestellt 125 , von anderen aber auch auf die Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers 126 , die Vermögensverhältnisse 127 oder auf das Ausmaß der von diesem auf Grund seiner Gruppenzugehörigkeit zu erwartenden Sachkunde und Schutzbedürftigkeit 128 . Die Aufrechterhaltung des Alles-oder-Nichts-Prinzips im Deliktsrecht stünde einer solchen Modifizierung von § 6 W G nicht entgegen, da dieser ja nicht auf die Ersetzung eines Schadens gerichtet ist, sondern im Gegensatz hierzu allein die Beachtung der vertraglichen O b liegenheiten durch den Versicherungsnehmer erzwingen soll 129 . Auch an diesen Reformplänen zeigt sich jedenfalls, dass - anders als bei anderen (auch) pönalen Entschädigungspflichten - im Versicherungsrecht offenbar nie Bedenken gegen die Einräumung eines weiten richterlichen Ermessensspielraums zur Ermittlung der jeweils angemessenen Strafhöhe bestanden hat 130 . Ungeachtet der bislang ausgebliebenen Beschränkung von § 6 W G durch den Gesetzgeber hat sich die Rechtsprechung bereits frühzeitig bemüht, die Konsequenz der Anspruchsverwirkung des Versicherungsnehmers wenigstens in besonders kras-
gen: O. Haidinger, Gerechtigkeitsmaxime, S. 200ff.; ohne speziellen Bezug auf § 6 W G generell gegen jede Möglichkeit zur Rechtsverwirkung: A. Arndt, Betriebs-„Justiz", S.28. 123 Dazu ausführlicher unten, C.II.l.c) bb) (3) (b). 124 Ein umfassender Uberblick über die Kritik an § 6 W G und die dazu entwickelten Modifizierungsmodelle bei: A. Katzwinkel, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 3ff., 70ff., 90ff.;/. Sackhoff, Anzeige-, Auskunfts- und Belegpflicht, S. 245ff.; typisch etwa: R. Raiser, Versicherungsnehmer, S. 273 (für Teilverwirkung von 2 5 - 5 0 % ) ; H. Kramer, Leistungsfreiheit, S. 1975ff. (für gerichtliche Uberprüfbarkeit des Ausmaßes der Leistungsfreiheit in Anlehnung an §343 BGB); Prölss/Martin-Prö/ss, W G , § 6, Rn. 103 (für Teilverwirkung); krit. zur deutschen Rechtslage im Vergleich zur österreichischen in neuester Zeit: M. Terbille, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 5ff. 125 So etwa: U. Hübner, Alles-oder-Nichts-Prinzip, Differenzierung, S. 991 ff.; A. Katzwinkel, S. 85, 130ff. 126 H. Kramer, Leistungsfreiheit, S. 1976; ebenso, nicht zuletzt nach dem Vorbild des schweizerischen W G : W. Römer, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 261; A. Katzwinkel, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 85ff. 127 H. Kramer, Leistungsfreiheit, S. 1977. 128 U. Hübner, Differenzierung, S. 991. 129 R. Raiser, Versicherungsnehmer, S.269, 271; M. Terbille, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S.5. 130 Besonders weitgehend insofern etwa: H. Kramer, Leistungsfreiheit, S. 1978f.
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unter dem
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sen H ä r t e f ä l l e n z u v e r m e i d e n 1 3 1 , diese als Strafe a n e r k a n n t e M a ß n a h m e also einer ger i c h t l i c h e n U b e r p r ü f u n g z u u n t e r z i e h e n 1 3 2 . N e b e n der B i n d u n g der L e i s t u n g s f r e i heit des V e r s i c h e r e r s an die W a h r u n g u m f a s s e n d e r B e l e h r u n g s p f l i c h t e n g e g e n ü b e r d e m V e r s i c h e r u n g s n e h m e r ü b e r die m ö g l i c h e n R e c h t s f o l g e n v o n O b l i e g e n h e i t s v e r l e t z u n g e n 1 3 3 s o w i e gesteigerten A n f o r d e r u n g e n an die B e w e i s l a s t des V e r s i c h e r e r s 1 3 4 u n d das für die A n n a h m e g r o b e r F a h r l ä s s i g k e i t e r f o r d e r l i c h e A u s m a ß der S o r g f a l t s p f l i c h t v e r l e t z u n g des V e r s i c h e r u n g s n e h m e r s 1 3 5 zielte dabei in den l e t z t e n vierzig J a h r e n i n s b e s o n d e r e die sog. R e l e v a n z r e c h t s p r e c h u n g des B G H 1 3 6 auf eine A b m i l 131 So etwa bereits R G Z 150, S.147ff., 149ff. (30.5. 1908): Möglichkeit des Verstoßes der Berufung auf die vollständige Leistungsfreiheit gegen §242 BGB, wenn der Versicherungsnehmer durch den „Verlust der gesamten Entschädigungsansprüche seine ganze Daseinsmöglichkeit verlieren würde" (S. 151); ähnlich noch: B G H N J W 1971, S. 1891f., 1892 (28.4. 1971); zu diesen frühen Korrekturversuchen: E. Schwarz, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 164ff.; R. Fischer, Treu und Glauben, S. 202; in diesem Sinne sogar bei arglistiger Täuschung des Versicherers durch den Versicherungsnehmer: B G H Z 40, S.387ff. (28.11. 1963) zu §16 AFB. 132 Zu weitgehend daher die Kritik von H. Kramer, Leistungsfreiheit, S. 1978, wonach es sich bei der Leistungsfreiheit des Versicherers um eine „private Strafgewalt... [handle], deren innerhalb eines dem Zufall überlassenen Strafrahmens verhängten Strafen jeder gerichtlichen Kontrolle entzogen" seien. 133 St. Rspr., vgl. nur: B G H Z 47, S. 101 ff. (16.2.1967); B G H Z 48, S. 7ff., 9 (8.5.1967); 79, S. 6ff., 9 (13.11. 1980); Näheres hierzu m.w.N.bei: P. Sohn, Belehrungserfordernis, S. 1481 f.; W. Römer, Informationspflichten, S. 1316; ders., Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 260; Th. Honseil, Schutz, S. 116; E. Schwarz, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 121 ff.; K. Sieg, Relevanzrechtsprechung, S. 2280;/. Sackhoff, Anzeige-, Auskunfts- und Belegpflicht, S.253ff.; BK-Schwintowski, W G , §6, Rn. 166, 182ff.; Römer, in: Römer/Langheid, W G , §6, Rn. 44ff.; für die Unerheblichkeit einer fehlenden Belehrung bei vorsätzlicher Falschauskunft über das Bestehen einer Doppelversicherung dagegen: B G H VersR 1981, S.625f., 626 (19.3. 1981). 134 So v.a. im Zusammenhang mit der Unfallflucht eines Autofahrers und der Frage nach der Zulässigkeit einer Verschuldensvermutung, vgl. B G H N J W 1969, S. 1384f. (30.4. 1969); deutlich stärker am Gesetzeswortlaut orientiert dagegen in neuerer Zeit: B G H VersR 1983, S.674f., 675 (13.4. 1983); B G H Z VersR 2000, S. 222f., 223 (1.12.1999); ähnliche Ziele verfolgen aber auch die Beweiserleichterungen für den Versicherungsnehmer z.B. beim Kfz-Diebstahl: W. Römer, Alles-oderNichts-Prinzip, S.260; E. Schwarz, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 147ff.; K. Dinslage, Beweislast, S. 1757, jeweils mit zahlreichen Nachweisen zur Judikatur. 135 Typisch hierfür: B G H VersR 1999, S. 1004ff. (10.2. 1999) m. Anm. E. Lorenz (S. 1006); vgl. hierzu auch: W. Römer, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S.260. 136 Diese wurde zunächst für die Kfz-Haftpflicht- und Kaskoversicherung zu § 7 AKB a.F. entwickelt: B G H N J W 1969, S.1384f., 1385 (30.4. 1969); B G H NJW 1969, 1385ff., 1386 (5.5. 1969); B G H Z 53, S. 160ff., 164 (16.1. 1970); B G H VersR 1972, S.363ff., 364 (9.2.1972); B G H VersR 1975, S.752f., 753 (28.5. 1975); B G H VersR 1976, S.849f., 850 (19.5. 1976); zur trotz der zum 1.1. 1975 eingeführten Grenzen der Leistungsfreiheit in §7 AKB n.F. fortbestehenden Anwendbarkeit der Relevanzrechtsprechung auf die danach noch mögliche Teilleistungsfreiheit des Versicherers: B G H Z 84, S. 84ff., 88f. (21.4.1982); B G H VersR 1984, S. 228f., 228 (7.12. 1983); O L G Hamm Blutalkohol 37 (2000), S. 518f., 519 (2.8. 1999), mit abl. Anm. von 5. Littbarski, S. 519f. (Relevanzrechtsprechung lässt „Aufklärungsobliegenheiten des Versicherungsnehmers bei Lichte betrachtet mangels entsprechender Sanktion zur Farce werden"); gegen eine Übertragung auf Kaskoversicherungen: O. Kääb, Beweisfragen, S. 6; zur Rechtfertigung der richterlichen Korrektur der (vollständigen oder beschränkten) Leistungsfreiheit mit dem „ordre public in der Ausformung des Verhältnismäßigkeitsprinzips" dagegen: K. Sieg, Relevanzrechtsprechung, S. 2281, Fn. 9; zur Übertragung der Relevanzrechtsprechung auf andere Versicherungszweige vgl.: B G H Z 79, S.6ff., 9ff. (13.11. 1980) Krankentagegeldversicherung; B G H VersR 1996, S. 835ff., 836 (19.9.1995) - Krankentagegeldversi-
II. Regelungen
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Zielsetzung
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d e r u n g d e r h a r t e n R e c h t s f o l g e des § 6 W G : D a n a c h ist es d e m V e r s i c h e r e r n a c h T r e u und G l a u b e n und mit R ü c k s i c h t auf den sozialen S c h u t z z w e c k der Versicherung v e r w e h r t , s i c h a u f s e i n e L e i s t u n g s f r e i h e i t z u b e r u f e n , w e n n die O b l i e g e n h e i t s v e r l e t zung seine Interessen w e d e r beeinträchtigt hat n o c h ihrer A r t nach zu einer solchen B e e i n t r ä c h t i g u n g ü b e r h a u p t o b j e k t i v in d e r L a g e g e w e s e n w ä r e 1 3 7 o d e r w e n n b e i b l o ß e r ( w e n n a u c h g r o b e r ) F a h r l ä s s i g k e i t des V e r s i c h e r u n g s n e h m e r s die O b l i e g e n heitsverletzung nach § 6 1 W G
o h n e E i n f l u s s a u f die L e i s t u n g des V e r s i c h e r e r s
blieb138. D i e s e r B e w e r t u n g w u r d e mittlerweile z u m Teil auch s c h o n der W o r t l a u t der Allgemeinen Versicherungsbedingungen angepasst139. N u r vereinzelt knüpfte der B G H d a g e g e n die L e i s t u n g s f r e i h e i t des V e r s i c h e r e r s b i s l a n g an e i n e e c h t e V e r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t s p r ü f u n g , b e i d e r die B e e i n t r ä c h t i g u n g d e r I n t e r e s s e n des V e r s i c h e r e r s d e m V e r s c h u l d e n s u m f a n g des V e r s i c h e r u n g s n e h m e r s u n d d e n A u s w i r k u n g e n e i n e s E n t z u g s der Versicherungsleistung auf diesen gegenübergestellt wurden140. Meist s i e h t s i c h die R e c h t s p r e c h u n g v i e l m e h r n a c h w i e v o r an w e i t e r g e h e n d e n E i n s c h r ä n k u n g e n d e r L e i s t u n g s f r e i h e i t , i n s b e s o n d e r e a b e r a u c h an d e r A u s b i l d u n g eines a b g e stuften Sanktionenkatalogs, durch den eindeutigen Wortlaut dieser Vorschrift gehin-
cherung; B G H VersR 1978, S.74ff., 77 (9.11. 1977) - Feuerversicherung; B G H Z 100, S.60 63ff., 478f. (11.2. 1987) - Feuerversicherung; B G H VersR 1982, S. 182ff., 183 (24.6. 1981) - Unfallversicherung; B G H VersR 1984, S.454ff. (8.2. 1984), B G H VersR 1986, S.380f., 381 (5.3. 1986); B G H VersR 1977, S. 1021 f. (Urt. vom 13.7. 1977 zur Hausratsversicherung; mittlerweile weitgehend gegenstandslos wegen der Aufnahme dieser Grundsätze in §21 Nr. 4 V H B 1984, vgl. dazu B G H VersR 1993, S. 830ff., 831 f., Urt. vom 21.4. 1993). Weitere Nachweise zur Relevanzrechtsprechung bei: K. Dresenkamp, Versicherungsrecht, S.235f.; U. Hühner, Differenzierung, S.991; W. Römer, Allesoder-Nichts-Prinzip, S.260;/. Sackhoff., Anzeige-, Auskunfts- und Belegpflicht, S.192ff.; Prölss/ Martin-Pröfe, W G , §6, Rn. 101; BK-Schwintowski, W G , §6, Rn. 163 ff.; Römer, in: Römer/Langheid, W G , §6, Rn.32, 39ff.; E. Schwarz, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 160ff. 137 B G H N J W 1 9 6 9 , S. 1385ff., 1386 (5.5.1969); B G H VersR 1972, S. 363ff., 364 (9.2.1972); B G H VersR 1976, S. 849f., 850 (19.5.1976); B G H Z 79, S.6ff., 9ff. (13.11.1980); B G H VersR 1984, S.228f., 228 (7.12.1983); B G H VersR 1996, S. 835ff., 836 (19.9.1995); zust. G. Baumgärtel/J. Prölss, Handbuch, §6 W G , Rn. 12. 138 B G H Z 79, S. 6ff., 9 (13.11.1980); sehr weitgehend auch schon: B G H Z 53, S. 160ff., 164 (16.1. 1970). 139 So für die Hausratsversicherung in §21 Nr.4 A H B 1984 („Hatte eine vorsätzliche Obliegenheitsverletzung Einfluß weder auf die Feststellung des Versicherungsfalls noch auf die Feststellung oder den Umfang der Entschädigung, so entfällt die Leistungsfreiheit..., wenn die Verletzung nicht geeignet war, die Interessen des Versicherers ernsthaft zu beeinträchtigen und wenn außerdem den Versicherungsnehmer kein erhebliches Verschulden trifft") = §21 Nr.4 A H B 1992; ähnlich für die Wohngebäudeversicherung in § 20 Nr. 3 V G B 88; für die Feuerversicherung in § 13 Nr. 3 A F B 87; für die Einbruchdiebstahl- und Raubversicherung in § 13 Nr. 3 A E R B 87; vgl. hierzu Römer, in: Römer/ Langheid, W G , §6, Rn.43; E. Schwarz, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 199ff. 140 Eine solche Abwägung findet sich aber immerhin (bezogen auf die Feuerversicherung) bei: B G H Z 100, S. 60ff., 63 ff. (11.2.1987), wonach „ein Verstoß des V N gegen die ihm auferlegte Obliegenheit... nur dann zur Leistungsfreiheit des Versicherers führt, wenn diese Rechtsfolge nicht außer Verhältnis zur Schwere des Verstoßes steht"; ähnlich auch schon B G H Z 53, S. 160ff., 164 (16.1. 1970): Keine Leistungsfreiheit, „wenn der Verstoß die Belange des Versicherers so wenig zu beeinträchtigen mochte, dass die Verwirkungsfolge in keinem vertretbaren Verhältnis hierzu stehen würde".
274
C. Pönale Elemente
der Privatrechtsordnung
unter dem
BGB
d e r t 1 4 1 . O b die d e r z e i t i g e R e c h t s l a g e d a m i t in h i n r e i c h e n d e r W e i s e d e m V e r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t s g e b o t u n d den s o n s t i g e n der P r i v a t r e c h t s o r d n u n g d u r c h v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e V o r g a b e n f ü r die A u s g e s t a l t u n g der P r i v a t a u t o n o m i e g e z o g e n e n G r e n z e n R e c h n u n g trägt, e r s c h e i n t in A n b e t r a c h t der v o m B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t in den letzten Jahren hierfür entwickelten Kriterien142 mindestens zweifelhaft. Diese Frage b e r ü h r t j e d o c h n i c h t v o r r a n g i g den h i e r allein i n t e r e s s i e r e n d e n A s p e k t der R e c h t s n a tur der L e i s t u n g s v e r w i r k u n g n a c h § 6 W G 1 4 3 . H i n t e r g r u n d der w e i t g e h e n d e n A k z e p t a n z des p ö n a l e n C h a r a k t e r s der in § 6 W G
g e t r o f f e n e n R e g e l u n g sind, anders als e t w a bei p ö n a l e n E n t s c h ä d i g u n g e n f ü r
i m m a t e r i e l l e S c h ä d e n , jedenfalls n i c h t P r o b l e m e bei der B e m e s s u n g des v o m k o n k r e ten V e r s i c h e r u n g s n e h m e r a n g e r i c h t e t e n S c h a d e n s : S o w e i t ein s o l c h e r ü b e r h a u p t e n t s t a n d e n ist, also e t w a V e r s i c h e r u n g s l e i s t u n g e n an i h n a u s g e s c h ü t t e t w u r d e n , die i h m n i c h t z u s t a n d e n , h a n d e l t es sich u m einen g e w ö h n l i c h e n V e r m ö g e n s s c h a d e n , dessen U m f a n g sich o h n e b e s o n d e r e S c h w i e r i g k e i t e n e r m i t t e l n ließe. F ü r den A u s g l e i c h eines derartigen S c h a d e n s b e d ü r f t e es n i c h t der L e i s t u n g s f r e i h e i t des V e r s i c h e r e r s , 141 B G H VersR 1972, S.363ff., 364 (9.2. 1972); B G H NJW 1977, S.533ff., 534 (22.12. 1976); Prölss/Martin-Prö/js, W G , §6, Rn. 102 mit Hinweis auf den dadurch gefährdeten Präventionszweck und die dann drohende Rechtsunsicherheit; im Ergebnis ähnlich: R. Fischer, Treu und Glauben, S.202; E. Lorenz, Anmerkung VersR 1999, S.1006; W. Römer, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 260f. („Es scheint, daß die Rechtsprechung an ihre Grenzen gestoßen ist und weitere Milderungen nicht herbeiführen kann"); M. Terbille, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S.3; krit. zu dieser Selbstbeschränkung: H. Kramer, Leistungsfreiheit, S. 1978. 142 Grundlegend hierfür: BVerfGE 89, S.214ff., v.a. 231 ff. (19.10.1993): „Schon aus Gründen der Rechtssicherheit darf ein Vertrag nicht bei jeder Störung des Verhandlungsgleichgewichts nachträglich in Frage gestellt oder korrigiert werden. Handelt es sich jedoch um eine typisierbare Fallgestaltung, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen läßt, und sind die Folgen des Vertrages für den unterlegenden Vertragsteil ungewöhnlich belastend, so muß die Zivilrechtsordnung darauf reagieren und Korrekturen ermöglichen. Das folgt aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 G G ) und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art.28 Abs. 1 G G ) . . . Für die Zivilgerichte folgt daraus die Pflicht, bei der Auslegung und Anwendung der Generalklauseln darauf zu achten, dass Verträge nicht als Mittel der Fremdbestimmung dienen" (S. 232, 234); zur Diskussion im Vorfeld dieser Entscheidung vgl. E. Schwarz, Alles-oderNichts-Prinzip, S.250ff.; zu den Auswirkungen dieser Entscheidung auf die Auslegung von §6 W G : BK-Schwintowski, W G , §6, Rn. 165. 143 Zur Frage der „Wahrung elementarer Vertragsgerechtigkeit" bei §6 W G aber bereits B G H N J W 1969, S. 1384f., 1385 (30.4. 1969); O. Haidinger, Gerechtigkeitsmaxime, S.200f.; vgl. auch die bei H. Bischoff, Verwirkungsfolgen, S. 425 ff., wiedergegeben Diskussionsbeiträge; zu verfassungsrechtlichen Bedenken gegen §6 W G aus der neueren Lit.: W. Römer, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S.261; M. Terbille, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 5;/. Sackhoff, Anzeige-, Auskunfts- und Belegpflicht, S. 207ff.; ansatzweise hierzu auch: E. Lorenz, Anm. zu B G H VersR 1999, S. 1004ff., 1006; ablehnend zur Vereinbarkeit der vollständigen Leistungsfreiheit des Versicherers mit dem GG, insbesondere dem Doppelbestrafungsverbot, dem Übermaßverbot und dem Sozialstaatsgebot: H. Kramer, Leistungsfreiheit, S. 1976ff.;Nachweisefürdie entgegengesetzte h.M. bei A. Katzwinkel, Allesoder-Nichts-Prinzip, S.56; mit einer z.T. auf 5 6 W G übertragbaren Begründung (bezogen auf §§61,152 W G ) für die Notwendigkeit einer verfassungskonformen Einschränkung der Leistungsfreiheit des Versicherers bei „ruinösen, katastrophalen oder sonstwie exorbitanten Schäden" zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das Ubermaß verbot: C.-W. Canaris, Verstöße, S. 1003 f.; zur ähnlich gelagerten Problematik der verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine unbegrenzte deliktische Haftung vgl. auch die Nachweise bei E. Schwarz, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 249ff.
II. Regelungen
mit vorrangig
oder ausschließlich
pönaler
Zielsetzung
275
vielmehr würden die allgemeinen Schadensersatzansprüche aus positiver Forderungsverletzung (§§280ff. B G B ) hierfür vollkommen genügen. Parallelen zur rechtlichen Reaktion auf die Beeinträchtigung immaterieller Interessen, insbesondere zu Gunsten des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und zum sonstigen Ehrschutz, lassen sich dennoch ausmachen, da sich auch im Versicherungsrecht die generalpräventive Wirkung des (Kriminal-)Strafrechts als unzulänglich erweist: Wegen der großen Zahl der Obliegenheitsverletzungen, bei gleichzeitig niedriger Aufklärungsquote, folgt aus diesen insgesamt eine erhebliche Gefährdung der Interessen des Versicherers und der Gemeinschaft aller Versicherten 1 4 4 . Zugleich ist das Verschulden des einzelnen Versicherungsnehmers, der eine Obliegenheit nicht erfüllt, meist gering. Da für das öffentliche Strafrecht aber die Schuld des Täters die nicht zu überwindende Obergrenze darstellt 145 , würde das für Obliegenheitsverletzungen in Betracht kommende Strafmaß daher selbst dann nicht hinreichend abschreckend auf andere Versicherungsnehmer wirken können, wenn sich deren verschiedene Obliegenheiten überhaupt sinnvoll von Straftatbeständen erfassen ließen, was höchst zweifelhaft erscheint. Zum effektiven Schutz der Versicherer und aller Versicherten ist daher ein Ausweichen auf die privatrechtliche Ahndung von Obliegenheitsverstößen unvermeidlich. D o r t ist zwar ebenfalls das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beachten 1 4 6 , die Gestaltungsspielräume sind jedoch weiter als im Kriminalstrafrecht 1 4 7 . Hierdurch unterscheidet sich die Situation des Versicherers auch von der des Betreibers eines Kaufhauses oder Supermarkts und dessen Vermögenseinbußen durch Ladendiebstähle 148 : Beim Ladendiebstahl wird der Schadensersatzanspruch des Bestohlenen durch eine Strafandrohung des öffentlichen Strafrechts flankiert. Inwieweit die öffentlichrechtliche Strafverfolgung so ausgestaltet ist, dass von ihr generalpräventive Wirkung ausgehen kann, ist eine Frage des politischen Wollens, nicht des rechtlichen Könnens. Eine Verlagerung der Sanktionierung dieses Bereichs der Kleinkriminalität ins Privatrecht ist daher zwar denkbar, aber - anders als bei der Ahndung von
144 Zum Gedanken der „Gefahrengemeinschaft" aller Versicherten als Rechtfertigung für die pönale Rechtsnatur des § 6 W G insbesondere: E. Schwarz, Alles-oder-Nichts-Prinzip, S. 113; K. Sieg, Verletzung, S. 447f.; ausführlich zur Rolle des Versicherers als „Treuhänder" dieser Gefahrengemeinschaft: ]. Prölss, Versicherer, S.487ff. 145 Vgl. statt aller: B G H S t 34, S. 150ff. ; 151 (7.8. 1986); B G H N J W 1987, S. 1273ff., 1279 (28.1. 1987); B G H N J W 1990, S. 194ff., 195 (3.10.1989); ausführlich hierzu auch: G. Jakobs, Schuld, S.3ff. 146 Zum Verhältnismäßigkeitsprinzip im Privatrecht vgl.: BVerfGE 57, S.361 ff. (14.7. 1981); 78, S.38ff. (8.3.1988); 78, S. 77ff. (9.3.1988); 80, S.28ff. (4.7.1989); 81, S. 156ff. (23.1.1990); 87, S.348ff. (16.11. 1992); 90, S.263ff. (26.4. 1994); 97, S. 125ff. (14.1. 1998); 99, S.341 ff. (19.1. 1999); D. Medicus, Grundsatz, S.35ff.; G. Hirsch, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S.2ff., 13ff. 147 Vgl. hierzu nur: C.-W. Canaris, Gesamtunwirksamkeit, S. 526, 570. Dennoch gegen eine Vereinbarkeit der vollständigen Leistungsfreiheit des Versicherers mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip aber z.B.: H. Kramer, Leistungsfreiheit, S. 1976. 148 Zur Unzulässigkeit der Umlegung der Kosten zur Vermeidung von Diebstählen (und erst Recht der durch andere, nicht aufgeklärte Diebstähle entstandenen, vom unmittelbar Geschädigten über die Kaufpreise an die Kunden des Geschäfts weitergegebenen Kosten) auf die überführten Diebe vgl. nur: B G H Z 75, S.230ff., 235ff. (6.11. 1979). Näheres hierzu unten, S.560ff.
276
C. Pönale Elemente
der Privatrechtsordnung
unter dem
BGB
Obliegenheitsverletzungen im Versicherungsrecht - nicht der einzige Weg, überhaupt hinreichenden Schutz für berechtigte Interessen zu bieten. Somit belegt § 6 W G gleichermaßen exemplarisch die Vorteile und die Gefahren, die mit einer Nutzung des Privatrechts zu generalpräventiven Zwecken verbunden sind. Darüber hinaus zeigt die Leistungsfreiheit des Versicherers bei Obliegenheitsverletzungen, dass auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gesetzgeber, Rechtswissenschaft und Rechtsprechung durchaus gewillt waren, dogmatische Bedenken gegen eindeutig dem Bereicherungsverbot und der scharfen Trennung von Zivil- und Strafrecht widersprechende, vom Ausgleichsgedanken nicht getragene privatrechtliche Normen zurückzustellen, wenn dies zur effektiven Wahrung als berechtigt anerkannter Interessen erforderlich erschien. b)
Vereinsstrafen
Deutlicher als bei der Vertragsstrafe tritt die pönale Zielsetzung bei den Vereinsstrafen hervor, die die meisten Vereinssatzungen von Idealvereinen 149 zur Aufrechterhaltung der inneren Vereinsdisziplin vorsehen. So entfällt bei den Vereinsstrafen im Gegensatz zum Regelfall der Vertragsstrafe jegliche, auch nur mittelbare, Schadensausgleichsfunktion 150 . Ihr alleiniger Zweck ist es vielmehr, vergangenes vereinsschädliches Verhalten zu sanktionieren und durch die damit verbundene spezial- wie generalpräventive Wirkung künftigen Ordnungsverstößen vorzubeugen 151 . Auch stehen sich nicht einmal dem theoretischen Ansatz nach zwei gleichberechtigte Vertragspartner gegenüber, die für den Fall des Eintritts bestimmter Voraussetzungen die Pflicht der einen Seite zur Zahlung einer Strafe an die andere vereinbaren. Stattdessen unterwirft sich das dem Verein beitretende Mitglied dessen Satzung und damit auch den sich aus dieser ergebenden Regelungen über die Verhängung von Vereinsstrafen. Dies gilt letztlich, trotz der größeren Einflussmöglichkeiten auf die ursprüngliche Satzungsgestaltung, selbst für das Gründungsmitglied eines Vereins, da auch dieses nur die Wahl hat, sich dem Mehrheitswillen der anderen Gründungsmitglieder zu beugen oder auf eine Mitgliedschaft zu verzichten. Zudem werden die Vereinsstrafen meist 152 nicht durch ein bestimmtes Verhalten verwirkt, sondern in
149 Zu den bei juristischen Personen des Handelsrechts zulässigen Vertragsstrafen (nicht Vereinsstrafen) vgl. etwa §§55 II, 63 III AktG; zu den Parallelen und Unterschieden zur Vereinsstrafe: W. Flume, Vereinsstrafe, S. 103 f. 1 5 0 So ausdrücklich klargestellt von B G H Z 21, 370ff., 376 (4.10.1956): „Unerheblich ist, ob dem Verein ein Schaden entstanden ist oder entstehen konnte, denn eine Vereinsstrafe dient der Ahndung von Verletzungen der Vereinspflichten und hat mit Schadensersatz nichts zu tun". 151 Vgl. statt aller: H. Horschitz, Vereinsstrafe, S. 39, 132; U. Meyer-Cording, Vereinsstrafe, S.60ff.; ders., Betriebsstrafe, S.227; MünchKommAReafer, B G B , §25, Rn.34. 152 Ausnahmen sind, v.a. bei Bagatellstrafen, selbstverständlich möglich (vielzitiertes Beispiel: 2 D M Strafe bei verspätetem Erscheinen zur Mitgliederversammlung, vgl. nur etwa H. Weitnauer, Vereinsstrafe, S. 188). Umgekehrt kann auch eine Vertragsstrafe ausnahmsweise nicht ohne weiteres verwirkt sein, sondern auch so vereinbart werden, dass sie erst nach Abschluss komplizierter Verfahren verhängt werden kann. Deutlichstes Beispiel hierfür ist die Einstufung der im DFB-Muster-
IL
Regelungen
mit vorrangig
oder ausschließlich
pönaler
Zielsetzung
T77
einem mehr oder minder justizähnlichen Verfahren von Vereins- bzw. Verbandsger i c h t e n v e r h ä n g t 1 5 3 . H i e r b e i sind jedenfalls die e l e m e n t a r e n rechtsstaatlichen V e r f a h rensgrundsätze (Gewährung
rechtlichen Gehörs, Verbot der
Doppelbestrafung,
Rückwirkungsverbot) einzuhalten154.Wenn man, wie im Interesse der dogmatischen K l a r h e i t g e b o t e n 1 5 5 , die i m V e r e i n s w e s e n w i e bei allen a n d e r e n D a u e r s c h u l d v e r h ä l t nissen v e r s c h u l d e n s u n a b h ä n g i g zulässige K ü n d i g u n g aus w i c h t i g e m G r u n d
(§314
B G B n.F.) v o n d e n e i g e n t l i c h e n V e r e i n s s t r a f e n u n t e r s c h e i d e t , ist bei l e t z t e r e n d a rüber hinaus z w i n g e n d persönliches Verschulden des zu B e s t r a f e n d e n
erforder-
lich156. Insgesamt entsprechen F u n k t i o n und Ausgestaltung der Vereinsstrafen bez o g e n a u f d e n K r e i s d e r V e r e i n s m i t g l i e d e r also in vielerlei H i n s i c h t d e n Z i e l v o r g a b e n der Kriminalstrafen für den Staat. aa)
Rechtsnatur
I n A n b e t r a c h t d e s p ö n a l e n C h a r a k t e r s d e r V e r e i n s s t r a f e n ü b e r r a s c h t es n i c h t , d a s s ihre d o g m a t i s c h e E i n o r d n u n g in das d e u t s c h e P r i v a t r e c h t s s y s t e m seit l a n g e m r e g e l mäßig den Gegenstand heftiger Kontroversen und zahlreicher U n t e r s u c h u n g e n bild e t e 1 5 7 . E r s c h w e r t w i r d die K l ä r u n g der L e g i t i m a t i o n s g r u n d l a g e der V e r e i n s s t r a f e n vertrag vorgesehenen Sanktionen eines Vereins gegen einen seiner Spieler als Vertragsstrafen, vgl. B A G AP, Nr. 12 zu § 3 3 9 B G B (5.2. 1986). 153 So die gängige Formel, vgl. nur etwa: W. Flume, Vereinsstrafe, S. 114; K. Larenz, Rechtmäßigkeit, S. 52; U. Meyer-Cording, Betriebsstrafe, S.227. 1 5 4 St. Rspr., vgl. B G H Z 21, 370ff. (4.10. 1956); 29, 352ff., 355 (26.2. 1959); B G H Z 128, S.93ff., 105ff. (28.11. 1994); N J W 1997, S.3368ff. (9.6. 1997); ebenso u.a. Jauernigijauernig, B G B (10. Aufl.), § 2 5 , R n . 4 ; Palandt/Heinrichs, B G B (62. Aufl.), § 2 5 , R n . l 6 f . ; M ü n c h K o m m / R e a i e r , B G B , § 2 5 , R n . 4 3 ; S o e r g e l / H a d d i n g , B G B , § 2 5 , Rn.39f.; W. Hadding/F. van Look, Benutzungssperre, S.330; H. Horschitz, Vereinsstrafe, S.64ff.; U. Meyer-Cording, Vereinsstrafe, S. 77ff.; F. van Look, Vereinsstrafen, S. 199ff. Zur im Einzelnen umstrittenen Abgrenzung der Vereinsgerichte von den Schiedsgerichten ¡.S.d. §§1025ff. Z P O vgl. H.P. Westermann, Verbandsstrafgewalt, S.79f., 108ff.; H. Horschitz, Vereinsstrafe, S. 84ff.; F. van Look, Vereinsstrafen, S. 154ff. 1 5 5 So u.a. K. Larenz, Rechtmäßigkeit, S.51; MünchKommARe«ter, B G B , § 2 5 , R n . 4 2 ; ders., Ausschluß, S. 2401 ff.; VsXzn&l/Heinrichs, B G B (62. Aufl.), § 2 5 , R n . 2 7 . 1 5 6 Jedenfalls im zivilrechtlichen Sinne eines Vertretenmüssens, vgl.: U. Meyer-Cording, Vereinsstrafe, S.28ff.; ders., Betriebsstrafe, S.227; MünchKomm/Äe«fer, B G B , § 2 5 , R n . 4 5 ; Jauernig//«/ze, §339, Rn. 7; Jauernig/Vo/ftommer, BGB (10. Aufl.), § 339, Rn. 12; MünchKomm/Gottwald, BGB (Bd. IIa), Vor § 339, Rn. 45; ebenso bereits: W. Harbeck, Probleme, S. 57ff., 63; W. Herschel, Betriebsbußen, S.22ff.; M. v. Lentzke, Betriebsjustiz, S. 41 ff. 453 A.A. Dietz/Richardi, BetrVG, §87, Rn.268. 454 A.A. aber scheinbar: W. Leinemann, Betriebsbußen, S. 141. 448
449
330
C. Pönale Elemente der Privatrechtsordnung unter dem BGB
einbarung oder in einem Tarifvertrag voraus 4 5 5 . N o c h weniger eignen sich die Vorschriften über die Vertragsstrafe für andere Betriebsbußen als Geldstrafen, da die Hinnahme eines Verweises im Arbeitsrecht, wie schon im Vereinsrecht kaum als Leistung i.S.d. § § 3 3 9 f f . B G B gedeutet werden kann 4 5 6 . Soweit im R a h m e n eines Arbeitsverhältnisses daher zu Lasten eines Arbeitnehmers Vertragsstrafen vereinbart wurden, sind diese von etwa ebenfalls für Fehlverhalten des Arbeitnehmers vorgesehenen Betriebsbußen völlig unabhängig und, vorbehaltlich gesetzlicher Spezialregelungen, allein nach Maßgabe der §§ 339ff. B G B zu behandeln. Insbesondere hat sich die Auffassung Söllners, wonach auf Vertragsstrafenabreden für betriebsbezogene Regelverstöße von Arbeitnehmern § 8 7 B e t r V G anzuwenden sei, deren Wirksamkeit also die Zustimmung des Betriebsrats voraussetze 4 5 7 , nicht durchsetzen k ö n n e n 4 5 8 . (d) Abgrenzung von Betriebsbußen und Vertragsstrafen im Arbeitsrecht F ü r die zum Teil schwierige Abgrenzung von Betriebsbußen und Vertragsstrafen ist nicht die Bezeichnung der vereinbarten Maßnahme ausschlaggebend. Vielmehr sind hierfür ähnliche Kriterien zu Grunde zu legen wie bei der Abgrenzung von A b m a h nung und Betriebsbuße: Wichtig ist also vor allem die Zielsetzung der Sanktion 4 5 9 . A b e r auch die H ö h e einer vorgesehenen Geldstrafe kann ein wesentliches Indiz für ihre Rechtsnatur sein, da die Vertragsstrafe in aller Regel so bemessen sein wird, dass sie einen möglicherweise auf G r u n d des Fehlverhaltens eintretenden Schaden abzudecken geeignet ist, während sich die Betriebsbuße an der H ö h e des Tageseinkommens orientiert 4 6 0 . Schon wegen der den Parteien des Arbeitsverhältnisses auf G r u n d ihrer Vertragsgestaltungsfreiheit unbenommenen Möglichkeit, Vertragsstrafen weitgehend wie Betriebsbußen auszuformen, bleibt die Aussagekraft solcher Äußerlichkeiten aber zwangsläufig beschränkt 4 6 1 .
4 5 5 Ähnlich wie hier zur Ablehnung der Behandlung von Betriebsbußen als Vertragsstrafen: W. Harbeck, Grundlagen, S. 173 f. 456 W. Harbeck, Grundlagen, S. 175; a.A. [bezogen auf Vereinsstrafen] aber offenbar: Soergel/ Hadding, B G B , §25, Rn.41, 51. Trotz der in diesen Fällen fehlenden Leistung i.S.d. §§339ff. B G B für eine Klassifizierung als Vertragsstrafe: Staudinger/i?;eWe, BGB, Vorbem. zu §§339ff., Rn. 163. W. Leinemann, Betriebsbußen, S. 141, deutet Verweise u.ä. Sanktionen hingegen nicht als Vertragsstrafen, sondern sieht in ihnen einen vertraglich vereinbarten Rechtfertigungsgrund für in dieser Maßnahme etwa enthaltende Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers. 457 A. Söllner, Vertragsstrafen, S. 97, F N 1; in diesem Sinne offenbar auch W. Däubler, Arbeitsrecht 2, S. 397. 4 5 8 Vgl. statt aller: StaudingerARz'eWi", BGB, §339, Rn.59. 4 5 9 So BAG AP, Nr. 12 zu §339 B G B (5.2.1986): Sollen allein die Gläubigerinteressen des Arbeitgebers gesichert werden, handelt es sich um eine Vertragsstrafe, zielt die Sanktion darüber hinaus auf die Sicherung der betrieblichen Ordnung, um eine Betriebsbuße; ebenso: G. v. Hoyningen-Huene, Abmahnung, S.203; M. Lohr, Vertragsstrafen, S.430. Vgl. zur Abgrenzung von Abmahnung und Betriebsbuße auch schon die Nachweise oben, Fn.260. 460 O. Engel, Konventionalstrafen, S. 143. 4 6 1 Exemplarisch für die fließenden Ubergänge bei der formalen Gestaltung von Betriebsbußen und Vertragsstrafen etwadie vom B A G als Vertragsstrafen eingestuften, aber stark an Betriebsbußen
II. Regelungen
mit vorrangig
oder ausschließlich
pönaler
Zielsetzung
331
Praktische Bedeutung erlangt die Abgrenzung beider Rechtsinstitute zum einen bei der Frage der zulässigen Höchststrafe und der zulässigen Verwendung der als Strafe eingenommenen Geldbeträge. Vor allem aber ist die Rechtsnatur einer gegen den Arbeitnehmer gerichteten Maßnahme entscheidend, wenn die wegen der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bei der Betriebsbuße strengeren Formerfordernisse im Vorfeld der Verhängung einer Strafe nicht erfüllt wurden, die Sanktion also einer gerichtlichen Uberprüfung nur bei einer Bewertung als Vertragsstrafe standhalten könnte. cc) Die Betriebsbuße als pönales Element des deutschen Privatrechts Mit der Betriebsbuße existiert demnach im deutschen Privatrecht bis heute ein gewohnheitsrechtlich (oder tarifvertraglich) fundiertes Rechtsinstitut sui generis der Bestrafung Privater durch Private, dessen Berechtigung außer um die Wende zu den Siebziger Jahren kaum je ernsthaft in Frage gestellt wurde. Dieses geht über die klassische Privatstrafe des Deliktsrechts noch hinaus, indem es nicht nur wie die Vereinsstrafe von dem strafenden Privaten selbst verhängt wird, sondern in der Regel zusätzlich auch noch von diesem selbst vollstreckt werden kann. Den staatlichen Gerichten bleibt dagegen lediglich, falls sie ausnahmsweise von dem betroffenen Arbeitnehmer angerufen werden, das Recht zur nachträglichen Kontrolle dieses privaten „Strafverfahrens".Es handelt sich bei der im Rahmen der Betriebsjustiz verhängten Buße also keineswegs um einen bloßen „Entscheidungsvorschlag" 462 , sondern um eine de facto fast durchweg, de iure jedenfalls innerhalb der Grenzen der von der Rechtsprechung entwickelten Verfahrens- und Billigkeitsanforderungen endgültige Straffestsetzung. Andererseits bleibt die Betriebsbuße hinter der Vereinsstrafe und der klassischen deliktsrechtlichen Privatstrafe insofern zurück, als eine etwaige Geldstrafe nicht dem die Bestrafung betreibenden Privaten, sondern zwingend einer Sozialkasse zu Gute kommt. Auch diese Regelungsvariante war allerdings den deliktsrechtlichen Privatstrafen des 1 B./l 9. Jahrhunderts insbesondere in Zusammenhang mit der Ahndung der Verletzung immaterieller Rechtsgüter nicht völlig fremd: Zu denken wäre hier vor allem an die verschiedenen partikularstaalichen Modifikationen der Injurienklage, nach denen der vom Beleidiger zu zahlende Betrag einer wohltätigen Einrichtung zu Gute kam, aber auch an den Ubergang der Regressforderung des vom Geschädigten in Anspruch genommenen Schädigers auf die Armenkasse bei vorsätzlicher Schädigung nach dem A L R 4 6 3 . Somit dokumentiert die ungebrochene Tradition der in der Betriebsjustiz zum Ausdruck kommenden betrieblichen Strafgewalt, die sich wenn auch nicht als Strafgewalt der Betriebspartner, so doch als Strafgewalt des Arbeitgebers längst ausgebilerinnernden Strafenkataloge des DFB-Mustervertrags für Lizenzspieler: B A G AP, Nr. 12 zu §339 B G B (5.2. 1986); ablehnend dazu: O. Engel, Konventionalstrafen, S. 141 ff. 462 So aber: F. Baur, Betriebsjustiz, S. 165. 463 Vgl. oben, B.II., III.
332
C. Pönale Elemente der Privatrechtsordnung unter dem BGB
det hatte, bevor mit der Abschaffung der Injurienklage die letzte private Strafklage aus dem deutschen Deliktsrecht verschwand, die durchgängige Existenz von Privatstrafen im deutschen Privatrecht. Ein vollständig von Straffunktionen oder auch nur Strafen freies Privatrecht, wie von den Vätern des B G B zumindest offiziell angestrebt, hat es in Deutschland folglich nie gegeben.
2. § 8 9 0 Z P O N i c h t nur für die Uberprüfung bereits von Privaten verhängter Strafen, sondern originär für die Androhung und Festsetzung von Sanktionen für Fehlverhalten können Zivilgerichte im R a h m e n der Verwirklichung von Unterlassungs- und Duldungsansprüchen zuständig werden: N a c h § 890 Z P O ist dem Schuldner einer derartigen Pflicht auf Antrag seines Gläubigers ein Ordnungsgeld von bis zu 2 5 0 . 0 0 0 € oder Ordnungshaft anzudrohen, das dann, auf erneuten Antrag des Gläubigers hin, für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen den Schuldner zu verhängen ist. Praktische B e deutung k o m m t dieser Regelung vor allem im Wettbewerbs-, N a m e n s - und N a c h barrecht sowie für den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu. D i e Rechtsnatur der Maßnahmen nach § 890 Z P O war stets heftig umstritten 4 6 4 . Vor der Neufassung der Vorschrift durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch ( E G S t G B ) am 1.1. 1975, die zu einer Ersetzung der Worte „Geldstrafe" und „Strafe der H a f t " durch die Worte „Ordnungsgeld" und „Ordnungshaft" führte 4 6 5 , kam den nach § 8 9 0 Z P O zu verhängenden Maßnahmen nach ganz herrschender Meinung eine Doppelfunktion zu: Einerseits sollte es sich um „echte" (Kriminal-) Strafen zur Ahndung des Ungehorsams gegen das richterliche G e b o t handeln, vergleichbar dem Bannus des Mittelalters oder der Verurteilung wegen eines „contempt of c o u r t " nach anglo-amerikanischem Recht 4 6 6 , andererseits um zivilprozessuale Beugemittel zur Gewährleistung eines pflichtgemäßen Verhaltens des Schuldners. D a h e r waren auf die Sanktionen des § 8 9 0 Z P O weitgehend die Grundsätze des Strafrechts anwendbar, allerdings mit Einschränkungen zu Gunsten des Vollstrekkungsinteresses des Gläubigers 4 6 7 . U m diese Auslegung mit Art. 103 II G G („nulla poena sine lege") in Einklang bringen zu können, wurde § 890 Z P O als strafrechtliches Blankettgesetz interpretiert, das seinen konkreten Inhalt durch den jeweiligen (zivilrechtlichen) Unterlassungstenor erhielt 4 6 8 . Demgegenüber bestritt eine M i n 464 Ein kurzer Überblick über die zur Rechtsnatur der Maßnahmen nach § 890 ZPO seit 1900 vertretenen Auffassungen findet sich bei: K. Schmidt, Anmerkung, S. 835; Stein/Jonas-Sre^jw, ZPO, §890, Rn.3; B.H. Oppermann, Unterlassungsanspruch, S.87ff.; W.L. Pastor, Strafcharakter, S.299ff.; ausführlicher ders., Unterlassungsvollstreckung, S.2ff. 465 Art.98 Ziff. 15 des EGStGB vom 2.3. 1974, BGBl I 1974, S.469ff., 560. 466 Vgl. hierzu K.E. Meyer, Zuwiderhandlungsstrafe, S. 578. 467 Vgl. nur: BVerfGE 20, S. 323ff., 332ff. (25.10.1966); BGHZ 33, S. 163ff., 166 (20.9.1960);K.E. Meyer, Zuwiderhandlungsstrafe, S.578; W. Schubert, Klageantrag, S. 39; B. Wieczorek, ZPO IV/2, §890, Rn.D I; E. Schulz, Zulässigkeit, S. 1096; Ph. Schaper, Zulässigkeit, S. 1765f. 468 So z.B. K.E. Meyer, Zuwiderhandlungsstrafe, S.578; E. Schulz, Zulässigkeit, S. 1096; a.A. Ph.
II. Regelungen mit vorrangig oder ausschließlich pönaler Zielsetzung
333
derheitsmeinung jeden Strafcharakter der Vorschrift und sah in den dortigen Sanktionen wie in den Maßnahmen nach § 8 8 8 Z P O reine Beugemittel 4 6 9 . D i e durch das E G S t G B herbeigeführten Modifikationen von § 890 Z P O stärkten zwar die Position der zivilprozessual ausgerichteten Minderheitsmeinung 4 7 0 und stellten klar, dass es sich hierbei nicht um eine „echte" N o r m des Kriminalstrafrechts handeln konnte 4 7 1 , änderten jedoch nichts an der D o m i n a n z der strafrechtlichen B e wertung der Vorschrift durch die herrschende Lehre 4 7 2 und höchstrichterliche Rechtsprechung. Vielmehr bestätigte das Bundesverfassungsgericht 1981 und 1991 nachdrücklich seine ältere Rechtsprechung, wonach § 890 Z P O „für den Betroffenen strafrechtsähnliche Wirkung h a t " 4 7 3 : „Das Bundesverfassungsgericht hat für die ältere Fassung der Vorschrift des § 890 Abs. 1 Z P O bereits entschieden, daß sie strafrechtliche Elemente enthalte ... D i e Neufassung der Vorschrift durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch hat daran nichts geändert" 4 7 4 . Ahnlich sah auch der B G H noch 2001 in einer auf G r u n d dieser Vorschrift verhängten O r d n u n g s m a ß nahme eine „strafähnliche S a n k t i o n " 4 7 5 . Folgerichtig waren bei der Anwendung von § 890 Z P O weiterhin im Wesentlichen die strafrechtlichen Prinzipien zu Grunde zu legen. Ein Verschulden des Schuldners blieb also unabdingbar 4 7 6 , es konnte auch verurteilt werden, wenn nach dem Verstoß des Schuldners gegen das strafbewehrte U n terlassungsgebot keine Wiederholungsgefahr mehr bestand 4 7 7 und die Kumulierung Schaper, Zulässigkeit, S. 1766 (zur Begründung der Vereinbarkeit von Kriminalstrafe und Maßnahme nach §890 ZPO ohne Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot in Art. 103 III GG). 469 So etwa H. Zieres, Straffestsetzung, S. 752; i.W. ebenso: H. Theuerkauf, Einfluß, S. 301 ff. 470 Vertreten nunmehr u.a. von: Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, §890, Rn. 10;W.L. Pastor, Strafcharakter, S. 302; ders., Unterlassungsvollstreckung, S. 6ff.;P.A. Windel, Anmerkung, S.377f.; OLG Hamm NJW 1980, S.1399f. (28.2. 1979). 471 K. Schmidt, Anmerkung, S. 835; W.F. Lindacher, Anmerkung, S. 1400. Vgl. auch schon den terminologischen Klarstellungsversuch in Art. 5 EGStGB. 472 Aus der neueren Lit. vgl. nur: MünchKomm/Sc/wfteK, ZPO, § 890, Rn. 1; Stein/Jonas-5reÄm, ZPO, § 890, Rn. 3, 31; Stöber, in: R. Zöller, ZPO, § 890, Rn. 5; Lackmann, in: H.-J. Musielak, ZPO, §890, Rn. 5; W. Zimmermann, ZPO, § 890, Rn. 1; W.F. Lindacher, Anmerkung, S. 1400; K. Hasselbach, Durchbrechung, S.43; H.-G. Borck, Analogieverbot, S.29f.; ders., Probleme, S.429; einschränkend (für eine weitgehend an die strafrechtliche Auffassung anknüpfende „Generalpräventionstheorie"): P. Dietrich, Individualvollstreckung, S.32ff. 473 So noch: BVerfGE 84, S.82ff., 87 (23.4. 1991); ähnlich auch schon: BVerfG, Beschluss vom 30.11. 1990, 2 BvR 1353/90 (nicht veröffentlicht). 474 BVerfGE 58, S. 159ff., 162 (14.7. 1981). 475 BGH WM 2001, S. 1081ff., 1082 (25.1.2001). Im Ergebnis so auch schon: BGHZ 138, S. 67ff., 69 (5.2.1998). BGHZ 131, S. 141ff. (2.11.1995); BGH NJW 1994, S.45ff., 46 (30.9.1993): „auch einen repressiven, strafähnlichen Sanktionscharakter"; BayObLG NJW-RR 1995, S. 1040f., 1040 (9.3. 1995); z.T. missverständlich dagegen allenfalls: BGHZ 131, S.233ff. (30.11. 1995). 476 BVerfGE 58, S. 159ff., 162f. (14.7. 1981); BVerfG, Beschluss vom 24.11. 1989,2 BvR 1542/89 (nicht veröffentlicht); BVerfG, Beschluss vom 15.3. 1990, 2 BvR 126/90 (nicht veröffentlicht); BVerfGE 84, S.82ff., 87 (23.4. 1991); schon vor 1975 ebenso: BVerfGE 20, S.323ff., 332ff. (25.10. 1966). 477 BayObLG NJW-RR 1995, S.1040f., 1040 (9.3. 1995); MünchKomm/Schilken, ZPO, §890, Rn. 15; Stein/Jonas-ßre^OT, ZPO, §890, Rn.30f.; Stöber, in: R. Zöller, ZPO, §890, Rn.10; W. Zimmermann, ZPO, §890, Rn.4; W.F. Lindacher, Anmerkung, S. 1400; a.A.: OLG Hamm NJW 1980, S. 1399f. (28.2. 1979).
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C. Pönale Elemente
der Privatrechtsordnung
unter dem
BGB
von Maßnahmen nach § 890 Z P O mit einer Vertragsstrafe verstieß wegen der divergierenden Zielsetzung beider Rechtsinstitute nicht gegen das Doppelbestrafungsverbot in Art. 103 III G G 4 7 8 . Allenfalls und unabhängig von verfassungsrechtlichen Erwägungen könne es, wie der B G H in einer Entscheidung von 1998 in einem obiter dictum andeutete, sachgerecht erscheinen, die bereits verwirkte Vertragsstrafe bei der Festsetzung der H ö h e der Sanktion nach § 890 Z P O zu berücksichtigen bzw. umgekehrt die Vertragsstrafe nach § 343 B G B mit Rücksicht auf die verhängte Maßnahme nach § 890 Z P O herabzusetzen 4 7 9 . Zur Begründung dieser Kontinuität konnten sich ihre Befürworter auf die Materialien zum E G S t G B 4 8 0 stützen, aus denen sich ergab, dass es dem Gesetzgeber bei „der Novellierung des § 8 9 0 Abs. 1 Z P O ... allein um eine Neubezeichnung der Sanktion [ging], um zu einem einheitlichen und übersichtlichen Sprachgebrauch zu kommen" 4 8 1 , nicht um materielle Änderungen 4 8 2 . Die Einstufung der Maßnahmen nach § 890 Z P O durch die herrschende Meinung als nicht nur zivilprozessuale Druckmittel, sondern vor allem auch als strafrechtliche Sanktionen lässt sich zur Erzielung sinnvoller Ergebnisse auch kaum vermeiden: Der Wortlaut der Vorschrift gibt nichts dafür her, dass eine Verhängung der O r d nungsmaßnahmen von einer zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden Wiederholungsgefahr abhängen soll. Auch würde ein solches Verständnis der N o r m , wie es bei einer Bewertung als bloße Beugemaßnahme unvermeidlich wäre, die Strafdrohung nach § 890 II Z P O ins Leere gehen lassen, wenn von vornherein nur ein einmaliger Verstoß gegen das Unterlassensgebot in Betracht kommt 4 8 3 . Dennoch handelt es sich bei den Maßnahmen nach § 890 Z P O jedenfalls nicht um Privatstrafen oder sonstige pönale Elemente des Privatrechts: Zum einen ist diese Vorschrift, wie das Prozessrecht insgesamt, dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Vor allem aber kommen die danach verhängten Strafen nicht dem Gläubiger oder wenigstens einem privaten Dritten zu Gute, sondern der Staatskasse. Immerhin belegt die Existenz der Ordnungsmaßnahmen nach § 8 9 0 Z P O aber, wie selbstverständlich den Zivilgerichten auch unter der Geltung des B G B stets die Kompetenz zur Verhängung von Strafen innerhalb eines weiten Strafrahmens (gemäß § 8 9 0 I Z P O bis zu 250.000 € Ordnungsgeld oder bis zu zwei Jahren Ordnungshaft) zugebilligt wurde. 4 7 8 B G H Z 138, S.67ff., 70 (5.2. 1998); B G H W M 2001, S.1081ff., 1082 (25.1. 2001); MünchKomm/Schilken, Z P O , § 890, Rn. 17; Stein/Jonas-ßrf^m, Z P O , § 890, Rn. 52f.; Stöber, in: R. Zöller, Z P O , § 890, Rn. 7; Lackmann, in: H.-J. Musielak, Z P O , § 890, Rn. 9 (dort jeweils auch zur Vereinbarkeit der Maßnahmen nach §890 Z P O mit Kriminalstrafen). 4 7 9 B G H Z 138, S. 67ff., 70 (5.2.1998); in diesem Sinne auch: Lackmann, in: H.-J. Musielak, Z P O , § 890, Rn. 9; insofern zurückhaltender und stärker auf die Ermittlung des jeweiligen Parteiwillens abstellend: B G H W M 2001, S. 1081ff., 1082 (25.1. 2001); so auch: Stein/Jonas-ßre/iOT, Z P O , §890, Rn.52. 4 8 0 Vgl. BT-Drucks. 7/550 vom 11.5. 1973, S.195, 380. 481 Zitat nach: BVerfGE 58, S. 159ff., 162 (14.7. 1981). 4 8 2 So etwa: H.-G. Borck, Analogieverbot, S.29. 4 8 3 Beispiele hierfür etwa bei: W.L. Pastor, Unterlassungsvollstreckung, S.229, der in diesen Fällen allerdings (als Vertreter der Theorie vom reinen Beugecharakter des § 890 Z P O folgerichtig) die Zulässigkeit des Vorgehens nach § 890 Z P O ablehnt.
II. Regelungen mit vorrangig oder ausschließlich pönaler Zielsetzung
335
3. § 611 a BGB und der Schutz vor Diskriminierung Spätestens mit der Notwendigkeit, europarechtliche Richtlinien in das nationale Recht umzusetzen, konnte sich der deutsche Gesetzgeber nicht mehr darauf beschränken, vorgefundene oder richterrechtlich entwickelte pönale Rechtsinstitute im Privatrecht zu dulden: Mit der „angemessenen Entschädigung" für geschlechtsbezogene Benachteiligungen im Berufsleben nach §611 a BGB fand daher die erste eindeutig und unumstritten 484 pönale Entschädigungsregelung, die zum Teil sogar als reine Privatstrafe ausgestaltet wurde, Aufnahme in das BGB 485 . Trotz der zumindest bis zu ihrer Neufassung 1998 nur geringen praktischen Bedeutung dieser Bestimmung 486 zwang diese Rechtsprechung und Rechtswissenschaft daher, sich mit der Einordnung von Privatstrafen in die deutsche Privatrechtsdogmatik und den sich aus dem pönalen Charakter einer Entschädigungsnorm ergebenden Konsequenzen, insbesondere für die Bemessung der Entschädigungshöhe, zu befassen. Hierbei zeigte sich noch deutlicher als bei der Betriebsbuße die für das Arbeitsrecht wie für die Ahndung von Persönlichkeitsrechtsverletzungen typische Dominanz des Richterrechts und die nicht weniger typische Uberlagerung dogmatischer Argumente durch (rechts-)politische Zielvorstellungen. Zusätzliche Komplikationen ergaben sich bei §611 a BGB durch die detaillierten, die deutsche Rechtsdogmatik kaum berücksichtigenden europarechtlichen Vorgaben 487 sowie aus den kollidierenden grundrechtlich geschützten Positionen der Beteiligten 488 . Vor welche Schwierigkeiten der deutsche Gesetzgeber dadurch gestellt wurde, belegt schon allein die ungeachtet der drohenden Staatshaftungsansprüche 489 zweiundzwanzig Jahre währende, von mehrfachen grundsätzlichen Reformen geprägte Vorgeschichte der heutigen, nunmehr wohl richtlinienkonformen Fassung 490 dieser Vorschrift. 484 Vgl. nur etwa: Staadinger/Richardi/Annuß, BGB, §611 a, Rn.19, 82; MünchKomm/MüllerGlöge, BGB, §611 a, Rn.52 (bereits zur Fassung des §611 a BGB vor 1998). 485 Zu §611 a BGB und seiner Vorgeschichte vgl. Ch. Kister, Entschädigung und geschlechtsbedingte Diskriminierung bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses (2000). 486 Staudinger/Richardi/Annuß, BGB, §611 a, Rn. 6; G. Annuß, Grundfragen, S. 738 („Bei kaum einer anderen N o r m klaffen die Intensität der wissenschaftlichen Diskussion und die praktische Relevanz ... weiter auseinander als bei §611 a BGB"); U. Wendeling-Schröder/K. Buschkröger, Sanktionen, S. 134 (vor 1998 ca. 50 Verfahren/Jahr). Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Höhe des Anspruchs bis 1998 nach oben auf drei Monatsgehälter beschränkt und damit eine Klage weniger lohnend war als nach heutiger Rechtslage. 487 Zur wachsenden Bedeutung der Rspr. des E u G H für das deutsche Arbeitsrecht vgl. G. Hirsch, Arbeitsgerichtsbarkeit, S. 48ff.; T. v. Roetteken, Anforderungen, S.414ff.; speziell zum Einfluss des europäischen Rechts auf die Entwicklung des § 611 a BGB: N. Colneric, Verbot, S. 627ff.; F. Heither, Art. 119 EWG-Vertrag, S.614ff.; P. Hommelhoff, Zivilrecht, S.95ff.; M. Schlachter, Wege, S. 97ff. 488 Ausführlich hierzu: E. Herrmann, Abschlußfreiheit, S.52f.; 62ff. m.w.N. in F N 202. 489 Vgl. hierzu N. Colneric, Schadensersatz, S.654; U. Wendeling-Schröder/K. Buschkröger, Sanktionen, S. 138. Zu den Voraussetzungen von Staatshaftungsansprüchen bei nicht fristgerechter Umsetzung von gemeinschaftsrechtlichen Richtlinien vgl. E u G H NJW 1992, S: 165ff. 19.11.1991 Andrea Francovich u.a. ./. Italienische Republik); E u G H NJW 1994, S.2473Í. (14.7. 1994 - Paola Faccini Dori./. Recreb Sri); E u G H NJW 1996, S. 3141 ff. (8.10.1996 - Erich Dillenkofer u.a../. Bundesrepublik Deutschland). 490 Zu verbleibenden Zweifeln, v.a. hinsichtlich der Richtlinienkonformität der Ausschlussfrist
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C. Pönale Elemente
a) Gesetzgebungsgeschichte
der Privatrechtsordnung
unter dem
BGB
bis 1998
Während ältere europarechtliche Bestimmungen sich darauf beschränkt hatten, geschlechtsspezifischen Diskriminierungen bei der Entlohnung von Arbeitnehmern entgegen zu wirken („gleicher Lohn für gleiche Arbeit") 491 , verpflichtete die Gleichbehandlungsrichtlinie vom 9.2. 1976 (EG-Richtlinie 76/207/EWG) 492 die Mitgliedsstaaten dazu, auch im Hinblick auf sonstige Arbeitsbedingungen den „Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung" zu verwirklichen 493 . Vor allem sollte sichergestellt werden, „daß keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung auf Grund des Geschlechts - insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand - erfolgen darf" 494 . Der erste halbherzige Versuch der Bundesrepublik Deutschland, das innerstaatliche Recht an die Anforderungen der Gleichbehandlungsrichtlinie anzupassen, erfolgte erst 19 8 0495, also mit deutlicher Verspätung496. Das Ergebnis dieser Bemühungen konnte im internationalen Vergleich bestenfalls als „Minimallösung" beschrieben werden 497 , wenn nicht sogar nur als „schlechter Scherz" 498 . Nicht nur wurde im Gegensatz etwa zu Frankreich 499 - auf jede strafrechtliche Sanktionierung von Verstößen gegen das Gleichbehandlungsgebot verzichtet. Auch die Änderungen des u n d der Beweislastregel: H. Schliemann, Gleichberechtigung, S. 581 ff.; Ch. Bergwitz, EG-Richtlinie, S.99; T. v. Roetteken, A n f o r d e r u n g e n , S.41; noch auf der Grundlage des §611 a B G B i.d.F. von 1994 zur Beweislastregel: D. Dungs, Europäisierung, S.220ff. Für eine klare Beweislastregelung zu Lasten des Arbeitgebers auch schon die Stellungnahme des Bundesrats z u m Gesetzentwurf der Bundesregierung von 1998, vgl. BT-Drucks. 13/10242 v o m 30.3. 1998, Anlage 2, S. 10. 491 So schon Art. 119 des EWG-Vertrages von 1957 (dem heutigen Art. 141 des EG-Vertrages von 1997 entsprechend); näher ausgeführt in der EG-Lohngleichheitsrichtlinie v o m 10.2. 1975, 75/117/ E W G , ABl. Nr. L 45/19ff. v o m 19.2. 1975; beide abgedruckt bei: H.M. Pfarr/K. Bertelsmann, Gleichbehandlungsgesetz, S.22ff.; zur Bedeutung von Art. 119 E W G - V e r t r a g f ü r das deutsche Arbeitsrecht: F. Heither, Art. 119 EWG-Vertrag, S.614ff. 492 ABl. Nr. L 39/40ff. v. 14.2. 1976; in Auszügen abgedruckt bei: H.M. Pfarr/K. Bertelsmann, Gleichbehandlungsgesetz, S. 24ff. 493 So die in A r t . 1 Abs. 1 der Gleichbehandlungsrichtlinie umschriebenen Ziele der Richtlinie. Zu den Vorgaben f ü r deren U m s e t z u n g in den jeweiligen nationalen R e c h t s o r d n u n g e n vgl. Art. 5ff. der Gleichbehandlungsrichtlinie. Z u m Inhalt dieses Gleichbehandlungsgrundsatzes: N. Colneric, Verbot, S. 627ff. 494 Art. 2 Abs. 1 der Gleichbehandlungsrichtlinie. 495 Arbeitsrechtliches EG-Anpassungsgesetz v o m 13.8.1980, BGBl 1 1980, S. 1308f., in Kraft getreten am 21.8. 1980. 496 G e m ä ß Art. 9 I der Gleichbehandlungsrichtlinie hätte diese innerhalb von 30 M o n a t e n nach ihrer V e r k ü n d u n g am 14.2. 1976, also bis z u m 13.8.1978 umgesetzt werden müssen, vgl. hierzu: M. Gutsche, Gleichberechtigungsgesetz, S. 132; D. Schiek, Draehmpaehl, S. 586; G. Brüggemeier, Ausgestaltung, S. 754. 497 So P. Hanau, Zugang, S.476. 498 So U. Tödtmann, Einfluß, S.2324. 499 Vgl. Art. 416 C o d e penal. Z u r U m s e t z u n g der Gleichbehandlungsrichtlinie in Frankreich: M. Gutsche, Gleichberechtigungsgesetz, S. 140; zur Rechtslage in G r o ß b r i t a n n i e n ausführlich: A. Dix, Gleichberechtigung, S. 51 ff. Zur n o c h deutlich konsequenteren U m s e t z u n g des Verbot der geschlechtsbedingten Diskriminierung im Arbeitsleben in den U S A umfassend: M. Schlachter, Wege, S. 221 ff. Ein kurzer rechtsvergleichender Uberblick über die Gesetzgebung zur Vermeidung von ge-
II. Regelungen mit vorrangig oder ausschließlich pönaler Zielsetzung
337
Privatrechts beschränkten sich mit den neu in das BGB eingefügten §§611 äff. im Wesentlichen auf die Aufstellung von Programmsätzen 500 , deren Nichtbeachtung lediglich mit der Pflicht zum Ersatz des Schadens verknüpft wurde, „den der Arbeitnehmer dadurch erleidet, daß er darauf vertraut, die Begründung des Arbeitsverhältnisses werde nicht wegen eines solchen Verstoßes unterbleiben" (§61 l a II BGB i.d.F. von 1980). Damit ging die Ur-Fassung der Entschädigung nach §61 l a BGB nicht über die ohnehin nach den Grundsätzen der culpa in contrahendo (jetzt §§311 II, 280 I, 241 II BGB) zu verwirklichenden Ansprüche eines rechtswidrig diskriminierten Arbeitnehmers hinaus, Anhaltspunkte für pönale Elemente dieser Regelung sind daher nicht ersichtlich. Die fehlende Richtlinienkonformität dieser allgemein als „Portoparagrafen" geschmähten Entschädigungsregelung wurde von der Literatur schon bald erkannt 501 . Etwaige letzte Zweifel beseitigten zwei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs von 1984, die zwar die sich aus Art. 189 III EWG-Vertrag folgende Freiheit der Mitgliedsstaaten betonten, selbst die Mittel zur Durchsetzung der europarechtlichen Richtlinien im nationalen Recht zu wählen, im Übrigen aber unmissverständlich klarstellten, dass die in §611 a II BGB i.d.F. von 1980 getroffenen Regelungen bei wortlautgetreuer Auslegung den europarechtlichen Mindestanforderungen nicht genügten: „[Entscheidet sich ein Mitgliedsstaat jedoch dafür, als Sanktion für einen Verstoß gegen dieses Verbot eine Entschädigung zu gewähren, so muß diese jedenfalls, damit ihre Wirksamkeit und ihre abschreckende Wirkung gewährleistet sind, in einem angemessenen Verhältnis zu dem erlittenen Schaden stehen und somit über einen rein symbolischen Schadensersatz wie etwa die bloße Erstattung der Bewerbungskosten hinausgehen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, das zur Durchsetzung der Richtlinie erlassene Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Ubereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden" 502 . Kernvorwurf der Luxemburger Richter war also schon 1984 der ungenügende Sanktionscharakter und die unzureichende Abschreckungswir-
schlechtsspezifischen Diskriminierungen beim Abschluss von Arbeitsverträgen bis 1980 bei: P. Hanau, Zugang, S. 458ff.; für die Gegenwart bei: T. Hoppe, Schutz, S. 84ff. 500 Zu den Anzeichen für die Widerwilligkeit der Umsetzung der Gleichbehandlungsrichtlinie umfassend: M. Schlachter, Wege, S. 145ff. Noch 1989 musste daher das BAG feststellen, es sei „der bisher unveränderte Wille des nationalen Gesetzgebers nicht zu übersehen, geschlechtsspezifische Diskriminierungen nur insoweit zu sanktionieren, als dies nach EG-Recht unbedingt erforderlich ist" (vgl. BAGE 61, S.209ff., 218., Urt. v. 14.3. 1989; insofern weitgehend wortgleich: BAGE 61, S.219ff., Urt. v.14.3. 1989). 501 Vgl. nur etwa: E. Bloch, Gleichbehandlung, S.147f.; A. Breuer, Antidiskriminierungsgesetz, S. 88ff.; A. Dix, Gleichberechtigung, S.340f.; H.M. Pfarr/K. Bertelsmann, Gleichbehandlungsgesetz, Rn. 139ff.; M. Coester, Diskriminierung, S. 25f.; U. Battis/A. Eisenhardt, Gesetzgebung, S. 20; U. Tödtmann, Einfluß, S.2324; Th. Thees, Arbeitnehmer-Persönlichkeitsrecht, S. 128. 502 E u G H Slg. 1984,1-1891ff., 1892 (Leitsätze des Urteils vom 10.4. 1984 - v. Colson/Kamann gegen Land Nordrhein-Westfalen); insofern wortgleich: E u G H Slg. 1984,1-l921 ff., 1922 (Leitsätze des Urteils vom 10.4. 1984 - Harz gegen Deutsche Tradax GmbH).
338
C. Pönale Elemente
der Privatrechtsordnung
unter dem
BGB
kung von §611 a B G B i.d.F. von 1980, mit anderen Worten: gerade die fehlende Pönalität dieser Bestimmung 5 0 3 . Trotz dieser eindeutigen Worte des Europäischen Gerichtshofs blieb der deutsche Gesetzgeber zunächst untätig. Die Arbeitsgerichte sahen sich daher in der Folgezeit gezwungen, wie ihnen vom Europäischen Gerichtshof aufgetragen, die vorhandenen Mittel des Privatrechts für eine Ausweitung der Ansprüche diskriminierter Arbeitnehmer fruchtbar zu machen. Der Wortlaut des B G B bot hierfür allerdings auch bei „voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums" wenig Ansatzpunkte. Insbesondere sahen sich die Gerichte durch die eindeutige Beschränkung der Ansprüche des benachteiligten Arbeitnehmers auf das negative Interesse in §611 a II B G B i.d.F. von 1980 mehrheitlich nicht nur gehindert, einen Einstellungsanspruch zu gewähren, sondern auch, aus anderen Anspruchsgrundlagen (v.a. § 8 2 3 II i.V.m. §61 l a I B G B ) einen weitergehenden Schadensersatz in Geld zuzubilligen 504 . Schließlich gelang es jedoch dem Bundesarbeitsgericht 1989, dieses Problem zu umgehen, indem es auf die vom Bundesgerichtshof entwickelten Grundsätze über die Geldentschädigung für schwere Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts 505 zurückgriff: D e r Wortlaut des §611 a II B G B (i.d.F. von 1980) sperre allenfalls die Zuerkennung eines weitergehenden Anspruchs auf Ersatz für Vermögensschäden. Ansprüche auf die Entschädigung von Nichtvermögensschäden seien hierdurch hingegen nicht betroffen. Eine geschlechtsbezogene Diskriminierung verletze aber, wie unter nachdrücklicher Berufung auf die Feststellungen des Europäischen Gerichtshofs von 1984 festgestellt wurde, „regelmäßig das allgemeine Persönlichkeitsrecht, dessen Inhalt für den Zugang zum Arbeitsverhältnis durch § 611 a Abs. 1 B G B konkretisiert" werde, da die darin liegende „Herabwürdigung der beruflichen Fähigkeiten der ausgeschlossenen Bewerber", „zugleich eine Verletzung seiner Würde als Person" bedeute 506 .
503 Ähnlich etwa: M. Franzen, Rechtsangleichung, S. 809 („diese einen Strafschadensersatz fordernde EuGH-Judikatur"); zustimmend: C. W. Hergenröder, Anmerkung, S. 1174. 504 So z.B. ArbG Oberhausen N Z A 1985, S.252ff. (8.2. 1985); L A G Niedersachsen N Z A 1985, S.327ff. (23.11. 1984); im Sinne dieser Rechtsprechung auch: E. Bloch, Gleichbehandlung, S. 118f., 147ff.; a.A. ArbG Hamm D B 1984, S.2700f. (6.9. 1984); ArbG Hamburg D B 1985, S.1402 (7.3. 1985); für einen Einstellungsanspruch aus culpa in contrahendo und §§823 II i.V.m. 611 a B G B auch: H.M. Pfarr/K. Bertelsmann, Gleichbehandlungsgesetz, Rn. 142, die lediglich bei Unzumutbarkeit oder Unmöglichkeit einer Einstellung an deren Stelle Geldentschädigung in Höhe des positiven Interesses (§§249 S.2, 251 B G B ) treten lassen wollten (Rn. 146); vgl. zur uneinheitlichen Rspr. Mitte der Achtziger Jahre auch: A. Breuer, Antidiskriminierungsgesetz, S.88f.; M. Gutsche, Gleichberechtigungsgesetz, S. 133ff.;/. Treber, Neuerungen, S. 857f.; G. Brüggemeier, Ausgestaltung, S. 755. 505 Vgl. nur BVerfGE 34, S.280ff. (14.2. 1973); B G H Z 39, S.124ff. (5.3. 1963). 506 B A G E 61, S.209ff., 212ff. (14.3. 1989); insofern weitgehend wortgleich: B A G E 61, S.219ff. (14.3. 1989); bestätigt durch: BAG, Urt. vom 14.11. 1991 (8 AZR 145/91 - nicht veröffentlicht); B A G AP, Nr. 226 zu Art. 3 G G (Urt. vom 5.3.1991 ); in diesem Sinne auch etwa: H. M. Pfarr/K. Bertelsmann, Gleichbehandlungsgesetz, Rn. 152. Eine mittelbare Billigung dieser Rechtsprechung durch das BVerfG lässt sich erkennen in: BVerfGE 89, S.276ff., 287 (Beschluss vom 16.11. 1993).
II. Regelungen
mit vorrangig
oder ausschließlich
pönaler
Zielsetzung
339
Dieser - in der Literatur sogar als „Geniestreich" bezeichnete 507 - Kunstgriff des Bundesarbeitsgerichts, den Normalfall der geschlechtsbedingten Diskriminierung im Arbeitsleben als schwere Verletzung des Persönlichkeitsrechts zu bewerten, eröffnete zwar die Möglichkeit zur Gewährung einer der Höhe nach unbeschränkten Entschädigung. Zugleich unterwarf er diesen Anspruch aber den strengen Anforderungen, die der B G H für die Gewährung einer Geldentschädigung für Persönlichkeitsrechtsverletzungen entwickelt hatte, insbesondere im Hinblick auf die Schwere der Verletzung und des Verschuldens des Verletzers. Waren, wie nicht selten, die Interessen des Arbeitnehmers weniger nachhaltig beeinträchtigt oder wog das Verschulden des Arbeitgebers weniger schwer, musste dieser Notbehelf zur Angleichung des deutschen Rechts an die europarechtlichen Vorgaben, die auch in diesen Fällen nach einer hinreichend abschreckenden Sanktion verlangten, daher versagen 508 . Zudem konnte die aus diesem Lösungsweg folgende Notwendigkeit, mindestens bei denjenigen Bewerbern, die bei einem diskriminierungsfreien Auswahlverfahren möglicherweise berücksichtigt worden wären, Vermögensschäden wegen des entgangenen Arbeitsplatzes in Nichtvermögensschäden oder andere Persönlichkeitsrechtsverletzungen umzudeuten, um angemessene Entschädigungsbeträge zusprechen zu können, unter dogmatischen Gesichtspunkten kaum befriedigen 509 . Die deutsche Rechtspraxis war also trotz der Nachbesserungsversuche der Rechtsprechung nach wie vor europarechtswidrig 510 . Wie sehr, verdeutlichte 1990 noch einmal der Europäische Gerichtshof: In einem Urteil auf Grund eines Vorabentscheidungsersuchens des Höge Raad der Niederlande bestätigte dieser nicht nur seine früheren Entscheidungen, sondern betonte zusätzlich, dass „jeder Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot für sich genommen ausreichen müsse], um die volle Haftung seines Urhebers auszulösen, ohne daß die im nationalen Recht vorgesehenen Rechtfertigungsgründe berücksichtigt werden können" 511 . Aber nicht nur unter gemeinschaftsrechtlichen Aspekten erwies sich der durch §611 a B G B ursprünglich gewährte Schutz vor geschlechtsbedingter Benachteili507 A.Junker, Arbeits- und Sozialrecht, S.281. Ablehnend dagegen: E. Herrmann, Abschlußfreiheit, S. 49f.; dieser folgend: M. Volmer, Punitive Damages, S. 1583, da in der Regel das Persönlichkeitsrecht des abgelehnten Arbeitnehmers lediglich „berührt", nicht jedoch verletzt sei. 5 0 8 So etwa in der bereits zitierten Entscheidung B A G E 61, S.219ff., 225 (14.3.1989), bei der der Arbeitgeber als Betreiber eines Männerwohnheims ein ausgewogenes Verhältnis von männlichen und weiblichen Sozialarbeitern angestrebt hatte und die abgewiesene weibliche Bewerberin hierdurch in ihrem beruflichen Fortkommen nicht nachhaltig geschädigt wurde. Zur Unverzichtbarkeit des Verschuldenserfordernisses bei der Gewährung einer Geldentschädigung für eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts auch bei einer Diskriminierung i.S.d. §611 a I B G B i.d.F. von 1994: B A G AP, Nr. 226 zu Art. 3 G G (Urt. vom 5.3.1996); zu diesem Mangel des Lösungswegs des B A G auch: F. Heither, Art. 119 EWG-Vertrag, S.619. 509 P. Müller, Punitive Damages, S. 157; Th. Thees, Arbeitnehmer-Persönlichkeitsrecht, S.245ff.; P. Hommelhoff, Zivilrecht, S. 97f., bezeichnete diesen Lösungsweg daher als „ergebnisorientiertes Konstrukt überprüfungsbedürftigen Charakters" und schlug eine Einordnung des Rechts auf chancengleiche Verfahrensteilnahme als nach § 611 a II B G B analog zu schützendes Vermögensrecht vor. 5 1 0 Zu den verbleibenden Entschädigungslücken vgl. M. Worzalla, Folgen, S.2446. 511 E u G H Slg. 1990,1-3941 ff., 3942 (Leitsätze des Urteils vom 8.11. 1990 - Dekker gegen VJVCentrum).
340
C. Pönale Elemente der Privatrechtsordnung unter dem BGB
gung als ungenügend. Vielmehr stellte 1993 das Bundesverfassungsgericht klar, dass sich auch aus Art. 3 II G G das G e b o t ergebe, § 6 1 1 a B G B als effektive Schutznorm zu interpretieren. D e n Gerichten käme daher die Aufgabe zu, die dort getroffene R e gelung „im Lichte des Art. 3 Abs. 2 G G so auszulegen suchende gungen
und anzuwenden, daß Arbeits-
bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses wirksam vor wegen des Geschlechts geschützt
Benachteili-
werden"512.
Erst mit dem Zweiten Gleichberechtigungsgesetz v o m 2 4 . 6 . 1 9 9 4 5 1 3 , das vor allem der Umsetzung verschiedener auf die Gleichbehandlung von Männern und Frauen zielender europarechtlicher Richtlinien dienen sollte, kam es dann jedoch zur längst überfälligen Neufassung des § 6 1 1 a B G B . Zu diesem Zeitpunkt waren dem deutschen Gesetzgeber die Mindestanforderungen der Gleichbehandlungsrichtlinie und des Grundgesetzes an die abschreckende Wirkung der Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot auf G r u n d der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts bekannt. Hätte man einen Konflikt mit dem von der deutschen Deliktsrechtsdogmatik zumindest zu dieser Zeit noch postulierten Reinheitsgebot, das pönale Entschädigungen und erst recht Privatstrafen ablehnte, vermeiden wollen, hätte es daher nahegelegen, eine zweispurige Regelung zu wählen: einerseits Sanktionsnormen im Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrecht, andererseits eine Schadensersatznorm im B G B . Stattdessen entschied sich der Gesetzgeber jedoch für eine Fortschreibung der (vermeintlich) weniger einschneidenden, rein privatrechtlichen Ahndung geschlechtsbezogener Diskriminierungen. D i e 1994 getroffene Regelung ähnelte dementsprechend schon in vielerlei Hinsicht der heutigen Fassung, machte die Haftung des Arbeitgebers allerdings noch von dessen Verschulden abhängig und beschränkte die H ö h e der zu leistenden Entschädigung einheitlich auf maximal drei Monatsgehälter. Zusätzlich begrenzte nunmehr ein neu eingeführter § 61 b A r b G G die von einem Arbeitgeber pro Auswahlverfahren an alle diskriminierten B e w e r b e r insgesamt höchstens zu zahlende Entschädigung auf sechs bis zwölf Monatsgehälter. Mit diesem „Mengenrabatt" für Mehrfachtäter (sog. Summenbegrenzungsverfahren) sollten insbesondere Kleinbetriebe davor bewahrt werden, ruinösen Entschädigungspflichten ausgesetzt zu werden 5 1 4 . 5 1 2 So BVerfGE 89, S.276ff., 276 (Beschluss vom 16.11. 1993), wobei das BVerfG allerdings die Frage der Angemessenheit der in §611 a B G B vorgesehenen Sanktionen einer Diskriminierung ausdrücklich offen ließ und lediglich der Zulässigkeit des Nachschiebens von sachlichen Ablehnungsgründen durch den Arbeitgeber enge Grenzen setzte sowie eine Billigung der Gewährung einer Geldentschädigung wegen Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechtsandeutete (S.286f.). Zum Verhältnis von §611 a B G B zu Art. 3 G G vgl. auch M. Zimmer, Diskriminierung, S. 1203f.; D. Dungs, Europäisierung, S. 152ff.; umfassend jetzt auch: J.-G. Büddecker, Die Rechtsprechung des B A G zum arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz unter dem Blickwinkel des Verfassugsrechts (2002). 5 1 3 Vgl. Art. 7, BGBl I 1994, S.1406ff., 1411. 514 Ablehnend zu dieser einseitigen Berücksichtigung der wirtschaftlichen Interessen diskriminierender Arbeitgeber: M. Gutscbe, Gleichberechtigungsgesetz, S. 147; D. Schiek, Draehmpaehl, S. 586; U. Battis/A. Eisenhardt, Gesetzgebung, S. 21 ¡dagegen für einen „Überforderungsschutz" des Arbeitgebers bei mehreren Klägern noch: P. Hanau, Beweislast, S.364.
II. Regelungen
mit vorrangig
oder ausschließlich
pönaler
Zielsetzung
341
O b w o h l ein Anspruch auf Einstellung weiterhin ausdrücklich ausgeschlossen blieb 515 , stellte diese Form der Diskriminierungsentschädigung nach Auffassung eines Teils der Literatur bereits einen unzulässig weitgehenden Eingriff in die Vertragsabschlussfreiheit und damit die Privatautonomie der Arbeitgeber dar, da diese wegen der insbesondere bei mehreren Anspruchstellern unter Umständen nicht unerheblichen Entschädigungshöhe genötigt würden, ein Beschäftigungsverhältnis mit dem formal bestqualifizierten Bewerber einzugehen, um sich nicht dem Vorwurf der Diskriminierung auszusetzen 516 . Andere rügten die auf Abschreckung zielende, unter Verzicht auf den Nachweis eines Schadens allein auf die rechtswidrige Handlung des Entschädigungspflichtigen abstellende Ausgestaltung des Anspruchs: Diesem käme dadurch ein pönaler, dem deutschen Privatrecht fremder Charakter zu 517 , der ihn den „punitive damages" des US-amerikanischen Rechts annähere 518 . Gerade die im letztgenannten Sinne argumentierenden, eher dogmatisch als rechtspolitisch motivierten Kritiker des §611 a B G B i.d.F. von 1994 drängten daher regelmäßig nachdrücklich auf die Uberführung der pönalen Elemente dieser Vorschrift in das O r d nungswidrigkeiten- oder Strafrecht 519 . Nicht selten wurde allerdings in der Sanktionierung geschlechtsbezogener Diskriminierungen auch lediglich eine Aufforderung an die Arbeitgeber zur Heuchelei gesehen, da es diesen meist gelänge, sich einer Haftung zu entziehen, sofern sie nur alle Stellen geschlechtsneutral ausschrieben und im Übrigen erforderlichenfalls unbedenkliche Gründe bei der Ablehnung von Bewerbern des anderen Geschlechts vorschöben 5 2 0 . In Anbetracht der die Gleichbehandlungsrichtlinie kontinuierlich konkretisierenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 5 2 1 herrschte mehrheitlich jedoch darüber Einigkeit, dass die danach von diskriminierten Bewerbern zu beanspruchende Entschädigung noch immer hinter den Maßgaben der Richtlinie zurück-
515 §611 a III B G B . Zur Richtlinienkonformität dieses Ausschlusses: E u G H Slg. 1984,1-1891 ff., 1892 (Leitsätze des Urteils vom 10.4. 1984); insofern übereinstimmend mit E u G H Slg. 1984, I1921 ff., 1922 (Leitsätze des Urteils vom 10.4. 1984): „Die Richtlinie ... schreibt nicht vor, als Sanktion für eine wegen des Geschlechts erfolgte Diskriminierung ... den Arbeitgeber ... zum Abschluß eines Arbeitsvertrags mit dem diskriminierten Bewerber zu verpflichten". 516 M. Volmer, Punitive Damages, S. 1582ff.; E. Herrmann, Abschlußfreiheit, S.28ff. 517 Staudinger/.Richardi/Annuß, B G B , §611 a, Rn. 19f.; M. Volmer, Punitive Damages, S. 1582. 518 So z.B. K. Adomeit, Arbeitsrecht, S.2295; M. Volmer, Punitive Damages, S. 1582ff.;/. Rosengarten, S. 1937; E. Herrmann, Abschlußfreiheit, S.37ff.; P. Müller, Punitive Damages, S.162 (nach dem durch §611 a B G B seit 1994 „punitive damages für diesen Teilbereich auch in Deutschland ihre legislatorische Anerkennung gefunden" haben. 519 So etwa M. Volmer, Punitive Damages, S. 1585; ähnlich noch nach der Reform von 1998: G. Brüggemeier, Ausgestaltung, S. 765. 520 K. Adomeit, Arbeitsrecht, S.2296; ähnlich B. Göpfert, Diskriminierung, S.751 (der §611 a B G B daher jede größere praktische Bedeutung abspricht); C. W. Hergenröder, Anmerkung, S. 1176. 521 Wegweisend für die Rechtslage in Deutschland wurde v.a. die auf das britische Recht bezogene Entscheidung des E u G H vom 2.8. 1993 (Marshall gegen Southampton and South West Hampshire Area Health Authority - Marshall II), E u G H Slg. 1993, I-4367ff., 4368, wonach feste Entschädigungsregelungen mit festen Obergrenzen nicht als richtlinienkonforme Sanktionierung von Verstößen gegen das Benachteiligungsverbot anzusehen waren.
342
C. Pönale Elemente der Privatrechtsordnung unter dem BGB
blieb 5 2 2 . O f f e n b a r nur um diesen Eindruck durch den Europäischen Gerichtshof bestätigen zu lassen, inszenierte der Student Nils Draehmpaehl wenige W o c h e n nach dem Inkrafttreten der Neufassung des § 6 1 1 a B G B 1994 auf der Grundlage einer lediglich an weibliche Bewerber gerichteten (lancierten?) Stellenausschreibung eine geschlechtsbezogene Diskriminierung, die ihm den Anlass für eine Klage auf eine Entschädigung von 3 1/2 Monatsgehältern bot 5 2 3 . Das Arbeitsgericht H a m b u r g zeigte sich kooperativ und legte den Fall Draehmpaehl ohne zwingende Veranlassung 5 2 4 dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vor. Dieser führte daraufhin 1997 den allgemeinen Erwartungen der deutschen Rechtsöffentlichkeit entsprechend 5 2 5 seine bisherige Rechtsprechung fort und verwarf die 1994 in § 611 a B G B und § 61 b A r b G G getroffenen Entschädigungsregelungen in mehrfacher H i n sicht als unzureichend: D i e Gleichbehandlungsrichtlinie chen Regelung
entgegen,
stehe „einer
innerstaatli-
die für einen Anspruch auf Schadensersatz wegen Diskri-
minierung aufgrund des Geschlechts bei der Einstellung die Voraussetzung schuldens
des
Ver-
aufstellt". D a r ü b e r hinaus müsse die von einem Mitgliedsstaat für eine
Diskriminierung festgelegte „Sanktion zur Gewährleistung eines tatsächlichen und wirksamen Rechtsschutzes geeignet sein, eine wirklich
abschreckende
Wirkung
genüber dem Arbeitgeber [zu] haben und auf jeden Fall in einem angemessenen Schaden
stehen". Daraus folge unter anderem die
geVer-
hältnis
zum erlittenen
barkeit
einer innerstaatlichen Bestimmung mit der Richtlinie, die „im Gegensatz zu
sonstigen innerstaatlichen zivil- und arbeitsrechtlichen Regelungen eine grenze
von
drei
Monatsgehältern
UnvereinHöchst-
vorgibt, falls dieser B e w e r b e r bei diskriminie-
rungsfreier Auswahl die zu besetzende Position erhalten hätte, daß sie aber einer innerstaatlichen Regelung nicht entgegensteht, die für den Schadensersatz, den ein B e werber verlangen kann, eine Höchstgrenze von drei Monatsgehältern vorgibt, wenn der Arbeitgeber beweisen kann, daß der Bewerber die zu besetzende Position wegen
522 Vgl. nur statt aller: M. Franzen, Rechtsangleichung, S. 809; M. Gutsche, Gleichberechtigungsgesetz, S. 143ff.; D. Dungs, Europäisierung, S. 218f., 225;J. Rosengarten, S. 1937; M. Coester, Diskriminierung, S.26; H. Schliemann, Gleichberechtigung, S.578; a.A. wohl E. Herrmann, Wege, S. 179, die §611 a BGB i.d.F. von 1996 zwar als dogmatisch missglückt, aber immer noch dem US-amerikanischen Sanktionssystem bei Diskriminierungen eindeutig überlegen bewertet. 523 Zu den Anhaltspunkten für die gezielte Herbeiführung eines Präzedenzfalls zur Feststellung der fehlenden Richtlinienkonformität von §611 a BGB i.d.F. von 1994 durch den EuGH vgl. H. Oetker, Anmerkung, S. 804; K. Adomeit, Arbeitsrecht, S.2296; B. Göpfert, Diskriminierung, S. 751; H. Schliemann, Gleichberechtigung, S.579. 524 So hatte der Kläger insbesondere in keiner Weise begründet, warum er ausgerechnet eine Entschädigung von 3 1/2 Monatsgehältern beanspruchte, vgl. hierzu H. Oetker, Anmerkung, S. 804; B. Göpfert, Diskriminierung, S. 751 („Der Fall ist ein Lehrstück für den Mißbrauch des Art. 177 EWGV"). Deshalb wie A. Junker (Arbeits- und Sozialrecht, S. 281) von einer „Vorlagehysterie" der deutschen Gerichte bei Gleichberechtigungsfragen zu sprechen, erscheint aber dennoch übertrieben: Dagegen spricht schon die hohe Quote von Urteilen des EuGH, die deutsche Regelungen auf diesem Gebiet als gemeinschaftsrechtswidrig verwirft. 525 Vgl. nur: H. Oetker, Anmerkung, S. 802; H. Otto, Anmerkung, S. 80; M. Schlachter, Anmerkung EuGH, S. 317; B. Göpfert, Diskriminierung, S.751; G. Annuß, Grundfragen, S. 740; C. W. Hergenröder, Anmerkung, S. 1175; R. Abele, Schadensersatz, S.641.
II. Regelungen
mit vorrangig
oder ausschließlich
pönaler
Zielsetzung
343
der besseren Qualifikation des eingestellten Bewerbers auch bei diskriminierungsfreier Auswahl nicht erhalten hätte" 526 . Erneut stand die deutsche Rechtswissenschaft und Rechtsprechung damit vor der Aufgabe, ungeachtet der unzulänglichen gesetzlichen Regelung dem deutschen Privatrecht die Grundlage für eine richtlinienkonforme Diskriminierungsentschädigung abzuringen. Einige versuchten dieses Ziel zu erreichen, indem sie die von §611 a II B G B i.d.F. von 1994 zugebilligte „angemessene Entschädigung" lediglich auf die von den benachteiligten Arbeitnehmern erlittenen Nichtvermögensschäden bezogen, daneben aber für den Ersatz etwaiger Vermögensschäden auf §§823 II i.V.m. 611 a I B G B oder culpa in contrahendo zurückgreifen wollten 527 . Begründet wurde dies zum einen mit der durch die Gesetzesänderung entfallenden Beschränkung auf die Ersetzbarkeit des negativen Interesses, zum anderen mit den terminologischen Parallelen zwischen der Entschädigungsregelung in § 611 a l l B G B mit denjenigen in § 847 B G B a.F. und § 1300 B G B a.F. 528 . Andere waren zu noch weitergehenden dogmatischen Zugeständnissen bereit. So befürwortete etwa Oetker als Anspruchsgrundlage eine verschuldensunabhängige Abart der culpa in contrahendo 529 , während Brüggemeier vorschlug, ergänzend zu den verschuldensabhängigen Ansprüchen aus culpa in contrahendo und §§ 823 I, 823 II i.V.m. 611 a I B G B aus den Art. 5, 189 III E G V „einen europarechtlich begründeten Sondertatbestand der verschuldensunabhängigen Schadensersatzhaftung für Geschlechtsdiskriminierung im Arbeitsleben" herzuleiten 530 . Noch bevor es zu einer höchstrichterlichen Befassung mit diesen Lösungswegen kommen konnte, entschloss sich allerdings der deutsche Gesetzgeber, nunmehr das deutsche Recht den Vorgaben der Gleichbehandlungsrichtlinie in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof in jeder Hinsicht anzupassen. Bereits wenige Monate nach der Draehmpaehl-Entscheidung trat daher 1998 die heutige Version des § 611 a B G B in Kraft 531 . Wiederum wurde also die Gelegenheit zur Aufspaltung der Rechtsfolgen einer geschlechtsbezogenen Diskriminierung in eine öffentlichrechtliche Sanktion und eine privatrechtliche Entschädigung nicht genutzt. Vielmehr entschied sich der Gesetzgeber mit der Neufassung des §611 a B G B erneut und in Anbetracht der Kritik an dessen vorheriger Fassung eindeutig sehenden Auges für eine pönale Entschädigungsregelung im B G B , um „die diskriminierungsfreie Durchführung des Stellenbesetzungsverfahrens und damit die Umsetzung der Richtlinie 76/207/EWG zu gewährleisten" 532 . Hierbei wurde der bisherige Wortlaut 526 E u G H Slg. 1997,1-2195ff., 2196f. (Leitsätze des Urteils vom 2 2 . 4 . 1 9 9 7 - Draehmpaehl gegen Urania Immobilienservice O H G ) . 527 H. Oetker, Anmerkung, S. 803; M. Gutsche, Gleichberechtigungsgesetz, S. 152; G. Brüggemeier, Ausgestaltung, S. 759f. 528 H. Oetker, Anmerkung, S. 803; G. Brüggemeier, Ausgestaltung, S. 761 f. 529 H. Oetker, Anmerkung, S. 803f.; abl. hierzu: B. Göpfert, Diskriminierung, S. 751. 530 G. Brüggemeier, Ausgestaltung, S. 764. 531 Gesetz zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 29.6. 1998, B G B l I 1998, S. 1694f. 532 So die Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 13/10242 vom
344
C. Pönale Elemente
der Privatrechtsordnung
unter dem
BGB
des § 611 a BGB weitgehend beibehalten, wenn auch unter peinlichst genauer Einarbeitung der Monita aus Luxemburg. b) §611 a BGB i.d.F. von 1998 Die seit 1998 geltende Fassung von § 611 a I BGB verbietet wie schon ihre Vorgänger die Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern durch Arbeitgeber auf Grund ihrer Geschlechtszugehörigkeit, soweit nicht „ein bestimmtes Geschlecht unverzichtbare Voraussetzung" für die von dem Arbeitnehmer auszuübende Tätigkeit ist. U m den Arbeitnehmer nicht vor unlösbare Beweisprobleme zu stellen 533 , obliegt die Beweislast hierfür grundsätzlich dem Arbeitgeber 534 . Der Arbeitnehmer muss dagegen lediglich den Nachweis einer tatsächlich unterschiedlichen Behandlung erbringen und Tatsachen glaubhaft machen, die eine darin liegende geschlechtsbedingte Benachteiligung vermuten lassen535. Meist, wenn auch nicht zwingend, geschieht dies durch den Hinweis auf eine nicht geschlechtsneutral formulierte Stellenausschreibung 536 . Mit Rücksicht auf den Schutzzweck des §611 a BGB ist ein bestimmtes Geschlecht des Arbeitnehmers nur dann als unverzichtbar anzusehen, ,,[w]enn ein Angehöriger des jeweils anderen Geschlechts die vertragsgemäße Leistung nicht erbringen könnte und dieses Unvermögen auf Gründen beruht, die ihrerseits der gesetzlichen Wertentscheidung der Gleichberechtigung beider Geschlechter genügen". Ausreichend ist also keineswegs jeder sachliche Grund des Arbeitgebers für die Bevorzugung eines bestimmten Geschlechts, sondern es sind „erheblich höhere Anforderungen an das Gewicht des rechtfertigenden Umstandes" zu stellen 537 . Daher rechtfertigt es 30.3. 1998, S. 6, die sich i.Ü. weitgehend auf eine Wiedergabe von Auszügen aus dem DraehmpaehlUrteil beschränkt. 533 So die B e g r ü n d u n g des Regierungsentwurfs z u m Arbeitsrechtlichen EG-Anpassungsgesetz, BT-Drucks. 8/3317 v o m 6.11. 1979, S.6ff., 9; vgl. dazu auch S t a u d i n g e r / R i c h a r d i / A n n u ß , B G B , §611 a, Rn.97; ErfK/Schlachter, §611 a BGB, Rn.23. 534 §611 a I 3 BGB; Art. 4 I der Beweislastrichtlinie v o m 15.12. 1997, R L 9 7 / 8 0 / E G , ABl E G N r . L 14/6 v. 20.1.1998; zur Vereinbarkeit beider Regelungen: Staudinger /Richardi/Annuß, B G B , §611 a, Rn. 105; Ch. Bergwitz, EG-Richtlinie, S. 98; F. Hohmeister, Gesetzesänderungen, S. 1792; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieser Beweislastverteilung: BVerfG AP, N r . 19 zu §611 a B G B (Nichtannahmebeschluss v o m 23.8. 2000); in diesem Sinne auch schon: BVerfGE 89, S. 276ff., 290 (Beschluss v o m 16.11. 1993). U m f a s s e n d zur E n t w i c k l u n g der Beweislastregelung in §611 a BGB: P. Hanau, Beweislast, S. 351 ff. 535 U m f a s s e n d zur in mehrfacher Hinsicht unklaren Beweislastregelung in §611 a I BGB: Staud i n g e r / R i c h a r d i / A n n u ß , B G B , §611 a, R n . 9 7 f f . 536 So etwa in d e m der D r a e h m p a e h l - E n t s c h e i d u n g des E u G H zu G r u n d e liegenden Fall, vgl. E u G H Slg. 1997,1-2195ff., 2200 (22.4.1997); weitere Beispiele f ü r nicht geschlechtsneutrale Stellenanzeigen als hinreichende Vermutungstatsachen z.B.: B A G , Urteil v o m 27.4. 2000 (8 A Z R 295/99, G r ü n d e i.W. nicht veröffentlicht, Kurzfassung; A u A 2000, S. 281 f.); L A G H a m m AP, N r . 15 zu §611 a B G B (22.11.1996), Bl. 65 R; L A G Köln, Urteil v o m 25.2.2000 (12 Sa 1402/99, G r ü n d e nicht veröffentlicht); A r b G Hannover, Urteil v o m 25.6. 1999 (11 C a 518/98, G r ü n d e nicht veröffentlicht). 537 Zitate nach: B A G , Urteil vom 27.4. 2000 (8 A Z R 295/99, G r ü n d e i.W. nicht veröffentlicht, Kurzfassung: A u A 2000, S.281f.); ebenso auch schon: B A G E 90,170ff., 177 (12.11.1998); unzureichend f ü r die Zulässigkeit der Beschränkung auf männliche Bewerber ist daher etwa das Ziel, f ü r die Betreuung männlicher Jugendliche zur Verwirklichung eines sozialpädagogischen K o n z e p t s m a n n -
II. Regelungen
mit vorrangig
oder ausschließlich
pönaler
Zielsetzung
345
z.B. die Tatsache, dass eine Tätigkeit große physische Anstrengungen verlangt, wie etwa das Tragen von 50-kg-Säcken, nicht, hierfür von vornherein nur Männer zu berücksichtigen 538 . Ebensowenig muss es sich bei Gleichstellungsbeauftragten zwangsläufig um Frauen handeln 5 3 9 . Andererseits besteht aber z.B. kein Zwang, eine männliche Schauspielerrolle mit einer Frau zu besetzen 540 . A u c h scheidet die Benachteiligung eines Arbeitnehmers „wegen seines Geschlechts" aus, wenn es diesem objektiv an der nötigen Eignung f ü r die zu besetzende Stelle fehlt 5 4 1 . Verstößt ein Arbeitgeber gegen das aus § 6 1 1 a I B G B folgende Gleichbehandlungsgebot, erwächst dem benachteiligten Arbeitnehmer dadurch verschuldensunabhängig ein Anspruch auf eine „angemessene Entschädigung". Kann der Arbeitgeber beweisen, dass die geschlechtsbedingte Diskriminierung des Arbeitnehmers nicht kausal f ü r dessen Nichteinsteilung war 5 4 2 , ist deren Höhe auf maximal drei Monatsverdienste beschränkt ( § 6 1 1 a III BGB), scheitert dieser Beweis, unterliegt sie keiner Kappungsgrenze ( § 6 1 1 a II BGB). Umstritten war zunächst, ob diskriminierten Arbeitnehmern, bei denen eine Kausalität der Benachteiligung f ü r die Nichteinsteilung nicht ausgeschlossen werden konnte, ein Wahlrecht zwischen Einstellung und Entschädigung einzuräumen war. Entsprechende Forderungen erhoben u.a. der Bundesrat 5 4 3 , SPD 5 4 4 und Grüne 5 4 5 . Die Bundesregierung lehnte dies jedoch als „weder europarechtlich geboten noch sachlich gerechtfertigt" ab, da ein Einstellungsanspruch in erster Linie nicht den Arbeitgeber, sondern den unschuldigen A r beitnehmer treffen würde, der statt des diskriminierten Arbeitnehmers angestellt
liehe Sozialpädagogen/Erzieher beschäftigen zu wollen: LAG Düsseldorf NZA-RR 2002, S. 345f. (1.2. 2002). 538 So LAG Köln NZA-RR 2001, S. 2321,233 (8.11.2000), da „keine Rede davon sein [kann], dass nach allgemeiner Lebenserfahrung eine Frau dazu von vornherein nicht in der Lage ist". 539 BAGE 90, S.170ff., 180 (12.11. 1998 - Gleichstellungsbeauftragter nach §5 GemeindeO NRW). 540 So schon die Begründung zum Regierungsentwurf für ein Arbeitsrechtliches EG-Anpassungsgesetz, BT-Drucks. 8/3317 vom 6.11. 1979, S.6ff., 9. 541 BAGE 90, S. 170ff., 180 (12.11. 1998); LAG Köln, Urteil vom 25.2. 2000 (12 Sa 1402/99, Gründe nicht veröffentlicht). Ahnlich bereits die Begründung zu §611 a BGB i.d.F. von 1994, vgl. BT-Drucks. 12/7333 vom 20.4.1994, Begründung zum 2. Gleichberechtigungsgesetz, S. 37 („Es soll nicht jeder auch für die Stelle ungeeigneter Bewerber einen Anspruch haben"). 542 Gemäß § 611 a Abs. 5 BGB finden die Regelungen über die Entschädigung bei geschlechtsbedingter Diskriminierung in den Abs. 2—4 auf sonstige Benachteiligungen beim beruflichen Aufstieg entsprechende Anwendung, sofern dem Arbeitnehmer nicht ein Anspruch auf diesen Aufstieg zusteht. Die vielfach übliche Bezeichnung „bestqualifizierter Bewerber" für den Anspruchsberechtigten nach § 611 a l l BGB ist ungenau, da zum einen keine Pflicht zur Einstellung des Bestqualifizierten besteht (vgl. dazu//. Löwe, Gedanke, S.216f.), zum anderen wegen der Beweislast des Arbeitgebers für die fehlende Kausalität der Diskriminierung für die Nichteinsteilung auch nach dieser Vorschrift (und nicht nur nach §611 a III BGB) Ansprüche mehrerer Bewerber bestehen können. 543 Stellungnahme des Bundesrats zum Regierungsentwurf zur Änderung von § 611 a BGB, BTDrucks. 13/10242 vom 30.3. 1998, S. 10f., 10. 544 So schon im SPD-Entwurf für ein Gleichstellungsgesetz von 1988, BT-Drucks. 11/3728 vom 13.12. 1988, §7 I, S.6. 545 Ygj b e r e i t s J e n Gesetzentwurf der Grünen für ein Antidiskriminierungsgesetz von 1988, BTDrucks. 11/3266 vom 7.11. 1988, Art.4, Ziff. 1, S.8.
346
C. Pönale Elemente
der Privatrechtsordnung
unter dem
BGB
worden war und dem gekündigt werden müsste, um seinen Arbeitsplatz mit dem Diskriminierten besetzen zu können 5 4 6 . Es blieb daher, wie bereits zuvor vom Europäischen Gerichtshof als richtlinienkonform gebilligt 547 , bei der ausdrücklichen A b lehnung eines Einstellungsanspruchs in §611 a II B G B . An die Stelle der sonst den Regelfall bildenden Naturalrestitution (§249 S. 1 B G B ) tritt bei einer Verurteilung nach §611 a B G B also bei Vermögensschäden, Nichtvermögensschäden und sonstigen Persönlichkeitsrechtsverletzungen stets Geldentschädigung. Das Verhältnis der Diskriminierungsentschädigung
zu anderen wegen
ge-
schlechtsbedingter Benachteiligungen in Betracht kommenden Ansprüchen (v.a. § § 2 8 0 I, 311 II, 241 II B G B ; § § 8 2 3 II i.V.m. 611 a I B G B ; Geldentschädigung für Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach § 8 2 3 I B G B i.V.m. Art. 1, 2 G G ) lässt sich dem Wortlaut des § 611 a B G B nicht eindeutig entnehmen. Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift spricht jedoch dafür, dass der Gesetzgeber mit ihrer Neufassung eine abschließende Regelung der Rechtsfolgen geschlechtsbedingter Benachteiligungen im Arbeitsleben treffen wollte 5 4 8 . Praktische Bedeutung dürfte der Verdrängung anderer Anspruchsgrundlagen allerdings kaum zukommen, da abgesehen von der Ausschlussfrist in §611 a IV B G B die sonstigen wegen der Diskriminierung denkbaren Ansprüche des Arbeitnehmers durchweg an strengere Anforderungen auf der Tatbestandsseite geknüpft sind (Verschulden, kausaler Schaden), während ihre Rechtsfolgen hinter denen des §611 a B G B zurückbleiben 5 4 9 . aa) Umfang, H ö h e und Rechtsnatur des Entschädigungsanspruchs Auch nach der Novellierung von 1998 lassen sich dem Wortlaut des § 611 a B G B keine eindeutigen Kriterien für die Ermittlung der H ö h e der danach zu gewährenden Entschädigung entnehmen 5 5 0 . Nach der Begründung des Regierungsentwurfs soll
5 4 6 So die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrats, BT-Drucks. 13/10344 vom 2.4. 1998. 5 4 7 E u G H Slg. 1984,1-1891ff., 1892 (Leitsätze des Urteils vom 10.4.1984); insofern übereinstimmend mit E u G H Slg. 1984,1-1921 ff., 1922 (Leitsätze des Urteils vom 10.4.1984); vgl. zu den Gründen hierfür auch: ErfK/Schlachter, §611 a B G B , Rn.34. 5 4 8 So auch: B. Zwanziger, Neuerungen, S. 1331; F. Hohmeister, Gesetzesänderungen, S. 1791; H. Schliemann, Gleichberechtigung, S. 5 8 1 ; / / . Löwe, Gedanke, S. 221 f.; bezogen auf die Rechtslage vor 1998 noch a.A. [keine Verdrängung von Ansprüchen aus culpa in contrahendo oder § 823 B G B , denen wegen der dort für den Arbeitnehmer ungünstigeren Beweislastregeln aber dennoch keine Bedeutung zukommt]: MünchKomm/Müller-Glöge, B G B , §611 a, Rn.47. 5 4 9 Etwaige Ansprüche des Arbeitnehmers, die auf einem über die bloße Diskriminierung hinausgehenden Fehlverhalten des Arbeitgebers beruhen, etwa Geldentschädigungsansprüche wegen einer aus Anlass der Ablehnung erfolgten Persönlichkeitsrechtsverletzung in Fällen des § 611 a III B G B (die also anders als die dort geregelte Entschädigung nicht der Kappungsgrenze von drei Monatsverdiensten unterliegen), bleiben ohnehin von Ansprüchen aus § 611 a B G B unberührt, da dieser nach seiner klaren Zielsetzung die Rechtslage des diskriminierten Arbeitnehmers verbessern will und daher keinesfalls zu ihrer Verschlechterung missbraucht werden darf. 5 5 0 Als Regelfall einer entschädigungsbegründenden Diskriminierung sieht § 611 a l l bis IV B G B die Benachteiligung bei der Begründung des Arbeitsverhältnisses vor. Gemäß § 611 a V B G B sind die dort getroffenen Bestimmungen aber im Hinblick auf Diskriminierungen beim beruflichen Aufstieg
II. Regelungen
mit vorrangig
oder ausschließlich
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Zielsetzung
347
aber zumindest die Festsetzung der auf maximal drei Monatsverdienste beschränkten Entschädigung gemäß §611 a III B G B „nach Schwere des Verstoßes im Einzelfall und unter Abwägung der Interessen des diskriminierten Bewerbers und der wirtschaftlichen Auswirkungen für das Unternehmen" erfolgen 5 5 1 . Darüber hinaus kann aus der äußerst engen Anlehnung der Gesetzesbegründung an die Formulierungen der Draehmpaehl-Entscheidung geschlossen werden, dass es dem Gesetzgeber vorrangig darauf ankam, nunmehr endgültig und umfassend den Vorstellungen des Europäischen Gerichtshofs von einer aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht akzeptablen Entschädigungsregelung bei geschlechtsbedingten Diskriminierungen im Arbeitsleben zu entsprechen 5 5 2 . Diese können daher jedenfalls solange uneingeschränkt zur Auslegung von §611 a B G B herangezogen werden, wie dies nicht zu Widersprüchen mit höherrangigem deutschen (Verfassungs-)Recht führt. Ausgangspunkt für die Bemessung der Diskriminierungsentschädigung ist danach der umfassende Entschädigungsbegriff des Europäischen Gerichtshofs, der jegliche Nachteile des Arbeitnehmers durch die Diskriminierung umfasst 5 5 3 . Ersetzt wird also das positive Interesse des Diskriminierten, nicht mehr, wie nach § 611 a B G B i.d.F. von 1980, nur der Vertrauensschaden. Auch verdeutlicht schon die Wahl der mit der Formulierung in den §§253, 847 a.F., 651 f II B G B übereinstimmenden Bezeichnung „Entschädigung" statt „Schadensersatz", dass nicht nur materielle, sondern auch immaterielle Nachteile nach § 611 a B G B zu entschädigen sind 5 5 4 . Darüber hinaus muss, nicht zuletzt wegen der auf unterschiedliche Absätze des § 611 a B G B verteilten Regelung und der auf Entschädigungen nach Abs. 3 beschränkten Höhenbegrenzung, zwischen Arbeitnehmern differenziert werden, bei denen die Diskriminierung nachweislich nicht kausal für ihre Nichteinsteilung wurde und denjenigen, bei denen ein solcher Nachweis vom Arbeitgeber nicht erbracht werden konnte 5 5 5 . (1) Vermögensschäden Arbeitnehmern, bei denen eine Kausalität der Benachteiligung für die Nichteinstellung nicht ausgeschlossen werden konnte, ist zunächst der gesamte ihnen durch die unterbliebene Einstellung entstandene Vermögensschaden nach den allgemeinen Bestimmungen zu ersetzen. Dieser folgt in der Regel aus dem monatlichen Verdienst, der sich aus der vom Arbeitnehmer angestrebten Einstellung ergeben hätte, entsprechend anzuwenden, sofern der benachteiligte Arbeitnehmer keinen Anspruch auf diesen Aufstieg hat. 551 Begründung zur Änderung von §611 a B G B durch den Gesetzesentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 13/10242 vom 30.3. 1998, S.8. 552 Vgl. die Begründung zur Änderung von § 611 a B G B durch den Gesetzesentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 13/10242 vom 30.3. 1998, S.6ff. 5 5 3 Staudinger/Richardi/Annuß, B G B , §611 a, Rn.84. 554 U. Wendeling-Schröder, Wert, S. 1014; H. Löwe, Gedanke, S.219; M. Volmer, Punitive Damages, S. 1583. 5 5 5 Grundlegend zur hier i.W. befürworteten Aufteilung des Umfangs der Entschädigung nach §611 a B G B in die drei Bestandteile Vermögensschaden, Nichtvermögensschaden, Strafzuschlag: Staudinger/Richardi/Annuß, B G B , §611 a, Rn.85ff.
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der Privatrechtsordnung
unter dem
BGB
abzüglich der Einkünfte, die der Arbeitnehmer stattdessen erzielt oder im Rahmen seiner Schadensminderungspflicht (§254 BGB) böswillig zu erzielen unterlassen hat sowie etwaiger durch die Nichteinsteilung ersparter Aufwendungen 556 . Zweifelhaft erscheint insofern allein, ob dies im Extremfall, etwa bei einer sehr speziellen Qualifikation des Arbeitnehmers, zu einer Quasi-Vergütungspflicht des diskriminierenden Arbeitgebers bis zum Erreichen des Rentenalters durch den Arbeitnehmer führen kann oder ob nur maximal von dem Zeitraum, nach dem frühestens eine Kündigung möglich gewesen wäre, auszugehen ist. Gegen eine Begrenzung des Vermögensschadens des Arbeitnehmers im letztgenannten Sinne wird in der Literatur zum Teil angeführt, diese würde die unzulässige Diskriminierung des Arbeitnehmers lediglich um wenige Monate nach hinten verlagern und die abschreckende Wirkung der Entschädigungsregelung des §611 a II BGB schwächen 557 . Andere wollen mit ähnlicher Begründung die Berücksichtigung einer (fiktiven) Kündigung bei der Schadensbemessung wenigstens nur dann zulassen, wenn diese aus betriebsbedingten, also von der Person des Arbeitnehmers unabhängigen, Gründen zulässig gewesen wäre 558 . Beides ist aber jedenfalls dann abzulehnen, wenn der Arbeitgeber nachweisen kann, dass er sich bei Einstellungen der fraglichen Art für einen bestimmten Zeitraum die Möglichkeit zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses ohne Vorliegen eines besonderen Kündigungsgrundes (Probezeit) vorzubehalten pflegt 559 . Anderenfalls würde der Arbeitnehmer bei einer Nichteinsteilung besser gestellt, als wenn die Einstellung erfolgt wäre 560 . Dies müsste aber im Interesse der gebotenen Abschrekkungswirkung des §611 a II BGB allenfalls hingenommen werden, wenn danach ausschließlich der Vermögensschaden zu ersetzen wäre, durch dessen (zu) niedrige Veranschlagung also die Sanktionierung des Arbeitgeberverhaltens insgesamt zu milde ausfallen würde. Durch die Gewährung einer nach oben in der Höhe nicht begrenzten, weit auszulegenden „angemessenen Entschädigung" durch den neuen §611 a II BGB wird eine solche Umdeutung von pönal motivierten Aufschlägen in einen Ersatz für Vermögensschäden aber überflüssig. Sie wäre zumindest in den seltenen Fällen fehlenden Arbeitgeberverschuldens auch aus verfassungsrechtlicher Sicht bedenklich, da der Vermögensschaden nach § 611 a II BGB verschuldensunabhängig geschuldet wird, die Verhängung einer strafrechtlichen oder strafrechtsähnlichen Sanktion ohne ein Verschulden des zu Bestrafenden diesen aber in seinen Grundrechten verletzt 561 . 556 Staudinger/ Richardi/Annuß, BGB, §611 a, Rn. 87; G. Brüggemeier, Ausgestaltung, S. 761; U. Wendeling-Schröder, Wert, S. 1015. 557 J. Treber, N e u e r u n g e n , S. 858; im Ergebnis ebenso: U. Wendeling-Schröder, Wert, S. 1016; ähnlich eher beiläufig so auch schon: B A G E 61, S.209ff., 217 (14.3. 1989). 558 So etwa G. Brüggemeier, Ausgestaltung, S. 760f. (der aber dennoch im Regelfall eine Begrenz u n g der Entschädigung auf den L o h n b e f ü r w o r t e t , den der Arbeitnehmer bei seiner Einstellung in den ersten ein bis drei Jahren erzielt hätte). 559 E b e n s o im Ergebnis: S t a u d i n g e r / R i c h a r d i / A n n u ß , BGB, §611 a, Rn. 87; H. Löwe, Gedanke, 222. 560 Bamberger/Roth-ft